Juden - Heiden - Christen?: Religiöse Inklusionen und Exklusionen im Römischen Kleinasien bis Decius 9783161537066, 9783161550294, 3161537068

Die Trias von Juden, Heiden, Christen scheint die religiöse Welt der römischen Kaiserzeit klar und überschaubar zu ordne

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German Pages 453 [460] Year 2018

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Inhaltsverzeichnis
Stefan Alkier und Hartmut Leppin: Einleitung – Juden, Christen, Heiden?
Literatur
I. Grundsatzfragen
Tobias Nicklas: Parting of the Ways? Probleme eines Konzepts
These 1
These 2
These 3
These 4
These 5
Fazit
Literatur
Manuel Vogel: Ein Streit nicht nur um Worte: Begriffsgeschichtliche Beobachtungen zu frühchristlichen Strategien der Exklusion
1. Terminologische Annäherung
2. „Judentum“ und „Christentum“ – Die Entstehung einer folgenschweren semantischen Opposition
3. „Jude“ als polemisches Etikett im häresiologischen Diskurs
4. Jüdische Christusverehrer als Hybride
5. Julians Versuch einer Hybridisierung des Christentums
6. Die Entstehung des Christentums als transethnische imperiale Reichsreligion
7. Versuche christlicher Selbstdarstellung als „Volk“ in vorkonstantinischer Zeit
8. Die Christen als tertium genus
9. Ein Rückblick in das neutestamentliche erste Jahrhundert
Literatur
James B. Rives: Cult Practice, Social Power, and Religious Identity: The Case of Animal Sacrifice
Literature
II. Fallstudien
Gian Franco Chiai: Christen und christliche Identität(en) in den Inschriften des kaiserzeitlichen Phrygiens
1. Einführung
2. Das epigraphische Material aus Phrygien
3. Ein christlicher Altar aus dem Land
4. Die Trinität und der wahre Glaube
5. Der Grabschutz durch die Trinität
6. Der soziale Status der Christen und die Rechenschaft vor Gott
7. Die phrygischen Türsteine
8. Die Grabdenkmäler aus dem oberen Tembristal und die Bilderwelt der Christen
9. Die Grabepigramme
10. Resümee
Literatur
Christian Marek: Nochmals zu den Theos Hypsistos Inschriften
Literatur
Ulrich Huttner: Christliche Grenzgänger und ihre Inschriften
1. Religiöse Identität: Methodische Vorüberlegungen
2. Juden und Christen: diffuse Grenzen
3. Grabinschriften: Bestrafung der Frevler durch (den) Gott
3.1. Die Flüche des Deuteronomiums
3.2. Die Fluchsichel
3.3. Die Eumeneische Formel
3.4. Die Formel Λόγον δώσει τῷ Θεῷ
3.5. Die Formel Τὸν Θεόν σοι, μὴ ἀδικήσεις
4. Fazit: Probleme um die Kryptochristen
Literatur
Martina Böhm: Samaritanische Diaspora im Imperium Romanum bis ca. 200 n. Chr
1. Der Quellenbefund für Kleinasien
2. Der Quellenbefund für den gesamten Mittelmeerraum in hellenistisch-römischer Zeit (außer Kleinasien)
2.1. Ägypten
2.2. Delos
2.3. Sizilien
2.4. Rom
2.5. Athen
2.6. Thessalonich
2.7. Fazit
3. Ein gewandeltes Paradigma
4. Methodologische und hermeneutische Fragen
Literatur
Dorothea Rohde: Die religiöse Landschaft einer Hafenstadt im Wandel: das Beispiel Ephesos
1. Die Götterwelt von Ephesosvom 1. Jh. v. Chr. bis zum 3. Jh. n. Chr.
1.1. Die religiöse Landschaft im 1. Jh. v. Chr.: die Ausgangslage
1.2. Die religiöse Landschaft im 1. und 2. Jh.: Transformationen
1.3. Die religiöse Landschaft im 3. Jh.: Kontinuitäten und Verstummen
2. Den Wandel erklären: Voraussetzungen,Rahmenbedingungen, Gründe
2.1. Ephesos als Hafenstadt
2.2. Rechtliche Rahmenbedingungen
2.3. Durchlässige Grenzen?
3. Die religiöse Landschaft einer Hafenstadt im Wandel
Literatur
Kay Ehling: Μεγάλη ἡ Ἄρτεμις Ἐφεσίων. Münzen, Inschriften, Papyri und Gemmen kommentieren Apostelgeschichte 19
1. Geschichte von Ephesos
2. Der Artemistempel (Apg 19,27)
3. Das Kultbild der Artemis (Apg 19,35)
4. Juden in Ephesos (Apg 19,17)
5. Die Silberschmiede (Apg 19,24)
6. Der Grammateus (Apg 19,35)
7. Neokoros und Neokorie (Apg 19,35)
8. Zauberei und Zauberbücher (Apg 19,19)
9. Zusammenfassung und Ergebnis
Literatur
Alexander Weiß: Christliche versus städtische Identitäten? Ein Heptapolit liest die „Sieben Sendschreiben“ der Johannes-Apokalypse
1. Ephesos
2. Smyrna
3. Pergamon
4. Thyatira
5. Sardis
6. Philadelphia
7. Laodikeia
8. Fazit
Literatur
Carsten Claußen: Die Identität antik-jüdischer Gemeinden in Kleinasien im Spiegel von Rechtstexten. Das Beispiel Sardes
1. Die Herausforderung jüdischer Identität in seleukidischer Zeit
2. Sardes
2.1. Die Stadt und die Anfänge der jüdischen Gemeinde
2.2. Die jüdische Gemeinde von Sardes bei Flavius Josephus
3. Rechtliche Rahmenbedingungen für Juden in Sardes
4. Jüdische Identitätsmerkmale in Sardes
4.1. Speisegebote
4.2. Sabbat und Feste
4.3. Beschneidung
5. Ringen um den jüdischen Rechtsstatus und Identitätswahrung im hellenistischen Umfeld
Literatur
Stefan Alkier: Terminologien kollektiver Identitäten in der Apostelgeschichte des Lukas
1. Der bessere Römer oder warum der in Jerusalem ausgebildete jüdische Römer Paulos bzw. šā’ûl aus Tarsos in Kilikien für einen Ägypter gehalten wurde
2. „Christianer“ (11,26 c) und „Sekte der Nazarener“ (24,5; 24,14) als kollektivierende Fremdbezeichnungen
2.1 „Christianer“
2.1.1 Apg 26,28
2.1.2 Apg 11,26
2.2 „Sekte der Nazarener“ (24,5; vgl. 24,14)
3. Semantische und narrative Markierungen der Bewegung im Namen Jesu Christi
3.1 Israel, seine galiläischen Apostel und die Juden
3.2 Männer, Geschwister
3.3 Im Namen Jesu – „Ein Herz und eine Seele“? (4,32)
3.4 Synagoge und Ekklesia
3.4.1 Synagoge
3.4.2 Ekklesia
4. Fazit
Literatur
Jan N. Bremmer: Jews, Pagans and Christians in the Apocryphal Acts
1. The Acts of John
2. The Acts of Andrew
3. The Acts of Peter
4. The Acts of Paul
5. Conclusions
Literature
Hartmut Leppin: Christlicher Intellektualismus und religiöse Exklusion – Justin und der Dialog mit Tryphon
1. Intellektualismus und frühe Christusanhänger
2. Der Dialog mit Tryphon und seine Szenerie
3. Gang des Gesprächs
4. Überlegungen zum Publikum
5. Gemeindliche Strukturen bei Justin?
6. Schlussbemerkungen
Literatur
Walter Ameling: Smyrna von der Offenbarung bis zum Martyrium des Pionius – Marktplatz oder Kampfplatz der Religionen?
1. Einleitung
2. Heiden im kaiserzeitlichen Smyrna
3. Juden in Smyrna
4. Christen in Smyrna
5. Zusammenfassung
Literatur
Stefan Alkier und Hartmut Leppin: Juden, Christen, Heiden? Ein terminologischer Epilog
Literatur
Personenregister
Sachregister
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 9783161537066, 9783161550294, 3161537068

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor

Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) · J. Ross Wagner (Durham, NC)

400

Juden, Christen, Heiden? Religiöse Inklusion und Exklusion in Kleinasien bis Decius

Herausgegeben von

Stefan Alkier und Hartmut Leppin

Mohr Siebeck

Stefan Alkier, geboren 1961; Studium der Ev. Theologie, Germanistik und Philosophie in Münster, Bonn und Hamburg; 1993 Promotion; 1999 Habilitation; seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-­Universität Frankfurt am Main. Hartmut Leppin, geboren 1963; Studium der Geschichte und Klassischen Philologie in Marburg, Heidelberg, Pavia und Rom; 1990 Promotion; 1995 Habilitation; seit 2001 Professor für Alte Geschichte in Frankfurt am Main; 2015 Leibnizpreis.

e-ISBN PDF 978-3-16-155029-4 ISBN 978-3-16-153706-6 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Inhaltsverzeichnis Stefan Alkier und Hartmut Leppin Einleitung – Juden, Christen, Heiden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I. Grundsatzfragen Tobias Nicklas Parting of the Ways? Probleme eines Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Manuel Vogel Ein Streit nicht nur um Worte: Begriffsgeschichtliche Beobachtungen zu frühchristlichen Strategien der Exklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 James B. Rives Cult Practice, Social Power, and Religious Identity: The Case of Animal Sacrifice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

II. Fallstudien Gian Franco Chiai Christen und christliche Identität(en) in den Inschriften des kaiserzeitlichen Phrygiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Christian Marek Nochmals zu den Theos Hypsistos Inschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Ulrich Huttner Christliche Grenzgänger und ihre Inschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Martina Böhm Samaritanische Diaspora im Imperium Romanum bis ca. 200 n. Chr. . . . . . 171 Dorothea Rohde Die religiöse Landschaft einer Hafenstadt im Wandel: das Beispiel Ephesos 197

VI

Inhaltsverzeichnis

Kay Ehling Μεγάλη ἡ Ἄρτεμις  Ἐφεσίων. Münzen, Inschriften, Papyri und Gemmen kommentieren Apostelgeschichte 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Alexander Weiß Christliche versus städtische Identitäten?Ein Heptapolit liest die „Sieben Sendschreiben“ der Johannes-Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Carsten Claußen Die Identität antik-jüdischer Gemeinden in Kleinasien im Spiegel von Rechtstexten. Das Beispiel Sardes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Stefan Alkier Terminologien kollektiver Identitäten in der Apostelgeschichte des Lukas . . . 301 Jan N. Bremmer Jews, Pagans and Christians in the Apocryphal Acts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Hartmut Leppin Christlicher Intellektualismus und religiöse Exklusion – Justin und der Dialog mit Tryphon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Walter Ameling Smyrna von der Offenbarung bis zum Martyrium des Pionius – Marktplatz oder Kampfplatz der Religionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 *** Stefan Alkier und Hartmut Leppin Juden, Christen, Heiden? Ein terminologischer Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Einleitung – Juden, Christen, Heiden? Stefan Alkier und Hartmut Leppin Die Christen nämlich sind weder durch ein Land noch durch eine Sprache noch durch Sitten von den übrigen Menschen verschieden. Denn weder bewohnen sie irgendwo eigene Städte, noch bedienen sie sich irgendeiner abweichenden Sprache, noch führen sie ein auffälliges Leben.1 (Diognetbrief 5,1–2 aus dem 2. oder 3. Jh. n. Chr.)

Das Römische Reich war durch eine multireligiöse Gesellschaft geprägt. Die Verehrung der Götter und die dazugehörenden Kultpraktiken wurden nicht zentral geregelt, sondern blieben Angelegenheit von Städten und Regionen; gewöhnlich sah man gar keinen Bedarf, irgendetwas zu regeln. Was in der Stadt Rom als öffentlicher Kult in Geltung stand, musste nicht in anderen Städten als öffentlicher Kult praktiziert werden. Kulte, die in Rom verboten waren, konnten andernorts sogar den Status öffentlicher Kulte erlangen. Auch der Kaiserkult war überwiegend lokal geprägt. Zwar mussten Städte die Zustimmung des jeweiligen Kaisers erlangen, wenn sie dem Herrscher einen Tempel widmen wollten. Das hatte aber weniger religiöse Gründe in einem modernen Verständnis, sondern war vielmehr politisch motiviert, da damit auch bestimmte Privilegien im lokalen Wettstreit der Städte um Anerkennung und wirtschaftliche Vorteile verbunden waren. Keine Zentralbehörde des Reiches regelte aber die Ausgestaltung der Tempel, die Abläufe der Kulthandlungen oder die Inszenierung der Prozessionen. Es gab auch keine imperiale Anordnung, am Kaiserkult oder an irgendeinem anderen Kult teilzunehmen. Die Verehrung der Götter und auch die Grade der Verpflichtung, an den jeweiligen öffentlichen Kulten der Städte zu partizipieren, blieb lange eine lokale Angelegenheit. Da die Teilnahme am lokalen Kult in der Regel mit dem Bürgerrecht verbunden war, bedeutete die Verleihung des römischen Bürgerrechts an fast alle Reichsbewohner durch die Constitutio Antoniniana Caracallas 212/213 einen Einschnitt: Bezeichnenderweise äußerte der Kaiser den Wunsch, dass alle Reichsbewohner gemeinsam ein kultisches Fest veranstalten sollten. Das war eine Voraussetzung dafür, dass Decius entgegen früheren Traditionen von seinen Untertanen reichsweit Opfer verlangen konnte.2 1 Übersetzung 2 Leppin,

Lindemann/Paulsen, 1992, 311. 2014, 67–68.

2

Stefan Alkier und Hartmut Leppin

Diese lokale Dominanz gilt nicht nur für die kultischen Praktiken, sondern mehr noch für die jeweiligen religiösen Vorstellungen, die damit verbunden waren. Es gab keine Ausbildungsstätten, die Priester für die jeweiligen Kulte „theologisch“ bildeten. Es gab, wenn man einmal von Sonderfällen wie Ägypten absieht, nicht einmal überregionale Zusammenkünfte der Priester eines Kultes, der wie der Kaiserkult an verschiedenen Orten in lokal bestimmter Weise ausgeübt wurde. Gerade Inschriften belegen die hohe Bedeutung lokaler Besonderheiten und zeigen auch, dass in den einzelnen Orten unterschiedliche Formen der Abgrenzung, aber auch der Entwicklung gemeinsamer Vorstellungen bestanden. Monotheistische Vorstellungen konnten in ganz unterschiedlichen Kontexten auftauchen.3 Weder die althistorischen und altphilologischen noch die theologischen und religionswissenschaftlichen Disziplinen haben eine diesem hoch diversen Erscheinungsbild angemessene Begrifflichkeit erarbeitet. Weder der Begriff der „Heiden“4 noch die im englischen Sprachraum häufig verwendeten Termini der pagans5 oder der gentiles tragen der lokalen Dominanz und der dadurch erzeugten enormen Diversität des religiösen Lebens in der Antike Rechnung. Zunehmend wächst das Unbehagen am Begriff der Heiden bzw. des Heidentums, der auch beim wohlwollendsten Verwenden stets einen abwertenden Beigeschmack behält und eine kollektive Identität all derer suggeriert, die weder Juden noch Christen waren. Es handelt sich sowohl beim deutschen Wort „Heiden“ als auch beim englischen Wort pagans um eine normative jüdisch-christliche Abwertung der anderen im Dienste der Aufwertung des Eigenen und keineswegs um eine wertfreie Beschreibungssprache. Im „Begriff des Heidentums [ …] kommt zum Ausdruck, daß die christliche Religion die Norm aller Religionen ist.“6 Diese pejorative Bedeutung hatte der griechische Begriff ethnos, auf den das Wort Heiden wohl etymologisch7 zurückgeht, kaum. Es ist die jüdische Perspektive der Erwählung Israels, die die Welt in die des Volkes Israels und die der anderen Völker einteilte – alle aber wurden von ihnen verstanden als Völker Gottes, von denen eben Israel durch die Gnadenwahl Gottes herausgehoben, aber nicht isoliert gedacht wurde. Alle Völker verdanken sich dem Gott Israels 3 Dazu

in diesem Band Chiai, Huttner und Marek. dazu Colpe, 1989. 5 Vgl. dazu Jones, 2014, 1–8. 6 Strasser, 1928, dort 859, zit. nach Colpe, 1989, 90. 7 Die andere Möglichkeit besteht nach Colpe, 1989, 113, in der semantischen Isotopie von lat. paganus und dem Landschaftsbegriff „Heide“, „auf der kein angebautes, sondern wildes Kraut und Gestrüpp wächst. ‚Der Heide‘ in der mitübernommenen Bedeutung des Nichtchristen wäre dann eine klassische Lehnübersetzung von paganus und bezeichnete wie dieses den Ungläubigen, der auf dem Lande, jetzt sogar: in wilder, unkultivierter Gegend wohnt.“ Gleich welcher Etymologie man den Vorzug gibt wird deutlich, dass sowohl das deutsche Wort „Heide“ als auch der auf das lateinische paganus zurückgehende englische Begriff pagans keine deskriptiven, sondern polemische, christlich positionelle Terminologien sind. 4 Vgl.

Einleitung – Juden, Christen, Heiden?

3

und partizipieren an seiner Güte und seiner Fürsorge. Aus dieser Israel-theologischen Perspektive kann man sagen, die Welt besteht aus dem Volk Israel und den anderen. Dass diese Einteilung der Weltbevölkerung ebenfalls keine empirische, sondern eine positionierende Interpretation der Wertigkeit des Eigenen darstellt, muss wohl kaum hervorgehoben werden. Diejenigen, die wir retrospektiv „Christen“ nennen – also z. B. der Apostel Paulus, der sich selbst als Jude verstand, dem eine besondere Offenbarung durch den Gott Israels zuteilwurde, die ihn dazu nötigte sein Verständnis von Judentum neu zu denken –, fügten in der Tradition jüdischen Denkens, jüdischer Erwählungstheologie einen dritten Term hinzu. Diesen bringt er mit verschiedenen Syntagmen zur Sprache als Versammlung (ekklesia) Jesu Christi, als Gemeinschaft der Heiligen, als alle Geliebten Gottes und Geheiligten (vgl. u. a. Röm 1,7) und weitere Beschreibungen der neuen, dritten Größe, die erst auf dem Weg war, eine gemeinsame Identität zu entwickeln, und zwar nicht in harmonischer Eintracht, wie es die Apostelgeschichte des Lukas zeichnet (vgl. Apg 2,42–47). Die neutestamentlichen Schriften sind historische Zeugnisse nicht nur für die Diversität der Christusanhängerinnen und ‑anhänger auch schon im 1. und anfänglichen 2. Jh. n. Chr., sondern auch von hitzig geführten Streitigkeiten und Differenzen darüber, was denn diesen neuen „Weg“ des Glaubens (vgl. Apg 9,2; 19,23; 22,4; 24,14.22) ausmacht und wie er zu gestalten sei. Man lese nur 1 Kor 8–10 oder die Sendschreiben der Johannesoffenbarung (Apk 2–3), um eine ungefähre Vorstellung davon zu erlangen, wie die von der Auferweckung des Gekreuzigten Überzeugten damit rangen, ob ihr Glaube Konsequenzen für die Partizipation an anderen Kulten habe oder nicht. Musste man erst Jude werden, um an christlichen Versammlungen teilzunehmen? War es statthaft, an einem Tag zu einer Versammlung im Namen Jesu Christi zu gehen, am nächsten Tag aber die Prozession für den Kaiser zu besuchen? Keine überregionale Synode regelte diese offenen Fragen. Sie wurden unterschiedlich gestellt und verschieden beantwortet in den jeweiligen Orten. Was wir darüber wissen, ist nur ein Ausschnitt aus der vormaligen Vielfalt, da die Tradition der späteren Großkirche wesentlich mitbestimmt hat, welche Texte überliefert wurden. Eine unserer heutigen Terminologie nahekommende Begrifflichkeit dieser Trias findet sich im Diognetbrief, ein sehr schwer zu lokalisierendes und ebenso schwer zu datierendes Schreiben in griechischer Sprache aus dem 2. oder 3. Jh. nach Christus. Hier wird die gerade auch intellektuelle Überlegenheit der Gottesverehrung der Christen derjenigen der Griechen  – im Sinne der Griechisch sprechenden Welt – und der Juden gegenübergestellt. Wie im harmonistischen Bild der Apostelgeschichte des Lukas und anders als in den Paulusbriefen oder der Johannesapokalypse werden die Konflikte innerhalb der Christenheit in dieser Schrift nicht thematisiert. Auch die Unterschiede innerhalb jüdischer und innerhalb hellenischer Gottesverehrung finden keine Berücksichtigung, so dass die Welt erscheint als eine, die durch drei kollektive Identitäten bestimmt wird:

4

Stefan Alkier und Hartmut Leppin

Christen, Juden, Griechen. Theologen, Religionshistoriker, Altphilologen und Althistoriker folgen dieser ideologischen Einteilung der antiken Welt bis heute mit ihrer präpositionierenden terminologischen Trias von Judentum, Christentum und Heidentum. Dass im Kleinasien des 2. Jh.s christliche Identität als christliche Identität belegt ist, sieht man im Brief der Gemeinde von Smyrna an die Gemeinde von Philomelium in Phrygien. Dieses Schreiben ist bekannter unter dem Titel Mar‑ tyrium des Polykarp, der Bischof in Smyrna war. In einem Verhör, das ziemlich genau dem Verfahren aus der Korrespondenz von Trajan und Plinius entspricht, weigert sich Polykarp dem Kaiser zu opfern, Christus zu fluchen und den Kaiser als Kyrios zu bezeichnen. Dem hält er in 10,1 entgegen: „Christianos eimi“ (Ein Christ bin ich). In der lebensbedrohlichen Situation der Anklage werden anders als bei Paulus und der Apostelgeschichte des Lukas Heiden und Juden zu einer Gruppe amalgamiert, die durch die Feindschaft gegenüber Polykarp, den Christen, vereinigt mit einer Stimme schreien: Polykarp war „voll Mut und Freude, und sein Gesicht erfüllte Gnade, so daß er nicht nur nicht die Fassung verlor, erschrocken von dem gegen ihn Gesagten, sondern im Gegenteil der Prokonsul so außer sich geriet, daß er seinen Herold in die Mitte des Stadions schickte und dreimal verkünden ließ: ‚Polykarp hat bekannt, daß er Christ ist‘. Als dies vom Herold gesagt wurde, da schrie die ganze Menge der Heiden und der Juden (to plethos ethnon te kai Ioudaion), die in Smyrna ansässig waren, mit unverhohlener Wut und lauter Stimme, ‚Dies ist der Lehrer der Asia, der Zerstörer unserer Götter, der viele gelehrt hat, nicht zu opfern und anzubeten‘.“8 (MPol 12,1–2). Und in Eintracht bringen dann Juden und Heiden das Holz für den Scheiterhaufen herbei, auf dem Polykarp verbrannt werden soll.9

Für das Erste sei festgehalten, dass die Einteilung der Welt in Juden und die anderen Völker, bzw. in Christen, Juden und Heiden einer jüdischen bzw. christlichen Positionierung entspricht, die nicht nur die Diversität der sogenannten Heiden und Christen, sondern auch die der Juden und anderer Verehrer des Gottes Israels ignoriert. Ungeachtet der Bedeutung des Jerusalemer Tempels für den Kult der Juden (auch nach 70 n. Chr.!) vollzog sich die Ausgestaltung auch des jüdischen Lebens nicht durch überregionale Synoden, sondern vor Ort und zwar als Teil der jeweiligen Polis und damit auch in mehr oder weniger ausgeprägter Interaktion mit dem gesamten öffentlichen Leben der jeweiligen Stadt oder Region. Zudem verstanden sich längst nicht alle Verehrer des Gottes Israels als „Juden“. Samaritaner etwa akzeptierten die Jerusalemer Kultzentralisation nicht. Ihr zentraler heiliger Ort blieb der Garizim bis auf den heutigen Tag, selbst nach der Zerstörung ihres Tempels auf dem Garizim und der brutalen Zwangsjudaisierung durch die Hasmonäer im 2. Jh. v. Chr.10  8 Übersetzung

Lindemann/Paulsen, 1992, 273. Nicklas und Ameling in diesem Band. 10 Dazu Böhm in diesem Band.  9 Dazu

Einleitung – Juden, Christen, Heiden?

5

Bei der fächerübergreifend verwendeten Trias von Juden, Christen, Heiden handelt es sich nicht um deskriptive Begriffe, sondern um kollektive Identitätskonstruktionen,11 die nach Außen und Innen gerichtet sind. Nach Außen wird geworben, nach Innen wird der Anspruch erhoben, dass das Verständnis des Christseins, das in dem jeweiligen Werk vertreten wird, vorbildlich und sogar verbindlich für alle gilt, die zu Recht sagen dürfen: Christianos eimi. Erst mit den stetigen Christianisierungsprozessen des Reiches von der Mitte des 2. bis zum 5. Jh. n. Chr. entwickelte sich über die Jahrhunderte eine Gesellschaft, die zunehmend von einer einzigen Religion dominiert wurde.12 Dieser Wandel war von einschneidender Wirkung. Sein Ergebnis darf aber nicht anachronistisch in das 1. und 2. Jh. n. Chr. rückprojiziert werden. Im 1. Jh. n. Chr. existierte kein „Christentum“.13 Die diversen und nicht selten im Streit um den „neuen Weg“ befindlichen Verehrer Jesu Christi waren Teil der multireligiösen Städte und Landgebiete. Diese bildeten nicht ihre „Umwelt“. Sie gehörten zur Welt, in der sie lebten, auch dann, wenn sie auf eine andere Welt hofften. Bereits Edward Gibbons epochales Werk „The Decline and Fall of the Roman Empire“14 setzte voraus, dass sich hier zwei nicht miteinander versöhnbare kollektive Identitätsblöcke gegenüberstanden, wobei Gibbons Sympathien dem seiner Meinung nach toleranteren Rom, insbesondere seiner philosophischen Kaiser des 2. Jh.s galten.15 Freilich birgt diese Vorstellung zweier bereits im 1. Jh. n. Chr. fest umrissener kollektiver Identitäten insbesondere für die Geschichte des „Christentums“, aber auch für das Verständnis der Interaktion von Imperium Romanum und lokaler Wirklichkeit eine Reihe von historischen, theoretischen wie terminologischen Problemen. Das mit der Einsicht in die lokal bedingte Diversität der multireligiösen Gesellschaft verbundene terminologische Problem der Trias von Juden, Christen und Heiden schlägt sich gerade auch in dem wissenschaftlichen Umgang mit zentralen Texten der Antike nieder: Die Erforschung der Johannesapokalypse wurde zuletzt von der Hypothese dominiert, diese sei als Reflex auf Unterdrückungsmechanismen des Römischen Reichs entstanden. Dabei wird das Römische Reich überwiegend als repressive imperialistische Kraft und das Christentum als unterdrücktes Opfer dargestellt. Schon ein Blick in die Sendschreiben der Johannesapokalypse zeigt, dass hier überwiegend innerchristliche Konflikte thematisiert werden.16 In Rechnung zu stellen ist auch, dass von Stadt zu Stadt durchaus verschiedene Konfliktlagen zu konstatieren sind. Friedrich Vittinghoff 11 Vgl.

dazu Alkier, 2017 b. 2012. 13 Dazu in diesem Band Alkier und Vogel. 14 Gibbon, 1909–1914. Vgl. dazu Alkier, 1993, 67–80. 15 Gibbon, 1909–1914, I,1: „During a happy period of more than fourscore years, the public administration was conducted by the virtue and abilities of Nerva, Trajan, Hadrian and the two Antonines“. 16 Dazu in diesem Band Weiss. Vgl. auch Alkier, 2017 a (im Druck). 12 Leppin,

6

Stefan Alkier und Hartmut Leppin

brachte in seinem nach wie vor instruktiven Aufsatz „Christianus sum“ die Notwendigkeit, reichsweite und lokale Gegebenheiten zu unterscheiden, trefflich zum Ausdruck: Der römische Staat hatte zunächst weniger mit den möglichen Konflikten zu tun, weil sich in einer Polis oft entschied, ob ein friedliches Zusammenleben mit der christlichen Gemeinde möglich war oder der römische Statthalter einer Provinz eingeschaltet werden mußte. […] Die Form des Zusammenlebens von nichtchristlichen und christlichen Stadtbürgern (oder ‑bewohnern) war zwangsläufig vom allgemeinen Klima, d. h. von den politischen und sozialen Binnenverhältnissen in den Städten, abhängig. Wenn die städtische Gesellschaft das bewußte Anderssein der christlichen Minderheit, ihren oft provokatorisch wirkenden Rückzug aus der politisch-religiösen Gemeinschaft hinnahm, der innere Friede also durch die ‚Sonderlinge‘ nicht gefährdet war, so bestand kein Anlaß, den meist in der Ferne residierenden Statthalter hineinzuziehen und eine Anklage gegen einzelne Christen einzubringen.17

In dieser Forschungslage stellt sich die Aufgabe, die einfache Opposition zwischen Römischem Reich und Christentum durch komplexitätssteigernde Hypothesen zu ersetzen, die nicht nach fixen Identitäten, sondern nach regionalen und überregionalen Inklusionen und Exklusionen politischer und religiöser Partizipation fragen. Die Grenzen dessen, was als christlich galt, müssen neu vermessen werden. Am Beispiel des römischen Kleinasiens kann exemplarisch gezeigt werden, was seit Johann Salomo Semler (1725–1791) immer wieder in die Diskussion eingebracht, aber mit noch größerer Intensität immer wieder sogleich abgeschwächt wird: die Diversität und Polyphonie18 des Christentums von seinen Anfängen an. Indem Semler den Kanon in seine individuellen Bücher auflöste, nichtkanonische Schriften den kanonischen gleichberechtigt beiordnete, zeichnete er ein höchst diverses Bild der Christusgemeinschaften des ersten Jahrhunderts, das gegen alle Monologisierungen eines harmonischen Christentums der Anfangszeit die Vielfalt und Differenz nicht nur der kanonischen, sondern auch der unerhörten und weitgehend vergessenen Stimmen christlicher Diskurse der ersten Jahrhunderte ins unzensierte Gedächtnis rief. Dabei vermeidet es Semler, einen übergeordneten Konflikt der verschiedenen christlichen Gruppierungen und Individuen mit dem Imperium Romanum oder dem Judentum zu postulie17 Vittinghoff, 1984, hier: 332–333. Vittinghoff, 333, schreibt Vittinghoff weiter: „Man verkürzt und verkennt daher die Christenfrage, wenn man in ihr nur einen Konflikt zwischen dem römischen Staat und dem Christentum sieht, als sei er allein oder vornehmlich der Widerpart der Christen gewesen. An dieser schiefen Perspektive der sog. Christenverfolgung trägt sicher auch die christliche ‚Literatur‘ des 2. und 3. Jh.s. eine gewisse Schuld. Denn sie war vornehmlich an spektakulären Ereignissen, d. h. an Märtyrern und Kaisern – Statthaltern, soweit sie ‚Verfolger‘ waren, interessiert. Der Blutzeugentod aber war nur ein lokal oder regional begrenzter Ausnahmefall. Denn wenn der Übertritt zum Christentum für jeden Einzelnen ein unmittelbar existenzbedrohendes Risiko bedeutet hätte, so ließe sich kaum die im 2. Jh. rapide wachsende Zahl der Anhänger vor allem in bestimmten griechisch-hellenistischen Poleis erklären“. 18 Alkier, 2012; vgl. auch Alkier, 1993, 21–44.

Einleitung – Juden, Christen, Heiden?

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ren, der die lokalen Konfliktlagen dann doch wieder nivellieren würde. Auch das antike Judentum war Semler zufolge keine einheitliche Größe, sondern wie auch die christlichen Gruppierungen lokal verschieden. Semlers Grundgedanke der lokalen Bestimmtheit religiöser kollektiver wie individueller Identitäten nimmt dabei in Kauf, auf die Konstruktion einer kollektiven Identität des Christentums wie auch des Judentums zu verzichten und die zusammenhanglose Entstehung und Entwicklung verschiedener Christusgemeinschaften und Christusanhänger im 1. und 2. Jh. n. Chr. zu behaupten: Zu gleicher Zeit haben also die Christen in Alexandrien, Syrien, in Arabien, Phönice, Italien, in den Inseln etc. die christliche Religion so wol als einzelne Privati, mit ihren tausendfachen verschiedenen Ideen; als auch in ihren Zusammenkünften nach der Ungleichheit der Gaben der Lehrer.19

Zu bearbeiten ist daher die Frage, ob überregionale Identitätsmarker wie „Römisches Reich“, „Provinz“, „Christentum“, „Judentum“, „Anhänger des Zeus“ etc. in der regionalen Wirklichkeit die alltagsbestimmenden Prägungen waren, oder ob nicht die diversen lokalen Gegebenheiten in weit höherem Maße den Alltag strukturierten und ob dasselbe Phänomen nicht unterschiedlich aufgefasst werden kann; etwa die Rede vom höchsten Gott, die Heiden, Juden und Christen gut und doch unterschiedlich verstehen konnten.20 Es wird also darauf ankommen zu zeigen, wie christliche Gemeinschaften und Individuen zur Diversität der kleinasiatischen Gesellschaft beitrugen und ihrerseits durch diese Diversität mitgeprägt wurden. Christliche wie nichtchristliche Texte müssen auch mittels der Interpretation von Artefakten in eine Welt eingebettet werden, die höchst divers war. Die Arbeitshypothese des hier vorgelegten Tagungsbandes lautet: Die Diversität der kleinasiatischen Gesellschaft wie die des Imperium Romanum im Ganzen verbindet sich mit der Diversität christlicher Gemeinschaften und Individuen, die ein Teil dieser Gesellschaft waren. Die Rede von der „Umwelt“ des Christentums führt in jeder Hinsicht in die Irre und sollte daher vermieden werden. Über die Fachgrenzen hinweg verleitet die gewohnheitsmäßige Einteilung der antiken Menschen in Juden, Christen und Heiden dazu, das durch Ämter und überregionale synodal oder autoritativ begründete dogmatische Entscheidungen geprägte großkirchliche, „katholische“ Christentum der späteren Jahrhunderte in die Texte des 1. Jh.s hineinzulesen. Dadurch werden normative Abgrenzungen, wie sie schon in der Apokalypse des Johannes, bei Ignatius von Antiochien, Justin21, Tatian, Tertullian und anderen zu finden sind, unsachgemäß zu deskriptiven Präsuppositionen historischer Forschung. Konkret: War das Bekenntnis zum Auferweckten Jesus Christus tatsächlich ein Hinderungsgrund anderen Göttern 19 Semler,

1782, 204. in diesem Band Marek. 21 Zu ihm in diesem Band Leppin. 20 Dazu

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geweihtes Fleisch zu essen? Für Paulus war es das nicht. Er, der sich als stark im Glauben empfand, sah wohl für sich selbst keine Probleme, an Opfermählern teilzunehmen,22 und seine Aussagen in 1 Kor 9,19–23 sollte man sehr konkret verstehen, dass er nämlich den Juden ein Jude und denen, die „ohne Gesetz“ sind, einer „ohne Gesetz“ geworden sei – also allen, die sich nicht an die Tora des Gottes Israels gebunden sahen, d. h. der großen Mehrheit der Bevölkerung im Imperium Romanum und darüber hinaus.23 Er hatte demzufolge wohl keine Berührungsängste und konnte in seiner Person jüdische Identität, Glaube an die gute Nachricht vom Auferweckten Jesus Christus, griechische Kultur und wohl auch römisches Bürgerrecht zusammenbringen. Lukas lässt Paulus, der zuvor schon fälschlicherweise von einem römischen Soldaten für einen Ägypter gehalten worden war (vgl. Apg 21,37–38), im Dialog mit einem römischen Hauptmann sagen, der selbst sein römisches Bürgerrecht für viel Geld gekauft hatte: „Ich aber bin schon als römischer Bürger geboren.“ (Apg 22,28). Paulus ist Lukas 22 Der Verzehr von Opferfleisch wird für Paulus zum Problem, weil einige Christusanhänger es als Götzendienst empfinden und Paulus nun die Frage reflektieren muss, ob seine durch theologische Erkenntnis gewonnene Freiheit, oder die Rücksichtnahme auf diejenigen, die die Erkenntnis der Nichtigkeit der Götzen noch nicht erlangt haben, handlungsleitend sein soll. Letztere bezeichnet Paulus als die „Schwachen“. In 1 Kor 8–10 kommt er dann zu dem abwägenden Schluss, dass die Gemeinschaft der Christusanhänger gegenüber der zutreffenderen Erkenntnis des Einzelnen wichtiger sei und deshalb auch die „Starken“ mit Rücksicht auf das Gewissen der „Schwachen“ in deren Anwesenheit kein Götzenopferfleisch essen sollen. Sicherlich ist das eine in mehrfacher Hinsicht problematische Argumentation, die durch die semantische Opposition „Starke vs. Schwache“ auch ein impliziter Machtdiskurs ist. Sie belegt aber insgesamt, dass Paulus in einem Gefühl der Glaubensstärke und Wahrheitsgewissheit sich den Poliskulten überlegen fühlte und deswegen wohl auch das anderen Göttern geweihte Fleisch essen konnte, wenn er allein oder mit anderen „Starken“ unterwegs und sicher war, keinen „Schwachen“ damit zu belasten. In Röm 14 vertritt er auf den ersten Blick dieselbe Position wie in 1 Kor 8–10, allerdings verschiebt er doch den Akzent von der einseitigen Rücksichtnahme auf die „Schwachen“ auf die gegenseitige Akzeptanz von „Starken“ und „Schwachen“, was nun auch den „Schwachen“ insofern Stärke abverlangt, als dass sie ihre Position als eine für sie selbst passende, aber eben als eine mögliche menschliche begreifen sollen, und sie dazu auffordert, die Position der Starken als mit der Christusanhängerschaft und der Verehrung des Gottes Israels vereinbar gleichermaßen zu akzeptieren. 23  Die entsprechende Passage in 1 Kor 9,19–23 lautet: „Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi –, damit ich die, die ohne Gesetz sind gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben.“ Diese Ausführungen des Paulus sind nicht als bloß theoretische Aussage zu verstehen. Sie reflektieren vielmehr seine Praxis, die allerdings von der Überzeugung getragen sein dürfte, durch die Bindung an das Evangelium Jesu Christi allen anderen Bindungen enthoben worden zu sein und über ihnen zu stehen – eine Positionierung, die Freiheit und Macht generiert.

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zufolge römischer als der römische Hauptmann und bietet damit seinen Lesern eine Blaupause zur Kombination verschiedener Identitäten an. Die Vorstellung, christliche Identität führe automatisch zur Exklusion anderer Identitäten und Praktiken ist wohl eher normativen Präsuppositionen als der historischen Wirklichkeit des 1. Jh.s zu verdanken und wohl auch noch der des. 2. Jh.s n. Chr. und zum Teil sogar weit darüber hinaus.24 Es gilt also, die Frage der Kombinierbarkeit verschiedener Zugehörigkeiten auch für diejenigen neu zustellen, die wir retrospektiv „Christen“ nennen und Grade der jeweiligen Partizipation zu unterscheiden. Gerade wenn man mit einer erheblichen Diversität und Polyphonie von Christusanhängern zu rechnen hat, wie es bereits Johann Salomo Semler nachdrücklich in die Erforschung der Anfänge des Christentums einbrachte, gilt es, regional und temporal angemessener zu unterscheiden und nicht länger normative Konstruktionen kollektiver Identität der Vertreter eines großkirchlichen Christentums aus dem 2. und 3. Jh. in die überlieferten Schriften des 1. Jh. hineinzulesen und damit die in den neutestamentlichen Schriften manifestierte Polyphonie der Stimmen durch die monologische Konstruktion „des Christentums“ zum Schweigen zu bringen.25 Es gilt aber ebenso zu fragen, ob die beliebige Kombinierbarkeit von religiösen Ausdrucksformen der „Heiden“ historisch triftig ist, oder ob bzw. wie weitgehend auch hier Exklusion die Kombinierbarkeit beschränkte. Auch „heidnische“ Religiosität war nicht beliebig und ließ längst nicht alles zu. Lokale Traditionen führten zu erheblichen Unterschieden zwischen den Städten.26 Nicht jeder Kult durfte in jeder Stadt praktiziert werden. Nicht jede Speise durfte auf dem Markt feilgeboten werden. „Religion“ war nicht einfach Privatsache. Das Thema des hier vorliegenden Tagungsbandes könnte produktiv für alle vertretenen Fächer sein, denn keine historische Forschung kommt ohne präfigurierende Konzepte aus. Anhand welcher Merkmale etwa können Inschriften, Bauwerke und Literaturen einer bestimmten kollektiven Identität zugeordnet werden? Waren die Christusanhänger des 1. Jh.s wirklich die von ihrer „Umwelt“ abgeschieden lebenden Eigenbrötler, die sich dem öffentlichen Leben und Vergnügungen jeder Art entzogen, um von morgens bis abends unter sich zu bleiben? Und waren die „Heiden“ wirklich mit Blick auf ihre religiöse Praxis die vor Toleranz strotzenden Verweigerer jeglicher normativer religiöser Ordnung? Wie stark sind unsere Verwendungen der Begriffe Juden, Christen, Heiden geprägt von normativen Identitätskonstruktionen späterer Schriften und auch von unseren eigenen Einstellungen und Erfahrungen im Umgang mit Christen, Juden und anderen religiösen Kollektiven unserer Gegenwart und unserer Geschichte, unseres subjektiven Erlebens. Wie viele aufgeklärte Ressentiments gegen „das 24 Vgl.

dazu die Beiträge von Nicklas, Alkier, Claussen und Bremmer. dazu die Beiträge von Nicklas und Vogel. 26 So war Ephesos besonders traditionsorientiert; vgl. dazu die Beiträge von Ehling und Rhode, zur Vielfalt in Smyrna Ameling in diesem Band. 25 Vgl.

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Christentum“ und wie viele Idealisierungen „der Griechen und Römer“ im Stile eines Edward Gibbons prägen unsere Erzählungen der Geschichte der ersten christlichen Jahrhunderte? Diesen fächerübergreifend relevanten Fragestellungen widmete sich die Frankfurter Tagung „Juden, Christen, Heiden? Religiöse Inklusion und Exklusion in Kleinasien bis Decius“, die in Kooperation der Abteilung für Alte Geschichte und der Evangelisch-Theologischen Professur für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche der Goethe-Universität Frankfurt von der ersten Idee an interdisziplinär aufgestellt war. Dass das terminologische Unbehagen an der Trias „Juden, Christen, Heiden“ auf vielfach miteinander verbundene Sachprobleme verweist, mit denen alle an der Erforschung der römischen Kaiserzeit beteiligten Disziplinen zu kämpfen haben, war ein Ergebnis dieser Tagung, die mehr den Sachproblemen, als der Erarbeitung terminologischer Alternativen gewidmet war. Dass sich aus dieser gemeinsamen Arbeit heraus aber auch terminologische Alternativen entwickelten, nahmen alle Beteiligten als Gewinn des interdisziplinären Gesprächs wahr. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen überwiegend auf Vorträge dieser Tagung zurück, die im Juni 2014 in Frankfurt am Main stattfand. Sie wurden um einige Beiträge ergänzt, deren thematische Notwendigkeit in den Diskussionen der Tagung offensichtlich wurde. Wir danken allen hieran beteiligten Kolleginnen und Kollegen nicht nur für ihre anregende Expertise, sondern für die Bereitschaft, offene Fragen auch wirklich offen zu diskutieren und sich von den Einsichten der Anderen produktiv verunsichern zu lassen. Obwohl ein Tagungsband nicht die lebendige Atmosphäre interdisziplinärer Gespräche wiedergeben kann, zeugt er durch die vielfältigen Bezugnahmen der Beiträge untereinander von dem gelungenen interdisziplinären Forschen, an dem wir mit der Veröffentlichung dieses Bandes alle an einem angemesseneren Verständnis der Antike Interessierten teilhaben lassen wollen. Die hier versammelten Beiträge haben wir in zwei Rubriken eingeteilt, um es den Leserinnen und Lesern bereits durch das Inhaltsverzeichnis zu erleichtern, ihren Interessen gemäß eine eigene Auswahl und Reihenfolge ihrer Lektüre zu treffen. Unsere Anordnung erscheint uns zwar nicht als zwingend, allerdings ist sie sachlich begründet. Am Anfang stehen Beiträge, die grundsätzlich in die Thematik einführen und konzeptionelle und terminologische Schneisen schlagen. Die zweite Rubrik präsentiert Fallstudien. Ihre Reihenfolge orientiert sich an den diskutierten Medien. Weil die Interpretation literarischer Überlieferungen das Bild von der Antike immer noch weitgehend prägt, haben wir diese an den Schluss gestellt, um mit der Vorordnung epigraphischer und archäologischer Beiträge die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass eine Religionsgeschichte des Christentums als bedeutsamer Aspekt einer Religionsgeschichte der Antike bzw. einer Geschichte der Antike überhaupt nicht länger wissenschaftlich seriös

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bearbeitet werden kann, ohne alle überlieferten Zeichenarten, Quellen im Sinne von Johann Gustav Droysens Historik wahrzunehmen, kritisch zu interpretieren, aufeinander zu beziehen und durch belastbare Interpretationsmodelle zu konstruieren. Unter der Rubrik „Grundsatzfragen“ kritisiert Tobias Nicklas (Parting of the Ways? Probleme eines Konzepts) die von James Dunn mit großem Erfolg eingebrachte Konzeption des „Partings of the Ways“, die im Wesentlichen davon ausgeht, dass sich nach dem jüdisch-römischen Krieg ein Auseinandergehen von Judentum und Christentum sukzessiv ereignet hat27. Nicklas kritisiert dieses Modell als zu statisch und legt auch seine undiskutierten Voraussetzungen kollektiver Identitäten offen. Anhand der Interpretation verschiedener Schriften aus dem 2. bis 6. Jh. n. Chr. plädiert er für ein offeneres, prozessuales Modell, das nicht nur mit einer Reihe unterschiedlicher Gabelungen rechnet, sondern auch in Frage stellt, ob solche Gabelungen überhaupt für alle religiösen Gemeinschaften der Antike im Spannungsfeld jüdischer und christlicher Überzeugungen die gleiche Bedeutsamkeit gehabt hätten. Manuel Vogel (Ein Streit nicht nur um Worte: Begriffsgeschichtliche Beobachtungen zu frühchristlichen Strategien der Exklusion) geht in seinem Beitrag der terminologischen Frage nach, seit wann die Quellen von einem „Christentum“ sprechen, das dann auch abgehoben wird vom „Judentum“ und den Überzeugungen und Kulten der „Heiden“. Er kommt zu dem klaren Ergebnis, dass diese terminologischen Prozesse sich erst im 2. Jh. n. Chr. vollziehen und dabei keineswegs als deskriptive, sondern vielmehr als normative Identitätskonstruktionen rhetorisch argumentativ und nicht selten polemisch eingesetzt wurden. James Rives (Cult Practice, Social Power, and Religious Identity: The Case of Animal Sacrifice) reflektiert die bekannte Unterscheidung zwischen Orthopraxie und Orthodoxie neu, indem er eine Episode der Apostelgeschichte, in der den scheinbaren Göttern Paulus und Barnabas in Lystra Opfer dargebracht werden sollen, interpretiert und mit der Opferverweigerung im Martyrium des Carpus in Zusammenhang bringt. Dabei verdeutlicht er an den unterschiedlichen Einstellungen zum Opfer, die in den Texten sichtbar werden, einerseits, dass es Abstufungen zwischen Orthopraxie und -doxie gab, so dass Christen sich durchaus weiter in einem orthopraktischen Rahmen bewegen konnten und dann nichts dabei fanden, wenn sie Opfer darbrachten. Zum anderen verbindet er das Begriffspaar mit Reflexionen über soziale Macht: Während Orthopraxie eine Vielzahl von Autoritäten und sich überlappende Identitäten zugelassen habe, habe Orthodoxie eine totalisierende Neigung gehabt, die alles in ein Glaubenssystem und eine Hierarchie einordnete. Während ersteres Diversität erlaubt habe und

27 Vgl. dazu die von Manuel Vogel eingeleitete Kontroverse zwischen James D. G. Dunn und Tobias Nicklas, 2016.

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inklusivistisch gehandelt habe, habe die Orthodoxie Diversität mit Misstrauen gesehen und sich exklusivistisch gebärdet. Gian Franco Chiai (Christen und christliche Identität(en) in den Inschriften des kaiserzeitlichen Phrygiens) eröffnet mit seiner Analyse phrygischer Inschriften die zweite Rubrik der Fallstudien. Aus Inschriften lassen sich Konstruktionen religiöser Identität erschließen, die oft literarisch nicht überliefert sind. Die von Chiai analysierten Inschriften stammen aus dem 2.–5. Jh. n. Chr. Keine christliche Inschrift kann ins 1. Jh. n. Chr. datiert werden. Der Autor führt vor Augen, dass es in den meisten Fällen gar nicht möglich ist, eine Inschrift eindeutig als christlich zu identifizieren. Er bleibt aber nicht bei der Konstatierung dieser Schwierigkeit stehen, sondern sammelt plausible Argumente für eine schlüssige Explikation dieses Befundes: Die durch das Symbol des Kreuzes sicher als christlich zu identifizierenden Inschriften sowie die durch sprachliche Indizien auf christlichen Hintergrund verweisenden Inschriften teilen mit den anderen Inschriften Bilderwelt und religiöse Vorstellungen in einem so hohen Maße, dass sie eher Ausdruck christlicher Frömmigkeit und christlicher Gemeinschaften sind, die sich nicht in Abgrenzung zu den anderen formiert haben, sondern als gesellschaftlich integriert gelten müssen. Schon die Güte der untersuchten Grabdenkmäler deutet auf wohlsituierte Mitglieder der phrygischen Gesellschaft hin. Exkludierende Formulierungen in christlichen Inschriften weisen eher auf Streitigkeiten mit anderen christlichen Glaubensrichtungen hin als auf Konflikte mit nicht christlichen Individuen, Gemeinschaften oder politischen Verbänden. Christian Marek (Nochmals zu den Theos Hypsistos Inschriften) stellt die vieldiskutierte Gruppe von Weihinschriften, die einem höchsten Gott, dem theos hypsistos gewidmet sind, in ihren Kontext und präsentiert dabei auch einen Neufund aus Yatankavak, im Territorium des antiken Amaseia. Diese Inschriften sind sehr unterschiedlich gedeutet worden: Sie lassen sich als monotheistisch, dann vielleicht als jüdisch oder christlich lesen, aber auch auf griechische Götter wie Zeus beziehen. Marek hingegen betont die Vieldeutigkeit der Bezeichnung theos hypsistos aus der Sicht der Weihenden. Er zeigt an mehreren Beispielen auf, wie Elemente, die in der Forschung leicht Heidentum, Judentum oder Christentum zugeschlagen werden, nebeneinander vorkommen, und dass somit die Akteure in diesem religiösen Feld diese Trennungen für sich nicht nachvollzogen. Hier werden durch monotheistische Vorstellungen und durch eine gemeinsame religiöse Sprache Grenzen überschritten, was gerade auf lokaler Ebene für das Zusammenleben von Relevanz war. Ulrich Huttner (Christliche Grenzgänger und ihre Inschriften) nutzt mit Inschriften als Zeugnisse der Binnensicht von Akteuren gerade die Möglichkeiten, die sich auf der lokalen Ebene bieten. Er untersucht eine Reihe epigraphischer Zeugnisse, die die Macht eines Gottes beschwören, um die Unversehrtheit einer Grabstätte zu sichern, und die teils explizit auf jüdische Formeln zurückgreifen oder solche anwenden, die sonst nur aus christlichen Texten bekannt sind. Zur

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Deutung dieses Phänomens erneuert er die These, dass es sich bei den Stiftern solcher religiös mehrdeutiger, aber auf jeden Fall gut christlich verstehbarer Inschriften um Kryptochristen gehandelt haben könne. Martina Böhm (Samaritanische Diaspora im Imperium Romanum bis ca. 200 n. Chr.) geht von den spärlichen epigraphischen Zeugnissen einer samaritanischen Diaspora aus, die aber eine Spur legen, die durch die Vernetzung mit Inschriften aus anderen Regionen des Imperium Romanum sowie archäologischen Befunden und literarischen Zeugnissen zu einem plausiblen Netz von Indizien für die Existenz einer samaritanischen Diaspora auch in Kleinasien führen, die gegenüber den an Jerusalem orientierten Judäern eine eigene kollektive Identität ausgebildet haben. Vor allem die enormen, mit der Tempelanlage in Jerusalem vergleichbaren Dimensionen des erst 1984 entdeckten Heiligtums der Samaritaner auf dem Berg Garizim legen eine überregionale Bedeutung dieser Kultstätte nahe. Dort gefundene Badewannentypen, die nach Pergamon und Priene verweisen, machen eine samaritanische Diaspora in Kleinasien, wie sie sicher für Delos belegt ist, mehr als nur wahrscheinlich. Da in der Außenwahrnehmung samaritanische von judäischen Synagogen kaum zu unterscheiden waren, weil ihre wesentliche Differenz in der kultischen Orientierung zum Garizim bzw. nach Jersualem bestanden habe, sei damit zu rechnen, dass sich mitunter auch hinter der Bezeichnung Ioudaioi hier und da samaritanische Synagogengemeinschaften verbergen können. Dorothea Rhode (Die religiöse Landschaft einer Hafenstadt im Wandel: das Beispiel Ephesos) untersucht den Wandel der religiösen Landschaft von Ephesos in den ersten drei Jahrhunderten nach Christus. Ephesos war und ist durch den Artemiskult berühmt, war aber, wie in antiken Städten nicht anders zu erwarten, durch eine große Kultvielfalt geprägt, auch wenn ein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein sichtbar ist. Es zeigt sich, dass Hafenstädte nicht zwangsläufig neuen Kulten aufgeschlossener gegenüberstanden als ländliche. Die Christusanhänger wiederum konnten an das relativ gut etablierte Judentum anknüpfen. Die Demetrios-Episode etwa, die die Apostelgeschichte als antichristliche Unruhen deutet, dürfte sich in der Wahrnehmung der protestierenden Artemis-Anhänger gegen Juden insgesamt gerichtet haben. Speziell mit der Demetrios-Episode befasst sich Kay Ehling, der sie ebenfalls im Sinne eines antijüdischen Protestes deutet (Μεγάλη ἡ Ἄρτεμις  Ἐφεσίων. Münzen, Inschriften, Papyri und Gemmen kommentieren Apostelgeschichte 19). Er erörtert den Verständnishorizont der Zeitgenossen, indem er Quellen aus dem städtischen Kontext wie Münzen oder Inschriften heranzieht, um den Hintergrund einzelner Elemente des Berichtes zu erläutern, so dass das Lokalkolorit deutlich hervortritt. Dabei zeigt sich die herausragende Bedeutung der Artemis, es wird aber auch deutlich, wie viele Elemente aus der Alltagswelt von Ephesos in die Darstellung der Episode eingeflossen sind. Dadurch wird die Einbettung von Christen in die Poliswelt plastisch deutlich.

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Alexander Weiß (Christliche versus städtische Identitäten? Ein Heptapolit liest die „Sieben Sendschreiben“ der Johannesapokalypse) führt in seinem Beitrag zu den Sendschreiben der Johannes-Apokalypse vor, wie ertragreich historische Phantasie und Fiktion für die historische und exegetische Arbeit sein können, wenn sie methodisch kontrolliert eingesetzt werden. Anhand eines fiktiven Heptapoliten, der alle sieben Städte der Sendschreiben in der Johannesapokalypse kennt, zeigt Weiß in Anlehnung an die lokalgeschichtliche Methode Assoziationsmöglichkeiten in den Sendschreiben zu einigen Realia in den angeschriebenen Städten auf. Dabei gibt es erstaunliche Verknüpfungen der Bildersprache der Johannesapokalypse und der von Weiß aufgezeigten lokalen Referenzmöglichkeiten. Bei aller Unsicherheit im Einzelnen, die Weiß methodisch einkalkuliert, ergibt sich als Ganzes aber auf der Basis vieler plausibler Indizien der notwendige Schluss, dass der Apokalyptiker selbst als ein solcher Heptapolit vorgestellt werden muss, der die sieben Städte der Sendschreiben aus eigener Anschauung kannte und ihr Lokalkolorit rhetorisch kunstvoll in die Gestaltung der Sendschreiben eingebracht hat. Carsten Claußen (Die Identität antik-jüdischer Gemeinden in Kleinasien im Spiegel von Rechtstexten. Das Beispiel Sardes) widmet sich der Frage, wie unterschiedliche lokale und politische Faktoren auf jüdische Identitätsbildungsprozesse in Judäa und in Kleinasien eingewirkt haben und daher verschiedene Grade von Inklusionen und Exklusionen erzeugt haben. Mit Blick auf Kleinasien zeigt Claußen am Beispiel von Sardes auf, dass zwar überregional Rechte für die Juden gewährt wurden, diese aber in den regionalen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen interpretiert und mit mehr oder weniger großer Freiheit umgesetzt wurden. Zeigt sich im 1. Jh. n. Chr. die jüdische Gemeinschaft in Sardes noch im Kampf um ihre Rechte, so bildet sie im 3. Jh. n. Chr. eine akzeptierte und politisch einflussreiche Bevölkerungsgruppe, was sich auch anhand der Größe der dortigen Synagoge archäologisch zeigt. Stefan Alkiers Beitrag (Terminologien kollektiver Identitäten in der Apostelgeschichte des Lukas) untersucht einige Passagen der Apostelgeschichte, in denen sich die Apostel in ihren Reden an Kollektive wenden. Er arbeitet heraus, dass die Unterscheidung von „Christen“ und „Juden“ dabei keine Rolle spielt, obwohl Apg 11,26 b und 26,28 klar bezeugen, dass der Verfasser der Apostelgeschichte die Bezeichnung der Christusanhänger als Christianoi als Fremdbezeichnung kannte. Die in gegenwärtiger exegetischer und historischer Terminologie in Juden und Christen eingeteilten Rezipienten der Apostelreden werden vielmehr überwiegend als Brüder oder als Männer Israels bezeichnet. Jan N. Bremmer (Jews, Pagans and Christians in the Apocryphal Acts) untersucht die apokryphen Apostelakten des Johannes, des Andreas, des Petrus und des Paulus. Er datiert sie mit guten Gründen in die zweite Hälfte des 2. Jh. n. Chr. und verortet sie nicht nur allgemein in Kleinasien, sondern genauer in städtische Milieus in Nord Lykien und Pontus sowie Bithynien. Obwohl diese Apostelakten

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fiktionale Texte sind, die Verwandtschaft und sogar intertextuelle Referenzen zu griechischen Novellen aufweisen, wertet Bremmer den in diesen Schriften inszenierten asketischen Lebensstil, die Rituale und die intertextuellen Bezüge zu Schriften des Alten und Neuen Testaments historisch aus. Ihre Gemeinsamkeit besteht vor allem darin, dass sie einem gebildeten und wohlhabenden Milieu zuzuordnen sind und sich mehr für die Pflege der eigenen Seele als für christliche Gemeinschaft interessieren. Die asketischen Ideale und die Betonung der Selbstsorge fügen sie in den Mittelplatonismus und den Neo-Pythagorismus ein. Zugleich sind sie Zeugen einer Entfremdung vom Judentum. Sie unterscheiden sich aber untereinander nicht zuletzt in der Frequenz der intertextuellen Referenzen zu alt‑ und neutestamentlichen Schriften und ihren Ritualen, so dass sie trotz gemeinsamer Züge eine große Vielfalt christlichen Lebens in Kleinasien repräsentieren. Hartmut Leppin (Christlicher Intellektualismus und religiöse Exklusion  – Justin und der Dialog mit Tryphon) wendet sich jenem Schlüsseltext Justins zu, der höchstwahrscheinlich in Ephesos spielt. In der Manier eines platonischen Dialogs sprechen ein Christ und ein Jude miteinander, wobei der Christ weitaus höhere Redeanteile hat. Der Dialog macht deutlich, dass die scharfe Trennung zwischen Christen und Juden, die der Dialog vorauszusetzen scheint, letztlich postuliert wird. Es wird bewusst Exklusion gegenüber Juden betrieben, auch wenn Justin die Weiterführung jüdischer Praktiken innerhalb christlicher Gemeinschaften duldet. Dabei inszeniert Justin sich nicht als Angehöriger einer Kirche, sondern als ein Intellektueller im Sinne Max Webers, der sich Juden wie Heiden als überlegen erweist und macht zugleich deutlich, dass in dem Respekt vor geistiger Autorität eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Gruppen liegt. Walter Ameling (Smyrna von der Offenbarung bis zum Martyrium des Pionius  – Marktplatz oder Kampfplatz der Religionen?) beschreibt facettenreich die religiöse Vielfalt des kaiserzeitlichen Smyrna, wo verschiedene Kulte dokumentiert sind, aber mit Äußerungen des Sophisten Aelius Aristides gleichfalls Privatreligiosität in ausführlichen Texten bezeugt ist. Zugleich ist für Smyrna auch über Juden und namentlich Christen viel bekannt. Doch verdeutlicht Ameling ebenso die Konflikthaftigkeit, wie sie gerade in christlichen Texten sichtbar wird, die aber auch deutlich machen, wie gering die Kenntnisse der anderen über Christen zu jener Zeit waren. Das ist zugleich eine Warnung davor, aus Multireligiosität und Diversität, wie sie in diesem Band betont werden, zu rasch auf ein wechselseitiges Verständnis zu schließen. Aus den Diskussionen der Tagung und den einzelnen Beiträgen haben die Herausgeber einen Vorschlag zur Terminologie entwickelt, der nicht mehr sein will als ein Vorschlag. Daher wurde sie nicht den Autoren vorgegeben, so dass unterschiedliche Begrifflichkeiten im Band vertreten sind. Gemeinsam ist den Beiträgen aber die Sensibilität für die Probleme im Umgang mit der Terminologie.

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Wir danken den Herausgebern der Sammlung „Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament“ für die Aufnahme in diese bedeutende Schriftenreihe. Wir danken Alena Schulz und wieder Matthias Kuta, die die Druckvorlage hergestellt haben, ferner Andreas Kern und namentlich Thomas Schaumberg für die Erstellung des Registers. Nicht zuletzt gilt unser Dank den beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Mohr Siebeck-Verlags. Die hier vorgelegte Publikation erscheint im Kontext des vom LOEWE-­ Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkts „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die Tagung wurde möglich dank der Unterstützung der DFG für das Koselleck-Projekt „Christianisierungen im Römischen Reich“. Frankfurt am Main und Bochum im März 2016 

Stefan Alkier und Hartmut Leppin

Literatur Alkier, Stefan: Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, (BHTh 83), Tübingen 1993. Alkier, Stefan: „Unerhörte Stimmen – Bachtins Konzept der Dialogizität als Interpretationsmodell biblischer Polyphonie“, in: Köhlmoos, Melanie / ​Wriedt, Markus (Hgg.): Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie Bd. 3 – Wahrheit und Positionalität, Leipzig 2012, 45–70. Alkier, Stefan: „Schwerwiegende Differenzen. Vernachlässigte Antagonismen in der Johannesapokalypse“, in: Alkier, Stefan / ​Schneider, Michael / ​Wiese, Christian (Hgg.): Diversität – Differenz – Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten, Berlin 2017 (im Druck) (= Alkier, 2017 a). Alkier, Stefan: „Identitätsbildung im Medium der Schrift“, in: Grohmann, Marianne (Hg.): Identität und Schrift, BThSt 169, Neukirchen-Vluyn 2017, 105–161 (= Alkier, 2017 b). Colpe, Carsten: „Die Ausbildung des Heidenbegriffs im antiken Judentum und früher Kirche und das Zweideutigwerden des Christentums“, in: Colpe, Carsten (Hg.): Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum, Heidentum und frühem Islam (ANTZ 3), Berlin 1989, 90–122. Dunn, James D. G. / ​Nicklas, Tobias / ​Vogel, Manuel: Kontroverse: Parting(s) of the Ways?, ZNT 37 (2016), 47–57. Gibbon, Edward: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, ed. with Introduction, Notes and Appendices by J. B. Bury, 7 Vols., London 1909–1914; Deutsche Ausgabe: Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reichs, aus dem Engl. übers. u. mit Anm. und Abhandlungen begleitet von F. A. W. Wenck u. a., Leipzig 1779–1793.

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Jones, Christopher P.: Between Pagan and Christian, Cambridge / ​London 2014. Leppin, Hartmut: „Christianisierungen im Römischen Reich“, ZAC 16 (2012), 245–276. Leppin, Hartmut: „Christianity and the Discovery of Religious Freedom“, Rechtsgeschichte / ​Legal History 22 (2014), 62–78. Lindemann, Andreas / ​Paulsen, Henning (Hgg./Überss.): Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von Franz X. Funk/Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker, Tübingen 1992. Semler, Johann Salomo: Theologische Briefe III. Nebst einem Versuch über den freien Ursprung der christlichen Religion, Leipzig 1782. Strasser, Ernst: „Der Begriff des Heidentums“, NKZ 39 (1928), 855–877. Vittinghoff, Friedrich: „‚Christianus sum‘: Das ‚Verbrechen‘ von Außenseitern der römischen Gesellschaft“, Historia 33 (3/1984), 331–357.

Teil I

Grundsatzfragen

Parting of the Ways? Probleme eines Konzepts Tobias Nicklas Ab welchem Zeitpunkt kann von einem „Parting of the Ways“ zwischen „Juden“ und „Christen“ ausgegangen werden?1 Hat bereits Paulus mit seiner beschneidungsfreien Mission von Heiden nicht nur einen wichtigen Impuls gesetzt, sondern schon den letztendlichen Ausschlag gegeben?2 Oder sind die entscheidenden Impulse in den Jahren nach 70 n. Chr. mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels anzusetzen, nach der sich mehr und mehr ein rabbinisches Judentum herausbildete, das sich von stärker apokalyptisch orientierten Richtungen – wie etwa den Anhängern des Messias Jesus von Nazaret – abzusetzen suchte?3 Bestand der entscheidende Auslöser in doktrinären Fragen – etwa um die Gottessohnschaft Jesu4 – oder ganz praktischen Problemen – wie etwa der Zahlung des Fiscus Iudaicus?5 Oder müssen wir den letztendlichen Schnitt erst 1 Für einen kritischen forschungsgeschichtlichen Überblick vgl. Becker, 2007 sowie Reinhartz, 2006, 280–295. Besonders einflussreich für das klassische Modell des Parting of the Ways wurden die beiden Bände Dunn, 1991 sowie Dunn (Ed.), 1992; eine spannende Übersicht über verschiedene Vorstellungsmodelle bietet Goodman, 2007, 119–130. 2 Einen tiefen Riss zumindest zwischen jüdischen Christusanhängern und solchen aus den Völkern bezeugt bereits die Erzählung vom antiochenischen Zwischenfall Gal 2,11–21; Apg 19,9 wiederum spricht bereits von einer Trennung des Paulus und seiner Jünger von den Mitgliedern der Synagoge zu Ephesus. Zu Trennungsprozessen zwischen christlichen Gemeinden und Synagoge in Ephesus ab der Zeit des Paulus wiederum vgl. weiterführend Frey, 2013, 245–251, der im Zusammenhang mit dem Pauluskreis von sehr komplexen Vorgängen ausgeht. 3 Vor allem ausgehend von Martyn, 1979, wurde lange Zeit die Einführung der Birkat ha-Minim in das synagogale Achtzehngebet als ausschlaggebend wenigstens für die Trennung von (rabbinisch-pharisäisch verstandener) Synagoge und johanneischem Judentum im Zusammenhang mit dem so genannten „Aposynagogos“ (Joh 9,22; 12,42; 16,2) verstanden. Diese Vorstellung wurde inzwischen heftig kritisiert, arbeitet sie doch einerseits mit anachronistischen Vorstellungen von den Möglichkeiten der Synagoge zur Zeit der Entstehung des Johannesevangeliums und muss sie andererseits eine Frühdatierung der Birkat ha-Minim voraussetzen; darüber hinaus überfordern die von Martyn (und den späteren Vertretern seiner These) vorgenommenen Mirror Readings an einem narrativen Text m. E. die Methode doch deutlich. Gerade die Diskussion um die Einführung der Birkat ha-Minim jedoch wurde in den vergangenen Jahren erneut aufgegriffen. Hierzu federführend Marcus, 2008, 523–551, der hier die Thesen seines Lehrers Martyn verteidigt, sowie (weitgehend in Reaktion auf Martyn) Boyarin, 2012, 91–105. 4 Gerade dies wird (erneut im Zusammenhang mit dem Denken der joh. Gemeinde) als Auslöser verstanden. Vgl. z. B. Theobald, 2010, 249–251; dieser Punkt wird aber aufgrund der faszinierenden, wie auch provokativen Thesen von Boyarin, 2007, neu zu diskutieren sein. 5 Zur Bedeutung des Fiscus Iudaicus, dem auch Frey, 2013, 268–275, eine wichtige Rolle zuweist, vgl. ausführlich die Monographie von Heemstra, 2010.

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später ansetzen – etwa nach dem großen Diasporaaufstand der Jahre 115–117 mit seinen einschneidenden Auswirkungen auf das Diasporajudentum Ägyptens, Zyperns und Nordafrikas oder nach dem Bar-Kochba-Krieg der Jahre 132–135 n. Chr.? All die genannten Zeitpunkte und Gründe bzw. die von ihnen ausgehenden Impulse – wie auch sicherlich viele mehr – sind relevant für die Frage nach der Entstehung zweier religiöser Gruppierungen, die wir heute als „Juden“ und „Christen“ kategorisieren – und doch liegt ein Problem bereits in der Form der Frage, die ich eingangs gestellt habe. Die Rede von „Juden“ und „Christen“ setzt voraus, dass wir es mit zwei mehr oder minder geschlossenen Einheiten, voneinander unterscheidbaren „Blöcken“, „Gruppen“ zu tun haben, die sich durch feste, klar erkenn‑ und definierbare Identitätsstrukturen voneinander abgrenzen lassen (bzw. selbst abgrenzen). Der Blick in die uns zur Verfügung stehenden Quellen zeigt jedoch sehr schnell, dass es sich weder um in sich stabile, geschlossene Gruppen handelt, noch Innen‑ und Außenansichten dieser Gruppen sich jeweils decken. So scheint es, wollen wir den relevanten Aussagen etwa des Tacitus in seinen Annales 15,44,4 Glauben schenken, römischen Behörden bereits im Zusammenhang mit dem Brand Roms im Jahre 64 n. Chr. möglich gewesen zu sein, Anhängerinnen und Anhänger Christi zu identifizieren, um sie als schuldig am Brand Roms hinzurichten.6 Doch können wir sichergehen, dass diese Maßnahme nur Menschen traf, die sich auch selbst als „Christen“ definierten? Und vor allem: Heißt dies schon, dass es aus der Perspektive der Betroffenen bereits zu dieser Zeit ein Christentum gab, das sich vom Judentum – dann ebenfalls ein geschlossener Block – getrennt hatte? In seiner noch immer unübertroffenen Monographie zu den stadtrömischen Christen im 1. und 2. Jh. macht Peter Lampe deutlich, dass dies sicherlich nicht so der Fall war – er spricht von einer Vielzahl verschiedener Gruppen mit einer hohen Bandbreite von theologischen Vorstellungen, die sich an verschiedenen Orten trafen, sich in theologischen Details wie auch Praktiken unterschieden und so kleine Gemeinschaften bildeten, welche gleichzeitig aber in Gemeinschaft miteinander verblieben – eine Situation, die sich erst mit dem Auftreten Marcions und seiner Anhänger änderte.7 Wenn wir also in Bezug auf antike Wirklichkeiten von „Juden“ und „Christen“ sprechen, dürfen wir weder voraussetzen, dass wir es mit zwei in sich geschlossenen, einander klar gegenüberstehenden Gruppierungen zu tun haben, die 6 Hierzu ausführlicher Lampe, 2003, 82–85 (engl. Version von Lampe, 1989). Siehe allerdings jetzt auch Shaw, 2015, der zu zeigen versucht, dass der Begriff „Christiani“ bei Tacitus einer späteren Projektion entspricht, nicht jedoch vorschnell auf die Zeit Neros zurückprojiziert werden sollte. Ich bin Hartmut Leppin für diesen Hinweis zu Dank verpflichtet. 7 Lampe, 2003. Vergleichbares lässt sich in Grundzügen auch zur Situation in Ephesus sagen (vgl. Trebilco, 2004), während in anderen Großstädten – besonders schwierig ist die Situation im Alexandria des 2. Jh.s – die Quellenlage zu mager ist, um eine differenzierte „Frühgeschichte“ des ortsansässigen Christentums zu schreiben.

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sich an jedem Ort in gleicher (oder nahezu gleicher) Weise organisierten und definierten. Wir müssen vielmehr komplexere Modelle anwenden. Um antike Wirklichkeiten soweit als möglich abzubilden, sollten wir auch nicht die Perspektive derjenigen Gruppierungen voraussetzen, die sich später durchsetzten und von denen uns die sicherlich größte Zahl an Quellen bis heute vorliegt. Denkmodelle, die alleine (christlicherseits) die „Proto-Orthodoxie“ voraussetzen und sie als von Anfang an und überall allein bestimmend voraussetzen, und ihr andererseits ein schon früh recht einheitliches „rabbinisches Judentum“ gegenüberstellen, sind in der Gefahr, genau diese Perspektive zu überbetonen, und deswegen nicht nur anachronistisch zu argumentieren, sondern dabei auch die Perspektive der späteren „Sieger“ mehr oder minder ungebrochen zu übernehmen. Ich setze deswegen gerne ein dynamisches, differenziertes Modell der Entwicklung des frühen Christentums (wie auch des Judentums) voraus, das Philip Rousseau in Bezug auf das antike Christentum entwickelt hat und welches von David Brakke weiterentwickelt wurde. Rousseau hat die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen antik-christlichen Gruppierungen mit einem Pferderennen verglichen, dessen Start wir nicht genau beobachten konnten, in dessen Verlauf aber verschiedene „Pferde“  – verschiedene Gruppen  – sich  – d. h. ihre Meinungen, Lebenskonzepte etc. – durchzusetzen versuchen. In den verschiedenen Stadien des Rennens ist jedoch nicht klar, welches „Pferd“ sich im weiteren Verlauf durchsetzen wird, ja in neuen Situationen kommen sogar neue Teilnehmer des Rennens in den Blick, die zuvor nicht beobachtet werden konnten.8 Selbst Teilnehmer, die lange Zeit wie Außenseiter wirken, können im Verlauf des Rennens plötzlich eine wichtige Rolle erhalten – übertragen auf christliche Gruppierungen, könnte man an die heute fast vergessene Gruppe der Elkesaiten mit ihrer Mischung aus jüdisch-mystischen, christlichen und astrologischen Vorstellungen denken, deren Gedanken jedoch aufgrund ihres Einflusses auf Mani plötzlich mit entscheidend für die Entstehung einer über Jahrhunderte weltweit verbreiteten Bewegung werden. Doch selbst dieses Modell stößt schnell an seine Grenzen: Aus heutiger Sicht mag sich die so genannte „Proto-Orthodoxie“ durchgesetzt haben – sie als eine in sich geschlossene Gruppe zu beschreiben, wäre jedoch naiv. So weist etwa David Brakke zu Recht darauf hin, dass wir diejenigen Autoren, die wir heute unter diesem Label zusammenfassen, nicht zu leicht in einen „Topf“ werfen sollten – immerhin stehen Autoren wie Irenäus von Lyon, Clemens von Alexandrien oder Tertullian doch für sehr unterschiedliche Theologien; Theologien, die sich zudem im Verlauf ihres Lebens entwickelten und in denen unterschiedliche Situationen auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kamen. Brakke schreibt:

8 Rousseau, 1985, 19; vgl. auch Brakke, 2010, 7. Vgl. auch die etwas ausführlichere Diskussion in Nicklas, 2014, 1–17.

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[A]ny conception of the ‘varieties of early Christianity’ that places a single proto-orthodoxy within a plurality of ‘other groups’ retains one key aspect of the Irenaean view: that proto-orthodoxy was single and consistent wherever it was found, while other forms of Christianity were multiple and diverse. But, as we shall see, in several important ways such proto-orthodox teachers as Justin Martyr and Clement of Alexandria had much more in common with, say, Valentinus than they did with bishop Irenaeus. There was no single and uniform proto-orthodoxy, but multiple modes of piety, authority, and theology that later orthodoxy represents as its forerunners.9

Wenn wir ein Modell wie das von Brakke nun auch auf das Judentum der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels anwenden – und viel spricht dafür, dass dies überaus sinnvoll ist – dann wird klar, dass ein einfaches Konzept, das verständlich machen will, dass und wie sich „Juden“ und „Christen“ in zwei voneinander getrennte religiöse Gruppierungen teilten, nicht ausreicht, um die komplexen Wirklichkeiten der Vergangenheit wenigstens teilweise zu beschreiben. Mit anderen Worten: Obwohl wir nur sehr begrenzte Perspektiven auf die Vergangenheit haben, sollten wir der Vergangenheit zutrauen, dass sie zwar vollkommen anders, jedoch ähnlich komplex gewesen sein mag wie die Welt, in der wir heute leben. Somit dürfte es notwendig sein, nach zeitlichen, räumlichen wie situativen Kontexten zu differenzieren und gleichzeitig zu versuchen, so viele Stimmen der verschiedenen Gruppen wie möglich zu Wort kommen zu lassen, die für unterschiedliche Perspektiven auf das Problem stehen. Gleichzeitig scheint es mir jedoch auch notwendig, den häufig verwendeten Begriff des „Parting of the Ways“ unter die Lupe zu nehmen: Was ist damit eigentlich konkret gemeint? Die Vorstellung, dass sich einfach zwei verschiedene Gruppen, die eine Zeit lang den gleichen Weg gegangen sind, ab einem bestimmten Punkt, d. h. einer Wegscheide, voneinander trennen, wie das Bild auszudrücken scheint, ist im Grunde viel zu grob, um sie sinnvoll anwenden zu können. Heißt es, dass es ab einem Punkt nur noch zwei voneinander abgegrenzte Gruppen „Juden“ und „Christen“ gibt? Heißt es, dass die beiden Gruppen nun einfach verschiedene Namen haben, unter denen sie von außen identifiziert werden können? Und bedeutet dies bereits, dass die von außen angewandten Namen auch den Identitätskonstrukten von innen entsprechen? Heißt es, dass die Mitglieder der beiden Gruppen nun in einer Weise getrennt sind, dass sie in keinem Lebensbereich mehr aktiv (und positiv) miteinander zu tun haben? Heißt es, dass sie sich gegenseitig nur noch in Ablehnung und Polemik begegnen? Kann wirklich von einem „Parting of the Ways“ gesprochen werden, wo zwei Gruppen sich zwar in Teilen ihrer religiösen Aktivitäten voneinander getrennt haben, sich in anderen aber weiter positiv beeinflussen bzw. voneinander lernen?10 Die Vorstellung vom „Parting of the Ways“ suggeriert zwar eine voll 9 Brakke,

2010, 10.

10 Ein schönes, m. E. besonders aussagekräftiges Beispiel für die Zeit, in der man üblicherwei-

se von einem längst erfolgten „Parting of the Ways“ ausging, sind die von Bar Asher-Siegal,

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ständige „Trennung der Wege“ und hat sicherlich die lange Zeit vorherrschende Idee von der rabbinischen Bewegung als weitgehend von ihrer Umwelt isoliert beeinflusst –, die Rede vom „Parting of the Ways“ kann im Grunde nicht nur heißen, dass einfach verschiedene Gruppen sich in Aspekten ihres Glaubens, des von ihnen praktizierten Ritus oder gar der Gestaltung ihres Lebens unterscheiden. Würden wir dieses einfache Kriterium zugrunde legen, gerieten wir in kürzester Zeit in größte Schwierigkeiten: Müsste dann nicht zur Erklärung der Entstehung jeder der verschiedenen Gruppen, die antikes Christentum und antikes Judentum ausmachen – und wohl Christentum wie Judentum bis heute ausmachen  – von einem „Parting of the Ways“ gesprochen werden? Anders: gäbe es dann nicht viele „Partings“ vieler Wege? Müsste dann nicht im Grunde schon beim so genannten „Antiochenischen Zwischenfall“, den Paulus in seinem Galaterbrief beschreibt (Gal 2,11–21), ein „Parting of the Ways“ vorausgesetzt werden  – hier allerdings zwischen jüdischen und nichtjüdischen Anhängern und Anhängerinnen Christi. Dass die Trennlinie zwischen so genannten „Judenchristen“ und „Heidenchristen“ – die Begriffe werden sicherlich zu Recht heute nur mit Vorsicht verwendet – bereits in sehr früher Zeit tatsächlich sehr tief ging, zeigt immerhin die Tatsache, dass die Kollekte des Paulus und seiner (vorwiegend) heidenchristlichen Gemeinden für die (weitestgehend) judenchristlichen Gemeinden in Palästina wahrscheinlich gescheitert sein dürfte.11 Bereits nach dieser ersten Skizze wird klar – das Konzept eines „Parting of the Ways“ zwischen Juden und Christen ist zutiefst problematisch. Bevor ich im Folgenden den Versuch starte, ein anderes, komplexeres Modell zu entwickeln, werde ich mit Hilfe einer an einer Reihe von Texten vor allem des 2. und 3. Jh.s entwickelten Thesenreihe versuchen, das Problem noch etwas genauer zu beschreiben:12

These 1 Die Probleme an den Rändern dessen, was wir heute  – erneut recht künstlich – als „judenchristlich“13 und „heidenchristlich“ beschreiben, führen bereits 2013, aufgezeigten Belege gegenseitiger Beeinflussung zwischen den syrischen Apophthegmata Patrum und rabbinischer Literatur; ausgezeichnete, wenig bekannte Beispiele auch bei Reed, 2012, 227–260. – Sehr grundlegend (und ebenfalls hoch provokativ) vgl. Schäfer, 2010. 11 Zu dieser Frage vgl. Horn, 2013, 116–119 [mit weiteren Literaturangaben], der die Situation relativ vorsichtig einschätzt. 12 Einige der folgenden Gedanken habe ich ausführlicher in Nicklas, 2014, entwickelt. Das Folgende soll jedoch nicht einfach Wiederholung und Zusammenfassung sein, sondern Beispiele und Aspekte weiterentwickeln und dabei weitere mir bei der Erstellung des genannten Bandes nicht zugängliche oder unbekannte Literatur einbauen. 13 Hilfreich erscheint mir in diesem Zusammenhang v. a. der Versuch von Luomanen, 2012, 11–12, ein Raster verschiedener Gruppenprofile zu entwickeln, die im näheren oder weiteren

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zu einer ersten Beobachtung, die sich in verschiedenen Quellen des vorkonstantinischen Christentums immer wieder zeigen lässt: Wo Trennlinien gezogen werden, werden die Definitionen dessen, was „jüdisch“ bzw. was „christlich“ ist, sehr unterschiedlich und je aus der Sicht der Gruppe, die diese Linien zieht, gewählt. Mit anderen Worten: Die Trennlinien zwischen dem, was als jüdisch und dem, was als christlich empfunden wird, verlaufen je nach Perspektive und je nach Gruppe entlang sehr unterschiedlicher Linien. Der vorliegende Zusammenhang erlaubt mir, nur knapp einige Beispiele vorzustellen: Zu erwähnen ist etwa das Judasevangelium, ein wohl der sethianischen Gnosis zuzuordnendes Dialogevangelium,14 das vorgibt, geheime Offenbarungen an Judas Iskariot zu enthalten. Für die vorliegende Fragestellung interessant ist jedoch weniger die (lange Zeit heiß diskutierte) Frage, ob Judas nun der uneingeschränkte Held des Judasevangeliums sei oder nicht,15 sondern die Rolle der „Elf“ – sie halten Jesus fälschlicherweise für den Sohn ihres Gottes, d. h. des Gottes Israels, den das Judasevangelium jedoch für einen dämonischen Demiurgen hält, dessen Schöpfung dem Untergang geweiht ist.16 Aufschlussreich hierzu ist bereits der auf CT p. 34,3–12 begegnende Dialog:17 Die Jünger … sprachen [zu ihm]: ‚Meister, warum lachst du über [unsere] Danksagung? Oder was haben wir getan? [Dies] ist es (doch), was sich ziemt (zu tun)!‘ Er antwortete und sprach zu ihnen: ‚Über euch lache ich nicht, ihr tut dies (ja) auch nicht a[us eu]rem (eigenen) Willen, sondern (weil) dadurch euer Gott Lobpreis [empfangen wird].‘ Sie sprachen: ‚Meister, du bist … der Sohn unseres Gottes.‘18

Wenig später, CT p. 38, lesen wir von einer Vision der Jünger, wir lesen von einem Tempel, Priestern und einer Menschenmenge, dazu grausigen Opfern von Kindern, Frauen, dies ist begleitet vom Vorwurf homoerotischer Handlungen und einer Vielzahl anderer als sündig empfundener Taten – mit anderen Worten: die polemische Darstellung eines Kults, der an den Tempel zu Jerusalem erinnern soll, in dem jedoch die Jünger Jesu fälschlicherweise im Namen Jesu einen Kult vollziehen, der die Menge in die Irre führt. Wie auch immer man die konkrete Polemik dieser Szene historisch einordnen möchte,19 eines scheint Sinne als „judenchristlich“ verstanden werden können. Das Problem selbst dieses Zugangs besteht natürlich in dem weitgehenden Mangel an aussagekräftigen und wirklich zuverlässigen Quellen, die nicht nur eine polemische Außenperspektive bieten. 14 Zu Einleitungsfragen bzgl. des Judasevangeliums vgl. Wurst, 2012, 1220–1238; zur konkreten formalen Einordnung zudem Hartenstein, 2012, 37–54. Die Frage, ob es tatsächlich so etwas wie eine „sethianische“ Gnosis gegeben haben mag, ist heute jedoch wieder umstritten. Kritisch z. B. Schröter, 2016. 15 Hierzu z. B. Marjanen, 2010, 209–224. 16 Zum Demiurgen des Judasevangeliums vgl. Nicklas, 2012 a, 99–120. 17 Ich zitiere nach der Übersetzung von Wurst, 2012, 1226. 18 Beim letzten Satz ist auch die Formulierung als Frage möglich. 19 In der Diskussion bestimmend ist die Ansicht von King / ​Pagels, 2007, sowie King, 2011, 23–42; ich selbst habe dagegen vorgeschlagen, dass es dem Text um Veränderungen sa-

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klar zu sein. Den Jüngern Jesu wird vorgeworfen, Jesus und seine Botschaft an den Demiurgen verraten zu haben und damit viele in den Untergang zu ziehen, weil sie weiterhin am Gott Israels wie auch jüdischen Traditionen festhalten. Gemeint sind mit dieser Kritik jedoch nicht „Juden“ oder auch jüdische Christusanhängerinnen und Christusanhänger, sondern Vertreter der sich auf die Apostel Christi berufenden, werdenden Großkirche. Auf sicherlich anderer Ebene liegt die Frage nach der Funktion der Polemik in dem Fragment P.Oxy. v 840. Im Reinheitsbezirk eines Tempels  – gemeint ist wohl der Tempel zu Jerusalem – wird Jesus und seinen Jüngern von einem pharisäischen Hohepriester, dessen Name wohl als „Levi“ zu rekonstruieren ist, vorgeworfen, unrein zu sein, weil sie sich nicht in angemessener Weise vor dem Betreten gebadet bzw. die Füße gewaschen hätten. Der Priester dagegen selbst hält sich für rein: „Ich bin rein. Ich habe mich nämlich im Davidsteich gebadet und bin auf der einen Treppe hinunter‑ und auf der anderen hinaufgestiegen, habe weiße Kleider angelegt und reine, …“ (P.Oxy. v 840 Fleischseite, Z. 2–5).20 Die Antwort Jesu ist scharf: Auch Hunde und Schweine lägen Tag und Nacht im Wasser, ohne dadurch zu reinen Tieren zu werden, auch Huren und Flötenspielerinnen machten sich äußerlich rein, ohne deswegen ihre Sünden abzulegen. Während sich die Diskussion um P.Oxy. 840 lange Zeit um die Frage drehte, ob hier möglicherweise authentisches Jesusmaterial vorliege – besonders vehement wurde diese Vorstellung von Joachim Jeremias verteidigt21 –, hat ein erstmals im Jahr 2000 veröffentlichter Beitrag von François Bovon, der den Text in innerchristlich tauftheologische Debatten des 2. bzw. 3. Jh.s einordnete, dem Verständnis des Textes eine vollkommen neue, m. E. grundsätzlich zutreffende Grundrichtung gegeben. In Bovons Verständnis stünde der pharisäische Hohepriester für proto-orthodoxe Christen, von deren Praxis, mit Wasser zu taufen, sich die hinter dem apokryphen Text stehende Wir-Gruppe eventuell gnostischen, eventuell anderen innerchristlichen Ursprungs abgrenzen will.22 Die von Bovon ausgelöste Debatte um den bis dahin weitgehend vergessenen Text kann im vorgegebenen Rahmen natürlich nicht im Detail nachvollzogen werden – während v. a. Michael J. Kruger den Text in ein judenchristliches Milieu einordnen will und für eine frühe Datierung des Textes plädiert,23 haben jüngst Harald Buchinger und Elisabeth Hernitscheck mit Hilfe eines liturgiegeschichtlichen Vergleichs wahrscheinlich gemacht, dass die entsprechende Debatte noch später als von Bovon vorgeschlagen – wohl ins 4. Jh. – zu datieren ist.24 kramental-kultischer Praxis in der werdenden Mehrheitskirche des 2. Jahrhunderts gegangen sei. Nicklas, 2013, 127–155; in eine ähnliche Richtung geht Schmid, 2012, 71–98. 20 Übersetzung Nicklas, 2012 b, 359. 21 Vgl. Jeremias, 1947, 97–108. 22 Vgl. Bovon, 2011, 174–196. 23 Kruger, 2005. 24 Vgl. Buchinger / ​Hernitscheck, 2014, 117–124.

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Wir sehen also: Nicht überall, wo antik-christliche Texte gegen „Juden“ polemisieren, ist das gemeint, was wir unter „Juden“ verstehen. Doch auch die andere Richtung ist möglich25: wenn die wohl auf den Anfang des 3. Jh.s unserer Zeitrechnung zurückgehende Grundschrift der Pseudoclementinen gegen Paulus als falschen Propheten polemisiert, ihn als todbringenden Feind identifiziert oder Simon Magus, den Erzfeind des Petrus, so zeichnet, dass man dabei an Paulus denken muss, ja schließlich Paulus wenigstens implizit als Mörder des Herrenbruders Jakobus anklagt, dann zeigen sich hier Spuren eines Christentums, das sich von „proto-orthodoxen“, an Paulus orientierten Gruppen absetzen möchte, gerade weil diese als zu wenig jüdisch verstanden sind und die Jakobus vorgegebene Linie verlassen haben. Je nachdem, welche Texte wir also betrachten, erkennen wir sehr unterschiedliche Trennlinien zwischen „Juden“ und „Christen“ (bzw. verschiedene Bedeutungen dessen, was bzw. wen „christliche“ Polemik mit „Juden“ meint); wir entdecken Abgrenzungen, die z. T. entlang von Linien verlaufen, die wir so nicht erwarten würden. Die Verschiedenheit dieser Trennlinien jedoch lässt es m. E. nicht mehr zu, von einem „Parting of the Ways“ zu sprechen.26

These 2 Trennlinien zwischen „Juden“ und „Christen“ werden dann besonders klar deutlich gemacht, wenn sie von einigen nicht beachtet werden. Mit anderen Worten: In einigen Fällen, in denen wir mit scharf betonten (bzw. verteidigten) Trennlinien zwischen „Juden“ und „Christen“ konfrontiert werden, scheint dies den Grund zu haben, dass offenbar für wenigstens einige Anhängerinnen und Anhänger Christi diese Trennlinien keine Rolle spielten. Besonders deutlich zeigt sich dies in einigen Briefen des Ignatius von Antiochien. Wollen wir dem Bericht des Eusebius von Caesarea (h.e. 3,36,1) Glauben schenken, dann befindet sich Ignatius gegen Ende der Regierungszeit Trajans (117 n. Chr.) als Gefangener auf dem Weg nach Rom, als er seine Briefe an die Gemeinden von Ephesus, Magnesia, Tralles, Rom, Philadelphia und Smyrna sowie an Bischof Polycarp verfasst. Ob sie nun echt oder, wie immer wieder behauptet, pseudepigraphisch sind,27 die Texte wollen als ein literarisches wie theologisches Testament des Bischofs verstanden werden, der auf dem Weg ins 25 Weiterführend hierzu die entsprechende Passage in Nicklas, 2014, 47–52 (mit ausführlicher Diskussion der Sekundärliteratur). 26 Die andere Alternative wäre natürlich, Gruppen hinter Texten wie den genannten von vornherein als marginal abzutun. Damit aber wäre ein Modell der Entstehung des frühen Christentums vorausgesetzt, in dem nichts außerhalb von „Proto-Orthodoxie“ interessiert. 27 Besonders gewichtig gegen die Echtheit argumentiert Lechner, 1999; eine Zusammenfassung der Argumentation für die Echtheit bietet Brent, 2007, 95–143.

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Martyrium ist. In diesem Zusammenhang wächst ihren Aussagen natürlich ungeheures Gewicht zu. Zu den Problemen, die Ignatius als besonders brennend versteht, gehört die Frage nach dem Verhältnis von „Judentum“ und „Christentum“. Dies wird etwa in seinem Brief an die Magnesier besonders deutlich, wo Ignatius seine Adressaten davor warnt, sich auf wertlose alte Mythen einzulassen und von daher weiterhin auf „jüdische Weise“ zu leben – dies würde nämlich bedeuten, noch nicht die Gnade empfangen zu haben, die von Christus herkommt (Ign.Magn. 8). Alten (jüdischen) Riten wie der Observanz des Sabbats stellt Ignatius dabei die Beachtung des Herrentags entgegen, des Tages, an dem in der Auferstehung Christi auch unser Leben neu erstanden sei (Ign.Magn. 9) – Abschnitt 10 schließlich gipfelt in dem Satz: „Lasst uns lernen, in Übereinstimmung mit dem ‚Christentum‘ zu leben“ – es sei absurd, Christus zu bekennen und doch „Judentum“ zu praktizieren: „Es ist nicht am Platz, Christus Jesus zu sagen und jüdisch zu leben. Denn das Christentum ist nicht zum Glauben an das Judentum gekommen, sondern das Judentum (zum Glauben) an das Christentum, zu dem jede Zunge, die an Gott glaube, gebracht wurde“ (Ign. Magn. 10,3). Für Ignatius scheinen die Trennlinien klar zu liegen. Judentum und Christentum –  Ἰουδαϊσμός und Χριστιανισμός – sind für ihn zwei voneinander getrennte Entitäten; das Judentum bildet für ihn durchaus eine Art Vorläufer des Christentums, ist aber im Christusereignis überwunden. An Christus zu glauben heißt somit, in der Beachtung von Riten (z. B. der Observanz des Herrentags anstelle des Sabbats) wie auch eines neuen Verständnisses der Schriften Israels, die nun nur noch von Christus her bzw. auf Christus hin zu deuten sind, sich von „Juden“ zu unterscheiden. Haben wir es so nicht doch mit einem klaren, im Grunde gar recht frühen Zeugnis für ein „Parting of the Ways“ zwischen Juden und Christen zu tun? Ja – und nein zugleich! Für Ignatius scheint tatsächlich längst alles klar zu sein – zumindest in Texten wie dem eben kurz zusammengefassten ist die Differenzierung zwischen Juden und Christen  – zudem bereits beschrieben in klaren Kategorien  – eindeutig vollzogen. Und doch machen die Aussagen des Ignatius in einem Brief, der als Antwort auf eine Krise verstanden werden will – sei er nun pseudepigraphisch oder echt –, nur dann Sinn, wenn es zur Zeit des Ignatius in Magnesia (und wohl auch in Philadelphia, wo wir Ähnliches lesen), eine nicht zu unterschätzende Gruppe von Christusanhängerinnen und ‑anhängern gab, für die die von Ignatius verteidigte Differenzierung offenbar keine Rolle spielte und denen gegenüber Ignatius die Notwendigkeit von Grenzziehungen aufzeigt. Hatte es Ignatius in diesem Falle mit heidenchristlichen „Judaisierern“ zu tun, die von jüdischen Christusanhängern zu unterscheiden wären? So sehr dies einem immer wieder in der Sekundärliteratur begegnet, so sehr ist diese Aussage problematisch, weil anachronistisch: Sie würde ja nur da Sinn machen, wo Kategorien wie „heidnisch“, „jüdisch“ und „christlich“ bereits existieren. Die Betroffenen mögen sich vielleicht mit ganz anderen Kategorien selbst definiert haben – einfach als

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Gruppe von Anhängern Christi, für die die Trennung zwischen „Judentum“ und „Christentum“ keine solche Rolle spielte wie für den Bischof von Antiochien. Mit anderen Worten: Genau betrachtet kann das Zeugnis des Ignatius von Antiochien nicht als Zeugnis eines „Parting of the Ways“ gelesen werden, wie es immer wieder geschieht;28 viel eher jedoch sollte man von einer bewusst „gesetzten“ Unterscheidung sprechen, deren Sinn nur dann erklärbar ist, wenn sie offenbar nicht für alle Angesprochenen gilt.29 Wir kommen, wenn vielleicht auch nicht der Gegnergruppe des Ignatius, einer Gruppierung, für die die von Ignatius aufgestellten Kategorien ganz offenbar keine Rolle spielten, zum Beispiel in der Ascensio Isaiae nahe, einer heute in ihrem Gesamt v. a. in äthiopischer Sprache erhaltenen, ursprünglich griechischen Apokalypse, die wohl zwischen Ende des 1. und den ersten Jahrzehnten des 2. Jh.s entstand.30 Wie im Falle vieler Schriften, die lange Zeit als jüdische Pseudepigraphen eingeordnet wurden, vermutete man lange Zeit hinter dem Text eine frühjüdische, auch eindeutig rekonstruierbare Quelle, das Martyrium des Jesaja, die dann später „christlich“ ergänzt und übermalt worden sei. Neuere Untersuchungen jedoch haben nicht nur gezeigt, dass eine solche Quelle nicht einfach rekonstruiert werden kann, sondern dass wir es – wollen wir unsere Kategorien anwenden  – bei der Ascensio Isaiae mit einem eindeutig „christlichen“ Text zu tun haben. Versuchen wir jedoch, uns auf die vom Text selbst verwendeten Kategorien einzulassen, so wird sehr schnell deutlich, dass eine Differenzierung in „Juden“ und „Christen“ für den Trägerkreis der Ascensio offensichtlich keine Rolle spielt. Man versteht sich selbst als die „Gerechten“, welche in einer Reihe mit den großen Gerechten Israels stehen, versucht in den „letzten Tagen“ ein engelgleiches Dasein als „Heilige“ zu leben und entwickelt ein komplexes Bild der Welt, die unterhalb des Firmaments in der Macht des Bösen sei, der man jedoch bereits jetzt durch mystische Erfahrungen entfliehen könne. Man entwickelt eine dezidierte Theologie des Geistes, schätzt Prophetie und grenzt sich gleichzeitig von „christlichen“ Gruppierungen ab, in der an die Stelle unmittelbarer Geisterfahrung und Prophetie Amtsträger getreten seien. Ist das jüdisch oder christlich? Für die Gruppe hinter der Ascensio Isaiae scheint dies nicht nur keine Alternative gewesen zu sein, sie hat, wie wir sehen, ganz andere Kategorien angewandt, um sich selbst zu beschreiben.31

28 Vgl.

z. B. Robinson, 2009. dieser Kategorie vgl. ähnliche Gedanken bei Mimouni, 2012, 7–20. 30 Weiterführend zum Gegenüber von Ignatius und Ascensio Isaiae Nicklas, 2016 a; zum neuesten Stand der Erforschung des Texts vgl. Bremmer / ​Karmann / ​Nicklas (Hgg.), 2016. 31 Im Detail Henning / ​Nicklas, 2016. 29 Zu

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These 3 Trennungen und Differenzierungen zwischen verschiedenen Gruppen sind in unterschiedlichen Lebenssituationen unterschiedlich präsent, weil sie unterschiedlich wichtig sind. Zumindest in einigen Quellen wird deutlich, dass Trennungen und Differenzierungen zwischen „Juden“ und „Christen“ erst aufgrund von Drucksituationen von außen bewusstgemacht wurden oder entstanden. Dies gilt z. B. dann, wenn Verfolgungssituationen das klare Bekenntnis zu einer Gruppe erfordern. Immer wieder in diesem Zusammenhang genannt wurde die Einführung des Fiscus Iudaicus, der nach der Zerstörung des Zweiten Tempels die Tempelsteuer ersetzen sollte. Der Druck von außen, aufgrund einer Steuer sich einer Gruppe zuzuordnen bzw. sich von ihr abgrenzen zu müssen, sollte nicht unterschätzt werden.32 Ob die im Zusammenhang mit einer Steuererhebung getroffene Entscheidung einer Person, sich als „jüdisch“ (oder nichtjüdisch christlich) zu verstehen oder nicht, tatsächlich auch einer für jede Lebenssituation zutreffenden Identitätsaussage entspricht, mag jedoch dahin gestellt sein – ich denke dabei an Menschen, die sich heute keiner Kirche zugehörig fühlen, deswegen auch keine Kirchensteuer zahlen, sich aber vor allem in entscheidenden Grenzsituationen ihres Lebens durchaus als Christen bezeichnen würden. Noch deutlich interessanter erscheint mir jedoch ein anderes Beispiel: Das Martyrium des Polykarp – die genaue Datierung des Texts an das Ende des 2. oder doch in die Mitte des 3. Jh.s unserer Zeitrechnung ist umstritten33 – erzählt das Sterben des Bischofs Polykarp von Smyrna als eine Art idealen Martyriums in der Nachfolge Christi. Für unsere Fragestellung besonders interessant ist jedoch die eigenartige Rolle der „Juden“ in dieser Erzählung.34 Auffallend ist bereits, dass sie in Kapitel 12 auf das Bekenntnis des Polykarp hin, ein „Christ“ zu sein, gemeinsam mit den Heiden Smyrnas rufen, Polykarp, der Lehrer der Asia und Vater der Christen, sei der „Zerstörer unserer Götter“ (Mart.Pol. 12,2) – eine im Munde von Juden sicherlich unvorstellbare Aussage. Ähnliches begegnet in Mart.Pol. 13,1, wo wir davon hören, dass die „Juden“ sich besonders eifrig daran beteiligten, Holz für den Scheiterhaufen Polykarps zu sammeln  – dies jedoch ausgerechnet an einem „großen Sabbat“ (vgl. Mart.Pol. 21). Selbst wenn wir uns vor Augen führen, wie wenig wir über die konkreten Sabbatpraktiken der Juden von Smyrna im 2. Jh. wissen, dürfte das Sammeln von Holz – immerhin bereits im Alten Testament am Sabbat verboten – kaum zu den am Sabbat erlaubten Tätigkeiten gehört haben. 32 Siehe

oben Anm. 4. z. B. die Diskussion bei Moss, 2012, 58–72. 34 Ausführlicher zum Folgenden Nicklas, 2014, 52–60 [mit Diskussion der einschlägigen Sekundärliteratur]; s. zu dem Text in diesem Band Ameling. 33 Vgl.

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Ob es sich nun in den beiden genannten Fällen um spätere redaktionelle Einträge in den Text des Mart.Pol. handelt oder die Passagen zum ursprünglichen Text gehörten, ist zweitrangig – in jedem Fall geht es dem Text offenbar darum, entgegen aller historischen Plausibilität ein schlechtes Licht auf die Juden Smyrnas zu werfen. Dieser Eindruck bestätigt sich beim Durchgang durch die Kapitel 17–18: Da „der Böse“ (17,1) zu verhindern sucht, dass die Christen den Leichnam des Polykarp in ihren Besitz bekommen, habe er einen gewissen Niketes angestiftet, an den Magistrat zu appellieren, ihnen die sterblichen Überreste Polykarps nicht auszuhändigen, „damit sie nicht anstelle des Gekreuzigten diesen Mann verehrten. Dies geschah, weil die Juden dazu anstifteten und darauf drängten; sie hatten auch schon aufgepasst, als wir ihn aus dem Feuer nehmen wollten, unwissend, dass wir niemals Christus verlassen können …“ (Mart.Pol. 17,2). Etwas später lesen wir: „Als der Centurio die Bosheit der Juden sah, ließ er ihn [Polykarp] in die Mitte setzen und verbrennen, wie es ihre Gewohnheit ist“ (Mart.Pol. 18,1). Nicht nur das Verhalten des römischen Beamten ist mehr als überraschend: Warum sollte sich Niketes in die Fragen der rechten Verehrung von Märtyrerreliquien einmischen? Vor allem aber: Warum spielen hier  – erneut  – die Juden Smyrnas eine solch fatale Rolle? Grundsätzlich gibt die Forschung zwei Antworten auf diese Frage: (1) Das Martyrium des Polykarp verarbeitet hier Erinnerungen an eine tatsächliche Beteiligung von Juden an Christenverfolgungen. Obwohl es nicht auszuschließen ist, dass auch Juden bzw. Denunziationen von jüdischer Seite bei Martyrien von Christusanhängern immer wieder eine Rolle spielten, halte ich wie auch andere Autoren diesen Versuch für im Großen und Ganzen wenig plausibel. (2) Deswegen wurde immer wieder überlegt, welcher literarischen Strategie die Darstellung folgt. Anders als immer wieder behauptet, dürfte die Funktion der Darstellung jedoch nicht allein darin bestanden haben, den Tod Polykarps soweit wie möglich der Passion Christi anzugleichen – die oben genannten Motive der Darstellung der Juden jedenfalls erfüllen diese Aufgabe nicht. Wenn wir jedoch  – mit E. Leigh Gibson35  – das Martyrium des Polykarp in Bezug zu zwei anderen, auf die Situation in Smyrna reagierenden Schriften von frühen Christen setzen, wird das Bild eventuell klarer: Will man die problematische Passage der Offenbarung des Johannes über die Mitglieder der „Synagoge Satans“ (Offb 2,9), die zwar sagten, sie seien Juden, aber keine Juden waren, nicht auf Juden beziehen, sondern auf heidnische Christusanhänger, die sich jedoch der Synagoge Smyrnas angehörig fühlten,36 dann könnte auch hinter der Darstellung von „Juden“ im Martyrium des Polykarp das Problem christlicher Identität in Abgrenzung von Juden eine Rolle spielen. Diese Idee wird umso plausibler, als Vergleichbares auch im in der Mitte des 3. Jh.s ebenfalls 35 Leigh 36 Diese

Gibson, 2007, 145–158. Deutung ist sicherlich umstritten. Vgl. allerdings Frankfurter, 2001, 403–425.

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in Smyrna entstandenen Martyrium des Pionius zu beobachten ist.37 Dann lässt sich die Darstellung der Juden im Text als Warnung verstehen, vor dem Hintergrund der erfahrenen Verfolgungssituation keine falsche Solidaritäten einzugehen: Christusanhängern, die sich weiterhin mit der Synagoge verbunden fühlten sowie eventuell eine gewisse, im Detail nicht mehr rekonstruierbare Tora-Observanz pflegten, soll klar gemacht werden, dass in Zeiten der Verfolgung ein klares Bekenntnis – „Ich bin Christ“ – gefragt ist. Während der Christusanhänger Polykarp für sein Bekenntnis in den Tod geht, stehen die „Juden“ mit den Verfolgern auf der anderen Seite. Das so erzeugte Stereotyp von Juden als beteiligt an Christenverfolgungen zwingt zur Entscheidung: entweder eindeutig auf der Seite der Bekenner zu stehen oder weiterhin gemeinsame Sache mit den Verfolgern zu machen.38 Zumindest indirekt lässt sich das Martyrium des Polykarp so als Zeichen einer Auseinandersetzung um die Grenzen zwischen Christusanhängern und Juden im Smyrna des 2. und 3. Jh.s lesen. Seine rätselhafte Darstellung „der Juden“ macht so ausgezeichneten Sinn.

These 4 Das Konzept „Parting of the Ways“ jedoch konfrontiert, wie bereits angedeutet, mit einer weiteren Frage: Wie weit muss die Trennung zweier Gruppen gehen, damit wirklich von einem „Parting“  – einer echten Trennung  – gesprochen werden kann? Denn: Selbst an Stellen, Orten und Situationen, wo klar zwischen Juden und Christen differenziert wird, bedeutet dies noch nicht, dass sich die Wege beider Gruppen vollkommen getrennt hätten – vielmehr gibt es eine Vielzahl von Berührungspunkten in verschiedensten Kontexten des alltäglichen wie auch des religiösen Lebens. Die Quellen hierzu liegen auf verschiedenen Ebenen: Recht weit bekannt ist sicherlich die Beobachtung, dass die bekannten Homilien des Johannes Chrysostomos „Gegen die Juden“ sich nicht zuerst gegen Juden richten, sondern an ein christliches Publikum, das offenbar jedoch auch im 4. Jh. bestimmte Aspekte und Angebote der Synagoge als attraktiv empfand.39 Dass Derartiges nicht nur für das 37 Weiterführend

Leigh Gibson, 2001, 339–358. lassen sich ähnliche Strategien wenigstens im Ansatz auch im Johannesevangelium beobachten. Hierzu weiterführend Nicklas, 2016 b. 39 Ausführlich hierzu Wilken, 1983; zur Problematik so genannter „judaisierender“ Christen in verschiedenen Teilen des Römischen Reichs vgl. z. B. die folgenden Bemerkungen von De Lange, 1976, 36: „Origen frequently attacks in his homilies the observance by Christians of the Jewish fasts and feasts; what he does not make clear is whether the offenders were Jews who had embraced Christianity or Christians who were attracted to the outward forms of Judaism. One imagines that in Palestine, as elsewhere, such religious barriers were not strong enough to prevent the people from making certain concessions in either direction. Origen was conscious of addressing on Sunday some who had been to the synagogue the previous day.“ 38 Möglicherweise

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Antiochien des 4. Jh.s gelten mag, dürfte klar sein: Zeugnisse für Berührungen zwischen „Juden“ und „Christen“ liegen auch da, wo diese Kategorie bereits verwendet wird, auf höchst unterschiedlichen Ebenen. So finden sich in den Kanones der wohl in den ersten Jahren des 4. Jh.s unserer Zeitrechnung stattfindenden Synode von Elvira / ​Iliberis (Spanien) Verbote von Ehen zwischen christlichen und jüdischen Partnern (can. 16 und 78); wir lesen davon, dass bei der Segnung der Feldfrüchte keine jüdischen Magier gefragt werden sollen (can. 49) und die Tischgemeinschaft zwischen Christen und Juden (can. 50) unterbunden wird.40 All dies jedoch setzt zwar einerseits voraus, dass zwischen Juden und Christen (zumindest von der Synode, wohl aber auch von vielen Christinnen und Christen der betreffenden Region) klar differenziert wird, dass dies aber nicht bedeutete, dass beide Gruppen nicht in verschiedensten Lebensbereichen (positiv) miteinander zu tun hatten: Sinn macht ein Verbot nur da, wo zumindest der Verdacht herrscht, dass das Gegenteil praktiziert wird. Auf einer noch einmal anderen Ebene sind Zeugnisse zu verorten, die wir in spätantiken Pilgerberichten lesen – die uns heute erhaltenen Schriften von Jerusalempilgern entstammen Zeiten, in denen die Kategorien „Juden“ und „Christen“ längst eingeführt und in einem bereits christlichen Kaiserreich (wohl von den meisten Seiten) anerkannt sind. Und trotzdem zeigen sie an z. T. spannenden Details auf, wie sehr die Wege von Juden und Christen sich weiter berühren und überlappen. Zitiert seien nur zwei Beispiele aus dem Antonini Placentini Itinera‑ rium (Plac.Itin.), dem Itinerar des Pilgers von Piacenza (etwa 570 n. Chr.).41 In Kapitel 5 – über Nazaret – etwa finden wir folgenden Abschnitt, der durchaus zu leichtem Schmunzeln anregen mag: In jener Stadt sind die hebräischen Frauen so reizend, wie unter den Hebräerinnen des Landes schönere nicht angetroffen werden. Sie sagen, die hl. Maria habe ihnen das verliehen; denn sie halten sich für ihre Verwandten. Und während die Hebräer die Christen sonst nicht mögen, sind sie voller Freundlichkeit.42

So sehr man hier auch an die eine oder andere wenig realistische Erzählung heutiger Touristen denken mag, so mag an einem Ort, an dem man bereits zum Ausgang der Antike Geld mit christlichen Pilgern machen konnte, das Verhältnis zwischen den am Ort Ansässigen und (eventuell) zahlungskräftigen Pilgern ein anderes gewesen sein als in anderen Kontexten. Dass in einem solchen Kontext eine Geschichte wie die von der Verwandtschaft mit Maria besonders ankommen mag, versteht sich von selbst. Und doch zeigt auch diese kleine Passage, dass das Verhältnis von Juden und Christen – auch in Kontexten, wo bereits von zwei unterscheidbaren Religionsgemeinschaften gesprochen werden kann  –, nicht überall und nicht in jeder Situation gleich ausgesehen haben mag: Maria, die jü40 Weiterführend

Reicher, 1990. Donner, 2002, 226–242. 42 Donner, 2002, 246–247. 41 Weiterführend

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dische Mutter Jesu und gleichzeitig Gottesgebärerin, wird hier zum Bindeglied zwischen dem christlichen Pilger und den Frauen von Nazaret. Interessant ist auch Abschnitt 30 des Itinerars, wo wir lesen: Von Betlehem aber bis zur Eiche Mambre sind es 24 Meilen. Dort liegen Abraham, Isaak, Jakob, Sarah, aber auch die Gebeine Josephs. Da ist eine Basilika mit vier Säulenhallen errichtet, im mittleren Atrium ungedeckt: mitten hindurch läuft eine Schranke, und von der einen Seite treten die Christen ein, von der anderen die Juden und bringen viel Weihrauch dar. Auch der Todestag Jakobs und Davids wird in jener Gegend am Tage nach Weihnachten andächtig gefeiert, und zwar so, dass die Juden aus der ganzen Gegend zusammenkommen, eine unzählbare Menge, viel Weihrauch und Lampen darbringen und den Geistlichen dort Geschenke geben.43

Bis heute werden wichtige Figuren des Alten Testaments von Mitgliedern verschiedener Religionsgemeinschaften – auch Muslimen – verehrt, was sich an einigen wichtigen Pilgerstätten Israels bemerkbar macht und gelöst werden muss. Das oben genannte Beispiel – wahrscheinlich verwechselt er Mambre mit den bis heute ähnlich organisierten Patriarchengräbern in Hebron – aus dem Bericht des Pilgers von Piacenza ist deswegen interessant, weil es die Ambivalenz der Situation gerade auch seiner Zeit besonders schön zum Ausdruck bringt: Juden und Christen betreten den gleichen Ort der Verehrung, sie sind jedoch durch eine Schranke voneinander getrennt. Offenbar gemeinsam wird der Todestage Jakobs und Davids (am 25.12. oder 26.12.) gedacht und dies mit dem christlichen Weihnachtsfest verbunden. Auch wenn man überlegen mag, ob man mit der eben zitierten Übersetzung von Herbert Donner daran zu denken hat, dass jüdische Festgäste auch den christlichen Geistlichen Geschenke bringen, oder ob (m. E. wahrscheinlicher) einfach an Geschenke an diejenigen (Juden) gedacht ist, die das Fest dort leiten und organisieren, so setzt die Erzählung doch wenigstens ein Nebeneinander, wenn nicht gar ein Miteinander des gemeinsamen Feierns voraus. Das eben genannte Beispiel, das von der Freundlichkeit der Frauen von Nazaret auch gegenüber christlichen Pilgern erzählt, führt uns zu einer abschließenden These:

These 5 In vielen unserer Bilder der Vergangenheit setzen wir mehr oder minder unreflektiert stabile Gruppenidentitäten – und damit verbunden, stabile oder gar statische Identitäten ihrer Mitglieder – voraus. „Identität“ sollte jedoch als ein einerseits Innen‑ und Außenperspektiven konfrontierendes, vor allem aber dynamisches, an Kontexte wie Situationen und ihre Herausforderungen gebunde43 Donner,

2002, 273–274.

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nes Konzept verstanden werden.44 Die ja nur winzige Ausschnitte tatsächlicher vergangener Ereignisse spiegelnden Quellen antiken Lebens lassen natürlich nur höchst selten Einblicke zu, die die kontextgebundene, instabil-dynamische Identität konkreter Individuen erahnen lässt.45 Im Falle der uns vorliegenden Quellen zum jüdisch-christlichen Verhältnis in der Antike stoßen wir tatsächlich sehr schnell an Grenzen – einige wenige Beispiele jedoch können uns zeigen, dass wir auch dieses Element berücksichtigen müssen, wenn wir die Vergangenheit angemessener als bisher verstehen wollen. Das vielleicht bekannteste Beispiel findet sich bereits im Neuen Testament: Wollen wir der paulinischen Darstellung des „Antiochenischen Zwischenfalls“ (Gal 2,11–21) Glauben schenken, so hat Petrus bei einem Besuch in Antiochien zunächst gemeinsam mit den dort ansässigen Heidenchristen gespeist  – ein deutliches Zeichen dafür, dass für ihn die gemeinsame Identität als Anhänger Christi in dieser Situation entscheidend war. Beim Auftreten von Leuten des Jakobus, also Christusanhängern mit jüdischer Identität, verändert er jedoch (offenbar Schritt für Schritt) sein Verhalten und sondert sich von den Heidenchristen ab. Die sich anschließende heftige Kritik des Paulus an diesem Verhalten ist bekannt – es ist interessant, dass bereits dieses Verhalten zeigt, wie sehr offenbar Aspekte der Identitätskonstruktion des Petrus von dem jeweiligen Kontext abhingen, in dem er sich befand: Eine Trennlinie – hier zwischen „Judenchristen“ und „Heidenchristen“ – entsteht für ihn erst dann, als „Judenchristen“, denen er sich stärker verpflichtet fühlt als Heidenchristen, vor Ort sind und eine solche Trennlinie ziehen. Weitere Beispiele könnten angeführt werden  – etwa das des Clemens von Alexandrien, dessen in Alexandrien entstandene Werke kaum für besonderen Antijudaismus bekannt sind, der jedoch offenbar auf Anfrage aus Jerusalem – und damit für einen anderen geographischen Kontext – eine (verlorene) Schrift „Gegen die Judaisierer“ anfertigte (erwähnt bei Eusebius von Caesarea, h.e. 6,13,3),46 aber auch das Beispiel des Melito von Sardes, dessen Homilie „Über das Pascha“ zu den sicherlich antijüdischsten Schriften des antiken Christentums gehört, der andererseits aber eine Palästinareise unternahm, um sich (offenbar bei Juden) über den Kanon des Alten Testaments zu informieren.47 Wie sehr zudem auch „christliche“ Identitäten der Spätantike noch dazu „trainiert“ werden mussten, sich auch in Lebensbereichen, die (zumindest aus damaliger Sicht) kaum mit Identität als Christ zu tun hatten, „christlich“ zu verhalten, zeigt Kanon 5 der eben erwähnten Synode von Elvira / ​Iliberis, in dem sich das Konzil 44 Zur Diskussion des Begriffs vgl. die einschlägigen Beiträge in Jaeger / ​L iebsch (Hgg.), 2011. 45 Ein Musterbeispiel einer an einem derartigen Paradigma orientierten Untersuchung bietet jedoch Rebillard, 2012. 46 Weiterführend Carleton Paget, 2010, 91–102. 47 Weiterführend Nicklas, 2014, 24–34 [mit Diskussion der relevanten Sekundärliteratur].

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mit dem Fall auseinander setzt, dass Sklaven an den von einer christlichen Herrin verordneten Prügelstrafe starben.

Fazit Obwohl die eben vorgestellten Gedanken Skizze bleiben müssen und über jedes einzelne analysierte Beispiel tiefer nachgedacht werden könnte, meine ich, dass sie zumindest Linien aufzeichnen, an denen entlang weitergedacht und geforscht werden müsste. So unzweifelhaft es ist, dass uns heute „Judentum“ und „Christentum“ als voneinander getrennte Religionen begegnen, so sehr zeigt sich bis heute, dass unterschiedliche jüdische und christliche Gruppierungen (wie auch Individuen) in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich zueinanderstehen und unterschiedlich miteinander umgehen, ja sich beeinflussen. So scheint es angeraten, auf verschiedenen Ebenen zu differenzieren: Zu unterscheiden ist einerseits die Untersuchung der Interaktionen zwischen verschiedenen, sich an diversen geographischen Orten und in unterschiedlichen Lebenskontexten unterschiedlich zueinander verhaltenden bzw. sich unterschiedlich deutlich voneinander abgrenzenden Gruppierungen und andererseits die Geschichte der Verwendung der Konzepte „Judentum“ und „Christentum“. Letztere wiederum ist keineswegs mit der Geschichte zweier religiöser Gruppierungen „Judentum“ und „Christentum“ in eins zu setzen.48 Von einem „Parting of the Ways“ zu sprechen kann also nur Teile der Wirklichkeit – auch bis heute – verstehen; zugleich ist das Bild der beiden Wege, die sich an einer bestimmten Gabelung getrennt haben, in vielerlei Hinsicht problematisch, weil es den Blick auf positive Formen des Zu‑ und Miteinander zu verstellen droht. Wo wir uns für solche komplexen und dynamischen Weisen der Interaktion interessieren und die recht eindimensionale Idee des „Parting of the Ways“ hinter uns lassen, legt sich vielleicht ein anderes Bild nahe: Vor einigen Monaten hat mein Kollege Andreas Merkt in einem anderen Zusammenhang das Bild eines Abends mit Gruppentänzen verwendet – und damit versucht, einen Aspekt antiker Wirklichkeiten zu illustrieren:49 Wir sehen von außen auf eine Gruppe von Tänzern, die sich fortwährend bewegen und in unterschiedlichen Phasen des Tanzes mit unterschiedlichen Partnern tanzen. Je nachdem, aus welcher Distanz und aus welcher Perspektive wir uns dem Tanz nähern, entstehen verschiedene Muster – nicht jeder tanzt mit jedem oder berührt sich mit jedem, einige Teilnehmer formen Gruppen, einige Paare bleiben wenigstens für einen Teil des Abends beisammen, andere vermeiden den Kontakt und beeinflussen 48 In eine ähnliche Richtung gehen die Forderungen von Williams, 2009, 37–55, bes. 41–43.

49 Merkt hat dieses Bild allerdings in anderem Zusammenhang mit der Clusterbildung in verschiedenen Kontexten zitierter bzw. angespielter Passagen des Neuen Testaments verwendet. Vgl. Merkt, 2013.

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sich schon dadurch gegenseitig. Das Zueinander wirkt komplex, von bestimmten Perspektiven aus chaotisch, manchmal jedoch werden Ordnungen sichtbar. Ich denke, es macht Sinn, ein derartiges Bild auch auf unsere Vorstellungen antiker christlich-jüdischer Beziehungen zu übertragen. Unsere Perspektive heute jedoch ist höchst problematisch, wir sehen nie den ganzen Tanz, sondern – vielleicht nur durch das Schlüsselloch aufgenommene Schnappschüsse einzelner Szenen. Unsere Konstruktionen von Geschichte müssen deswegen immer berücksichtigen, dass sie nur Fragmente vergangener Wirklichkeiten vorfinden und wir das große Ganze nur in Ansätzen zu erfassen vermögen.

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Ein Streit nicht nur um Worte: Begriffsgeschichtliche Beobachtungen zu frühchristlichen Strategien der Exklusion Manuel Vogel Die ersten Jahrzehnte und Generationen der Jesusbewegung waren von einer doppelten Dramatik bestimmt: Erstens verbreitete sich die Botschaft vom gekreuzigten und auferweckten Messias Jesus schnell und dynamisch unter Nichtjuden. Diese rasche Verbreitung verlangte nach einer Antwort auf die Frage, wie die Christusverehrung von Nichtjuden und die überkommenen Strukturen jüdischer Lebensweise und Gottesverehrung zu einander ins Verhältnis zu setzen waren. Zweitens stieß die baldige Durchbrechung traditioneller synagogaler Strukturen durch die frühe Jesusbewegung auf heftigen Widerstand von jüdischer Seite. Gerade weil die nichtjüdische Christusverehrung von jüdischer Seite als eine Weise des biblisch-jüdischen Glaubens aufgefasst wurde, konnte die von Paulus propagierte und forcierte „gesetzesfreie Heidenmission“ als Infragestellung der Integrität jüdischer Lebensweise und Gottesverehrung aufgefasst werden. Die in dieser Gemengelage aufkommenden Konflikte waren vielgestaltig und wurden teilweise heftig ausgetragen. Um all dies soll es im vorliegenden Beitrag nicht gehen. Wichtig ist nur: Diese Konflikte waren offen und ließen zahlreiche unterschiedliche Weisen jüdischer und nichtjüdischer Christusverehrung zu, ohne dass diese bis (weit?) ins 2. Jh. hinein auf den terminologischen Gegensatz von „Judentum“ und „Christentum“ gebracht worden wären.1 In der gesamten im neutestamentlichen Kanon enthaltenen Literatur der Jesusbewegung des 1. Jh. und weit darüber hinaus ist es niemandem eingefallen, sich zur Beschreibung 1 Wie weit man ins 2. Jh. zu gehen hat, entscheidet sich an der Datierung der (sog. mittleren Rezension der) Ignatiusbriefe als der frühesten Quelle für den begrifflichen Gegensatz von „Judentum“ und „Christentum“. Die Diskussion um Echtheit und Datierung der Ignatien (zur älteren Forschung vgl. Fischer, 1986, 111–113) wurde von Hübner, 1997 in Anknüpfung an Joly, 1979 neu aufgerollt. Sie wird seither fortlaufend referiert und fortgeführt (u. a. von Dörnemann, 2003, 80–81, Anm. 2; Löhr, 2009; Koch, 2013, 439–440; v. Heyden, 2014, 483–498) und ist trotz wiederholter Voten für die Echtheit (dazu u. a. Lindemann, 1997) bis heute unentschieden. Für ein pseudepigraphes Produkt aus der Zeit Marc Aurels (161–180) argumentierte etwa Schmithals, 2009. Ein weiterer Fortschritt ist vom Kommentar zu den Ignatiusbriefen von W. Wischmeyer zu erwarten. Für die Fragestellung dieses Beitrages ist die Datierungsfrage von einiger Bedeutung.

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(und ggf. Lösung) der vielfältigen Konflikte dieser griffigen Sprachbildung zu bedienen.2 Offenbar verliefen die Konfliktlinien anderswie und anderswo, waren mithin nicht als Spielarten des Widerlagers „jüdischer“ und „christlicher“ Positionen beschreibbar. Der terminologische Gegensatz „jüdisch / ​christlich“ ist eine sprachliche Bildung erst der Ignatiusbriefe, und wenn irgendwo gilt, dass Sprache Wirklichkeit nicht nur abzubilden, sondern auch zu schaffen vermag, dann gilt es hier. Der vorliegende Beitrag unternimmt nach (1.) einer terminologischen Annäherung (2.) den Versuch, die Rhetorik der ignatianischen Unterscheidung anhand der Texte nachzuzeichnen, um dann schlaglichtartig ihre Folgen bis zum Beginn des 5. Jh. zu erheben. Hierzu gehört, dass die Charakterisierung einer Position als „jüdisch“ als Waffe im christlichen häresiologischen Diskurs eingesetzt werden konnte (3.). Tertullians Schrift gegen Markion bietet hierfür anschauliche Textbeispiele. Ein nächster Schritt bestand in dem, was D. Boyarin in einem Aufsatz von 2009 „Hybridisierung“ genannt hat: Christliche Theologen spitzten, wie am Beispiel eines Briefes von Hieronymus an Augustin zu zeigen ist, den ignatianischen Gegensatz von „Judentum“ und „Christentum“ zu einer binären Opposition zu, innerhalb derer jüdische Christusverehrer als hybrides Mischgebilde erscheinen mussten, das als häretisch auszuscheiden war (4.). In diesem und den beiden folgenden Abschnitten folge ich den Hauptthesen von Boyarins Aufsatz, dem ich auch die Kenntnis eines großen Teils der hier näher untersuchten Quellentexte verdanke. Instruktiv ist, dass mit Julian sich auch ein Gegner des Christentums des Mittels der Hybridisierung bedient und dieses gegen die Christen in Anschlag gebracht hat (5.). Eine weitere wichtige These Boyarins besagt, dass sich das „Christentum“ in nachkonstantinischer Zeit als „Religion“ neu erfunden und im Zuge dessen allererst auch das „Judentum“ als „Religion“ konzeptualisiert hat (6.). Hierin fußt Boyarin seinerseits auf einem grundlegenden Aufsatz von S. Mason von 2007. Erst seit konstantinischer Zeit erübrigte sich schließlich die bis dahin lebhaft geführte Diskussion, ob und inwiefern die Christusverehrer aus den „Völkern“ ein eigenes „Volk“ darstellten (7.). In diesen Zusammenhang gehört auch die mehrfach belegte Rede von den Christen als tertium genus (8.). Der Beitrag endet mit einem Rückblick auf das „neutestamentliche“ erste Jh. diesseits der ignatianischen Unterscheidung (9.). 2 Selbst im Barnabasbrief mit seiner innerhalb der Literatur der frühen Jesusbewegung unübertroffen heftigen Polemik bleibt der Antagonismus zwischen „uns“ und „jenen“ terminologisch unausgeführt. Der Verfasser nennt seine eigene Position nirgends „christlich“ und die von ihm bekämpfte Position nirgends „jüdisch“. Die Nomina  Ἰουδαῖος und Χριστιανός verwendet er überhaupt nicht, auch nicht die dazugehörigen adjektivischen und verbalen Bildungen. Dieses ist einer der Gründe, warum die theologische Position des Barnabasbriefes, den Ph. Vielhauer „wohl das seltsamste Dokument der urchristlichen Literatur“ genannt hat (Vielhauer, 1975, 612), so schwer greifbar ist – jedenfalls dann, wenn man dieselbe im Gegensatz „jüdisch / ​ christlich“ zu beschreiben versucht!

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1. Terminologische Annäherung In der bibelwissenschaftlichen Beschreibungssprache gibt es, sobald wir uns auf neutestamentlichem Terrain bewegen, ein schlechterdings unverzichtbares Adjektiv, nämlich „christlich“. Allerdings ist dieser metasprachliche Ausdruck quellensprachlich nicht gedeckt. Er findet sich in keiner der zum neutestamentlichen Kanon gehörenden Schriften. Das griechische Adjektiv Χριστιανiκός ist nach Auskunft des Thesaurus Linguae Graecae3 zuerst in einer griechischen Übersetzung der Akten der scilitanischen Märtyrer belegt, also nicht vor dem Ende des 2. Jh.4 Das Abstraktum „Christentum“ – so wird das griechische Χριστιανισμός üblicherweise wiedergegeben  – finden wir zuerst in den Ignatiusbriefen, also nach frühester Datierung in der Zeit Trajans (98–117), möglicherweise aber auch erst in der zweiten Hälfte des 2. Jh.5 Besser steht es schon mit dem Appellativum Χριστιανός, „Christ“, das bereits gegen Ende des ersten Jh.s und hier nun auch in einer neutestamentlichen Schrift belegt ist, nämlich in der Apostelgeschichte, und hier erfahren wir sogar, dass die μαθηταί, wie der Verfasser sich ausdrückt, zuerst in Antiochien so genannt wurden (Apg 11,26 b). Folgen wir der lukanischen Erzählung, ist diese Gruppenbezeichnung6 in einer zweiten Phase der frühen antiochenischen Mission aufgekommen, als die Missionare nicht mehr nur Juden, sondern mit Erfolg auch „Griechen“ als Adressaten der Missionspredigt ins Auge fassten. Chronologisch befinden wir uns entsprechend der Darstellung der Apostelgeschichte in den ersten Jahren nach der Vertreibung der Hellenisten aus Jerusalem, also tatsächlich in den ersten Anfängen der Jesusbewegung. Das Fehlen des Adjektivs „christlich“ und des Abstraktnomens „Christentum“ könnte also als lexikalischer Zufall verbucht werden, und es erscheint dann statthaft, auch schon im Blick auf die Frühzeit vom „Christentum“ zu reden und von seiner Gottesverehrung als „christlich“. Der lukanische Vorposten in der frühen Antiochiamission kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Texte des 1. Jh. von der uns vertrauten Terminologie ansonsten praktisch keinen Gebrauch machen,

3 TLG-online-Recherche, letzter Zugriff 02. 05. ​2015. Kraft, 1964, 458 vermerkt außerdem zu τῇ χριστιανῇ τροφῇ in IgnThrall 6,1 die Textvariante τῇ χριστιανικῇ τροφῇ. 4 Die Hinrichtung der scilitanischen Märtyrer datiert in das Jahr 180. Die Akten sind lateinisch abgefasst (Text: Ruggiero, 1991), hiervon existiert eine griechische Übersetzung (Text: Robinson, 1891, 113–117), die nicht vor dem Ende des 2. Jh. anzusetzen ist. Für et ceteros ritu Christiano se vivere confessos hat der griech. Text καὶ τοὺς ἀφάντους, ὅσοι τῷ χριστιανικῷ θεσμῷ ἑαυτοὺς κατεπηγγείλαντο πολιτεύεσθαι. Gegensatz zum ritus Christianus ist der mos Romanorum, nicht die jüdische Lebensweise und Gottesverehrung, die hier nicht Thema ist. 5 S. o. Anm. 1. 6 Näherhin eine Fremdbezeichnung offiziellen Charakters: Das in Apg 11,26 b verwendete χρηματίζειν „ist ein Terminus der Amtssprache“, so Peterson, 1959, 67; außerdem Trebilco, 2004, 554–560.

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wenn sie diesen Quellen nicht überhaupt unbekannt ist.7 Sogar der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes selbst eignet sie sich nicht an. Nur noch einmal, in Apg 26,28, fällt der Terminus Χριστιανός, und zwar aus dem Munde des judäischen Königs Agrippa II. Insofern ist Lukas als Zeuge für den Gebrauch von Χριστιανός im 1. Jh. zugleich der gewichtigste Zeuge für seinen Nichtgebrauch.8 Bis auf die vereinzelte Stelle in 1 Petr 4,16 herrscht im Neuen Testament auch ansonsten Schweigen. Auffällig ist das namentlich bei Paulus, der die Gruppenbezeichnung „Christen“ nach der lukanischen Darstellung ja kennen müsste. Auch das johanneische Corpus redet nicht von „Christen“, ihrem „Christentum“ oder ihrem „christlichen“ Glauben, ebenso wenig wie die synoptischen Evangelien, die spätere Briefliteratur und die Johannesapokalypse. Das ist mehr als ein lexikalischer Zufall. Mit einem „Christentum“ avant la lettre ist mithin Vorsicht geboten. Diese Vorsicht ist aber v. a. deshalb am Platz, weil die genannten Termini im Laufe der sie betreffenden Begriffsgeschichte historisch, systematisch, semantisch, rhetorisch und pragmatisch derart nachhaltig angereichert wurden, dass eine davon unbelastete Verwendung kaum mehr möglich erscheint. Der nun zu tätigende Blick in die Begriffsgeschichte zeigt denn auch sehr schnell, dass es keineswegs um Fragen des Lexikons geht, sondern um Konstellationen von Identität und Alterität, um Prozesse von Inklusion und Exklusion, sowie um einen Zusammenhang von determinatio und negatio, der alles andere als theoretisch ist. 7 Pervo, 2009, 295 hält die lukanische Notiz für eine bewusste Rückdatierung: „The evidence indicates that the designation ‘Christian’ probably had its origin in popular usage and became the official legal designation sometime before 100 CE, quite possibly a good decade earlier. Since neither Paul nor any other writer of the first two generations uses this term, it is rather unlikely that this label first emerged in Antioch during the 30s and 40s CE. The terms ‘Christian’ / ​‘Christianity’ erupted in the 90s and later in writings linked in one or another way with Rome, Antioch or Asia Minor“. Kurz zuvor notiert Pervo: „Since the author is familiar with, if not fond of the term, it is not anachronistic to use ‘Christian’ in commenting of Acts“ (a. a. O., 294 Anm. 46). Der Befund zeigt indes, dass vom Verfasser der Apostelgeschichte keineswegs gesagt werden kann, er habe eine „Vorliebe“ (to be fond of) für die Gruppenbezeichnung „Christen“ gehabt. Ihr nahezu vollständiger Nichtgebrauch wiegt gerade deshalb schwer, weil er sie gekannt hat. Pervo sieht das methodologische Problem, wischt es aber vom Tisch. 8 Mögliche Gründe hierfür hat Peterson, 1959 geliefert: Von römischer Seite wurden die Jesusgruppen mit einer eigenen Gruppenbezeichnung (Christiani) versehen, um sie als politisch-messianische Bewegung vom übrigen Judentum, das zahlreiche Privilegien besaß und ganz überwiegend mit den römischen Verhältnissen sich zu arrangieren wusste, zu unterscheiden und als politisch gefährlich einzustufen. Die von Peterson beigebrachten Belege sind beachtlich. Wenn die Römer mit Christiani eine politisch missliebige Bewegung bezeichneten, ist nachvollziehbar, dass die frühen Christusverehrer sie sich nicht zu eigen machen wollten. Peterson (a. a. O., 86) will den Sprachgebrauch der Ignatien mit dem Aufkommen von Märtyrergesinnung erklären, die die Konfrontation mit dem Imperium geradezu suchte und deshalb eine Selbstbezeichnung favorisierte, die einer Selbstanzeige gleichkam. In den Ignatien liegt die Diskussionslage aber anders. Hier geht es um einen konstruierten Gegensatz zu jüdischen Christusverehrern (s. u.).

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2. „Judentum“ und „Christentum“ – Die Entstehung einer folgenschweren semantischen Opposition Wir beginnen mit den Ignatiusbriefen, in denen erstmals der Terminus χριστιανισμός auftaucht. Im Brief an die Magnesier kommt Χριστιανισμός an zwei Stellen vor, in 10,1 in der Wendung κατὰ Χριστιανισμὸν ζῆν und in 10,3 innerhalb der Opposition  Ἰουδαϊσμός / ​Xριστιανισμός. Kap. 7 streicht das Leitmotiv der Briefe, die eine Gemeinde mit einer einheitlichen Praxis unter einem (Orts‑)Bischof, kräftig heraus. Diese Einheit ist nach der Einschätzung des Verfassers besonders durch Formen jüdischer Lebensweise innerhalb der Jesusgemeinden gefährdet. Kap. 11 lässt erkennen, dass dabei nicht eine bestimmte Einzelgemeinde im Blick ist, sondern, aus Sicht des Verfassers, ein grundsätzliches Problem.9 IgnMagn 8,1 behauptet einen Gegensatz zwischen  Ἰουδαϊσμός und χάρις: „Denn wenn wir bis heute dem  Ἰουδαϊσμός entsprechend leben, so bekennen wir, die Gnade nicht empfangen zu haben“ (εἰ γὰρ μέχρι νῦν κατὰ  Ἰουδαϊσμόν ζῶμεν, ὁμολογοῦμεν χάριν μὴ εἰληφέναι). In 8,2 wird dieser Gegensatz noch zugespitzt durch die Wendung κατὰ Χριστὸν  Ἰησοῦν ζῆν, die in 10,1 mit κατὰ Χριστιανισμὸν ζῆν variierend aufgenommen wird. Der  Ἰουδαϊσμός ist also dasjenige, was zu „Gnade“ und „Jesus Christus“ per definitionem in einem exklusiven Gegensatz steht, ohne dass bereits klar ist oder klar sein muss, worum es sich bei  Ἰουδαϊσμός inhaltlich überhaupt handelt.10 Kap. 9 konkretisiert dann aber diesen Gegensatz auf der Ebene der Feiertagspraxis und konstatiert die Unvereinbarkeit von Sabbat‑ und Herrentagsfeier. Der Verfasser beruft sich hierbei auf jüdische Jesusgläubige, die, so impliziert jedenfalls der in 9,1 ausgeführte Schluss, mit Annahme des Jesusglaubens ihre Sabbatobservanz aufgegeben haben und stattdessen zur Feier des Herrentages übergegangen sind. Warum sollten dann, so das Argument, ausgerechnet Jesusgläubige, die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit gar nicht in der judäischen Lebensweise verwurzelt sind (das sind die angesprochenen „Wir“), den Sabbat halten? Die Schlussfolgerung weist allerdings einen Bruch auf: Die Prämisse bewegt sich auf der Ebene der Feiertagspraxis, die Konklusion thematisiert dagegen die Heilsteilhabe: Wenn nun die, die in alten Bräuchen wandelten, zu neuer Hoffnung gelangten und nicht mehr den Sabbat halten, sondern nach dem Tag des Herrn leben, an dem auch unser Leben aufging durch ihn und seinen Tod […], wie werden wir leben können ohne ihn […]? – Εἰ οὖν οἱ ἐν παλαιοῖς πράγμασιν ἀναστραφέντες εἰς καινότητα ἐλπίδος ἦλθον, μηκέτι  9 „Dies (sage ich) aber, meine Geliebten, nicht, weil ich erfahren hätte, dass einige von euch sich so verhalten, sondern als einer, der geringer als ihr ist, möchte ich Vorsorge für euch treffen, dass ihr nicht an die Angelhaken des Irrtums geratet“. Übersetzung hier und nachfolgend nach Fischer, 1986 oder Paulsen, 1985 jeweils mit gelegentlichen Änderungen, griechischer Text nach Camelot, 1969. 10 Zur Begriffsgeschichte von  Ἰουδαϊσμός vor den Ignatiusbriefen vgl. Niebuhr, 1994, 219– 224; Mason, 2007, 460–469 und neuerdings bündig Mason, 2016, 12–14.

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σαββατίζοντες, ἀλλὰ κατὰ κυριακὴν ζῶντες, ἐν ᾗ καὶ ἡ ζωὴ ἡμῶν ἀνέτειλεν δι’ αὐτοῦ καὶ τοῦ θανάτου αὐτοῦ […] πῶς ἡμεῖς δυνησόμεθα ζῆσαι χωρὶς αὐτοῦ […];

Dass das Eine mit dem Anderen nicht notwendig etwas zu tun hat, dass Sabbatpraxis und Heilsteilhabe („ohne ihn [scil. den Herrn] leben“) mithin gar keinen Gegensatz darstellen, wird gezielt verschleiert. Vermittelt werden soll ein essentieller Widerspruch zwischen judäischer Feiertagspraxis und jesusgläubiger Heilsteilhabe, der zwar behauptet, nicht aber begründet wird11. Kap. 10,1 leitet aus dem Status der Glaubenden als μαθηταί Jesu die Forderung des κατὰ Χριστιανισμὸν ζῆν ab. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass man, wenn man κατὰ  Ἰουδαϊσμόν lebt, etwa dadurch, dass man den Sabbat hält, kein μαθητής Jesu sein kann. In der Apostelgeschichte verhält sich das noch deutlich anders: Hier umfasst der Begriff μαθητής Mitglieder der observant lebenden Jerusalemer Urgemeinde, hellenistische Diasporajuden, die an Jesus glauben und außerhalb der Diasporasynagoge Mission betreiben, sowie jesusgläubige Angehörige anderer Ethnien. Kommt es dem Verfasser der Apostelgeschichte darauf an, unter dem Oberbegriff μαθητής unterschiedliche Weisen jüdischer wie nichtjüdischer Christusverehrung als gültig zusammenzufassen, so geht der Verfasser der Ignatiusbriefe dazu über, eine toraorientierte Christusverehrung als ungültig auszuscheiden, d. h. als häretisch darzustellen. In IgnMagn 10,2 leitet der Verfasser den Namen Χριστιανός vom Abstractum Χριστιανισμός her: „Wer einen anderen Namen trägt außer diesen, der ist nicht Gottes“. ( Ὃς γὰρ ἄλλῳ ὀνόματι καλεῖται πλέον τούτου, οὐκ ἔστιν τοῦ θεοῦ). Hier entsteht der Eindruck, dass der Verfasser dem Christennamen mit scharfem theologischem Geschütz zur Geltung verhelfen muss. Die Feststellung „seems to imply that the Christians of Magnesia were not yet comfortable calling themselves ‘Christians’ and their beliefs ‘Christianity’“12. In 10,3 wird der in IgnMagn 8–10 profilierte Antagonismus weiter zugespitzt in der Aussage: „Es ist nicht am Platz, Christus Jesus zu sagen und jüdisch zu leben“ (Ἄτοπόν ἐστιν  Ἰησοῦν Χριστὸν λαλεῖν καὶ ἰουδαΐζειν). Demnach ist es unstatthaft, den Namen Jesus Christus auch nur im Munde zu führen (oder: sich zu Jesus Christus zu bekennen), wenn man die jüdische Lebensweise teilt. Die anschließende Begründung hierfür bringt nun die Termini  Ἰουδαϊσμός und Χριστιανισμός in einen unmittelbaren 11 Auch die gegen Juden gerichtete Polemik der Schrift an Diognet (nach Lona, 2001, 69 „gegen Ende des zweiten Jahrhunderts“ zu datieren) kapriziert sich ganz auf die Praxis der jüdischen Gottesverehrung (Kap. 3–4). Anders als bei Ignatius sind aber weder jüdische noch nichtjüdische Christusverehrer, die eine jüdische Lebensweise pflegen, im Blick. Der Verfasser begründet seine Ablehnung der jüdischen Gottesverehrung auch an keiner Stelle christologisch, wie Wengst, 1984, 295 zutreffend hervorhebt. Vielmehr argumentiert er religionsphilosophisch mit der (behaupteten) bloßen Äußerlichkeit ritueller Vollzüge. Die von der Schrift an Diognet forcierte Hostilität der Χριστιανοί gegen die  Ἰουδαῖοι ist durchaus nicht dasselbe wie die ignatianische Unterscheidung zwischen  Ἰουδαϊσμός und Χριστιανισμός, die auf die jüdische Lebensweise von Christusverehrern gemünzt ist. 12 Cohen, 2002, 399.

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Zusammenhang. Beide Größen erscheinen nun als Glaubensweisen, deren eine die andere geschichtlich abgelöst hat. Die Glaubensweise des  Ἰουδαϊσμός hat sich dem Χριστιανισμός angeschlossen, der den Anspruch erhebt, die unterschiedslos für alle Völker gültige Glaubensweise zu sein: Denn das Christentum ist nicht zum Glauben an das Judentum gekommen, sondern das Judentum (zum Glauben) an das Christentum, zu dem jede Zunge, die an Gott glaubte, gebracht wurde. – Ὁ γὰρ Χριστιανισμὸς οὐκ εἰς  Ἰουδαϊσμὸν ἐπίστευσεν, ἀλλ’  Ἰουδαϊσμὸς εἰς Χριστιανισμόν, εἰς ὃν πᾶσα γλῶσσα πιστεύσασα εἰς θεὸν συνήχθη.

Behauptet wird ein rechtmäßiger und unumkehrbarer geschichtlicher Prozess, in dessen Verlauf die ethnisch determinierte Glaubensweise des  Ἰουδαϊσμός zugunsten des für alle Völker bestimmten Χριστιανισμός aufgegeben wurde. Wiederum soll damit eine Weise des Jesusglaubens, die sich mit jüdischen Lebensformen verbindet, dadurch ausgeschlossen werden, dass sie als sachlich unmöglich begriffen wird. Der  Ἰουδαϊσμός wird damit zum konstitutiven Anderen des Χριστιανισμός erklärt. Hier geraten nun erstmals in der Literatur der frühen Jesusbewegung „Judentum“ und „Christentum“ in einen direkten begrifflichen Gegensatz. In IgnPhld 6,1 führt der Verfasser diesen Gegensatz weiter aus: Wenn euch jemand  Ἰουδαϊσμός vorträgt, hört nicht auf ihn. Besser ist es nämlich, von einem Mann, der die Beschneidung hat, Χριστιανισμός zu hören, als von einem Unbeschnittenen  Ἰουδαϊσμός. Wenn aber beide nicht von Jesus Christus reden, dann gelten mir diese als Säulen und Gräber der Toten, auf denen einzig Namen von Menschen stehen. – Ἐὰν δέ τις  Ἰουδαϊσμὸν ἑρμηνεύῃ ὑμῖν, μὴ ἀκούετε αὐτοῦ. Ἄμεινον γάρ ἐστιν παρὰ ἀνδρὸς περιτομὴν ἔχοντος Χριστιανισμὸν ἀκούειν, ἢ παρὰ ἀκροβύστου  Ἰουδαϊσμόν.  Ἐὰν δὲ ἀμφότεροι περὶ  Ἰησοῦ Χριστοῦ μὴ λαλῶσιν, οὗτοι ἐμοὶ στῆλαί εἰσιν καὶ τάφοι νεκρῶν, ἐφ’ οἷς γέγραπται μόνον ὀνόματα ἀνθρώπων.

Der hypothetische Vergleich zwischen einem ἀνὴρ περιτομὴν ἔχων, von dem man Χριστιανισμός hört, und einem ἀκρόβυστος, der  Ἰουδαϊσμός verlauten lässt, hat nach S. J. D. Cohen die Form eines paradoxen bipolaren antithetischen Vergleichs („paradoxical bipolar antithetical comparison“13) und will einfach sagen: Dem Χριστιανισμός ist immer und in jedem Fall gegenüber dem  Ἰουδαϊσμός der Vorzug zu geben. Der scheinbare Widerspruch zwischen dem absoluten Verbot des ersten Satzes,  Ἰουδαϊσμός zu hören, und dem nur relativen Unterschied zwischen dem Χριστιανισμός eines Beschnittenen und dem  Ἰουδαϊσμός eines Unbeschnittenen („besser als“), ist dann der verwendeten Stilfigur geschuldet. Eine weitere Unklarheit bleibt aber: Das im anschließenden Satz benannte Kriterium des περὶ  Ἰησοῦ Χριστοῦ λαλεῖν lässt ja formal-logisch die Möglichkeit zu, dass ein Unbeschnittener, der  Ἰουδαϊσμός vertritt, sehr wohl „über Jesus Christus redet“. Wäre dann aber ein περὶ  Ἰησοῦ Χριστοῦ λαλεῖν im Modus des  Ἰουδαϊσμός doch

13 Cohen,

2002, 410.

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statthaft?14 Und ist umgekehrt mit dem Vortrag eines Χριστιανισμός zu rechnen, der das Kriterium des περὶ  Ἰησοῦ Χριστοῦ λαλεῖν verfehlt? Oder will der Verfasser sagen, dass jeglicher  Ἰουδαϊσμός schon definitionsgemäß abzulehnen ist, und dass der Χριστιανισμός des Beschnittenen noch einer zusätzlichen Prüfung bedarf, weil der Vortragende sich durch sein Beschnittensein des Judaisierens verdächtig macht? Der vergebliche Versuch, dem Argument solche Stimmigkeit abzugewinnen, lässt vermuten, dass es der Verfasser auf Stimmigkeit gar nicht anlegt. Es scheint einfach darum zu gehen, die terminologischen Kulissen so zu arrangieren, dass judäische Lebensweise und Christusverehrung unvereinbare Widerlager bilden. Nicht inhaltliche Differenzen15 sollen sich einprägen, sondern der begriffliche Gegensatz. Dieser wird vom Verfasser der Ignatiusbriefe behauptet, nicht aber sachlich begründet16. Aber die in ihrer Kürze und ihrem suggestiven Gleichklang einprägsame Sprachbildung hatte alle Chancen, sich im Laufe der Geschichte durchzusetzen, je mehr sich die kollektive Identität nichtjüdischer Christusverehrer an ihrem „Judentum“ genannten konstitutiven Anderen formte. Bis in nachkonstantinische Zeit waren die Verhältnisse indes längst nicht im Sinne der ignatianischen Unterscheidung geklärt. Für das 2. Jh. ist Justin, Dial 47,1–2 einschlägig17, weil hier Möglichkeiten jüdischer Lebensweise innerhalb der Gemeinden der Christusverehrer durchaus differenziert ausgehandelt werden: Nach der Auffassung Justins wird jemand, der […] weiß, dass dieser [d. i. Jesus] der Christus ist, und somit auch an ihn glaubt und ihm folgt, und dennoch diese Dinge [d. i. die jüdischen Gesetze] beachten will, gerettet werden. – τις […] μετὰ τοῦ καὶ τοῦτον εἶναι τὸν Χριστὸν ἐπίστασθαι δῆλον ὅτι καὶ πεπιστευκέναι καὶ πείθεσθαι αὐτῷ, βούλεται καὶ ταῦτα φυλάσσειν, σωθήσεται.

Justin stellt lediglich die Bedingung, dass dieser die jüdische Lebensweise pflegende Christusverehrer nicht „die anderen Menschen […] aus den Heiden, die durch Christus vom Irrtum weg beschnitten wurden“ (τοὺς ἄλλους ἀνθρώπους, […] τοὺς ἀπὸ τῶν ἐθνῶν διὰ τοῦ Χριστοῦ ἀπὸ τῆς πλάνης περιτμηθέντας) 14 Auch Cohen, 2002, 399 versucht, eine konsistente Argumentation zu erschließen, kann dies aber nur, indem er den Sprachgebrauch der Stelle korrigiert: „In Philadelphians Ignatius exhorts the community not to pay attention to preachers of ‘Judaism’ unless they also preach Jesus Christ – in which case, we may presume, their message will no longer be ‘Judaism’ but ‘Christianity’“. 15 Cohen, 2002, 403 denkt an die in Phld 8,2 erwähnte Hermeneutik, die die Autorität der jüdischen Bibel (τὰ ἀρχεία) derjenigen des „Evangeliums“ überordnet. Aber die Rhetorik des Gegensatzes ist nicht an sachlicher Klärung interessiert, sondern an pauschaler Exklusion. Die Frage nach den in den Ignatien vorausgesetzen gegnerischen Positionen wird damit selbstredend nicht obsolet, vgl. hierzu Molland, 1954, Barrett, 1976, Donahue, 1978, Wilson, 1992, Edwards, 1995, Uebele, 2001. 16 Mit den einschlägigen ignatianischen Termini befasst sich ausführlich auch Robinson, 2009, 203–226 mit einer ähnlichen Sicht wie der hier vorgetragenen, ohne jedoch die Rhetorik der Texte und ihren Realitätsbezug immer hinreichend zu unterscheiden. 17 Eigene Übersetzung, griechischer Text nach Goodspeed, 1915.

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mit dem Argument zu einer ebensolchen Lebensweise zu bewegen versucht, dass man ohne Gesetzesobservanz nicht gerettet werden könne. Auf Nachfrage Tryphons räumt Justin ein, dass unter seinesgleichen auch die Auffassung vertreten wird, die nach jüdischer Weise lebenden Christusverehrern das Heil abspricht. Justin lässt keinen Zweifel an seiner eigenen Sicht, jüdische Lebensweise von Christusverehrern sei rückständig, distanziert sich aber von dieser harten Linie. Wenn solche Leute „sich entscheiden, mit den Christen und Gläubigen zusammen zu leben“ – αἱρῶνται συζῆν τοῖς Χριστιανοῖς καὶ πιστοῖς –, dann muss „man sie annehmen und in allem Gemeinschaft mit ihnen haben wie mit Verwandten und Brüdern“ – προσλαμβάνεσθαι καὶ κοινωνεῖν ἁπάντων, ὡς ὁμοσπλάγχνοις καὶ ἀδελφοῖς. Bemerkenswert ist, dass Justin geltend macht, dass auch die christusgläubigen „anderen Menschen aus den Heiden“ von Christus „beschnitten wurden“,18 d. h. er misst in der Frage der Beschneidung selbst mit jüdischem Maß. Die von Justin mit beachtlicher Konsequenz (volle Gemeinschaft!) eingeräumte, von Ignatius jedoch scharf abgelehnte jüdische Lebensweise von Christusverehrern war keineswegs so widersinnig, wie Justin dies darstellt.19 Diese war nämlich schon allein deshalb bleibend interessant und attraktiv, weil die Juden auf eine lebenspraktische Umsetzung der Mosetora verweisen konnten, die ja auch von jesusgläubigen Nichtjuden als Heilige Schrift gelesen wurde. Noch die Polemik eines Johannes Chrysostomos gegen den Brauch, am Sabbat in die Synagoge und am Sonntag in die Kirche zu gehen, zeugt davon:20 Was sprach eigentlich dagegen, als Christ zusammen mit Juden den Sabbat zu feiern, da es doch hierfür keine eigene christliche Form gab, das Sabbatgebot aber Teil auch der christlichen Bibel war, zumal ja Sabbat und Sonntag auch inhaltlich sich gegenseitig nichts nehmen, da es beim Sabbat um die Ruhe des siebenten Schöpfungstages, am Sonntag aber um die Auferstehung Christi geht. Bei Ignatius dient nun die begriffliche Unterscheidung Judentum / ​Christentum dazu, diese Form einer in der Antike augenscheinlich 18 Ntl.

Bezug ist Kol 2,11: Die Adressaten sind „beschnitten mit der Beschneidung Christi“.  Er bedient sich eines religionsphilosophischen Arguments: Der Christusglaube entspreche „den ewigen und im Naturgesetz begründeten Rechtssatzungen und religiösen Vorschriften“ (τὰς αἰωνίους καὶ φύσει δικαιοπραξίας καὶ εὐσεβείας. Übersetzung hier nach Haeuser, 1917). Gemeint ist wohl, dass der mit dem Naturgesetz übereinstimmende Christusglaube die Beachtung der jüdischen Lebensweise und Gottesverehrung überflüssig macht. Einen regelrechten Widerspruch behauptet Justin an dieser Stelle (anders als die Schrift an Diognet, s. o. Anm. 11) aber nicht. 20 Quelle hierfür sind die acht Orationes adversus Judaeos (Dt. Übersetzung, Einleitung und Kommentar: Brändle / ​Jegher-Bucher, 1995), die Chrysostomus in den Jahren 386 und 387 gehalten hat. Chrysostomus sah sich genötigt, seine Gemeinde zu ermahnen, nicht jüdische Feste mitzufeiern, jüdische Fasttage zu halten, am synagogalen Gottesdienst teilzunehmen, die Synagoge als Rechtsinstitut für Eidesleistungen in Anspruch zu nehmen, jüdische Ärzte aufzusuchen, sich der Beschneidung zu unterziehen, den Osterfesttermin mit dem jüdischen Passa zu synchronisieren und auf den Wiederaufbau des Tempels zu hoffen (Aufzählung mit Stellenangaben bei Davila, 2005, 47). Zum Vorgehen des Chrysostomus gegen nichtjüdische Christusverehrer, die sich an jüdischer Lebensweise orientierten, vgl. auch Wilken, 1983, Kinzig, 1991. 19

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praktizierten Orientierung der Christusverehrung an jüdischer Lebensweise21 zu bekämpfen. Der Terminus Χριστιανισμός ist ein vom Verfasser der Ignatiusbriefe zu diesem Zweck gebildetes Kunstwort, das nicht einen bestimmten Inhalt definiert, sondern einzig und allein dafür gut ist, judäische Formen des Jesusglaubens dadurch zu delegitimieren, dass ein ausschließender Gegensatz zwischen judäischer Lebensweise und jesusgläubiger Heilsteilhabe behauptet wird, und zwar ohne überzeugende Argumente, lediglich durch den griffigen und eingängigen terminologischen Gegensatz. Wir verdanken den Ignatiusbriefen mithin nicht nur das vielseitig verwendbare Begriffspaar Judentum / ​Christentum, sondern, gewissermaßen im überlesenen Kleingedruckten, auch einen Antagonismus, der durch die schlichte metasprachliche Verwendung dieses Begriffspaares in Texte eingetragen wird, in denen er terminologisch, v. a. aber in der Sache gar nicht vorkommt. Die ignatianische Hermeneutik der Exklusion verbucht überall dort und immer dann einen Landgewinn, wo in frühchristlichen Texten, die sich dieser Unterscheidung selbst nicht bedienen, beschreibungssprachlich „Jüdisches“ zu „Christlichem“ in einen expliziten oder auch nur impliziten Gegensatz gerät.

3. „Jude“ als polemisches Etikett im häresiologischen Diskurs Je mehr die ignatianische Unterscheidung griff, desto klarer wurde, dass man als „Christ“ alles Mögliche sein konnte und wollte, nur kein „Jude“. Dementsprechend etablierte sich „Jude“ als polemisches Etikett im häresiologischen Diskurs.22 Das chronologisch nächstliegende Textbeispiel hierzu ist die wiederholte Bezeichnung ausgerechnet der Anschauungen Markions als „jüdisch“ bei Tertullian im dritten Buch gegen Markion:23 Wer wie Markion bestreitet, dass Jesus der von den Propheten verheißene Messias ist, ist „gezwungen, sich dem Irrtum der Juden anzuschließen“ (III,6), ähnlich 3,7: „Jetzt mögen nun die Häretiker und obendrein die Juden auch noch den Grund ihrer Irrtümer kennen lernen“. In 3,8 identifiziert Tertullian die doketische Christologie Markions mit der von jüdischer Seite formulierten Ablehnung eines Messias in Niedrigkeit: 21 An dieser Stelle ist wenigstens ein kurzer Blick auf Did 6,2–3 (hierzu ausführlich Draper, 2003) zu werfen: „Wenn du nämlich das ganze Joch des Herrn auf dich nehmen kannst, wirst du vollkommen sein; wenn du es aber nicht kannst, tu das, was du kannst.“ – Εἰ μὲν γὰρ δύνασαι βαστάσαι ὅλον τὸν ζυγὸν τοῦ κυρίου, τέλειος ἔσῃ· εἰ δ’ οὐ δύνασαι, ὃ δύνῃ, τοῦτο ποίει. (Übersetzung und griechischer Text nach Wengst, 1984). Augenscheinlich geht es hier darum, dass auch nichtjüdische Christusverehrer dazu eingeladen – aber keineswegs verpflichtet – werden ihre Lebensweise nach dem jüdischen Gesetz auszurichten. Diese geradezu liberale Handhabung ist eine gewichtige Gegenstimme zur ignatianischen Unterscheidung. 22 So Fredriksen, 2003, 38 Anm. 6, die neben anderen Belegen summarisch auf das dritte Buch von advMarc verweist. 23 Übersetzung hier und nachfolgend nach Kellner, 1882. Die Schrift gegen Markion in fünf Büchern ist 207/208 entstanden (Döpp / ​Geerlings, 1998, 584).

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So leugnen sie [d. h. die Juden] denn bis auf den heutigen Tag, dass Christus erschienen sei, weil er nicht in Hoheit erschienen ist, und ignorieren, dass er auch in Niedrigkeit erscheinen sollte. Nun sollen aber die Häretiker [d. i. die Markioniten] aufhören, ihr Gift vom Juden zu borgen, wie die Natter von der Viper, wie man sprichwörtlich sagt, und jetzt das Gift ihrer eigenen Erfindung von sich spritzen, nämlich die Behauptung, Christus sei ein Phantasma.

In posthumer Anrede heißt es an Markions Adresse in III,16: „Lerne mit den Genossen Deines Irrtums, mit den Juden!“ und III,23 konstatiert, dass „du, o Markion, mit den Juden behauptest, ihr Christus sei noch nicht gekommen“. Diese Aussagen dienen nicht einem systematischen, sondern einem polemischen Zweck: Durch die Nähe der Lehren Markions zu jüdischen Anschauungen sollen diese als Irrlehre überführt werden und den Häretiker gewissermaßen bei seiner christlichen Ehre packen. „Judentum“ ist als häresiologisches Etikett auch später geläufig. Ende der siebziger Jahre des 4. Jh. begegnet es bei Basilius von Cäsarea in der antiarianischen Polemik. In der neunten Homilie zum Hexaemeron redet er seinen arianischen Gegner unter Verwendung des polemischen κατατομή aus Phil 3,2 mit den Worten an:24 Höre auch du aus der neuen Zerschneidung, der du unter der Maske des Christentums dem Judentum anhängst.  – Ἄκουε καὶ σὺ ὁ ἐκ τῆς νέας κατατομῆς, ὁ τὸν  Ἰουδαϊσμὸν πρεσβεύων ἐν Χριστιανισμοῦ προσποιήσει.

Wie vormals Ignatius verwendet Basilius die Begriffe  Ἰουδαϊσμός und Χριστιανισ­ μός zur Bezeichnung derjenigen Größen, die auf keinen Fall mit einander vermengt werden dürfen. Die Irrlehre des Arianismus ist deshalb so gefährlich, weil ihre Anhänger genau das tun: In den Lebenszusammenhang des Χριστιανισμός den  Ἰουδαϊσμός einzuschleusen.

4. Jüdische Christusverehrer als Hybride Was aber ist mit jesusgläubigen Juden, die weiterhin die ererbte judäische Lebensweise praktizieren? Anfang des 5. Jh. äußert sich dazu Hieronymus in einem Brief an Augustin, in welchem er die von Augustin notierte Auffassung diskutiert, die Kirche müsse, da auch Paulus und andere Apostel toraobservant gelebt hätten, für solche Gläubigen Platz haben. Hieronymus lehnt dies in seinem 112. Brief aus dem Jahr 404 vehement ab (112,13)25:

24 Übersetzung nach Stegmann, 1925, griech. Text nach Giet, 1968. Basilius (gest. 378) hat die neun Hexaemeron-Homilien wohl im Jahr seines Todes in Cäsarea gehalten (Döpp  / ​ Geerlings, 1998, 102). 25 Übersetzung nach Schade, 1937.

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Handeln die gläubig gewordenen Juden nach der Verkündigung des Evangeliums Christi richtig, wenn sie die Vorschriften des Gesetzes beobachten, d. h. wenn sie Opfer darbringen, wie es Paulus getan hat, wenn sie ihre Kinder beschneiden wie Paulus den Timotheus, wenn sie den Sabbat beobachten, wie alle Juden es getan haben? Wenn dies richtig ist, dann gleiten wir in die Irrlehre des Kerinth und des Ebion hinein, die an Christus glaubten und von den Vätern nur deshalb verurteilt wurden, weil sie die Gesetzesbräuche mit dem Evangelium Christi vermengten. Sie haben sich zum Neuen bekannt, ohne das Alte preiszugeben. Was soll ich von den Ebioniten sagen, welche sich den Anschein geben, Christen zu sein? Noch heute besteht in allen Synagogen des Orients die jüdische Sekte der Minäer, besser bekannt unter dem Namen Nazaräer, welche von den Pharisäern bis zur Stunde verurteilt wird. Sie glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes, geboren aus Maria der Jungfrau. Er ist für sie derselbe, der unter Pontius Pilatus gelitten hat und von den Toten auferstanden ist, an den wir ja auch glauben. Aber da sie zugleich Juden und Christen sein wollen, sind sie weder Juden noch Christen […]. Sind wir […] verpflichtet, die Juden mit ihren Gesetzen aufzunehmen, und erlauben wir ihnen die Beobachtung der Gebräuche, die sie in den Synagogen des Satans übten, in den Kirchen Christi, dann werden sie – ich rede, wie ich es meine – keine Christen werden, wohl aber uns zu Juden machen.

Hieronymus verweist damit die üblicherweise „Judenchristen“ genannten Gruppen in ein Niemandsland zwischen Kirche und Synagoge. In eingängiger Symmetrie werden, so sagt er, jesusgläubige Juden weder in der Synagoge als Juden, noch in der Kirche als Christen anerkannt. Bemerkenswerterweise geht es nicht wie bei den als „jüdisch“ gescholtenen Markioniten (Tertullian) und Arianern (Basilius) um Bekenntnisunterschiede  – Hieronymus konstatiert ausdrücklich, dass diese observant lebenden Juden an den Jesus glauben, „an den wir ja auch glauben“ – sondern allein um die Lebensweise und Gottesverehrung nach jüdischem Brauch. Wie vordem der Verfasser der Ignatiusbriefe versteht sich Hieronymus auf eine wirkungsvolle rhetorische Zuspitzung der behaupteten Unvereinbarkeit von judäischer Lebensweise und Jesusglauben: Wenn diese Leute einen Platz in der Kirche erhalten, werden sie „keine Christen werden, wohl aber uns zu Juden machen“. Rhetorisch tut der Antagonismus „Synagogen Satans“ vs. „Kirchen Christi“ ein Übriges. Unberücksichtigt bleibt hierbei erstens, dass diejenigen, von denen behauptet wird, sie würden nicht zu Christen werden, dieses ihrem Bekenntnis nach schon sind, und zweitens, dass eine judäische Lebensweise für Gläubige aus anderen Völkern in der von Augustin notierten Position, auf die Hieronymus in seinem Brief reagiert, nicht nur nicht zur Debatte steht, sondern ausdrücklich ausgeschlossen wird. In der Argumentation des Hieronymus sind jüdische Jesusgläubige diejenige Größe, die den von ihm behaupteten sachlichen und begrifflichen Gegensatz von Judentum und Christentum unterlaufen. Im Wechselspiel von Identität und Alterität nehmen jüdische Jesusgläubige, wie Boyarin sagt,26 die Position von Hybriden ein, die die innerhalb dieses Wechselspiels sich bildenden Gruppenidentitäten bedrohen. Deshalb wird ihnen jeder systematische Ort und überhaupt jedes Daseinsrecht bestritten. 26 Boyarin,

2009, 21–22.24 mit weiteren Textbeispielen.

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5. Julians Versuch einer Hybridisierung des Christentums Kurzzeitig ist das Christentum selbst in eine solche hybride Mittelposition geraten, als Kaiser Julian während seiner von 360–363 währenden Regentschaft versuchte, das Christentum zugunsten der alten paganen Kulte zurückzudrängen27. Boyarin zeigt, dass Julian gegenüber den Christen genau so argumentiert wie Hieronymus gegenüber den jesusgläubigen Juden. Julian definiert Griechentum und Judentum als binäre Opposition und wirft den Christen vor, weder das eine noch das andere zu sein, sondern ein illegitimes Mischgebilde (Contra Galilaeos 42 e–43 b28): Julian nimmt sich, wie er eingangs erklärt, in seiner Schrift gegen die Christen vor, „die Anschauungen bei den Griechen und Hebräern über Gott zu vergleichen“ (παραθεῖναι τὰ παρὰ τοῖς  Ἕλλησι καὶ παρὰ τοῖς  Ἑβραίοις ὑπὲρ τοῦ θείου λεγόμενα), um dann zu erkunden, die weder Griechen noch Juden sind, sondern zur Richtung der Galiläer gehören, warum sie deren (Glauben) gegenüber unserem den Vorzug gaben, und warum sie außerdem auch bei deren Glauben nicht geblieben, sondern, von jenen abgefallen, ihren eigenen Heilsweg gegangen sind.  – καὶ μετὰ τοῦτο ἐπανερέσθαι τοὺς οὔτε  Ἕλληνας οὔτε  Ἰουδαίους, ἀλλὰ τῆς Γαλιλαίων ὄντας αἱρέσεως, ἀνθ’ ὅτου πρὸ τῶν ἡμετέρων εἵλοντο τὰ παρ’ ἐκείνοις, καὶ ἐπὶ τούτῳ, τί δή ποτε μηδ’ ἐκείνοις ἐμμένουσιν, ἀλλὰ κἀκείνων ἀποστάντες ἰδίαν ὁδὸν ἐτράποντο.

Julian unterscheidet zwischen der Gottesverehrung der „Griechen“ und der „Hebräer“. Die „Christen“, wiewohl längst im römischen Imperium privilegiert, kommen namentlich nicht vor. Ihre Religion (θεoσέβεια) unterscheidet sich vielmehr von beiden, nun aber nicht so, dass sie über beides in einem dritten Schritt hinausginge, gar beide überträfe, sondern sie bildet eine missratene Mischform, die von den Griechen und Juden das Schlechteste übernimmt und zu einer verderblichen Mischung verbindet: Sie erkennen nun nichts von den schönen und ehrenwerten Dingen an, weder von denen bei uns, den Griechen, noch von denen, die die Hebräer von Mose erhalten haben, sondern sie greifen von den Eigenheiten beider, die sich bei diesen Völkern finden, gleichsam die verderblichen Kräfte heraus, vom Leichtsinn der Juden die Leugnung der Götter, und einen schlechten und nachlässigen Lebenswandel von der bei uns verbreiteten Trägheit und Rohheit, und sie verlangen, dass man dies die vollendete Religion nennt. – ὁμολογήσαντες μὲν οὐδὲν τῶν καλῶν οὐδὲ τῶν σπουδαίων οὔτε τῶν παρ’ ἡμῖν τοῖς  Ἕλλησιν οὔτε τῶν παρὰ τοῖς ἀπὸ Μωυσέως  Ἑβραίοις, ἀπ’ ἀμφοῖν δὲ τὰς παραπεπηγυίας τούτοις τοῖς ἔθνεσιν ὥσπερ τινὰς Κῆρας δρεπόμενοι, τὴν ἀθεότητα μὲν ἐκ τῆς  Ἰουδαϊκῆς ῥᾳδιουργίας, φαῦλον δὲ καὶ ἐπισεσυρμένον βίον ἐκ τῆς παρ’ ἡμῖν ῥᾳθυμίας καὶ χυδαιότητος, τοῦτο τὴν ἀρίστην θεοσέβειαν ἠθέλησαν ὀνομάζεσθαι.

27 Boyarin, 28 Hier

2009, 13–15. und nachfolgend eigene Übersetzung, griechischer Text nach Neumann, 1880.

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Zweierlei kann man, wie Boyarin gezeigt hat, an Julians Christenschrift erkennen: (a) die Rhetorik der Delegitimierung durch Hybridisierung und (b) die Genese eines transethnischen Religionsbegriffs. Das Christentum ist (a) ein Hybrid zwischen Judentum und Griechentum, d. h. es bildet so wenig eine eigene Kategorie wie die jesusgläubigen Juden bei Hieronymus. Das Christentum kommt kategorial neben Judentum und Griechentum gar nicht vor, es bildet keinen eigenen Begriff, kann vielmehr nur als eine hybride Vermengung zweier heterogener Größen beschrieben werden. Die von Julian verwendete Terminologie ist so wenig wie die der zuvor untersuchten christlichen Texte ein zufälliger Reflex sprachlicher Konvention, sondern eine bewusste begriffliche determinatio, die auf die negatio bestimmter Glaubensweisen zielt. Die Christen sind mithin (b) auch kein ἔθνος, und ihre Lebensweise und Gottesverehrung ist keine θεοσέβεια. Sie beanspruchen zwar, dass man ihre Lebensweise und Gottesverehrung θεoσέβεια nennt, in Wahrheit handelt es sich aber um ein verderbliches Gemisch schlechter Sitten und Charaktereigenschaften. Dagegen behandelt Julian Griechen und Juden sehr wohl als ἔθνη, sofern die Christen von beiden Eigenschaften, die sich „bei diesen Völkern“ (τούτοις τοῖς ἔθνεσιν) finden, die schlechtesten übernommen haben. Sie sind selbst aber kein ἔθνος, sondern eine αἵρεσις. Über Juden und Griechen sagt Julian, dass es „zwei“ sind, nicht aber explizit „zwei Völker“. Die Formulierung lässt offen, ob die Griechen als ein einziges Volk gezählt werden oder als mehrere. Die Argumentation ist aber darauf angelegt, dass jedenfalls die Christen weder ein Volk (ἔθνος) sind, noch eine Religion (θεοσέβεια) haben, dass aber auf Juden und Griechen beides zutrifft. Gregor v. Nazianz hat in seiner gegen Julian gerichteten vierten Rede klar gesehen, dass die Konzeptualisierung des Hellenismus als „Religion“ (hier: θρησκεία) auf die Exklusion der Christen zielte:29 „Hinterhältig hat er [d. i. Julian] den Ausdruck so umgedeutet, dass es den Anschein hat, das Wort ‚Grieche‘ meine eine Religion, nicht eine Sprache“ (ὥσπερ τῆς θρησκείας ὄντα τὸν  Ἕλληνα λόγον, ἀλλ’ οὐ τῆς γλώσσης (5)). Einmal angenommen, führt Gregor an späterer Stelle aus (103), das „Hellenisieren“ (ἕλληνίζειν) sei ein „Kult“ (θρησκεία), dann zeige uns, wo und bei welchen Priestern das Hellenisieren Gesetz war […]. Denn weder [sehen sie] für alle dieselben [Opfer] vor, noch [legen sie] alle [in die Hand] eines einzigen, noch [schreiben sie] eine einheitliche Weise [des Opfers] vor, wie es sich allem Anschein nach bei euren Oberpriestern verhält, und bei euren Opferfachleuten. – δεῖξον ποῦ καὶ παρὰ τίσι τῶν ἱερέων τὸ  Ἑλληνίζειν ἔννομον, […] οὔτε γὰρ πᾶσι τὰ αὐτὰ, οὔτε ἑνὶ τὰ πάντα, οὔτε τὸν αὐτὸν τρόπον, ὡς τοῖς παρ’ ὑμῖν ἱεροφάνταις δοκεῖ, καὶ τοῖς τῶν θυσιῶν τεχνολόγοις.

Gregor schließt daran eine Fülle von Beispielen an, die die Heterogenität der kultischen Bräuche im griechischen Sprach‑ und Kulturraum belegen und damit 29 Boyarin, 2009, 14–15. Eigene Übersetzung, griech. Text nach Bernardi, 1983. Einen Kommentar zur vierten Rede hat Kurmann, 1988 vorgelegt.

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den Beweis erbringen, dass der Hellenismus keine Religion ist. Die Frage nach dem „Wo“ (ποῦ) seines Ursprungs stellt Gregor im sicheren Wissen, dass sie nicht beantwortet werden kann. Vorausgesetzt ist hierbei nämlich, dass für jede θρησκεία eine ethnisch-geographische Herkunft angegeben werden kann, und dass es sich umgekehrt dann, wenn dieser Herkunftsnachweis nicht zu erbringen ist, nicht um eine θρησκεία handelt. Julian konzeptualisiert den Hellenismus als Religion, um das Christentum als ein hybrides Drittes zwischen Judentum und Hellenismus zu definieren, ist aber in der Verlegenheit, dass er die „Religion“ des Hellenismus nicht einem bestimmten Volk zuordnen kann. Diese Verlegenheit, die sich, wie wir sahen, bereits in der Formulierung niederschlägt, dass Juden und Hellenen zwar „zwei“ sind, ebenso „Völker“ (ἔθνη), aber eben nicht „zwei Völker“, spiegelt freilich nur eine Verlegenheit, in der sich von Anfang an und in viel stärkerem Maße das Christentum selbst befunden hat. In dem Maße, wie sich die von Nichtjuden praktizierte Jesusverehrung von der jüdischen Lebensweise und Gottesverehrung unterschied, fand sich die Jesusbewegung in einem ethnographischen Niemandsland wieder. Ihre Gottesverehrung war nicht mehr die der Juden, und zugleich waren die Jesusverehrer ethnisch heterogen, d. h. sie konnten nicht mehr angeben, welchem ἔθνος sie eigentlich ihre Gottesverehrung verdankten, sich selbst aber auch nicht als ἔθνος darstellen.

6. Die Entstehung des Christentums als transethnische imperiale Reichsreligion Die vielfältigen Anläufe frühchristlicher Selbstdefinition als „Volk“ in einem übertragenen Sinn mussten so lange andauern, bis das Christentum seit nachkonstantinischer Zeit sich im Paradigma einer transethnischen imperialen Reichsreligion begreifen konnte, als diejenige Größe also, die sich gerade nicht als Gottesverehrung eines distinkten ἔθνος auszuweisen hatte, sondern als integrativer Faktor innerhalb des multiethnischen Gebildes des römischen Imperiums. Das Christentum war nunmehr eine „Religion“ ohne ethnische Determinante. Begriff sich aber das Christentum in diesem Sinne als „Religion“, musste es sich auch sein konstitutives Anderes, das Judentum, gleichmachen, und es in eben dieser Weise als „Religion“ auffassen, die das Judentum aber nie gewesen ist. Die Verengung des „Judentums“ auf eine Glaubensweise ist bereits bei Justin zu beobachten. In Dial 80,4 führt Justin aus, dass Leugner der leiblichen Totenauferstehung sich Christen nennen mögen, in Wahrheit aber keine sind, wie ja auch die Sadduzäer und andere αἱρέσεις recht verstanden keine Juden seien30:

30 Hier und nachfolgend, wenn nicht anders vermerkt, eigene Übersetzung, griechischer Text nach Goodspeed, 1915.

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[…] wie ja auch, wer recht urteilt, zustimmen wird, dass die Sadduzäer oder die verwandten Richtungen der Genisten, Meristen, Galiläer, Hellenianer und Pharisäer-Täufer keine Juden sind.  – ὥσπερ οὐδὲ  Ἰουδαίους, ἄν τις ὀρθῶς ἐξετάσῃ, ὁμολογήσειεν εἶναι τοὺς Σαδδουκαίους ἢ τὰς ὁμοίας αἱρέσεις Γενιστῶν καὶ Μεριστῶν καὶ Γαλιλαίων καὶ  Ἑλληνιανῶν καὶ Φαρισαίων Βαπτιστῶν.

Justin versteht Judesein hier als orthodoxe Glaubensweise, die ihren Namen verliert, sobald sie Elemente übernimmt, die von einem orthodoxen Standpunkt als häretisch gelten. Der bereits erwähnte semantische Anreicherungsprozess des Gegensatzes Judentum / ​Christentum betrifft hier vollumfänglich auch die erste dieser beiden Größen. Mason31 hat daraus die Konsequenz gezogen, dass er diese Termini – im Englischen „Jewish“, „Jew“, „Judaism“ – gar nicht mehr verwendet, und stattdessen „judean“ („judäisch“) und „Judean“ („Judäer“) sagt. In dem von ihm herausgegebenen Gesamtkommentar zu Josephus32 gilt dieser Sprachgebrauch m.W. flächendeckend. Nicht zufällig tritt an die Stelle des Abstractums „Judaism“ („Judentum“) kein „Judeanism“ („Judäertum“), sondern „Judaea“ („Judäa“) als ethno-geographische Größe. Recht und Notwendigkeit dieser neuen Sprachregelung sind am Befremden, das sie auslöst, direkt ablesbar. Offenbar ist der in „judäisch“, „Judäa“ dominierende ethno-geographische Aspekt in der Terminologie „jüdisch“, „Jude“, „Judentum“ so stark ausgeblendet, dass seine Eintragung in die gewohnte wissenschaftliche Beschreibungssprache irritierend wirkt. Anschaulich wird die unwillkürliche semantische Drift von „Lebensweise und Gottesverehrung eines Volkes“ hin zu „Religion“ beispielhaft in der Übersetzung von Ant 20,34 durch Heinrich Clementz. Erzählt wird, dass ein judäischer Kaufmann am Hofe des Königs Izates einige Frauen lehrt τὸν θεὸν σέβειν, ὡς  Ἰουδαίοις πάτριον ἦν, „Gott zu verehren, wie es bei den Judäern von den Vätern überkommener Brauch war“. Clementz übersetzt, die Frauen seien von dem Kaufmann „in der jüdischen Religion“33 unterrichtet worden. In dieser Übersetzung verschwinden die  Ἰουδαῖοι als diejenige Ethnie, deren Lebensweise und Gottesverehrung Izates zu übernehmen im Begriff ist, zugunsten der adjektivischen Charakterisierung einer „Religion“ als „jüdisch“. In der Ende des 19. Jh. entstandenen Übersetzung eines Quellentextes aus dem 1. Jh. kommen diejenigen semantischen Anreicherungen und Verschiebungen zum Tragen, die in der nachkonstantinischen „Religion“ namens „Christentum“ ihren historischen Haftpunkt haben. Erst dann konnte es auch mit den christlichen Versuchen, sich als „Volk“ darzustellen, ein Bewenden haben.

31 Mason,

2007, passim. 1999 ff., bisher acht Bände. 33 Clementz, 2004 (=1899), 972; griech. Text nach Niese, 1890. 32 Mason,

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7. Versuche christlicher Selbstdarstellung als „Volk“ in vorkonstantinischer Zeit Der erhebliche Deutungsaufwand, den frühchristliche Theologen in dieser Angelegenheit betrieben haben,34 lässt sich anschaulich am Beispiel von Justin, Dial 119.123 vorführen. In Dial 119,2 packt Justin zunächst den kaum zu leugnenden Umstand, dass die multiethnischen Jesusgemeinden nicht im ethnischen Sinn ein „Volk“ sind, sozusagen bei den Hörnern mit dem Hinweis auf Dtn 32,21, Gott wolle sein eigenes Volk „eifersüchtig machen“ auf ein „NichtVolk“ (παραζηλώσω αὐτοὺς ἐπ’ οὐκ ἔθνει), um dann in 119,3 mit Sach 2,11 geltend zu machen, dass „viele Völker“ (ἔθνη πολλὰ) zum Herrn fliehen werden, und zwar εἰς λαόν, was übereinstimmend mit MT und LXX heißt: „als Volk“, d. h. die vielen Völker werden dadurch, dass sie sich gemeinsam zu Gott aufmachen, selber ein λαός. Außerdem gilt: „Sie werden sich lagern inmitten des ganzen Landes“ (καὶ κατασκηνώσουσιν ἐν μέσῳ τῆς γῆς πάσης). In Abweichung von MT, der vom Wohnen Jhwhs „in deiner (d. i. Israels) Mitte“ spricht, in Abweichung auch von der LXX („und sie werden sich lagern in deiner [d. i. Israels] Mitte“ (καὶ κατασκηνώσουσιν ἐν μέσῳ σοῦ)) liegt bei Justin der Akzent darauf, dass dieser λαός ein eigenes Land vorweisen kann, allerdings in der schon biblischen Doppeldeutigkeit von ‫ ארץ‬/ ​γή als „Land Israel“ oder „ganze Erde“. Justin entspricht damit der antiken ethno-geographischen Zuordnung von Völkern zu ihren Siedlungsgebieten, deutet aber an, dass im Falle des λαός der Christen auch die ganze Welt als ihr „Land“ begriffen werden kann. Über Jes 62,12 gelingt Justin eine noch engere Anbindung seiner Argumentation an den ethnographischen Diskurs (119,3–4):35 ‚Man wird es ein heiliges Volk nennen, erlöst vom Herrn‘. Wir sind also kein verachtenswertes Volk, noch ein Barbarenvolk, noch eine Nation wie die Karer oder Phryger. Nein gerade uns hat Gott erwählt.  – Καὶ καλέσουσιν αὐτὸν λαὸν ἅγιον, λελυτρωμένον ὑπὸ κυρίου. Οὐκοῦν οὐκ εὐκαταφρόνητος δῆμός ἐσμεν οὐδὲ βάρβαρον φῦλον οὐδὲ ὁποῖα Καρῶν ἢ Φρυγῶν ἔθνη, ἀλλὰ καὶ ἡμᾶς ἐξελέξατο ὁ θεὸς.

Dass der λαός der Christen durch den Propheten als λαὸς ἅγιος deklariert wird, ist für den ethnographischen Vergleich direkt verwertbar: Die Christen unterscheiden sich durch ihren Status als „heiliges Volk“ von jedwedem „verachtenswertem Volk“ (εὐκαταφρόνητος δῆμος) und von jedem „barbarischen Stamm“ (βάρβαρον φῦλον), ebenso gleichen sie nicht den „Völkern der Karer und Phryger“ (Καρῶν ἢ Φρυγῶν ἔθνη). Nach Tertullian, De anima 20 gelten jedenfalls die Phryger als furchtsam. Sollte Justin auf dieses negative ethnographische Stereotyp anspielen, dann geht es ihm an dieser Stelle nicht nur darum, dass die Christen nicht im ethnographischen Sinn ein distinktes „Volk“ sind, sondern 34 Grundlegend 35 Übersetzung

ist hierzu die Arbeit von Buell, 2005. nach Haeuser, 1917, griechischer Text nach Goodspeed, 1915.

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dass sie, dem Duktus des Satzes entsprechend, sich im ethnographischen Vergleich von anderen Ethnien durch ihre Erwählung vorteilhaft unterscheiden. Der daran anschließende Rekurs auf Abraham und Noah dient dem Nachweis, dass die Christen trotz der auf sie zielenden Verheißung an Abraham, „Vater vieler Völker“ (πάτηρ πολλῶν ἐθνῶν) zu werden, nicht auf der Grundlage dieser ethnischen Vielheit beschrieben werden können, sondern, über Noah, der der Vater Abrahams war, als Menschheitsvolk ungeachtet ethnographischer Differenzierungen (119,4): Noah war Vater jedes Volkes der Menschen, wer auch von wem abstammt. – Νῶε […] πατὴρ ἦν […] παντὸς ἀνθρώπων γένους, ἄλλοι δὲ ἄλλων πρόγονοι.

Abraham ist gleichwohl deshalb eine bleibende Bezugsgröße für die Christen, weil er im Vorblick auf das verheißene Land aus seinem eigenen Land ausgezogen ist. Mithin gilt von den Christen: „Mit Abraham werden wir das Heilige Land erben“ (σὺν τῷ Ἀβραὰμ τὴν ἁγίαν κληρονομήσομεν γῆν). Sie sind mit Abraham „das Volk gleichen Glaubens“ (ὁμοιόπιστον […] τὸ ἔθνος). In Dial 119 wird deutlich, dass Justin in seiner Bestimmung der Christen als „Volk“ den ethno-geographischen Kriterien möglichst gerecht werden will und ausführlich begründet, warum dies in welcher Hinsicht nicht der Fall ist. Faktisch sind die Christen überhaupt kein Volk, und sie haben auch kein eigenes Land. Die Antwort Justins lautet: Die Christen sind das durch Erwählung konstituierte Menschheitsvolk, und der obligatorische Landbesitz ist Sache der verheißenen Zukunft (119,5) oder aber die Landverheißung wird andeutungsweise auf die ganze Erde entgrenzt (119,3). In Dial 123 geht es Justin zunächst um den Nachweis, dass die Verheißung der διαθήκη ἐθνῶν aus Jes 49,8 (122,5) nicht die Proselyten meinen kann, denn diese bräuchten, da sie vollgültig zu Israel gezählt würden, gar keinen weiteren Bundesschluss. Der Vollproselyt „ist wie ein Landesbewohner“ (ἐστὶν ὡς αὐτόχθων) meint Justin (113,1). Die Formulierung ist bemerkenswert, weil sie den geographischen Index der jüdischen (hier tatsächlich: judäischen) Lebensweise und Gottesverehrung kenntlich macht: Der Proselyt gilt wie jemand, der zur angestammten judäischen Bevölkerung zählt. Im Unterschied dazu seien auch die unbeschnittenen Heiden „gewürdigt, Volk zu heißen“ (λαὸς κεκλῆσθαι ἠξιωμένοι). Auf dem Wege des Schriftbeweises beansprucht Justin sogar den Israel-Namen für die Christen. Die Rede von Israel als dem Dritten neben Ägypten und Assyrien in Jes 19,24 handele περὶ ἄλλου  Ἰσραήλ (123,5). Dagegen befänden sich die Juden in dem Irrtum, sie seien „allein Israel“ (ὡς μόνοι  Ἰσραὴλ ὄντες, 123,6). Jenes „andere Israel“ führe seinen Namen zu recht, weil es sich auf Christus gründe, der im prophetischen Wort wiederholt „Israel“ genannt wird, etwa Jes 42,1 „Israel, mein Erwählter“ ( Ἰσραὴλ ἐκλεκτός μου), von dem es heißt, „dass auf ihn die Heiden hoffen“ werden (123,6).

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Der erhebliche schriftgelehrte Aufwand um das Selbstverständnis der Christen als „Volk“, den die Justin-Stellen anschaulich vorführen, versucht eine Leerstelle zu füllen, die notwendig entstehen musste, sobald sich ein Jesusglaube abseits jüdischer Lebensweise und Gottesverehrung etablierte und die eigene Gottesverehrung nicht mehr als Spielart der Gottesverehrung der Juden plausibilisieren konnte und wollte. Wichtig ist, dass Justin an dieser Stelle kein Substitutionsmodell in Anschlag bringt. Nicht die Ablösung des alten Gottesvolkes durch das neue ist Beweisziel, sondern die Assoziation eines Israel aus den Völkern mit den Juden als ursprüngliches Volk Israel.

8. Die Christen als tertium genus Wenn freilich Gottesverehrung und Ethnizität nach antikem Verständnis so eng zusammen hingen, konnte auch die umgekehrte Dynamik entstehen: Von der ethnographisch nicht einfach ableitbaren, aber doch einheitlichen und verbreiteten Gottesverehrung der Christen konnte man darauf rückschließen, dass sie doch irgendwie ein Volk sein mussten. Dass die Christen von Außenstehenden „Volk“ genannt wurden, ist vereinzelt belegt, etwa in einem bei Euseb zitierten Reskript des Maximinus Daja, der vom ἔθνος τῶν Χριστιανῶν spricht.36 Ebenfalls nur vereinzelte Belege gibt es für die Rede von den Christen als dem „dritten Geschlecht“, auch dies in Selbst‑ und Fremdzuschreibung.37 Tertullian notiert in Scorpiace 10, dass die Volksmenge im Circus höhnisch zu rufen pflegte: Usque quo genus tertium? („Wo bleibt das dritte Geschlecht?“). Die älteste christliche Quelle ist das bei Clemens v. Alexandrien in einigen Fragmenten erhaltene Kerygma Petri (Clem Alex, Strom VI 5,41,4–6):38 So lernt auch ihr fromm und gerecht das, was wir euch überliefern, und bewahrt es, indem ihr Gott durch Christus auf neue Weise verehrt. Denn wir haben in den Schriften gefunden, wie der Herr sagt: ‚Siehe ich errichte euch einen neuen Bund, nicht wie ich (einen) geschlossen habe mit euren Vätern auf dem Berge Horeb‘. Einen neuen hat er uns gesetzt. Denn das, was Griechen und Juden betrifft, ist alt, wir aber sind die Christen, die ihn als drittes Geschlecht (oder: auf eine dritte Art,) auf neue Weise verehren. – ὥστε καὶ ὑμεῖς ὁσίως καὶ δικαίως μανθάνοντες ἃ παραδίδομεν ὑμῖν, φυλάσσεσθε, καινῶς τὸν θεὸν διὰ τοῦ Χριστοῦ σεβόμενοι εὕρομεν γὰρ ἐν ταῖς γραφαῖς καθὼς ὁ κύριος λέγει· ‹ἰδοὺ διατίθεμαι ὑμῖν καινὴν διαθήκην, οὐχ ὡς διεθέμην τοῖς πατράσιν ὑμῶν ἐν ὄρει Χωρήβ.› νέαν ἡμῖν διέθετο· τὰ γὰρ  Ἑλλήνων καὶ  Ἰουδαίων παλαιά, ἡμεῖς δὲ οἱ καινῶς αὐτὸν τρίτῳ γένει σεβόμενοι Χριστιανοί. 36 Euseb,

h. e. IX,9, zitiert bei Harnack, 1924, 284 Anm. 2. Belege sind bei Harnack, 1924, 281–289 gesammelt und kommentiert und zuletzt von Wolter, 2013 einer eigenen Darstellung zugrunde gelegt. Auch die folgenden Belege sind Harnack entnommen. 38 Übersetzung nach Schneemelcher, 1989, griech. Text nach Cambe, 2003, 151–161. 37 Die

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Die in der notierten Übersetzungsvariante anklingende Frage, wie τρίτῳ γένει zu übersetzen ist,39 hat insofern nur ein relatives Gewicht, als ohnehin jede Weise der Gottesverehrung einen ethnographischen Index besaß, d. h. man musste sich die „Christen“ aufgrund ihrer distinkten Gottesverehrung auf jeden Fall in Analogie zu den „Griechen“ und „Juden“ als „Volk“ vorstellen. Wie aber kommt es zu der Dreizahl? Vorausgesetzt ist erstens, dass die „Juden“ schon vorchristlich ein Gegenüber zu den anderen Völkern bilden, und zweitens, dass diese Völker im Blick auf ihre Gottesverehrung summarisch als „Griechen“ bezeichnet werden konnten: [A]ls ,genus primum‘ galten Griechen, Römer und alle übrigen Völker, sofern sie gegenseitig ihre Götter anerkennen, bzw. auch fremden Göttern Ehre erweisen, und Opfer und Bilder haben und sich dem Kaiserkulte unterwerfen; das ,genus alterum‘ waren die Juden (Nationalgott, Exklusivität, Bildlosigkeit, aber Opfer); das ,genus tertium‘ bildeten die Christen (geistiger Gott, Bildlosigkeit, keine Opfer, ,contemnere deos‘ wie die Juden).40

Nach Harnack war die gegenseitige Anerkennung der Gottesverehrung innerhalb der Klammer eines zwar nicht einheitlichen, aber eben reichsweiten Kaiserkultes dasjenige, wovon sich zuerst die Juden abhoben, und später die Christen, jedoch in klarer Selbstunterscheidung von den Juden, weshalb sie nicht einfach den Juden zugerechnet werden konnten. Die Selbstauffassung der Christen als ethnographisch heterogenes „Volk“ bewegt sich also von vornherein im politisch-kulturellen Kontext der römischen Reichsidee, die den antiken Ethnizitätsdiskurs bereits auf ihre Weise transzendiert.41 Tertullian hat sich übrigens gegen die Rede von den Christen als tertium genus, die ihm als Spottname geläufig war, vehement gewehrt. In Ad nationes I 8 setzt er die Abfolge Römer / ​Juden / ​Christen voraus, um diese sogleich mittels der Erwägung zu problematisieren, wo in dieser Reihe denn die Griechen blieben. Und selbst wenn man die Griechen zu den Römern zählte, meint er, weil die Römer die Götter der Griechen übernommen hätten, blieben noch die Ägypter, die doch eine privata curiosaque religio ausübten. Allem Anschein nach verwahrt sich Tertullian deshalb gegen den dritten Platz für die Christen in einer Dreierreihe, weil er diese Stelle im Sinne der Hybridisierung auffasst, die uns bereits aus Hieronymus, Julian und Gregor von Nyssa geläufig ist. In Ad nationes I 20 gibt er den Vorwurf, die Christen seien das tertium genus, an seine Gegner

39 Vgl.

hierzu Harnack, 1924, 264–265. 1924, 286. 41 Der unversöhnliche Gegensatz zwischen beiden Konzepten wird in den Akten der Scilitanischen Märtyrer bündig in den Gegensatz Christen / ​Römer gefasst: der Prokonsul lässt zu Protokoll geben, dass die Beschuldigten bekannt haben ritu Christiano se vivere, und dass sie daran festhielten, obwohl ihnen die Gelegenheit zur Rückkehr zum mos Romanorum gegeben wurde. Ausdrücklich erklären die scilitanischen Christen, dass sie das imperium huius seculi nicht anerkennen, sondern allein Gott, den imperator omnium gentium (Text nach Ruggiero, 1991). 40 Harnack,

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zurück mit dem Hinweis, auch sie hätten ein tertium genus, aber nicht gemäß der Gottesverehrung, sondern des biologischen Geschlechts:42 Auch ihr habt ein drittes Geschlecht, wenn auch nicht in ritueller, sondern in sexueller Hinsicht. Jenes passt besser zu Mann und Frau, da es aus Männlichem und Weiblichem zusammengesetzt ist. – Habetis et vos tertium genus, etsi non de tertio ritu, attamen de tertio sexu. Illud aptius de viro et femina viris et feminis iunctum.

Gemeint sind die Eunuchen und die bessere Passfähigkeit für beiderlei Geschlecht spielt wohl auf die Verfügbarkeit der Eunuchen für jedwede sexuelle Vorliebe an43. Tertullian wittert hinter der Bezeichnung der Christen als tertium genus den Versuch, sie als ethnographisches Mischgebilde abzuqualifizieren. Er hält dagegen mit der Infragestellung der Trias Römer / ​Juden / ​Christen durch den Hinweis auf Griechen und Ägypter: Die Christen können schon deshalb nicht an dritter Stelle stehen, weil die Dreizahl nicht verfängt. In Wahrheit, macht er geltend, ist die ethnographische Gemengelage komplizierter. Namentlich die Erwägung, ob die Griechen wegen der gemeinsamen Gottesverehrung den Römern zugerechnet werden können, veranschaulicht die hohe Elastizität des ethnographischen Diskurses. Die Kulissen konnten nicht nachgerade beliebig, aber doch innerhalb eines großen Spielraumes so verschoben werden, wie es der rhetorische Zweck erforderte. Der terminologische Variantenreichtum der christlichen Quellen (ἔθνος, γένος, λαός, δῆμος, φύλον, πολιτεία) belegt dies auf seine Weise. Das frühe „Christentum“ hat sich in dem Maße in diesen Diskurs eingeschaltet, wie es sich im Gegensatz zum „Judentum“ verstand. Allerdings hatten die Christen, als sie sich in der Völkerwelt des römischen Reiches als ein Eigenes positionierten, das Judentum keineswegs „hinter sich“ gelassen im Sinne des so oft beschworenen „abgeschlossenen Trennungsprozesses vom Judentum“.44 Die ignatianische Unterscheidung hat auf lange Sicht Schule gemacht, in ihrer eigenen Zeit jedoch noch lange nicht die Tatsachen geschaffen, die sie schaffen wollte.45 Erst in nachkonstantinischer Zeit mussten  Eigene Übersetzung, Text aus Harnack, 1924, 285. englische Übersetzung der Ausgabe von Roberts / ​D onaldson, 1903 ergänzt sinngemäß „or offices of lust“. 44 So etwa Wolter, 2013, 297. 45 Die Forschung hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten intensive Anstrengungen unternommen, den starren Gegensatz von „Judentum“ und „Christentum“ zugunsten eines geographisch und historisch vielfältig zu differenzierenden Bildes aufzubrechen. Ein wichtiges Feld ist die Textgeschichte und Textüberlieferung der „jüdischen“ Apokryphen und Pseudepigraphen (hierzu monographisch Davila, 2005): Bekanntlich wurden diese Texte fast gänzlich von Christen tradiert, rezipiert und redigiert, und zwar auf eine Weise, die schon so manchen Versuch, „Jüdisches“ von „Christlichem“ zu unterscheiden, in die Aporie getrieben hat. Zahlreiche weitere Arbeiten haben gezeigt, wie in der Antike Juden, die keine Christusverehrer waren, Juden, die an Christus glaubten, Nichtjuden, die an Christus glaubten und Nichtjuden, die nicht an Christus glaubten, vielfältig miteinander interagierten. Aus der Fülle der Forschungsliteratur sei hier nur auf einige wenige Titel verwiesen: Außer den bereits genannten Aufsätzen von Mason, 2007 und Boyarin, 2009 ist auf den Sammelband „The Ways that never parted“ von 42

43 Die

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die Christen sich selbst und anderen nicht mehr erklären, warum sie weder der jüdischen Lebensweise und Gottesverehrung entsprachen, noch sich der hellenistisch-römischen Mehrheitskultur fügten. Hatten sie sich erst diese Mehrheitskultur, die noch Julian gegen das Christentum aufbieten wollte, anverwandelt und einverleibt, war jene dritte Größe verschwunden, die die Christen jederzeit in eine prekäre Mittelposition drängen konnte. Erst dann hatte das „Christentum“ auch den Rücken frei, sich vollends gegen ein als „Religion“ verstandenes „Judentum“ in Stellung zu bringen. Allerdings hat dieses „Judentum“ seinen ethno-geographischen Index niemals verloren, bis heute nicht. Der Konstruktionsfehler der ignatianischen Unterscheidung ist dementsprechend auch niemals behoben worden, und kann es auch gar nicht.

9. Ein Rückblick in das neutestamentliche erste Jahrhundert Die im neutestamentlichen Kanon versammelten Schriften sind von jedweder Unterscheidung „jüdisch“ / ​„christlich“ unberührt. Angesichts ihrer Sinnkarriere, die in diesem Beitrag mit wenigen disparaten Strichen zu skizzieren war, erscheint es ratsam, sich ihrer auf dem Felde des Neuen Testaments zu enthalten und die wissenschaftliche Beschreibungssprache entsprechend zu regulieren. Vieles wird man dann umständlicher sagen und Neologismen in Kauf nehmen müssen. Das griffige Adjektiv „christlich“ ist nicht ohne Weiteres zu ersetzen. In Frage kommt „christusgläubig“. Anstatt von „Christen“ kann man, um die reflexartige Assoziation des Oppositums „Juden“ zu vermeiden, von „Christusverehrern“ oder „Christusanhängern“ sprechen. Dann haben Nuancen und Feinheiten des neutestamentlichen Sprachgebrauchs eine Chance wahrgenommen zu werden. Dass sich etwa in Apg 15,5 τινες τῶν ἀπὸ τῆς αἱρέσεως τῶν Φαρισαίων πεπιστευκότες zu Wort melden und nicht etwa „pharisäische Christen“ oder dergleichen, ist nicht ohne Bedeutung. „Pharisäer“ bleibt die maßgebliche Gruppenbezeichnung. Die Christusverehrer in Apg 19,1–7, die allein die Johannestaufe kennen, nicht aber Geistempfang und Taufe auf den Namen Jesu, heißen μαθηταί, und von ihnen gilt: Sie sind „gläubig geworden“ (πιστεύσαντες). Dies als Vorschuss auf die Ergänzung des noch Fehlenden (Taufe auf den Namen, Geistempfang) zu deuten, greift zu kurz. Dass diese μαθηταί an Jesus glauben, gilt auch schon vorher, und es hätte auch weiterhin gegolten, wären sie Paulus nicht über den Weg gelaufen, sonst hätte der Verfasser der Apostelgeschichte anders formuliert. Die Unterscheidung „jüdisch“ / ​„christlich“ versagt, wo es um den Täufer geht, auch sonst: Nach Mk 1,4 ist die Taufe des Johannes sündenverBecker / ​R eed, (2003) zu verweisen (hierzu zuletzt Nicklas, 2014). Nur eben genannt seien auch zwei Sammelbände, auf deren Beiträge Boyarin mehrfach eingeht: Skarsaune / ​Hvalvik, 2007 (freilich sehr kritisch besprochen von Becker, 2009) und Jackson-McCabe, 2007.

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gebend, und nach Mt 3,2; 4,17 richten Jesus und der Täufer exakt die gleiche Botschaft aus. Dies ist nicht einfach theologische Unbedarftheit oder mitgeschleifte Tradition.46 Für das Johannesevangelium gilt, dass das Terrain außerhalb der Synagoge, in dem sich die Adressaten des Evangeliums vorfinden, und für das der Evangelist nicht einmal das Wort ἐκκλησία verwendet, von einer aus „Christen“ bestehenden „Kirche“ weit entfernt ist. Es handelt sich um jesusgläubige Juden, die der Evangelist auf ihr Dasein als outcasts einschwören will, und denen er eine konzentrierte Christologie als Ersatz für eine absehbar fehlende alternative Sozialstruktur zumutet. In der Johannesoffenbarung wird den Gegnern nicht das Christsein bestritten, sondern das Recht, sich „Juden“ zu nennen (Apk 2,9; 3,9), auch hier eine Reaktion auf verweigerte Anerkennung, die sich der Verfasser für die Zukunft ausmalt (3,9). Paulus dachte noch gänzlich in dem für ihn konstitutiven begrifflichen Gegensatz von  Ἰουδαῖοι und ἔθνη bzw.  Ἕλληνες, und zwar auch dort, wo die damit gegebenen sozialen Unterschiede „in Christus“ für unerheblich erklärt werden. Wenn er den jesusgläubigen ἔθνη des Galaterbriefes, die ja entgegen ihrem eigenen Streben gerade nicht  Ἰουδαῖοι werden sollen, erklärt, was sie sind, so bezeichnet er sie als „Nachkommen Abrahams“, vermittelt durch ihre Zugehörigkeit zu Christus, der der eine verheißene Nachkomme des Erzvaters ist. An die Stelle der ethnischen Zugehörigkeit tritt die über Christus konstruierte quasifamiliale Abstammung. Nach Röm 4,17–18 ist Abraham πατὴρ πολλῶν ἐθνῶν und als solcher Vater der Unbeschnittenen wie der Beschnittenen (4,11–12). Für die Unbeschnittenen genügt es, Abraham zum Vater zu haben. Sie sind weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn ein „Volk“. Auch die synoptischen Evangelien setzen die Unterscheidung Israel / ​Völker bzw.  Ἰουδαῖοι / ​ἔθνη selbstverständlich voraus. Der ἐθνικός in Mt 18,17 ist nicht der Nichtchrist – das Lexem „Christ“ ist dem Matthäusevangelisten ungebräuchlich –, sondern jemand, der kein  Ἰουδαῖος ist. Die universale Mission nach Mt 28,18–20 gilt den ἔθνη im Unterschied zu Israel, das nach Mt 10 ein eigenes, dazu paralleles Missionsfeld bildet, und das nach der Prognose Jesu in Mt 10,23 seinerseits beackert werden wird, bis der Menschensohn kommt.47 Dieselbe eschatologische Perspektive ist, Mk 13,10 aufnehmend, in Mt 24,14 maßgeblich. Die Aussage schlägt einen Bogen bis zum Weltende, nennt aber außer „den Völkern“, die ebenso wie Israel (Mt 10,7) Adressaten der ReichGottes-Botschaft sind, keine weitere Größe und fasst auch nicht die Völker zu einem Volk zusammen. Das Drohwort Mt 8,11, das die „Söhne des Reiches“ vom eschatologischen Festmahl ausschließt, an dem „viele“ aus allen Himmels46 Die Täuferpassagen der Evangelien verzeichnen durchweg eine eigentümliche Gegenläufigkeit zur spürbaren Überordnung Jesu über Johannes, die es nicht zulässt, den Täufer christlich auf seine Vorläuferrolle zu reduzieren. Vgl. hierzu Vogel, 2015. 47 Auf die Parallelität von Israel‑ und Völkermission hat bereits v. Dobbeler, 2000 hingewiesen.

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richtungen teilnehmen werden, fasst diese „vielen“ nicht als eigene Körperschaft und denkt sich die Inklusion der Heiden in die Gottesherrschaft als ein Hinzukommen zu den Patriarchen Israels. In Mt 21,43 werden die in v45 explizit genannten Hohepriester und Pharisäer angeredet, die für die von Jesus kritisierte Elite stehen, nicht pars pro toto für Israel. Gemeint ist mit der βασιλεία τοῦ θεοῦ, die ihnen „genommen“ und „einem anderen Volk gegeben“ werden soll, die Lehrautorität48 der judäischen Elite, die künftig von einem „Volk“, und zwar allem Anschein nach (ἔθνος) nicht dem judäischen, ausgeübt werden wird. Anscheinend sind die ἔθνη im Blick, die nach Mt 28,19–20 nach der Lehre Jesu leben. Es geht mithin nicht um die Ablösung des alten Gottesvolkes durch das neue, sondern um die an der Lehre Jesu orientierte Lebensweise von Nichtjuden, die der Halacha der judäischen Elite überlegen ist. Von besonderem Interesse ist das lukanische Doppelwerk, weil es die geschichtliche Linie bis ans Ende der ersten Generation der Jesusbewegung zieht. Auch hier bleibt der Gegensatz  Ἰουδαῖοι / ​ἔθνη bis zum Schluss bestimmend. In der Schlussszene Apg 28,17 ff. trifft sich Paulus mit den in Rom lebenden  Ἰουδαῖοι und ermahnt sie, nicht gleich ihren Vätern verstockt zu sein, sondern sich ein Beispiel an den ἔθνη zu nehmen, zu denen „diese Rettung Gottes“ nunmehr ebenfalls gesandt ist, und die auf diese Botschaft auch hören werden. In der lukanischen Version der Abendmahlsparadosis ist die Mahlpraxis der Jesusgemeinden ausdrücklich in den Horizont eines eschatologischen Passamahles eingespannt. Jesus äußert in Lk 22,15 seinen Wunsch, „dieses Passa“ (τοῦτο τὸ πάσχα) mit seinen Jüngern zu essen, und erklärt dann, er werde „es“ (αὐτό) nicht mehr essen, bis es „vollendet wird im Reich Gottes“ (πληρωθῇ ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ). Nimmt man die lukanischen Formulierungen beim Wort, ist das Mahl der Jesusgemeinden, das „Brotbrechen“ (κλᾶσις τοῦ ἄρτου) heißt, eine Interimsform, bis im Reich Gottes wieder nach judäischem Ritus Pessach gefeiert wird. Nur gelegentlich spielen in den neutestamentlichen Schriften Überlegungen zum Status der nichtjüdischen Christusverehrer als „Volk“ eine Rolle. Wo dies der Fall ist (Apg 15,14; Tit 2,14; 1 Petr 2,9 ‑10) geht es darum, dass nun Nichtjuden „mit dem Volk Gottes“ „Volk Gottes“ sein dürfen, so wie noch Justin (s. o. zu Dial 123) dafür streitet, dass Israel die Gläubigen aus den Völkern „als Israel“ anerkennt. Dies ist von jedwedem Substitutionsmodell, auf das nicht zuletzt die Rede von der „Kirche“ als „neuem Israel aus Juden und Heiden“ hinausläuft, zu unterscheiden.

48 Vgl. Mt 23,13: Auch hier ist die βασιλεία τοῦ θεοῦ an die Lehrautorität der Pharisäer gebunden. Gemeint ist also nicht global „Teilhabe am Heil“ oder dergleichen, sondern ein durch Lehre vermittelter Sachverhalt.

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Cult Practice, Social Power, and Religious Identity: The Case of Animal Sacrifice* James B. Rives As the research of the past century or more has made abundantly clear, diversity was a fundamental characteristic of the religious life of the ancient Mediterranean, and cut within and across all the (effectively modern) categories of „pagan“, „Christian“, and „Jew“. My goal in this paper is to sketch out a framework for analyzing, not so much the phenomenon of religious diversity itself, but the way that those who exercised social power reacted to diversity. Issues of religious inclusion and exclusion are ultimately determined by decisions about who is or is not accepted within a particular group or community, howsoever that group is defined, and the ones who make those decisions are the people who, on whatever basis, exercise social power within that group. The framework that I will sketch out consists of two contrasting models for the way that people exercise power in the sphere of religion or, more fundamentally, two contrasting models of „religion“ itself, which I label orthopraxy and orthodoxy. As a focus for my exposition I employ a particular ritual practice, that of animal sacrifice, and the contrasting roles that it played within different religious traditions in the ancient Mediterranean world. In keeping with the geographical focus of this volume, I have organized my discussion around two texts that purport to describe particular events in two different cities of Asia Minor. The first is a passage from the New Testament book of Acts, in which the author recounts an episode from Paul’s first mission to Asia Minor. Paul and Barnabas have come to the city of Lystra in what is now south central Turkey and are there proclaiming their message of salvation. While Paul is speaking, he sees a man who has been lame from birth and, recognizing that he has sufficient faith, heals him; the man immediately springs up and begins to walk. „When the crowds saw what Paul had done, they shouted in the Lycaonian language [Λυκαονιστί], ‚The gods have come down to us in human form!‘ Barnabas they called Zeus, and Paul they called Hermes, because he was the chief speaker. The priest of Zeus, whose temple was just outside the city, brought oxen and garlands to the gates; he and the crowds wanted to offer sacrifice.“ Paul and Barnabas were aghast at this; they * I am grateful to Stefan Alkier and Hartmut Leppin for their invitation to take part in this colloquium, to my fellow participants for their comments and suggestions, and to my research assistant, Brian McPhee, for his efficient help in tracking down the secondary literature.

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rushed into the crowd shouting that they were mere men and urging the people to turn from vanities like these to the worship of the true god; in this way they were barely able to prevent the sacrifice from taking place (Acts 14:7–18, with 14:11–14 quoted in the translation of the New Revised Standard Version). The historical value of this account is of course much debated, but for my purposes the issue is largely unimportant.1 I am interested in it not as a record of actual events, but rather as evidence for the way that a presumably well-informed observer of c. 100 CE chose to represent the mainstream religious tradition of his world.2 Some scholars may object that readers were not in fact intended to regard the events described as characteristic of mainstream Graeco-Roman culture, but rather as distinctive to a cultural backwater in a remote area of Asia Minor.3 Yet the significance of this episode within the larger framework of Acts suggests otherwise. If we accept that one of the author’s major goals in this work was to account for the extension or transfer of Jesus’ message of salvation from Judaeans to gentiles, then we may readily see this as a pivotal episode, for it is the first time in the narrative that Paul, the „apostle to the gentiles“, actually addresses his message to gentiles rather than to Judaeans.4 The author has been careful to note that prior to this Paul and Barnabas had always proclaimed their message in the synagogues of the Judaeans (Acts 13:5 and 14). After their rejection by the Judaean community in Pisidian Antioch they announced their intention to take their message to the gentiles instead (Acts 13:46–48), yet even then they continued to resort in the first instance to the local synagogue (Acts 14:1). It is only in Lystra that the author makes no mention of a synagogue, but instead highlights the fact that their audience consists of pagans. The episode thus constitutes the climax of his account of the first mission, and he follows it only with a brief epilogue that brings Paul and Barnabas back to Syrian Antioch, where they informed the believers how God had „opened a door of faith for the Gentiles“ (Acts 14:27). It is also significant that he presents as the next major episode in his narrative the story of the council at Jerusalem (Acts 15), which according to his account laid the ground rules and provided official sanction for an ongoing mission to the gentiles. The logic of the larger narrative thus makes it likely that the author 1 The most detailed and thorough attempt to locate the episode in the religious and cultural milieu of 1st century CE southern Anatolia is Breytenbach, 1993; see also Hemer, 1989, 110–111 and Gill, 1994, 82–84. In contrast, Pervo, 2009, 248–249 concludes that „Acts 13–14 is, by all important criteria, narrative fiction“. 2 The date of Acts has been debated for some two centuries. The range of dates advocated in recent decades by mainstream scholars extends from the early 60s (Hemer, 1989, 408–410) to c. 140 (Townsend, 1984); see the survey in Pervo, 2006, 259–263. The consensus is for a date of c. 85, although as Pervo, 2006, 5, notes, this seems to result from „a mixture of nearly equal portions of pragmatism and indifference“; Pervo himself (2006, 343–346) argues forcefully for a date of c. 115. For my purposes a general dating to the late first / ​early second century CE is sufficient. 3 Wordelman, 2003, 206–217 surveys the history of scholarship on this point. 4 See especially Haenchen, 1971, 431.

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intended the episode in Lystra to represent the first unmediated encounter of the Christian mission with the gentile religious tradition. It is accordingly significant that he deliberately constructs his account in such a way as to introduce and highlight the practice of animal sacrifice. As commentators have noted, the crowd’s acclamation of Paul and Barnabas as Hermes and Zeus, which in itself is somewhat unlikely, is made plausible within the narrative only by the author’s deliberate choice not to report the speech of Paul that caused the lame man to have faith. If he had described Paul speaking about the one true god and salvation through Christ, then the following acclamation of Paul himself as a god would have presumably have struck the text’s audience as implausible. The author likewise emphasizes the fact that the crowd’s acclamation was in Lycaonian, even though the narrative otherwise makes it clear that they understand Greek, in order to make plausible Paul and Barnabas’ failure to react before the priest arrives on the scene with the bulls for sacrifice.5 The author has thus carefully contrived the entire scene in order to set up the practice of animal sacrifice as the thing against which the apostles react, the element that is in opposition to their own message of salvation through belief in the one true god. It would thus be fair to say that, in the author’s opinion, animal sacrifice constituted the essence of the gentile religious tradition. Since the author presumably had more first-hand experience of the religious life of the ancient Mediterranean world than any modern scholar, we may reasonably attach a good deal of weight to his opinion. It is of course true that he had a powerful ideological agenda that no doubt influenced his characterization of gentile religion, but an abundance of other evidence indicates that on this point he was accurate enough. A wide range of texts provide corroboration for the idea that in the ancient Mediterranean world the impulse to make an offering was accepted as the natural response to the perception of a deity’s presence. I will cite just two examples. The first comes from the Homeric Hymn to Aphrodite, usually dated to 7th century BCE. In retaliation for her repeatedly causing him to conceive a passion for mortal women, Zeus has caused Aphrodite herself to conceive a passion for a mortal man, the Trojan prince Anchises. She first appears to him disguised as a mortal, but Anchises is nevertheless convinced that he is encountering a goddess. Even though he is not sure exactly which goddess she is, he tells her that he will „build you an altar on a hilltop, in a conspicuous place, and make goodly sacrifices to you at every due season“ (100–102, in the Loeb translation of M. L. West6). Like the author of Acts, the author of the Hymn to Aphrodite takes it for granted that people who believe they are encountering a deity will react in the first instance by making some kind of offering. 5 I here draw on the analyses of Haenchen, 1971, 426–434 and Pervo, 2009, 353–354; see also the rhetorical and semiotic analyses of Fournier, 1997, 166–167, who demonstrates in formal terms the centrality of animal sacrifice to this episode. 6 West, 2003, 167.

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The second example comes from a text that has often been brought into association with this passage from Acts, the Baucis and Philemon episode in Ovid’s Metamorphoses.7 According to Ovid, the gods Jupiter and Mercury (whom Latin speakers regarded as equivalent to Zeus and Hermes) visited the land of Phrygia in mortal guise, seeking hospitality. No one received them until they at last tried the humble cottage of a poor elderly couple, who welcomed them and entertained them to the best of their abilities. When they saw that the wine bowl kept replenishing itself, they began to suspect that their guests were in fact gods. „There was a solitary gander, the guardian of their scant estate, whom they were preparing to sacrifice for their divine guests“ (Met. 8.684–685). The swift goose eludes the elderly pair, but the gods tell them to let it be; they then send a flood, killing all the inhospitable people of the region, but reward Baucis and Philemon with a long life as their priests followed by simultaneous transformations into trees. In this tale we again find the same assumption about the way that humans respond to the perceived presence of a deity: their first reaction, the normal thing to do, is to make, or attempt to make, a sacrifice. We may accordingly grant that the author of Acts was not inaccurate in presenting animal sacrifice as peculiarly representative of the gentile religious tradition with which he was familiar. Elaborating on his description of the events at Lystra, I would like to make three observations about that tradition and the place of animal sacrifice within it. The first observation is that in the Graeco-Roman tradition people were generally more concerned with what they did than with what they thought; that is, it was a tradition centered on practice rather than belief. This is an old and familiar observation, and since it is often abused I must say a bit more about it. I certainly do not mean that the Graeco-Roman religious tradition focused on practice to the exclusion of belief or that practice and belief were the mutually exclusive poles in a strictly defined dichotomy. On the contrary, practice and belief always and necessarily imply each other: when people do things, it is for a reason, what in ordinary speech we might call a belief, and the beliefs that people have gener7 Met. 8.611–724. Commentators have invoked this text for two very different purposes. Those invested in demonstrating the historical reliability of Acts tend to regard the tale as a „local legend“ and use it to explain why the Lystrans reacted to Paul and Barnabas the way they did: they did not want to make the same mistake as their predecessors in failing to acknowledge visiting gods (e. g., Gill, 1994, 82). Although it is not impossible that Ovid’s story does ultimately derive from Anatolian oral tradition, it would be rash to assume that it was widely known; moreover, the most likely setting and thus origin for the story is Mt. Sipylos in Lydia, hundreds of kilometers to the east of Lystra (Griffin, 1991, 64–68; Jones, 1994). In contrast, those interested in the literary aspects of Acts adopt it as a useful intertext, a familiar story that would have provided both author and audience with a point of reference for the account of Paul and Barnabas (e. g., Pervo, 2009, 353–354, with full references to earlier scholarship). In this connection I can only agree with Lane Fox, 1986, 100 that „although Acts’ author has been given some odd disguises, none is odder than that of a man who knew fragments of Ovid and their Greek sources“. In my view, the Ovidian tale cannot be used to shed light on the episode in Acts except in the very general way that I use it here.

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ally find expression in some sort of action. This integral relation between practice and belief is obvious in the passages cited above: it is only because Anchises believes that the disguised Aphrodite is a goddess and the Lystrans believe that Paul and Barnabas are actually Hermes and Zeus that they attempt to offer sacrifice. We can nevertheless make some useful distinctions, both qualitative and quantitative. Qualitatively, we can distinguish between implicit beliefs and discursively elaborated beliefs, the former grounded in basic aspects of human life and the latter self-consciously elaborated by an intellectual elite. A number of current theoretical models map this distinction in somewhat different ways, for example, Harvey Whitehouse’s distinction between the „cognitively optimal“ and „doctrinal“ modes of religiosity, and Stanley Stowers’ distinction between „the religion of everyday social exchange“ and „the religion of the literate cultural producer“.8 Quantitatively, we can make a distinction between traditions that put more social and cultural emphasis on practice and those that put more emphasis on belief. Yet differences in social and cultural emphasis do not simply exist in the abstract, but are instead closely bound up with power relationships in a given society. In the case of the Graeco-Roman world, it is clear that those with social and political power were in most times and places concerned almost exclusively with what people did, not what they believed. It is of course possible to think of exceptions, the trial of Socrates for example, but those few exceptions serve only to prove the rule. It is for this reason that I would characterize the Graeco-Roman tradition as one of orthopraxy, insofar as those who held social and political power used it to regulate practice, and communal practice in particular, and tended to regard issues of belief as something outside the sphere of their interests. It is within the context of this tradition of orthopraxy that we must understand the author’s description of the Lystrans’ impulse to make an offering to Paul and Barnabas. My second observation about this passage concerns the specific type of practice that the author attributes to the Lystrans: the offering of an animal sacrifice, in this case with bulls as victims. There were many other types of practices that could be used to acknowledge the divine, such as hymns, prayers, and various types of gestures, and many types of offering other than animal sacrifice, such as incense, libations, garlands, and cakes. Why, then, did the author (or the Lystrans, as the case may be) choose the sacrifice of a bull in particular? The answer may have to do with the fact that animal sacrifice was a marker of prestige. Generally speaking, animals were valuable resources that most people could not afford to slaughter on a regular basis. Expectations regarding the quality of the animal also mattered, since ideally only perfect specimens should be used as victims; old, worn-out, and infirm animals, the sort that most people could afford to get rid of, were not regarded as suitable. The practice of animal sacrifice was thus a form of piety that tended to privilege the wealthy. There was, however, considerable 8 Whitehouse,

2004; Stowers, 2011.

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variation in the cost of different types of victims. Young animals were less valuable than full-grown adults, intact males scarcer and thus more valuable than castrated males, bovines more expensive than smaller species.9 Not surprisingly, the more costly the animal the more prestigious a victim it was, and hence the bull, an intact adult male bovine, was the most prestigious of all.10 Animal sacrifice, accordingly, thus provided a very suitable means of articulating and reinforcing socio-economic hierarchies. The wealthy, who were entitled to take leading roles in their communities as magistrates, priests, and benefactors precisely by virtue of their wealth, were able to enact their superior relationship with their fellow citizens by presiding over the public sacrifice of costly victims that their wealth, either directly or indirectly, had paid for. Both the author and the original audience of Acts would have been implicitly aware of this wider socio-political context when reading about the priest of Zeus and his bull. My third observation has to do with the cultural complexity of this account and its setting. The author of Acts of course composed his account in Greek, and he clearly assumed that Paul and Barnabas spoke Greek with the people of Lystra. Yet as noted above he goes out of his way to inform his audience that the crowd’s acclamation was in Lycaonian. Whatever the actual events at Lystra and whatever the author knew of them, his depiction of their linguistic and cultural complexity is in general perfectly plausible. Although there are only two other references to a Lycaonian language, both late and of very uncertain value, there is evidence that several languages belonging to the indigenous Anatolian family of southern Turkey continued to be spoken down to the fourth century BCE and even beyond; the dialect of neighboring Pisidia is attested as late as the third century CE.11 At the same time, Greek became increasingly well established as the international language and the language of public life. In the context of this linguistic and cultural interpenetration, it was common both for Greeks and for those who adopted Greek language and culture to apply Greek names to local deities, a phenomenon that modern scholars conventionally label interpretatio Graeca. The author, by insisting that the crowd spoke in Lycaonian but nevertheless identified the two strangers by the Greek divine names Zeus and Hermes, obviously took this practice for granted.12 I emphasize this cultural and linguistic  9 See in general van Straten, 1987 and Jameson, 2014, 198–231; on castrated animals, see Ekroth, 2014. 10 A point well emphasized by Gill, 1994, 83. 11 Lycaonian: 1) Stephanus of Byzantium writes that „Delbeia“ was an alternative to the city-name „Derbe“ and explains it as meaning „juniper“ „in the language of the Lycaonians“ (Ethnikon, s. v. Derbe, 225.23–24 Meineke); 2) a fifth-century Byzantine saint’s life includes an anecdote about a Lycaonian who did not know Greek but spoke only his own language (Holl, 1908, 243–244). On the survival of southern Anatolian languages, see briefly Schmitt, 1983, 568–570 and Morpurgo Davies, 2012; cf. Houwink ten Cate, 1961. 12 Breytenbach, 1993, 399–402 cites abundant evidence for the worship in this region of native Anatolian deities under the Greek forms of Zeus and Hermes; see also Houwink ten

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complexity in order to call attention to the fact that, in the scene depicted, the language that transcends all others is the language of animal sacrifice. The author represents all the people of Lystra, whether Greek, Lycaonian, or some hybrid of the two, as in agreement on its meaning and significance.13 One advantage of orthopraxy is that it allows people with widely varying cultural, ethnic, and personal commitments to participate in normative practices without abandoning or even greatly modifying those other commitments. In the Roman Empire, animal sacrifice was among the most important of normative cult practices, especially among the social, economic, and political elites. The culture of these elites was a somewhat fluid amalgam that had been forged through a complex process of negotiation between the Greek and Roman cultural traditions. An important basis for this negotiation was the existence of certain cultural practices that the two traditions shared, and of these shared practices animal sacrifice was particularly potent: as an important religious ritual, it was both a familiar part of people’s lives and simultaneously imbued with special significance; because it was not clearly marked as either Greek or Roman in origin, it seemed universal, and thus „natural“, in a way that many other cultural practices did not; because its significance did not depend on language, it did not require translation, but could readily be transferred and adapted to new contexts. Animal sacrifice thus constituted a „Graeco-Roman“ practice par excellence, one that apparently transcended ethnic distinctions and could be readily regarded as a cross-cultural marker of civilization; it was accepted, for the most part without question, as the normal and natural way to express piety towards the gods. As such, it constituted a key element in the cultural and religious koine of the Roman Empire. It is worth thinking further about the cultural elasticity that characterizes orthopraxy. According to the author, the Lystrans’ attempt to offer them sacrifice caused Paul and Barnabas considerable distress, and they did their utmost to prevent it from taking place. They exclaimed „we are mortals just like you, and we bring you good news, that you should turn from these vanities [ὑμᾶς ἀπὸ τούτων τῶν ματαίων ἐπιστρέφειν] to the living god“ (14:15, adapted from the NRSV translation). Because the word I have translated as „vanities“ is in the genitive plural, it is impossible to determine whether we should understand it as a neuter, „vain things“, or as a masculine, „vain gods“. In either case, it is a word that in Judaean-Greek literature is often associated with the gentile worship of false Cate, 1961, 201–214. On the general phenomenon of interpretatio Graeca (and its counterpart interpretatio Romana), see Rives, 2011. 13 It is worth noting that the author is either unaware of or uninterested in the fact that Lystra was a Roman colony, founded by the emperor Augustus in 25 BCE. As such, Latin would have been its official language and its main public institutions would have been based on Roman models, although in fact the element of Roman culture seems never to have been very strong in Lystra and was perhaps by the author’s day no longer significant. See Levick, 1967, 34–37, 153–154, and especially 197; cf. Aulock, 1972.

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gods.14 The ancestral law of the Judaeans enjoined them to avoid all such worship, and that is precisely what the author of Acts depicts his heroes as doing here. It is important to note, however, that although Judaeans refused to participate in animal sacrifice that was directed towards false gods, they regarded it as an essential element in the worship of the true god. Although the Judaean tradition of animal sacrifice differed in significant respects from the Graeco-Roman tradition, there were overall more similarities than differences. There is to begin with the mere fact that in both traditions the ritualized slaughter of animal was a central act of worship; second, the normative victims were of the same type, domesticated animals of the sort normally eaten in that culture; third, the sacrificial procedures were very similar: the animals were presented at an altar, had their throats cut, were flayed and butchered, and then partly or wholly burned on the altar, while the parts that were not burned were eaten. In my view, the practice of animal sacrifice constituted an important point of convergence between the Judaean and Graeco-Roman traditions.15 It is worth noting that, despite the considerable evidence that survives both for Graeco-Roman criticism of Judaean tradition and for Judaean criticism of gentile worship, on neither side do we find any criticism of the practice of animal sacrifice per se. I emphasize this point because it is a valuable testimony to the elasticity of Graeco-Roman orthopraxy. The practice of animal sacrifice made it possible even for Judaeans to participate in the cultural koine of the Roman Empire, at least in certain key ways: it provided them with a means of honoring their gentile overlords and likewise non-Judaeans with a means of honoring the Judaeans’ god in a way that was acceptable and meaningful to everyone involved. Before turning to my other text, let me pause and summarize my argument so far. Within the framework of the Graeco-Roman tradition of orthopraxy, in which socio-political authorities tended to exercise power only in matters of religious practice, and usually public practice at that, animal sacrifice, in addition to its primary function as a means of winning divine good will, served two secondary social functions as well.16 Because animal sacrifice involved the conspicuous use of valuable economic resources, it helped structure and reinforce the sociopolitical hierarchies that were crucial to the smooth functioning of the empire. One of the most distinctive characteristics of Roman imperial organization is the extent to which imperial authorities relied on the cooperation of local elites 14 For example, LXX Jeremiah 2:5 and 8:19, 3 Kingdoms 16:2, 4 Kingdoms 17:15, Esther 4:17p, 3 Maccabees 6:11; see further Breytenbach, 1993, 397 and Pervo, 2006, 273. 15 For a more detailed presentation of this view, see Rives, 2014. 16 It is crucial to remember that for the people of the time the whole point of animal sacrifice, and indeed of all other types of offerings, was to win the goodwill of the gods; see especially Naiden, 2013. Here we have another reminder that the Graeco-Roman tradition was not simply concerned with practice as opposed to belief. Beliefs about the gods and about ways of winning their favor were central concerns of ancient elites; yet they acted on these concerns not by policing beliefs but by maintaining practices.

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to manage local affairs. In doing so, they consistently favored social structures in which wealth was the primary source of social prestige and socio-economic status translated into political dominance. The practice of animal sacrifice, so central to the collective cultic life of the city, provided a key context in which elites could translate their command of economic resources into socio-political status and authority. Yet at the same time that animal sacrifice helped structure socio-political hierarchies along the lines favored by the imperial authorities, it also allowed those who participated in it to maintain a wide variety of other commitments, whether social, cultural, ethnic, or intellectual. The effective absence of any social pressures to highlight one particular set of the multiple interpretations or associations that could be attached to animal sacrifice, something that is a defining characteristic of orthopraxy, ultimately resulted in the absence of any cultural pressures leading to the formation of a coherent and integrated system of religion. Instead, multiple independent frameworks for thinking about and interacting with the divine world were able to flourish side by side. In terms of social structures, different types of authorities (priests, poets, philosophers, antiquarians) could co-exist without generating significant social tension; in terms of individual experience, multiple non-exclusive identities could be activated according to interest and context.17 The second text that I want to consider is the martyrdom of Carpus, Papylas, and Agathonice (Mart.Carp. 1–23). This martyrdom is known from five different extant versions, three of which appear to be Byzantine in date. Of the two others, one (A) is in Greek and the other (B) in Latin, although evidently translated from a Greek original. The account in B is much shorter and simpler than that in A, and differs in a number of details; most notably, whereas A provides no date for the events it describes, B explicitly dates them to the reign of Decius. There has not surprisingly been considerable discussion of the relative priority and reliability of these texts and of the date and historicity of the events they describe. Discussion of the date is complicated by the fact that Eusebius, who says that hypomnemata of these martyrs were in circulation in his day, associates them with the martyrdoms of Polycarp and Pionius, which he places in the reign of Marcus Aurelius.18 Yet whatever the date and historicity of the events themselves, the extant accounts cannot antedate the reign of Decius, simply because prior to that emperor’s decree of late 249 / ​early 250 CE there is no reliable evidence for imperial commands to sacrifice of the sort that are central to the accounts of Carpus’ martyrdom. If the reign of Decius constitutes a terminus post quem for these accounts, Eusebius’ reference to the hypomnemata of Carpus and his fellow martyrs provides a terminus ante quem. His description is so brief and unin17 On

this point, see Rebillard, 2012, 1–5. HE 4.15.48; cf. 4.14.10–15.1 and 4.15.46–47. There is now broad agreement that Eusebius was mistaken about Pionius, whose martyrdom should instead be dated to the reign of Decius. 18 Eus.

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formative, however, that it is impossible to identify them with either A or B. The most generally accepted hypothesis seems to be that both A and B derive from a now lost Greek original.19 For my purposes, none of these issues is particularly important. My interests center instead on the social and cultural assumptions and concerns that the redactor of version A chose to highlight in framing his account. For the purposes of my argument, it is enough to date this account very broadly to the late third or fourth century CE. The account begins with Carpus and Papylus brought before the Roman proconsul at Pergamum. The proconsul asks Carpus his name, and Carpus responds that his „first and most significant name is ‚Christian‘, but if you are asking about my name in the world, it is Carpus“ (3).20 The proconsul then reminds him of the imperial decrees requiring people to honor the gods and advises him to sacrifice. Carpus repeats that he is a Christian, declares that he honors Christ, who delivered people from the deception of the devil, and states that he does not sacrifice to these sorts of idols (5). He then continues with a brief disquisition in order to explain himself further: „it is impossible for me to sacrifice to the spurious appearances of daimones; for those who sacrifice to them are similar to them“ (6). Just as those who worship the true God become like him, „so too those who worship these are assimilated to the vanity [ματαιότης] of the daimones and are destroyed with them in Gehenna“ (7). And indeed it is just that they should be destroyed along with the devil, who because of his innate wickedness [οἰκεία πονηρία] has deceived mankind (8). After a further brief exchange in which the proconsul repeatedly presses him to sacrifice, Carpus responds with a second disquisition about the relationship between God, daimones, and humans. After one last refusal to sacrifice, the proconsul has him tortured and turns his attention to Papylus. I will again make three observations about this text and its implications. First, the text presents the conflict between Carpus and the proconsul in terms of an absolute mutual exclusivity between Christian identity and the practice of sacrifice: it is Carpus’ Christian identity that precludes his obeying the proconsul’s orders. We have here evidence for a view about the relationship between practice and identity that is strikingly different from that which I argued above was normal in a tradition of orthopraxy. Whereas the latter framework allows individuals to participate in a particular practice without compromising or even greatly affecting other aspects of their identity, the redactor of version A insists on a crucial connection between the two, such that certain practices and certain 19 Delehaye, 1940, 142–150 and Jones, 2012, 259–262 provide overviews of the various versions and the scholarly debates. Texts and translations of both A and B can conveniently be found in Musurillo, 1972, 22–37; Delehaye, 1940, 150–176 provides a more reliable edition of these two texts, along with one of the Byzantine versions. Jones, 2012, 262–268 argues for the historical reliability of the common source of A and B, and dates the events to the reign of Decius. 20 Translations are my own, following the text of Delehaye, 1940.

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identities are inherently incompatible. It is difficult to identify any real parallels or antecedents for this insistence. Although there is evidence for adherents of various philosophical or cultic or ethnic traditions who failed to observe or even deliberately rejected various aspects of the cultural koine of the Roman Empire, their rejection rarely takes so absolute and dramatic a form. The most striking parallels occur in the Judaean martyr accounts preserved in 2 and 4 Maccabees, those of the elderly Eleazar (2 Macc 6:18–31; 4 Macc 5–7) and the seven brothers with their mother (2 Macc 7; 4 Macc 8–18). In these accounts we find the same uncompromising rejection of a cultic practice that for the majority was simply an unremarkable element of the imperial cultural koine, in this case, eating the flesh of swine that had been sacrificed.21 We likewise find the same willingness to submit to torture and execution rather than to comply with a request to participate in the practice. Although the significance of these Judaean traditions for later Christian martyrdom and martyrology has been much discussed, I would here simply note that the intense attention given to these texts is in itself a testament to their uniqueness as possible antecedents and models.22 My second observation concerns the reasons that the text gives for the fundamental incompatibility between Christian identity and the practice of sacrifice on which it places so much emphasis. The Maccabean martyr accounts present the heroes’ refusal to taste the sacrificial pork as a refusal to violate ancestral laws. In 2 Maccabees, for example, Eleazar gives a speech that concludes with a declaration of his intention to die a good death „on behalf of our august and holy laws“ (2 Macc 6:28); likewise, the spokesman for the seven brothers asserts that „we are ready to die rather than transgress our ancestral laws“ (2 Macc 7:2).23 The redactor of the martyrdom of Carpus, in contrast, has his protagonist invoke not the commands of God but rather a particular understanding of the structure of the cosmos. Although the various ideas that he puts in the mouth of Carpus do not all easily cohere with one another, they nevertheless constitute a complex interlocking set of beliefs that justify his refusal to sacrifice. The first idea, noted above, is that sacrifice assimilates the person who offers it to superhuman entities that are characterized as deceitful, vain, and destined for destruction, with the result that one shares in their fate; in contrast, the worship of the true God results in eternal life. Underlying these assertions are fundamental assumptions about a cosmic dualism between good and evil, with God on one side and the wicked devil and daimones on the other, and about the survival of the human soul 21 The incompatibility of this practice with Judaean tradition is doubly determined: the texts emphasize that the meat is pork, forbidden in itself (2 Macc 6:18, 7:1; 4 Macc 5:6, 6:15), and also that it comes from animals sacrificed to idols (2 Macc 6:7 and 21; 4 Macc 5:2). 22 For some recent samples of this discussion, see Boyarin, 1999, 93–130, van Henten, 2002, and Rutgers, 2009, 19–48. 23 The author of 4 Maccabees elaborates on this motif at great length: see for example the speech of Eleazar (5:14–38) and the author’s panegyrics of the martyrs (7 and 13). See further the discussion of van Henten, 1997, 125–186.

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after the death of the body. Carpus begins his second disquisition by elaborating on the difference between the daimones and God in terms of a quasi-Platonic conception of being: the former are made from earthly matter and so perish with time, whereas the true God is not subject to time and the changeability of matter (15–16). Lastly, he provides an explanation for the ability of these dai‑ mones to prophecy: the devil, who fell from his place of glory as a result of his wickedness, now wages war on humanity and so is able to speak in advance of the evils which he himself will later inflict (17–18). He here evokes a particular narrative of cosmic history that again assumes a conflict between a supreme god and an opponent who has rebelled against him. Carpus concludes his speech by declaring that the proconsul is „involved in no small vanity“ (20: ἐν ματαιότατι […] οὐ μικρᾷ).24 In these disquisitions the redactor of version A is clearly drawing on a particular amalgam of Judaean tradition and Greek philosophical ideas that we can find in a range of Christian writings from the second century CE onwards, an amalgam that was frequently advanced as an explanation of gentile worship and a justification for the Christian rejection of it. According to this account, a group of angels rebelled against God in order to serve their own lusts. They then begat and / ​or became, after their punishment by God, wicked daimones, intent on opposing God and on harming humanity, his highest creation. One of their main strategies was to use their own superhuman abilities to bring humans under their sway, so that humans might worship them as gods. They did this by empowering otherwise lifeless idols and by instituting the chief practices of gentile worship, notably divination and sacrifice. Sacrifice, in turn, provided them with the sustenance that they required.25 It is within the framework of this particular understanding of the cosmos that the redactor of version A locates Carpus’ refusal to comply with the order to sacrifice: to engage in sacrifice is to align oneself with superhuman evil, to support those beings who are the enemies of the true God and who actively work against the best interests of humanity. Understood within such a framework, the practice of animal sacrifice can allow for no compromises. What I want to emphasize here is not so much the particular ideas that the redactor evokes as the way that he presents Carpus’ refusal to engage in animal 24 This language of ματαιότης is also found in the passage from Acts discussed above and, as noted there (n. 15), goes back to the Judaean-Greek tradition. It is particularly associated with the theme that the idols of the gentiles are mere wood and stone, man-made objects that are not even alive (e. g., Jeremiah 10:1–11, Isaiah 44:9–20, Wisdom of Solomon 13–15, Epistle of Jeremiah passim; note μάταιος at Isaiah 44:9, Wisdom 13:1 and 15:8). This is the theme that the redactor of version B of the martyrdom of Carpus highlights in the brief exchange between Carpus and the proconsul (2.1–3); he includes nothing about daimones. 25 See, e. g., Just. Mart. 2 Apol. 5, Athenag. Leg. 23–27, Tert. Apol. 22–23, Min. Fel. Oct. 26–27. On conceptions of daimones in Graeco-Roman and Christian antiquity, see in general Müller, 1976; for a wide ranging discussion of the key passage in Justin Martyr, see Reed, 2004; on the materiality of daimones and their need for the nourishment of offerings, see Smith, 2008.

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sacrifice as the necessary result of his beliefs. For the redactor, belief is primary; he has Carpus define his identity first and foremost in terms of his beliefs. Equally obviously, he does not treat belief as something independent of practice; on the contrary, he highlights Carpus’ willingness to undergo torture and death rather than engage in a practice that he sees as incompatible with his beliefs. The relationship between practice and belief here is thus precisely the opposite of what I have argued was characteristic of the Graeco-Roman tradition. The socio-political leaders of the Roman world, by focusing on practice and generally ignoring issues of belief, fostered a tradition in which participation in a practice such as animal sacrifice did not necessarily entail any commitment to a particular set of discursively elaborated beliefs; as a result, a wide range of people with a wide range of commitments, and thus a wide range of identities, could engage in that practice without it affecting their other commitments and identities. The redactor of the martyrdom of Carpus, in contrast, operates within and insists upon a very different conceptual framework, in which belief is primary. Within such a framework, the significance of a given practice is much more circumscribed. A practice such as animal sacrifice can mean only one thing, and in this case what it means is absolutely incompatible with Christian identity. If it is useful to describe the Graeco-Roman tradition as one of orthopraxy, we may usefully contrast the very different conceptual framework that we find in the martyrdom of Carpus as orthodoxy, in which belief is the master discourse and determines practice. And just as orthopraxy is shaped when those with social and political power are more concerned with practice than belief, so too is orthodoxy shaped when community leaders focus their attention on belief. This tendency to orthopraxy is something that we can observe among Christians from a very early date. Although those who assumed leadership roles were very concerned with practice, they seem almost from the start to have framed their assessments of practice in terms of belief: their reason for condemning a given practice was that it was an expression of incorrect belief. We see this already in the passage from Acts discussed above. The author depicts Paul and Barnabas’ attempt to halt the impending animal sacrifice as grounded in an argument about the nature of the living god; if the Lystrans were to understand that, they would turn from these vanities. I would like to stress that although we find considerable disagreement among Christian leaders as to what constitutes correct belief, the evidence, so far as it goes, suggests that this focus on belief was common to more or less all of them. That is to say, the tendency to orthodoxy was not limited to certain types of Christian leaders, but was very widespread if not absolutely universal.26 My third and last observation about this text has to do with its nature and purpose. Much earlier scholarship on martyr acts focused on their reliability, that is, the extent to which the events described in a particular account could 26 For

a more detailed sketch of these ideas, see Rives, 2005, especially 23–32.

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be regarded as historical. In the past decade or so, however, increasing interest has been paid instead to the ideological function of these texts.27 We may readily grant that the primary purpose of all martyr accounts was exemplary: the people who shaped them and passed them down wanted above all to provide models of certain types of behavior for other Christians to emulate. As I have already argued, the redactor of version A of the martyrdom of Carpus was particularly interested in using the story to demonstrate what Christian identity really meant within the framework of orthodoxy and to highlight its implications for Christian involvement in gentile practices. We should remember that, although in the context of the narrative the Roman governor is the intended audience for Carpus’ disquisitions, the redactor’s actual audience would have consisted of Christians. That is, these explanations of why Christians must absolutely refuse to participate in sacrifice are directed in the first instance not at gentiles but rather at Christians. Why then did the redactor insist so much on this point? The most plausible explanation is that he thought that it was something Christians needed to hear, that not all Christians appreciated as clearly as they ought that they must not participate in gentile practices like animal sacrifice. He may well have had good grounds for thinking this. Éric Rebillard has recently suggested that at the time of Decius large numbers of rank-and-file Christians are likely to have complied with the emperor’s order to participate in an animal sacrifice. One of our richest sources of information about the response of the Christian leadership to this decree and its aftermath is the correspondence of Cyprian, the bishop of Carthage. It is clear from these letters that for Cyprian the biggest problem that resulted from the decree was the pastoral issue of how to handle the „lapsed“, that is, those who in one way or another had complied with the imperial directives. As Rebillard cogently argues, this problem would not have been as important as it apparently was if the numbers of people involved had not been considerable. He further suggests that Christians who offered sacrifice did not do so because they were weak in faith or insufficiently committed to their chosen religion, but rather because, at least in some cases, they simply did not see any incompatibility between publicly offering a sacrifice, in their capacity as Romans, and their personal adherence to Christianity.28 In terms of the models that I have been sketching in this paper, these were people who continued to operate within the conceptual framework of orthopraxy, who did not accept or perhaps even understand the implications of the orthodoxy advocated by their leaders. I would suggest that it is in this context that we should understand the particular concerns of the redactor of version A of the martyrdom of Carpus. I am not necessarily suggesting that we read this text as a response to the decree of Decius and the apparent willingness of some 27 See

for example Castelli, 2004 and Moss, 2012. 2012, 47–55.

28 Rebillard,

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Christians to comply with it; although it certainly fits well in that context, we lack sufficient evidence to make a case one way or another. Rather, I am simply suggesting that the shift from orthopraxy to orthodoxy was not an easy one. It involved a fundamental reorientation of the way people understood their role in the world, an acceptance of the principle that discursively elaborated beliefs were what determined one’s identity and consequently the practices in which one could or could not participate. Let me at this point sum up the second half of my argument. The Christian tradition of orthodoxy, in which those with leadership roles applied their social power in the first instance to issues of belief, tended almost inevitably to promote the development of the sort of coherent and integrated system that was effectively impossible within the framework of traditional Graeco-Roman orthopraxy. If the benefits that one sought from the divine depended on holding correct beliefs about the divine, then it was crucial to believe the right thing. If there was a right belief, then there was a wrong belief, or more accurately, there was one right belief and multiple wrong beliefs. And if belief was the primary concern, then it was necessary for practice to conform to and reinforce that belief, rather than providing opportunities for alternative constructions. In short, the nascent tradition of orthodoxy developed by early Christian leaders left no room for the multiple systems characteristic of Graeco-Roman orthopraxy, but instead engendered a process that I have elsewhere described as totalization, the integration of what had previously been disparate cultural elements into a discrete, coherent, and hegemonic system.29 Such a system did not allow for different types of religious authorities that could co-exist without generating social tensions or for multiple non-exclusive identities that could be activated according to interest and context. On the contrary, Christian leaders tended to enforce an idea of Christian identity that was absolute, exclusive, and all-encompassing. And now to conclude. In this paper I have sketched out models of two different social and cultural systems or, to put it another way, two different models of what we would identify as „religion“. These are not intended to be all-inclusive descriptors of religious life in the Roman imperial period, but merely models of particular tendencies that in my view are characteristic of the Graeco-Roman and Christian traditions respectively. The realities of religious life in the ancient Mediterranean were naturally much more complex than these models would suggest. It is possible, for example, to identify certain tendencies to orthodoxy in the Graeco-Roman tradition. Similarly, as I have argued above, it seems likely that many people who regarded themselves as Christians continued to operate within the conceptual framework of orthopraxy, and that the shift to orthodoxy involved a gradual and complex process of negotiation. Above all, these contrasting models do not easily accommodate Judaean tradition, which has features 29 Rives,

2005, 32–38.

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that fit them both. As heuristic devices, however, I hope that these models of orthopraxy and orthodoxy may be helpful for thinking about issues of religious authority, diversity, and conflict. As I noted at the start, diversity was a fact in all the religious traditions of the Roman Empire. Yet the way that people with social and political power responded to diversity varied significantly, and that is something I have tried to analyze here. As I have argued, the key difference between orthopraxy and orthodoxy is precisely the focus of social power, whether those who hold power in a given society choose to exercise it more over practice or more over belief. Whereas the former allows for multiple sources of religious authority and multiple non-exclusive identities, the latter tends toward a totalizing system in which all sources of authority and all aspects of identity are subsumed within a strictly ordered hierarchic structure. Hence, within the Graeco-Roman tradition of orthopraxy, diversity was to a large extent unproblematic; as I have tried to argue, participation in normative practices such as animal sacrifice left considerable space for a wide range of other personal and communal commitments and identities. Most Christian leaders, in contrast, seem to have regarded diversity as a problem, whether it was one that they were prepared to tolerate or, more often, attempted to control and eliminate. In this way, issues of inclusion and exclusion ultimately depended on structures of social power and religious identity.

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Teil II

Fallstudien

Christen und christliche Identität(en) in den Inschriften des kaiserzeitlichen Phrygiens* Gian Franco Chiai

1. Einführung Wie eine reiche und vielfältige epigraphische Dokumentation zeigt, lässt sich seit dem 2. Jh. n. Chr. im Bereich der religiösen Praktiken (besonders im griechischen Osten) eine Tendenz zum Glauben an einen henotheistischen oder monotheistischen Gott feststellen, der nicht nur als allmächtig, sondern in manchen Fällen auch als allgegenwärtig dargestellt wird. Diese Tendenz, die parallel zur Verbreitung und Entstehung der frühchristlichen Gemeinden im römischen Reich zu verlaufen scheint und allgemein von der Forschung als „pagan monotheism“ bezeichnet wird,1 hat unter anderem auch wichtige Veränderungen in der Sprache sowie in den Medien der religiösen Kommunikation bewirkt,2 indem traditionelle Epitheta wie z. B. ὕψιστος mit einem teilweise neuen Sinn verwendet3 und neue Ausdrücke, wie etwa εἷς θεός4, eingeführt werden, um solche neuen sakralen Vorstellungen zum Ausdruck zu * Mein Dank gilt: Ulrich Huttner, der mir Zugang zur epigraphischen Datenbank ICG  – „Inscriptiones Christianae Graecae“ – gewährte; Daniela kleine Burhoff hat mit ihrer üblichen Kompetenz diesen Text gelesen und sprachlich revidiert; Matthäus Heil habe ich wichtige Anregungen und Vorschläge zur Entwicklung dieser Arbeit zu verdanken. Aus der oben genannten Datenbank habe ich auch die Übersetzungen der epigraphischen Texte übernommen, die ich jedoch an einigen Stellen leicht verändert habe. 1 Zu diesem Phänomen vgl. die verschiedenen Beiträge in den Kongressbänden Athanassiadi / ​Frede, 1999; Mitchell / ​Van Nuffelen, 2010 a; Mitchell / ​Van Nuffelen, 2010 b; Sfameni Gasparro, 2010. Unter den einzelnen Beiträgen sei verwiesen auf Fürst, 2006; Tommasi Moreschini, 2007; Fürst, 2008; Chaniotis, 2010, (der zur Bezeichnung dieses Phänomens den Terminus „Megatheismus“ verwendet); zum Problem der Terminologie vgl. Van Nuffelen, 2012; Mitchell, 2013; Filoramo, 2013. 2 Auch in der Bildersprache sind betrachtenswerte Konvergenzen festzustellen, die häufig unterschätzt werden. Dazu vgl. die wichtige Zusammenstellung in Mathews, 1993 und vor kurzem auch Borg, 2016. 3 Dazu mit der wichtigen Zusammenstellung der epigraphischen Dokumentation Mitchell, 1999; Mitchell, 2010; unter den zu diesem Thema erschienenen Studien seien erwähnt: Stein, 2001; Belayche, 2005; Wischmeyer, 2005; zu den religiösen Praktiken vgl. Marek, 2000; zum Einfluss des Judentums vgl. Trebilco, 1991, 127–144. 4 Zu diesem wichtigen Ausdruck verweise ich auf die wichtige Zusammenstellung von Peterson, 2012.

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bringen: So sind interessante Konvergenzen in der Sprache religiöser Kommunikation der Juden, Christen und Heiden entstanden, die häufig die Zuweisung eines epigraphischen Textes ohne Kontext an eine bestimmte Glaubensrichtung erschweren.5 Aus den ländlichen Heiligtümern Phrygiens stammt ein reiches Material an Inschriften religiösen Inhalts,6 welche ermöglichen, das religiöse Leben in dieser Provinz zu rekonstruieren. Diese Inschriften dokumentieren, dass in diesen abgelegenen Winkeln des römischen Reiches zahlreiche lokale Gottheiten verehrt wurden, die als allmächtig und stark ortsgebunden imaginiert wurden: Sie wurden als omnipotente Könige angesehen, welche ihre sterblichen Untertanen schützten und durch ihre Eingriffe die Gerechtigkeit wiederherstellten, indem sie Verbrecher durch Krankheiten bestraften und kranke Menschen heilten.7 Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, durch eine Zusammenstellung und Auswertung ausgewählter epigraphischer Zeugnisse die Art und Weise aufzuzeigen, wie die Christen und die christlichen Gemeinden, die auf dem Land in Phrygien lebten und sich mit diesen lokalen Kulten und sakralen Vorstellungen auseinandersetzten mussten,8 in den Inschriften ihre Identität bzw. Identitäten zum Ausdruck brachten. Darüber hinaus möchte ich anhand konkreter Beispiele zu zeigen versuchen, wie sich der „epigraphic habit“9 der Inschriften infolge des neuen Glaubens verändert sowie welche Elemente der einheimischen bzw. paganen Tradition in den christlichen epigraphischen Zeugnissen weiterverwendet werden. Die dafür ausgewählten Inschriften betreffen vorwiegend die Rolle der Trinität bei den lokalen Kultpraktiken, die unterschiedlichen Manipulationen der Fluchformeln gegen Grabschänder, die sowohl Christen als auch Nichtchristen ansprechen konnten, das Bildrepertoire der Familiengrabinschriften aus der 5 Zu diesen Konvergenzen mit einer Zusammenstellung ausgewählter epigraphischer Inschriften vgl. Chaniotis / ​Chiai, 2007; dazu auch Betrachtungen in Merkelbach, 1978. 6 Dazu vgl. allgemein Drew-Bear / ​Naour, 1990; Mitchell, 1993 a, 165–197; Gnoli, 1997; Chiai, 2009; Chiai, 2010 a. 7  Zu diesem Aspekt der lokalen Religiosität Phrygiens und Lydiens, die besonders in den sog. Beichtinschriften zur Sprache kommt vgl. Chaniotis, 2004; Belayche, 2006 a; Chiai, 2010. 8  Zu den christlichen Gemeinden Phrygiens vgl. Ramsay, 1895 (die erste grundlegende Zusammenstellung und Auswertung der epigraphischen Zeugnisse zur Entstehung und Verbreitung der christlichen Gemeinden Phrygiens); Harnack, 1906, 184–186; eine umfassende Monographie über das Christentum in Phrygien steht noch aus, Gibson, 1978 hat die sog. Inschriften Χριστιανοί Χριστιανοῖς aus dem Tebris-Tal gesammelt; Huttner, 2013 hat eine wichtige Monographie zum Christentum in der Ebene des Lykos veröffentlicht; Chiricat, 2013. Um einen Überblick über die spätantiken kleinasiatischen Stadtgemeinden zu gewinnen, verweise ich auf Dally / ​R atté, 2011, die auch die phrygischen Städte behandeln. Eine gute Zusammenstellung und Auswertung christlicher Inschriften Kleinasiens befindet sich in Kaufmann, 1917, 59–68; Guarducci, 1978, 375–410; Destephen, 2010; Mitchell, 2014, 282–297 betont den „rural character“ der frühchristlichen Inschriften Kleinasiens. 9 Zu diesem wichtigen von Ramsay McMullen, 1982 in die Altertumswissenschaft eingeführten Begriff existiert eine umfangreiche Literatur; allgemein verweise ich auf die Beobachtungen von Alföldy, 1991, in seiner Arbeit über die augusteische Epigraphik.

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Tembris-Hochebene und am Beispiel zweier Texte einige sakrale Konvergenzen, die in den Grabepigrammen vorzufinden sind. Dabei werden, um ein besseres Gesamtbild zu geben, gelegentlich Inschriften herangezogen, die später liegen, als sonst in diesem Sammelband vorgesehen. In diesem Zusammenhang verstehe ich als christliche Inschrift einen epigraphischen Text, in dem Elemente, welche den Wortschatz, die Bilder, die Symbole usw. betreffen können, zu finden sind, die auf die christliche Glaubensrichtung des Verfassers (oder des Auftraggebers) – offensichtlich oder verschleiert – hinweisen10. Bevor ich anfange, mich mit den epigraphischen Testimonia auseinanderzusetzen, halte ich es für wichtig, einige allgemeine Bemerkungen zu den christlichen Inschriften aus Phrygien anzuführen, welche uns behilflich sein können, den Charakter dieser Zeugnisse besser zu verstehen.

2. Das epigraphische Material aus Phrygien Die meisten der aus Phrygien bekannten christlichen epigraphischen Zeugnisse sind Grabinschriften und Grabepigramme, angebracht auf Grabbauten oder auf Stelen und Altären,11 die sich häufig von jenen der Nichtchristen schwer unterscheiden lassen.12 Wie die Inschriftenträger scheinen auch die Grabstätten, die je nach den finanziellen Mitteln der Verstorbenen gebaut wurden und die religiöse 10 Eine anregende Diskussion dazu in Guarducci, 1978, 301–313, die einige Kriterien zur Erkennung der christlichen Inschriften herausarbeitet. Guarducci, 1978, 301, formulierte die allgemeine Definition wie folgt: „Per essere, tale un’epigrafe dovrà dimostrarsi cristiana nello spirito, presentando qualche tipico elemento di cristianità: o un’aperta adesione alla dottrina di Cristo, o il ricordo di apostoli e di martiri, o l’uso di nomi personali e di simboli dai quali traluca, con maggiore o minor evidenza ma senza possibilità di dubbio, la nuova spiritualità introdotta da Cristo nel mondo“. Dazu auch Carletti, 2008 a, 9–13, mit ausführlichen Literaturhinweisen. 11  Die Bedeutung der Grabaltäre in Kleinasien wird von Cormack, 2004, 118, wie folgt betont: „In this respect the funerary altar of Asia Minor differ from funerary altars of the western empire, which were not only characteristically decorated with lavish vegetable decoration, portraits of the deceased, and the like, but also frequently functioned as receptacles for the ashes of the dead. What emerges from a survey of the term βωμός in the funerary inscriptions of Asia Minor is that the altar is generally recorded as part of the furnishings of a larger tomb, often intended for a family“. 12 Es fehlt noch eine umfassende Forschung zu den christlichen Inschriften Kleinasiens, allgemein zur christlichen Epigraphik Kaufmann, 1917; Guarducci, 1978, 301–556; Destephen, 2010; Huttner, 2013, 10–15 (mit einem Überblick zur epigraphischen Forschung im „Lycus Valley“). Zu erwähnen auch Calder, 1955, mit seinen nützlichen Beobachtungen zu den christlichen Epitaphien Phrygiens, und Johnson, 1995, der eine Sammlung christlicher Epitaphien aus Kleinasien mit Übersetzung (jedoch ohne einen Kommentar) publiziert hat; Dresken-Weiland, 2012, 230–246, die eine nützliche Sammlung von christlichen Epitaphien aus Kleinasien mit Übersetzung und Kommentar veröffentlicht hat. Allgemein zur Aussagekraft christlicher Epitaphien vgl. Merkt, 2012.

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Landschaft der Region prägen mussten, nach den traditionellen Modellen weiter erbaut worden zu sein.13 Ein weiteres wichtiges Merkmal ist, dass all diese Grabinschriften an öffentlichen Orten, d. h. in zugänglichen Nekropolen oder Grabbezirken, aufgestellt wurden, wo nicht nur Christen, sondern auch Nichtchristen sie lesen konnten und wo auch Nichtchristen bestattet wurden. Denn es soll nicht vergessen werden, dass in der Region (und allgemein im römischen Kleinasien) die Körperbestattung die geläufige Grabsitte bis in die Spätantike blieb. Dies stellt einen bedeutenden Unterschied z. B. zu den Grabinschriften aus den Katakomben Roms dar, die wahrscheinlich nur von den Mitgliedern der christlichen Gemeinde gesehen werden konnten, wie zu Recht Édouard Chiricat vor kurzem betont hat.14 Die meisten der Sprachdenkmäler (Altäre, Blöcke, Stelen usw.) sind ohne archäologischen Kontext und deswegen schwer mit Präzision zu datieren, daraufhin lassen sich die epigraphischen Texte auf Grund der zahlreichen lexikalischen Konvergenzen von den nichtchristlichen und jüdischen epigraphischen Texten häufig nicht richtig trennen, wie oben erwähnt15. Schließlich soll auch auf die Bedeutung dieser Inschriften aufmerksam gemacht werden, deren beeindruckende Zahl, die vielleicht nur von den epigraphischen Zeugnissen aus Rom übertroffen wird, ein wichtiges Zeugnis für das Leben und die sakralen Praktiken der frühchristlichen Gemeinde in der Zeit vor Kaiser Konstantin ablegt,16 wie in keiner anderen Provinz des römischen Reiches. 13 Allgemein

dazu die gute Rekonstruktion von Cormack, 2004; zur phrygischen Grabarchitektur und Grabkunst vgl. Waelkens, 1986; Wujewski, 1991; Lochman, 2003. 14 Vgl. Chiricat, 2013, 198: „The gravestones of the Christians of Phrygia were erected in public cemeteries, exposed to the view of all, Christians, pagans and (in theory) local imperial authorities. The inscriptions of the Roman catacombs had a more private, even confidential character, intended only for the eyes of other members of those Christian communities which had the right of burial in the catacomb“. Dazu auch Johnson, 1997. 15 Allgemeine Beobachtungen dazu in Chaniotis-Chiai, 2007 und Chiricat, 2013, 206– 214 (am Beispiel der Grabinschrift MAMA XI 145 für Eutropios). In diesem Zusammenhang kann an die treffenden Worte von Kaufmann, 1917, 15 erinnert werden: „Nach Material, Form und Technik unterscheiden sich, ganz allgemein gesprochen, die christlichen Epitaphien und Inschriften zunächst nicht von heidnischen oder jüdischen der gleichen Epoche. Es lag nicht im Vermögen des Urchristentums, auf diesem Gebiet Neues zu schaffen, und vom künstlerischen und ästhetischen Standpunkt aus gesehen, hätten die paganen Vorbilder auch niemals übertroffen werden können“. Beobachtungen dazu auch in Kraemer, 1991, der interessante epigraphische Beispiele zusammenstellt und auswertet. Dazu, wenn auch in Bezug auf den lateinischen Westen, vgl. Beobachtungen in Carletti, 2008 b. 16 Chiricat, 2013, 198, fasst die Bedeutung des epigraphischen Befundes Phrygiens wie folgt zusammen: „One of the most striking and distinctive elements of the epigraphy of Phrygia is, without doubt, the large number of Christian inscriptions dating before the reign of Constantine. With the possible exception of the neighbouring region of Lykaonia, no other part of the Roman Empire provides us with so rich a harvest of documentary material for early Christian communities; the Phrygian evidence is of capital importance for our understanding of the origins and development of the Church in the ancient Mediterranean world“. Dazu auch Beobachtungen in Destephen, 2010, 162–164 (mit einer Karte); Dresken-Weiland, 2012, 84–85.

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Bei der Untersuchung der epigraphischen Testimonia soll auch die Siedlungsstruktur der Region kata komas berücksichtigt werden,17 welche unter anderem bedingte, dass die meisten der frühchristlichen Gemeinden verstreut auf dem Lande lebten. Dies lässt unter anderem auch erklären, warum unsere Inschriften so viele Unterschiede zeigen, die stark ortsgebunden sind.18 Diese Tatsache sollte auch zu einer gewissen Vorsicht bei einem pauschalen Einsatz des Begriffes „Kryptochristen“ raten19. Denn bei Dorfgemeinden, in denen, wie auch heutzutage, jeder den anderen kannte, kann man sich freilich fragen, wie eine Familie oder eine Einzelperson das eigene Bekenntnis zu einer christlichen Gruppe mit Erfolg hätte versteckt halten können20. Die Termini „Inklusion“ und „Exklusion“, welche als „key words“ dieses Sammelbandes dienen, erweisen sich als besonders geeignet, um einige Aspekte der Auseinandersetzungen der frühchristlichen Gemeinden mit den lokalen sakralen Vorstellungen, die sich in Phrygien vorfanden, besser zu erfassen. Denn, wie auf Grund der ausgewählten epigraphischen Testimonia gezeigt werden soll, scheinen die Christen Elemente nicht nur des traditionellen nichtchristlichen sakralen Wortschatzes, sondern auch der lokalen Bildsprache übernommen und weiter verwendet zu haben. Darüber hinaus soll auch kurz erwähnt werden, dass Christen und Nichtchristen gemeinsame religiöse Praktiken hatten, wie gerade die Inschriften dokumentieren. Die sogenannten Beichtinschriften21 zeigen beispielsweise, dass in den ländlichen Heiligtümern Phrygiens und Lydiens das Ritual der öffentlichen Beichte22 praktiziert und verschriftet wurde;23 darüber hinaus sind, wie besonders die Papyri zeigen, für Christen auch die sog. Gebete

17 Dazu

verweise ich allgemein auf die wichtige Monographie von Schuler, 1998. lokale bzw. ortsgebundene Charakter der Identität der frühchristlichen Gemeinden Phrygiens ist beispielsweise von Johnson, 1994 auf Grund der Grabstelen betont worden. 19 Zu diesem von Cumont, 1895, eingeführten Begriff vgl. vor kurzem Chiricat, 2013, 201–203; dazu auch Huttner, 2013, 335–340 mit der Betrachtung einiger Inschriften aus Laodikeia am Lykos und aus Hierapolis, in denen die christliche Identität als verschleiert vorzukommen scheint. 20 Dazu vgl. sehr treffend Chiricat, 2013, 203: „After all, could a Christian really have concealed his religious identity from his neighbours and peers, in the small towns and villages of inner Anatolia where families’ religious affiliation must have been known to everyone?“. 21 Zu den Beichtinschriften existiert eine umfangreiche Literatur, allgemein dazu vgl. Pettazzoni, 1936, 54–162; Petzl, 1988; Chaniotis, 1997; Chaniotis, 2004; Paz de Hoz, 2006; Belayche, 2006 b. 22 Das Ritual der öffentlichen Beichte ist auch in den Kulten der Isis und der Dea Syria belegt, allgemein dazu vgl. Pettazzoni, 1937 mit einer wichtigen Zusammenstellung und Auswertung der Quellen. 23 Graf, 2006, macht auf eine in der Historia Ecclesiastica (7, 16) des Sozomenos überlieferte Stelle aufmerksam, welche das Ritual der öffentlichen Beichte auch bei den Christen belegt (Graf, 2006). Das Ritual der geheimen Konfession wurde erst im Jahre 1215/1216 vom Laterankonzil festgelegt. 18 Der

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um Gerechtigkeit24 (oder Rachegebete) belegt.25 All diese Elemente, welche den Bereich der religiösen Praktiken und nicht nur jenen der sakralen Vorstellungen betreffen, können uns behilflich sein, um den Grund zu verstehen, warum sich das Christentum so schnell besonders auf dem Land in Phrygien etablieren und ausbreiten konnte. Es kann auch kein Zufall gewesen sein, dass sich die meisten der epigraphischen religiösen Texte aus Phrygien (und Lydien) gerade in die Zeit der Verbreitung des Christentums in Kleinasien datieren lassen: Die Anhänger der traditionellen Kulte scheinen damit ein Zeugnis für die Macht ihrer Götter ablegen zu wollen, die nun in Konkurrenz mit dem neuen Glauben standen26. Daraufhin soll auch das Vorhandensein von jüdischen Gemeinden sowohl auf dem Land als auch in den urbanen Zentren erwähnt werden27, deren Mitglieder häufig eine prominente Position in den Städten hatten. In diesem Zusammenhang soll auch daran erinnert werden, dass die Begriffe Inklusion und Exklusion seit einiger Zeit im religionswissenschaftlichen Diskurs benutzt werden, um die zwei unterschiedlichen Richtungen des Monotheismus zu bezeichnen28: Der inklusive Monotheismus versucht den Glauben an den Einen Gott mit dem traditionellen nichtchristlichen Göttervorstellungen und sakralen Praktiken zu vereinbaren29, während der exklusive Monotheismus solche Vorstellungen und Praktiken als falsch und inkompatibel ablehnt. 24 Zum von Hendrik Versnel geprägten Begriff von „Gebet um Gerechtigkeit“ vgl. allgemein Versnel, 1991, Versnel, 2009; Versnel, 2012, als Antwort auf die von Dreher, 2012 in den Akten desselben Kongresses formulierte Kritik gegen eine pauschale Verwendung dieses Begriffes mit einer umfassenden Bibliographie. 25 Wichtiges Material ist bei Björck, 1938, zusammengestellt worden. Eine nützliche Zusammenstellung und Auswertung dieser Texte in Graf, 2009. 26 Am Beispiel der Beichtinschriften interpretiert Schnabel, 2003, 188, die beeindruckende Produktion epigraphischer religiöser Texte als eine Antwort auf die gefährliche Verbreitung christlicher Vorstellungen auf dem Land in Phrygien und Lydien: „It seems quite possible, however, that the vigorous Christian expansion provoked an increased use, or a focused consolidation of thus practices whose message would serve to solidify the presence of the traditional divine “rulers” in the village“. 27  Allgemein zu den jüdischen Gemeinden Kleinasiens Trebilco, 1991; Mitchell, 1993 a, 31–37 und die verschiedenen Beiträge in Herz / ​Kobes, 1998; Chiai, 2012 (mit weiteren Literaturhinweisen); zum „epigraphic habit“ der jüdischen Inschriften Kleinasiens vgl. Ameling, 2007; Destephen, 2010, 168–171, mit weiteren Literaturhinweisen. 28 Dazu verweise ich auf Assmann, 2006; Van Nuffelen, 2010; Mitchell, 2013 a, 344–350. 29 Dies kann beispielsweise durch eine allegorische Umdeutung von sakralen Epitheta oder mythischen Traditionen erfolgen, wie es beispielsweise Macrobius in der Praetextatus-Rede (Sat. 1,17,1–60) oder Symmachus in der bekannten Rede für den Altar der Victoria machen. Zu Macrobius erlaube ich mir auf meine Studie Chiai, 2013, zu verweisen. Für die Art und Weise wie im literarischen und philosophischen Diskurs die Figuren der traditionellen Götter neu gedacht und mit der Idee des einen Gottes kompatibel gemacht werden vgl. Van Nuffelen, 2011. In diesem Zusammenhang können auch die ersten zwei Bücher der Oracula Sibyllina kurz erwähnt werden, die auf ein jüdisches Milieu in Phrygien zurückgehen, in denen der Versuch unternommen wird, die griechische Mythologie mit der jüdischen Theologie zu vereinbaren, indem behauptet wird, dass alle griechischen Götter und Helden als Erscheinungsformen der δύναμις des höchsten Gottes zu betrachten sind. Allgemein dazu Lightfoot, 2007.

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3. Ein christlicher Altar aus dem Land Ich möchte meine Betrachtungen mit einem Denkmal aus dem Gebiet um Laodicea Combusta beginnen30. Es handelt sich um einen Grabaltar aus lokalem Stein, wahrscheinlich aufgestellt vor der Grabstätte der Verstorbenen. Die Aufstellung eines solchen Altars vor dem Grab könnte unter anderem darauf hindeuten, dass religiöse Zeremonien zu Ehren der Verstorbenen im Areal der Grabstätte durchgeführt wurden, wie es übrigens im ganzen römischen Reich üblich war. Sein „epigraphic habit“ scheint sich nicht von jenem der anderen lokalen bzw. nichtchristlichen Grabaltäre zu unterscheiden. Der Text ist auf dem oberen und unteren Teil angebracht worden und das Relief in der Mitte zeigt das auf einer Aedicula stehende verstorbene Ehepaar. Der Altar besitzt keine Symbole, welche auf eine christliche Glaubensrichtung hinweisen. Die Inschrift lautet:31 MAMA I, 161 = SEG VI, 32 = IGC 184: [Κ]ύ̣ριε βοήτι τῇ δού[λῃ] / ​σου Ματρώνῃ κὲ [τῷ] / ​ δούλῳ σου Τιμ[οθ]/έ[ῳ]. / ​Τειμόθεος Μείρ[ο]/[υ] ζῶν ἀνέστη/σα τὴν εἰσθήλ[η]/ν ταύτην. / ​ ὃς δὲ ἀν̣[οίξει], / ​ἕ[ξ]η πρὸς τὸ[ν] θε[όν]. Herr, hilf deiner Dienerin Matrone und deinem Diener Timotheos. Ich, Timotheos, der Sohn des Meiros habe zu Lebzeiten diesen Grabstein errichtet. Wer ihn aufschließt, wird sich vor (dem) Gott verantworten.

Die Zweiteilung der Inschrift steht in Zusammenhang mit der Textgliederung. Auf dem oberen Teil ist die Anrufung bzw. Gebetsformel angebracht worden, welche ermöglicht, den Text als christlich zu betrachten, während auf dem unteren der übliche Fluch gegen Grabschänder zu lesen ist. Der erste Text „Herr, hilf deiner Dienerin Matrone und deinem Diener Timotheos“ ist eine verbreitete Gebets‑ bzw. Anrufungsformel,32 die durch die Verwendung zweier juridischer Termini κύριος und δοῦλος das Verhältnis zwischen Gott und den von ihm erschaffenen Menschen zum Ausdruck bringt. In den nichtchristlichen religiösen Inschriften sind ebenfalls Machtattribute wie κύριος, βασιλεύς usw. anzutreffen, welche die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen oder auch zwischen Gott und einer Stadt oder Dorfgemeinde zur Sprache kommen lassen,33 darüber hinaus sind auch Termini wie ὑπηρέτης anzutreffen, die metaphorisch das Verhältnis zwischen dem Gott und seinen Verehrern aus30 Zum

Gebiet dieser Stadt vgl. die Forschungen von Traversari, 2000. Inschrift wird grob auf das 3. Jh. n. Chr. datiert. 32 Zu dieser in den christlichen Inschriften sehr verbreiteten Formeln vgl. Guarducci, 1978, 305–307. 33 Dazu verweise ich auf Belayche, 2006 a und Chiai, 2009 mit einer Zusammenstellung und Auswertung des Materials aus den ländlichen Heiligtümern Phrygiens und Lydiens. Die Praxis, solche Machtattribute in den Inschriften religiösen Inhalts zu verwenden, geht auf die hellenistische Zeit zurück, als die Schutzgottheiten der Poleis (besonders im griechischen Osten) häufig mit Epitheta wie προεστώς, καθηγεμών usw. betitelt wurden. Zu diesem Phänomen vgl. allgemein Chaniotis, 2007, 149. 31 Die

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drücken34: Die Kombination der Attribute δοῦλος und κύριος stellt jedenfalls eine Innovation der christlichen Epigraphik dar. Die Eigennamen Ματρώνη35 und Τειμόθεος36, wenn auch seit dem 3. Jh. besonders verbreitet in Lykaonien, verraten ebenfalls nicht die christliche Identität der Verstorbenen. Im zweiten Teil fällt die Verwendung der ersten Person auf, die zusammen mit der anfänglichen Anrufungsformel vielleicht darauf hindeuten könnte, dass der ganze Text in einem rituellen Kontext laut vorgelesen wurde37. Die letzte Wendung verfolgt das Ziel, das Grab vor etwaigen Grabschändern zu schützen.38 Der Ausdruck πρὸς τὸν θεὸν sollte jedenfalls nicht als entscheidender Beweis für die Zugehörigkeit von Matrone und Teimotheos zur lokalen christlichen Gemeinde betrachtet werden, da er häufig in Kontexten vorkommt, die sich nicht eindeutig als christlich einordnen lassen.39 Das Ehepaar wird wahrscheinlich zur mittleren lokalen Schicht gehört haben. Sie konnten sich den Kauf eines Grabaltars mit Reliefs leisten, sie scheinen aber ebenso wie der Steinmetz nicht besonders gebildet gewesen zu sein, wie die Schreibfehler in der Inschrift zeigen.40 Dieses Sprachdenkmal legt ein Zeugnis dafür ab, wie auf eine verschleierte Art und Weise zwei Menschen (in diesem Fall ein Ehepaar) ihre Identität als Christen zum Ausdruck bringen und dabei auch Andersgläubige ansprechen konnten. In Anbetracht der Fragestellung dieses Sammelbandes würde dieser Altar ein Zeugnis für Integration bzw. Inklusion und nicht für Exklusion liefern.

34 Dazu vgl. Beobachtungen in Pleket, 1981, 166–171, der nichtchristliche Zeugnisse berücksichtigt. 35 Vgl. beispielsweise: MAMA I, 301, 315, 383; MAMA VII, 491, 573, 575; MAMA VIII, 318; SGO 16/57/03; SEG XXXIV, 1346. 36 MAMA I, 164 a; SEG VI, 447; MAMA VIII, 144; MAMA XI, 273; BCH 33, 290–292, Nr. 47. 37  Zum lauten Lesen allgemein Busch, 2002 (über die Inschriften 30–33); Burfeind, 2002; für die Inschriften vgl. Häusle, 1980, 41–63 mit Beobachtungen. Zum lauten und leisen Beten existiert eine reiche Literatur, vgl. im Allgemeinen Versnel, 1981, 26–37 und van den Horst, 1994). 38 Zu den Fluchformeln gegen Grabschänder vgl. Parrot, 1939 (mit der ersten grundlegenden Zusammenstellung des Materials); Robert, 1978, 242–286; unter den später erschienenen Studien vgl. Strubbe, 1991; Strubbe, 1994; Strubbe, 1997 (mit dem wichtigen Katalog). 39 Dazu allgemein Trebilco, 2002, 70–83, mit einer Zusammenstellung des epigraphischen Materials und Literaturhinweisen. 40 Wie die Formen βοήτι und εἰσθήλ[η]/ν eindeutig zeigen. Zur Sprache der griechischen Inschriften Phrygiens der Spätkaiserzeit, welche ermöglichen, die gesprochene Mundart zu rekonstruieren vgl. Brixhe, 2001; Brixhe, 2002; wichtige Beobachtungen zur gesprochenen Mundart der Zeit auf Grund eines Vergleiches zwischen der Sprache der Evangelien und der Beichtinschriften in Klauck, 1996.

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4. Die Trinität und der wahre Glaube Das zweite Denkmal ist eine Stele aus bläulichem Kalkstein, auf der die folgende Inschrift angebracht wurde: MAMA I, 162 = IGC 498: ☩ὁ τῆς Τριάδος / ​ἱερὺς  Ἡσύχιος / ​σοφὸς ἀληθὴς / ​πιστὸς ἐ̣[ρ]γάτης / ​Χρ̣(ιστοῦ) / ​πά[ντω]ν ὁ φίλος / ​․․․․․ΔΡ․․ΓΑ / ​․․․․․ΙΚΩCΠΑ / ​․․․․․Ο ΙΩC  / ​ ․․․․․ΑΝΟΝ / ​Δ․․․․․․․․․ / ​ἤ τις δ’ ἕτερον ἐπεν/βάλη τῷ τάφῳ, / ​κριτῇ τῷ ζῶντι / ​λόγον ἔνδικον τίση. Der Priester der Trinität Hesychios, ein weiser, wahrhaftiger, gläubiger Arbeiter Christi, ein Freund aller … . Wenn einer einen anderen ins Grab legt, wird er vor dem lebendigen Richter gebührend Rechenschaft ablegen.

Die Inschrift, ohne archäologischen Kontext, wird in die Zeitspanne zwischen 350–400 n. Chr. datiert. Dieser Priester scheint nicht nur die nichtchristlichen Konkurrenten, sondern vielleicht auch die Christen anderer Glaubensrichtungen, wie z. B. Montanisten41, Novatianer42, usw., die in der Region um Laodicea Combusta lebten und tätig waren, anzusprechen: Eine Untersuchung des Textes ermöglicht m. E. einige Anhaltspunkte zu gewinnen, die eine solche Interpretation stützen können. Hesychios bezeichnet sich nicht als ἱερεὺς τοῦ θεοῦ, sondern als ὁ τῆς Τριάδος ἱερεὺς. Dieser Ausdruck, der im Bereich der christlichen Epigraphik dieser Zeit nicht viele Parallelen findet43 – denn man kann freilich nach der Rolle fragen, welche der Trinitätsbegriff in den religiösen Praktiken dieser Zeit spielte44  –, 41 Zum Montanismus in Phrygien vgl. Strobel, 1980 und Hirschmann, 2005; Mitchell, 2005. Tabbernee, 1997, haben wir eine nützliche Zusammenstellung der epigraphischen Dokumente, die den Anhängern dieser Sekte zuzuschreiben sind, zu verdanken; zuletzt auch Mitchell, 2013 b. Zu den literarisch und epigraphisch dokumentierten christlichen Sekten Kleinasiens verweise ich allgemein auf die ausführliche Abhandlung bei Mitchell, 1993 b, 96–108; eine gute Zusammenstellung von epigraphischen Texten zu diesem Thema in Sheppard, 1979. 42  Zu den Novatianern im griechischen Osten verweise ich allgemein auf Wallraff, 1997; Hirschmann, 2008, Papandrea, 2008, 1–55, und die Monographie von Hirschmann, 2015 mit einer Zusammenstellung und Auswertung der literarischen und epigraphischen Quellen. 43 Freilich können wir auf die christliche Stele von Tanagra hinweisen, datiert auf die Zeitspanne zwischen dem 4. und dem 5. Jh., in der ein τέμενος ζάθεον Τριάδει πάντων μεδεούσῃ erwähnt wird. Die Partizipialform μεδεούσῃ ist eine Entlehnung aus der nichtchristlichen Sakralsprache: Besonders in der hellenistischen Zeit wird den sog. Schutzgottheiten einer Polis das Epitheton μεδεών zugewiesen; dazu mit einer Zusammenstellung der epigraphischen Quellen vgl. Brackertz, 1976, 223–230. Zur Tanagrainschrift verweise ich auf Guarducci, 1978, 339– 344, welche meint, dass nicht nur das τέμενος, sondern auch die Kirche der Trias gewidmet war. 44 Zur Rolle des Trinitätsbegriffes in den theologischen Diskussionen der frühen Christen existiert eine umfangreiche Literatur, dazu allgemein vgl. Markschies, 2000 (mit einem guten Überblick); Hunt, 2005, 5–20 und die klare Rekonstruktion von Dünzel, 2011 mit weiteren Literaturhinweisen; dazu zuletzt auch Fürst, 2016, mit Literatur; dazu auch Hömke, 2013, 163–177, mit Beobachtungen zur Rolle der Trinität im literarischen Diskurs am Beispiel des Ausonius-Textes.

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könnte vielleicht als Hinweis auf die christliche Glaubensrichtung des Hesychios gedeutet werden. Denn es soll erwähnt werden, dass sich seit dem 3. Jh. eine heftige Debatte über die Natur des Jesu Christi und den Sinn der Trinität entzündet hatte, die den Kaiser Konstantin veranlasst hatte, das Konzil von Nizäa einzuberufen45. Eine nähere Betrachtung der unterschiedlichen theologischen Richtungen, welche in Bezug auf dieses Problem entstanden sind, gehört nicht zu den Zielsetzungen dieser Arbeit; in diesem Zusammenhang möchte ich jedenfalls auf die zentrale Rolle, welche allgemein die Kirchenväter Kleinasiens in dieser Diskussion gespielt hatten, aufmerksam machen.46 Dieses epigraphische Dokument scheint dafür ein Zeugnis abzulegen, dass eine derartige Diskussion nicht auf eine theoretische Ebene beschränkt blieb, sondern sich in den Kultpraktiken niedergeschlagen hatte, da die Inschrift den Kult der Trinität eindeutig bezeugt.47 Eine Analyse der epitheta virtutis, die im Text vorkommen, kann weitere Elemente zum besseren Verständnis des Textes liefern. Dieser Priester bezeichnet sich als σοφὸς ἀληθής (als interessant erweist sich auch die Kombination sowie die Reihenfolge dieser Attribute) und zwar als wahrhaftiger Weiser. Mit anderen Worten: Er ist der Bewahrer des wahren theologischen Wissens48. In Anbetracht des Vorhandenseins der oben genannten christlichen Sekten sowie der immer noch existierenden nichtchristlichen Kulte in der Region scheint der Einsatz des Adjektivs ἀληθής eine Abgrenzung zum falschen Glauben zu schaffen. Hesychios ist auch πιστὸς ἐργάτης „gläubiger Arbeiter Christi“. In einer Zeit, in der theologische Diskussionen über die Natur Christi entstanden waren, halte ich das Vorhandensein eines derartigen Ausdrucks nicht für selbstverständlich; der Terminus πιστός scheint die Treue dieses Gottesdieners seinem Glauben gegenüber hervorzuheben49, während ἐργάτης „Arbeiter“ den Eifer unterstreicht, mit 45 Dazu

allgemein vgl. Dünzel, 2011, 60–72; Prinzivalli / ​Simonetti, 2012, 119–132. kann an die treffenden Worte von Prinzivalli / ​Simonetti, 2012, 69, erinnert werden: „Che nell’Asia Romana siano stati attivi sia i principali rappresentanti della dottrina del Logos sia quelli della reazione in senso unitario, che definiamo generalmente monarchiana, va spiegato avendo presenti sia la già rilevata vivacità intellettuale di quell’ambiente cristiano sia la sua forte componente giudaizzante.“ Aus Phrygien kann die Figur des Markellos aus Ankara erwähnt werden. 47 Eine Studie, in der alle epigraphischen Zeugnisse zum Trinitätskult in Phrygien zusammengestellt und untersucht werden, ist mir unbekannt. 48 Dies erinnert an den bekannten Ausdruck θεὸς ἀληθινὸς ἐκ θεοῦ ἀληθινοῦ, entstanden im Kontext der Trinitätsdiskussionen über die Natur Gottes. 49 Dieses Attribut ist besonders in den Grabinschriften Lykaoniens häufig anzutreffen. Die späte Datierung dieser epigraphischen Zeugnisse, die zumeist ab dem 4. Jh. chronologisch anzusetzen sind, sowie ihre Kürze (viele Texte beschränken sich nur auf den Namen des Verstorbenen begleitet mit diesem Attribut) könnten zur Annahme veranlassen, dass πιστός die Tatsache betone, dass die Verstorbenen nach der moralischen Lehre des Christentums gelebt haben. Eine Studie, in der die epigraphischen Dokumente, in denen dieser Terminus vorkommt, zusammengestellt und hinsichtlich der semantischen Entwicklung ausgewertet werden, steht noch aus. Hier eine kleine Zusammenstellung: MAMA VII, 104 b (IGC 610); MAMA VIII, 325, 46 Dazu

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dem er seine Arbeit als Priester und vielleicht auch als Prediger verrichtet hat; es sei auch gesagt, dass dieser Terminus im Neuen Testament im übertragenen Sinn auf die Apostel und auf ihre Mission als Lehrer des wahren Glauben bezogen wird.50 Der Ausdruck πάντων ὁ φίλος, der ebenfalls zum Formular der christlichen Grabinschriften gehört und an die ähnliche lateinische Formel amicus omnium, amicus pauperum usw. erinnert, scheint das soziale Engagement dieses Priesters, der vielen Menschen geholfen hatte, zu unterstreichen.51 Als Parallele aus Lykaonien können wir die Grabinschrift von Appas, dem Sohn des Orestes, kurz erwähnen, angebracht auf einem Kalksteinsarkophag, der als φίλος πάντων bezeichnet wird.52 Es sei auch gesagt, dass diese Formel den einzigen Hinweis für die christliche Identität des Verstorbenen liefert und wahrscheinlich nur den Christen verständlich gewesen sein konnte. In einem epigraphischen Text aus derselben Region ehrt eine Frau namens Aurelia Vanalis ihren verstorbenen Ehemann ebenfalls mit dem Ausdruck φίλος πἀντων, der in diesem Fall auch das einzige Indiz für die christliche Glaubensrichtung dieser Familie ist.53 Wie die Nichtchristen, pflegten auch die Christen, Komposita mit philos in den Grabinschriften einzusetzen, um die moralischen Tugenden der Verstorbenen zum Ausdruck zu bringen.54 326 a, 326 b, 326 c, 326 d, 326 e (IGC 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122). Zu diesem Terminus vgl. Beobachtungen auch in Horsley, 1982, 94; dazu auch Huttner, 2013, 337–340, in Bezug auf eine Grabinschrift (IvLaodik. 108) aus Laodikeia am Lykos, in der eine Frau Namens Πιστὴ erwähnt wird, die als θεῷ πιστὴ bezeichnet wird. Zur Verwendung des Attributes πιστός / ​ fidelis, wenn auch meistens bezogen auf die lateinischen christlichen Epitaphien, vgl. auch Beobachtungen in Janssens, 1981, 21–24 mit einer nützlichen Zusammenstellung epigraphischer Beispiele, und Carletti, 2008 a, 55–56. 50 Für die Belege dazu vgl. Abbott-Smith, 1922, 128; Bauer, 1937, 511. 51 Auch in diesem Fall fehlt eine umfassende Studie, in der all epigraphische Zeugnisse zu dieser Formel, die sich als besonders verbreitet im galatischen und kappadokischen Raum erweist, zusammengestellt und untersucht werden. Hier eine kleine Zusammenstellung: RECAM II, 455, 476 (IGC 2286, 2487); MAMA VIII, 162 (IGC 811); SEG XXVII, 880 (IGC 778); SEG XXXI, 1095 (IGC 2321); Röhr, 2009, Nr. 736, 737 (IGC 911, 75). In diesem Zusammenhang soll auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass philia bei Juden und Christen den Zustand bezeichnet, in dem sich die Menschen, wenn sie sich der Gerechtigkeit entsprechend verhalten haben, vor Gott befinden, dazu allgemein Lampe, 1961, 1478, mit einer Zusammenstellung der literarischen Belege. Interessanterweise besaß das Kompositum philanthropia bei den Juden eine negative Konnotation, dazu vgl. Hiltbrunner, 1990. Zu den Formeln amicus omnium, amicus paurerum usw. in den christlichen lateinischen Epitaphien vgl. allgemein Janssens, 1981, 191–196; Carletti, 2008 a 58–59, 176–177 Nr. 58, 219–220 Nr. 114, mit einer Zusammenstellung und Besprechung epigraphischer Beispiele. 52 Röhr, 2009, 310, Nr. 736 = IGC 75. 53 Röhr, 2009, 310, Nr. 737 = IGC 911. 54 Eine systematische Zusammenstellung steht immer noch aus. Viel Material dazu ist in Cipriano, 1990 und Veligianni, 2001, zusammengestellt worden. Für die Inschriften vgl. auch Lattimore, 1941, 290–295; Tod, 1951, 182–190; Guarducci, 1974, 150–197. Zu diesem Thema erlaube ich mir, auf meine Studie Chiai, 2015, zu verweisen, gewidmet dem Kompositum philotheos.

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Die Grabinschrift von Hesychios, die unter anderem darauf hindeutet, dass es sich nicht um ein Familien-, sondern um ein Einzelgrab handelt, endet mit einer drohenden Warnung gegen etwaige Grabschänder: „Derjenige, der einen anderen ins Grab legt, wird vor dem lebenden Richter Rechenschaft ablegen“. Dieser Ausdruck, der eine interessante Variante der sog. eumenischen Formel darstellt,55 ermöglicht, aufschlussreiche Parallelen zu erstellen. Die Vorstellung des lebendigen Gottes kommt beispielsweise bei einer Grabinschrift aus dem Gebiet von Eumeneia, in der man die Variante liest: [ἔσ]τ̣[αι αὐτῷ] / ​[π]ρὸς τὸν ζῶντα Θεὸν / ​μηδὲ τέκνων τύχο[ιτ]/ον μήτε βίου μήτε τάφ̣[ου] / ​τύχοιτον („Wenn jemand einen anderen hineinlegt, wird er Rechenschaft ablegen vor dem lebendigen Gott und soll keine Kinder haben und weder Leben noch Grab“).56 In diesem Fall liefern weder die Onomastik noch der Altar, auf dem sich die Inschrift befindet, Hinweise zu einer sicheren Zuweisung des Textes in ein christliches oder jüdisches Milieu. Dieselbe Unsicherheit ist auch in einem Sprachdenkmal aus Apameia festzustellen, in dem die Formel ἔσ/τε αὐτῷ πρὸς τὸν / ​ζῶντα Θεόν (SEG VI 268 = IGC 1368) vorkommt. Es fehlt auch nicht an Parallelen für die Vorstellung des Gottesgerichtes, wie die folgenden Beispiele zeigen. Aus dem Gebiet von Laodicea Combusta ist eine auf einem Sarkophag angebrachte Grabinschrift bekannt, in der die folgende Warnung vorzufinden ist: εἰ δέ τις τολμήσιεν̣ τοῦτο ποῆσε, ἔσχει π[ρ]ὸς τὸν / ​μέλλοντα κρίν ζῶντας καὶ νεκρούς („Wenn (also) einer es wagt, das zu tun, dann muss er sich vor dem verantworten, der die Lebenden und Toten richten wird“) (MAMA I, 169 = IGC 383). Das Vorhandensein eines Kreuzes am Ende der Inschrift spricht für die christliche Identität dieser Person. Aus Apameia stammt eine Grabinschrift, in der die folgende Drohung vorkommt: εἰ δέ τις παρὰ ταῦτα ποιήσει / ​ἔστ̳ε αὐτῷ πρὸς τὸν̳ ̳κ̳ριτὴν Θεόν („Wenn aber jemand dagegen verstößt, wird er Rechenschaft ablegen vor dem Richter Gott“) (MAMA VI, 225 = IGC 963). Dieses Dokument, datiert auf die Zeitspanne zwischen dem 2. und 3. Jh., lässt sich schwer 55 Zur sog. eumenischen Formel vgl. Calder, 1939, und Trebilco, 2002; Destephen, 2010, 168–170, Anm. 32–34 mit einer Zusammenstellung von Beispielen und weiteren Literaturhinweisen. 56 MAMA XI, 40 = IGC 1450. Das älteste Testimonium für die Verwendung der Formel πρὸς τὸν ζῶντα Θεὸν ist die Grabinschrift des Bischofs Theodoros von Eumeneia, datiert zu Beginn des 3. Jh.s n. Chr., dazu vgl. den Kommentar von Guarducci, 1978, 386–388. Der Ausdruck ζῶν Θεὸς stammt aus dem Neuen Testament (Mt 16,16; 26,63; Apg 14,15; Paulus, Röm 9,26; 1 Kor 3,3; 6,16), wo er verwendet wird, um den wahren lebendigen Gott von den falschen toten Göttern der Nichtchristen metaphorisch zu unterscheiden; dazu vgl. auch Beobachtungen bei Trebilco, 2002, 75–78, Anm. 93 mit einer Zusammenstellung von biblischen Textstellen. Eine Untersuchung, in der alle epigraphische Zeugnisse, in denen dieser Ausdruck vorkommt, zusammengestellt und ausgewertet werden, steht noch aus. Hier eine Zusammenstellung (beschränkt auf Phrygien): SEG VI, 194, 204, 206, 203, 268, 224, 226 (ICG 1041, 1043, 1044, 1050, 1368, 1052, 1054); SEG XXVIII, 114 (ICG 1023); MAMA IV, 359 (ICG 1023); MAMA XI, 40 (ICG 1450); SGO16/06/03 (ICG 1056); BCH 17, 241, Nr. 1 (ICG 1066).

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einer bestimmten Glaubensrichtung zuschreiben; der Terminus κριτής, der in diesen christlichen, jüdischen oder einfach monotheisierenden Inschriften verwendet wird, findet betrachtenswerte Parallelen in zahlreichen epigraphischen Dokumenten, die aus den ländlichen Heiligtümern Phrygiens und Lydiens stammen und sich auf dieselbe Zeitspanne datieren lassen. In einer langen Inschrift aus Lydien wird z. B. der Gott Men als κριτής ἀλάθητος ἐν οὐρανῶι „unfehlbarer Richten im Himmel“ bezeichnet, der alles sieht und kennt und imstande ist, Verbrecher zu bestrafen.57 In verschiedenen Beichtinschriften kommt ebenfalls die Vorstellung des Göttergerichtes vor, welches die menschlichen Verbrechen mit furchtbaren Krankheiten schlägt.58 Darüber hinaus soll auch an den in Phrygien und Lydien verbreiteten Kult des Hosios und Dikaios erinnert werden, der zeigt,59 wie die Gerechtigkeit ein zentrales Element der religiösen Welt dieser Regionen darstellte. Es handelt sich um eine wichtige Konvergenz in der religiösen Kommunikation, die nicht nur die Verwendung eines gemeinsamen Wortschatzes, sondern auch das Vorhandensein gemeinsamer sakraler Vorstellungen aufweist. Mit anderen Worten: Dieser Ausdruck konnte sowohl Christen als auch Nichtchristen ansprechen, weil beiden die Idee des allmächtigen Gottes, der im Himmel sitzt und die Menschenverbrechen wie ein Richter verurteilt, bekannt war. In Bezug auf die Hesychios-Inschrift möchte ich schließlich auf den Genetiv Χριστοῦ aufmerksam machen: Er bezeichnet sich nicht als „gläubiger Arbeiter Gottes“, sondern als „gläubiger Arbeiter des Christus“, und zwar des lebendigen Richters, der das Grab seines treuen Dieners schützt. Darüber hinaus soll auch auf die Kontinuität des Brauches bei den Christen aufmerksam gemacht werden, wie bei den Nichtchristen ihre Grabstätten unter den Schutz ihres Gottes zu setzten. Wenn wir einen Schritt weiter mit der Interpretation dieser Dokumente gehen wollen, kann auch für die Christen die Religion bzw. die Furcht vor dem Zorn Gottes als Medium zur sozialen Kontrolle festgestellt werden, wie sich beispiels-

57 Herrmann / ​Malay,

2007, 75–76, Nr. 51 = SEG LVII, 1159. beispielsweise Petzl, 1994, Nr. 5, 22, wo eine συνκλήτος θεῶν erwähnt wird. Dazu verweise ich auf Chaniotis, 1997; Chaniotis, 2004, der den juristischen Hintergrund der kleinasiatischen Beichtinschriften ausführlich untersucht hat. Dazu soll auch ein Dokument aus Lydien erwähnt werden (Herrmann / ​Malay, 2007, 113–116, Nr. 85 = SEG LVII, 1186), in dem von einer synatos und synkletos der Götter gesprochen wird, vor der zwei Brüder, die in Verdacht waren, ihren Vater misshandelt zu haben, erscheinen mussten. Es kann vermutet werden, dass diese Götterversammlung vom Tempelpersonal im Heiligtum inszeniert wurde, indem die Priester die Rolle der Götter übernahmen. Dazu vgl. Chaniotis, 2012, 215–223, mit einer Zusammenstellung und Auswertung der epigraphischen Zeugnisse. 59 Allgemein zum Kult dieser Gottheiten mit einer nützlichen Zusammenstellung der epigraphischen Zeugnisse vgl. Ricl, 1991; Ricl, 1992; Ricl, 2008; Merkelbach, 1993, dazu auch Petzl, 1998. 58 Vgl.

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weise die Gebete um Gerechtigkeit und die Beichtinschriften60 ebenso für die Nichtchristen61 rekonstruieren lassen.

5. Der Grabschutz durch die Trinität Hinsichtlich der Bedeutung der Trinität bei den lokalen christlichen Gemeinden in dieser Periode möchte ich die folgenden epigraphischen Dokumente kurz besprechen. Diese Grabinschrift, angebracht auf einem Kalksteinblock und grob datiert auf das 3. bis 4. Jh., lautet, wie folgt: MAMA I, 160 = SEG VI, 302 = IGC 376: [— — —]‑ / ​ας Ὠαλεντίνη / ​ζῶν φρονῶν ἀν[ν]/ ήστησα μ̳ν̳ή̳μ̳η̳ς / ​χάριν. ἄν τις θε/λήσι ἀνῦξεν ἔ/ξ̣[ωθε]ν τοῦ γέν/ο[υς, ἕξ]η πρὸς τ̳ὴ/ν [Τριάδ]αν. (Für) … errichtete ich, Valentine, zu Lebzeiten und bei Bewusstsein (das Grab), zum Gedenken. Wenn einer (es) öffnen möchte, ohne zum Geschlecht zu gehören, wird er vor der Trinität (?) Rechenschaft ablegen.

Eine Frau namens Valentine hat wahrscheinlich für ihren verstorbenen Mann ein Grab konstruieren lassen, das unter den Schutz der Trinität gesetzt wird. Im Dokument könnte die Verwendung der ersten Person ἀ[ν]/ήστησα darauf hindeuten, dass dieser Text in einem ritualen Kontext, als das Grab errichtet und geweiht wurde, laut vorgelesen wurde. Die Formel ζῶν φρονῶν ist in vielen christlichen Grabinschriften der Region häufig anzutreffen.62 Der Ausdruck ἕξ]η πρὸς τ̳ὴ/ν [Τριάδ]αν stellt eindeutig eine Variante der eumenischen Formel dar. Als weiteres Beispiel möchte ich die folgende Grabinschrift heranziehen, welche lautet: MAMA I, 168 = IGC 382: Φλα. Μαρία Σελεύ/κισσα ἀνέστησα τῷ / ​ἀνδρί μου Παύλου  / ​ ἀπὸ καμπιδουκτό / ​ρων ὠρδεναρίου / ​μ̳ν̳ήμ̳η̳ς χάριν· κ̣αὶ / ​ἄν τις ἐπιχιρίσι, ἔσ[τα]ι / ​πρὸς τὴ̳ν Τριάδαν. 60 Für die Beichtinschriften vgl. die folgende Zusammenstellung: (Petzl, 1994, Nr. 9, 10–13) Παρανγέλει / ​πᾶσιν ἀνθρώποις, ὅτι οὐ / ​δεῖ καταφρονεῖν το[ῦ θε]/οῦ. Ἀνέστησε δὲ τὸ μαρτ[ύ]/ριον; (Petzl, 1994, Nr. 10, 10–12) Παρανγέλ/λω δέ, αὐτοῦ τὰς δυνάμις μή / ​τίς ποτε κατευλήσι καὶ κόψει δρῦν; (Petzl, 1994, Nr. 104, 14–17) παρανγέλλω μηδένα καταφρο/[νεῖν τῷ θ]εῷ  Ἡλίῳ / ​Ἀπ/[όλλωνος, ἐπεὶ ἕξει] τὴν στήλ/[λην ἐξεμπλάριον]; (Petzl, 1994, Nr. 111, 5–8) διὰ τοῦτο οὖν πα/ρανγέλω πᾶσιν μδέ/να κα[τα]φ[ρονῖν] τῷ θεῷ, ἐπὶ ἕξει τὴ[ν σ]τήλην ἐξον/πλάριον. In diesen Textauszügen unterstreicht die Verwendung der Termini μαρτύριον und ἐξονπλάριον (eine Entlehnung des lateinischen exemplarium) die starke moralische Instanz dieser Inschriften. 61 Dazu vgl. Gordon, 2004. Zu diesem Thema vgl. auch Chaniotis, 2004. 62 Diese Formel scheint in den christlichen Grabinschriften Lykaoniens besonders verbreitet zu sein. Hier eine kleine Zusammenstellung: MAMA VII, 542 (IGC 173); MAMA I, 74, 161, 205 (IGC 521, 376, 605); SEG LII, 1365, 1458, 1459 (IGC 619, 536, 758).

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Ich, Flavia Maria aus Seleukeia, errichtete (das Grab) für meinen Mann Paulos, ordinarius aus der Reihe der campiductores, zum Gedenken. Und wenn einer Hand anlegt, wird er sich vor der Trinität verantworten müssen.

Im Text fällt wieder die Verwendung der ersten Person auf, sowie der Ersatz des Terminus Theos durch Trias in der eumenischen Formel. Wichtig ist auch die Vorstellung der bösen Hand, die dem Grab (wie auch den Menschen) Schaden zufügen kann. Es handelt sich um eine Vorstellung, die, wie gezeigt werden soll, auch in nichtchristlichen Kontexten vorkommt. Die Veränderung bzw. Manipulation der sog. eumenischen Formel in den christlichen Grabinschriften dieser Region ist paradigmatisch für die Art und Weise, wie die Christen sich ein nichtchristliches Formular aneigneten, das am besten ihren Vorstellungen entsprach, und es veränderten. Die Nichtchristen, die vielleicht von der Existenz der Trias auch wussten, werden in diesem Fall nicht angesprochen bzw. exkludiert. Schließlich sei auf die folgende Akklamationsformel, die sich am Beginn einer Grabinschrift aus dem 4. Jh. befindet, kurz aufmerksam gemacht: MAMA VII, 128 = IGC 168: Ἁ(γία) Τριάς. / ​Μενεας / ​Δύου / ​ζῶν / ​κὲ προ / ​νῶν / ​ἁτῷ / ​κὲ Αὐ/ριλία / ​Ξευνα. Heilige Trinität. Meneas, Sohn des Dyos (? Deios? Douos?), zu Lebzeiten und bei (vollem) Bewusstsein, für sich selbst und für Aurilia Xeuna.

Auch in diesem Fall wird die Grabstätte durch die Verwendung einer Akklamationsformel, die wahrscheinlich laut vorgetragen wurde, unter den Schutz der Trinität gesetzt. Die Christen bedienen sich wieder einer Form der sakralen Kommunikation (in diesem Fall der Akklamation), die in ihrer Lebenswelt verbreitet war.63 All diese epigraphischen Dokumente legen ein wichtiges Zeugnis für die Art und Weise ab, wie die Trinität in Phrygien die traditionellen Gottheiten beim Gräberschutz ersetzt hatte, darüber hinaus zeigen sie uns nochmals ihre Bedeutung bei den sakralen Praktiken der lokalen frühchristlichen Gemeinden.

6. Der soziale Status der Christen und die Rechenschaft vor Gott Im Bereich der Grabsitten bleibend, möchte ich zwei weitere epigraphische Dokumente kurz behandeln, welche wie folgt lauten:

63 Zur Akklamation als Medium religiöser Kommunikation verweise ich auf Chaniotis, 2009, mit weiteren Literaturhinweisen zu dieser Form religiöser Kommunikation, die auch im politischen und sportlichen Bereich verwendet wurde.

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MAMA I, 164 a = IGC 230: Τειμόθεος πρεσβύτ̳ε̳ρος ἀν̳έ̳σ/τ̳η̳σα τ̳ῇ̳ ἀδελφῇ̳ ̳μ̳ου Ἀμ̳μ̳εια μ̳ν̳ή/μ̳η̳ς χάριν. ὃς δὲ ἂν̳ ̳ἕ̳τερος ἐπ/εν̳β̳άλῃ, δώσει λόγον τῷ / ​θεῷ. Ich, Teimotheos, der Presbyter, errichtete (das Grab) für meine Schwester Ammeia, zum Gedenken. Sollte ein anderer (einen Leichnam) hineinlegen, wird er vor Gott Rechenschaft ablegen. MAMA I, 164 = IGC, 510: [Μεν]ν̣εας Κυριακοῦ πρε(σ)β(ύτερος) / ​ [ἀνέσ]τησα τῷ γλυκυτάτῳ / ​[μου] ἀδελφῷ Αὐγούστῳ / ​[κὲ ἐ]μαυτῷ ζῶν μνήμης / ​[χάρι]ν. εἰ δέ τις ἕτερόν / ​ [τινα] ἐπενβάλῃ, δώσι λό/[γον τ]ῷ θεῷ. Ich, Menneas (?), Sohn des Kyriakos, Presbyter, errichtete (das Grab) für meinen liebsten Bruder Augustos und für mich selbst, zu Lebzeiten, zum Gedenken. Wenn aber einer einen anderen (Leichnam) hineinlegt, wird er Rechenschaft ablegen vor Gott.

Beide Inschriften, die sich auf die Zeitspanne zwischen dem 3. und 4. Jh. datieren lassen, sind auf einem Block aus Kalkstein angebracht und auf einer polierten Oberfläche, welche die Form einer Tafel reproduziert, aufgeschrieben worden. In beiden Fällen handelt es sich um Presbyter, welche sich um den Bau der Grabstätten ihrer Angehörigen (eine Schwester namens Ammeia und ein Bruder namens Augustus) gekümmert haben: Der familiäre Charakter steht im Vordergrund bei beiden Texten.64 In diesem Fall soll der soziale Aspekt des Terminus presbyter berücksichtigt werden, der dafür eingesetzt wird, um die soziale Stellung dieser Menschen zum Ausdruck zu bringen. Eine derartige Praxis ist auch in vielen nichtchristlichen Inschriften dokumentiert, wo auch Priester in Weihungen familiären Charakters ihre Berufsbezeichnung einsetzten, um ihre soziale Stellung zur Sprache kommen zu lassen.65 Schließlich sei auch auf die Formel δώσει λόγον τῷ / ​θεῷ, auch eine Variante der eumenischen Formel, sowie auf die Verwendung der ersten Person bei den beiden Texten aufmerksam gemacht, welche der Inschrift einen starken persönlichen Charakter verleiht. Das nächste Dokument ist eine Grabinschrift aus dem Gebiet von Laodicea Combusta, welche das Ehepaar Aurelios Aniketos und Septima Pomponia Magna zusammen mit ihrem Sohn Dionysios, auf einer Platte aus grauem Marmor anbringen ließen. MAMA XI, 271 = IGC 1521: Αὐρ(ήλιος) Ἀνείκητος  – Παύλου πολείτ̣[ης] / ​κὲ Σεπτιμία Πονπωνία Μάγνα [ἅ]/​μα τῷ γλυκυτάτῳ ἡμῶν οἱειῷ Δ[ι]/υνεσίῳ ζῶ-ν̣τ[ες] τὸ μνημῖον κα/τισκευάσα[μεν· εἴ τις] μ̣ετὰ τὰ ἔγο/νά μου ἕτε[ρον ἐπεν]βάλι ἢ χῖρα / ​κακὴν προσ[οίσει 64 Die zentrale Rolle der Familie auf dem Land in Phrygien ist vor kurzem wieder von Thonemann, 2013, betont worden, der nützliche epigraphische Texte zu diesem Thema zusammengestellt und kommentiert hat. Zu den Familienbildern auf den phyrgischen Stelen vgl. auch Masséglia, 2013, 116–122. 65 Zu dieser Praxis vgl. allgemein mit einer Zusammenstellung epigraphischer Zeugnisse Chiai, 2009, 68–73; eine nützliche Zusammenstellung des epigraphischen Materials aus Kleinasien in Gary, 1995, 77–111, welcher betont, dass (77) „the epitaphs suggest that Christians were present at the highest levels of the social hierarchy in some cities of Anatolia long before the time of Constantine“; in Bezug auf den lateinischen Westen Carletti, 2008 a, 59–62.

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τού]τ̣ῳ τῷ μνιμίῳ, / ​ἠσχήσι π[ρὸς τὸ]ν βραχίονα τ/ὸν ὑψηλ[ὸν ] / ​κὲ τὴν κ̣[ρίσιν τὴν] ἐρχομέν/ην. Wir, Aurelios Aniketos, Sohn des Paulos, Ratsherr, und Septimia Ponponia (Pomponia) Magna erstellten zusammen mit unserem liebsten Sohn Dionysios zu unseren Lebzeiten das Denkmal. Wenn jemand nach meinen Nachkommen einen anderen hineinlegt oder in übler Absicht Hand an dieses Denkmal legt, wird er sich vor dem hoch erhobenen Arm verantworten und dem Gericht, das da kommt.

In der Inschrift, verfasst in erster Person Plural, steht der familiäre Charakter wieder im Vordergrund, darüber hinaus fällt der Terminus πολείτης auf, mit dem Aurelios Aneiketos seinen sozialen Status als Ratsherr der lokalen Gemeinden zum Ausdruck bringt. Dies zeigt wieder die Art und Weise, wie bei den Christen auch die Inschriften als Medium zur Bekanntmachung ihrer eigenen sozialen Stellung in der Gemeinde benutzt wurden. Der Text, chronologisch auf das 2.–3. Jh. gesetzt, liefert verschiedene Hinweise für eine christliche Identität dieser Familie. Der Vater des Aurelios heißt Paulos, der Ausdruck βραχίων ὑψηλός ist ein Zitat aus dem Alten Testament66 und die Formel τὴν κ̣[ρίσιν τὴν] ἐρχομέν/ ην entspricht der christlichen Vorstellung des göttlichen Gerichtes. Eine weitere interessante Variation bei der Verwendung der Fluchformeln gegen Grabschänder ist bei einer anderen Grabinschrift aus dem Gebiet von Ikonion anzutreffen, welche wie folgt lautet: SEG VI, 436 = IGC 312 (Ikonion, 2.–3. Jh.): Σεμνο/τάτη Δό/μνα στήλη/ν Παύλῳ ἀνέθηκε·  / ​ ἐὰν δέ τις ἐ/πισβιά[σητ]ε, π/άσχῃ πρὸς τ[οῦ] / ​ἐρχομέ[ν]ο[υ] / ​κρίν[ειν ζῶντα]ς / ​καὶ [νεκ]/ ρούς. Die ehrwürdigste Domna errichtete für Paulos einen Grabstein. Wenn aber jemand (dem Grabstein) Gewalt antut, dann soll er leiden durch den (sich verantworten vor dem), der da kommt, um zu richten die Lebenden und die Toten.

Der Text ist diesmal in dritter Person verfasst; das Attribut σεμνοτάτη hebt die besondere Frömmigkeit dieser Frau hervor, welche den Grabstein errichtete bzw. weihen ließ. Denn interessanterweise hat sich diese Frau nicht für die zu erwartende Form ἀνέστησε, sondern für ἀνέθηκε entschieden, das Verb, das bei Weihungen normalerweise von den Nichtchristen benutzt wird. Es sei auch gesagt, dass diese betrachtenswerte Abweichung vielleicht in Zusammenhang mit dem besagten Attribut σεμνοτάτη steht, mit dem die Weihende ihre Frömmigkeit unterstreicht: Die Stele sowie die Grabstätte werden schließlich Gott geweiht und hiermit unter seinen Schutz gestellt. In der Warnung gegen Grabschänder bietet die Inschrift weitere Besonderheiten: Solle jemand gegen die Grabstätte Gewalt ausüben, möge er leiden durch denjenigen der kommt, um die Lebenden sowie die Toten zu richten. Es handelt sich um eine seltsame Formulierung, die eine 66 Βραχίων ὑψηλός oft in der Septuaginta (Auszug aus Ägypten), dann in Act 13,17. Vgl. aber auch Weish 11,21: καὶ κράτει βραχίωνός σου τίς ἀντιστήσεται.

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Parallele in der vorigen Inschrift in dem Ausdruck π[ρὸς … τὴν κ̣[ρίσιν τὴν] ἐρχομέν/ην sowie in einem anderen Dokument aus Philomelion findet, in dem die Formel λόγον / ​τῷ μέλλοντι κρεί / ​νειν ζῶ[ν]τας κὲ / ​νεκρούς vorkommt.67 Im Vordergrund dieser Texte steht die Vorstellung des Gottes, der eines Tages als Richter kommen wird, um die Verbrecher zu bestrafen. Es handelt sich um eine Vorstellung, die, wie zuvor gesagt, interessante Kontaktpunkte mit der Idee des allmächtigen Gottes als Richter, der die Ungerechtigkeiten bestraft, die in verschiedenen nichtchristlichen Inschriften aus dem Land ebenfalls vorkommt. Das nächste Dokument liefert ein interessantes Beispiel für lexikalische Konvergenz. Es handelt sich um eine Grabinschrift, datiert auf das 2. Jh., welche wie folgt lautet: SEG XLVII, 1754 = IGC 1802: Πάπιας Ἀλεξάνδρῳ ἐποίασα ταύτη/ν τὴ̳ν ἰστήλην πᾶσι τοῖς ἐμοῖς μνήμη/ς χάριν · τίς ἂν δὲ τούτῳ τῷ μνημίῳ / ​κακὴν χεῖρα προσαγάγαι, ἕξει / ​πρὸς τὸν Παντοκράτορα Θεόν. Ich, Papias, Sohn des Alexandros, machte den Grabstein für all die Meinen, zum Gedenken. Wer an dieses Denkmal seine böse Hand anlegt, wird sich verantworten vor dem allherrschenden Gott.

Im Text fallen wieder die Verwendung der ersten Person Singular sowie die Vorstellung der bösen Hand, die dem Grab Schaden zufügen kann, auf. Das Besondere in dieser Inschrift ist jedoch der Einsatz des Machtattributes παντοκράτωρ, mit dem die Allmächtigkeit des angerufenen Gottes unterstrichen wird.68 Die Verwendung dieses Epithetons, wie ὕψιστος häufig in der Sprache der Septuaginta belegt,69 soll im Kontext der lokalen phrygischen Religiosität betrachtet werden, in der allmächtige und stark ortsgebundene Gottheiten verehrt wurden, denen in den Inschriften ähnliche Beinamen zugewiesen werden. Was die Bildungen mit pan‑ betrifft, dokumentieren die einheimischen sakralen Weihungen

67  Röhr, 2009, 333, Nr. 931 (IGC 625). Zur Bezeichnung Gottes als ἐρχόμενος κρίνειν ζῶντας καὶ νεκρούς vgl. Robert, 1960, 406; Trebilco, 2002, 75–76, Anm. 64 mit einer Zusammenstellung der Textstellen aus dem Alten und Neuen Testament, in denen die Vorstellung Gottes als Richter vorkommt. Eine Arbeit, in der die epigraphischen Zeugnisse zusammengestellt und ausgewertet werden, steht noch aus. Hier eine kleine Zusammenstellung aus Phrygien: SEG VI,319 (ICG 383); Röhr, 2009, 333, Nr. 931 (IGC 625); MAMA VI, 225 (IGC 693). 68 Zur Entstehung und Verbreitung dieses sakralen Epithetons vgl. Montevecchi, 1957; Capizzi, 1964. Dieses Attribut wird beispielsweise auch Zeus zugewiesen, wie Inschriften aus dem Gebiet von Nikaia (IvNik. 1121,1512) belegen. Aus dem bekannten Rachegebet aus Phazemonitis (SEG L, 1233) wird der anonyme allmächtige Gott mit der Formel κύριε παντοκράτωρ angerufen, dazu vgl. Marek, 2000, 137–138. Es sei auch gesagt, dass die Kombination der Epitheta κύριος und παντοκράτωρ in christlichen Inschriften häufig vorkommt, dazu vgl. Marek, 2000, 145, Anm. 8 mit Parallelen aus epigraphischen Dokumenten und christlichen Autoren; zur Verwendung dieses Attributes in den Fluchformeln gegen Grabschänder vgl. auch Feissel, 1980, 463–465; Gibson, 1975. 69 Dazu vgl. Lampe, 1961, 1005; Bauer / ​Wilbur, 1957, s. v.

Christen und christliche Identität(en) in den Inschriften des kaiserzeitlichen Phrygiens 109

auch neue Termini wie πανύψιστος oder πανηπέκοος,70 Neologismen, die als eine Art Elativ zu betrachten sind, mit dem die Superiorität dieser göttlichen Wesen den anderen Göttern gegenüber betont werden konnte.71 So konnte der Ausdruck ἕξει / ​πρὸς τὸν Παντοκράτορα Θεόν nicht nur Christen und Juden, sondern auch Nichtchristen ansprechen, welche beispielsweise in den Beichtinschriften aus den ländlichen Heiligtümern gelesen hatten, was den Menschen, die eine solche Warnung ignoriert hatten, passieren konnte. Die Häufigkeit der sakralen Attribute auf pan‑ in Gebeten und Hymnen aus den magischen Papyri72 könnte die Vermutung nahelegen, dass die Verbreitung derartiger Attribute in den Weihungen aus der Spätkaiserzeit auf einen Einfluss dieser Texte zurückzuführen ist. Als weiteres Dokument, um diese Konvergenzen weiter zu besprechen, möchte ich eine Grabstele aus dem Gebiet von Akmoneia heranziehen, auf der man die Gestalt dreier mit Mänteln bekleideten Figuren erkennt, über denen ein Kranz, der wahrscheinlich dem Verstorbenen geweiht wurde, abgebildet ist. Zwei korinthische Säulen und ein Giebel umrahmen die Abbildungen. Die Inschrift lautet: SEG XV, 801 = IGC, 1362: Αὐρ. Νάνα Μηνοφίλου / ​κατεσκεύασεν τὸ / ​μνημῖον τῷ υἱῷ Εὐ/ φήμῳ ἐκ τῶν ἀπολει/φθέντων ὑπὸ αὐτοῦ / ​ὑπαρχόντων. / ​ὃς ταύτῃ τῇ ἰστήλῃ / ​κακοεργέα χεῖρα / ​προσοίσι, ἔστη αὐτῷ / ​πρὸς τὸν θεόν. Aurelia Nana, Tochter des Menophilos, errichtete das Grabdenkmal für ihren Sohn Euphemos, mit den Mitteln, die dieser hinterlassen hat. Wer an diesen Grabstein mit böswilliger Hand rührt, wird Rechenschaft ablegen vor dem Gott.

Eine Mutter, die bestimmt nicht mittellos war, hat für den Bau einer Grabstätte für ihren verstorbenen Sohn gesorgt. Weder der Text noch das Relief liefern Hinweise für die Zuweisung dieses Dokuments auf eine bestimmte Glaubensrichtung: Aurelia Nana, Tochter des Menophilos und Mutter von Euphemos, hätte sowohl eine Jüdin (wahrscheinlich), eine Christin (ich denke nicht), oder eine Nichtchristin (sehr wahrscheinlich) gewesen sein können. Die Drohung der Schlussformel musste jedenfalls für alle verständlich gewesen sein, die wussten, wie furchtbar der Zorn Gottes sein konnte. So lässt sich dieses Denkmal im Kontext der regionalen Religiosität betrachten. 70 Vgl. beispielsweise die folgenden zwei Weihungen aus Phrygien: SGO 16/44/01: Ζηνὶ πανυψίστῳ / ​Χαρίτων Δοκιμε[ὺς] / ​ἀνέθηκεν εὐξά/μενος στήλην / ​ἀγλαίσας παλά/μαις; MAMA I, 8: Λόνγος Δ/ίου/ὺς̣ ὑπὲρ κα/πῶν πανεπηκόῳ / ​θεῷ – Λόνγος / ​Διονυσίο[υ] / ​[ἱε]ρεὺς Σώσζον / ​ τι εὐχήν. 71 Dazu Betrachtungen bei Chaniotis, 2010, 128–132 und Belayche, 2010, 141–166. 72 Hier seien einige Beispiele angeführt: (PMG II, 86–87)  Ἠέλιε κλυτόπωλε, / ​Διὸς γαιήοχον ὄμμα παμφαές; (PMG IV, 2724) (Ἄρτεμι) πανδαμάτειρα; (PMG IV, 2279–80) (Ἄρτεμις) ἡ σώτειρα, πανγαίη, κυνώ, / ​Κλωθαίη, πανδώτειρα; (PMG IV, 2275–77)  Ἰὼ πασικράτεια / ​καὶ  Ἰὼ πασιμεδέουσα.  Ἰὼ παντρε/φέρουσα; (PMG VΙ, 22) πανυπέρτατε (Ἄπολλον).

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Die Vorstellung des Gottes als gerechter Richter, der vor dem Verbrechen warnt, kommt in der in den Grabinschriften Phrygiens verbreiteten Formel „bei Gott, tue kein Unrecht“ τὸν θεόν σοι· μὴ ἀδικήσεις besonders zur Sprache. Auch in diesem Fall sind wir nicht immer imstande, die Inschrift als christlich, jüdisch oder nichtchristlich einzuordnen. Im Jahre 1932 widmete der Epigraphiker Adolf Wilhelm dieser Formel eine Studie,73 in der er überzeugend zeigen konnte, dass der Dativ σοι mit einem possessiven Sinn verwendet wurde. Die Formel kann somit zweideutig interpretiert werden: „bei deinem Gott, tue (dem Grab) kein Unrecht“, oder „Tue Deinem Gott (der dieses Grab schützt) kein Unrecht“. Hinsichtlich der Fragestellung dieses Sammelbandes erweist sich dieser Dativ als aufschlussreich. Denn hiermit konnten (auf einer persönlichen Ebene) sowohl Christen als auch Nichtchristen angesprochen werden, bei deren Kultpraktiken, wie mehrfach erwähnt, eine starke monotheisierende Tendenz festzustellen ist. Diese epigraphischen Zeugnisse zeigen uns, dass die Christen (ähnlich den Nichtchristen) gemäß den lokalen Sitten versuchten, durch die Autorität des Göttlichen ihre Gräber vor Grabräubern zu schützen und sich häufig sakraler Wendungen bedienten, die auch Nichtchristen ansprechen konnten.

7. Die phrygischen Türsteine Die Christen haben sich auch der traditionellen phrygischen Türstelen und Türsteine für ihre Grabdenkmäler bedient. In diesem Zusammenhang können wir nicht ausführlich auf die symbolische Bedeutung dieses Typs von Grabdenkmal eingehen,74 welches wahrscheinlich die Schwelle zum Jenseits, dem neuen Wohnsitz der Verstorbenen, darstellte.75 Es soll jedoch hinzugefügt werden, dass dieser Denkmaltyp nur in den ländlichen Gebieten dokumentiert ist. Unter den vielen auf diesen Denkmälern angebrachten Inschriften habe ich den folgenden Text, datiert um die Mitte des 3. Jh., ausgewählt, der auf einem Türstein aus grobem weißem Marmor, aus dem Gebiet von Akmoneia, an73  Vgl. Wilhelm, 1932. Bei seiner Interpretation hatte sich der Gelehrte auf die Beobachtung von Wilamowitz-Moellendorff, 1895, 140–141, gestützt, der zufolge in der Sprache der Tragödie die Besitzverhältnisse bei Verwandtschaftstermini durch den Dativ ausgedrückt werden: „Das Drama drückt in der Anrede das possedere Verhältnis bei Verwandschaftswörtern durch den Dativ aus, θύγατέρ μοι, τέκνον μοι, γύναι μοι. Der Genetiv ist überhaupt nicht üblich“. Zu dieser Formel vgl. auch Robert, 1940, 34–35; Gibson, 1978, 62–64. 74 Marc Waelkens (Waelkens, 1986) haben wir die wichtige Zusammenstellung dieser Denkmäler zu verdanken. Die Produktion der Türgrabreliefs erstreckt sich in Phrygien vom frühen 1. Jh. n. Chr. bis zur Mitte des 3. Jh. n. Chr. Es sind keine Türsteine belegt, die in die vorrömische Zeit datiert werden können. Zur Funktion und Verwendung dieser Grabdenkmäler vgl. auch Beobachtungen in Drew-Bear / ​Lochman, 1996, welche ihre Funktion als Bausteine für Fassaden von Grabkammern betonten. 75 Dazu vgl. Waelkens, 1986, 21–36; Lochman, 2003, 147–152; Roosevelt, 2006; Schörner, 2005. Kelp, 2008; Kelp, 2013.

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gebracht wurde. Auf dem Denkmal über der Tür erkennt man die Porträts der Verstorbenen, die nach dem lokalen Brauch ihre Hände auf die linke Brust legen; in den Feldern der Tür befinden sich ein Schlossblech, ein Korb, ein Diptychon und ein Kamm, während unter der Tür ein Pflug steht. Die Inschrift ist leider fragmentarisch76: MAMA VI, 322 = IGC 987: —‑ τον σ]ύνβ̣ιον ἐτίμησ/εν ἔτι ζῶσα / ​κ̳ὲ Τελεφόρος. τὸν θεόν σοι· μ̳ὴ ἀ/δικήσεις. / ​(5) --------------------------ΕΥ-------------------- / ​--νύ[ν]φη-----------------‑ / ​-------------------------------- / ​---------------------ἔτι ζῶσιν. … ehrte sie den Lebensgefährten noch zu ihren Lebzeiten, und Telesphoros. Bei Gott! Tue kein Unrecht! – … Braut (?) … ihnen … noch zu Lebzeiten.

Eine Betrachtung der Inschrift als christlich scheint mir unwahrscheinlich: Es fehlen christliche Symbole, wenn auch der Eigenname Τελεσφόρος in christlichen Grabinschriften vorkommt.77 Hinsichtlich der lokalen Bräuche verdient die Verwendung des Verbs ἐτίμησ/εν besondere Aufmerksamkeit. In vielen Grabinschriften Phrygiens dokumentiert diese Verbalform, dass die Verstorbenen nicht nur geehrt, sondern auch als Götter häufig zusammen mit Zeus Bronton verehrt wurden.78 Der Ausdruck τὸν θεόν σοι· μὴ ἀδικήσεις sollte jedenfalls reichen, um das Grabdenkmal vor Schändungen zu schützen: Alle wussten, was hätte passieren können. Dieselbe Situation ist auch bei einem anderen Türstein festzustellen, welchen der Steinmetz Euphemos errichten ließ. Hier lautet die Warnung:79 „(Bei Gott!) Tue Dir kein Unrecht! Wenn aber jemand ein Unrecht tut, soll es ihm doppelt widerfahren!“ Auch in diesem Fall sind keine sicheren Indizien zu gewinnen, welche die Zuweisung des Denkmals an eine bestimmte Glaubensrichtung ermöglichen. Als weiteres Beispiel kann kurz ein Fragment einer Stele aus weißem Marmor erwähnt werden, auf dem man die Formel τὸν θεόν σοι· μὴ ἀδικήσεις liest.80 76 Zu

diesem Text vgl. auch Gibson, 1978, 62; Waelkens, 1986, 160–161.  Vgl. MAMA X, 169 (IGC 1192); SEG VI, 137–140 = SGO 16/31/93 (IGC 1689); SEG XV, 800 (IGC 1361). 78  Zu diesem Phänomen vgl. Ramsay, 1885; Waelkens, 1993; Paz de Hoz, 1997, und mit einer Zusammenstellung und Auswertung epigraphischer Texte vgl. Chiai, 2010 b. Allgemein zur Vergöttlichung privater Personen im römischen Reich verweise ich auf die wichtige Arbeit von Wrede, 1981. Zum Unterschied zwischen Totenverehrung und Totenehrung verweise ich allgemein auf Garland, 1985, 104–120 in Bezug auf die Pflege und Ehrung der Grabdenkmäler. 79 MAMA VI, 321 = IGC 986: [τὸν θεόν σοι· μὴ] ἀδικήσεις. εἰ δ[έ] τ̣ις ἀδικ[ή]/[σει, τὰ]/ [διπλᾶ] / ​αὐτῳ / ​γένοι/το. / ​[χέρε(?)]τε / ​Εὔ/φη/μος / ​λα/τύ/π/ος. / ​[– – – – – – – – – – –]υτου[․․  / ​ μονου[․․․․․․․․․․․․]ς εἵνεκα μ[νη] / ​[μο]σύνης [․․․․․․․․․․] τοῦ κὲ Πείσων[ος]. „(Bei Gott!) Tue kein Unrecht! Wenn aber jemand ein Unrecht tut, soll es ihm doppelt widerfahren! – … Seid gegrüßt (?) / ​Im 305. Jahr (?).Euphemos, der Steinmetz. – … wegen des Gedenkens … und des Peison (?)“ 80 SEG XV, 800 (IGC 1361): A) Τελεσφόρος καὶ Τειμό-λ-αος Ὀνησί{μον}μ / ​πατρὶ καὶ Τατει μητρὶ καὶ Ξενίῳ / ​καὶ Ἀμίας ἀδεφῶς / ​μνήμης ☩(χ)άρις. τὸν θεὸν σοί· μὴ ἀδι{σ}/κήσεις. B) Μενναδρους Δοκιμεὺς ἐπώλησα. 77

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Wie alle anderen Grabdenkmäler ist auch diese Stele mit hochwertigen Reliefs geschmückt. Abgesehen von dieser letzten Stele, erstellt in der Werkstätte von Menandros in Dokimeion, wo ein Kreuz vorhanden ist, sind in allen anderen Denkmälern keine sicheren Hinweise für eine christliche oder jüdische Glaubensrichtung zu finden. Warum das? Eine mögliche Antwort könnte sich meiner Meinung nach bei einer näheren Betrachtung der Denkmäler selbst ergeben. Es handelt sich um hochwertige Kunstwerke, die sich nicht alle leisten konnten. Dies spricht dafür, dass diejenigen, die in diesen Grabstätten bestattet wurden, Mitglieder der lokalen Oberschicht waren, stark hellenisiert und wahrscheinlich auch in der Philosophie gut bewandert. Diese Inschriften zeigen den Glauben an einen allmächtigen und monotheisierenden Gott, der nicht nur in den lokalen religiösen Praktiken verehrt, sondern auch im philosophischen und literarischen Diskurs häufig thematisiert wurde (man spricht zu Recht von einer Rhetorik des Monotheismus im literarischen Diskurs dieser Zeit81). Die Verbreitung christlicher Glaubensvorstellungen sowie die Faszination des Judentums dürften auch eine wichtige Rolle gespielt haben, aber in diesen Fällen muss nicht (unbedingt) von Kryptochristen usw. die Rede sein. Hinsichtlich der Fragstellung dieses Sammelbandes kann man von Inklusion sprechen: Diese Sprachdenkmäler waren imstande, sowohl einen christlichen als auch einen nicht christlichen Betrachter anzusprechen. Die Christen, die sich für diese Denkmäler entschieden, zeigen auch, dass sie keine Schwierigkeit mit dieser Bildersprache hatten.

8. Die Grabdenkmäler aus dem oberen Tembristal und die Bilderwelt der Christen Nun möchte ich die Grabstelen aus dem oberen Tembristal behandeln, auf denen die bekannte Formel Χρηστιανοὶ Χρηστιανοῖς (Christen für Christen) vorkommt,82 ohne jedoch auf das Problem der Montanisten und der Rolle dieser Sekte in Phrygien einzugehen. Diese Denkmäler verdienen wegen ihrer Bilder besondere Aufmerksamkeit und in diesem Zusammenhang sollten sie in Bezug auf die Fragestellung behandelt werden, ob und wie sich der „epigraphic habit“ der Grabstelen in dieser Region infolge der Christianisierung veränderte. Im Fall des folgenden Denkmals ist die Grabinschrift auf dem oberen Teil der Stele angebracht worden,83 in der Mitte erkennt man die Abbildung eines Kranzes, innerhalb dessen sich die Inschrift Χρησ/τιανοὶ Χρησ/τιανοῖς zusammen 81 Zu

diesem Begriff vgl. Fürst, 2013, 14–29. vgl. die grundlegende Zusammenstellung von Gibson, 1978; zum Problem der christlichen Identität dieser Denkmäler vgl. Johnson, 1994; zur Verwendung des Terminus Χρηστιανὸς / ​Christianus in den Inschriften vgl. mit einer Zusammenstellung und Auswertung der epigraphischen Belege Pietri, 1996, 183–191. 83 SEG ΧΧVIII, 1096 = SGO 16/31/77 = IGC 1153: Αὐρ. Εὔτυχος Μενάνδ[ρου] / ​κ̳ὲ Πρόκλα τέκνῳ Κυρίλλῳ κ̳ὲ [νύ]/μφῃ Δόμν̳ῃ κ̳ὲ ἐγγόνῳ Κυριακῷ / ​κατ̣αλιπόντες τ̣έκνα ὀρφανὰ 82 Dazu

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mit einem eingeritzten Kreuz befindet. Auf dem mittleren Register erkennt man ein Diptychon und ein Stilus, eine Spindel, einen Rocken und einen Kamm.84 Im unteren Register sind ein gesatteltes Pferd und ein Ochsengespann mit Pflug abgebildet worden. Solche Bilder gehören zum Standardrepertoire dieser Stelen und scheinen auf den sozialen Status der Verstorbenen hinzuweisen, die wahrscheinlich zur oberen Mittelschicht auf dem Land gehörten. Auf den Stelen befindet sich der Kranz normalerweise in der Mitte und fällt, weil in Relief, besonders auf.85 Das ist der Grund, warum sich das Kreuz und die Formel „Christen für Christen“ in seiner Mitte befinden: Hiermit beabsichtigt man, dass die christliche Identität der Verstorbenen im Vordergrund steht. In diesem Zusammenhang sei auch die wichtige Rolle, welche Kränze im Totenkult spielen, kurz erwähnt.86 Auf nichtchristlichen Grabstelen und Grabaltären sind häufig Abbildungen von Kränzen anzutreffen, welche den Verstorbenen als Ehrenzeichen gewidmet wurden. Unter diesem Gesichtspunkt scheinen sich auch die christlichen Grabstelen nichtchristlichen zu gleichen. Wenn man einen Schritt weiter mit der Interpretation gehen will, kann auch behauptet werden, dass auch Nichtchristen (ohne Probleme) diese Stele auf Grund ihrer Bilder hätten verwenden können: Christen und Nichtchristen scheinen dieselbe Bilderwelt zu besitzen. Die Texte aus dem oberen Tembristal liefern uns häufig komplexe Familiengenealogien – Hinweis dafür, dass diese Stelen vor Familiengräbern aufgestellt wurden –, aber in manchen Fällen auch interessante Familiengeschichten. Hier ein Beispiel: Ἀλέξανδρον κ̳ὲ Πρόκλαν κ̳ὲ Αὐ[ρ.]/Εὔτυχος ἀδελφῷ Κυρίλλῳ κ̳ὲ ἐνα/τ̣ρὶ Δόμν̳ῃ κ̳ὲ Εὐτυχιανὴς δαέρι / ​[Κ]υρίλλῳ κ̳ὲ ἐνατρὶ Δόμν̳ῃ, / ​Χρησ/τιανοὶ Χρησ/τιανοῖς. „Aurelios Eutychos, Sohn des Menandros, und Prokla für ihren Sohn Kyrillos und ihre Schwiegertochter Domne und ihren Enkel Kyriakos, die die Kinder Alexandros und Prokla als Waisen zurückließen, und Aurelios Eutychos für den Bruder Kyrillos und die Schwägerin Domne, und Eutychianes für den Schwager Kyrillos und die Schwägerin Domne – Christen für Christen“. 84  Es handelt sich um Bilder, welche der weiblichen Lebenswelt angehören, dazu vgl. Masséglia, 2013, 99–102, 114–116 mit Beobachtungen zu diesem geschlechtsbezogenen Bildrepertoire auf den phrygischen Stelen. 85 Dazu vgl. Johnson, 1994, 350–352, der das Vorhandensein des Kreuzes nicht unbedingt als Zeichen für christliche Identität betrachtet: (352), „The concentration of crosses in the products of this workshop and their less common appearance elsewhere (even in the Tembris Valley) appear to confirm that the innovation should be attributed to the particular tastes of the workshop rather than to the demands of the local Christian community ……. Moreover, this circumstance, coupled with the clearly predominant role of the workshop in creating the monuments, suggests that the monuments rightly should be interpreted as an expression of the Christian sensibilities of the stonecutter(s) more than of their Christian customers even though the customers presumably approved of and appreciated the workshop’s products“. Dazu auch Ward-Perkins, 1978, der die Schwierigkeit betont, zwischen dem Angebot an Standardbildern der Werkstätten und der Glaubensrichtung des Auftraggebers zu unterscheiden. Zu den Werkstätten des kaiserzeitlichen Phygiens vgl. auch Waelkens, 1979; Waelkens, 1986, 18–20. 86 Dazu allgemein vgl. Baus, 1982.

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MAMA X, 272 = SEG XXVI, 1192 = IGC 1205: Αὐρ. Ὀνήσιμος / ​κ̳ὲ Στρατόνικος / ​κ̳ὲ Τροφιμᾶς / ​ἀπελάβοσα/ν τὰ ἐπιβα/λόντα αὐτοῖ / ​μέρη· / ​κ̳ὲ μηδέπ[οτ]/ε μηδενὶ [ἐ]/ πενκάλο/ι μηδὲ ἑαυτὸν / ​μηδὲ δι’ ἑτέ/ρου τινός. / ​Αὐρ. Παπύλος Ὀν̳η̳σίμου / ​κ̳ὲ Ἀππης τέκνυς Εὐγε/νίῳ κ̳ὲ Ἀμιας κ̳ὲ ἐγγόνῳ / ​Ἐπικτήτῳ κ̳ὲ Εὐγενίᾳ / ​κ̳ὲ αυτοῖ ζῶτες, κ̳ὲ τὰ τέ/κνα αὐτῶν Παπύλος / ​κ̳ὲ Ἀμιανὸς πατρὶ κ̳ὲ μη/τρὶ κ̳ὲ Ἀρδε[μ]ᾶς(?) κ̳ὲ Ἀμιας / ​κ̳ὲ Τρόφυ[μος ἑκ]υροῖς κ̳ὲ δ/αέρι γλυ[κυτάτ]οι μνήμη / ​χάρι. Αὐρ. Π[απύ]λος κατλίπω / ​λάρκιον κ̳ὲ τὰ ἄρ̣μενα κ̳ὲ τὰ ἐπι/βαλόντα μοι μέρη Παπύλῳ / ​κ̳ὲ Ἀμιανῷ· ἐκκ τούτων καταλ / ​Εὐτυχιαν̳ῇ̳ κ̳ὲ Ἀπ̳π̳ῃ πυ(ρο)κρῖ(?) μέτρα / ​λʹ κὲ τῇ συνβίῳ μου καταλίπω / ​μέτρα λʹ κὲ πρόβατον. Aurelios Onesimos und Stratonikos und Trophimas übernahmen die ihnen zufallenden Erbteile. Und niemals soll einer einem gegenüber einen Anspruch erheben, weder persönlich noch durch einen anderen. Aurelios Papylos, Sohn des Onesimos, und Appes für ihre Kinder, Eugenios und Ammias, und für ihre(n) Enkel, Epiktetos und Eugenia, und für sich selbst zu Lebzeiten; und ihre Kinder, Papylos und Amianos, für Vater und Mutter, und Ardemas (?) und Amias und Trophimos für Schwiegereltern und Schwager, zum Gedenken. Ich, Aurelios Papylos, hinterlasse einen Kohlenkorb und Ausrüstung und die mir zufallenden Anteile dem Papylos und dem Amianos. Davon hinterlasse ich der Eutychiane und der Appes …(?) 30 Maße, und meiner Lebensgefährtin hinterlasse ich 30 Maße und ein Schaf.

Man kann sich fragen, warum eine solche Familiengeschichte erzählt wird. Der Grund ist vielleicht ihre Bekanntmachung. Denn diese Inschrift machte den Willen von Aurelios Paphos bekannt und konnte hiermit innere Familienstreitigkeiten vermeiden. Die Christen scheinen die Bedeutung der Inschriften zur Bekanntmachung eines testamentarischen Willens geschätzt zu haben. Auf dieser Stele erkennt man die Gestalt von einem Mann, einer Frau und einem anderen jungen Mann: Es handelt sich um die Familienmitglieder, die in diesem Grab bestattet wurden. Die Weinranken gehören zum Bilderrepertoire dieser Regionen und sind auch in nichtchristlichen Denkmälern vorzufinden.87 Hinsichtlich der Kontinuität bei der Verwendung einer gemeinsamen Bildsprache verdienen die Reliefs einer anderen Stele aus weißem Marmor besondere Aufmerksamkeit.88 Oben auf der Nische erkennt man zwei Löwen über einem toten Stier. Seitlich der Nische Delphine bzw. Fische, die traditionell zum Bilderrepertoire der Christen gehören.89 Was die Löwen betrifft, haben sie in Phrygien eine alte Tradition. Sie sind beispielsweise die heiligen Tiere der Göttin Kybele90 und deren Vorhandensein auf nichtchristlichen Grabstelen ist als Symbol für 87 Dazu

vgl. Wujeswski, 1991, 40–50; Lochman, 2003, 78–81. 1978, 46–49; Tabbernee, 1997, 190–196, Nr. 26, der die Inschrift als montanistisch betrachtet (IGC 1260). 89 Dazu allgemein Cormack, 2004, 82–86, die auf die wichtige Studie von Wrede, 1976, verweist. Die symbolische Bedeutung dieses Tieres in der Grabkunst wird sehr treffend von Sarah Cormack wie folgt gefasst: (Cormack, 2004, 86) „The significance of the dolphin goes beyond nautical concerns: this creature, extracted from its context as an element of the sea thiasos, suggested the crossing of the sea as a metaphor for the transition to a blessed afterlife“. 90 Dazu allgemein vgl. Naumann, 1983, 49–52. 88 Gibson,

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die Vergöttlichung der Verstorbenen gedeutet worden.91 Die Christen (sowie die Juden) übernehmen dieses ikonographische Motiv und setzen es auf ihre Grabdenkmäler. Unter den gemeinsamen Symbolen, die auch auf Grabstelen vorkommen, kann auch das der erhobenen Hände  – Symbol für das Gebet zum höchsten Gott – erwähnt werden,92 das wir beispielsweise auf einem Türstein93 aus dem Territorium von Synnada sowie auf einer Marmorstele aus dem Gebiet von Nakoleia94 finden. In Bezug auf die Fragestellung dieses Sammelbandes liefern diese Stelen ein gutes Beispiel von Inklusion. Denn die Christen scheinen die lokalen Grabsitten fortzusetzten und ihre Grabdenkmäler unterscheiden sich nur durch das Kreuz und die Formel „Christen für Christen“ von jenen der Nichtchristen. Der nächste Text, den ich behandeln möchte, ist ein Grabepigramm, angebracht auf einem Türstein. MAMA VII, 96 = SEG VI, 345 = Waelkens 1986, 257–258, Nr. 666 = IGC 240: Μ ε̣ῖρος Ἀεντίνου τῶ[ν]  Ἐνκ[ρ]α[τ]ῶν / ​ζῶν κὲ φρονῶν ἀνέστ[η]σεν ἑαυτ/ῷ τε κὲ τῇ ἀνεψιᾷ Τατι [κ]ὲ τῷ ἀδε[λ]/φῷ Παύλῳ κὲ ἀδελφῇ Πρ[ι]βι μνήμ/ης χάριν. εἰ δέ τις τῶν οἰν[ο]/ποτῶν ἐπενβάλῃ, εἴσχι πρὸς τὸν / ​θ(εὸ)ν καὶ  Ἰη(σο)ῦ Χ(ριστό)ν. Meiros, der Sohn des A(v)entinos, aus der Gruppe der Enkratiten (eig. Enkraten), hat zu Lebzeiten und bei Bewusstsein (das Grab) errichtet für sich und die Nichte Tateis und den Bruder Paulos und die Schwester Pribis, zum Gedenken. Wenn aber einer von den Wein‑ trinkern eine Bestattung vornimmt (eig. hineinlegt), dann wird er Rechenschaft ablegen vor Gott und Jesus Christus.

Dieser Mann gehörte zusammen mit seiner Familie zur Sekte der Enkrateis (oder Enkratitai), die den Wein in der Eucharistie durch Wasser ersetzte: Mit dem Terminus οἰνοποτοί (Weintrinkern) sind in diesem Fall die anderen Christen ge91 Zur Bedeutung des Löwen in der religiösen Kultur Phrygiens vgl. allgemein Lochmann, 2003, 209–212; zur Verwendung von Löwenabbildungen in den Grabdenkmälern vgl. Kubi`nska, 1968, 61–63 mit einer nützlichen Zusammenstellung von epigraphischen Zeugnissen aus Phrygien und Lykaonien; dazu auch Robert, 1937, 393–398, der die Verbreitung und Verwendung der Formeln ἀνέστησεν ἑαυτὸν λέοντα und ἀνέστησεν ἑαυτὸν ἀετόν in den Grabinschriften Phrygiens untersucht hat; dazu auch Cumont, 1942, 158–160 Anm. 3; Pfuhl  / ​ Möbius, 1979, 524–528; Wujeswski, 1991, 47–48. 92 Dazu vgl. Cumont, 1923, mit der ersten grundlegenden Zusammenstellung der Stelen (meistens mit Gebeten um Gerechtigkeit), auf denen dieses Symbol vorhanden ist; dazu auch Gross, 1985, 25–29, 97–99. Es kann auch daran erinnert werden, dass dieses Symbol auf der bekannten Stele aus Rheneia belegt ist, auf der ein bekanntes jüdisches Gebet um Gerechtigkeit für den Tod eines jungen Mädchens vorkommt. 93 MAMA IV, 92 = Waelkens, 1986, 201, Nr. 498. Das Denkmal, auf die Zeitspanne zwischen dem 2. und dem 3. Jh. n. Chr. datiert, ist ohne Inschriften. Man erkennt vier Felder mit verschiedenen Abbildungen: Oben links Türklopfer, oben rechts Schlossblech, unten links Kreis mit Kreuz, unten rechts Türklopfer. Links und rechts des Giebels sind die Hände abgebildet worden. 94 MAMA V, 263 (IGC 1433): Μα/σγα/ρις θυ/γατρὶ Ἀμμι[α] / ​μνήμ̣[ης χά]/ρ̣[ιν]. Auf dem Giebel der Stele ist eine Rosette mit einem Kreuz anzutreffen; das Denkmal wird auf die Zeitspanne zwischen dem 2. und dem 3. Jh. n. Chr. datiert.

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meint, welche den Wein bei diesem Ritual verwendeten.95 Laut Epiphanius (Haer. XLVII 399) blühte diese Sekte um 375 noch im Gebiet von Laodicea Combusta96. Eine Inschrift (MAMA VII, 69) erwähnt eine Diakonisse der Enkrateis. Interessant ist auch die Variante des Fluchs (MAMA VII, 96), in der sowohl Gott als auch Jesus Christus genannt werden. Auf dem Türstein, auf dem das herkömmliche Bilderrepertoire vorzufinden ist, sind weder ein Kreuz noch ein anderes christliches Symbol vorhanden. Dieses Denkmal, das in Kındıras gefunden wurde, wird chronologisch in das 3. Jh. gesetzt. Der Anhänger dieser christlichen Sekte hat sich für ein traditionelles Grabdenkmal entschieden, wobei er bei der Inschrift nicht nur seine christliche Identität verkündet, sondern sich von den anderen Christen abgrenzt, die sich nicht zu seiner Glaubensrichtung bekennen. Auch die Anhänger dieser Sekte scheinen keine Schwierigkeit gehabt zu haben, sich des herkömmlichen Bilderrepertoires sowie der traditionellen Grabbauten zu bedienen. Dies könnte darauf hindeuten, dass sie auch im ständigen Kontakt mit der übrigen lokalen Kultur lebten. All die oben betrachteten Denkmäler, wie mehrfach betont, zeigen, wie sich der „epigraphic habit“ der christlichen Grabinschriften infolge der Verbreitung christlicher Lehren nicht wirklich veränderte. Die Christen benutzten die traditionellen Bilder zum Schmuck ihrer Gräber sowie die lokalen Grabbauten und häufig stellt das Kreuz das einzige Symbol dar, welches erlaubt, ein Grabdenkmal als christlich einzuordnen.

9. Die Grabepigramme Zum Schluss möchte ich anhand zweier ausgewählter Beispiele die Epigramme als Quelle zur Untersuchung einerseits der Konvergenzen in der Sprache sakraler Kommunikation der unterschiedlichen religiösen Gruppen,97 andererseits der Modi, wie die Christen ihre Identität bzw. Identitäten zum Ausdruck bringen konnten, heranziehen. 95 Für das Gebiet von Laodicea Combusta sind die folgenden Sekten inschriftlich belegt: Novatianer (MAMA I, 171, 172, 173; MAMA VII, 69, 88, 92, 96; McLean, 2002, Nr. 204; SEG VI, 370), Sakkophoren (MAMA I, 171); Enkratiten (MAMA VII, 69; MAMA I, 233) und Apotaktiten (MAMA I, 173; MAMA VII, 88). Dazu vgl. Mitchell, 1993 b, 100–108; Hübner, 2005, 194–201 und Hirschmann, 2015, 151–183, mit einer Auswertung der epigraphischen Quellen. 96 Dazu vgl. Beobachtungen bei Mitchell, 1993 b, 100 und Hübner, 2005, 196–197; zu dieser Sekte vgl. auch die verschiedenen Beiträge in Bianchi, 1985 und vor kurzem Cosentino, 2015. 97 Nützliches Material zu diesem Thema hat Peres, 2003 in seiner Monographie zusammengestellt. Dazu, wenn auch nicht direkt auf Kleinasien und Phrygien bezogen, vgl. auch Dresken‐Weiland, 2006; Dresken‐Weiland, 2007; Dresken‐Weiland, 2010; Dresken‐Weiland, 2012, mit einer nützlichen Zusammenstellung und Auswertung christlicher Epitaphien. Dazu auch Merkt, 2012, mit einem zusammenfassenden Überblick.

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Der erste Text lautet98: SEG VI, 370 = SGO 14/06/05 = IGC 52: Αὐ(ρηλία) Οὐαλεντίλλη κὲ Λεόν/τιος κὲ / ​ πρ(εσβυτέρῳ) πολλὰ Κτμρος ἀνεσ/τήσαμεν τὴν τίτλ/ον ταύτην Εὐγενίῳ  καμόντος(!) / ​ὑπὲρ τῆς ἁγίας τοῦ θε(ο)ῦ / ​ἐκλησίας τῶν Καθαρῶ/ν ζῶντες μνήμης χάριν. / ​ πρῶτον μὲν ὑμνήσω θεὸ/ν τὸν πάντει ὁρῶντα, / ​δεύτερον ὑμνήσω πρῶ/τον ἄνγελον, ὃς ΤΙCΑΙΤ / ​ΡCΙΝ· Εὐγενίου θανεόν / ​τος πολλὴ μνήμη ἐπὶ / ​γέῃ· / ​Εὐγένιε, νέος θάν/ες· ἠελίοιό σε γὰρ ἐγίνω/σκαν πάντες, / ​ἀντολίη / ​τε δύσις τε μεινβρία / ​τε κὲ ἄρκτος / ​ὄλβῳ τε πλ/ούτῳ τε εὐγενίῃ τε κ/ὲ θάρσι· / ​πένησιν ζῶν θά/ρσος, κώμῃ τ’ ἔξοχος ἁ/πάντων· / ​σὲν Φρυγίη τ’/Ἀσίη τε κὲ ἀντολίη τε / ​δύις τ / ​– – – Wir, Aurelia Valentille und Leontios und Katmaros, haben diesen Grabstein aufgestellt für Eugenios, den Presbyter, der viele Mühen auf sich nahm für die heilige Kirche des Gottes, die den Katharern („Reinen“) gehört – zu unseren Lebzeiten, zum Gedenken. Zuerst werde ich Gott preisen, der alles beobachtet, dann werde ich den ersten Engel preisen, der die „99“ (?) ist (der im Himmel ist?). An den verstorbenen Eugenios gibt es auf Erden eine reiche Erinnerung. Eugenios, du starbst jung. Unter der Sonne kannten dich alle, der Osten und der Westen und der Süden und der Norden, wegen des Glücks und des Reichtums und des Adels und des Mutes. Den Armen warst du zu Lebzeiten Ermutigung, und hervorragend unter allen im Dorf. Dich (kannte? betrauert?) Phrygien und Asien und der Osten und der Westen.

Diese Inschrift, welche in die Zeitspanne zwischen dem 3. und 4. Jh. datiert wird, erweist sich unter anderem anhand des Ausdrucks πρῶτον μὲν ὑμνήσω θεὸ/ν τὸν πάντει ὁρῶντα als interessant. Es handelt sich um eine formelhafte Wendung, die sowohl in nichtchristlichen99 als auch in jüdischen Texten (wenn auch in unterschiedlichen Kontexten) vorkommt und dazu dient, die Allwissenheit Gottes, der vom Himmel alles sieht, zu unterstreichen. Die in der Inschrift erwähnten „Reinen“ sind mit den Novatianern zu identifizieren, eine Gruppe von Christen strenger Moral, die von Novatianus im Jahr 251, nachdem er nicht zum Bischof von Rom gewählt wurde, als eigene Kirche konstituiert wurden. Wie ein reiches Material an Inschriften zeigt, dürfte die Sekte besonders in dieser Region einen beträchtlichen Erfolg gehabt haben.100 In Laodicea Combusta scheinen die Novatianer die vorherrschende christliche Gemeinde gewesen zu sein.

 98 Zu diesem Text vgl. Beobachtungen in Mitchell, 1993 b, 101–102; Hübner, 2005, 196–197 und Hirschmann, 2015, 157–163 mit einem ausführlichen Kommentar.  99 Der folgende Text aus Bithynien, in dem die Vorstellung des einen Gottes, der alles sieht und von den Menschen nicht gesehen werden kann, auftaucht, kann beispielsweise als Parallele herangezogen werden: (SEG L, 1225) Θεῷ ὑψίστῳ / ​ὀμφῇ ἀπκερ / ​σεκόμου βω/μὸν θεοῦ ὑψίσ / ​τοιο, ὅς κατὰ / ​πάντων ἐστὶ/καὶ οὐ βλέπε/ται, εἰσοράᾳ δὲ / ​δειμαθ’ ὅπως / ​ἀπαλάλκηται / ​ βροτολοιγέ/α θνητῶν – „Dem höchsten Gott! Auf Geheiß des langhaarigen (Apollon) (hat aufgestellt) diesen Altar des höchsten Gottes, der alles umfasst und nicht gesehen wird, aber auf alles Übel blickt, damit das Verderben von den Menschen abgewehrt wird“ (Übersetzung von C. Marek). Dazu mit weiteren Literaturhinweisen vgl. Marek, 2000, 135–137 sowie in diesem Band; Chiai, 2009, 83–85. 100 Für Literatur dazu verweise ich auf die Anm. 41, 42, 95, 96.

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Die Inschrift ist auf einem Sarkophag angebracht worden, verziert mit lokalen Schmuckmotiven. Das Kreuz verkündet die christliche Glaubensrichtung des Presbyters. Dieses Sprachdenkmal scheint eine Abgrenzung gegenüber den anderen Christen, die keine Anhänger der Novatianer waren, darzustellen und legt damit ein Zeugnis für Exklusion ab. Die nächste Inschrift stammt aus dem Gebiet von Aizanoi und lautet: MAMA X, 46 = SEG XXX, 1481 = SGO 16/22/05 = IGC 1240: Εὐπρέπην με βλέπι κατμ̣[ενο]/ν ὧδ’ ἐνὶ τύνβῳ / ​ ὃν θρέψε πατ[ὴρ] / ​ Τρόφιμος, Ἀσκληπιοδώρα δὲ / ​ τεκοῦσα, / ​λατομικῇ δὲ τέχν/ῃ κοσμήσαντο γον̳ῆε[ς]. / ​ὠκύμο/ρος δ’ ἔθανον̳ ̳καὶ κάππεσον ἐν/νεκύεσσιν / ​λύπη̳σα δὲ τοὺς ε/ν̳έτας καὶ σύνβιον ἠδὲ φίλους̣ / ​μου / ​καὶ βρέφος Εὐπρεπίαν ἥν / ​μοι δῶκε πατὴρ θεὸς / ​ἐν με λαθρο[ῖ]/σιν. Mich, den Euprepes, siehst du hier im Grabe ruhen, den der Vater Trophimos großzog und die Mutter Asklepiodora auf die Welt brachte. Mit Steinmetzkunst schmückten mich die Eltern. Früh starb ich und stürzte zu den Toten hinab. Schmerz bereitete ich den Eltern und der Lebensgefährtin und meinen Freunden und dem Baby Euprepia, das mir der Vatergott im Hause geschenkt hat.

Dieser Text wird auf Grund des Inschriftenträgers, eines Altars aus lokalem Stein, auf das 2. Jh. n. Chr. datiert. Auf dem Denkmal sind keine Symbole oder Bilder, die auf eine christliche Glaubensrichtung hinweisen können. Der letzte Satz des Epigramms könnte jedoch darauf hinweisen, dass diese Familie in Kontakt mit dem christlichen Glauben trat. Denn der Topos des Gottes, der von oben seine Anhänger mit Geschenken ehrt, ist besonders in den christlichen Texten verbreitet. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Verwendung des Attributes πατήρ aufmerksam gemacht, welches die Vorstellung des göttlichen Vaters, der die Menschen erschaffen hat, verkündet. Eine gute Parallele ist beispielsweise ein epigraphischer Text aus Ankyra, welcher lautet: Ancyra Sidera JHS 17, 288, Nr. 61 = IGC 1237:  Ἐ]λήμενος̣ / ​ἐν ἀθανάτ/οις κατάκε/ιται. Τούτῳ / ​δῶρον ἔδωκ/ε θεὸς βο/ηθεῖν τῇ ἑ/αυτοῦ πα/τρίδι. Philemenos liegt bei den Unsterblichen. Diesem verlieh Gott die Gabe, seiner Heimat Hilfe zu leisten.

In diesem Text ist wieder die Idee des Gottes anzutreffen, dem die Menschen ihre Gaben zu verdanken haben. Aus Phrygien stammen verschiedene Grabepigramme, in denen die Vorstellung des allmächtigen (und anonymen) Gottes vorkommt, dem die Menschen ihre Existenz und Eigenschaften zu verdanken haben.101 In diesen epigraphischen Testimonia, die in diesem Zusammenhang nicht ausführlich behandelt werden können, erweist sich die Anonymität der angerufenen Gottheit, die nicht unbedingt mit jenem der Christen zu identifizieren 101 Hier eine kleine Zusammenstellung: (SGO 16/06/02, 4) δῶκε δέ σοι σοφί/ην θεὸς οὐρανῷ ἐνβα[σιλεύων]; (SGO 16/31/82, 7) θεὸς δῶκε κλέος ἄφθιτον; (SGO 16/45/06, 4) ᾧ πάσας χάριτας θεὸς κατέχεσε π[ροσωπῇ]; (SGO 16/45/82, 4–5) ᾧ πάσας χάριτας θεὸς κα/τέχευσε προσώπῃ // ​ᾧ κὲ μύρι/α μῆλα θεὸς πόρεν ἀγλὰ ἔδωκεν.

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ist, als besonders bemerkenswert: All diese Texte legen ein wichtiges Zeugnis für das Vorhandensein eines Glauben an eine allmächtige und allwissende Gottheit ab, deren Kult jedoch nicht nur in Phrygien, sondern auch in anderen Regionen des römischen Reiches epigraphisch belegt ist102. Diese zwei Inschriften zeigen, wie sich die christlichen Grabepigramme als eine wichtige Quelle erweisen, nicht nur um die sakralen Vorstellungen der lokalen christlichen Gemeinden zu rekonstruieren, sondern auch um die Art und Weise zu erfassen, wie die Christen mit den lokalen bzw. nichtchristlichen Traditionen und Vorstellungen umgingen. Auch in diesem Fall scheinen die Inklusionen mehr als die Exklusionen zu sein.

10. Resümee Unsere Inschriften stellen eine wichtige Quelle dar, um die Art und Weise zu erfassen und zu rekonstruieren, wie die Christen mit den Angeboten ihrer Lebenswelt umgegangen sind und wie sie Kommunikationsformen entwickelt haben, mit denen sie nicht nur ihre Identität als Christen zum Ausdruck brachten, sondern auch die Nichtchristen ansprechen konnten. So drückten beispielsweise die Protagonisten der ersten Inschrift nicht nur durch die Formel [Κ]ύριε βοήτι τῇ δού[λῃ] ihre Identität als Christen aus, sondern konnten durch die Wendung πρὸς τὸ[ν] θε[όν auch die Nichtchristen ansprechen. Wie die Inschrift des Hesychios, des Trinitätspriesters, zeigt, konnten die epigraphischen Texte auch als Mittel verwendet werden, um sich von den Christen anderer Sekten zu distanzieren und dabei zu verkünden, dass ihre Glaubensrichtung die richtige war. Die Idee Gottes als des allmächtigen himmlischen Richters, die in vielen christlichen Texten vorkommt, erweist sich auch als kompatibel mit den lokalen sakralen Vorstellungen, die, wie die Erzählungen der Beichtinschriften oder der Kult der Götter Hosios und Dikaos zeigen, auch die Figur des Gottes als himmlischer Richter kennen: So konnten diese Texte sowohl Christen als auch Nichtchristen ansprechen. Die Inschriftenträger deuten darauf hin, dass 102 SEG L, Nr. 1233 (Phazemonitis): Κύριε Παντοκράτωρ / ​σ ὺ μὲ ἔκτισες, / ​κακὸς δέ με ἄν/ θρωπος ἀπώλε/σεν∙ ἐγδίκησόν με / ​ἐν τάχι. – ,,Herr, Allmächtiger! Du hast mich erschaffen, ein schlechter Mensch hat mich getötet. Räche mich schnell!“ (Übersetzung von C. Marek); IG IX(2), 1/4, Nr. 1024 (Kerkyra): [δ]αίμονες ἀθάνατοι πολλοὶ κατ’ Ὀλύμπιον ἕδρην, / ​ἀλλὰ θεὸς τούτων ἐστὶ πατὴρ ὁ μέγας, / ​ὅς κόσμον διέταξε … – „Viele untersterbliche Dämonen haben ihren Sitz auf dem Olymp, aber ihr Gott ist der große Vater, der die Welt geordnet hat“. SEG XXVIII, 527 (Thessalien): Ζηνὸς ἀπὸ ῥιζης μεγάλου / ​Λυκόφρων ὁ Φιλίσκου / ​δόξῃ ἀληθείαι δὲ / ​ἐκ πυρὸς ἀθανάθου – „Lykophron, Sohn des Philistos, scheint von der Wurzel des großen Zeus ursprünglich zu sein, in Wahrheit bin ich aus dem unsterblichen Feuer“. In einem Grabepigramm aus Thyateira (Lydien) (SGO 04/05/07) kommt die Vorstellung des Zeus als Schöpfers der Seelen vor (Ζεὺς τερπικ[έρ] / ​αυνος / ​τεύξας ἀθάνα / ​τον καὶ ἀγήραον). Eine kleine Zusammenstellung und Besprechung dieser Texte in Chiai, 2010 b, 144–148; Material auch in Robert, 1958.

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die Christen die traditionellen Bauformen weiterverwendet sowie viele Elemente der traditionellen bzw. nichtchristlichen Bilderwelt übernommen und weiter benutzt haben. Auch in diesem Fall kann man sich freilich fragen, ob die Wahl des Grabdenkmals und der Bilder bewusst oder unbewusst war, da die Werkstätten der Region wahrscheinlich mit einem Standardrepertoire arbeiteten.103 Die christlichen Grabepigramme erweisen sich ebenfalls als eine noch nicht ausreichend untersuchte Quelle, um wichtige Kontaktpunkte zwischen den Jenseitsvorstellungen der Christen und Nichtchristen zu finden. All dies stellt zusammen mit den im Lauf dieser Arbeit häufig erwähnten Konvergenzen einen der Gründe dar, warum es häufig schwierig ist, ein Sprachdenkmal mit Sicherheit als christlich zu identifizieren. Das ist die Welt der christlichen Inschriften Phrygiens: eine Welt, in der die Inklusionen die Exklusionen überwiegen.

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Prof. Dr. Matthäus Heil habe ich diese interessante Anregung zu verdanken.

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Nochmals zu den Theos Hypsistos Inschriften* Christian Marek Die christlichen Gruppen gingen aus einer jüdischen Sekte in Palästina hervor und verwandelten drei Jahrhunderte später die religiöse Vielfalt des römischen Imperiums unter der Dominanz einer monotheistischen Weltreligion. Bereits zu Lebzeiten des Apostels Paulus, unter den ersten römischen Kaisern, war die jüdische Diaspora insbesondere in der Osthälfte des Reiches nahezu überall gegenwärtig. Der Seleukide Antiochos III. hatte 2000 jüdische Familien aus Babylonien und Mesopotamien in Phrygien und Lydien angesiedelt,1 jenen Landschaften, in denen wir epigraphischen Zeugnissen zufolge frühe Christennester des ländlichen Kleinasiens lokalisieren können.2 Schon vor dem Auftauchen von Christen übten jüdische Praktiken auf Nichtjuden Anziehungskraft aus: Mit ihnen sympathisierende („judaisierende“) Verehrer wurden „Gottesfürchtige“ (θεοσεβεῖς bzw. σεβόμενοι oder φοβούμενοι τὸν θεόν) genannt. Sie gingen mit in die Synagogen, spendeten, befolgten Speisevorschriften und Lebensregeln. Außer ihrem Vorkommen in der Bibel, bei Josephos und Kyrillos von Alexandria sind sie als distinkte Gruppen an einigen Orten epigraphisch nachgewiesen.3 Von den vielgestaltigen und heterogenen städtischen und ländlichen Kultgemeinschaften des östlichen Imperiums, die man ‚heidnisch‘ zu nennen pflegt, trennte sie beide, Juden und Christen, ein Monotheismus. Indes waren weder die Juden noch die frühen Christen eine in sich einheitliche, kohärente Glaubensgemeinschaft, und im heidnischen Pantheon tauchen mit der Verbreitung des „epigraphic habit“ nicht nur alte und neue Götter erstmals auf, sondern auch neue Gottesvorstellungen. Die religionsgeschichtliche Verwandlung der römischen Welt zwischen dem 1. und 4. Jh. n. Chr. liegt in vielerlei Hinsicht hinter einem Schleier verborgen. In unserer reichen literarischen Überlieferung des christlichen Zeitalters wird manches in vorkonstantinischer Zeit noch Konkurrierende von der aus Distanz * Für die kritische Durchsicht des Typoskriptes danke ich Dr. Ursula Kunnert und Alena Schulz. 1 Josephos AJ 12, 147–153. 2 Gibson, 1978. 3 Die Ausbreitung des Christentums behandeln allgemein Harnack, 1924; Blanchetière, 1977; Mitchell, 1993. Zu den Juden und Gottesfürchtigen (Acta Apostolorum 16, 13–18) Schürer, 1897; Reynolds / ​Tannenbaum, 1987; Trebilco, 1991; Trebilco, 1989, 51–73; Mitchell, 1999, 115–121.

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zurückblickenden, siegreichen Orthodoxie verdrängt oder verkleinert. Umso größere Aufmerksamkeit verdienen bestimmte Phänomene in den über die heidnisch-jüdisch-christliche Welt verstreuten Inschriften in eben jener Epoche. Vor wenigen Jahren ist eine Gruppe von etwa 300 zumeist kurzen Weihinschriften der griechischsprachigen Osthälfte des Imperiums erneut in den Blick geraten, nachdem bereits Ende des 19. Jh. der Göttinger Theologe und Judaismusforscher Emil Schürer eine kleinere, regionale Sammlung von ihnen dahingehend interpretiert hatte, dass sie auf eine distinkte Religionsgemeinschaft zurückgingen, die mit den in der Apostelgeschichte genannten σεβόμενοι θεόν identisch seien.4 Diese Weihinschriften nennen einen „höchsten“ Gott: Theos Hypsistos, gelegentlich Hypsistos allein, oder auch Zeus Hypsistos. Auf wesentlich breiterer Materialbasis widmete ihnen Steven Mitchell eine 1999 publizierte systematische Studie, in der er die These von Schürer erneuerte und erweiterte. Mitchell verweist auf eine von Epiphanios mit dem Namen Messaliani oder Euphemitai, von Gregor von Nazianz als Hypsistarii und von Gregor von Nyssa als Hypsistiani beschriebene Häretiker-Gemeinde, die seitens der Christen zwar als Monotheisten, nicht jedoch als Glaubensbrüder anerkannt wurde.5 Idole und Opfer seien ihnen fremd, sie beten auf offenen Plätzen wie auf fora, wo sie sich abends und morgens versammeln, zünden Lampen und Fackeln an und singen Hymnen. Sie sollen der jüdischen Religion nahegestanden, einen einzigen Gott pantokrator verehrt, Beschneidung jedoch abgelehnt haben. Die ihnen von den Kirchenvätern gegebenen Namen entsprächen freilich nicht ihrer Selbstbezeichnung, die uns, bezogen auf eine Gruppe in Phoinikien und Palästina, allein Kyrillos von Alexandreia verbürge: θεοσεβεῖς.6 Stehen wir, wie Mitchell behauptet, mit den ca. 300 Inschriften des zumeist namenlosen Gottes Θεὸς ὕψιστος vor dem Phänomen einer monotheistischen Sekte, die zu der Zeit wachsender christlicher Lehren zwischen diesen, heidnischen Auffassungen und jüdischen Traditionen stand?7 Bereits Schürers Beobachtungen an den Inschriften des bosporanischen Königreiches sind von verschiedenen Forschern abgewiesen worden. Ich gehe auf diese ältere Diskussion nicht zurück, da sie nur einen Teil der Überlieferung einbezieht.8 Auch die neue These Mitchells stieß bisher auf fast einhellige Ableh4 Schürer,

1897, s. zu den ephesischen Inschriften den Aufsatz von Rhode in diesem Band.

5 Epiphanius Panarion 80, 1–2 (376 n. Chr.) nennt sie Messaliani oder Euphemitai; Gregor von

Nazianz in der Grabrede auf seinen Vater, der der Gruppe angehörte, Hypsistarii (PG 35, 990), Gregor von Nyssa Hysistiani (PG 45, 482). 6 Kyrillos von Alexandreia PG 68, 281–282. 7 Ein ‚Zeus Hypsistos‘ in Makedonien (Pydna) hat unter seinen Verehrern einen archi‑ synagogos: Mitchell, 1999, 131 Nr. 51. 8 Zu den auf Schürer folgenden Beiträgen zur Thematik vor der Publikation von Mitchell, 1999 siehe Bowersock, 2002, 353–355. Von früheren Forschungsbeiträgen sind hier genannt: Nock, 1936, 39–88; zwei russische Artikel, der eine von Irina A. Levinskaya / ​Yulia Ustinova, und ein 1989 posthum publizierter Artikel von Rostovtzeff, 1993 (übers. u. hg. v. Heinz Heinen, ursprüngl. russ. in VDI). Eine ähnliche These hatte bereits Levinskaya 1984 vertreten.

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nung und ausführliche Kritik.9 Ich selbst habe unmittelbar nach ihrer Publikation Texte ediert und kommentiert, die mit der Problematik zusammenhängen, die indes im Lichte der These noch kaum diskutiert wurden, sodass wir hier auf manches zurückkommen werden. Ob und wie weit die Einwände gegen Mitchell durchschlagen, soll im Folgenden untersucht werden. Die bisher ausführlichste Auseinandersetzung stammt von Glen Bowersock 2002. Bevor ich auf seine Auffassung der Theos Hypsistos-Inschriften zu sprechen komme, stelle ich kurz die Problematik der von ihm abgelehnten Gleichsetzung der Hypsistos-Verehrer mit den neutestamentlichen Sympathisanten jüdischer Praktiken vor. Kyrillos ist das einzige Zeugnis, das θεοσεβεῖς mit dem θεὸς ὕψιστος verbindet.10 In der epigraphischen Überlieferung sind diese Leute indes auf Grund begrifflicher Ambivalenzen nicht leicht nachzuweisen. Eindeutig gelingt das bei Gruppen in Aphrodisias und Sardeis. Eine einzelne Inschrift verdient es, in diesem Zusammenhang genauer betrachtet zu werden, da sie je nach ihrer unterschiedlichen Lesung und Auslegung eine weitere bedeutende Gemeinde von θεοσεβεῖς zu den aus Aphrodisias und Sardeis bekannten hinzufügt oder auch nicht. Sie ist eingraviert auf einer der Sitzstufen im Theater von Milet und lautet: τόπος τῶν Εἰουδαίων τῶν καὶ θεοσεβιῶν.11 Forscher haben sie auf dreierlei Weise verstanden: (1) „Platz der Juden, die auch Gottverehrer (sind)“ entsprechend der exakten Wortstellung u. a. von Louis Robert und Bowersock,12 oder (2) „Platz der Juden und der Gottverehrer“ – mit Umstellung von τῶν καὶ zu καὶ τῶν, u. a. von Schürer und Mitchell, und schließlich: (3) „Platz derjenigen Juden, die auch Gottesfürchtige genannt werden“ von Hildebrecht Hommel. Hommel erkannte in den Εἰουδαῖοι die von der Forschung allgemein mit den Sympathisanten jüdischer Praktiken im NT gleichgesetzten Heiden, die eben „gelegentlich als  Ἰουδαῖοι  – sozusagen in Anführungsstrichen  – bezeichnet werden konnten, sofern nur dann gleich die Einschränkung folgt.“13 Es fällt schwer, dieser Interpretation zu folgen. Doch die Alternativen bergen ebenfalls Schwierigkeiten in sich. Es war vor allem Robert, der insistierte, dass den Juden hier ein einfaches Frömmigkeitsepitheton, äquivalent zu εὐσεβής, als ein mehr oder weniger fester Beiname angehängt sei. Eine ähnliche Problematik bietet die Josephosstelle AJ 14, 110, wo gesagt wird, der Reichtum des Tempels in Jerusalem verdanke sich den Beiträgen τῶν κατὰ τὴν οἰκουμένην  Ἰουδαίων καὶ σεβομένων τὸν Θεὸν, was man entweder als: „der Gott verehrenden Juden“, oder Sie wurde zurückgewiesen von Ustinova, 1999, bes. 228, die auch Mitchells Typoskript kannte; s. auch in diesem Band den Aufsatz von Huttner.  9 Bowersock, 2002. 10 Siehe Anm. 6. 11 Hommel, 1975. Der zweite Gentiv Plural ist auf dem Stein ΘΕΟΕΕΒΙΟΝ geschrieben, was hier nicht weiter kommentiert wird. Herrmann, 1998, 124, Nr. 940 III–IV. 12 Robert, 1964, 41–47; Bowersock, 2002, 358; Schürer, 1897, 177–178; Mitchell, 1999, 117–118. Die ältere Literatur bei Hommel, 1975. 13 Hommel, 1975, 184.

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als: „der Juden und Gottverehrer in der ganzen Welt“ verstanden hat. Der überwiegende Teil der Forschung interpretiert im Sinne der zweiten Übersetzung.14 Die von Robert verteidigte Deutung der Theaterinschrift von Milet hat gegen sich, dass die nachgestellte Erklärung, die Juden seien auch „fromme Gottesverehrer“ (τῶν καὶ θεοσεβιῶν), für eine Platzanweisung auf den Zuschauerrängen keinen rechten Sinn macht. Vergleichbare Topos-Inschriften befleißigen sich einer lakonischen Kürze zweckdienlicher Angaben, wie etwa τόπος τεκτόνων in Ephesos, oder ὁ τόπος τρικλείνου ἱερῶν αὐλητρίδων καὶ ἀκροβατῶν in Magnesia am Mäander.15 Unmittelbar verständlich wäre eine Formulierung καὶ τῶν θεοσεβιῶν, doch kommt man nicht ohne die Hypothese aus, der Konzipient der Inschrift oder der Steinmetz hätte zwei Wörter vertauscht. Bowersock macht geltend, dass die aufgezeigten Beziehungen zwischen den neutestamentlichen σεβόμενοι θεόν, den gleich oder ähnlich benannten θεοσεβεῖς in den Inschriften von Sardeis und Aphrodisias und den spätantiken Messalianern, Euphemitai, Hypsistarii, Hypsistiani bei den Kirchenvätern nicht ohne weiteres berechtigten, in ihnen allen eine einheitliche Gemeinde zu erblicken. Vielmehr handele es sich bei den genannten Gruppen um verschiedene, bloß regionale Gemeinschaften, – auch bei den Verehrern des „höchsten Gottes“ in Phoinikien und Palästina, die sich gemäß Kyrillos θεοσεβεῖς nannten. „If the god-fearers of Acts and the θεοσεβεῖς of Aphrodisias and Sardeis were all gentile sympathizers with Judaism (as they probably were) that does not necessarily mean that they resembled the Hypsistarii or Hypsistiani in the pracitices they took over from the Jews.“16 Wenn man Bowersock auch darin Recht geben wird, dass die Quellenlage es nicht gestattet, über den Grad der Verwandtschaft der an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten bezeugten Gruppen ein klares Bild zu erhalten, so ist andererseits diesen Zeugnissen doch ebenso wenig ein Beweis für das Gegenteil abzugewinnen, dass solche Gruppen oder Sekten bzw. ihre Vorläufer regional begrenzt und ohne jede Beziehung zueinander waren. Ebenso wie σεβόμενος oder θεοσεβής zwar eine auf bestimmte Personengruppen bezogene, spezifische Bedeutung tragen können, aber andererseits auch oft in ihrer einfachen Wortbedeutung als „fromm“, „gottverehrend“ zu lesen sind, ist auch das Epitheton „Höchster“ in der Götterwelt an sich vielseitig interpretierbar. Die entscheidende Frage ist, ob sich überhaupt und in welchem Umkreis ein distinktiver Gebrauch des Ausdrucks in den Weihinschriften feststellen lässt, der auf den Gott einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder miteinander verwandter Religionsgemeinschaften verweist. Nach Bowersocks Analyse ist der Ausdruck Theos Hypsistos im literarischen Sprachgebrauch seit 14 Dazu

Trebilco, 1991, 147–148 und 247. 549; Kern, 1900, 237. Vgl. Hommel, 1975, 167–168 mit Anm. 2–7. 16 Bowersock, 2002, 362. 15 IvEphesos

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der Septuaginta zwar auf den jüdischen und christlichen Gott beschränkt. Unter den epigraphischen Belegen seien jedoch Beispiele anzuführen, die keinesfalls in irgendeinen jüdischen oder judaisierenden Kontext gehören, sondern die exklusiv heidnisch seien. Dies treffe insbesondere auf den Zeus Hypsistos der kaiserzeitlichen Kultanlage auf der Pnyx in Athen zu, wo sich etwa 50 Weihungen erhalten haben. Viele von ihnen erwähnen Heilung an verschiedenen Körperteilen und weisen den Gott – sonst nicht charakteristisch für Zeus und unvereinbar mit Jahwe – als Heilgott aus.17 Die Unvereinbarkeit von Weihungen an den Gott derselben Anrede als „höchster“, mal heidnischer, mal jüdischer Provenienz, sucht Bowersock auch sonst an einzelnen Merkmalen nachzuweisen. Für ihn ist die Weihung an Theos Hypsistos in Termessos, wo ein Bronzefuß des Gottes mit aufgestellt war, unzweideutiges Beispiel einer heidnischen Dedikation, das allein schon ausschließe, dass alle Hypsistos-Inschriften einer einzigen Religionsgemeinschaft zuzuordnen sind.18 Mitchell dagegen hebt es als auffällige Gemeinsamkeit hervor, dass sich unter den hunderten von Steinen mit Theos Hypsistos-Inschriften mit ganz wenigen Ausnahmen, wie der Darstellung eines Zeus in Miletupolis / ​Mysien als Blitzschleuderer, keine Götterbilder finden.19 Besonderes Augenmerk gilt der Interpretation eines Befundes in der zentralanatolischen Landschaft Pisidien. Eine Theos Hypsistos-Weihung in Sibidunda ist mit dem Ausdruck ἁγεία καταφυγή jüdisch oder judaisierend.20 Im wenige Kilometer entfernten Andeda weiht eine Person, die sich als Priester des Men Uranios zu erkennen gibt, dem Theos Hypsistos κατὰ χρηματισμόν  – gemäß Orakelspruch.21 Während Mitchell im Empfänger beider unmittelbar benachbarten Weihungen denselben Gott erkennen will, schließt sein Kritiker dies auf Grund des jüdischen Milieus des Stifters in dem einen und des heidnischen in dem anderen Fall kategorisch aus: „The texts speak eloquently of their wholly different, albeit adjacent cultures. What would be truly hard to believe is that Jews and Judaizers would share in the same cult as a priest of Mên Oranios.“22 Diese strikte Scheidung und Zuordnung entweder zum paganen oder jüdischen Milieu sucht auch Markus Stein in einer etwa gleichzeitig mit Bowersock erschienenen Kritik an Mitchell an ausgewählten Theos Hypsistos-Inschriften aufzuzeigen, und er bemerkt im Hinblick auf die zahlreichen Zweifelsfälle: „Die Lösung kann nicht darin bestehen, dass man, anstatt die Entscheidung gegebe17 Forsén, 1993. Belege sind auch bei Mitchell, 1999, 128–129 unter Nr. 1–23 zusammengestellt. 18 TAM III 1, 32. Mitchell, 1999, 143 Nr. 231. 19 Mitchell, 1999, 101. 20 Mitchell, 1999, 142 Nr. 230: θεῷ ὑψίστῳ καὶ | ἁγείᾳ καταφυγῇ | Ἀρτιμᾶς υἱὸς Ἀρτίμου Μομμίου | καὶ [Μ]αρκίας ὁ αὐ|τὸς κτίστης ἀ|νέστησεν καὶ | τὸν θυματισ|τήρ(ι)ον καὶ κέον(α) | ἐκ τῶν ἰδίων. Zur ἁγία καταφυγή vgl. Exodus und Psalmen. 21 Mitchell, 1999, 142 Nr. 228. 22 Bowersock, 2002, 357.

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nenfalls offenzulassen, einen Hypsistos-Theos-Kult pagan-jüdischen Zuschnitts postuliert. Ein Beleg für einen solchen Kult wäre nämlich nur dann vorhanden, wenn es gelänge, beide Elemente innerhalb einer Inschrift nachzuweisen oder zumindest innerhalb eines eng umgrenzten Raumes, d. h. vorzugsweise eines Heiligtums.“23 Zunächst ist festzuhalten, dass Mitchell nicht behauptet, jede einzelne der ca. 300 Inschriften eines θεὸς ὕψιστος, Ζεὺς ὕψιστος oder ὕψιστος gehe auf ein und dieselbe uniforme Kultgemeinschaft in Diensten eines identischen Gottes zurück. Er sagt an einer Stelle: „It is both convenient and analytically profitable to focus on the ‘hypsistarian’ nature of these cults, and treat them together, rather than to split them and stress their differences.“24 Unterschiede sind durchaus festzuhalten. Sie beginnen bereits dort, wo mit der Anrede θεὸς ὕψιστος Namen verschiedener Götter verbunden sind, was bei einer relativ überschaubaren Anzahl von Inschriften der Fall ist. Doch wie ist das zu gewichten? Dass gerade bei einem höchsten Gott die namentliche Anrede als Zeus keinerlei Hinweis auf den griechischen oder nichtgriechischen Charakter gibt, bedarf keiner Ausführung. In dem Gebet aus Kios an die ägyptischen Götter ist der „König aller Himmlischen“ vielnamig: „König aller Himmlischen, sei gegrüßt, unvergänglicher Anubis, und dein Vater (ist) der goldbekränzte, hochheilige Osiris, er selbst (ist auch) Zeus, der Kronide, er selbst (ist auch) der große, mächtige Ammon, Herr der Unsterblichen, vor allem aber wird er als Sarapis verehrt.“25 Zeus mag der Name eines Gottes aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen hellenistisch-kaiserzeitlicher Religion sein, doch wie scharf verläuft die Grenze zur Verehrung des jüdischen und des christlichen Gottes? Als der berühmte Märtyrer Pionius Mitte des 3. Jh. in Smyrna vom Statthalter verhört wurde und er seinen Blick betend zum Himmel richtete, bemerkte dieser: „Wir alle verehren die Götter und den Himmel und die Götter, die im Himmel sind.“ Als Pionius sich weigerte, sich auf einen gemeinsamen Gott einzulassen und auf die Frage, wer denn den Himmel und alles, was darin ist, gemacht habe, auswich: „Man kann es nicht sagen“, entgegnete ihm der Proconsul: „Zweifellos Gott, das heißt Zeus, der im Himmel ist, denn er ist König über alle Götter.“26 Ein Heilgott in Athen oder anderswo, ein Gott, dessen Fuß abgebildet wird, mag mit der Gottesvorstellung von Juden unvereinbar sein. Aber wissen wir genug über die Sympathisanten jüdischer Praktiken oder christliche Sekten, um Weihungen dieser Art aus ihren Kreisen an einen „Höchsten Gott“ oder gar eine „Höchste Göttin“

23 Stein,

2001, 120–121. 1999, 99. 25 Corsten, 1985, Nr. 21 Z. 2–5 mit Kommentar S. 99–100. Text: Οὐρανίων πάντων βασιλεῦ, χαῖρε, ἄφθιτ᾿ Ἄνυβι | σός τε πατὴρ χρυσοστέφανος πολύσεμνος Ὄσειρις, | αὐτὸς Ζεὺς Κρονίδης, αὐτὸς μέγας ὄβριμος Ἄμμων, | κοίρανος ἀθανάτων, προτετίμηται ‹δ›ὲ Σάραπις. 26 Martyrium Pionii 19, 10–13. Text nach Robert, 1994. 24 Mitchell,

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kategorisch auszuschließen? Der montanistischen Prophetin Priscilla erschien Christus in Gestalt einer Frau.27 Nehmen wir einen anderen Gott als Zeus und kommen auf den interessanten Fall der beiden in unmittelbarer Nachbarschaft aufgestellten Weihinschriften von Sibidunda und Andeda, die eine jüdischen, die andere heidnischen Charakters. Der heidnische Charakter der Andeda-Inschrift erschließt sich für Bowersock vom Stifter: Κόιντος Νουμέρι|ος ἱερεὺς | Μηνὸς Ο[ὐ]|ρανίου κα|τὰ χρημα|τισμὸν ἀνέ|θηκε θεῷ ὑψίστῳ.28 Der Mann war Priester des im benachbarten Lydien viel verehrten Mondgottes, wo derselbe auf einem kleinen Altar in Saittai angeredet wird als Εἷς θεὸς ἐ|ν οὐρανοῖς, | μέγας Μὴν | Οὐράνιος, | μεγάλη δύναμις τοῦ ἀ|θανάτου θεοῦ.29 Hat der Men-Priester in Andeda seine Weihung überhaupt diesem Men Uranios dargebracht, oder ist der Mondgott mit „höchster Gott“ gar nicht gemeint? Eine von mir im Jahr 2000 publizierte Inschrift in Amastris lautet: „Dem höchsten Gott. Auf Geheiß des Langhaarigen hat aufgestellt diesen Altar des höchsten Gottes, der alles umfasst und nicht gesehen wird, aber auf alles Übel blickt, damit das Verderben von den Menschen abgewehrt wird.“30 Mit dem Auftraggeber, dem „Langhaarigen“ (ἀκερσεκόμης), ist eindeutig Apoll umschrieben, und die Weihung des Altars verdankt sich dessen „Stimme“, vermutlich einem Orakelspruch. Mit dem Empfänger der Weihung „Höchster Gott“ – Θεὸς  Ὕψιστος, muss nicht zwingend derselbe gemeint sein. Denn die genannte Eigenschaft, nicht gesehen zu werden, aber selbst alles zu sehen, passt auch auf andere. Im heidnischen Kontext gehört sie Helios. Sie wird auch dem jüdischen und dem christlichen Gott zugeschrieben. Und doch kann es sein, dass in Amastris Auftraggeber und Empfänger der Weihung derselbe Gott ist: Der griechische Helios wird ebenso wie Sonnengötter anderer Kulturen in hellenistisch-kaiserzeitlichen Inschriften synkretistisch mit Apollon vereint,31 und der „Höchste Gott“ kann mithin ein Gott sein, der das Aussehen Apolls („langhaarig“) mit den Eigenschaften eines Helios, eines Christen‑ und Judengottes teilte. Amastris war die Nachbarstadt von Abonuteichos mit dem Sitz des Glykonorakels, und dieser Teil des ‚Pontos‘ beheimatete zur Blütezeit des Orakels und auch schon vorher zahlreiche Christen.32 Auch in Andeda kann der Men-Priester unter dem Namen Theos Hypsistos statt einem anderen, höheren Gott, eben seinem Gott Men eine Weihung dargebracht haben, dem Mondgott von Saittai, der sich entsprechend der Auffas27 Epiphanios,

haer. 49, 1, 3. Anm. 21. 29 TAM V 1, 75. 30 Marek, 2000, 135–137. 31 Marek, 2000, 136–137. 32 Lukian, Alexandros 25, vgl. 38. Schon (um 111/112 n. Chr.) Plinius d. J., Ep. 10, 96, 9. Aquila (Apg 18,1–3) stammte aus ‚Pontos‘, möglicherweise aus Amastris. 28 Siehe

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sung von Robert präsentiert: „avec les idées de précellence du dieu, de caractère céleste, de puissance et d’éternité.“33 In diesem Fall träte ein einheimischer, regionaler Gott im Gewand eines ‚Übergottes‘ auf, – eine exakte Parallele zu dem Fall in Amastris, wenn in der oben besprochenen Inschrift der göttliche Auftraggeber und Empfänger identisch sind. Ist es dann unmöglich für „judaizers“, dem Mondgott in Pisidien mit Hinzufügung der „göttlichen Zuflucht“ – ἁγείᾳ καταφυγῇ eine Weihung darzubringen? Muss ein Weihgeschenk überhaupt stets die ganze Theologie eines Bekenners oder Sympathisanten mitliefern? Welche Interpretation man auch bevorzugt, die von Mitchell erwogene Möglichkeit, die Weihinschrift jüdischen oder judaisierenden Charakters an einen „Höchsten“ mit der Weihgabe eines Menpriesters als an denselben „Höchsten Gott“ gerichtet zu verstehen, ist keineswegs ausgeschlossen, ja naheliegend, und selbst wenn in dem einen der beiden Götter der Mondgott zu erblicken ist, ist doch eine henotheistische Auffassung, die ihn mit dem anderen verbindet, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Für einen Beweis der These Mitchells fordert Stein beide Elemente, das jüdisch / ​judaisierende (oder christliche) und das pagane, möglichst innerhalb einer Inschrift.34 Großes Kopfzerbrechen hat der Forschung ein längerer Text des 3. Jh. n. Chr. bereitet, der wieder aus jener für den religionsgeschichtlichen Wandel des kaiserzeitlichen Anatolien so bedeutsamen Gegend Phrygiens stammt, wo sich auch die frühesten christlichen und die sogenannten Beichtinschriften konzentrieren, aus Eumeneia (Emircik).35 Ich gebe den Text mit deutscher Übersetzung: Vorderseite: [Οὐνόμασιν σεμνοῖσιν] ἰσόψηφος δυσὶ τοῦτ[ο] Γάιος, ὡς ἅγιος ὡς ἀγ[α‑] θὸς, προλέγω· 5 ζωὸς ἐὼν τοῦτον τύμ‑ βον τις ἔτευξεν ἑαυτῷ Μούσαις ἀσκηθεὶς Γάιος πραγματικὸς ἠδ᾿ ἀλόχῳ φιλίῃ Τατίῃ 10 τέκεσίν τε ποθητοῖς ὄφρα τὸν ἀίδιον τοῦ‑ τον ἔχωσι δόμον σὺν Ῥουβῇ μεγάλοιο Θ(εο)ῦ Χρ(ιστοῦ) θεράποντι

33 Robert,

Ich, Gaius, dessen Name gleiches Stimmrecht wie zwei ehrwürdige Namen hat: ‚heilig‘ und ‚gut‘, verkünde dies: Noch zu Lebzeiten hat ein gewisser Gaius, ein Anwalt, und musisch gebildet, diesen Grabstein für sich selbst gefertigt, und für seine liebe Frau Tatia, und für die betrauerten Kinder, damit sie dies ewige Haus besitzen gemeinsam mit Rubes, dem Diener des großen Gottes von Christus.

OMS I, 427. 2001. 35 Robert, 1960. I. Denizli-Hierapolis, 157. Zu den Beichtinschriften zuletzt Chaniotis, 2012, bes. 215–227. 34 Stein,

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Rechte Seite: 15 [Ο]ὐκ ἔσχον πλοῦτον πολὺν εἰς βίον, οὐ πολὺ χρῆμα, γράμμασι δ᾿ ἠσκήθην ἐκπο‑ νέσας μετρίοις, ἐξ ὧν τοῖσι φίλοισιν ἐπή[ρ‑] 20 κεον ὡς δύναμίς μοι σπουδὴν ἣν ε[ἶχ]ον πᾶσι χαριζόμενος· τοῦτο γὰρ ἦν μοι τερπ[νὸν] ἐπαρκεῖν, εἴ τις ἔχρηζε[ν] 25 ὡς ἄλλων ὄλβος τέρψιν ἄγει κραδίῃ. μηδεὶς δ᾿ ἐν πλούτῳ τυφ[ω‑] θεὶς [γα]ῦρα [φ]ρονείτω· πᾶσι γὰρ εἷς Ἅδης καὶ τέ‑ 30 λος ἐστὶν ἴσον. ἔστιν τις μέγας ὢν ἐν κτή‑ μασιν; οὐ πλέον οὗτος ταὐτὸ μέτρον γαίης πρὸς τάφον ἐκδέχεται. 35 σπεύδετε, τὴν ψυχὴν εὐ[φ]ραίνετε πάντοτε, θνη[τοί], [ὡ]ς ἡδὺς βίοτος καὶ μέτρο[ν] ἐστὶ ζοῆς. ταῦτα [φ]ίλοι· μετὰ ταῦτα τί 40 γὰρ πλέον; οὐκέτι ταῦτα· στήλλη ταῦτα λαλεῖ καὶ λί‑ θος. οὐ γὰρ ἐγώ. Θύραι μὲν ἔνθα κα[ὶ] πρὸς Ἀίδαν ὁδοὶ, 45 ἀνεξόδευτοι δ᾿ εἰσ[ὶν] ἐς φάος τρίβοι· οἱ δὴ δίκαιοι πάντο[τ᾿] εἰς ἀνάστασιν [πρ]οδε[ικνύ]ουσι. το[ῦ‑] 50 το δυνά[στης ?] Θεὸς [------------------------] [------------------------] [----------‑] ποιμ[ένα‑] το [---------------------] 55 ἀ[νάστα]σις.

Ich hatte nicht viel Reichtum zum Leben, auch nicht viel Besitz, aber ich habe mir mit Erfolg eine gute Bildung erarbeitet, mit der ich meinen Freunden soweit möglich mit dem Eifer, den ich besaß, allen gefällig zu sein, geholfen habe. Daran nämlich hatte ich Freude, zu helfen, wenn jemand es brauchte, so wie bei anderen Reichtum Freude ins Herz treibt. Niemand aber, der in Reichtum verblendet ist, soll hochmütig denken: Für alle gibt es einen Hades, und das Ende ist gleich. Gibt es einen, der in Besitztümern groß ist? Dieser erhält keinen größeren, sondern denselben Anteil an Erde für sein Grab. Seid eifrig, erfreut eure Seelen allzeit, Sterbliche, da eine süße Lebensführung auch das Maß des Lebens ist. Dies, Freunde, nach diesem, was gibt es mehr? Nichts mehr! Eine Stele spricht das, und ein Stein. Nicht ich! Türen sind hier und Wege in den Hades, Pfade zum Licht aber sind verschlossen. Die Gerechten also zeigen stets den Weg zur Auferstehung. Dies hat Gott …

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Gaius, ein poetisch gebildeter Anwalt, lässt sein Grab noch zu Lebzeiten mit Reflexionen auf sein gutes Leben, seine Tugend und die Endgültigkeit des Todes, in der alle gleich sind, beschriften. Die Meinungen in der Forschung zu diesem Zeugnis divergieren zwischen dezidiert heidnisch, christlich und heidnischjudaisierend, wobei auf heidnischer Seite epikureische und neo-pythagoreische Ideen erkannt wurden.36 Zunächst hat man sich darüber gewundert, dass der angeblich heidnische Grabherr außer seiner geliebten Frau einem Mann mit dem jüdischen Namen Rubes (gräzisierte Form von Reuben) Platz im Grab einräumt, von dem es Z. 13–14 heißt, er sei ein „Diener des großen Gottes“ (μεγάλοιο Θεοῦ θεράποντι)  – durch Hinzufügung des Christusmonogramms eindeutig als der christliche Gott ausgewiesen. Dass (Z. 47–49) „die Gerechten stets den Weg zur Auferstehung (ἀνάστασις) zeigen“ ist nicht als Äußerung des Grabherren, sondern als eine dem Stein zugeschriebene, von Gaius bekämpfte Weisheit interpretiert worden (Z. 41–43): στήλλη ταῦτα λαλεῖ καὶ λίθος. οὐ γὰρ ἐγώ. Dass es für alle einen Hades gebe und man den noch Lebenden rät: τὴν ψυχὴν εὐφραίνετε πάντοτε, ὡς ἡδὺς βιοτὸς καὶ μέτρον ἐστὶ ζοῆς – „macht euch das Leben so angenehm wie möglich“– sind Sprüche, die sich in der Epigraphik Kleinasiens vom 4. Jh. v. Chr. bis in die Spätantike wiederfinden.37 Sie einem Christen abzusprechen ist ebenso voreilig, wie den in Grabinschriften vorkommenden Rachewunsch, die Teilhabe an den Spectacula und die Bekleidung städtischer Ämter als Ausschlusskriterien für christliches Milieu zu verwenden.38 Eine bekannte Grabstele aus Prusa am Olympos in Bithynien soll hier ebenfalls kurz vorgestellt werden (siehe Abb. 1).39 Die Stele ist mit Palmettenakroteren und Reliefs geschmückt: Am Kopfende des liegenden Mannes steht ein Knabe, der mit einer Schale über einem Altar mit Flamme opfert; am Rand oberhalb der Tabula mit der Inschrift Spiegel, Spindel, Rocken, Wollkorb und Diptychon oder Kamm,  – Bildelemente, die auf eine Frau als Grabherrin hinweisen. Der Text sagt jedoch etwas Anderes: Die Kinder Markianos und Epitherses, zusammen mit ihren Brüdern, haben den Grabstein für den Vater Epitherses aufgestellt. Hinter dem Namen des Verstorbenen folgt ein Adjektiv: θεοσεβής  – gottesfürchtig. Ein zweites Adjektiv: θεόκτιστος (von Gott geschaffen) hat man als Eigenname gedeutet.40 Das kann jedoch nicht richtig sein. Demnach hätten die Kinder Markianos und Epitherses ihren jeweiligen Vätern Epitherses und Theoktistos das Grab bereitet, wobei allerdings der an zweiter Stelle genannte Epitherses als der Sohn des Theoktistos 36 Ausführliche

Diskussion in Robert, 1960, 414–429. 2010, 703 Anm. 52. 38 Marek, 2000, bes. 139–146. 39 Ed. pr. Pfuhl / ​Möbius, 1977–1979 Nr. 1697 (Taf. 248). Vgl. Corsten, 1991, 145–147 Nr. 115. Cremer, 1992, 156 B., Ameling, 1999. 40 Pfuhl / ​Möbius, 1977–1979, Textband II 414 zur Nr. 1697. Ebenso Corsten, 1991/1993, Ameling, 1999. 37 Marek,

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Ἐπιθέρσῃ τῷ θεοσε‑ βῇ κ(α)ὶ θεοκτίστῳ τὰ τέκνα Μαρκιανός καὶ  Ἐπιθέρσης μετὰ τῶν ἀδελφῶν ἐκ τῶ(ν) εἰδείων μνήμης χάριν.



Z. 2: Κ ΔΙ Stein Z. 5: ΤΩ Stein



Für Epitherses den gottesfürchtigen und von Gott geschaffenen, die Kinder Markianos und Epitherses zusammen mit den Brüdern, aus ihren eigenen Mitteln, des Gedenkens wegen.

Abb. 1: Grabstele aus Prusa am Olympos in Bithynien.

interpretiert werden müsste, nicht, wie auf Grund der Namensgleichheit zu erwarten, als Sohn des Epitherses. Des Weiteren hätte man nur dem Vater ein Adjektiv beigegeben, nicht aber dem an zweiter Stelle genannten Theoktistos. Mithin verdient die Alternative den Vorzug, in θεόκτιστος keinen Namen zu erkennen, sondern zu lesen: „den gottesfürchtigen und von Gott geschaffenen“; „von Gott geschaffen“ deutet auf ein Mitglied von jüdischen, judaisierenden oder christlichen Glaubensgemeinschaften, die keine Opfer über einem Altar mit Flamme durchführten, wie es das Relief im Giebelfeld zeigt. Liegt mit Text und Bild eine Mischung von jüdisch / ​christlichen und heidnischen Elementen vor? Wohl kaum, denn bei näherem Hinsehen ist festzustellen, dass die Tafel im unteren Drittel des Steins aus einer nachträglich gemeißelten Vertiefung hervorragt, was auf eine Zweitverwendung der Stele deutet: So erklärt sich auch die Differenz von Text und Bild: Der Stein wurde erstmals für eine Heidin angefertigt, später für Epitherses umgearbeitet, der sich als Monotheist zu erkennen gibt. Immerhin haben am ursprünglichen Bildprogramm der Opferszene mit Altar und Flamme die wohl christlichen Zweitverwender keinen Anstoß genommen. Obgleich beide Beispiele, die Weisheiten auf dem Grabstein des Anwaltes Gaios in Eumeneia und die Bild‑ und Textkomposition der – sehr wahrscheinlich vorkonstantinischen – Grabstele aus Prusa keine echte Mischung von Elementen

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verschiedener Religionen darstellen, sondern wohl beide christlich sind, präsentieren sie doch in Sprache und Bild sozusagen Anleihen aus dem heidnischen Milieu, die manchen modernen Interpreten irritiert haben. Ein schwierigerer Fall ist die von mir ebenfalls im Jahr 2000 veröffentlichte Stele von Bahcekonak in Paphlagonien aus dem Jahr 237/238 n. Chr.41 Auch hier lässt der Setzer der Inschrift den ermordeten Jungen einen als κύριος παντοκράτωρ bezeichneten Gott anrufen, der ihn geschaffen habe: σὺ μὲ ἔκτισες. Der folgende Rachewunsch des Getöteten: ἐκδίκησον μὲ ἐν τάχι kann heidnisch, jüdisch, sogar christlich sein. Man ist wegen des παντοκράτωρ und des σὺ μὲ ἔκτισες geneigt, den beiden zuletzt genannten Alternativen den Vorzug zu geben, und hat in dem von Adolf Wilhelm kommentierten, dem 2. Jh. v. Chr. zugewiesenen Grabgedicht aus Rhenaia bei Delos schlagende Parallelen im jüdischen Milieu: Ich rufe an und bitte dich, den höchsten Gott, den Herren der Geister und allen Fleisches, gegen diejenigen, die die unglückliche, noch unreife Heraklea arglistig ermordet oder vergiftet, ihr unschuldiges Blut frevlerisch vergossen haben, dass es ebenso ihnen geschehen möge, ihren Mördern oder Giftgebern, und deren Kindern, Herr, der alles sieht, und die Engel Gottes, vor dem sich jede Seele am heutigen Tag mit Flehen erniedrigt, damit du das unschuldige Blut suchst und so schnell wie möglich rächst.42

Zu berücksichtigen ist indes bei der paphlagonischen Stele die Reliefdarstellung. Ich habe in meinem damaligen Kommentar gezögert, ihr entscheidendes Gewicht dahingehend beizumessen, dass in diesem Gott Helios, nicht Jahwe oder der Christengott angerufen wird. Nicht nur, dass die erhobenen Hände als Fluchgeste eindeutig an Helios bezeugt sind: Θεογένης —‑ αἴρει τάς χεῖρας τῷ  Ἡλίῳ καὶ τῇ ἁγνῇ θεᾷ heisst es in einer Inschrift auf Delos.43 Der halbkreisförmige Haar‑ bzw. Lockenkranz im Giebelfeld umrahmt offensichtlich eine Fläche, die mit Gesichtszügen ausgemalt war; die einzige und enge Parallele findet sich auf einer Stele in Tchuruk (d. i. Çürükköy, südwestlich von Zile) mit der Fluchformel  Ἥλιε, ἐκδίκησον im Giebelfeld, darüber, in einem scheibenförmigen Akroterion nach Auskunft (und Zeichnung) von Franz Cumont „un masque de Soleil“.44 Sind damit die beiden Elemente, Jüdisches (παντοκράτωρ, σὺ μὲ ἔκτισες) und Heidnisches (Rachewunsch in Verbindung mit Bilddarstellung der erhobenen Hände und des Helios), in einer Inschrift gefunden? Beziehen wir ein weiteres Exemplar in diese Diskussion ein. Auf einer Bleiplatte von Askalon in Judäa ist eine dreizeilige Inschrift eingraviert: Das kreisrunde Bildfeld auf der Rückseite zeigt Helios, mit der Rechten einen Globus haltend, in einem Wagen. Die Formel εὐλογία πᾶσιν – „Segen für alle!“ – ist sonst jüdisch, wird aber wegen der apotropäischen Funktion dieser Bleiplatte von der Heraus41 Marek,

2000, 137–146. 1901, Beibl., 9–18. Text auch bei Marek, 2000, 141–142. 43 Inscriptions de Délos 2531. 44 Studia Pontica III 1, 258. 42 Wilhelm,

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geberin Di Segni als gnostisch interpretiert, die zugleich anmerkt, dass Helios in seinem Wagen „is freely represented in synagogue decoration and played an important role in Jewish magic in the Talmudic period.“45 Hier ist jedenfalls Heidnisches und Jüdisches oder Christliches vereint, und dieselbe Nähe von Jüdischem oder Christlichem und Helios kennzeichnet die Grabinschrift von Bahcekonak. In enger Verbindung mit der Funktion als Rächer von Verbrechen steht die Überwachung, die mit Helios verwachsene Eigenschaft des „alles Sehen und nicht Gesehen Werdens“, die dieser wiederum mit Jahwe teilt; sie ist im Griechischen bis in die Wortwahl identisch mit christlicher Gottesvorstellung: ἀόρατος, ὁρῶν μόνος αὐτὸς ἅπαντα, αὐτὸς δ᾿ οὐ βλέπεται θνητῆς ὑπὸ σαρκὸς ἁπάσης – „unsichtbar, als einziger aber selbst alles sehend, selbst aber wird er von keinem sterblichen Fleisch erblickt.“ wie es der Bischof von Antiocheia im 2. Jh. n. Chr., Theophilos, sagt.46 Mit dem unsichtbaren Überwacher und Rächer der Verbrechen Helios’ gibt es in der anatolischen Epigraphik der Kaiserzeit eine auffallend häufige Kultgemeinschaft mit dem bzw. den reitenden Götterboten Ὅσιος καὶ Δίκαιος, die ‚Heiligkeit‘ und ‚Gerechtigkeit‘ vermitteln. Die verbreitete Verehrung dieser Engel des Göttlichen – sie werden auch in Verbindung mit einem εἷς καὶ μόνος θεός, mit Apoll, Men und der μητὴρ θεῶν verehrt – waren der christlichen Orthodoxie ein Dorn im Auge, obgleich, oder vor allem gerade weil sie mit jüdisch / ​ christlicher Theologie verwandt sind.47 Die stärkste Bastion von Mitchells Theorie ist ein Befund, der epigraphische, literarische und archäologische Quellen verbindet, und der von den Kritikern gar nicht diskutiert wird. Er stammt aus Oinoanda in Zentrallykien.48 Die Kleinstadt in den Bergen hat vor der Stadtmauer des 3. Jh. n. Chr. einen großen Platz, der Versammlungen einer Kultgemeinschaft diente. Aus Blöcken der Mauer sind – nicht weit voneinander entfernt – zwei Altäre im Relief herausgemeißelt. Der kleinere trägt die kurze Inschrift mit Weihung einer Lampe durch eine Frau namens Chromatis an Θεὸς ῞Υψιστος, der größere einen Spruch in Versen. Er lautet: Aus sich selbst entstanden, ohne Lehrer, ohne Mutter, unerschütterlich, kein Name fasst ihn, vielnamig, im Feuer wohnend, – das ist Gott. Wir Boten (ἄγγελοι) sind nur ein kleiner Teil Gottes. 45 di

Segni, 1994, 104 Nr. 32. SEG 44, 1994, 1351. ad Autolycum II 36 Z. 10–14. 47 Ricl, 1991, 1–70. Hirschmann, 2007, 135–146. Neue Inschriften und Zusammenstellung der älteren Literatur: Akyürek Şahin, 2004, 135–148; Ricl, 2008, 563–579; Corsten / ​R icl, 2012, 143–151. 48 Ausführlich Mitchell, 1999, 81–92. Vgl. Merkelbach / ​Stauber, 1998–2004, Bd. 4, 16–19. 46 Apol.

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Für diejenigen, welche nach Gott fragen und von welcher Art er sei: Er verkündete, der alles erblickende Äther sei Gott; auf ihn sollt ihr blicken und am Morgen früh beten, indem ihr nach Osten schaut.

Es handelt sich um ein ‚theosophisches‘ Orakel, das auf die Anfrage erteilt wurde, wer bzw. welcher Art, welcher Natur, Gott sei. Die Auskunft ist höchst bemerkenswert: Apoll selbst sieht sich bloß als Engel, als einen kleinen Teil des durch sein Orakel definierten, namenlosen, höchsten Gottes; dessen Verehrer weist er an, Gebete bei aufgehender Sonne zu verrichten, der die Versammelten mit der Mauer und den Texten im Rücken genau entgegenblickten. Man vergleiche, was Christen dem Statthalter Plinius beim Verhör sagten: ante lucem convenire carmenque Christo quasi deo dicere – „sie pflegten sich vor Sonnenaufgang zu versammeln und Christus gleichsam als ihrem Gott einen Hymnus zu singen.“49 Wörtliche Zitate genau dieses Orakelspruchs enthalten eine frühbyzantinische Handschrift, die sogenannte „Tübinger Theosophie“,50 und die divinae institu‑ tiones des Laktanz aus dem frühen 4. Jh. n. Chr.; Laktanz nennt seine Herkunft: das Apollonorakel von Klaros. Ich gehe nicht im Einzelnen auf die von Mitchell verfolgten Bezüge zwischen dem Kultplatz des Theos Hypsistos und den fora der Messalianer und Euphemitai, zwischen Lampen, Fackeln, Feuer und Helios, zwischen Apoll und den Engeln Hosios kai Dikaios, zwischen Hymnensingen und εὐλογία ein. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass eine der mächtigsten heidnischen Kultstätten der Kaiserzeit im 3. Jh. den Monotheismus verkündete, dass die hier bezeugte Gottesvorstellung eines Theos Hypsistos eine monotheistische ist. Reinhold Merkelbach und Josef Stauber sind auf Grund der verschiedenen Anordnung und des Umfangs der Orakeltexte bei Laktanz und in der Theosophie der Ansicht, dass die Verse als eine Art Gemeinplatz von den Priestern des klarischen Heiligtums viele Male herausgegeben worden sind, während Mitchell in ihnen den individuellen Orakelspruch über den Theos Hypsistos von Oinoanda erkennen will. Wie dem auch sei, wohl kaum dürfte dieser bloß irgendein obskurer Berggott der Lykier gewesen sein. Ob der Theos Hypsistos in den hunderten von Weihinschriften der griechischen Welt der Kaiserzeit tatsächlich der Gott einer einzigen, kohärenten Kultgemeinschaft war, lässt sich nicht mit Sicherheit bejahen. Doch haben die Kritiker dieser These, die hinter den Weihinschriften des namenlosen Gottes nur entweder Juden, Christen oder Heiden erkennen, auffällige Eigentümlichkeiten ausgeblendet. Häufigkeit und Verbreitung der Tendenz, den angerufenen 49 Plin.

d. J., Ep. 10, 96, 7. Quellen sind bei Merkelbach / ​Stauber, 1998–2004, Bd. 4, 16–19, zusammengestellt. Mitchell, 1999, 86: „late fifth century, a collection of pagan oracles incorporated into a larger work called ‘On True Belief’, which Christians cited to show that even the pagan gods acknowledged the truth and superiority of the Christian faith.“ 50 Die

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Gott – wie es Wolfgang Wischmeyer formuliert hat51 – zu anonymisieren und hyperbolisch zu potentialisieren, sind etwas Neues in der Kaiserzeit, das gleichzeitig mit dem Anwachsen christlicher Gruppen vorkommt. Unübersehbar sind Phänomene in Sprache und Bildern, die Grenzen zwischen herkömmlichen Gottesvorstellungen überschreiten und jüdische, christliche und heidnische Praktiken insofern einander annähern, als sie einen Monotheismus propagieren. Auffällig ist des Weiteren die Verbreitung der neuen grenzüberschreitenden religiösen Sprache in ländlichen Regionen des westlichen Kleinasiens. Lesen und Schreiben ist in die Dörfer möglicherweise zugleich mit heiligen Texten vorgedrungen. In heidnisches Milieu dringen jüdische und christliche Formeln ein. Anleihen können leicht bei unmittelbar benachbarten Kultgemeinschaften aufgenommen werden. In Landschaften wie Paphlagonien, Pontos, Phrygien, Lydien und Pisidien lebten im 3. Jh. n. Chr. Anbeter des Mondgottes, des Helios, der persischen Anahita und der anatolischen Muttergöttin mit Montanisten, Gnostikern, orthodoxen Christen, Juden und Judaisten Tür an Tür. Bowersock, Stein und andere unterschätzen die Durchlässigkeit der Formeln und Bilder. Ich möchte zum Schluss eine noch unveröffentlichte Inschrift vorstellen, die nichts mit der Theos Hypsistos-Verehrung zu tun hat, aber ein weiteres interessantes Beispiel der religiösen Formelsprache im ländlichen Anatolien bietet. Μνῆμα τοῦ νέου AN Ἀντιγόνου οὗ τὸ σῶμα ἐπὶ γῆς κὲ ἡ ψυχή μετὰ τῶ‑ ν 5 ὁσ‑ ί‑ ων (κὲ) δικέω‑ ν.

Grabmal des Jünglings Antigonos, dessen Leib in die Erde, die Seele zusammen mit den Frommen und Gerechten.

Abb. 2: Grabstele aus dem Dorf Yatankavak, Foto: Marek. 51 Wischmeyer,

2005, 149–168.

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Es handelt sich um eine von mir in dem Dorf Yatankavak, im Territorium des antiken Amaseia aufgenommene Grabstele, die eindeutig christlich ist. Im Giebelfeld befindet sich ein Kreuz im Kreis von dem zu beiden Seiten herzförmige Blätter abzweigen. Ich gehe hier auf epigraphische Details nicht ein. Der Reliefschmuck der Grabstele präsentiert das christliche Symbol des Kreuzes in unübersehbarer Weise, der verstorbene Jüngling ist ohne Zweifel Christ. Die Formeln μετὰ τῶν ὁσίων und μετὰ τῶν δικαίων ist in Steininschriften äußerst selten; hätten wir die Kreuze nicht, wäre es sehr schwierig, zwischen christlich und jüdisch zu unterscheiden.52 Denn sie findet sich sonst ausschließlich in jüdischen Grabinschriften Italiens, auch in Lateinisch: dormitio tua inter dicaeis.53 Dass im Tod der Leib auf der Erde bleibt, die Seele mit den Frommen und Gerechten weilt, hat auch im literarischen Sprachgebrauch nur wenige enge Parallelen: Die Septuaginta hat in Numeri 23, in Bileams Spruchreden: ἀποθάνοι ἡ ψυχή μου ἐν ψυχαῖς δικαίων  –„Könnte meine Seele in den Seelen der Gerechten sterben“. In der Gregor von Nazianz zugeschriebenen, in ihrer Echtheit umstrittenen Liturgia Sancti Gregorii heißt eine liturgische Formel Μνήσθητι, Κύριε, τῶν προκεκοιμημένων ἐν τῇ ὀρθοδόξῳ πίστει πατέρων ἡμῶν καὶ ἀδελφῶν, καὶ ἀνάπαυσον τὰς ψυχὰς αὐτῶν μετὰ ὁσίων, μετὰ δικαίων. – „Gedenke, Herr, der im rechten Glauben verstorbenen Väter und Brüder und lass ihre Seelen in Frieden ruhen mit Frommen, mit Gerechten“. Wir erinnern uns an die Grabinschrift des Gaius in Eumeneia mit der Mahnung (Z. 47–49), dass „die Gerechten stets den Weg zur Auferstehung (ἀνάστασις) zeigen“. Besonders häufig wird die Rolle der Gerechten am Tag des Jüngsten Gerichts im Buch Enoch beschworen, z. B. 1,8: „Und die Erde wird gänzlich zerschellen und alles auf ihr Befindliche umkommen, und ein Gericht wird über alle stattfinden, und mit den Gerechten wird er den Frieden machen (μετὰ τῶν δικαίων τὴν εἰρήνην ποιήσει), und bei den Auserwählten wird Bewahrung und Friede sein“.54 Das Buch Enoch zählt zu den „alttestamentlichen Pseudepigraphica“: Nach Genesis 5,18 gehört Enoch der siebten Generation des Menschengeschlechts nach Adam an; er war Urgroßvater von Noah. In seinem 365. Jahr stirbt er nicht, sondern wird zu Gott in den Himmel hinauf geholt. Versionen, die in das Äthiopische Enochbuch eingegangen sind, beschreiben, was ihm auf dem Weg in den Himmel offenbart wurde. Allein die äthiopische Version wurde sicher vor dem Auftreten der Christen verfasst. Hebräische Exzerpte finden sich in den Qumran-Rollen aus der Zeit zwischen 130–168 v. Chr. Es gibt fünf verschiedene Versionen derselben Geschichte, die in der Tradition der Apokalypse der Hebräischen Bibel steht: Eine ursprünglich reine Welt wird von bösen Engeln 52 Vgl.

Robert, 1960, 408. 1995, Nr. 50.235.270.329.342.406.463.465.481.343. 54 καὶ διασχισθήσεται ἡ γῆ σχίσμα ῥαγάδι, καὶ πάντα ὅσα ἐστὶν ἐπὶ τῆς γῆς ἀπολεῖται, καὶ κρίσις ἔσται κατὰ πάντων καὶ μετὰ τῶν δικαίων τὴν εἰρήνην ποιήσει, καὶ ἐπὶ τοὺς ἐκλεκτοὺς ἔσται συντήρησις καὶ εἰρήνη. 53 Noy,

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verdorben. Gott beschließt, die Engel und ihre Nachkommen zu bestrafen und die Welt zu ‚reinigen‘. Am Ende werden alle gerichtet, in verschiedenen Teilen auf unterschiedliche Weise: völlige Zerstörung oder ewige Qualen nach dem Tod. Die Formel in der Grabinschrift von Yatankavak könnte auf die Kenntnis einer Apokalypse zurückgehen. Sie ist ein weiteres beachtenswertes Indiz für das Zirkulieren jüdisch-christlicher Texte in den ländlichen Regionen Anatoliens.

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1. Religiöse Identität: Methodische Vorüberlegungen Die Frage nach der christlichen Identität impliziert immer auch die Frage nach der Abgrenzung. Mit diesen Grenzen setzten sich während der hohen Kaiserzeit zahlreiche christliche Autoritäten auseinander, um den Zeitgenossen einzuschärfen, bei welcher Grenzüberschreitung sie sich aus der christlichen Gemeinschaft verabschiedeten. Der Autor des Kolosserbriefes etwa warnt seine Adressaten in den 60er Jahren des 1. Jh.s, sich mit den Verehrern von Engeln einzulassen, oder mit denen, die sich an den jüdischen Festkalender klammerten. Er sagt zwar nicht explizit, daß man solche Leute aus der christlichen Gemeinde ausschließen müsse, wohl aber, daß sie ihr eigentliches Ziel – Christus – verfehlten.1 Die Perspektive des Historikers, der sich mit der christlichen Gemeinde von Kolossai befaßt, richtet sich automatisch nach der dieses Autors, der im Umkreis des Paulus zu suchen ist.2 Die Sichtweise derer, die von dem Paulusschüler attackiert werden, hat ihren Weg in die Überlieferung nicht gefunden und ist dem Historiker verloren. Es ist keineswegs gesagt, daß sie nicht auch den Anspruch, vielleicht sogar den Alleinanspruch, auf die Nachfolge Christi erhoben. Hier zeigt sich ein grundsätzliches Dilemma der Identitätsforschung, der es ja immer um Gruppenzugehörigkeit geht: Die Identität oder Zugehörigkeit bestimmt sich nicht nur durch die Außenperspektive der anderen (etwa durch Paulus und andere Prediger), sondern auch durch die Binnenperspektive der Betroffenen.3 Das aber ist die Chance des Epigraphikers, der in den Grabmonumenten eben diese Binnenperspektive zu fassen bekommt, wenn er die Selbstdarstellung der Verstorbenen und ihrer Familien auf der Basis lapidarer Texte und stereotyper Monumente untersucht. Bei den Grabmonumenten stehen wir allerdings vor dem Problem, daß uns auch hier das Korrektiv fehlt, da wir uns diesmal mit der * Die Untersuchung wurde gefördert vom Berliner Excellence Cluster TOPOI (The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizations). 1 Kol 2,16–19. Dazu Huttner, 2013, 122–131. 2 Zur Verfasserfrage des Kolosserbriefes Schnelle, 2013, 361–367. 3 Vgl. zu dieser Doppelung der Perspektive, die mit der Divergenz zwischen Selbst‑ und Fremdtitulierung einhergeht, Gleason, 1983, 915; Stachel, 2005, 403–404. u. 422–423. Auch Hausser, 2002, 219 zu Bemühungen, den Identitätsbegriff vom Ballast der Außenperspektive zu befreien.

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Binnenperspektive begnügen müssen, ohne die Außenperspektive zu kennen (etwa die Reaktion eines Zeitgenossen, der die Inschrift liest).

2. Juden und Christen: diffuse Grenzen Christliche Gemeinden mußten sich in viele Richtungen abgrenzen, weil es zahlreiche attraktive religiöse Gruppen und Strömungen gab. Besonders schmerzhaft scheint der langwierige Abgrenzungsprozeß von den Juden gewesen zu sein, den man auf die griffige Formel vom „Parting of the ways“ brachte.4 Wie der Galater‑ oder der Kolosserbrief zeigen, war Paulus und seinen Anhängern daran gelegen, diesen Prozeß zu beschleunigen. Wiederholt mahnten sie ihre Adressaten, die jüdischen Ritualgesetze nicht so ernst zu nehmen.5 Im Umfeld der jüdischen Diaspora in Kleinasien gab es zahlreiche Christen, die sich zu ihrer Mutterreligion hingezogen fühlten, und umso lauter erhoben sich die Stimmen derer, die sie zurückzuhalten suchten. Paulus positionierte sich während der 50er Jahre des 1. Jh.s in seinem Galaterbrief, indem er die Christen eindringlich davor warnte, sich abwerben zu lassen. Die jüdischen Ritualgesetze, vor allem die Beschneidung, seien Fesseln, die mit dem eigentlich christlichen Leben nichts zu tun hätten.6 Gegen Ende des Briefes räumt Paulus ein, daß das Beschneidungsritual gegebenenfalls vor Verfolgung schützen könne: „All diejenigen, die im Fleisch gut dastehen wollen, zwingen euch zur Beschneidung, nur damit sie nicht wegen des Kreuzes Christi verfolgt würden.“7 Die Initiatoren potentieller Verfolgungen nennt Paulus nicht, aber sie dürften in den Kreisen jüdischer Gemeinden zu suchen sein.8 Durch das an die Christen adressierte Beschneidungsgebot, gegen das Paulus agitiert, werden religiöse Identitäten eingeebnet und zugleich die Chance eröffnet, Signale der Solidarität auszusenden. Um den Blick für die historische Dimension des Konfliktes mit den Anhängern jüdischer Traditionen zu schärfen, erinnert Paulus an die Apostelversammlung in Jerusalem, wo er Petrus mit der Frage provoziert habe: „Wenn du als Jude wie ein Heide und nicht wie ein Jude lebst, wieso zwingst du dann die Heiden, wie Juden zu leben (ἰουδαΐζειν)?“9 Paulus ist der erste Christ, 4  Vgl. z. B. Lieu, 2004, 2–3.; Jacobs, 2008, 169–172. Zu den fließenden Grenzen zwischen Juden und Christen z. B. Simon, 1986, 95–97. 5 Besonders prägnant etwa Gal 5,4. Vgl. Zimmermann, 2013, 108–115. Dazu oben Anm. 1; vgl. auch das Folgende. Differenzierend zu Paulus Frey, 2012, 44–55. 6 Gal. 4,8–5,12. Witulski, 2000, 82–172 möchte allerdings Gal 4,8–20 auf den römischen Kaiserkult beziehen. 7 Gal. 6,12: Ὅσοι θέλουσιν εὐπροσωπῆσαι ἐν σαρκί, οὗτοι ἀναγκάζουσιν ὑμᾶς περιτέμνεσθαι, μόνον ἵνα τῷ σταυρῷ τοῦ Χριστοῦ μὴ διώκωνται. 8 Vgl. Rohde, 1989, 273–274; Breytenbach, 1996, 127–132. 9 Gal. 2,14: εἰ σὺ  Ἰουδαῖος ὑπάρχων ἐθνικῶς καὶ οὐχὶ  Ἰουδαϊκῶς ζῇς, πῶς τὰ ἔθνη ἀναγκάζεις ἰουδαΐζειν;

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der den Terminus ἰουδαΐζειν verwendet, um die Partizipation von Christen an jüdischer Überlieferung zu kennzeichnen.10 Ignatios von Antiocheia griff den Faden des Paulus auf und bediente sich dabei auch seiner Begrifflichkeit. Im Brief an die Gemeinde von Magnesia am Mäander nennt er die religiösen Unvereinbarkeiten folgendermaßen beim Namen: „Es ist fehl am Platz, Jesus Christus zu proklamieren und zu leben wie die Juden (ἰουδαΐζειν). Denn nicht das Christentum fand zum Glauben an das Judentum, sondern das Judentum an das Christentum, bei dem sich jede gottgläubige Zunge eingefunden hat.“11 Kurz zuvor deutete er eine der Streitfragen an, indem er Sabbatanhänger (σαββατίζοντες) und Sonntagsanhänger (κατὰ κυριακὴν ζῶντες) einander gegenüberstellte.12 Hier deuten sich Auseinandersetzungen um die wöchentliche Sabbatruhe an, die im westlichen Kleinasien bis weit ins 4. Jh. fortdauerten.13 Ebenso wie die jüdische Festwoche schlug auch das jüdische Festjahr viele Christen in ihren Bann. Die Nähe christlicher Gemeinden zum jüdischen Kult fand gerade in der Provinz Asia in der starken Präsenz der Quartodecimaner Ausdruck, die das Osterfest in Anlehnung an das jüdische Passah und unter Nutzung des jüdischen Kalenders am 14. Nisan feierten. Während des 2. Jh.s meldeten sich wiederholt kleinasiatische Bischöfe zu Wort, die einen solchen Festkalender favorisierten, so etwa Meliton von Sardes oder Apollinarios von Hierapolis.14 Sowohl Polykarp von Smyrna als auch Polykrates von Ephesos diskutierten die Streitfrage mit ihren jeweiligen Kollegen in Rom.15 Spätestens im 4. Jh. verabschiedeten sich die kirchlichen Autoritäten Kleinasiens zwar vom quartodecimanischen Kalender, jedoch in den christlichen Gemeinden blieb die Attraktivität des jüdischen Ritus nach wie vor so hoch, daß etwa die Synode von Laodikeia reglementierend einschreiten mußte.16 Juden und Christen lebten also nicht einfach nebeneinander her, sondern zwischen den beiden Religionsgruppen herrschte ein reger Austausch bis hin zur gemeinsamen Teilhabe an religiösen Festen. Die Grenzen zwischen Juden und Christen in Kleinasien mochten diffus sein, aber sie waren in jedem Fall vorhanden. Diejenigen Männer und Frauen, die sich auf den kaiserzeitlichen Grabsteinen der Nekropolen von Hierapolis als „Juden“ 10 Vgl.

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Mussner, 1988, 145. Grundlegend zur Bedeutung der Vokabel Cohen, 1999, 175–

11 Ign.Magn. 10,3: ἄτοπόν ἐστιν,  Ἰησοῦν Χριστὸν λαλεῖν καὶ ἰουδαΐζειν. ὁ γὰρ Χρστιανισμὸς οὐκ εἰς  Ἰουδαϊσμὸν ἐπίστευσεν, ἀλλ’  Ἰουδαϊσμὸς εἰς Χριστιανισμόν, εἰς ὃν πᾶσα γλῶσσα πιστεύσασα εἰς θεὸν συνήχθη. Weiterführend zum „Judaismos“ bei Ignatios Trevett, 1992, 169–173. 12 Ign.Magn. 9,1. 13 Vgl. zur Synode von Laodikeia (CLaod. Can. 29) Huttner, 2013, 298–299. 14 Vgl. Cantalamessa, 1967, 67–95; auch Huttner, 2011, 273–281. 15 Eus. h. e. 5,23–35; vgl. dazu Auf der Maur, 2003, 41–49. 16 Vgl. CLaod.Can.7 u. 29; weiterführend Huttner, 2013, 298–301.

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titulierten, waren jedenfalls keine Christen.17 Ebensowenig wird man diejenige Inschriftengruppe aus dem nördlichen Phrygien, die mit der Formel „Christen für Christen“ Grab und Bestattung in einer gemeindeinternen Exklusivität aufheben und zumeist ins 3. Jh. gehören,18 in einen jüdischen Kontext rücken. Allerdings sind Grabinschriften selten so explizit wie in den genannten Fällen.

3. Grabinschriften: Bestrafung der Frevler durch (den) Gott Wir wollen uns im Folgenden mit einigen Inschriftengruppen auseinandersetzen, deren Diktion es nicht zuläßt, sie eindeutig einer religiösen Kategorie oder religiösen Gruppe zuzuordnen.19 Sie gehören – mit wenigen Ausnahmen – in die zweite Hälfte des 2. oder in die erste Hälfte des 3. Jh.s und beschwören die Macht eines Gottes, der die Unversehrtheit der Grabstätte gewährleistet. Den Gott als zornige Strafinstanz verehrten Pagane, Juden und Christen gleichermaßen. Das Bewußtsein von der Konvergenz ihrer Gottesbilder scheint durchaus verbreitet gewesen zu sein. Als Laktanz in seiner Schrift De ira Dei abschließend den strafenden Zorn Gottes durch Schriftzeugnisse nachzuweisen suchte, verzichtete er bewußt auf Bibelzitate und griff stattdessen auf die Sibyllinischen Orakel, das Orakel des Apollon von Didyma und die Metamorphosen Ovids zurück.20 Gregor von Nazianz, der ein paar Dutzend Epigramme zum Thema Grabschändung verfaßte, kennt eine Reihe göttlicher Strafinstanzen, die er variierend Θεός, Δίκη und Τάρταρος nennt.21 3.1. Die Flüche des Deuteronomiums Beginnen wir mit einem Grabstein, der heute im Archäologischen Museum von Izmir steht, der aber mit Sicherheit aus dem phrygischen Akmoneia stammt.22 Den wuchtigen Bomos krönt ein markanter Pinienzapfen, und schon die Monumentalität des Grabmals zeigt, daß hier Angehörige der lokalen Eliten bestattet 17  Zu den Inschriften Miranda, 1999; Ameling, 2004, 398–440; dazu noch Guizzi / ​Miranda de Martino / ​R itti, 2012, 662–663 Nr. 18. Generell zum Epitheton „Ioudaios“ Cohen, 1999, 69–106. 18 Gibson, 1978, 9–32 Nr. 1–14; 46–58 Nr. 17–24; 70–84 Nr. 27–29; auch Drew-Bear, 2006, 435–437 (SEG 58 [2008] Nr. 1538). Vgl. Tabbernee, in Horsley 1983, 128–134; Mitchell, 1993, 40 (Bd. 2); Johnson, 1994, der m. E. die Rolle der Werkstätten bei der Verbreitung der Formel zu sehr akzentuiert. Vgl. auch unten bei Anm. 65. – Zu vorkonstantinischen Grabsteinen aus dem mittleren Phrygien, auf denen das christliche Bekenntnis der Familien explizit erwähnt wird, vgl. etwa MAMA XI Nr. 85, 122, 164. Vor Decius ist Gibson, 1978, 116–119 Nr. 42 datiert. 19 Literatur zu dieser Problematik bei Chaniotis, 2010, 119 Anm. 32. 20 Lact. ira 22,4–23,8; auch 20,3. 21 Vgl. vor allem die Serie Greg. Naz. epigr. 245–248, in: Anth. Gr. VIII, Paton, 502–503. 22 Ausführlich Ameling, 2004, 364–368 Nr. 173; vgl. auch Trebilco, 1991, 60–69; Chiai, 2012, 128–129.

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sind. Die zugehörige Inschrift bestätigt diesen Eindruck. Auf der Vorderseite gibt der Text Auskunft über die Familie und über Vorkehrungen zum Schutz des Grabes, während auf der linken Seite die öffentlichen Funktionen des Grabeigentümers aufgezählt werden: Marktaufsicht, Getreideversorgung, Wachschutz (Eirenarchie), Strategie und weitere. Aurelius Frugianus war also ein Mann, der sich in seiner Heimatstadt engagierte und im Fokus der Bürgergemeinde von Akmoneia stand. Der Text läßt sich dank der Ärenangabe zu Beginn exakt ins Jahr 248/249 datieren.23 Die Formel zum Grabschutz, die den Text auf der Frontseite abschließt, proklamiert göttliche Intervention: „Wenn aber einer nach ihrer Bestattung [also nach der Bestattung der Angehörigen], wenn also einer einen anderen Leichnam beisetzt oder unter dem Vorwand eines Kaufes ein Unrecht begeht, werden die Flüche über ihn kommen, die im Deuteronomium niedergeschrieben sind.“24 Mit der Nennung des Deuteronomiums wird ein deutlicher Bezug zur jüdischen Literatur hergestellt, konkret zu denjenigen Flüchen, die Moses dem auserwählten Volk androht, falls es den Gesetzen Gottes zuwiderhandle.25 Es liegt nahe, Aurelius Frugianus der jüdischen Gemeinde von Akmoneia zuzuordnen, zumal wir aus zahlreichen weiteren Zeugnissen das enorme Ansehen erschließen können, das die Juden und ihre Synagoge in der Stadt genossen.26 Fünf Jahre später  – die gewaltträchtigen Turbulenzen im Anschluß an das Opferedikt des Decius waren mittlerweile über Kleinasien hinweggezogen – errichtete eine andere Familie ein etwas bescheideneres Grabmal in der Nekropole von Akmoneia. Der Text ist lapidar und beschränkt sich darauf, die Bestatteten namentlich zu nennen und die Aufzählung mit der stereotypen Formel μνήμης χάριν („zum Gedenken“) abzuschließen. Danach folgt allerdings in der letzten Zeile noch der schlagwortartige Hinweis – Χρειστιανοί –, daß es sich um eine christliche Familie handele.27 Dieser Grabstein reicht aus, um in Akmoneia auf eine selbstbewußte christliche Gemeinde zu schließen, die neben der jüdischen existierte. Es ist klar, daß das Deuteronomium auch zur Heiligen Schrift der Christen zählte, und schon der Galaterbrief des Paulus macht deutlich, daß 23 Vgl.

Leschhorn, 1993, 497. 2004, Nr. 173 A, Z. 12–17: εἰ δέ τις μετὰ τὸ τεθῆναι αὐτούς, εἴ τις θάψει ἕτερον νεκρὸν ἢ ἀδικήσει λόγῳ ἀγορασίας, ἔσται αὐτῷ αἱ ἀραὶ ἡ γεγραμμέναι ἐν τῷ Δευτερονομίῳ. 25 Dtn 28. Vgl. auch Robert, 1978, 245–247 zu einer Inschrift aus Chalkis (SIG3 1240) unter dem Titel „un rhéteur judaïsant“. 26 Vgl. Trebilco, 1991, 58–84; van der Horst, 1991, 56–57; Ameling, 2004, 348–355 (Kommentar zu Nr. 168); Chiai, 2012, 123–126. Allerdings erwägt Ameling, 2004, 367 durchaus auch eine christliche Provenienz für Aurelius Frugianus. 27 MAMA XI Nr. 122 (Gibson, 1978, 103–104 Nr. 32 noch mit falsch gelesener Datierung; Tabbernee, 1997, 170–173 Nr. 21). Weitere christliche Inschriften aus Akmoneia: Destephen, 2010, 178 Nr. 15–20. Bisweilen herrscht Unsicherheit, ob man in vorkonstantinischer Zeit überhaupt mit einer nennenswerten christlichen Gemeinde in Akmoneia rechnen könne. Vgl. Trebilco, 1991, 11; Strubbe, 1994, 72 Anm. 8 u. 90 Anm. 61. 24 Ameling,

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ihnen die Verfluchung durch Moses ein Begriff war.28 Wegen der zahlreichen Ämter, die Aurelius Frugianus in Akmoneia übernahm, mag es freilich Bedenken geben, ihn und die Seinen der christlichen Gemeinde zuzuordnen.29 Allerdings verdichten sich die Zeugnisse, daß Christen durchaus öffentliche Funktionen in den Städten bekleiden konnten.30 In seiner Grabinschrift wird Frugianus weder als Jude noch als Christ tituliert, sondern nur seine Bekanntschaft mit einem Text vorausgesetzt, der sowohl für Juden als auch für Christen zentrale Bedeutung hatte. Aurelius Frugianus ist dabei nicht der einzige Akmoneer, der in seiner Grabinschrift auf den Fluchkatalog des Deuteronomium Bezug nimmt, wie zwei weitere Grabsteine zeigen.31 Auch in Laodikeia am Lykos findet sich ein Beleg.32 3.2. Die Fluchsichel In zwei weiteren Grabinschriften aus Akmoneia knüpft der Fluch an eine Vision des Propheten Sacharja an.33 Wer sich an dem Grab vergeht, in dessen Haus solle die Sichel des Fluches eindringen.34 Das besondere Interesse dieses Fluches besteht darin, daß er auf einem Übertragungsfehler der Septuaginta beruht: Statt mit „Schriftrolle“ gaben die Übersetzer die hebräische Vokabel mit „Sichel“ (δρέπανον) wieder.35 Daß sich die beiden Familien in Akmoneia der Septuaginta bedienten, ist keine Selbstverständlichkeit: Für die Christen entwickelte sich der Septuagintatext in der Kaiserzeit zum Standard, während die Juden zunehmend und gerade in Auseinandersetzung mit den Christen davon abrückten und mit korrigierten Versionen hantierten.36 Aquila, der im 2. Jh. die hebräische Bibel ins Griechische übersetzte und dessen Version bei Juden Verbreitung fand, ersetzte an der einschlägigen Sacharjastelle δρέπανον durch διφθέρα („Pergament“), wie die Hexapla des Origenes zeigt.37 Unter diesen Voraussetzungen scheint 28 Gal 3,10 zitiert Dtn 27,26. Zur Septuagintakenntnis der galatischen Christen Wischmeyer, 2010, 147–150. Die Stelle aus Deuteronomium zitiert auch Iust. dial. 95,1. Zu den jüdischen Traditionen von Dtn 27–30 vgl. Morland, 1995, 51–59. 29 Diese Bedenken etwa bei Strubbe, 1997, 160. 30  Die Liste von McKechnie, 2009, 6–18 umfaßt allerdings etliche umstrittene Fälle (etwa auch Erastos aus Korinth oder Grabherren, die sich der Eumeneischen Formel bedienen). Mit großer Wahrscheinlichkeit christlich aber Inschriften von Klaudiu Polis Nr. 44 und Ramsay, 1897, 526–528 Nr. 371 (Eumeneia). Vgl. auch Strubbe, 1994, 90. Ein eindeutiger Beleg ist auch Eus. h. e. 8,11,1. Ausführlich zur Thematik Weiss 2015, v. a. 203–208. Vgl. auch die Überlegungen bei Wischmeyer, 1992, 30–34. 31 Ameling, 2004, Nr. 174; auch Nr. 172. Vgl. Strubbe, 1994, 117–120 Nr. 8–9. 32 Ameling, 2004, Nr. 213. Dazu Huttner, 2013, 247–249. 33 Sach 5,1. 34 Ameling, 2004, Nr. 175: … τὸ ἀρᾶς δρέπανον εἰσέλθοιτο εἰς τὰς οἰκήσις αὐτῶν …; Nr. 176: … τὸ ἀρᾶς δρέπανον εἰς τὸν ὖκον αὐτοῦ [εἰσέλθοιτο … Vgl. Strubbe, 1994, 111–114 Nr. 5–6. 35 Vgl. Meyers / ​Meyers, 1987, 277–278.; Ameling, 2004, 373–374. 36 Vgl. Tilly, 2005, 81–84 u. 113–121; auch Strubbe, 1994, 94, der allerdings davon ausgeht, daß die Inschriften, die mit dem Sichelfluch drohen, jüdischen Ursprungs seien. 37 Field, 1875, 1020. Zu Aquila jetzt Labendz, 2009; auch Simon, 1986, 55–60 u. 299–300; Tilly, 2005, 87–89.

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die religiöse Klassifizierung der beiden Grabsteine nicht so eindeutig wie in der bisherigen Forschung angenommen, wo man sie in der Regel bei den jüdischen Inschriften einordnete.38 Pagane Passanten mochten bei der Lektüre dieser Grabinschriften vielleicht auch an die brutale Kastration des Himmelsgottes Uranos denken, die Kronos laut Hesiod mit einer Sichel vollzog.39 3.3. Die Eumeneische Formel Eine große Inschriftengruppe, deren religiöse Klassifizierung Schwierigkeiten bereitet, enthält eine Formel, die vom Grabschänder Rechenschaft vor Gott verlangt, ohne daß dieser Θεός einen spezifizierenden Namen erhielte. Besonders oft und zugleich relativ früh dokumentiert ist die sog. Eumeneische Formel,40 die man vor allem in der Gegend von Eumeneia und überhaupt am oberen Mäander findet: ἔσται αὐτῷ πρὸς τὸν θεόν. Wir wollen uns ein Beispiel aus Eumeneia näher ansehen, für das durch eine explizite Ärenangabe die Datierung in die Zeit vor der Regierung des Decius gesichert ist, nämlich ans Ende des Jahres 246. Der Text lautet in Übersetzung folgendermaßen: Im Jahr 331, im 2. Monat. Aurelios Alexandros, Sohn des Seios, aus der Phyle Apollonis, und Aurelia Zenonis, seine Frau, errichteten das Grab (Heroon) für sich selbst und ihre Kinder: Ammia und Messaleine und Zenonis und Alexandreia, wenn von ihnen eine kinderlos stirbt. Wenn aber jemand einen anderen Leichnam dazulegt, wird er Rechenschaft ablegen vor dem Gott, sowohl jetzt als auch in alle Ewigkeit, und er soll nicht Anteil erhalten an dem Versprechen des Gottes, und wer eine von ihnen daran hindert, bestattet zu werden, der soll der vorgenannten Bedingung unterliegen.41 38  Vgl. v. a. van der Horst, 1991, 57–58; Trebilco, 1991, 74–76, der sogar aus diesen Inschriften die Verwendung der Septuaginta in der jüdischen Gemeinde von Akmoneia ableitet (75–76.): „These inscriptions which use the LXX are undated, but probably come from the third century since most of the evidence from Acmonia belongs to this period. It is noteworthy that the LXX was still in use in this Diaspora community at this time.“ Sowie Strubbe, 1994, 87–89 u. 99. 93 zieht Strubbe denselben Schluss wie Trebilco. Vgl. auch schon Robert, 1960, 399–400 mit Anm. 6. Ferner Angerstorfer, 2012, 309. Destephen, 2010, 178 nimmt die Texte nicht bei den christlichen Inschriften von Akmoneia auf. Anders allerdings Trebilco, 2004, 71, wo er einen christlichen Kontext in Erwägung zieht. Ameling, 2004, 370–375 bespricht die Texte in seinem Corpus jüdischer Inschriften, will aber für Nr. 176, wo auch eine Variante der Eumeneischen Formel auftaucht, einen christlichen Kontext nicht gänzlich ausschließen (375). 39 Hes. theog. 154–184. Zum Mythos vgl. Lane Fox, 2011, 322–326. 40 Zur älteren Forschung vgl. Calder, 1939, 15–16. 41 MAMA XI Nr. 36: 1 [ἔ]τους τλαʹ μ(ηνὸς) βʹ. Αὐρ. Ἀλέξανδρος Σηΐου φ(υλῆς) Ἀπολλων‑ [ί]δος καὶ Αὐρ. Ζηνω‑ 5 νὶς ἡ γυνὴ αὐτοῦ κα‑ τεσκεύασαν τὸ ἡρῷ‑ ον ἑαυτοῖς καὶ τοῖς τέκνοις αὐτῶν Ἀμμ‑ ίᾳ καὶ Μεσσαλείνῃ καὶ

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Der Grabstein enthält weitere Informationen zur Qualifizierung des am Ende des Textes zweimal genannten Gottes vor. Die Eumeneische Formel wird zwar in aller Regel in einem jüdisch-christlichen Kulturkreis verankert,42 dennoch sollte man die religiöse Landschaft einer Stadt wie Eumeneia in Rechnung stellen, wo eben nicht die Juden oder Christen dominierten, sondern die Anhängerschaften griechischer und anatolischer Götter, wie die Münzprägung der Stadt bestätigt. Wie in anderen kleinasiatischen Städten wird dort wiederholt der Gott Apollon mit der Doppelaxt abgebildet.43 Daß Aurelios Alexandros seine Zugehörigkeit zur Phyle des Apollon notieren läßt, impliziert wohl kein religiöses Bekenntnis.44 Daß aber ausgerechnet Apollon in Eumeneia als ein strafender Gott dokumentiert ist, könnte für die Deutung der Eumeneischen Formel von Bedeutung sein: Ein Mann namens Epitynchanos wurde auf Grund eines Vergehens von Apollon Propylaios, der in Eumeneia auch in einer Reihe weiterer Inschriften belegt ist,45 bestraft und suchte ihn durch ein Weihgeschenk zu besänftigen. Der Sockel trug das Relief einer Doppelaxt und die zugehörige Beichtinschrift des ausdrücklich als κολαζόμενος (bestraft) bezeichneten Missetäters.46 Könnte es also sein, daß 10 Ζηνωνίδι καὶ Ἀλε‑ ξανδρείᾳ, ἣ ἂν ἄτε‑ κ̣νος ἐξ αὐτῶν τελε[υ]‑ ήσῃ. εἰ δέ τις ἕτερον ἐπε‑ ένκῃ πτῶμα, ἔστα[ι] 15 [α]ὐτῷ πρὸς τὸν θε‑ ὸν καὶ νῦν καὶ τῷ π‑ [α]ντὶ αἰῶνι, καὶ μὴ τύ‑ [χ]υτο τῆς τοῦ θεοῦ[ἐ]‑ π̣ανγελίας, καὶ ὃς̣ [ἂν] 20 [κ]ωλύσει αὐτῶν [τεθῆ]‑ ναί τινα, τῇ προ̣[κιμέ]‑ [νῃ] αἱρέσι ἐ[νέχοιτο]. Auf der rechten Seite des Steins steht eine weitere Grabinschrift mit denselben Formeln. 42 Grundlegend Trebilco, 2004. Vgl. z. B. Robert, 1960, 400–413; Tabbernee, in Horsley, 1983, 136–139; Mitchell, 1993, Bd. 2, 40 (christlich); Strubbe, 1994, 86 Anm. 50 (christlich); Tabbernee, 1997, 144–147; Destephen, 2010, 169 (eher christlich als jüdisch). Allgemein zum Gottesgericht in jüdisch-christlicher Tradition Feldmeier / ​Spieckermann, 2011, 466–491. 43  Z. B. RPC I Nr. 3149 (hier auch die Doppelaxt als Gegenstempel); RPC II Nr. 1386; RPC online Nr. 1697, 9982. Weiterführend Labarre, 2007, 284–285. 44 Zu den Phylen von Eumeneia vgl. Drew-Bear, 1978, 71–72. 45 Vgl. Labarre, 2007, 283–284 u. 295–296; MAMA XI Nr. 30 mit Kommentar. 46 SEG 26 Nr. 1376; Petzl, 1994, 120–121. Nr. 104: [Ἀπόλλω‑ νι Προ‑ πυ]λα̣ίῳ [ Ἐπ]ιτύν‑ 5 [χ]ανος κολα̣‑ ζόμενος [ἀ]νέθηκεν. Zur Doppelaxt als Attribut des Apollon in Anatolien weiterführend Erten / ​Sivas, 2011, 186– 187 mit Anm. 5 u. 6.

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sich die Zeitgenossen über die Identität des in der Eumeneischen Formel genannten Gottes deswegen nicht verständigen mußten, weil die Macht der Stadtgottheit Apollon ohnehin außer Frage stand?47 Daß dieser Lösungsweg in die Irre führt, zeigt ein weiterer Grabstein aus Eumeneia, der vom Delinquenten Rechenschaft vor dem lebendigen Gott fordert. Es handelt sich um das Grab des Bischofs Metrodoros.48 Überdies wissen wir, daß die ἐπαγγελία (Verheißung) des Gottes, die dem Delinquenten am Ende des Inschriftentextes des Aurelios Alexandros versagt wird, zu den tragenden christlichen Konzepten in den Paulusbriefen zählt, wobei die Formulierung zuweilen exakt mit der in der Inschrift übereinstimmt.49 Aurelios Alexandros scheint also ein Christ gewesen zu sein.50 Zugleich stellt sich freilich die Frage, ob auch ein zeitgenössischer Passant den religiösen Kontext in dieser Weise entschlüsselt hätte. Nimmt man die Eumeneische Formel für sich, so fehlt das methodische Instrumentarium, um auf eine religiöse Zugehörigkeit zu schließen – es sei denn, man begnügt sich mit vagen monotheistischen oder henotheistischen Kategorien. 3.4. Die Formel Λόγον δώσει τῷ Θεῷ Es gibt noch zwei weitere Formeln, der Eumeneischen Formel sehr ähnlich, die ebenfalls die Rechenschaft vor dem nicht namentlich genannten Gott androhen. Die eine lautet λόγον δώσει τῷ Θεῷ, die andere ἕξει / ​ἕξῃ πρὸς τὸν Θεόν. Letztere läßt zwar oft einen christlichen Kontext erkennen, scheint aber vor dem 4. Jh. kaum belegt.51 Λόγον δώσει τῷ Θεῷ kündigt den Delinquenten demgegenüber – auch lange vor der konstantinischen Wende – das göttliche Strafgericht an.52 47 Wischmeyer, 2005, 154 spricht von den „traditionelle(n) Wirkaspekte(n)“ der jeweiligen lokalen Gottheiten, die sich in dem „anonymisierten“ Monotheismus der Inschriften niederschlügen. Belayche, 2007, 100 Anm. 118 identifiziert den θεὸς ὕψιστος in OGIS 755–756 (IvMilet Nr. 1138–1139) mit dem didymeischen Apollon. Weitere Beispiele bei Belayche, 2010, 163 mit Anm. 127. Vgl. auch Chaniotis, 2010, 126–129 u. 140. Ferner Ar. Lys. 302 (… τῇ θεῷ mit Bezug auf Athene); Pl. Ap. 21 e (… τοῦ θεοῦ … mit Bezug auf Apollon Pythios). In den Graffiti des Sarapis / ​Bes Heiligtums in Abydos wird die Gottheit zuweilen lapidar als θεός bezeichnet (Pedrizet / ​L efebvre, 1919, Nr. 439; 532). 48 Ramsay, 1897, 521–522 Nr. 362; Guarducci, 1978, 386–388 Nr. 4. Vgl. zu weiteren Belegen für die Eumeneische Formel in christlichem Kontext Calder, 1939, 21–22; Trebilco, 2004, 68–70. 49 Vgl. Röm 4,20; 2 Kor 1,20; Gal 3,16–19 u. 21. Vgl. auch Trebilco, 2004, 74 der gleichwohl einen jüdischen Kontext nicht gänzlich ausschließen will. Weiterführend zur „Verheißung“ im Galaterbrief Feldmeier / ​Spieckermann, 2011, 459–462. 50 Calder, 1939 zeigt, daß die Eumeneische Formel nie in einem nachweisbar paganen und sehr selten in einem nachweisbar jüdischen Kontext auftaucht. Ein christlicher Kontext lasse sich hingegen öfter nachweisen. Strubbe, 1994, 84 will demgegenüber eine pagane Nutzung der Eumeneischen Formel nicht ausschließen. Vgl. auch oben Anm. 49. 51 Vgl. Calder, in MAMA VII, XLII–XLIII; Robert, 1960, 401–405 (grundlegend); Walser, 2013, 573. Buckler / ​Calder / ​Cox, 1924, 36–37. Nr. 19, Laminger-Pascher, 1984, 64 Nr. 109 und Mitchell, 1982, 203–204. Nr. 246 könnten auch ins 3. Jh., vielleicht sogar in dessen erste Hälfte, gehören. 52 Zwar setzt Calder in MAMA VII, S. XLII einen Schwerpunkt für die Zeit 325 bis 350, die

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In Konya wurde nördlich des Stadtzentrums ein mächtiger Sarkophag entdeckt, der heute im Hof des Archäologischen Museums steht. Die von Medusenschilden flankierte Inschriftentafel präsentiert folgenden Text: „Ailios Zoeilos Neogausaparis (Wolldeckenhändler?) errichtete das Grab für sich selbst und seine Frau (A)Elia Zoe. Wer Gewalt (daran) verübt, wird vor Gott Rechenschaft ablegen und in die Kasse 2500 Denare einzahlen.“53 Format und Gestaltung des Monuments zeigen den sozialen Status, der Aeliername signalisiert, daß die beiden aus Familien stammten, die – wie viele andere in Ikonion – unter Hadrian das römische Bürgerrecht erhalten hatten.54 Der Sarkophag dürfte aus der Zeit um 200 stammen, wenn auch eine spätere Datierung (etwa um die Mitte des 3. Jh.s) nicht ausgeschlossen werden soll.55 Der Grabschänder hat einen relativ hohen Betrag an die kaiserliche Kasse zu zahlen und überdies die Rechenschaft vor dem Gott zu gewärtigen. Der Sarkophag wurde zusammen mit drei weiteren gefunden. Einer von ihnen trägt eine Inschrift, die ebenfalls ein Ehepaar mit Aeliernamen memoriert, in den Vorkehrungen gegen Grabschändung aber nur eine Mult proklamiert, ohne einen sakralen Zusammenhang herzustellen.56 Aus dem Fundkontext ergibt sich also kein Hinweis, wie der richtende Gott des Aelius Zoilos einzuordnen ist. Aus der Gegend von Ikonion sind noch drei weitere Grabinschriften bekannt geworden, die sich derselben Formel bedienen, dabei aber

Ursprünge der Formel läßt er allerdings offen. Calder kannte die Sarkophage aus Konya noch nicht, von denen einer im Folgenden besprochen werden soll (vgl. auch Schwertheim, 2003, 91 Nr. 7). Ins 3. Jh. dürfte wegen des Aureliernamens auch IK Pessinous Nr. 69 gehören. Zur Formel auch Bees, 1941, 53 (Komm. zu Nr. 26); Feissel, 2006, 365. 53 McLean, 2002, 59–60. Nr. 181; vgl. Schwertheim, 2003, 88–89. Nr. 3. Αἴλιος Ζώειλος νεο‑ γαυσαπάρις κατεσκεύ‑ ασε τὴν σορὸν ἑαυτῷ κὲ γυνεκὶ αὐτοῦ  Ἐλίᾳ 5 Ζοῇ· ὃς δὲ ἂν ἐπεισ‑ βιάσετε, δώσι θεῷ λόγον κὲ τῷ φίσκῳ ᚕ ,βφ’. Möglicherweise war der Grabherr ein Wolldeckenhändler o. ä. (vgl. lat. gausapa). Dazu Thonemann, 2003, 92. 54 Vgl. zu dieser Privilegierung in Ikonion Mitchell / ​French, 2012, 429. 55 Die epigraphischen Kriterien sprechen m.  E. für eine Datierung um 200: vgl. auch Schwertheim, 2003, 88. Özgan, 2003, 73 (bzw. 68) schlägt allerdings auf der Basis archäologischer Kriterien eine Datierung in die zweite Hälfte des 3. Jh.s vor. 56 Vgl. Özgan, 2003, 72; zur Inschrift des zweiten Sarkophages Schwertheim, 2003, 87 Nr. 1 (Özgan, 2003, 47–48 Nr. 14); auch McLean, 2002, 60 Nr. 182. Ein weiterer Sarkophag vom Fundort (Özgan, 2003, 75–76. Nr. 30) zeigt nur den Namen Σωζόμενος, der letzte Sarkophag trägt keine Inschrift. – Im Hof des Archäologischen Museums steht auch der unpublizierte Sarkophag für einen Aelius Demetrios. Die Inschriftentafel ist oben durch ein kleines Staurogramm gekennzeichnet. Im Inschriftentext werden hier allerdings keine Vorkehrungen gegen Grabschändung getroffen.

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keinen weiteren Hinweis auf eine religiöse Zuordnung geben.57 Im benachbarten Laodikeia Katakekaumene ist die Formel in christlichen Inschriften belegt, die der konstantinischen oder nachkonstantinischen Zeit zuzurechnen sind.58 Vor allem ein Argument spricht dafür, daß der Sarkophag des Aelius Zoilos und auch die analogen Inschriften aus Konya in einen christlichen Kontext einzuordnen sind. Auch wenn λόγον διδόναι ein gängiger Terminus technicus der griechischen Geschäftssprache und auf dieser Basis auch in ethischen Argumentationen ist,59 so taucht die Formulierung λόγον δώσει τῷ Θεῷ, wie Recherchen im Thesaurus Linguae Graecae ergeben, nur in der christlichen Literatur auf. Den Anfang macht Paulus im Römerbrief, worin er seine Adressaten auffordert, sich nicht richtend über die Mitbrüder zu erheben: „Denn wir alle werden vor das Tribunal des Gottes treten … . Ein jeder von uns wird ja über sich vor dem Gott Rechenschaft ablegen.“60 Die Rezeption dieser Paulusstelle läßt sich etwa im Philipperbrief des Polykarp greifen, wenn der Bischof von Smyrna die Pflicht, anderen zu vergeben, dadurch einschärft, daß er die Rechenschaft eines jeden vor dem Richterstuhl Christi ins Gedächtnis ruft.61 Eusebios schildert in einer Passage gegen Ende der Vita Constantini den Kaiser in seiner Rolle als Theologe und Prediger. Seinen Zuhörern (offensichtlich Funktionäre des kaiserlichen Hofs) habe er die Leviten gelesen und sie an das göttliche Gericht erinnert, vor dem er  – Konstantin  – stellvertretend Rechenschaft ablegen werde. Hier verwendet Eusebios – vielleicht nach der Vorlage Konstantins – die Formulierung θεῷ λόγον δώσειν.62 Der Warnruf verfolgt hier ebenso wie auf den Grabsteinen das Ziel, weitere Verstöße zu verhindern. Konkret auf die Stelle im Römerbrief verweist Basileios in den Regulae morales, die sich an ein breites Publikum richten, wenn er unter dem Leitsatz 54 daran erinnert, daß man nicht über seine Mitmenschen richten solle.63 57 Özgan, 2003, 79 Nr. 35 (darin auch Schwertheim, 91 Nr. 7); Cronin, 1902, 354 Nr. 98; SEG 34 Nr. 1319. 58  MAMA I Nr. 167; MAMA VII Nr. 164 a. 59 Vgl. Kittel / ​Friedrich, ThWNT IV (1942), 103–104 (s.  v. λέγω); zur Ethik etwa Pl.La.187 e–188 a (Rechenschaft über sich selbst); Belege im NT bei Schlier, 1977, 412. 60 Röm 14,10 u. 12: πάντες γὰρ παραστησόμεθα τῷ βήματι τοῦ θεοῦ, … . ἄρα οὖν ἕκαστος ἡμῶν περὶ ἑαυτοῦ λόγον δώσει τῷ θεῷ. 61 Polyc. Phil.6,2: … καὶ πάντας δεῖ παραστῆναι τῷ βήματι τοῦ Χριστοῦ, καὶ ἕκαστον ὑπὲρ ἑαυτοῦ λόγον δοῦναι. Unmittelbarer Bezug auf den Römerbrief in Cypr. ep. 69,17, wo es um die Rechenschaft kirchlicher Amtsträger vor Gott geht. Zur Rechenschaft vor Gott auch Herm. 27,5. 62 Eus. VC 4,29,4: οἷς δὴ λαμπραῖς φωναῖς μαρτυρόμενος διεστέλλετο θεῷ λόγον δώσειν τῶν ἐγχειρουμένων αὐτοῖς. Der Gedanke der stellvertretenden Rechenschaft auch in Clem. Quis dives salvetur 42 (960 P), wo Johannes für einen Räuberhauptmann einsteht, dem er sich verpflichtet fühlt. Er werde für den Bösewicht vor Christus Rechenschaft ablegen: ἐγὼ Χριστῷ λόγον δώσω ὑπὲρ σοῦ. Den Hinweis auf einige der hier genannten Textstellen zur Rechenschaft vor Gott verdanke ich Christiane Zimmermann. 63 Bas.mor.54 (PG 31, 780 C). Weiterführend zu den Regulae morales Rousseau, 1994, 228–232.

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3.5. Die Formel Τὸν Θεόν σοι, μὴ ἀδικήσεις Eine weitere verbreitete Formel, die den Passanten in einer Nekropole davor warnt, ein Grab zu schänden, lautet Τὸν Θεόν σοι, μὴ ἀδικήσεις  – „Bei Gott! Tue kein Unrecht!“ Besonders häufig kam die Formel im Oberen Tembristal vor, wo christliche Familien ihr Bekenntnis nicht selten auf den Grabsteinen proklamierten, indem sie sowohl die Bestatteten als auch die Hinterbliebenen explizit als Christen bezeichneten (vgl. oben bei Anm. 19). Dieses Bekenntnis – in der Formulierung Χρηστιανοὶ Χρηστιανοῖς – konnte zuweilen auch mit der Warnung „Bei Gott! Tue kein Unrecht!“ kombiniert werden.64 Eine weitere Inschrift, die durch die Warnung eröffnet wird, ist durch ein deutliches Kreuz gekennzeichnet.65 Jedenfalls bedienten sich also auch Christen jener Formel.66 Wir würden es uns sicher zu einfach machen, zögen wir den Umkehrschluß und ordneten dieser Formel regelmäßig eine christliche Bestattung zu. Es war Adolf Wilhelm, der den Sinn der Formel klarstellte und die ersten drei Worte als beschwörende Anrufung identifizierte, die sich auch in der griechischen Literatur, insbesondere bei Epiktet nachweisen läßt.67 Die rhetorische Frage etwa, ob man sich eine Stadt mit Epikureern vorstellen könne, die ja weder heiraten noch Kinder zeugen noch sich politisch engagieren, leitet er mit dem Ausruf τὸν θεόν σοι ein.68 Die Textstellen bei Epiktet, die eine alltägliche Floskel signalisieren, warnen davor, die sakrale Konnotation der Wendung zu sehr zu forcieren.69 Andererseits sind solche Akklamationen nicht in jedem Fall als Äußerungen spontanen Staunens zu deuten, sondern haben auch in rituellen Zusammenhängen ihren Platz.70 Überdies sind die Grabinschriften natürlich im Kontext der anderen Grabschutzformeln zu sehen, die gerade in Phrygien explizit die Rechenschaft vor Gott fordern. Daß die Verwendung der Formel ein christliches Monopol war, ist sicher auszuschließen. In der christlichen Literatur scheint der Ausruf nicht einmal vorzukommen.71 Wir wollen uns zwei der Grabsteine aus der Region näher ansehen, die zwar im Text die einschlägige Warnung beinhalten, aber nicht automatisch in einen christlichen Kontext eingeordnet werden können. 64 Vgl. Gibson, 1978, 76–84 Nr. 28–29. Die Formel in der Abwandlung: Τὸν Θεόν σοι, ἀναγνοὺς μὴ ἀδικήσεις. 65 Gibson, 1978, 59–61 Nr. 25. 66 Zu Abwandlungen der Formel im christlichen Kontext vgl. Robert, 1940, 33–36; Robert, 1960, 155–156. 67 Vgl. Wilhelm, 1932, 855 (1974, 399). 68 Epikt. 3,7,19. 69 Vgl. aber Olympiodoros, der in seinem Kommentar zu Platon, Gorgias (4,3) aus dem Ausruf „Bei Hera!“ (Pl. Gorgias 449d5: Νὴ τὴν  Ἥραν) auf eine monotheistische Grundhaltung schließt und so die Brücke zum Christentum schlägt. Vgl. zu dieser Stelle Fürst, 2010, 83. 70 Vgl. Chaniotis, 2010, 122–123. 71 Kursorische Recherche im TLG.

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Aus dem Oberen Tembristal (genauer aus Olucak etwa 35 km nordwestlich von Afyon) stammt der Marmorgrabstein einer fünfköpfigen Familie, den die Ehegattin namens Neikomachis in Auftrag gab, als ihr Mann verstarb.72 Der Stein ist reich mit Reliefs verziert: In einer oberen Nische sind die Büsten des Ehepaars zu sehen, in einer unteren läßt ein Kind einen Vogel an Trauben picken. Weitere Details sind seitlich der Nischen abgebildet: Arbeitsgeräte etwa wie Spindel und Rocken oder ein Griffelbehälter. Die Inschrift nennt die Auftraggeberin, die den Stein für ihren Mann fertigen ließ, und die drei Kinder bei Namen und abschließend die stereotype Formel μνήμης χάριν („zum Gedenken“). Links der unteren Nische steht dann der Zusatz Τὸν Θεόν σοι, μὴ ἀδικήσεις. Die Herausgeber William M. Calder und William H. Buckler hielten den Grabstein für christlich, da sie in dem traubenpickenden Vogel eine aus der christlichen Ikonographie vertraute Taube zu erkennen glaubten.73 Jedoch steht die religiöse Klassifizierung des Bildschmucks auf unsicheren Beinen, und das Bekenntnis der Familie bleibt unklar. Denn Kinder, die ihre Haustiere kosen, waren in der griechischen Grabkunst seit langem ein verbreitetes Motiv.74 Die zweite Inschrift wurde knapp 20 km nördlich von der eben besprochenen gefunden und gehört ebenfalls in den Kontext des Oberen Tembristals mit seinen fruchtbaren Ländereien und zahlreichen Dörfern.75 Der Grabstein aus weißem Marmor ist prächtig gestaltet und wird dominiert von einer Frauenstatue in langem Gewand, die hieratisch in einer Nische steht. Wie aus der zugehörigen Inschrift unter der Statue hervorgeht, trägt sie den einheimischen Namen Ape. Neben ihrem Ehemann, der für die Errichtung des Grabes sorgte, sind eine ganze Reihe weiterer Familienmitglieder genannt, die der Ape gedachten. Den Abschluß des Textes bildet einmal mehr formelhaft μνήμης χάριν. Über der Statue steht als eröffnende Warnung: Τὸν Θεόν σοι, μὴ ἀδικήσεις. Ganz oben bekrönt den Grabstein ein Relief, das eine Wagenfahrt darstellt, die von den Herausgebern (Barbara Levick, Stephen Mitchell, Marc Waelkens) plausibel als Raub der 72 MAMA

VI Nr. 363: Νεικομαχὶς Ματρι συμβίῳ κὲ ἑαυτῇ ζῶσα κὲ τὰ τέκνα αὐτῶν Καρικὸς καὶ Μόδεστος κὲ Στρατονείκη νύμφη ἐ‑ ποίησαν μνήμης χάριν. Τὸν Θεόν σοι, μὴ ἀδική/σεις. Zum Oberen Tembristal vgl. Mitchell, 1993, Bd. 1, 158 u. 179. 73 Tauben‑ bzw. Vogeldarstellungen als christliche Bildzeichen auf Grabinschriften (Rom, Gallien): Dresken-Weiland, 2010, 35–36. Vgl. die generelle Skepsis von Destephen, 2010, 166 gegenüber der christlichen Deutung derartiger Bildmotive. 74 Vgl. Backe-Dahmen, 2008, 55. Kinder mit Vögeln in der Hand lassen sich auf kaiserzeitlichen Grabreliefs des Oberen Tembristales (bzw. allgemein in Phrygien) noch öfter nachweisen. Vgl. T. Lochman in Berger, 1990, 477–482 u. 505 (Beil. 52,2). 75 Die Inschrift MAMA X Nr. 106.

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Persephone in Anspielung auf eine Hochzeitsmotivik gedeutet wurde.76 Sollte also Pluto diejenige Gottheit sein, die in der schriftlichen Warnung unmittelbar unter dem Relief beschworen wird? Die Ausstattung der stadtrömischen Katakomben signalisiert, daß die alte Mythenwelt wiederholt in christlichen Gräbern ihren Platz fand.77 Weiter nordwestlich im Oberen Tembristal wurde eine Grabinschrift gefunden, die in plumpen Versen den vorzeitigen Tod einer Frau beklagt: In schaurigen Bildern werden die „heulenden Erinyen“ ebenso auf den Plan gerufen wie die „Diener des sonnenlosen Pluto“.78 Es handelt sich um eine der „Christen für Christen“-Inschriften, in denen die Familien ihr religiöses Bekenntnis offen deklarierten. Ob Ape eine Christin war oder nicht, muß offenbleiben. Diejenigen Steine, die sowohl durch die Formel Τὸν Θεόν σοι, μὴ ἀδικήσεις als auch durch den Zusatz Χρηστιανοὶ Χρηστιανοῖς gekennzeichnet waren, wurden jedenfalls nur wenige Kilometer nördlich gefunden.79 Grundsätzlich war es nicht abwegig, wenn zeitgenössische Passanten den von Ape und ihren Angehörigen beschworenen Gott mit dem Christengott assoziierten. Jedoch war diese Deutung nicht zwingend, da der Verfasser des Textes, bewußt oder nicht, auf eine eindeutige Formulierung, die eine religiöse Klassifizierung erlaubte, verzichtete.

4. Fazit: Probleme um die Kryptochristen Wir sind also in einigen Regionen Zentralanatoliens, vor allem in Phrygien und Lykaonien, mit Grabinschriften der hohen und späteren Kaiserzeit konfrontiert, die im Rahmen einer Grabschutzformel das Bekenntnis zu einer richtenden oder strafenden Gottheit deklarieren, die sich entweder aus der jüdischen Tradition erklärt (Deuteronomium, Sacharja) oder gar nicht weiter spezifiziert wird. Der Gott bleibt anonym: Er kann, aber er muß nicht mit dem Christengott identifiziert werden. Der Befund läßt sich unterschiedlich deuten: als Zeugnis der „stilistischen Konvention“ einer Gesellschaft, die geprägt ist von religiöser Toleranz, wo die Übergänge am Rande der religiösen Gruppen fließend sind und so eine Uniformierung der Gottheit ermöglicht wird, die jene Gruppen

76 Stützen läßt sich diese Deutung durch eine analoge Darstellung auf einer Stele im Museum von Uşak: Lochman, 2003, 268 Nr. II 192. Vgl. zum Bildtypus „Brautfahrt der Persephone“ Günther, 1997, 967–970. 77 Weiterführend Bisconti, 2007. Zu Mythen in christlicher Ikonographie auch Cameron, 2011, 698–706. 78 MAMA X Nr. 213. 79 Zur Ortslage der Ape-Inschrift (Alibey-Köy) und der beiden „Christen für Christen“-Inschriften (Aykırıkçı) Belke / ​Mersich, 1990, 201 u. 385.

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übergreifend erfaßt;80 als bewußtes Bekenntnis zu einer abstrahierten Gottheit,81 das sich offenbar auch in der Verehrung des Theos Hypsistos widerspiegelt82 und anscheinend in Assoziation mit dem Sonnenkult den frühen Konstantin prägte;83 oder eben doch als eine Strategie von Christen, um sich feindseligen Zeitgenossen und den Behörden gegenüber keine Blöße zu geben.84 Von der letzten dieser Erklärungen hat sich die Forschung nach und nach verabschiedet, da ein derartiges „Kryptochristentum“ nicht in die kulturelle und religiöse Gemengelage des kaiserzeitlichen Kleinasien passe.85 Dagegen ist freilich zu sagen, daß zum einen das nomen Christianum, das explizite Bekenntnis zu Christus, nach wie vor verboten war und die Christen ständig Gefahr liefen, angezeigt zu werden,86 und daß es zum anderen einen deutlichen Beleg dafür gibt, daß Christen den Schutz der jüdischen Gemeinde suchten, indem sie Schranken abbauten und Grenzen überschritten.87 Tertullian schreibt in seinem Apologeticum, Christen hätten sich sub umbraculo („unter den Schirm“) des Judentums geflüchtet, da es sich um eine erlaubte Religion (religio licita) handle.88 Daß die Situation der Christen auch in der Provinz Asia schon im 2. Jh. durchaus prekär war, zeigen – abgesehen 80 In

diesem Sinne Chiricat, 2013, 203 (hier auch das Zitat „stylistic convention“). und konkret platonische Konzepte könnten hier eine Rolle spielen. Zum epochalen Einfluß des Platonismus seit der hohen Kaiserzeit Schäfer, 2008, 44–49. 82  Vgl. Mitchell, 1993, Bd. 2, 43–51; Mitchell, 1999, 125–128; Mitchell, 2010, 179–189; auch Mitchell, 2003, 150 u. 159. Das Konzept des „Theos Hypsistos“ ist allerdings umstritten. Gegen Mitchell wurde Kritik laut, ὕψιστος sei als ehrendes und die Einzigartigkeit einer jeweils spezifischen Gottheit akzentuierendes Epitheton zu deuten. Knapp zusammenfassend zu dieser Kritik etwa Van Nuffelen, 2010, 24. Mitchell, 2010 reagiert auf diese Kritik; dazu Marek in diesem Band. 83 Vgl. Rosen, 2013, 142–158; ferner Salzman, 2007, 113–114. 84 Vgl. Destephen, 2010, 167: „La référence à une divinité anonyme et dont l’unicité n’est jamais affirmée offre l’occasion de ne pas heurter la sensibilité des partisans des cultes traditionnels“. 85 Nachdrücklich Chiricat, 2013. Anders aber Destephen, 2010, 164–165. Vgl. auch Tabbernee, 2008, 127–130 (differenzierend). 86 Locus classicus: Plin. ep. 10,96,2. Zur Christenproblematik bei Plinius etwa Giovannini, 1996, 112–121. Ameling, 2010, 294–298. Generell Vittinghoff, 1984, 355, der das christliche Bekenntnis als „latentes politisches Delikt“ bezeichnet; Ste. Croix, 2006, 108–144 (orig. PP 26 [1963], 6–38). Vgl. Motschmann, 2002, 220–271; Clarke, 2005, 616–625. 87 Vgl. auch das in Gal 6,12 (dazu oben bei Anm. 8) beschriebene Verhaltensmuster, wonach christliche Missionare die Beschneidung fordern, um nicht in Konflikt mit den jüdischen Gemeinden zu geraten. 88 Tert. apol. 21,1 (wobei es Tertullian letztlich um die Abgrenzung der christlichen secta vom Judentum geht): Sed quoniam edidimus antiquissimis Iudaeorum instrumentis sectam istam esse suffultam quam aliquanto novellam, ut Tiberiani temporis, plerique sciunt, profitentibus nobis quoque, fortasse an hoc nomine de statu retractetur, quasi sub umbraculo insignissimae religionis, certe licitae, aliquid propriae praesumptionis abscondat, … . – Vgl. zu dieser Stelle Simon, 1986, 406. Der explizite Hinweis, daß das Judentum eine religio licita sei, signalisiert, daß Tertullian hier auf die Verfolgungssituation anspielt, in der das Christentum steht. Die beiläufige Bemerkung Tertullians gehört in den Kontext seines Altersbeweises, wonach das Christentum die weit zurückreichenden Traditionen des Judentums für sich beansprucht. Weiterführend Zilling, 2004, 150–152. 81 Philosophische

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von den Überlieferungen zum Polykarpmartyrium in Smyrna  – der Hinweis des Meliton von Sardes auf die verschärfte Gangart unter Marc Aurel sowie die Nachricht Tertullians über Verfolgungen durch den Statthalter Arrius Antoninus gegen Ende der 80er Jahre.89 Gerade dann besannen sich die Christen auf die gemeinsamen Wurzeln mit dem Judentum, wenn sie ihre irdische Existenz bedroht sahen. Der Gott, der die Rachesichel schwang, war auch ihr Gott; der eine, strafende Gott bot auch ihnen eine Heimat. Man mußte ihn nicht unbedingt Christus nennen. Der Begriff des Kryptochristentums findet also eine handfeste Bestätigung in den zeitgenössischen Quellen, und es wäre vorschnell, ein solches Erklärungsmodell über Bord zu werfen. Hinzu kommen Belege aus dem 4. Jh.: Athanasius informiert in seiner Historia Arianorum über Berichte, Christen hätten während der diokletianischen Verfolgung bei mitleidigen Heiden Schutz gesucht und seien von diesen versteckt worden.90 Wenn sich die Synoden von Illiberis (309/310 oder später) und Ankyra (314?) wiederholt mit den Delinquenten auseinandersetzten, die an paganen Opferfeierlichkeiten teilgenommen hatten, so spiegelt sich hier auch der Anpassungsdruck wider, dem die Christen während der Verfolgungszeit der Tetrarchie ausgesetzt waren.91

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Samaritanische Diaspora im Imperium Romanum bis ca. 200 n. Chr. Martina Böhm Gab es speziell in Kleinasien im angegebenen Zeitraum eine samaritanische Diaspora – d. h. eine aus der Region Samarien erzwungene oder freiwillig erfolgte Migration von Menschen, die dem JHWH-Glauben verbunden und allein auf den Pentateuch fixiert waren, sich als Teil Israels verstanden und kultisch auf den Berg Garizim, den im Deuteronomium deklarierten Berg des Segens,1 orientiert haben? Eine erste Antwort auf diese Frage kann schnell gegeben werden: Davon ist mit einiger Wahrscheinlichkeit auszugehen.2 Konkrete Quellenbelege sind zwar ausgesprochen spärlich, und die wenigen Belege sind teils auch noch unsicher oder datieren aus relativ später Zeit, das muss jedoch nicht von vornherein viel besagen. Dass die Antwort positiv ausfällt, hängt nicht am Quellenbefund für Kleinasien selbst, der hier vollständig aufgenommen wird (Kapitel 1), und vielleicht noch nicht einmal am Gesamtbild, das sich aus dem Quellenbefund von der Entstehung und Verbreitung der samaritanischen Diaspora von der hellenistischen bis zur byzantinischen Zeit im ganzen Mittelmeerraum ergibt (Kapitel 2), sondern im Wesentlichen an zwei Faktoren, die im Anschluss an die Darstellung der Quellensituation benannt und entfaltet werden. Der erste Faktor dafür, dass die oben gegebene Antwort für Kleinasien positiv ausfällt, hängt mit der seit einigen Jahrzehnten deutlich veränderten religionsgeschichtlichen Wahrnehmung und Einordnung der Samaritaner zusammen (Kapitel 3). Sie bedingt den zweiten Faktor, der methodologische und hermeneutische Fragen betrifft (Kapitel 4). In beiden Kapiteln werden dann auch die prinzipielleren und komplexen Fragen zur samaritanischen Diaspora in hellenistisch-römischer Zeit und konkret für das Gebiet des Imperium Romanum zur Sprache kommen.

1 Dtn

11,29; 27,12. die gesamte Antike zusammenfassend van der Horst, 2014, 160: „it […] remains highly probable that Samaritans were part of the religious landscape of Asia Minor“. Vgl. den grundlegenden, die Forschungslage bis 1989 zusammenfassenden Beitrag von Crown, 1989, 195–217; und Crown, 1993, 73: „In the second century CE the Samaritans appear to have been located in every major coastal city in Palestine, and we find them in Italy and throughout Asia Minor“. 2 Für

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Zunächst erfolgt jedoch eine detaillierte Vorstellung und Diskussion der spärlichen Belege für Kleinasien, die die oben positiv vorgenommene Antwort allein gewiss nicht rechtfertigen können.

1. Der Quellenbefund für Kleinasien Für Kleinasien liegen aus der römischen Zeit zwei unsichere epigraphische Zeugnisse (a+b) und ein wertvoller, aber später literarischer Beleg (c) vor. Bei den beiden epigraphischen Zeugnissen handelt es sich um Grabinschriften.3 a) Die erste Grabinschrift ist eine Inschrift aus Rhodos aus dem 2. Jh. n. Chr.:4 IJO II 11 Ῥοδοκλῆς Μενίππου Σαμαρίτας, χαῖρε Rhodokles, Sohn des Menippos, Samaritaner / ​Samarier. Lebe wohl!

Bei dem als Σαμαρίτας5 näher bezeichneten Rhodokles kann es sich um eine religiöse Einordnung handeln, zwingend ist das aber nicht. Es kann auch um ein Ethnikon, d. h. um die Erwähnung der ursprünglichen Herkunft aus der palästinischen Region Samarien, gehen. Für die Bewohner Samariens werden in allen Quellengruppen (literarische Zeugnisse, Papyri, Inschriften) verschiedene Schreibweisen verwendet: Σαμαρεύς, Σαμαρίτης, Σαμαρῖτις (Sg.)6, Σαμαρεῖς, Σαμαρεῖται (Pl.)7. Keiner der Termini erlaubt – für sich genommen – eine Aussage über religiöse Aspekte. Eine grundsätzliche Schwierigkeit für die Identifizierung der genannten Personen besteht darin, dass hinter allen Bezeichnungen prinzipiell auch Bewohner der ethnisch und religiös heterogen geprägten geographischen Region und politischen Provinz Samarien stehen können. In antiken Quellen ist eine sichere Einordnung der Erwähnten als Samaritaner (in religiöser Hinsicht) nur dann möglich, wenn sich im Kontext Hinweise auf eine kultische Orientierung auf den Garizim finden.8 Aber auch die verbleibende Alternative, dass es sich bei den 3 Vgl.

zu den beiden Inschriften auch van der Horst, 2014, 160.

4 Ameling, 2004, 11. Der Band wird im Folgenden bei der Aufführung epigraphischer Belege

abgekürzt als „IJO II“. Analog werden abgekürzt Noy / ​Panayotov / ​Bloedhorn, 2004, als „IJO I“, und Bloedhorn, 2004, als „IJO III“. 5 Die Schreibweise Σαμαρίτας ist ungewöhnlich. 6 Auch als Σαμαρείτης, Σαμαρεῖτις belegt. 7 Auch als Σαμαρῖται belegt. 8 Dazu s. u. Allerdings fällt im Hinblick auf die in den Inschriften verwendete Terminologie auf, dass auf den erhaltenen Grabinschriften aus Griechenland, der Ägäis und Kleinasien mit einer Ausnahme immer die Schreibweise Σαμαρίτης / ​Σαμαρῖτις verwendet wird. Die Ausnahme stellt IJO I.68 dar, eine Inschrift aus Delos aus der Zeit um ca. 100 n. Chr.: Πραύλος Σαμαρεὺς καὶ [ὑπὲρ] τῶν ἀδελφῶν καὶ τῆς μ[ητρός]. Wegen des Fundkontextes (Serapistempel auf Delos,

Samaritanische Diaspora im Imperium Romanum bis ca. 200 n. Chr.

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inschriftlich erwähnten Σαμαρεῖται oder Σαμαρεῖς um Personen aus Samarien mit paganer Identität handelt, ist für die Frage der Diaspora nicht uninteressant, denn die Inschriften zeigen in jedem Fall eine aus Samarien (und in diesem Fall nach Rhodos) erfolgte Migration an. b) Als zweiter unsicherer, wenn auch schon eher in Frage kommender Beleg für eine samaritanische Diaspora in Kleinasien in römischer Zeit kann eine Grabinschrift aus Kaunos in Karien (vielleicht späthellenistisch / ​frühkaiserzeitlich) betrachtet werden: IJO II 24 Ἐυφάνης Ἀριστίωνος, Διονυσία Σίμωνος   ἡ γυνὴ αὐτοῦ, Κλευπάτρα καὶ ΦιλοΓΑ[ Εὐφάνου, Σικιμῖται.   πήχεις ε9 Euphanes, Sohn des Aristion, Dionysia, Tochter des Simon,   seine Frau, Kleupatra und Philo …, Töchter des Euphanes, Sichemiten. 5 Ellen.

Die Bezeichnung Σικιμῖται, die hier für eine ganze Familie verwendet wird, kann ein Indikator für garizimfixierte JHWH-Anhänger sein. Das alte Sichem lag am Fuße des Garizim. In der Genesis nimmt die Stadt einen wichtigen Platz als Kultort ein, denn Abraham baute Gott dort einen Altar (Gen 12,6 f).10 Archäologisch interessant ist die Wiederherstellung der lange unbewohnten Ortslage zu Beginn der hellenistischen Zeit.11 Bei Josephus wird Sichem für die Zeit Alexander d. Gr. als neben dem Garizim liegende Metropolis der Σαμαρεῖται bezeichnet, die von Apostaten des jüdischen Volkes bewohnt wird.12 Außerdem verwendet Josephus Σικιμῖται auch als Bezeichnung für die Garizimanhänger.13 Sichem wurde von Johannes Hyrkan I. am Ende des 2. Jh. v. Chr. dann genauso zerstört wie die Mitgliederliste) handelt es sich wahrscheinlich um einen Mann aus Samarien mit paganer Religiosität. Vgl.: Noy / ​Panayotov / ​Bloedhorn, 2004, 233.234: „Most people in the list are recorded with their names in the nominative followed by patronymic […], but some have an ethnic instead. […] It seems that in this case we have an immigrant from Samaria who contributed to the Temple of Serapis on Delos“.  9 IJO II 24. Übersetzung ebd. 10 Zur Verbindung von Sichem mit den Garizimanhängern vgl. Böhm, 1999, 54–68. Dort auch die Literaturangaben. 11 Vgl. ebd. 12 Jos.Ant. 11,340: Σαμαρεῖται μητρόπολιν τότε τὴν Σίκειμαν ἔχοντες κειμένην πρὸς τῷ Γαριζεὶν ὄρει καὶ κατῳκημένην ὑπὸ τῶν ἀποστατῶν τοῦ  Ἰουδαίων ἔθνους. 13 Jos.Ant. 12,10: … τῶν δὲ Σικιμιτῶν εἰς τὸ Γαριζεὶν ὄρος κελευόντων. Josephus gebraucht in Ant 12,10 Σικιμῖται und Σαμαρεῖται synonym. Zum Text unten in Kapitel 2.

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Stadt und das Heiligtum auf dem Garizim.14 Diese Zerstörungen müssen Fluchtbewegungen an die Peripherie der Region und möglicherweise über die Grenzen Samariens hinaus in die Diaspora ausgelöst haben. Ob hinter den Σικιμῖται aus Kaunos in Karien jedoch Garizimanhänger stehen, bleibt ungewiss, selbst wenn die ungefähre Datierung der Grabinschrift in den Kontext der Ereignisse passen würde.15 Schließlich gibt es für Kleinasien einen zwar späten, aber historisch wertvollen literarischen Beleg: c) Der vermutlich aus Galatien stammende und seit 412 n. Chr. dort auch als Bischof eingesetzte Palladius (365–425 n. Chr.) erwähnt in seinem 407/408 n. Chr. verfassten Werk über das Leben des heiligen Johannes Chrysostomos samaritanische und jüdische Synagogen in Tarsus: Dialogus de vita Sancti Iohannis Chrysostomi 20 […] καταλύοντες […] ἐν ταῖς συναγωγαῖς Σαμαρειτῶν ἢ  Ἰουδαίων, μάλιστα ἀπὸ Ταρσοῦ.16

Die Passage kann so verstanden werden, dass es nicht nur in Tarsus, sondern auch in weiteren Gebieten Kleinasiens jüdische und samaritanische Synagogen gegeben hat.17

2. Der Quellenbefund für den gesamten Mittelmeerraum in hellenistisch-römischer Zeit (außer Kleinasien) Fallen die Belege für Kleinasien in der römischen Zeit in der Summe dürftig aus, sieht das Bild, das sich von der Entstehung und Verbreitung der samaritanischen Diaspora von der hellenistischen Zeit an im gesamten Mittelmeerraum gewinnen lässt, etwas freundlicher aus. Die von der hellenistischen bis zur spätrömischen Zeit verfügbaren Quellen werden hier im Folgenden zusammengetragen und auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung ausgewertet.18 Die Daten sind notwendig, um eine bessere Argumentationsbasis für die in den beiden letzten Kapiteln vorgenommene Diskussion grundsätzlicherer Fragen zu haben.

14 Vgl.

Böhm, 1999, 54–55 (dort die Literaturangaben); Knoppers, 2013, 173. Diskussion Ameling, 2004, 133–134. 16 Der vollständige griechische Text mit einem kurzen Kommentar findet sich bei Pummer, 2002, 212–213. 17 Vgl. Pummer, 1999, 120: „Unfortunately, the phrase is vague and uninformative: kataluon‑ tes … en tais synagôgais Samareitôn ê Ioudaiôn, malista apo Tarsou […]. Since he wrote malista apo Tarsou […], there were presumably other such synagogues in Asia Minor“. 18 Wo es geraten erscheint, werden auch Quellen aus der frühbyzantinischen Zeit einbezogen; für Schlussfolgerungen zum Imperium Romanum sind sie natürlich nur von begrenztem Wert. 15 Zur

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2.1. Ägypten Die ersten expliziten Belege für eine samaritanische Diaspora liegen für das ptolemäische Ägypten (3./2. Jh. v. Chr.) in Form von Notizen bei Josephus vor.19 Josephus berichtet in Jos.Ant. 12,7, dass Ptolemaios I. Soter (305–283 v. Chr.) viele Gefangene aus dem Bergland Judäas, der Gegend um Jerusalem, Orten in Samarien und auf bzw. am Garizim genommen und in Ägypten angesiedelt hat: Jos.Ant. 12,7 ὁ δὲ Πτολεμαῖος πολλοὺς αἰχμαλώτους λαβὼν ἀπό τε τῆς ὀρεινῆς  Ἰουδαίας καὶ τῶν περὶ  Ἱεροσόλυμα τόπων καὶ τῆς Σαμαρείτιδος καὶ τῶν ἐν Γαριζείν, κατῴκισεν ἅπαντας εἰς Αἴγυπτον ἀγαγών. Ptolemaios aber nahm viele Gefangene vom Bergland Judäas, den Orten rings um Jerusalem, aus Samarien und den (Orten) auf / ​am Garizim, führte sie fort und siedelte sie alle in Ägypten an.20

Der Hinweis auf ἐν Γαριζείν bezieht sich mit Sicherheit auf die kultisch auf den Garizim orientierten und dort auch lebenden JHWH-Anhänger.21 Der nächste Hinweis auf eine gemeinsam bestehende jüdisch-samaritanische Diaspora in Ägypten findet sich fast unmittelbar darauf in Jos.Ant. 12,9–10. Hier wird von einem Streit zwischen Juden und Samaritanern berichtet, in dem es um die Legitimität und kultische Priorität des Jerusalemer Tempels gegenüber dem Garizimheiligtum geht.22 Jos.Ant. 12,9 f. (9) οὐκ ὀλίγοι δ᾽ οὐδὲ τῶν ἄλλων  Ἰουδαίων εἰς τὴν Αἴγυπτον παρεγίγνοντο τῆς τε ἀρετῆς τῶν τόπων αὐτοὺς καὶ τῆς τοῦ Πτολεμαίου φιλοτιμίας προκαλουμένης. (10) στάσεις μέντοι γε τοῖς ἐκγόνοις αὐτῶν πρὸς τοὺς Σαμαρείτας τὴν πάτριον ἀγωγὴν τῶν ἐθῶν ἀποσώζειν προαιρουμένοις ἐγίγνοντο καὶ πρὸς ἀλλήλους ἐπολέμουν, τῶν μὲν  Ἱεροσολυμιτῶν τὸ παρ᾽ αὐτοῖς ἱερὸν ἅγιον εἶναι λεγόντων καὶ τὰς θυσίας ἐκεῖ πέμπειν ἀξιούντων, τῶν δὲ Σικιμιτῶν εἰς τὸ Γαριζεὶν ὄρος κελευόντων.

19 Jos.Ant. 12,7–10; 13,74–79. Die sachlich zusammengehörenden Notizen in Ant 11,321.345, nach denen Alexander d. Gr. 8000 Soldaten aus Samarien nach Ägypten in die Thebais gebracht hat, bleiben unsicher. Vor allem fehlen Hinweise darauf, dass es sich um JHWE-treue Garizimanhänger gehandelt hat. Vgl. Pummer, 1998, 215–216. 20 Eigene Übersetzung. Die Darstellung des Textes wurde hier bewusst gewählt, um den Parallelismus in der Aufzählung zu verdeutlichen. Vgl. Egger, 1986, 232: „Judäa – Samarien; Jerusalem – Garizim“. 21 Anders noch die Überlegungen zur Identität der Erwähnten im Text von Egger, 1986, 231–233. Da Egger von der Existenz des JHWH-Heiligtums und der samaritanischen Metropole auf dem Hauptgipfel des Garizim noch nicht wissen konnte, bezog sie τὸ ἐν Γαριζείν auf Sichem und kam zu dem Ergebnis, dass offen bleiben muss, ob die dort lebenden Leute überhaupt eine Beziehung zum Garizimkult hatten (a. a. O. 232–233). 22 Zur Diskussion des Textes vgl. Pummer, 2009, 181–187.

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Nicht wenige Juden kamen freiwillig nach Ägypten, weil sie von der Vorzüglichkeit seiner Orte verlockt und von Ptolemaios’ Großmut dazu ermuntert wurden. Ihre Nachkommen jedoch lagen mit den Samaritanern im Streit, weil sie sich vorgenommen hatten, an der ererbten / ​väterlichen Führung der Bräuche festzuhalten. So bekämpften sie sich gegenseitig. Die Jerusalemer sagten, ihr Tempel sei heilig, und erachteten es für angemessen, die Opfergaben dorthin zu senden; die Sichemiter forderten, (die Gaben) auf den / ​zum Garizim (zu senden).23

Der nicht genauer zu datierende, offene Konflikt wurde laut Jos.Ant. 12,9 erst von den Nachkommen der freiwilligen Immigranten ausgelöst, nicht von den zwangsweise von Ptolemaios I. in Ägypten angesiedelten Leuten aus Judäa und Jerusalem.24 Dieser (oder ein ähnlicher?) Streit wird in Jos.Ant. 13,74–79 (noch einmal?)25 erwähnt, jetzt aber auf die Zeit Ptolemaios VI. Philometors (180–145 v. Chr.) bezogen.26 Trotz seiner legendarischen Ausmalungen durch Josephus oder dessen Quelle dürfte der Bericht einen historischen Kern besitzen.27 Jos.Ant. 13,74 Τοὺς δ᾽ ἐν Ἀλεξανδρείᾳ  Ἰουδαίους καὶ Σαμαρεῖς, οἳ τὸ ἐν Γαριζεὶν προσεκύνουν ἱερόν, κατὰ τοὺς Ἀλεξάνδρου χρόνους συνέβη στασιάσαι πρὸς ἀλλήλους, καὶ περὶ τῶν ἱερῶν ἐπ᾽ αὐτοῦ Πτολεμαίου διεκρίνοντο, τῶν μὲν  Ἰουδαίων λεγόντων κατὰ τοὺς Μωυσέος νόμους ᾠκοδομῆσθαι τὸ ἐν  Ἱεροσολύμοις, τῶν δὲ Σαμαρέων τὸ ἐν Γαριζείν. In Alexandria brach zwischen den Juden und Samaritanern, die einen Tempel auf dem Garizim verehrten, der zur Zeit Alexanders erbaut worden war, Aufruhr aus, und sie wurden von Ptolemaios selbst hinsichtlich der Heiligtümer beurteilt. Die Juden sagten, der Tempel in Jerusalem sei den Gesetzen des Moses gemäß erbaut worden, die Samaritaner, der Tempel auf dem Garizim.28

23 Übersetzung

in Anlehnung an Egger, 1986, 230–231. die Unterscheidung von Josephus bewusst vorgenommen wurde, ist kaum zu sagen. Vgl. aber Egger, 1986, 233–234, unter Bezug auf Arist 22–25: Die Unterscheidung könnte auf ein sozialgeschichtlich interessantes Phänomen hinweisen, „bei den Zwangsdeportierten hat es offenbar keine nennenswerten Auseinandersetzungen zwischen Juden und Samar. gegeben. Der Grund ist möglicherweise darin zu suchen, dass alle zuerst den Status von Gefangenen […] gehabt haben, also Schicksalsgenossen gewesen sind. Erst als alle aus der ägyptischen Sklaverei befreit worden sind […] und weitere traditionsverbundene Juden […] freiwillig nach Ägypten umgezogen sind, ist es zwischen den Nachkommen der letzteren und Samar. zu Disputen bezüglich der beiden Heiligtümer gekommen.“ Kritisch gegenüber dieser These Pummer, 2009, 186. 25 Es ist wegen der Ähnlichkeit beider Texte nicht auszuschließen, dass sie sich auf das gleiche Ereignis beziehen. Vgl. so die Annahme von Coggins, 1975, 97–98, die als Möglichkeit seither immer wieder erwogen worden ist. Vgl. Pummer, 2009, 187: „Either the first is a duplicate of the second or, more likely, it supplies the reason and the background for the latter“. Vgl. auch a. a. O. 198. 26 Zur Diskussion des Textes Pummer, 2009, 187–199. 27 Pummer, 1998, 216; und differenziert zu den komplexen historischen Hintergründen Pummer, 2009, 188–199. 28 Eigene Übersetzung. 24 Ob

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Beide Parteien suchten die Legitimität des eigenen Heiligtums eidesstattlich zu beweisen und forderten die Todesstrafe für die jeweils andere Seite, sofern sie sich des Falscheides schuldig machen sollte. Ptolemaios VI. entschied am Ende zugunsten des Jerusalemer Tempels und ließ die samaritanischen Gesandten um Sabbaios und Theodosios hinrichten.29 Interessant ist am Bericht Jos.Ant. 13,74–79 die Schärfe der in der Diaspora geführten Auseinandersetzung um das legitime Heiligtum. Sie führt nicht nur die bis in das 2. Jh. v. Chr. anhaltenden Verbindungen der ägyptischen Diaspora zum jeweiligen Heiligtum in Palästina und die unbedingte, vom Pentateuch her begründete Loyalität gegenüber dem eigenen Kultort vor, sondern zeigt auch, dass der Kultort der eigentliche Streitpunkt gewesen ist. Nach Jos.Ant. 13,74–79 fiel der erbitterte Streit innerhalb der ägyptischen Diaspora in das Vorfeld der Makkabäerzeit oder in die frühhasmonäische Zeit.30 Eine wichtige Frage bleibt in diesem Zusammenhang, inwiefern der in der Diaspora zu beobachtende Konflikt in direkter Beziehung zu Vorgängen in Palästina steht.31 Dass Johannes Hyrkan I. am Ende des 2. Jh. v. Chr. das samaritanische Heiligtum auf dem Garizim vollständig zerstören ließ, scheint von den Bemerkungen des Josephus her der Kulminationspunkt einer bereits weiter zurückreichenden und auch in die Diaspora ausstrahlenden Entwicklung gewesen zu sein. Neben den literarischen Zeugnissen des Josephus, die, wenn man sie auf ihren historischen Kern reduziert, als sichere Nachweise einer samaritanischen Diaspora im ptolemäischen Ägypten seit dem 3./2. Jh. v. Chr. betrachtet werden können, finden sich auch noch Indizien in griechischsprachigen Urkunden und Verträgen aus der Oase Fayyum aus der Zeit zwischen dem 3. Jh. v. Chr. und dem 5./6. Jh. n. Chr. In den frühsten Dokumenten (Mitte bis Ende 3. Jh. v. Chr.) wird häufig ein Dorf namens Σαμαρεία genannt, und bei einer beträchtlichen Anzahl seiner EinwohnerInnen handelt es sich eindeutig um  Ἰουδαῖοι.32 Das Dorf wurde in der ersten Hälfte des 3. Jh. v. Chr. im Arsinoites nomus gegründet. Sein Name Σαμαρεία geht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die palästinische Region zurück, aus der die ersten (Militär‑)Siedler hierher gebracht worden waren.33 Der Einfluss der aus Samarien nach Ägypten gekommenen Personen 29 Jos.Ant.

13,79. im Text gespiegelten Vorgänge sind nicht genauer datierbar. 31 Dieser Frage kann in diesem Rahmen nicht genauer nachgegangen werden. Vgl. dazu jedoch u. a. die Überlegungen bei Kippenberg, 1971, 67; Pummer, 2009, 187–196. 32 Vgl. Kuhs / ​C lemens, 1996; Pummer, 1998, 216–217; Pummer, 2009, 184–186; van der Horst, 1990, 138. Die Texte finden sich in Auswahl in deutscher Übersetzung und kommentiert bei Zangenberg, 1994, 301–313. 33 Vgl. van der Horst, 1990, 139, und vor allem die umfassende papyrologische Studie von Kuhs, 1996, 46–55. Vgl. zum Namen und zur Gründung des Ortes Kuhs, 1996, 55: „Der bemerkenswerte Name des Dorfes zusammen mit der gut belegten Existenz einer Mehrheit von jüdischen Militärkolonisten unter den Bewohnern seit den frühesten Jahren machen auf dem Hintergrund der Erschließung und Besiedelung des Arsinoites mit zumeist Kleruchen 30 Die

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war offenbar so gewichtig, dass sie namengebend auf die Siedlung wirkten.34 Eine Analyse des gesamten Materials hat ergeben, dass mindestens ein Viertel der in den Papyri belegten Einwohner des Dorfes Σαμαρεία Jüdinnen und Juden waren.35 In den Dokumenten aus den Jahren 232 v. Chr. bis 201 v. Chr., die mit Sicherheit auf Bewohner des Dorfes beziehbar sind, finden sich 47 Personen mit sicherer oder relativ sicherer jüdischer Identität; bei 18 weiteren ist diese Identität anzunehmen. Ein Viertel aller Personen davon trägt hebräische Namen;36 19 unter den Personen mit sicherer jüdischer Identität bezeichnen sich ausdrücklich als  Ἰουδαῖοι oder werden so bezeichnet.37 Nun kann man fragen, wie sich der Name des Dorfes und die Anzahl der Menschen, die einen jüdischen Namen tragen und / ​oder sich als  Ἰουδαῖοι bezeichnen bzw. so von anderen bezeichnet werden, zur Herkunftsregion Samarien und deren Bevölkerungsspektrum verhält.38 Zumindest bei einigen der erwähnten  Ἰουδαῖοι kann es sich um Personen handeln, die mit dem Garizim kultisch verbunden waren,39 in der Diaspora aber nicht mehr von den Juden abgrenzbar waren bzw. diese Differenzierung selbst gar nicht vorgenommen haben. In den Verträgen war auf königliche Vorschrift hin das Ethnikon vorgeschrieben.40 Da bei keiner Person spezielle religiöse Merkmale oder Besonderheiten erkennbar sind, geht es in den Urkunden und Verträgen bei  Ἰουδαῖοι offenbar allein um das Ethnikon. Die Möglichkeit, dass es für alle aus Palästina stammenden Siedler Verwendung fand, ist nicht auszuschließen, denn Σαμαρῖται diente unter Philadelphos die Gründung wahrscheinlich in dem Jahrzehnt von 266–256 v. Chr. Entscheidenden Einfluss scheinen dabei Einwanderer aus Palästina gehabt zu haben“. 34 Das Dorf war jedoch keine rein jüdische (oder eventuell samaritanische) Siedlung. Vgl. Kuhs, 1996, 112. 35 Vgl. Kuhs, 1996, 57. 36 Es handelt sich um Namen mit griechischer Endung wie Jonathas und Sabbataios oder einen griechischen Namen mit phonetischem Anklang an einen hebräischen Namen wie Jason. Weiterhin kommen vor: Haggais, Joanna, Joannes, Jonathan und mehrfach Jakubis, Sabbathion, Sambathion und Sambathaios. Vgl. Kuhs, 1996, 56–85. 37  Vgl. die bei Kuhs, 1996, 66–74 in der Namenliste aufgeführten Personen Nr. 19 (CPR XVIII 8, Nr. 3), Nr. 35 (CPR XVIII 8, Nr. 3), Nr. 49 (CPR XVIII 11, Nr. 6); Nr. 66 (CPR XVIII 9, Nr. 4), Nr. 70 (CPR XVIII 8, Nr. 3), Nr. 83 (CPR XVIII 7, Nr. 2), Nr. 86 (CPR XVIII 9, Nr. 4), Nr. 102 (CPR XVIII 9, Nr. 4), Nr. 101 und 103 (CPR XVIII 7, Nr. 2) in Dokumenten aus dem Jahr 232 v. Chr. und die in CPJ 22 genannten 6 Personen (201 v. Chr.) mit dem jeweils zum Namen gestellten Ethnikon  Ἰουδαῖος τῆς ἐπιγονῆς,  Ἰουδαία oder  Ἰουδαῖοι. Vgl. die Tabelle a. a. O., 77. 38 Vgl. die zu dieser Frage wiedergegebene Forschungsdiskussion bei Pummer, 2009, 184–186. 39 Vgl. Kuhs, 1996, 50: „Bedeutsam ist nun, dass bei einigen der oben aufgelisteten Bewohner Samareias, vor allem in den frühesten Fällen (so z. B. durchgehend in Samareia-Papyri Nr. 2–6), eindeutig das Ethnikon ‚Jude‘ oder ‚Jüdin‘ dabeisteht, und dass sich keinerlei derartige Hinweise auf Samaritaner finden lassen. Jedoch lässt sich die Frage stellen, ob und ab welcher Zeit sich Samaritaner überhaupt von Juden abgrenzen lassen bzw. selbst abgegrenzt haben, d. h. die Frage, ob sie bis dahin nicht einfach zu den Juden gezählt wurden, ob von ihnen selbst, ob von den Juden oder von Außenstehenden.“ In eine ähnliche Richtung votiert Pummer, 2009, 198: „Some of the ‘Jews’ mentioned in the sources could have been Samaritans“. 40 Vgl. Kuhs, 1996, 77.

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im Fayyum selbst bereits als Bezeichnung zur Herkunft aus dem Dorf Σαμαρεία und kam darum als Ethnikon kaum in Frage.41 Alles in allem handelt es sich – im Hinblick auf eine in der Ptolemäerzeit speziell aus Samarien ausgehende Diaspora, die das Dorf hier gründete –, jedoch auch nur um Vermutungen und nicht um einen sicheren Nachweis für eine samaritanische Diaspora.42 Das betrifft auch die drei aus römischer Zeit stammenden Belege für Σαμαρῖται aus dem Fayyum, bei denen die Bewohner des benachbarten Dorfes Samareia gemeint sein können: Aus Tebtynis stammt ein Dokument aus dem Jahr 109 n. Chr., in dem  Ἰάσων Σαμαρείτης43 Erwähnung findet. In einer Liste mit Personen aus Theadelphia (ca. 165 n. Chr.) begegnet  Ἥρων Σαμβᾶ Σαμαρίτης,44 und in einer Steuerliste aus Karanis (171–174 n. Chr.) gibt es einen viermaligen Eintrag für Γάιος  Ἰούλιος Μάξιμος (Σαμαρεῖτα).45 Dass sich aus dem 1.–3. Jh. n. Chr. so gut wie keine Belege finden, kann der zunehmend schwieriger werdenden Situation des Judentums im 30 v. Chr. römisch gewordenen Ägypten geschuldet sein (Pogrom in Alexandria 38 n. Chr.; wiederholte Konflikte seit 66 n. Chr.; Niederschlagung des jüdischen Aufstandes gegen Trajan 117 n. Chr.).46 Auch wenn es keine konkreten Nachrichten gibt, ist davon auszugehen, dass die Samaritaner von den Konflikten und deren verheerenden Folgen mitbetroffen waren. Verträge aus weit späterer Zeit zeigen, dass die Samaritaner in Ägypten von den gleichen römischen Maßnahmen und Gesetzen betroffen waren wie die jüdische Bevölkerung.47 Die nächsten sicheren Belege für eine samaritanische Diaspora in Ägypten stammen erst aus dem späten 4. Jh. n. Chr. und aus der byzantinischen Zeit. Es handelt sich um Notizen in der Historia Augusta,48 die die Bedeutung der Sama41 In

einem Papyrus aus Magdola, einem benachbarten Ort im Fayyum, findet sich ein Ἀδάμας Λιβάνου Σαμαρίτης (P.Enteux. 62; 221 v. Chr.). Hier handelt es sich wahrscheinlich genauso wenig um ein Ethnikon wie bei dem in P.Cair.Zen. IV 59697 (261–246 v. Chr.) erwähnten Σαμάρει aus Philadelpheia, sondern um einen Beinamen, der beide als Einwohner des Dorfes Samareia ausweist (Kuhs, 1996, 26–28). Es gibt allerdings einen Beleg für ein Samarien betreffendes Ethnikon: In einem Dokument aus Krokodilon Polis aus dem Jahr 238/237 v. Chr. begegnet ein Ἀστὴρ Σαμαρεύς (P. Petr. I2 Col. III Z. 76). Hier handelt es sich um einen Kleruchen aus Samarien (Kuhs, 1996, 29). 42 Vgl. Zangenberg, 1994, 303: „Vermutlich handelt es sich hier […] um Vertreter der proto-samaritanischen Bevölkerung von Samarien, die sich noch vor der Entstehung der eigentlichen Samaritanergemeinde in Ägypten angesiedelt haben.“ Vgl. dazu unten Kapitel 3. 43 P.Mil.Vogl IV 212. Vgl. die Tabelle bei Kuhs, 1996, 26. 44 P.Straß. IX 866 = SB XIV 11354. Vgl. die Tabelle bei Kuhs, 1996, 26. 45 P.Mich. IV 223.1483.1679 224.1400.3342. Vgl. die Tabelle bei Kuhs, 1996, 26. 46 In den Samareia-Papyri der römischen Zeit fehlen Spuren einer „jüdischen“ Bevölkerung im Dorf dann völlig. Vgl. Kuhs, 1996, 114–115. 47 Cod. Theod. 13,5,18 aus dem Jahr 390: Juden und Samaritaner sind ausgenommen von der navicularia functio. Vgl. dazu Pummer, 1998, 218; van der Horst, 2002, 253; van der Horst, 1990, 141–142 (dort auch zur Gesetzgebung im Hinblick auf die Samaritaner im Codex Justinianus). 48 Quadrigae Tyrannorum 7,5; 8,3. Der Text findet sich bei Stern, 1980, Nr. 527.

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ritaner im 4. Jh. n. Chr. in Ägypten spiegeln,49 und um eine Scheidungsurkunde aus Hermopolis aus dem Jahr 586 n. Chr., in der Mann und Frau als Σαμαρῖται τὴν θρησκίαν bezeichnet werden.50 2.2. Delos Für die Kykladeninsel Delos liegen zwei bedeutsame epigraphische Selbstzeugnisse aus der Zeit zwischen dem 3.–1. Jh. v. Chr. vor.51 Sie wurden 1979 an der Ostküste der Insel, d. h. außerhalb des großen Hafens, des Stadtzentrums und der Viertel, in denen sich die paganen Heiligtümer befanden, gefunden. Bei beiden Inschriften handelt es sich um eindeutige Belege für die Präsenz von Diasporasamaritanern auf Delos in hellenistisch-römischer Zeit.52 Inschrift Nr. 1 ist unversehrt und stammt aus der Zeit 150–50 v. Chr.:53 IJO I Ach67 οἱ ἐν Δήλῳ  Ἰσραελεῖται οἱ ἀ‑ παρχόμενοι εἰς ἱερὸν Ἀργα‑ ριζεὶν στεφανοῦσιν χρυσῷ στεφάνῳ Σαραπίωνα  Ἰάσο‑ νος Κνώσιον εὐεργεσίας ἕνεκεν τῆς εἰς ἑαυτούς. Die Israeliten auf Delos, die Opfer(gaben) darbringen zum Tempel / ​auf den heiligen Garizim,54 bekränzen mit einem goldenen Kranz Serapion, Sohn Jasons, aus Knossos, wegen der ihnen erwiesenen Wohltat.

Inschrift Nr. 2 kann in die Zeit zwischen 250–175 v. Chr. datiert werden. Vielleicht stammt sie jedoch auch erst aus der ersten Hälfte des 2. Jh. v. Chr.55 Sie ist nur fragmentarisch erhalten:56 49 Vgl. dazu Zangenberg, 1994, 177: „Wichtig an der in historischer Hinsicht recht zweifelhaften Darstellung ist, dass hier die Samaritaner als eigenständige religiöse Gruppe mit beträchtlicher Bedeutung neben Juden und Christen auftreten“. 50 CPJ ΙΙΙ.513. Für Hermopolis sind im 6./7. Jh. n. Chr. auch weitere Samaritaner papyrologisch bezeugt. P. Herm.40: Μανασσῇ Ευσεβίου Σαμαρίτῃ; P. Sorb. II.69: Ἀβραάμιος σαμαρίτης. Vgl. die Tabelle bei Kuhs, 1996, 26. Zu weiteren Belegen für Ägypten in der Zeit vom 5.–17. Jh. n. Chr. Pummer, 1998, 218–231. Die Belege zeigen vielfach enge Beziehungen zwischen Juden und Samaritanern in Ägypten. Dazu gehörte u. a. ein gemeinsam genutzter Friedhof in Kairo im 12. Jh. n. Chr. (a. a. O. 219). 51 Die Inschriften wurden zuerst veröffentlicht von Bruneau, 1982, 467–475. 52 Vgl. Böhm, 2012, 181–202. 53 Vgl. Bruneau, 1982, 468–469. 54 Beide Übersetzungen sind möglich. Noy / ​Panayotov / ​Bloedhorn, 2004, 232. 55 Die Datierung ist nicht sicher. Kartveit, 2009, 218–219, datiert beide Inschriften aufgrund paläographischer Überlegungen in die erste Hälfte des 2. Jh. v. Chr. 56 Vgl. Bruneau, 1982, 471–474.

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IJO I Ach66 Ἰσραηλῖται οἱ ἀπαρχόμενοι εἰς ἱερὸν ἅγιον Ἀρ‑ γαρζεὶν ἐτίμησαν Μένιππον Ἀρτεμιδώρου  Ἡρά‑ κλειον αὐτὸν καὶ τοὺς ἐγγόνους αὐτοῦ κατασκευ‑ άσαντα καὶ ἀναθένθα ἐκ τῶν ἰδίων ἐπὶ προσευχῇ τοῦ Θε[οῦ]ΤΟΝ[---------------------------------------------- ] ΟΛΟΝΚΑΙΤΟ[‑- καὶ ἐστεφάνωσαν] χρυσῷ στε[φά--- ] νῳ καὶ[---------------------------------------------------- ] ΚΑ[-------------------------------------------------------- ] T[---------------------------------------------------------- ] Israeliten, die Opfer(gaben) darbringen zum / ​auf den heiligen, geweihten Garizim (oder: zum Tempel auf den heiligen Garizim),57 ehren Menippos, Sohn des Artemidoros aus Heraklion, ihn und seine Nachkommen, der ausgestattet und gewidmet hat aus den eigenen Mitteln für eine Proseuche / ​zur Anbetung Gottes … … und haben bekränzt mit einem goldenen Kranz und …58

In den Inschriften werden Männer aus Knossos und Herakleion von „Israeliten auf Delos, die ihre Opfer(gaben) zum heiligen Garizim darbringen“, geehrt. Vermutlich hatten die Wohltäter aus Knossos und Herakleion bauliche oder finanzielle Mittel für die samaritanische Proseuche auf Delos zur Verfügung gestellt. Das dürfte vor allem bei der älteren der beiden Inschriften (Nr. 2) der Fall sein,59 ist aber auch für die jüngere Inschrift (Nr. 1) anzunehmen. Bei beiden Wohltätern kann es sich ebenfalls um Samaritaner gehandelt haben.60 Trifft das zu, würden die Inschriften auf eine stärkere Präsenz von Diasporasamaritanern in der Ägäis hinweisen. Da es sich zumindest bei Inschrift Nr. 2 um eine Bauinschrift handelt, ist davon auszugehen, dass die Samaritaner eine Proseuche auf der Insel besessen haben. Ob sie mit dem unweit des Fundortes gelegenen Gebäude identisch ist, das als die älteste bekannte Synagoge der Diaspora gilt, ist umstritten.61 Ausgeschlossen ist es jedenfalls nicht.62 Die Samaritaner können in diesem Bezirk aber auch eine eigene Synagoge unterhalten haben, denn das Gebiet an der Ostküste der Insel war zumindest im 1. Jh. v. Chr. bewohnt und stellte ein eigenes, 57 Beide Übersetzungen sind möglich. Vgl. Noy / ​Panayotov / ​Bloedhorn, 2004, 229– 230.231. 58 Eigene Übersetzung. 59 Entweder geht es bei der Stiftung um den Bau eines Gebäudes für die Anbetung Gottes, um eine Baumaßnahme an einem Gebäude für die Anbetung Gottes (d. h. eine Proseuche) oder auch um dessen Ausstattung. Vgl. Bruneau, 1982, 486 (Fußnote 9). 60 Vgl. Bruneau, 1982, 481: „Le plus probable est que Sarapion et Ménippos soient euxmêmes samaritains; ceux-ci, comme les Juifs, portaient en diaspora des noms grecs“. Sicher ist es jedoch nicht. 61 Zur Diskussion vgl. Truemper, 2004, 513–598; Noy / ​Panayotov / ​Bloedhorn, 2004, 211–219; Pummer, 1998, 16–18. 62 So die Annahme von Pummer, 1999, 121.

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vom übrigen Stadtgebiet separiertes Viertel dar.63 Um hier weitere Aufschlüsse zu erhalten, müsste der Bezirk, in dem die Inschriften gesichert wurden und in dem sich auch die Synagoge befindet, archäologisch weiter erforscht werden. Die Ergebnisse wären vielversprechend, denn auch von 1 Makk 15,2364 und Jos.Ant. 14,213–21665 her ist bekannt, dass es in der Zeit zwischen ca. 150 v. Chr. und 50 v. Chr. eine jüdische Kolonie auf Delos gegeben hat. Sie war so bedeutend, dass sie auch in offiziellen Dekreten Berücksichtigung fand. Die Samaritaner auf Delos bezeichnen sich in beiden Inschriften selbst als Israeliten, die kultisch auf den Berg Garizim orientiert sind.66 Die griechische Pluralform  Ἰσραηλῖται ist gegenüber οἱ υἱοὶ Ισραήλ im gesamten jüdischen Schrifttum und epigraphischen Material selten belegt,67 der Befund zeigt jedoch, dass sich die Pluralform in hellenistisch-römischer Zeit auf Repräsentanten des empirischen Gottesvolkes Israel beziehen konnte. Für die Inschriften von Delos kann man daraus ableiten, dass sich die hier ansässigen Samaritaner als Repräsentanten des Gottesvolkes Israel verstanden haben. In der Diasporasituation haben sich u. U. aber auch beide Gruppen, Juden und Samaritaner, gemeinsam unter dem Begriff „Israel“ gefunden,68 um ihr  – mit Ausnahme des Kultortes – gemeinsames religiöses Selbstverständnis weiter zu pflegen oder als Minorität in einer paganen Umgebungsgesellschaft zu behaupten und zu bewahren.69 Von der Umgebungsgesellschaft auf Delos sind die allein in der Kultortdifferenz liegenden Unterschiede zwischen Juden und Samaritanern 63 Vgl.

École française d’Athènes, 1996, 38–39.

64 1 Makk 15,23 bezieht sich auf die Regierungszeit des Hasmonäers Simon (142–134 v. Chr.).

Am Anfang seiner Amtszeit ging ein Brief des Konsuls Lucius aus Rom zum Schutz der jüdischen Bevölkerung auf verschiedene Inseln des östlichen Mittelmeers, darunter auch Delos: … καὶ εἰς πάσας τὰς χώρας καὶ Σαμψάμῃ καὶ Σπαρτιάταις καὶ εἰς Δῆλον καὶ εἰς Μύνδον καὶ εἰς Σικυῶνα καὶ εἰς τὴν Καρίαν καὶ εἰς Σάμον […]. 65 Josephus bietet hier einen Erlass Caesars an den Senat und das Volk von Paros. Es soll die jüdische Bevölkerung von Delos nicht weiter bei der Ausübung ihrer Gottesdienste und religiösen Pflichten behindern. Das Versammlungsrecht der jüdischen Gemeinde auf Delos wird ausdrücklich bestätigt. 66 Vgl. Noy / ​Panayotov / ​Bloedhorn, 2004, 230: „The phrase οἱ ἀπαρχόμενοι εἰς ἱερὸν ἅγιον Ἀργαρζείν indicates that the Samaritans made annual payments to the temple on Mt Garizim.“ Zur Begründung ebd. 67 Sie findet sich in der LXX in 4 Makk 18,1: ῏Ω τῶν Αβραμιαίων σπερμάτων ἀπόγονοι παῖδες Ισραηλῖται. Sonst begegnen hier nur die Singularformen ὁ  Ἰσραηλίτης (Lev 24,10; 2 Sam 17,25) und ἡ  Ἰσραηλῖτις (Lev 24,10–11). Bei Josephus kommt der Plural häufig in den ersten zehn Büchern der Antiquitates vor (Jos.Ant. 3,189; 4,124; 5,158.206; 7,309; 10,7; u. ö.), steht hier aber für die Angehörigen des Gottesvolkes Israel „der alten Zeit, nie für die Gegenwart“ (Gutbrod, 1967, 373). Plural‑ und Singularformen finden sich schließlich bei Lukas, Paulus und Johannes und meinen hier jeweils die gegenwärtig lebenden Repräsentanten des Gottesvolkes. Vgl. Act 2,22; 3,12; 5,35; 13,16; 21,28: Ἄνδρες  Ἰσραηλῖται; Röm 9,4:  Ἰσραηλῖται; Röm 11,1: ἐγὼ  Ἰσραηλίτης εἰμί; 2 Kor 11,22:  Ἑβραῖοί εἰσιν; κἀγώ.  Ἰσραηλῖταί εἰσιν; κἀγώ. σπέρμα Ἀβραάμ εἰσιν; κἀγώ; Joh 1,47: ἴδε ἀληθῶς  Ἰσραηλίτης. 68 Vgl. so auch Kartveit, 2009, 221–222. 69 Vgl. Böhm, 2012, 198.

Samaritanische Diaspora im Imperium Romanum bis ca. 200 n. Chr.

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vermutlich kaum wahrgenommen worden. Die beiden Stelen mit den Inschriften gaben den Unterschied zwar öffentlich zu erkennen, sie können aber auch nur innerhalb eines jüdisch-samaritanischen Wohnviertels, eventuell im Kontext einer samaritanischen Proseuche, von öffentlicher Bedeutung gewesen sein. Mit IJO I.68 (ca. 100 n. Chr.) liegt eine weitere relevante Inschrift von der Insel Delos vor. Wegen des Fundkontextes (Serapistempel auf Delos, Mitgliederliste) handelt es sich jedoch um einen religiös als pagan einzuordnenden Mann aus Samarien.70 Die Inschrift zeigt dennoch, dass Delos nicht nur temporärer Zielort von Migrationsbewegungen aus Samarien gewesen ist: IJO I Ach68 Πραύλος Σαμαρεὺς καὶ [ὑπὲρ] τῶν ἀδελφῶν καὶ τῆς μ[ητρός]. Praulos, aus Samarien, auch für seine Brüder und Mutter.

2.3. Sizilien Für das 2. Jh. n. Chr. existiert ein epigraphischer Beleg für Syrakus auf Sizilien.71 1913 wurde eine Säule mit zwei hebräischen Inschriften, die ein Zitat von Num 10,35 bieten, gefunden. Wegen der samaritanisch-hebräischen Schrift sind sie als sichere Belege einzuordnen. Die Säule gehörte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Synagoge.72 2.4. Rom Für Rom gibt es aus der Antike keinen einzigen klaren literarischen oder epigraphischen Beleg.73 Jos.Ant. 18,167 bleibt unsicher.74 2.5. Athen Zu den unsicheren Belegen gehören auch zwei Grabinschriften aus Athen aus ca. dem 1. Jh. n. Chr.: 70 Vgl.

Noy / ​Panayotov / ​Bloedhorn, 2004, 233–134. Dazu schon oben Kapitel 1 a). 1998, 195–201. 72 Die nächsten Belege stammen aus weit späterer Zeit: Papst Gregor d. Gr. (ca. 540–604 n. Chr.) bezieht sich in zwei Briefen (Epist 6,30 aus dem Jahr 596 n. Chr.; Epist 8,21 aus dem Jahr 598 n. Chr.) auf Samaritaner auf Sizilien. Die Texte sind abgedruckt und kommentiert bei Pummer, 2002, 336–343. 73 Vgl. van der Horst, 2002, 251.259–260. Van der Horst weist jedoch darauf hin, dass unter den zahlreichen, seit Pompeius Zeiten kriegsbedingt nach Rom verbrachten Einwohnern Palästinas auch Samaritaner gewesen sein können: „We have no reason to assume that the Samaritans were exempted from this fate“ (ebd.). 74 Jos.Ant. 18,167: ἄλλος Σαμαρεύς γένος (für Rom, 1. Jh. n. Chr.). Zur Diskussion dieses Textes Pummer, 2009, 268–270. 71 Morabito,

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Martina Böhm

IJO I Ach35 Ἀμμία Φίλωνος Σαμαρεῖτις Εὐρήμονος Ἀντιοχέως γυνή Ammia, Tochter des Philon, Samaritanerin (?), Frau des Euremon von Antiochia. IJO I Ach36 Θεοδ>ώ