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German Pages 271 [278] Year 2014
Jahrbuch für Politik und Geschichte Geschichte Franz Steiner Verlag
Band 5 | 2014 | 25 Jahre europäische Wende Herausgegeben von Claudia Fröhlich Harald Schmid Birgit Schwelling
Jahrbuch für Politik und Geschichte Band 5
JAHRBUCH FÜR POLITIK UND GESCHICHTE Schwerpunkt: 25 Jahre europäische Wende JPG 5 (2014)
Franz Steiner Verlag
jahrbuch für politik und geschichte Herausgegeben von Dr. Claudia Fröhlich, Dr. Harald Schmid, Dr. habil. Birgit Schwelling Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Aleida Assmann, Prof. Dr. Horst-Alfred Heinrich, Prof. Dr. Helmut König, Prof. Dr. Bill Niven, Prof. Dr. Peter Reichel, Prof. Dr. Peter Steinbach, Prof. Dr. Edgar Wolfrum www.steiner-verlag.de/jpg
Umschlagabbildung: Informationstafel in Gleichen-Vogelsang zwischen Thüringen und Hessen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, 2010. © Doris Antony, Berlin/Creative Commons. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 2191-2289 ISBN 978-3-515-10912-3 (Print) ISBN 978-3-515-10915-4 (E-Book)
JAHRBUCH FÜR POLITIK UND GESCHICHTE 5 (2014) __________________________________________________
INHALT
Claudia Fröhlich, Harald Schmid, Birgit Schwelling Editorial ...............................................................................................................5 Schwerpunkt: 25 Jahre europäische Wende Stefan Troebst Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik? Anläufe der Europäischen Union zur Stiftung einer erinnerungsbasierten Bürgeridentität ..................................................................15 Arnd Bauerkämper Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur? Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die stalinistischen Verbrechen im Gedächtnis der Europäer seit 1945 ..........43 Harald Wydra Europäische Hintergründe des Vergessens in Ost und West................................67 Ljiljana Radonic Postsozialistische Gedenkmuseen zwischen nationalen Opfernarrativen und der ‚Europäisierung der Erinnerung‘............................................................85 Bettina Greiner Ohne „Schmerzensspur“: Stalinistische Verfolgung und Haft in Deutschland...107 Atelier & Galerie Erika Doss Transnational 9/11 Memorials: American Exceptionalism and Global Memories of Terrorism...................................................................123 Bianca Roitsch, Anette Blaschke Ein fotografischer Blick auf die innerdeutsche Grenze. Der „Augensinn“ westdeutscher Zollbeamter zwischen den 1950erund 1980er-Jahren ............................................................................................143
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Inhalt
Manuel Becker „Geschichte als Argument“ – ein Stiefkind der neueren geschichtspolitischen Forschung.......................................................................173 Aktuelles Forum Peter Steinbach Kein Abgesang! Historische Grundlagen der Politik. Abschiedsvorlesung, gehalten an der Universität Mannheim am 18. September 2013 ....................................................................................191 Uwe Bader Die Rheinwiesenlager – eine Herausforderung für die historisch-politische Bildungsarbeit in Rheinland-Pfalz ....................................205 Fundstück Harald Schmid Einführung .......................................................................................................217 Joe Perry The Madonna of Stalingrad: Mastering the (Christmas) Past and West German National Identity after World War II....................................223 Forschungsbericht Volker Depkat Autobiografie und Biografie im Zeichen des Cultural Turn ..............................247 Autorinnen und Autoren ..................................................................................267
EDITORIAL Claudia Fröhlich, Harald Schmid, Birgit Schwelling
25 Jahre europäische Wende Das moderne Europa hat gleich mehrere, große Teile des Kontinents und darüber hinaus prägende politische Umbrüche erlebt – und oft erlitten. Die Französische Revolution, der Aufstieg des modernen Verfassungsstaates, der Erste Weltkrieg inklusive die darin wurzelnden Revolutionen, Stalinismus, Nationalsozialismus, Faschismus, Vernichtungs- und Weltkrieg, Völkerverschiebungen, Teilung des Kontinents durch den Kalten Krieg, die Entwicklung zur westeuropäischen EG – und die Wende des Jahres 1989, die sich nun zum 25. Mal jährt, haben Europas Weg in die und aus der Moderne umfassend bestimmt. Derlei epochale Einschnitte wälzen das Soziale, Ökonomische, Politische und Kulturelle der betreffenden Gesellschaften um. Die Tiefe des Einschnitts in gesellschaftliche Strukturen war dabei stets auch ein Maß für die Prägung der Erinnerungen und Gedächtnisse. So wie die Jahreszahlen 1789, 1914/17/18, 1933 und 1945 zu weltgeschichtlichen Symbolen geronnen sind, hat auch 1989 längst diesen Status angenommen. Aus der Sicht der unruhigen Jahre 2013 und 2014 muss freilich noch unklar bleiben, ob die verbreitete Deutung von 1989/91 als das Ende des Kalten Krieges und Sieg des westlichen Demokratie- und Gesellschaftsmodells nur dem großen historischen Moment geschuldet war oder womöglich zutreffender als eine Atempause mit anschließender Neudefinition westlicher und östlicher Machtsphären zu verstehen ist. Das von manchen als europäisches Wunder etikettierte Jahr 1989 haben jedenfalls die zuvor unterdrückten Länder des vormaligen sowjetischen Machtbereichs nahezu ungeteilt als Jahr der Wiederkehr der Freiheit begriffen. Gewiss, die Befreiung von sozialistischer Einheitsdiktatur, Geheimpolizei und sowjetischem Einfluss verlief in den einzelnen Gesellschaften unterschiedlich, aber am Ende stand die Abschüttelung staatlichen Terrors, der jahrzehntelangen politischen Verfolgung und Repression, persönlichen Bevormundung und ökonomischen Gängelung. Diese Emanzipationsgeschichte war in großen Teilen das Ergebnis mutigen öffentlichen Engagements und Aufbegehrens gegen die zuvor scheinbar allmächtige Staatsmacht. Conditio sine qua non freilich war die von Michail Gorbatschow negierte Breschnew-Doktrin und der innere, zumal ökonomische Zerfall der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten. Der Verzicht auf militärische Intervention, die bis dato alle Aufstände in Ost- und Ostmitteleuropa zunichte gemacht hatte, öffne-
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te den Freiheitsbewegungen in Polen, der DDR, in Rumänien, Bulgarien, Ungarn der Tschechoslowakei und in den baltischen Staaten das entscheidende Tor. 1989 steht für die Wiedervereinigung Europas im Zeichen freiheitlich demokratischer, marktliberaler Gesellschaften. Aber es wäre Geschichtsklitterung, dieses Datum und vor allem die darauf folgenden Jahre nur positiv zu zeichnen. Die radikalen gesellschaftlichen Transformationen, die den demokratischen Freiheitsbewegungen folgten, haben nicht nur Diktaturen gestürzt und ihre Eliten – zumindest zeitweise – entmachtet, sondern auch Biografien entwurzelt, Lebensentwürfe zunichte gemacht, selbstverständlichen Orientierungen den Boden entzogen und soziale Spaltungen provoziert. Diese so durchaus ambivalente Wende hat seither auch die europäische Gedächtnislandkarte durcheinandergewürfelt. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“1 – Willy Brandts vielzitiertes Diktum vom November 1989 war auf Deutschland bezogen; doch weil mit dem Ende der deutschen Teilung auch die Teilung Europas an ihr Ende gekommen war, war damit auch der europäische und welthistorische Epochenbruch bezeichnet. Doch heute zeigt sich deutlicher als vor 25 Jahren: Was jahrzehntelang politisch-ideologisch getrennt und gespalten war, fügte sich erinnerungskulturell nicht einfach zusammen, sondern spiegelte die zentralen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in scharfen Kontrasten. Nationalsozialismus- und Holocaust-Fokussierung Westeuropas sahen sich konfrontiert mit der weitaus längeren und noch nahen Erfahrung von Stalinismus, Gulag und Geheimpolizei. Die osteuropäische Wende zu westlich geprägten Staats- und Gesellschaftsformationen begleitete ein zunächst eher untergründiger geschichts- und identitätspolitischer Gegensatz, der insbesondere nach der Osterweiterung der EU von 2004 in einem offenen Gedächtniskonflikt kulminierte. Diese, von der Forschung inzwischen als clash of cultures of remembrance (Stefan Troebst) bezeichnete Auseinandersetzung schwelt seit 1989 und kam in den vergangenen Jahren bereits verschiedentlich zum Ausbruch. Auch das JPG hat das Thema aufgegriffen.2 Die 25. kalendarische Wiederkehr des europäischen Umbruchs ist nun Anlass genug, im Schwerpunkt diesem Geschichtsbild- und Gedächtniskonflikt nachzugehen. Fragen politisch-kultureller Zugehörigkeit, gebrochener Erinnerung und der Suche nach gemeinsamen historischen Wurzeln sowie nach tragfähigen Umgangsformen mit divergierenden historischen Identitäten bilden einen Fokus des Schwerpunkts.
Zu dieser Ausgabe Die damit angesprochene geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Konfrontation, auch ein Konflikt um die kulturpolitische Hegemonie des ‚alten‘ und des 1 2
Vgl. Bernd Rother: Gilt das gesprochene Wort? Wann und wo sagte Willy Brandt „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“?, in: Deutschland Archiv 33 (2000) 1, S. 90–93. Siehe die Beiträge von Katarzyna Stokłosa (Bd. 2, 2011), Elisabeth Kübler und Birgit Schwelling (beide Bd. 3, 2012) sowie Stefan Krankenhagen (Bd. 4, 2013).
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‚neuen‘ Europas, ist ein Ausdruck unterschiedlicher, mithin konträrer historischer, identitätspolitischer und normativer Orientierungen. Kurzum, eine auch allgemeinpolitisch relevante Konstellation. Gleichzeitig wird der Gegensatz aber auch als konstruktive Herausforderung zur Prägung einer gemeinsamen europäischen Identität aufgegriffen. So etwa in den Versuchen, ein Europäisches Museum aufzubauen, in dem die nationalen historischen Narrative mit Blick auf Europa zusammengeführt werden sollen. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass das Ende der europäischen Nachkriegsordnung von 1945/49 auch in Westeuropa erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Folgen zeitigte – als Resultat nicht zuletzt des Generationenwechsels lösten sich Geschichtsbilder langsam sowohl von den Erlebnisgenerationen als auch von verfestigten nationalen Stereotypen. Mitunter von scharfen öffentlichen Auseinandersetzungen begleitet, öffneten die neuen Deutungsakteure die Erinnerungskulturen für pluralere und kritischere Sichtweisen. So geschehen beispielsweise in Frankreich, Spanien, Italien, Österreich und Skandinavien. Wie schon während der Jahrzehnte der Blockkonfrontation kam Deutschland auch nach 1989 eine besondere Position zu: War das zuvor geteilte Land Schauplatz des direkten Aufeinandertreffens der beiden Blöcke, so ist Deutschland auch die einzige Gesellschaft, die sich nach der europäischen Wende mit beiden Großerfahrungen des 20. Jahrhunderts geschichts- und identitätspolitisch auseinandersetzen muss – der in den frühen 1990er-Jahren geprägte Begriff der ‚doppelten Vergangenheitsbewältigung‘ ist nur auf das vereinigte Deutschland sinnvoll anzuwenden. Hier stießen die beiden weltpolitischen Blöcke auf- und aneinander, hier findet die parallele Aufarbeitung zweier Vergangenheitsschichten in gegenseitiger Reflexion – und mitunter Konkurrenz – statt. Die Schwerpunkt-Beiträge dieser Ausgabe reflektieren maßgebliche Aspekte dieser vielschichtigen europäischen Problemlage. Stefan Troebst verfolgt in seinem einführenden Beitrag „Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?“ in einem Längsschnitt die Ansätze der Europäischen Union und ihrer Vorläufer, mittels Erinnerung und Geschichte die Identität ihrer Bürgerschaft zu prägen. In den Mittelpunkt rückt der Autor die Entwicklung von Geschichte als „identifikatorischem Referenzrahmen“ auf institutioneller europäischer Ebene und fragt nach der gemeinschaftsbildenden Funktion von Geschichtspolitik. Sein Befund verweist auf die gewachsene Bedeutung dieses Politikfelds, aber auch auf die immer noch nachgeordnete Relevanz desselben. Er schließt mit einer gewissen Skepsis gegenüber der Chance transnationaler Akteure, mit geschichtspolitischen Mitteln Kollektividentität zu stiften. Immerhin, so Troebst, habe sich die Politik inzwischen diskursiver und multiperspektivischer entwickelt. Daran schließt unmittelbar der Beitrag Arnd Bauerkämpers an. Er diskutiert am Beispiel der Erinnerungen an den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, den NS-Genozid und die stalinistische Verbrechen die Möglichkeit einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur. Ein einheitliches Gedächtnis, so Bauerkämper, habe sich in Europa seit 1945 nicht herausgebildet. Stattdessen sei die Erinnerung an die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts plural und umstritten geblieben. Er argumentiert deshalb für eine differenzierte Betrachtungsweise
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der europäischen Erinnerungslandschaft, um insbesondere räumliche, zeitliche und generationelle Differenzen herauszuarbeiten und das Erinnern als offenen und relationalen Prozess zu verstehen. Er verweist darauf, dass die verstärkte Präferenz für ein universalistisches Opfergedächtnis auch in Westeuropa nationale Gedächtnisregimes verändert habe, ohne diese zu ersetzen; vielmehr seien sie „mit dem Bezug auf Menschenrechte durch eine selbstkritische ‚dünne‘ Erinnerungskultur überlagert worden“. Mit erinnerungskulturellen Asymmetrien setzt sich Harald Wydra auseinander. Grundlage seines Aufsatzes ist folgende These: „Um zu verstehen wie Europäer auf beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs erinnern, müssen die kollektiven Bedingungen erfasst werden, unter denen in diesen Gemeinschaften Orientierungsrahmen ‚vergessen‘ wurden.“ Er plädiert für eine „kritische Reflexion der Kodierung des kulturellen Gedächtnisses in Europa“. Während in (West-)Deutschland nach 1945 eine Art nationale Selbstvergessenheit bis hin zu einer Identifikation mit Opfern des Nationalsozialismus zu beobachten sei, habe das Vergessen in Ostmitteleuropa Ideen nationaler Selbstbestimmung und historischen Revisionismus befördert. Wydra kommt zu dem Schluss: „Vor dem ererbten Hintergrund des Vergessens von Orientierungsrahmen sind Parameter des kulturellen Gedächtnisses in Deutschland und in Ostmitteleuropa letztendlich unvereinbar.“ In gewisser Hinsicht stehen auch in Bettina Greiners Aufsatz solche Asymmetrien im Fokus, wenngleich etwas anders gelagert. Am Beispiel des öffentlichen Umgangs mit der Erinnerung an die sowjetischen Speziallager geht sie der Frage der Integration dieser Erinnerungsorte in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts nach. Sie widmet sich dem Widerhall der Speziallager in der Erinnerungskultur des vereinten Deutschlands und fragt: „Warum entzieht sich dieses Kapitel deutscher Gewaltgeschichte seiner Verortung?“ Obgleich es offenkundig ein Potenzial der Geschichte der Speziallager zur „Streitgeschichte“ gibt, das insbesondere in der Frage einer adäquaten Gewichtung von Täter- und Opfergeschichte an Gedenkorten „doppelter Vergangenheit“ liegt, fanden die entsprechenden Erinnerungsorte kein öffentliches Interesse. Anhand einzelner Beispiele zeigt sie zugrundeliegende Konflikte um diese Orte auf. Greiner kritisiert so ein Missverhältnis von gegenwärtiger Erinnerung und Vergangenheit. Welche Stellung nehmen postsozialistische Museen zum Zweiten Weltkrieg im Kontext der Europäisierung der Erinnerung ein? Ljiljana Radonic untersucht in ihrem Schwerpunkt-Beitrag, „wie ‚doppelte‘ Okkupation und der Holocaust, Opfernarrative und Kollaboration in den jeweiligen Ländern verhandelt werden und welche Auswirkungen die EU-Beitrittsbemühungen darauf hatten“. Sie vergleicht hierzu Ausstellungen und Museumskataloge großer staatlicher Museen miteinander. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass ein Teil der Museen für das eigene, antikommunistische Opfernarrativ bedrohlich erscheinende Aspekte des Nationalsozialismus einzudämmen bestrebt sei, während in anderen Museen die ‚Anrufung‘ Europas und die „Europäisierung des Holocaust“ vorherrsche. Die Terroranschläge des 11. September 2001 haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Dass dieses globale Medienereignis auch außerhalb der USA erinnerungskulturelle Spuren hinterlassen hat, kann Erika Doss in der
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Rubrik Atelier & Galerie mit ihrem Beitrag „Transnational 9/11 Memorials: American Exceptionalism and Global Memories of Terrorism“ zeigen. Über 50 Gedenkorte wurden in Ländern von Australien bis Spanien eingerichtet. Die Autorin fragt nach der Bedeutung des Faktums, dass andere Nationen fortgesetzt an die Terroranschläge erinnern, obwohl diese doch in den USA geschahen. Damit ist auch die Frage verbunden, was dieser Umstand über die Globalisierung der nordamerikanischen politischen Kultur aussagt. Doss sieht hierin einen Indikator für die politisch-kulturelle Reichweite des US-Imperiums. Bianca Roitsch und Anette Blaschke stellen in ihrem Aufsatz Amateurfotografien westdeutscher Zollbeamter der deutsch-deutschen Grenze in ihrer erinnerungskulturellen Bedeutung vor. Ausgehend von einer Analyse des „Dokumentsinns“ der Fotos, formulieren die Autorinnen die These, dass eine „Gegenüberstellung“ der Fotos von der „alltäglichen Praxis an der innerdeutschen Grenze“ mit „Bildikonen“ bisherige historische „Meistererzählungen in Frage stellen oder zumindest ergänzen“ können. Daneben beschreiben sie die Bedeutung der Fotos westdeutscher Zollbeamter für autobiografische erinnerungskulturelle Konstruktionen. Erinnerungskulturell betrachtet sind Fotografien ebenso wie Denkmäler und Mahnmale Teil der öffentlichen Argumentation mit Geschichte. Dieses rhetorische Grundmuster zählt zum Kernbestand jeder Geschichtspolitik, sei es unmittelbar sprachlich oder indirekt mit anderen Formen des Rückbezugs. Vor diesem Hintergrund befasst sich Manuel Becker aus geschichtspolitologischer Sicht mit dem in den 1970er-Jahren entstandenen Konzept „Geschichte als Argument“. Er rekapituliert die geschichtsdidaktische und -wissenschaftliche Genese des Ansatzes sowie dessen Rezeption, um dann darauf aufbauend einen „neuen Ansatz“ zu entwickeln. Sein vorgeschlagenes Analyseraster eines „zweistufigen Verfahrens für wissenschaftliche Untersuchungen zur Geschichte als Argument“ ist auf praktische Kontexte bezogen, indem er der Politikwissenschaft damit ein Mittel an die Hand geben möchte, um die in der Politik oftmals eingesetzte geschichtspolitische Rhetorik professionell zu analysieren. Das Aktuelle Forum eröffnen wir in dieser Ausgabe des JPG mit der Abschiedsvorlesung von Peter Steinbach, gehalten im September 2013 an der Universität Mannheim. Wir sind besonders glücklich, diesen Text präsentieren zu können, und zwar aus zwei Gründen: Peter Steinbach ist hierzulande einer, wenn nicht der maßgebliche Historiker und Politikwissenschaftler, der den Forschungsund Arbeitszusammenhang von ‚Politik und Geschichte‘ durch seine Forschungsarbeit entfaltet und geprägt sowie vielfach und kontinuierlich gefördert – und eingefordert hat. Das JPG und der dem Jahrbuch eng verbundene, 1997 von Steinbach zusammen mit Peter Reichel und Edgar Wolfrum ins Leben gerufene Arbeitskreis „Politik und Geschichte“ in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, verdanken ihm wichtige konzeptionelle Impulse und eine engagierte Unterstützung. Eindrucksvoll entwickelt Steinbach – zweitens – die Überzeugung von der historischen Politikforschung in seiner Vorlesung unter dem Titel „Kein Abgesang! Historische Grundlagen der Politik“. Er zeigt, welche Bedeutung die „historische Dimensionierung“ für politisches Handeln hat; disziplinär
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plädiert er mit Nachdruck gegen die isolierende Verengung und für die Verschränkung von Geschichts- und Sozialwissenschaften. Die „doppelte Abwendung“ beider Wissenschaftszweige voneinander, besonders die Entfernung der deutschen Politikwissenschaft von historischen Fragestellungen, markiert er als bedenkliche Entwicklung – die einst als „Laboratorium des Sozialwissenschaftlers“ verstandene Geschichte sieht er als „zunehmend verwaist“. „Genügt es heute wirklich“, fragt Steinbach, „wie ein verkürztes Verständnis der empirischen Politikwissenschaft behauptet, die Gegenwart präzise zu vermessen, demoskopisch zu bestimmen, sie quantitativ zu beschreiben?“ Er erinnert die Historiker/innen ebenso wie die Sozialwissenschaftler/innen an die Notwendigkeit, sich jeweils gegenseitig zu rezipieren, systematisch zu berücksichtigen – als Korrektiv- und Präzisierungswissenschaften. Steinbach schließt seine Vorlesung mit der „Vision“ einer Aufhebung der Trennung von Geschichts- und Sozial-/Politikwissenschaft zugunsten des Nachweises der „Relevanz der Fächer für den öffentlichen Diskurs und das kritische Verständnis politischer Kommunikationsstrategien“. In diesem Sinne freuen wir uns doppelt, mit seinem konzeptionellen Beitrag gleichsam einen Steinwurf ins Wasser zweier Disziplinen vorstellen zu können, der besondere Aufmerksamkeit verdient. Uwe Bader breitet im zweiten Beitrag dieser Rubrik ein – nicht nur – lokales Problem der Erinnerungskultur aus. Er schildert aus der Sicht der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz den Umgang mit der Erinnerung an die Rheinwiesenlager. Der Begriff steht für die Kriegsgefangenenlager, die die westlichen Alliierten nach der Befreiung Südwestdeutschlands für Soldaten der Wehrmacht eingerichtet hatten und die größtenteils nur wenige Monate existierten. Aufgrund der teil- und zeitweise katastrophal schlechten Versorgung der Soldaten starben mehrere tausend, vielleicht zehntausende Soldaten. Bader zeichnet nach, wie die historisch-politische Bildungsarbeit in Gang kam, nachdem rechtsextreme Gruppen zunehmend das Gedenken der deutschen Soldatenopfer in diesen Lagern in ihre Mobilisierung und Propaganda integrierten. Baders Bericht verweist auf die Bedeutung unaufgeregter, faktenorientierter zeitgeschichtlicher Aufklärung – eine vorrangige Aufgabe jeder Erinnerungskultur. Die JPG-Rubrik Fundstück ist originellen Quellen und abseitig publizierten oder ‚vergessenen‘, wichtigen wissenschaftlichen Texten aus den Feldern von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur vorbehalten, auch aus der internationalen Forschung. In dieser Ausgabe stellen wir einen Aufsatz des US-amerikanischen Historikers Joe Perry vor: „The Madonna of Stalingrad: Mastering the (Christmas) Past and West German National Identity after World War II“. Darin untersucht Perry das nationalsozialistische „Kriegsweihnachten“ mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg und dessen zweiter Geschichte nach 1945 als „Erinnerungsort“, wobei er die aus Stalingrad überlieferte Madonna-Zeichnung des evangelischen Pastors und Wehrmachtsoberarztes Kurt Reuber zum ‚roten Faden‘ seiner Argumentation macht. Der Text markiert einen Beitrag zu der Forschungsfrage nach den Konstruktionsmechanismen nationaler Identität und sozialer Erinnerung im Nachkriegsdeutschland. Perry argumentiert dabei auf vier Ebenen: Weihnachten und Militär in Deutschland, Wehrmacht, Stalingrad und die Madonna, Nachkriegsre-
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zeption sowie nationale Identität, soziale Erinnerung. In dieser Verknüpfung, die die Gemeinschaftsbildung in der postnazistischen christlichen Erinnerungskultur Westdeutschlands aufzeigt, liegt die Originalität seines Aufsatzes begründet. Dieser fünfte Band des JPG schließt mit dem Forschungsbericht von Volker Depkat. Der Autor stellt jüngere Publikationen aus dem Feld der Lebenslauf-, Biografie- und Autobiografieforschung vor. Die Veröffentlichungen aus Literaturund Kulturwissenschaften, Soziologie und Genderstudies sowie Erziehungs- und Geschichtswissenschaften sichtet er auch mit Blick auf die Spannweite der unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, ihrem Beitrag zur historischen Forschung und ihre erinnerungskulturelle Relevanz.
Vorschau auf Band 6 Im Herbst 2015 erscheint Band 6 des JPG. Thema des Schwerpunktes wird „Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen global“ sein. Im Mittelpunkt stehen dabei weltweite Diffusionsprozesse von vergangenheitspolitischen Normen, die Arenen und Institutionen globaler geschichtspolitischer Praxen sowie das Verhältnis globaler und nationaler Erinnerungskulturen. Wir laden erneut Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ein, bei den Herausgeberinnen und Herausgebern des JPG Manuskripte einzureichen. Darüber hinaus präsentieren wir in der Rubrik Atelier & Galerie – unabhängig vom Themenschwerpunkt – neuere Forschungsergebnisse zur Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Wir freuen uns über methodisch und inhaltlich innovative Beiträge. Die Manuskripte für beide Rubriken, für den Schwerpunkt ebenso wie für Atelier & Galerie, werden mittels Board Review und Double Blind Peer Review begutachtet.
Dank Herausgeber/innen sind nichts ohne ihre Autorinnen und Autoren. Deshalb gebührt auch in dieser Ausgabe unser erster Dank allen mitwirkenden Kolleginnen und Kollegen, die mit ihren Beiträgen diesem JPG-Band Weite, ‚Farbe‘ und Tiefe verleihen. Dazu haben auch unsere Gutachter/innen mit Stellungnahmen zu den Aufsätzen der Rubriken Schwerpunkt sowie Atelier & Galerie einen wichtigen Teil beigesteuert. An diesem Band haben folgende Gutachter/innen mitgearbeitet: Katrin Boeckh, Frank Bösch, Cornelia Brink, Christoph Classen, Jens Gieseke, Irene Götz, Horst-Alfred Heinrich, Michael Kohlstruck, Ludwig Steindorff, Martina Thomsen und Edgar Wolfrum. Auch ihnen danken wir sehr herzlich. Für muttersprachliche Unterstützung geht ein besonderer Dank an Bill Niven. Dem Franz-Steiner-Verlag danken wir wieder für die stets hilfsbereite Begleitung des Jahrbuchs. Unser besonderer Dank gilt Verlagsleiter Thomas Schaber, der das JPG und dessen Weiterentwicklung immer engagiert und konstruktiv unterstützt.
S C H W E R P U N K T: 25 JAHRE EUROPÄISCHE WENDE
GEMEINSCHAFTSBILDUNG DURCH GESCHICHTSPOLITIK? ANLÄUFE DER EUROPÄISCHEN UNION ZUR STIFTUNG EINER ERINNERUNGSBASIERTEN BÜRGERIDENTITÄT Stefan Troebst
Zusammenfassung: Im Anschluss an die Osterweiterung von 2004 hat die Europäische Union Ansätze zu einer eigenen Geschichtspolitik entwickelt, im Zuge derer 2009 AntiTotalitarismus als kleinster gemeinsamer Nenner identifiziert wurde. Die Erinnerung an die Gesellschaftsverbrechen der Totalitarismen und an deren Opfer, so diese Vorstellung, soll den Angehörigen der mittlerweile 28 EU-Nationalgesellschaften zum einen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln und zum anderen mit Blick auf Gegenwart und Zukunft die EU-weit gemeinschaftliche aktive Ablehnung totalitarismusaffiner Ideologien und Haltungen befördern. Hauptkomponenten des neuen geschichtspolitischen Instrumentariums sind Gedenktage, Parlamentsentschließungen und Museen. Abstract: In the wake of its Eastern enlargement of 2004, the European Union has developed components of its own politics of history. In doing so, in 2009 anti-totalitarianism has been identified as the lowest common denominator of EU citizens. To remember the mass crimes of totalitarian regimes and their victims is supposed to convey to the members of the 28 national societies a common historical identity. With regard to the present and the future, the joint active condemnation of any form of totalitarian or authoritarian ideologies is called upon. The main components of the new EU politics of history are days of remembrance, parliamentary resolutions and museums.
Im September 2013 hat die Fachabteilung Struktur- und Kohäsionspolitik der Generaldirektion Interne Politikbereiche des Europäischen Parlaments ein umfangreiches Themenpapier mit dem Titel „Europäisches historisches Gedächtnis: Politik, Herausforderungen und Perspektiven“ veröffentlicht, das zu dem Ergebnis kommt, die EU habe seit dem Scheitern des Verfassungsvertrages und der Osterweiterung von 2004 verstärkt „Anstrengungen unternommen, ‚europäisches historisches Gedächtnis‘ zu fördern, um dem europäischen Projekt zusätzliche Legitimität zu verleihen und die Entwicklung einer europäischen Identität voranzubringen“. 1 Mittels „europäischer Gedächtnispolitik“ und „europäischer Erinnerungspolitik“ werde seitdem zielstrebig die „Schaffung eines gesamteuropäischen histo1
Europäisches Parlament. Generaldirektion Interne Politikbereiche. Fachabteilung B: Strukturund Kohäsionspolitik. Kultur und Bildung: Europäisches historisches Gedächtnis: Politik, Herausforderungen und Perspektiven. Themenpapier. Brüssel, September 2013, S. 6, URL: http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/note/join/2013/513977/IPOL-CULT_NT(2013) CULT_NT(2013)513977_DE.pdf, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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rischen Gedächtnisses“ zum „Zweck der Gemeinschaftsbildung, insbesondere im Kontext rascher Veränderungen in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur“ betrieben, wobei „auf den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts und den Holocaust als Hauptelementen europäischer historischer Erinnerung fokussiert wird“.2 Dabei gelte es „die Erinnerung insbesondere an den Nationalsozialismus und den Stalinismus wach zu halten, die als negative Gründungsmythen [der EU; S.T.] fungieren“. 3 Im Verlaufe des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts ist die Akzeptanz der Europäischen Union bei den 500 Millionen EU-Bürgern deutlich gesunken. Die enlargement fatigue, ausgelöst durch Angst vor den Folgen der ersten Osterweiterung 2004 und Hiobsbotschaften aus den 2007 aufgenommenen Mitgliedsländern Rumänien und Bulgarien, hat das, was Immanuel Kant „interesseloses Wohlgefallen“ genannt hat und heute als permissive consensus firmiert, schwinden lassen. Diese Ermüdung stellte sich ein durch das Zusammenwirken mit der Staatschuldenkrise im Euroraum, dem Fehlen einer medialen europäischen Öffentlichkeit sowie den üblichen Vorwürfen von Demokratie- und Legitimationsdefizit, Bürokratismus und Regelungswut „Brüssels“. Die EU – und hier vor allem ihr Parlament – hat darauf, wie schon öfter in der Vergangenheit, mit verstärkten Versuchen eines Identifikationsmanagement reagiert. Der politisch unhandliche Terminus „Seele“ in der früheren Pathosformel „Europa eine Seele geben“ wurde dabei durch die nicht minder sperrigen Begriffe „Gewissen“ und „Gedächtnis“ ersetzt. Gemeint ist damit eine geschichtspolitische Konzeption, die im Zuge häufig kontroverser Parlamentsdebatten der Jahre 2005–2009 über die Deutung des dramatischen 20. Jahrhunderts entwickelt und im Zuge derer 2009 Anti-Totalitarismus als kleinster gemeinsamer Nenner aller EU-Bürger identifiziert wurde. Die Erinnerung an die Gesellschaftsverbrechen der Totalitarismen und an deren Opfer, so diese Vorstellung, soll den Angehörigen der mittlerweile 28 EU-Nationalgesellschaften zum einen ein gleichsam „viktimes“ Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln und zum anderen mit Blick auf Gegenwart und Zukunft die EU-weit gemeinschaftliche aktive Ablehnung totalitarismusaffiner Ideologien und Haltungen wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Nazitum, Kommunismus, Faschismus, Stalinismus, Autoritarismus, Demokratiefeindlichkeit befördern. Zu diesem Zweck wurde ein geschichtspolitisches Instrumentarium entwickelt, das aus den Komponenten Gedenktage, Parlamentsentschließungen und Museen besteht.
Geschichtslose Vorgeschichte Walter Hallstein, der erste Präsident der Europäischen Kommission, hat sich bei diesem Fahrplan zu europäischer Identitätsstiftung qua Geschichtspolitik mutmaßlich im Grabe herumgedreht, hat er doch fünfzig Jahre zuvor eine gegenläufige Parole ausgegeben: 2 3
Ebd., S. 3, 5, 38. Ebd., S. 38.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
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„Die Europäische Gemeinschaft hat keine Symbole, sie hat keine Flagge, keine Hymne, keine Parade und keinen Souverän. Sie hat keine Integrationsmittel, die die Sinne ansprechen, das Auge, das Ohr. Das entspricht dem Stil unserer Gemeinschaft, dem Stil der Sachlichkeit, der unpathetischen harten Arbeit. Unser Boden ist die Vernunft mehr als die Emotion, unsere Stärke die begründete Erkenntnis mehr als der Mythos, unsere Kampfform die Diskussion mehr als die Erregung von Leidenschaften.“4
Und in der Tat unternahm Brüssel zu Zeiten der Europäischen Gemeinschaft der Sechs keinerlei Anstrengungen mit dem Ziel von Selbstvergewisserung, Identitätsfestigung und Kohärenzsteigerung. Dem Wiener Europa-Historiker Wolfgang Schmale zufolge war die Identitätspolitik der Kern-EG im Zeitraum 1951–1986 eine „vor-reflexive“, bis zur ersten Erweiterung von 1972 gar eine episodische, wobei von einem expliziten Identitätsmanagement mittels Symbolen nicht die Rede sein konnte, geschweige denn von einer zielgerichteten Geschichtspolitik.5 Erst der Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks veranlasste die Gemeinschaft der nun Neun auf ihrem Kopenhagener Gipfeltreffen vom Dezember 1973 zur Formulierung einer „Erklärung über die Europäische Identität“. Doch ungeachtet der Verwendung von Begriffen wie „gemeinsames Erbe“, „Geschichte“ und „Vergangenheit“ handelte es sich bei dieser Kopenhagener Erklärung um ein ausgesprochen gegenwarts- und zukunftsbezogenes Dokument, das in erster Linie den „Zusammenhalt gegenüber der übrigen Welt und die daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten“ betonte.6 Die EG positionierte sich hier mittels Selbstverständigung vor allem nach außen – gegenüber den USA und dem sowjetischen Machtbereich, auch gegenüber China und Japan –, wobei der „innere Zusammen4
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Zit. nach Hans Gresmann: Ein Europa der offenen Tür. Nicht Reißbrettplanung, sondern Fahrplan der Vernunft, in: Die Zeit, 13.4.1962, URL: http://www.zeit.de/1962/15/ein-europader-offenen-tuer, letzter Zugriff: 13.7.2014. Noch ein halbes Jahrhundert später konstatierte der Berliner Europa-Historiker Hartmut Kaelble als Hallsteinsche Langzeitwirkung, „[d]ie europäische Identität wirkt daher oft trocken, gefühlsarm, unsinnlich und weit mehr als nationale Identitäten wie eine Kopfgeburt“. Vgl. Hartmut Kaelble: Europäische Identitäten, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 13 (2012), S. 141–146, hier S. 144. Wolfgang Schmale: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, Stuttgart 2008, S. 121–126. Das bedeutet allerdings nicht, wie Chiara Bottici und Benoît Challand unter Verweis auf die Präambel zum Gründungsvertrag der Montanunion von 1951 hervorgehoben haben, dass es den Gründervätern um Robert Schuman an Geschichtsbewusstsein gemangelt habe. Denn in der Präambel heißt es, die Signatare seien „entschlossen, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluß ihrer wesentlichen Interessen zu setzen [sowie] durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren“ [Hervorh. S.T.]. Vgl. Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951 (Auszüge), URL: http://hdg.de/lemo/html/dokumente/JahreDesAufbausInOstUndWest_vertragEgks/index.html, letzter Zugriff: 13.7.2014; Chiara Bottici, Benoît Challand: Imagining Europe. Myth, Memory, and Identity, Cambridge 2013, S. 52f. Die Formel von „der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents“ in der Präambel des MaastrichtVertrags von 1992 wurde wörtlich in diejenige des Lissabon-Vertrags von 2007 übernommen. Dokument über die europäische Identität (1973), in: Hagen Schulze, Ina Ulrike Paul (Hrsg.): Europäische Geschichte. Quellen und Materialien, München 1994, S. 280–283, hier S. 280.
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halt“ und die „Wesenselemente“ europäischer „Einheit“ nachrangig waren. Mittelfristig aber kam dem Schweizer Politikwissenschaftler Tobias Theiler zufolge der Erklärung von 1973 entscheidende Bedeutung für die weitere Identitätsfindung samt -stiftung der EWG/EG zu: „[B]y the 1980s this had led to the appearance in Commission and EP discourse not only of shared European heritage, a European identity and European values, but also, in places, of a European culture and a European people.“7 Ein deutlicher Beleg dafür ist der 1985 veröffentlichte Bericht des Ad hocKomitees „On a People’s Europe“, der nach dem Komiteevorsitzenden, dem Italiener Pietro Adonnino, benannt war. Er beinhaltete eine Reihe konkreter Vorschläge an den Europäischen Rat zur Identitätsstiftung, darunter die Einführung eines bereits 1980 vorgeschlagenen EG-weit einheitlich gestalteten Führerscheins, eines europäischen TV-Kanals, einer „European Academy of Science, Technology and Art“, einer „Euro-Lottery“, einer EG-Flagge, eines EG-Emblems, einer EG-Hymne, nationaler Briefmarken mit EG-Bezug sowie das Aufstellen von EGHinweisschildern an den Außen- wie Binnengrenzen.8 Während die symbol(polit)ischen Komponenten des Adonnino-Berichts konsensfähig waren, waren es seine Institutionalisierungsvorschläge nicht. Das Jahr 1986 sieht Schmale dann als Beginn einer „reflexiven Phase Europäischer Identitätspolitik“, die ihm zufolge auf sechs „Säulen“ ruht. Diese sind: 1. „Sichtbare Symbole europäischer Zusammengehörigkeit“ wie Flagge, Hymne und Europatag am 9. Mai; 2. die EU-Staatsbürgerschaft samt Wahlrecht zum Europäischen Parlament, kommunalem Wahlrecht am Erstwohnsitz und anderes; 3. der Euro als (fast) gemeinsame Währung; 4. gemeinsame Werte wie Grund- und Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Frieden; 5. „Gemeinsamkeitsstrategien“ wie gemeinsamer Markt und gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. „Schließlich (Säule 6) betreibt die EU im Rahmen ihrer sehr weit gefassten Kulturpolitik Geschichtspolitik, um die identitätsstiftende Rolle von Geschichte zu nutzen. Diese Politik äußert sich in einer Fülle von Maßnahmen: die Europaausstellungen, die Schaffung eines europäischen Museums, die Förderung von Publikationen, die Einrichtung einer Verbindungsgruppe von europäischen Zeithistorikern, die Förderung von geisteswissenschaftlichen und 7
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Tobias Theiler: Political Symbolism and European Integration, Manchester u.a. 2005, S. 56. Vgl. auch Oriane Calligaro: EU Action in the Field of Heritage. A Contribution to the Discussion on the Role of Culture in the European Integration Process, in: Marloes Beers, Jenny Raflik (Hrsg.): National Cultures and Common Identity. A Challenge for Europe?, Brussels 2010, S. 87–98; Gudrun Quenzel: Konstruktion von Europa. Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union, Bielefeld 2005. Ad hoc Committee „On a People’s Europe“: Report to the European Council, Milan, 28 and 29 June 1985, S. 33 (A 10.04 COM 85, SN/2536/3/85), URL: http://www.ombudsman.europa. eu/de/resources/historicaldocument.faces/de/4659/html.bookmark, letzter Zugriff: 13.7.2014. Vgl. dazu auch Cris Shore: Building Europe. The Cultural Politics of European Integration, London 2000, S. 44–50.
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kulturellen Projekten (Europa 2000; Rahmenprogramme), die gemeinsame Aufarbeitung des Holocaust.“9
Zu nennen wären des Weiteren Innovationen wie der 1985 eingeführte einheitliche weinrote Reisepass mit der Aufschrift „Europäische Gemeinschaft“ (ab 1993 „Europäische Union“) in der jeweiligen Landessprache sowie der im Alltag der 28 wohl auffälligste Bezug zur EU: das europaweit einheitliche Design von KfzKennzeichen mit dem blau-gelben EU-Emblem, in welches das jeweilige Nationalitätszeichen integriert ist. Überdies gibt es seit 1985 die Ausschreibung für eine „Kulturstadt Europas“ (seit 1999 „Kulturhauptstadt Europas“) sowie seit 1987 den „Women of Europe Award“.10 Die einschlägigen Empfehlungen eines „Komitees der Weisen“, das Kommissionspräsident Jacques Delors infolge des verheerenden französischen Referendums von 1992 unter der Leitung des ehemaligen belgischen EG-Kommissars Willy de Clercq einsetzte, wurden hingegen nicht umgesetzt. Aufgabe des Komitees war es, Vorschläge zur Optimierung der EG-Kommunikationspolitik zu machen, um so das Image der Gemeinschaft und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu verbessern. De Clercq und seine Mitstreiter schlugen in ihrem 1993 vorgelegten Bericht unter anderem die Ausstellung einer EU-Geburtsurkunde für alle Neugeborenen, eine „Europäische Bibliothek und Museum“, eine „europäische Dimension“ in allen Schulbüchern und Curricula, einen hierarchisch über nationalen Auszeichnungen stehenden EU-Verdienstorden, ein neues EU-Logo mit dem lateinischen Motto „In Uno Plures“ sowie regelmäßige, europaweit übertragene TVAnsprachen des Kommissionspräsidenten an „die Frauen und die Jugend Europas“ vor.11 ‚Geschichte‘ als identifikatorischer Referenzrahmen indes blieb bis zur ersten EU-Osterweiterung von 2004 bestenfalls schmückendes Beiwerk Brüsseler Politik, eine Unterkategorie von ‚Kultur‘, wie auch der Primat des Europarats auf diesem Politikfeld seitens Brüssels weitgehend unangetastet blieb. Ein Grund dafür war, dass die Kommission in Brüssel auf das Stichwort ‚Geschichte‘ teilweise allergisch reagierte. Dies ging auf das vernichtende Echo zurück, das eine EGoffiziöse Gesamtdarstellung zur Geschichte Europas aufgrund ihres dezidiert „christlich-abendländischen“ Tenors und heroisierend-triumphalen Tons ausgelöst 9
Schmale: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, 2008, S. 127–130, hier S. 128. Vgl. auch Kiran Klaus Patel: Europas Symbole. Integrationsgeschichte und Identitätssuche seit 1945, in: Internationale Politik 59 (2004) 4, S. 11–18, der die Einführung von Fahne und Hymne der EG als Reaktion auf die niedrige Wahlbeteiligung bei der Europawahl 1984 deutet (S. 16), sowie Shore: Building Europe, 2000, S. 40–66; Albrecht Riethmüller: Die Hymne der Europäischen Union, in: Pim den Boer et al. (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte. Bd. 2: Das Haus Europa, München 2012, S. 89–96; Hartmut Kaelble: European Symbols, 1945– 2000: Concept, Meaning and Historical Change, in: Luisa Passerini (Hrsg.): Figures d’Europe. Images and Myths of Europe, Brussels u.a. 2003, S. 47–61; Markus Göldner: Politische Symbole der europäischen Integration. Fahne, Hymne, Hauptstadt, Pass, Briefmarke, Auszeichnungen, Frankfurt am Main u.a. 1988. 10 Shore: Building Europe, 2000, S. 60–62, 87–122. 11 Ebd., S. 54–56.
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hatte.12 Das Buchprojekt war von der Kommission unterstützt und 1990 veröffentlicht worden. Mit anderen Worten: An dem von Konflikten, Missverständnissen und Verweigerungshaltungen geprägten und primär bilateralen „Abgleich der nationalen Gedächtnisse“ (Dan Diner) im Mittel- und Osteuropa der 1990er-Jahre, wie ihn das Ende des Kalten Krieges und die verhandelten Transitionen von 1989/91 an ermöglicht hatten, war die EG/EU nur peripher beteiligt. Die italienische Zeithistorikerin Oriane Calligaro hat angemerkt, es sei bezeichnend gewesen, dass das Europäische Parlament 1993 zwar eine „Resolution on European and International Preservation of the Sites of Nazi Concentration Camps as Historical Memorials“ verabschiedete, indes den Antrag eines deutschen Abgeordneten auf Einschluss von Gedenkstätten an den Stalinismus abgelehnt habe.13 Der Münchner Politikwissenschaftler Michael Weigl vertritt daher die These, „dass sich die europäische Identitätspolitik zwar seit 1990 historisch umorientiert hat, dieser Wandel aber nicht dazu führte, Diktaturerfahrungen identitär breiten Raum einzuräumen, sondern im Gegenteil diese Erinnerungen weiter an den Rand gedrängt worden seien.“14 In der Fixierung der EU auf die im Jahr 2000 kanonisierte „United in diversity“-Parole sieht er den Grund für das Ausbleiben eines „europäischen Identitätsangebots“, „welches als Dach über den regionalen und nationalen Identitäten fungieren könnte“. Entsprechend konstatiert er, „den europäischen Identitätsangeboten mangelt es seit dem Ende der Blockkonfrontation an einer stringent aus der Historie abgeleiteten Zukunftsvision für Europa, welche alle Bürger gleichermaßen zu emotionalisieren und für Europa begeistern könnte.“15 Als Ursache für dieses Defizit an Identifikationsfolien führt der Berliner Europahistoriker Hartmut Kaelble an, dass die EU – anders als die in ihr vereinten Mitgliedstaaten – keine einer Nationalgeschichte vergleichbare gemeinsame Geschichte aufweist: „Lacking are the typical ingredients of national history – a common war of independence, a common period of defeat and suffering, a common period of subsequent reaffirmation of the body politic, a history of common frontiers, and a common historical memory. (…) Europe lacks a symbolic capital such as Paris or London. Brussels is an administrative center, but no capital with which to identify, for lack of what one would expect from a capital: a purposeful architectural ensemble of buildings for the European Parliament, the European Commission, 12 Jean Baptiste Duroselle: Europe. A History of its Peoples, London 1990. Zur Geschichte dieses Flops vgl. Theiler: Political Symbolism, 2005, S. 122–125; Shore: Building Europe, 2000, S. 59f.; Norman Davies: Europe. A History, Oxford 1996, S. 43f. 13 Calligaro: EU Action in the Field of Heritage, 2010, S. 94f. Vgl. auch European Parliament Resolution on European and International Preservation of the Sites of Nazi Concentration Camps as Historical Memorials, 11 February 1993, in: Official Journal of the European Communities, C 72, 15.3.1993. 14 Michael Weigl: Europa neu denken? Zur historischen Umorientierung europäischer Identitätspolitik, in: Katrin Hammerstein et al. (Hrsg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 177–188, hier S. 178. 15 Michael Weigl: Europas Ringen mit sich selbst. Grundlagen einer europäischen Identitätspolitik, Gütersloh 2006, URL: http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-924884BD914FFCD2/bst/Europas_Ringen_mit_sich_selbst.pdf, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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and the European Council; a European museum, a European opera and theater, a European academy of sciences, a major European university, a European library, European monuments, and European street names.“16
Daraus ist mit einiger Berechtigung zu schließen, dass die 1973 einsetzenden und seit 1985 verstärkten Brüsseler Versuche, gleichsam auf dem Verordnungswege mit administrativen Maßnahmen europäische Identität zu stiften, wenig wirksam waren. Die von den genannten Autoren angeführte „Geschichtslosigkeit“ und Symbolarmut beziehungsweise das „Mythendefizit“17 des europäischen Mehrebenensystems waren dann sicher mit ein Grund dafür, dass der clash of cultures of remembrance, der die EU trotz der bereits 1989 erfolgten ‚Ansage‘ 2004 im Zuge ihrer Osterweiterung gleichsam unvorbereitet traf, hart ausfiel. Ein anderer Grund war ihr tiefsitzender Okzidentalismus samt Transatlantismus. Die alte EG hatte kein Szenario für ein mögliches Ende des Ost-West-Konflikts entwickelt, geschweige denn für die von ihr rhetorisch mitunter invozierte „Wiedervereinigung des Kontinents“. Und so wenig wie die postkommunistischen Gesellschaften über den europäischen Integrationsprozess wussten, so wenig wussten die ‚alten‘ EUMitglieder über die Aufnahmekandidaten „im Osten“. Für das Geschichtsbild der Brüsseler Akteure, für die Geschichtspolitik des Parlaments und für das Identitätsmanagement der EU insgesamt hatte der Umstand, dass die gänzlich andere Sicht der Ostmitteleuropäer auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts von 2004 an von diesen selbst im Europäischen Parlament vorgetragen sowie im Streit mit Abgeordneten aus Westeuropa verteidigt wurde, weitreichende Folgen. Nach der Osterweiterung18 Die zwischen Januar 2005 und Januar 2009 angenommenen Entschließungen des Parlaments („zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus“, 19 „zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8.
16 Hartmut Kaelble: Identification with Europe and politicization of the EU since the 1980s, in: Jeffrey T. Checkel, Peter J. Katzenstein (Hrsg.): European Identity. Cambridge 2009, S. 193– 212, hier S. 207. Vgl. auch Ders.: Europäische Identitäten, 2012, S. 143f. 17 Wolfgang Schmale: Scheitert Europa an seinem Mythendefizit?, Bochum 1997. 18 Im Folgenden stütze ich mich auf zwei eigene Vorstudien: Stefan Troebst: Der 23. August als euroatlantischer Gedenktag? Eine analytische Dokumentation, in: Anna Kaminsky, Dietmar Müller, Stefan Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011, S. 85–121; Ders.: Die Europäische Union als „Gedächtnis und Gewissen Europas“? Zur EU-Geschichtspolitik seit der Osterweiterung, in: Etienne François et al. (Hrsg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen 2013, S. 92–155. 19 Entschließung des Europäischen Parlaments zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus, 27.1.2005, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do? pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2005-0018+0+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 13.7. 2014.
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Mai 1945“,20 „zum Gedenken an den Holodomor, die wissentlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/33 in der Ukraine“21 sowie „zum serbischen Massaker an 8.000 bosnischen Muslimen von 1995 in Srebrenica“22) bildeten den einen Teil der neuen EU-Geschichtspolitik. Den anderen stellten zwei Parlamentsdebatten dar: 2005 wurde „Die Zukunft Europas 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg“23 behandelt und anlässlich des „70. Jahrestags des Staatsstreichs durch Franco in Spanien“ fand 2006 die zweite Debatte statt.24 Dabei kam es zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten mit heftigen Wortgefechten zwischen ‚alten‘ westeuropäischen und ‚neuen‘ ostmitteleuropäischen Abgeordneten. Streitpunkt war die auf westeuropäischer Seite befürchtete Enthierarchisierung des Gedenkens der industriellen Vernichtung der Juden Europas durch den Nationalsozialismus zugunsten der von den Osteuropäern geforderten Erinnerung an die stalinistischen Gesellschaftsverbrechen. Der US-britische Europahistoriker Tony Judt hat die Wirkungen der osteuropäischen Stalinismus-Erinnerung auf die sich erweiternde EU in seiner eindrücklichen Gesamtdarstellung Postwar. A History of Europe since 1945 wie folgt beschrieben: „With this post-Communist re-ordering of memory in eastern Europe, the taboo on comparing Communism with Nazism began to crumble. Indeed politicians and scholars started to insist upon such comparisons. In the West this juxtaposition remained controversial. Direct comparisons between Hitler and Stalin were not the issue; few now disputed the monstrous quality of both dictators. But the suggestion that Communism itself – before and after Stalin – should be placed in the same category as Fascism and Nazism carried uncomfortable implications for the West’s own past, and not only in Germany. To many western European intellectuals, Communism was a failed variant of a common progressive heritage. But to their central and east European counterparts it was an all too successful local application of the criminal pathologies of twentieth-century authoritarianism and should be remembered thus. Europe might be united, but European memory remained deeply asymmetrical.“25
20 Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945, 12.5.2005, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc. do?type=TA&reference=P6-TA-2005-0180&language=DE, letzter Zugriff: 13.7.2014. 21 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. Oktober 2008 zu dem Gedenken an den Holodomor, die wissentlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/1933 in der Ukraine, 23.10.2008, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P6TA-2008-0523&language=DE, letzter Zugriff: 13.7.2014. 22 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Januar 2009 zu Srebrenica, 15.1.2009, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P6-TA-2009-0028& language=DE, letzter Zugriff: 13.7.2014. 23 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 11.5.2005: Die Zukunft Europas 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TE XT+CRE+20050511+ITEM-016+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 13.7.2014. 24 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 4.7.2006: Jahrestag des Staatsstreichs durch Franco in Spanien, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+CR E+20060704+ITEM-004+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 13.7.2014. 25 Tony Judt: Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005, S. 826. Ebd., S. 165– 225, beschreibt Judt die seitens der Sowjetunion oktroyierte Stalinisierung des östlichen Mitteleuropa wie die partielle Selbststalinisierung westeuropäischer Gesellschaften wie Italien
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In der Debatte vom 11. Mai 2005 aus Anlass des 60. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs versuchte der amtierende EU-Ratspräsident, der Luxemburger Jean-Claude Juncker, in seinem Eröffnungsstatement die geschichtspolitische Balance zu wahren. Einerseits hob er den Beitrag der „Soldaten der Roten Armee“ zur „Befreiung Europas“ vom Nationalsozialismus hervor und sagte: „Welch ungeheure Verluste! Wie viele Leben wurden abrupt abgebrochen in Russland, das für die Befreiung Europas 27 Millionen Tote gab! Niemand muss – wie ich es tue – große Liebe für das eigentliche Russland, das ewige Russland empfinden, um anzuerkennen, dass Russland große Verdienste für Europa erworben hat.“26
Andererseits sprach er die ganz andere historische Erfahrung Ostmitteleuropas an: „Doch die Anfang Mai 1945 wieder erlangte Freiheit wurde nicht überall in Europa in gleichem Maße spürbar. Wir in unserem westlichen Teil Europas, die wir fest in unseren alten Demokratien etabliert waren, konnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Freiheit leben, in einer wieder erlangten Freiheit, deren Preis wir kannten. Doch diejenigen, die in Mitteleuropa und in Osteuropa lebten, kamen nicht in den Genuss der Freiheit, die wir fünfzig Jahre lang erlebten. Sie waren einem fremden Gesetz unterworfen. Die baltischen Länder, deren Ankunft in Europa ich begrüßen möchte und denen ich sagen möchte, wie stolz wir darauf sind, dass sie nun zu uns gehören, wurden gewaltsam in ein fremdes Staatsgebilde eingegliedert. Sie erlebten nicht die pax libertatis, sondern die pax sovietika, die ihnen fremd war. Diese Völker, diese Nationen, die von einem Unglück in das andere stürzten, haben mehr gelitten als alle anderen Europäer. Den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern war nicht das außergewöhnliche Maß an Selbstbestimmung vergönnt, in dessen Genuss wir in unserer Region Europas kamen. Sie waren nicht frei. Sie mussten sich einem System unterordnen, das ihnen aufgezwungen wurde.“27
In der anschließenden Aussprache, welche der konservative polnische Abgeordnete Wojciech Roszkowski, von Beruf Zeithistoriker und Ökonom,28 als „vielleicht die wichtigste Debatte über die europäische Identität, die wir seit Jahren geführt haben“, bezeichnete, wandte sich der französische Kommunist und Parlamentsveteran Francis Wurtz vehement gegen eine „Entschuldigung von Naziverbrechen durch einen Verweis auf die stalinistischen Verbrechen“, da „der Nazismus keine Diktatur oder Tyrannei unter anderen war, sondern vielmehr ein vollständiger Bruch mit der gesamten Zivilisation“. Dem hielt das ungarische FIDESZ-Mitglied József Szájer entgegen: „Wer einen unschuldigen Gefangenen aus dem einen Gefängnis befreit und ihn in ein anderes sperrt, ist ein Gefängniswärter und kein Befreier.“ Nahezu sämtliche Abgeordnete aus Ostmitteleuropa betonten, dass der 8. und Frankreich. Zum neueren Forschungsstand vgl. Michael Geyer, Sheila Fitzpatrick (Hrsg.): Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009. 26 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 11.5.2005. Junker entging dabei, dass die Rote Armee keine „russische“, sondern eine sowjetische, das heißt ihrer ethnischen Zusammensetzung nach vor allem eine ukrainische, kasachische, belarussische war. 27 Ebd. 28 Roszkowski, Autor zahlreicher Untersuchungen, Gesamtdarstellungen und Schulbücher zur polnischen Zeitgeschichte, hat bereits vor 1989 unter dem Pseudonym „Andrzej Albert“ eine seinerzeit viel beachtete mehrbändige Geschichte Polens im 20. Jahrhundert in Solidarnośćnahen Untergrundverlagen veröffentlicht (Najnowsza historia Polski, 1918-1980, Warszawa 1983).
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Mai 1945 ohne Kenntnis dessen, was am 23. August 1939 geschah, nicht zu verstehen sei. Roszkowski wandte sich explizit gegen die russländische Geschichtspolitik mit ihrer Relativierung des Hitler-Stalin-Pakts und der Verbrechen des Diktators selbst.29 Die am 12. Mai 2005 angenommene „Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945“ invozierte entsprechend die „Erinnerung daran, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs für einige Nationen eine erneute Diktatur, diesmal durch die stalinistische Sowjetunion, bedeutete“.30 Dass lediglich 49 Abgeordnete gegen die Entschließung stimmten – bei 33 Enthaltungen und 463 Ja-Stimmen –, lag nicht zuletzt an einer kurz zuvor getätigten Äußerung des Staatspräsidenten der Russländischen Föderation, Vladimir V. Putin. Auf einer Pressekonferenz in Moskau hatte er den Hitler-Stalin-Pakt als „eine persönliche Angelegenheit zwischen Stalin und Hitler“ abgetan und die im Geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte territoriale Aufteilung Ostmitteleuropas zwischen dem ‚Dritten Reich‘ und der Sowjetunion als bloße „Rückgabe“ von Gebieten, die Sowjetrußland im Vertrag von Brest-Litovsk 1918 an Deutschland hatte abtreten müssen, bezeichnet.31 Die Kluft zwischen Europaparlamentariern aus Ost und West wurde in der Plenardebatte vom 4. Juli 2006 zum 70. Jahrestag des Staatsstreichs durch General Francisco Franco in Spanien 1936 besonders deutlich. Der rechtsnationale polnische Abgeordnete Maciej Marian Giertych bezeichnete dabei den Caudillo als Retter Mittel- und Westeuropas vor der „kommunistischen Pest“: „Die Existenz von Persönlichkeiten wie Franco (…) in der europäischen Politik hat für den Erhalt traditioneller europäischer Werte gesorgt. Solche Staatsmänner gibt es heute nicht mehr. Bedauerlicherweise sind wir Zeugen eines historischen Revisionismus, der alle Dinge, 29 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 11.5.2005. 30 Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945, 12.5.2005. Bezeichnenderweise hatten sich Debatten des Europäischen Parlaments vor der ersten Osterweiterung, etwa über die Gültigkeit der BenešDekrete des Beitrittskandidaten Tschechische Republik, nicht in Resolutionsform niedergeschlagen. Vgl. Christian Domnitz: Die Beneš-Dekrete in parlamentarischer Debatte. Kontroversen im Europäischen Parlament und im tschechischen Abgeordnetenhaus vor dem EUBeitritt der Tschechischen Republik, Münster 2007. 31 V. Putin o pakte Molotova-Ribbentropa: „Chorošo ėto bylo ili plocho – ėto istorija“ [V. Putin über den Molotow-Ribbentrop-Pakt: „Ob das gut war oder schlecht – es ist Geschichte“], in: Regnum. Informacionnoe agentstvo, 10.5.2005, URL: http://www.regnum.ru/news/451397.html, letzter Zugriff: 13.7.2014. Unter Bezug auf die Verurteilung des Paktes samt Zusatzprotokoll durch den Zweiten Kongress der Volksdeputierten der erodierenden UdSSR am 24.12.1989 hatte Putin überdies verärgert angefügt: „Was will man denn noch? Sollen wir das jedes Jahr wieder verurteilen? Wir halten dieses Thema für abgeschlossen und werden nicht mehr darauf zurückkommen. Wir haben uns einmal dazu geäußert und das genügt.“ (Ebd.) Vgl. auch Tat’jana Timofeeva: „Ob gut, ob schlecht, das ist Geschichte“. Russlands Umgang mit dem Hitler-Stalin-Pakt, in: Osteuropa 59 (2009) 7–8, S. 257–271; sowie Jutta Scherrer: Der Molotow-Ribbentrop-Pakt – (k)ein Thema der russischen Öffentlichkeit und Schule, in: Kaminsky, Müller, Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939, 2011, S. 155–173; Wolfram von Scheliha: Der Pakt und seine Fälscher. Der geschichtspolitische Machtkampf in Russland zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, in: Ebd., S. 175–197.
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die traditionell und katholisch sind, in einem ungünstigen Licht darstellt, und alles, was weltlich und sozialistisch ist, in einem günstigen Licht. Wir sollten nicht vergessen, dass der Nazismus in Deutschland und der Faschismus in Italien auch sozialistische und atheistische Wurzeln haben.“32
Es war nicht zufällig ein deutscher Abgeordneter – der seit 2012 als EU-Parlamentspräsident amtierende Sozialdemokrat Martin Schulz –, der seinen polnischen Kollegen scharf attackierte: „Das, was wir gerade gehört haben, ist der Geist von Herrn Franco. Es war eine faschistische Rede, die im Europaparlament nichts zu suchen hat.“33 Eine weitere Zuspitzung erfuhr der Ost-West-Streit 2007 während der Verhandlungen des Rates über einen Rahmenbeschluss zu Rassismus und Xenophobie.34 Polen und die baltischen Staaten verlangten, Massenmord, Deportation, Großen Terror und GULag in der Sowjetunion unter Stalin explizit mit in den Entwurf aufzunehmen, und forderten ein europaweites Verbot der Billigung, Leugnung oder Verharmlosung dieser Verbrechen. Immerhin konnten sie beim Rat einen Teilerfolg erzielen, denn im April 2007 vereinbarten die Justiz- und Innenminister der 27 dazu Folgendes: „Der Rat ersucht die Kommission, innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Rahmenbeschlusses zu prüfen, und dem Rat Bericht zu erstatten, ob ein zusätzliches Instrument benötigt wird, um das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen mit unter Strafe zu stellen, wenn sich die genannten Straftaten gegen eine Gruppe von Personen richten, die sich durch andere Kriterien definieren als durch Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft, wie etwa sozialer Status oder politische Verbindungen.“35
Nur Eingeweihte konnten darin den Bezug auf kommunistische Gesellschaftsverbrechen erkennen. Darüber hinaus wurde angekündigt, die Kommission werde „eine öffentliche europäische Anhörung zu von totalitären Regimen begangenen Völkermordverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ durchführen und „gegebenenfalls einen Vorschlag für einen Rahmenbeschluss zu diesen Verbrechen unterbreiten“.36 Diese Anhörung fand unter der slowenischen EU-Ratspräsidentschaft am 8. April 2008 in Brüssel statt. Geladen waren primär ostmitteleuropäische Experten, und im Zentrum standen kommunistische Staatsverbrechen.37 Die anwesenden EU-Parlamentarier aus Ostmitteleuro32 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 4.7.2006. 33 Ebd. 34 Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, URL: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX:32008F0913, letzter Zugriff: 13.7.2014. 35 Rat der Europäischen Union: Mitteilung an die Presse. 2749. Tagung des Rates. Justiz und Inneres, Luxemburg, 19./20.4.2007 (8364/07, Presse 77), S. 25, URL: http://www.consilium. europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/jha/93799.pdf, letzter Zugriff: 13.7.2014. 36 Ebd. 37 Vgl. dazu den Anhörungsbericht: Peter Jambrek (Hrsg.): Crimes Committed by Totalitarian Regimes, Ljubljana 2008, URL: http://www.crce.org.uk/lessons/Articles/eu_hearing.pdf, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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pa übermittelten anschließend dem Rat einen aus acht Punkten bestehenden Aktionsplan, in dem unter anderem die „Gründung einer europäischen Stiftung, die (…) Forschungsinstitutionen einzelner Länder, die sich auf Fragestellungen zur totalitären Gewaltherrschaft spezialisiert haben, bei der Vernetzung unterstützt“ sowie „die Erstellung von Konzepten für ein europäisches Museum über totalitäre Regime und für ein Denkmal, das die Opfer dieser Regime rehabilitiert und ihnen ein angemessenes Gedenken zuteilwerden lässt“, angeregt wurden. Besonderer Symbolgehalt kam dabei den Forderungen nach „Einrichtung eines europäischen Gedenktags für die Opfer totalitärer Gewaltherrschaft (zum Beispiel am 23. August, dem Datum, an dem der Molotow-Ribbentrop-Pakt geschlossen wurde)“ und nach „Durchsetzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der NichtDiskriminierung für die Opfer sämtlicher totalitärer Regime“ zu.38 Die gesteigerte geschichtspolitische Aktivität des Parlaments in den Jahren 2005 und 2006 hatte unmittelbare Wirkung auf die weiterhin ‚westeuropäisch‘ dominierte und geschichtspolitisch auf das Holocaustgedenken fokussierte EUKommission. Diese Wirkung manifestierte sich in neuen zeithistorisch orientierten Förderprogrammen. So veröffentlichte die Kommission 2005 die Ausschreibung „Special Events within the framework of a European Union democracy campaign following the 60th anniversary of the liberation from fascism“. Im Rahmen der Förderlinie „Remembrance“ wurden fünf Pilotprojekte in Italien und Deutschland gefördert.39 2006 wurde das Programm „Bürgerinnen und Bürger für Europa“ aufgelegt, welches im Zeitraum 2007–2013 „die aktive Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern am europäischen Integrationsprozess fördern“ sowie „das Verständnis der europäischen Bürger/innen füreinander stärken“, vor allem aber „Bürgerinnen und Bürgern die Entwicklung eines europäischen Identitätsgefühls ermöglichen“ sollte.40 Eine von vier Programmkomponenten trägt den Titel „Aktive europäische Erinnerung“. Sie weist einerseits Bezüge zu den geschichtspolitischen Eckpfeilern der Programmatik des EU-Parlaments auf, betont aber andererseits das Weltkriegsgedächtnis gegenüber der Kommunismuserinnerung:
38 Ebd., S. 313f. (Contribution of the 1st European hearing on „Crimes Committed by totalitarian regimes“, Brussels, 8 April 2008). Die deutsche Übersetzung ist zitiert nach Sandra Kalniete: Europa muss sich über die Bewertung der Totalitarismen in seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts verständigen, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2009, S. 359– 369, hier S. 368f. 39 European Commission: About the Citizens for Europe Programme: Pilot Projects, 12.9.2011, URL: http://ec.europa.eu/citizenship/about-the-europe-for-citizens-programme/ overview/acti on-4-active-european-remembrance/remembrance_projects_en.htm, letzter Zugriff: 13.7.2014. 40 Europäische Kommission: Das Programm Europa für Bürgerinnen und Bürger: Programmziele und -prioritäten, URL: http://ec.europa.eu/citizenship/about-the-europe-for-citizens-programme/ programme-objectives-and-priorities/index_de.htm, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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„Aktion 4: Aktive europäische Erinnerung Jahrzehnte des Friedens, der Stabilität und des Wohlstands trennen Europa von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Um jedoch sicherzustellen, dass sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, dass die Gegenwart gewürdigt und für die Zukunft vorgesorgt wird, ist es wichtig, die Erinnerung an diese Zeit wach zu halten. Die größten Kriege des letzten Jahrhunderts hat Europa weit hinter sich gelassen, und sie werden sicherlich in noch weitere Ferne rücken, wenn die letzten Überlebenden gestorben sind. Die traumatisierenden Ereignisse liegen schon so lange zurück, dass die Grundwerte der EU, wie Freiheit, Demokratie und Achtung der Menschenrechte, leicht als selbstverständlich hingenommen werden. Die geschichtliche Erfahrung des Nationalsozialismus und des Stalinismus unterstreicht jedoch, wie wichtig und kostbar unsere heutigen demokratischen Werte sind. Durch das Gedenken der Opfer sowie die Erhaltung der Stätten und Archive in Bezug auf Deportationen sowie durch zahlreiche andere Aktionen können die Europäer, insbesondere die jüngeren Generationen, aus diesen dunklen Kapiteln der Geschichte Lehren für die Gegenwart und Zukunft ziehen. Durch die Erinnerung an die Gräueltaten und Verbrechen der Vergangenheit können die Bürger über die Ursprünge der EU und die Geschichte der Europäischen Integration nachdenken, die den Frieden ihrer Mitglieder gewahrt und zur Sicherung ihres heutigen Wohlstands beigetragen hat. Darauf aufbauend, können die Menschen einen Weg zu der Art von Europa skizzieren, in dem sie in Zukunft leben möchten. Dies ist der Grundgedanke der Aktion 4: ‚Aktive europäische Erinnerung‘. (…) Die Ziele von Aktion 4 setzen sich aus folgenden Bestandteilen zusammen: ‚Aktionen, Diskussionen und Überlegungen zur europäischen Bürgerschaft und zur Demokratie, zur Wertegemeinschaft und zur gemeinsamen Geschichte und gemeinsamen Kultur fördern‘ und ‚Europa den Bürgern näher bringen, indem europäische Werte und Errungenschaften gefördert werden und gleichzeitig die Erinnerung an die Vergangenheit Europas bewahrt wird‘. Es werden Projekte zur Erhaltung von Stätten von historischem und sozialem Interesse in Verbindung mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus, wie etwa der Konzentrationslager des Zweiten Weltkriegs, gefördert. Die Erinnerung an die Erfahrungen jener, die den Krieg erlebten – und an die Millionen von Toten –, soll den jetzigen Generationen, insbesondere der Jugend, helfen, das Opfer ihrer Vorfahren zu verstehen.“41
Die Genfer Politikwissenschaftlerin Annabelle Littoz-Monnet sieht in einer mit „The EU Politics of Remembrance“ betitelten Analyse von 2011 in diesem Programm einen Ansatz der Kommission zur zielgerichteten „Konstruktion eines europaweiten Narrativs, das als Identifikationsmarker für europäische Bürger fungieren kann“. Dabei verweist sie darauf, dass das Programm auf Englisch „Active European Remembrance“ heißt, wobei der Terminus „remembrance“ im Gegensatz zum gängigeren Begriff „memory“ an sich bereits Aktion enthalte.42 Unter 41 Europäische Kommission: Das Programm Europa für Bürgerinnen und Bürger. Aktion 4: Aktive europäische Erinnerung, URL: http://ec.europa.eu/citizenship/about-the-europe-for-cit izens-programme/overview/action-4-active-european-remembrance/index_de.htm, letzter Zugriff: 13.7.2014. Zur modifizierten Fortsetzung des Programms 2014–2020 – mit einem Schwerpunkt auf „Geschichtsbewusstsein und europäische Bürgerschaft“ – vgl. Europäisches Parlament. Generaldirektion Interne Politikbereiche, Europäisches historisches Gedächtnis, 2013, S. 17. 42 Annabelle Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, Genf 2011, S. 4f., URL: http://graduateinstitute.ch/webdav/site/international_history_politics/shared/working_papers/ WPIH_9_Littoz-Monnet.pdf, letzter Zugriff: 13.7.2014.Vgl. auch Dies.: The EU Politics of
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Verwendung eines als „memory frame“ bezeichneten Interpretationsmusters – „defined here as shared interpretative lenses through which the past is made sense of by certain actors“43 – sieht sie als Folge der Osterweiterung in der EU einen heftigen Widerstreit zweier solcher „Erinnerungsrahmen“, deren einen sie „Holocaust as Unique“ und den anderen „Hitler and Stalin as equally Evil“ nennt. Ihr zufolge waren die „Erinnerungsrahmen“ der 1970er- und 1980er-Jahre, nämlich „the ‚Common Heritage‘ Frame“, „the ‚Founding Event‘ Frame“ und „the ‚Grand Moments of European Integration‘ Frame“, im Vergleich dazu deutlich weniger erfolgreich oder sogar erfolglos.44 In den 1990er-Jahren gewann der geschichtspolitische Holocaust-Bezug europaweit an Prominenz und führte im Januar 2000 zur Erklärung des Stockholmer Internationalen Forums über den Holocaust. 45 Diese wurde von acht EU-Staaten, den USA, Israel, Argentinien, Norwegen sowie Ungarn, Litauen, Polen und der Tschechischen Republik unterzeichnet. Dass die Erklärung starke Auswirkungen auf die Geschichtspolitik der EU hatte, belegt Littoz-Monnet mit einer Äußerung von Beate Winkler, vormals Direktorin des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia in Wien, vom Sommer 2005: „The Shoah is the traumatic experience of Europe’s recent history. It has driven the EU’s founders to build an united and peaceful Europe and thus been at the very root of European integration.“46 Noch bevor der Rückbezug auf den Holocaust als gleichsam neuer Gründungsmythos der EU einem Praxistest unterworfen wurde, setzte laut LittozMonnet die Rivalität mit dem ‚osteuropäischen‘ Interpretationsmuster ein, welches Nationalsozialismus und Kommunismus als Bezugsrahmen nahm. Die Politikwissenschaftlerin misst dem Kommissionsprogramm deutlich größere Bedeutung bei als den beschriebenen Parlamentsinitiativen, ebenso schreibt sie der Kommission, hier vor allem der Generaldirektion Bildung und Kultur, als Akteur einen höheren Stellenwert zu als Abgeordnetengruppierungen und Fraktionen.47
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Commemoration Post-Eastern Enlargement, in: Bruno Arcidiacono et al. (Hrsg.): Europe Twenty Years after the End of the Cold War. The New Europe, New Europes?, Bruxelles u. a. 2012, S. 63–78. Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, 2011, S. 4. Ebd., S. 10–14. Vgl. dazu den Wortlaut unter URL: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2000/maerz/st ockholmer-erklaerung-des-internationalen-forums-ueber-den-holocaust-v, letzter Zugriff: 13. 7.2014; Michael Jeismann: Schuld – der neue Gründungsmythos Europas? Die Internationale Holocaust-Konferenz von Stockholm (26.–28. Januar 2000) und eine Moral, die nach hinten losgeht, in: Historische Anthropologie 8 (2000) 3, S. 454–458; Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001, S. 210–216; Jens Kroh: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main 2008. Beate Winkler: Introduction to Session 2, „Education on the Holocaust and on antiSemitism“, in: OSCE Conference on Anti-Semitism and on Other Forms of Intolerance. Consolidated Summaries. Cordoba, 8 to 9 June 2005, S. 99–103, hier S. 99, URL: http://www.osc e.org/cio/16526, letzter Zugriff: 13.7.2014. Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, 2011, S. 17–24.
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So plausibel diese Interpretation auch ist, so groß ist zugleich der Unterschied in der Transparenz der Geschichtspolitiken von Parlament und Kommission. Während die Meinungsbildungs- und Konsensfindungsprozesse der EU-Parlamentarier quellenmäßig fassbar sind, sind die kommissionsinternen Diskussionsund Entscheidungsprozesse von außen kaum einsehbar. Entsprechend beschränkt sind die Analysemöglichkeiten, und entsprechend häufig greifen Forscher zur nicht immer unproblematischen Methode des Akteursinterviews.48
Die Resolution des Europäischen Parlaments „zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ von 2009 Im europäischen Jubiläums- und Gedenkjahr 2009 – unter anderem 20 Jahre ‚friedliche Revolution‘ in Mittel- und Osteuropa, 60 Jahre Europarat, 70 Jahre Hitler-Stalin-Pakt und Beginn des Zweiten Weltkriegs, 90 Jahre Pariser Friedenskonferenz – setzte die Europäische Union in Gestalt ihres Parlaments ein ambitioniertes geschichtspolitisches Zeichen. In der „Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“49 lehnten die Abgeordneten jegliche Art von totalitären Ideologien und Diktaturen sowie autoritären Regimen, Rassismus, Antisemitismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus und Stalinismus ab und machten diese zum gemeinsamen Nenner der nationalen Erinnerungskulturen der 27 EU-Mitglieder sowie zum Grundpfeiler einer Kommission und Rat zugleich aufgetragenen systematischen EU-Geschichtspolitik. Die ungewöhnlich lange und streckenweise regelrecht geschichtsphilosophische Entschließung wurde mit 553 Ja-Stimmen bei nur 44 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen angenommen. Obwohl sie das geschichtspolitische Grundsatzdokument der osterweiterten Union darstellt, blieb sie von den Öffentlichkeiten der Mitgliedstaaten weitgehend unbemerkt. Der symbolische Kern der Entschließung ist die Erklärung universaler Zuständigkeit für „Geschichte“, „Erinnerung“, „Gedächtnis“ und „Gedenken“ seitens des EU-Parlaments, wobei die opake Formel vom „Gewissen Europas“ im Titel durchaus als Selbstproklamation gedeutet werden kann: Das Europäische Parlament sieht sich selbst als das „Gewissen Europas“, als moralische Instanz der EU, in dessen Zuständigkeitsbereich nicht nur die damals 27 Mitgliedstaaten fallen, sondern das „größere“ Europa. Der großen rhetorischen Geste steht eine einzige konkrete – und unvergleichlich bescheidenere – Forderung gegenüber: eine „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Eu-
48 Zur Spezifik von Interviews mit EU-Kommissionsbeamten vgl. Shore: Building Europe, 2000, S. 7–11. 49 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus. Brüssel, 2. April 2009, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc. do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2009-0213+0+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 13. 7.2014.
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ropas“ bei „Verstärkung der bestehenden einschlägigen Finanzierungsinstrumente“ (Punkte 13 und 14) aufzubauen.50 Dieses Ungleichgewicht von Rhetorik und Konkretion wird durch einen merkwürdigen Einerseits-andererseits-Duktus noch unterstrichen: Einerseits seien „völlig objektive Auslegungen historischer Tatsachen nicht möglich“ (Punkt A), andererseits existierten aber durchaus „falsche Auslegungen der Geschichte“ (Punkt E). Und zum einen seien „während des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen von Opfern von totalitären und autoritären Regimen deportiert, inhaftiert, gefoltert und ermordet“ worden, wohingegen andererseits „der einzigartige Charakter des Holocaust nichtsdestoweniger anerkannt werden muss“ (Punkt G). Ganz offensichtlich werden hier in einer Art Kompromisslösung entgegengesetzte Ansichten zusammengeführt. Zum Teil leidet darunter die Verständlichkeit: Der beispielsweise in Punkt 10 postulierte Sachverhalt, dass völlig unterschiedliche und terminologisch diffuse Dinge wie „eine angemessene Bewahrung der historischen Erinnerung, eine umfassende Neubewertung der europäischen Geschichte und eine europaweite Anerkennung aller historischen Aspekte des modernen Europa die europäische Integration stärken werden“, kann nur mit gutem Willen als bloß kryptisch bezeichnet werden. Dass Kompromissfindung zu sinnentleerten Forderungen führen kann, belegt augenfällig Punkt 6, dessen Postulat nach Zugang zu den „Archive[n] der ehemaligen internen Sicherheitsdienste, der Geheimpolizei und der Nachrichtendienste“ durch die Bedingung minimiert wird, es müsse sichergestellt sein, „dass dieser Prozess nicht zu politischen Zwecken missbraucht wird“. Wer soll darüber eine Entscheidung treffen und welche „politischen Zwecke“ sind hier gemeint? Regelrecht unvermutet nimmt sich auch die konkrete Aufforderung an Rat und Kommission in Punkt 11 aus, „die Tätigkeiten nichtstaatlicher Organisationen wie etwa Memorial in der Russischen Föderation, die aktiv darum bemüht sind, Dokumente im Zusammenhang mit den während der stalinistischen Zeit verübten Verbrechen ausfindig zu machen und zusammenzutragen, zu unterstützen und zu verteidigen“. So begründet in moralischer wie politischer Hinsicht das Eintreten für die russländische Nichtregierungsorganisation Memorial auch ist, so naheliegend wäre doch die Nennung vergleichbarer NGOs in anderen autoritären oder mit Demokratiedefiziten behafteten EU-Nachbarstaaten wie Belarus, Marokko oder der Türkei samt der Forderung nach Unterstützung und Verteidigung auch 50 Die gleichfalls konkrete Forderung der Erklärung des 23. August – dem Tag der Unterzeichnung des als Hitler-Stalin- beziehungsweise Molotow-Ribbentrop-Pakt bekannten deutschsowjetischen Nichtangriffspakts samt Geheimen Zusatzprotokoll von 1939 – zum „europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime“ (Punkt 15) war dabei lediglich die Wiederholung einer Erklärung des Parlaments aus dem Vorjahr. Vgl. Erklärung des Europäischen Parlaments zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus. Brüssel, 23. September 2008, URL: http://www.eur oparl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P6-TA-2008-0439&language=DE, letzter Zugriff: 13.7.2014. Siehe dazu Troebst, Der 23. August als euroatlantischer Gedenktag?, 2011; Ders.: Der 23. August 1939. Ein europäischer Lieu de mémoire?, in: Osteuropa 59 (2009) 7–8, S. 249–256.
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dieser zivilgesellschaftlichen Akteure gewesen. Desgleichen hätte man Kritik am Umgang mit den archivalischen Hinterlassenschaften diktatorischer Regime in EU-Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Spanien oder Griechenland erwartet, wo der Quellenzugang selbst den in Punkt A genannten „Berufshistorikern“ massiv erschwert, gar verwehrt wird. Auch tritt gerade durch die Fokussierung auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts und ihre Massenverbrechen das gänzliche Ausblenden der Kolonialverbrechen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, der Niederlande, Belgiens, Italiens, Portugals und Spaniens umso deutlicher hervor, wären hier doch vor allem Westeuropäer angesprochen. Zugleich machen der Verweis auf die Russländische Föderation und die impliziten Bezüge auf die Ukraine, Serbien sowie Bosnien und Herzegowina in der Präambel deutlich, dass der geschichtspolitische Zuständigkeitsbereich der EU-Parlamentarier ihrem Selbstverständnis zufolge mitnichten an den EU-Außengrenzen endet. Ungeachtet der genannten Disparität, Exzentrik und Simplifizierung handelt es sich bei der Entschließung vom 2. April 2009 dennoch zumindest streckenweise um ein ebenso differenziertes wie eindrückliches Dokument. Einer ‚Einkaufsliste‘ gleich bietet es Anknüpfungspunkte für ganz unterschiedliche geschichtspolitische Postulate und Strategien. Es benennt nicht zuletzt die hochgradig divergierenden historischen Erfahrungen der Bürger der ‚alten‘ und ‚neuen‘ EUMitgliedstaaten im 20. Jahrhundert, vor allem diejenigen widerständigen Verhaltens im ehemaligen sowjetischen Hegemonialbereich. Der institutionalisierten Geschichtswissenschaft im EU-Raum kann dies als willkommene Argumentationshilfe im nationalen Rahmen sowie als vielversprechender Anknüpfungspunkt für finanziell unterfütterte institutionelle Verdichtung auf europäischer Ebene dienen. Der Entschließung des EU-Parlaments vom 2. April 2009 war am 18. März eine auf Initiative der tschechischen Ratspräsidentschaft im Europäischen Parlament durchgeführte öffentliche Anhörung zum Thema „European Conscience and Crimes of Totalitarian Communism: 20 Years After“ unmittelbar vorausgegangen.51 Der Titel der Anhörung knüpfte dabei an die „Prague Declaration on European Conscience and Communism“ vom 3. Juli 2008 an. Diese war von den Teilnehmern einer internationalen Konferenz unter Organisation der Regierung der Tschechischen Republik erlassen worden. Zu ihnen zählten Václav Havel, Vytautas Landsbergis und Joachim Gauck, des Weiteren vor allem tschechische Politiker und Intellektuelle. Die Deklaration enthielt zahlreiche Elemente der Entschließung von 2009, wie „die Anerkennung des Kommunismus als integraler und schreckenerregender Teil der gemeinsamen Geschichte Europas“, die Forderung nach Institutionalisierung, Musealisierung und Kommemoralisierung der Erinnerung an den Kommunismus durch ein „Institut des Europäischen Gedächtnisses und Gewissens“, ein „paneuropäisches Museum/Memorial für die Opfer aller totalitären Regime“ sowie den 23. August „als Tag des Gedenkens an die Opfer sowohl des nationalsozialistischen wie der kommunistischen Regime in derselben 51 Zum Programm der Anhörung vgl. URL: http://www.ustrcr.cz/en/hearing-in-the-europeanparliament-on-the-crimes-of-communism, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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Art, wie Europa der Opfer des Holocaust am 27. Januar gedenkt“.52 Der hier wie in der Entschließung von 2009 stark unterstrichene Symbolgehalt des 23. August als Tag der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags (Hitler-Stalin-Pakt oder Molotow-Ribbentrop-Pakt) samt Geheimem Zusatzprotokoll zur Aufteilung Ostmitteleuropas von 1939 schlug sich bereits vor der Entschließung von 2009 in einer eigenen „Erklärung des Europäischen Parlaments zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus“ vom 23. September 2008 nieder.53 Die Parlamentsentschließung „zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ wurde bereits am 15. Juni 2009 vom Rat billigend zur Kenntnis genommen, jedoch die Kommission lediglich „ersucht“, zur Umsetzung „alle bestehenden einschlägigen Finanzinstrumente (unter anderem das Programm ‚Europa für Bürgerinnen und Bürger‘) in vollem Umfang zu nutzen“. 54
Akteure der neuen EU-Geschichtspolitik ‚Architekten‘ der neuen EU-Geschichtspolitik waren (und sind mehrheitlich weiterhin) der konservative deutsche Europaparlamentspräsident der Jahre 2007 bis 2009, Hans-Gert Pöttering, und sein bis Januar 2012 amtierender Nachfolger, der aus der Solidarność-Bewegung kommende polnische Liberale Jerzy Buzek. Dieser war es auch, der 2009 in einer Veranstaltung des Parlaments zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts die ostmitteleuropäische Interpretation der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert in deutlichen Worten ins Gedächtnis rief:
52 Prague Declaration on European Conscience and Communism. Prag, 3. Juli 2008, URL: http://www.praguedeclaration.org, letzter Zugriff: 13.7.2014. Zum 27. Januar – Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee 1945 – als globalem Gedenktag vgl. Harald Schmid: Europäisierung des Auschwitz-Gedenkens? Zum Aufstieg des 27. Januar 1945 als „Holocaustgedenktag“ in Europa, in: Jan Eckel, Claudia Moisel (Hrsg.): Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008, S. 174–202; Aleida Assmann: 27. Januar 1945: Genese und Geltung eines neuen Gedenktags, in: Etienne François, Uwe Puschner (Hrsg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S. 319–334. 53 Erklärung des Europäischen Parlaments zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus. Zum Stellenwert des Pakts in den nationalen Erinnerungskulturen im Europa der Gegenwart vgl. Stefan Troebst, Dietmar Müller: Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in der europäischen Geschichte und Erinnerung. Eine Einführung, in: Kaminsky, Müller, Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939, 2011, S. 11–35; Dan Diner: Gegenläufige Gemeinsamkeiten. Der Pakt als Ereignis und Erinnerung, in: Ebd., S. 37–46; Ines Keske, Thomas Klemm, Dietmar Müller: 1939 – Pakt über Europa. Der HitlerStalin-Pakt in der Geschichte und Erinnerungskultur Ostmitteleuropas, in: Ebd., S. 257–286. 54 Rat der Europäischen Union: Mitteilung an die Presse. 2950. Tagung des Rates. Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen. Außenbeziehungen. Luxemburg, den 15. Juni 2009. 10938/09 (Presse 173), S. 17, URL: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/ docs/pressdata/de/gena/108878.pdf, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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„Polen wurde zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion geteilt; Finnland verlor 10 % seines Territoriums und 12 % seiner Bevölkerung; Ost- und Nordrumänien sowie die drei baltischen Staaten wurden direkt von der Sowjetunion annektiert. Von insgesamt ca. 6 Millionen Esten, Litauern und Letten wurden schätzungsweise bis zu 700.000 Personen deportiert. In Polen wurden 1,5 Millionen Menschen deportiert; davon kamen 760.000, darunter viele Kinder, ums Leben. Wenn wir uns diese Zahlen vergegenwärtigen, können wir uns das ganze Ausmaß der tragischen Vergangenheit vorstellen. Jeder zehnte männliche Erwachsene wurde verhaftet; viele von ihnen wurden im Zuge einer politischen Strategie umgebracht, die auf die Vernichtung der einheimischen Eliten abzielte. (…) Wir können diese Opfer niemals vergessen, da sie uns eindringlich daran erinnern, wo wir herkommen, und uns verdeutlichen, wie viel wir mittlerweile erreicht haben.“55
Und von 1939 ausgehend schlug er den Bogen über 2004 bis 2009: „[A]ls die neuen Mitgliedstaaten vor fünf Jahren beitraten, brachten wir unsere eigene Geschichte und unsere eigenen Geschichten mit; eine dieser tragischen Geschichten war der ‚Molotow-Ribbentrop-Pakt‘. (…) Heute sind wir ein wiedervereinigter und zusammengehöriger Kontinent, weil wir unsere Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg und aus dem Pakt, der ihn möglich gemacht hat, gezogen haben.“56
Genauso wichtig wie die ‚Architekten‘ (und die zahlreichen ‚Bauarbeiter‘) waren aber auch die ‚Poliere‘ aus den jetzt zehn ostmittel- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten stammenden Parlamentarier, hier vor allem die Abgeordneten Tunne Kelam (Estland), Vytautas Landsbergis (Litauen), József Szájer (Ungarn) und Sandra Kalniete (Lettland). Die fünfjährige Arbeit dieser ostmitteleuropäischen Lobbyisten für eine neue Geschichtspolitik und ihrer west-, süd- und nordeuropäischen Verbündeten in Gestalt der Entschließung von 2009 hatte vor allem zwei konkrete Folgen. Die eine war im Mai 2010 der Zusammenschluss von 35 Abgeordneten des EU-Parlaments zu einer informellen interfraktionellen Gruppe („Intergroup“) mit der Bezeichnung „Reconciliation of European Histories. For a better understanding of Europe’s shared history“. Zu dieser zählen sachkundige und bedeutende Mitglieder wie der niederländische Osteuropahistoriker Bastiaan Belder, die ungarische Minderheitenrechtsexpertin Kinga Gál oder der bereits genannte Pöttering sowie überwiegend Parlamentarier, die sich seit 2004 auf dem Feld der Geschichtspolitik profilieren und maßgeblich am Zustandekommen der programmatischen Dokumente zum Holodomor, zum 23. August, zu Srebrenica sowie zum „Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ beteiligt gewesen sind.57 Vorsitzende der Gruppe ist die lettische Abgeordnete Sandra Kalniete, die in Deutschland bekannt wurde durch ihre Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2004, in der sie Nationalsozialismus und Stalinismus als „gleichermaßen
55 Der Präsident des Europäischen Parlaments: 70. Jahrestag des Molotow-Ribbentrop-Paktes. Brüssel, 14. Oktober 2009, URL: http://www.sitepres.europarl.europa.eu/president/en-de/press/ speeches/sp-2009/sp-2009-October/speeches-2009-October-5.html, letzter Zugriff: 13.7.2014. 56 Ebd. 57 Siehe dazu die Website der Gruppe Reconciliation of European Histories. For a better understanding of Europe’s shared history, URL: http://eureconciliation.wordpress.com, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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verbrecherisch“ bezeichnet hat,58 und durch ihr Buch über die eigene Familiengeschichte in der sowjetischen Verbannung.59 Die frühere Außenministerin und kurzzeitige EU-Kommissarin nannte als Impulse für die Gründung der Parlamentariergruppe „das mangelnde genuine öffentliche Interesse an einer Beschäftigung mit dem sowjetischen Totalitarismus“ in der „westlichen Linken“ im Allgemeinen sowie die „Verweigerungshaltung“ der Sozialisten im EU-Parlament im Besonderen.60 Die andere konkrete Folge der Lobbyarbeit war eine deutlich stärkere Koordination aller geschichtspolitischen Aktivitäten der Union samt deren Bündelung, wobei die Machtverhältnisse zwischen Parlament, Kommission und Rat sowie die Beschränkungen des EU-Haushalts berücksichtigt werden mussten. Nachdem die Kommission auf Drängen des Rates sowie unter dem Druck des Parlaments bereits im November 2007 ein Seminar zur Frage „How to deal with the totalitarian memory of Europe: Victims and reconciliation“ durchgeführt hatte, gab sie 2009 eine umfangreiche Untersuchung mit dem Titel „Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes in Europe is dealt with in the Member States“ in Auftrag, die Anfang 2010 vorlag.61 Sie bildete die Grundlage für den Kommissionsbericht „The memory of the crimes committed by totalitarian regimes in Europe“, der im Dezember 2010 Parlament und Rat zugeleitet wurde. Darin listete die Kommission die Förderprogramme auf, über die Geld für Maßnahmen geschichtspolitischer Art beantragt werden konnte, und verwies dabei vor allem auf das 2007 eingerichtete Förderfeld „Aktive europäische Erinnerung“. Innerhalb dessen Rahmen, so die Kommission, könne auch die vom Parlament geforderte „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ finanziert werden. Konkrete Finanzzusagen enthielt der Bericht indes nicht. Immerhin stellte er für den Zeitraum 2014–2020 eine Fortführung bei vergrößertem Finanzvolu-
58 Sandra Kalniete: Altes Europa, neues Europa. Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 24. März 2004, URL: http://www.die-union.de/reden/altes_neues_europa.htm, letzter Zugriff: 13.07.2014. Zur Kontroverse zwischen Kalniete und dem Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, vgl. Stefan Troebst: Von Nikita Chruščëv zu Sandra Kalniete. Der lieu de mémoire „1956“ und Europas aktuelle Erinnerungskonflikte, in: Comparativ 16 (2006) 1, S. 150–170. 59 Sandra Kalniete: Ar balles kurpēm Sibīrijas sniegos. Riga 2001 (Dt.: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie, München 2005). Vgl. dazu: „Ich werde nie ein ganz freier Mensch sein“. Sandra Kalniete über den GULag, das Elend ihrer Familie und die Gleichgültigkeit des Westens, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.11.2005; Boris Barth: Staatlicher Terror, kollektive Erinnerungs- und Geschichtspolitik – Sandra Kalnietes „Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee“, in: Neue Politische Literatur 52 (2007), S. 25–36. 60 Kalniete: Europa muss sich über die Bewertung der Totalitarismen in seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts verständigen, 2009, S. 363–366. 61 Carlos Closa Montero: Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes in Europe is dealt with in the Member States, Madrid, January 2010, URL: http://ec.eu ropa.eu/justice/doc_centre/rights/studies/docs/memory_of_crimes_en.pdf, letzter Zugriff: 13. 7.2014.
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men in Aussicht.62 Davor umfasste diese Förderlinie „lediglich vier bis fünf Prozent des Programmbudgets, im Jahr 2009 etwa 1,9 Millionen Euro“, also eine im EU-Rahmen erdnussartig kleine Summe.63 Unter Bezug auf den genannten Kommissionsbericht von 2010 und die Parlamentsentschließung von 2009 zog der Rat 2011 eigene „Schlussfolgerungen zum Gedenken an die Verbrechen totalitärer Regime in Europa“, 64 in denen er zwar die geschichtspolitischen Forderungen des Parlaments im symbolischen Bereich – 23. August – akzeptierte, aber auf die institutionellen (und die damit verbundenen finanziellen) Konsequenzen mit dem Verweis auf bestehende EU-Fördermöglichkeiten unverbindlich antwortete. Damit gaben sich Sandra Kalniete und ihre parlamentarischen Mitstreiter aber nicht zufrieden. Hartnäckig traten sie für eine neue EU-Geschichtspolitik ein, und dies mit Erfolg, wie die weiteren Entwicklungen des Jahres 2011 – das erstmalige Begehen des neuen EU-Gedenktags 23. August unter polnischer Ratspräsidentschaft in Warschau sowie die Gründung der „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ in Anwesenheit der Regierungschefs Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns am 14. Oktober in Prag – zeigten. An den Feierlichkeiten am 23. August 2011 in Warschau nahmen neben dem amtierenden EU-Ratspräsidenten und polnischen Premierminister Donald Tusk EU-Parlamentspräsident Buzek und Justizkommissarin Vivian Reding als Vertreterin der EU-Kommission sowie etliche Justizminister der Mitgliedstaaten und aus Kroatien teil.65 Ein politisch bedeutsames Signal setzte die „Warschauer Erklärung aus Anlass des Europäischen Gedenktags für die Opfer totalitärer Regime“, in welcher die Signatare, nämlich Buzek für das Parlament und die Vertreter der Justizministerien von 15 EU-Staaten (neben ostmitteleuropäischen Vertretern waren auch solche aus Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Schweden anwesend), eine enge Verbindung zwischen der Erinnerung an die Opfer von Verbrechen in totalitären Vergangenheiten und der Notwendigkeit der 62 European Commission: Report from the Commission to the European Parliament and to the Council: The memory of the crimes committed by totalitarian regimes in Europe (COM 2010, 783 final), Brussels, 22.12.2010, URL: http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/reding/ pdf/ com%282010%29_873_1_en_act_part1_v61.pdf, letzter Zugriff: 13.7.2014. 63 Christine Wingert-Beckmann: Die EU-Förderung „Aktive europäische Erinnerung“, in: Jahrbuch für Kulturpolitik 9 (2009), S. 188f. In der Tat wurde auf Intervention des für Kultur und Bildung zuständigen Parlamentsausschusses diese Haushaltslinie beträchtlich erhöht – auf 57 Mio. Euro –, und dies mit der expliziten Begründung eines kausalen Zusammenhangs „zwischen Geschichtsbewusstsein und europäischer Identität“. Hier zit. nach Europäisches Parlament. Generaldirektion Interne Politikbereiche, Europäisches historisches Gedächtnis, 2013, S. 17–19. 64 Council of the European Union: Council conclusions on the memory of the crimes committed by totalitarian regimes in Europe. 3096th Justice and Home Affairs Council meeting, Luxembourg, 9 and 10 June 2011, URL: http://augusztus23.kormany.hu/council-conclusions-on-thememory-of-the-crimes-committed-by-totalitarian-regimes-in-europe, letzter Zugriff: 13.7.2014. 65 Vgl. zum Programm der Warschauer Feierlichkeiten: URL: http://pl2011.eu/de/content/europ aeischer-gedenktag-fuer-die-opfer-totalitaerer-regime-veranstaltungsprogramm, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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justiziellen Aufarbeitung dieser Gewaltakte postulierten.66 Bei aller starken Rhetorik enthielt diese Erklärung keine einzige Forderung oder Konkretisierung. Hatten 2011 Staaten wie Polen, Ungarn und Kroatien den 23. August erstmals als offiziellen Feiertag begangen, ließ die Aufmerksamkeit bereits 2012 deutlich nach. Immerhin führte Slowenien damals den Gedenktag neu ein. Die genannte Verbindung zwischen Totalitarismuserinnerung und gerichtlicher Aufarbeitung kennzeichnet auch die Programmatik und das Agieren der „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“. Deren Gründung erfolgte nach mehrjähriger Lobbyarbeit nicht zuletzt deshalb in Prag, weil das Plattform-Sekretariat dem staatlichen tschechischen Institut zum Studium totalitärer Regime (Ústav pro studium totalitních režimů) angegliedert ist. Die Plattform, deren Finanzierung anschubweise aus Mitteln der Visegrád-Kooperation (V 4) der vier mitteleuropäischen EU-Mitglieder Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn und Polen erfolgt, hat derzeit 43 Mitgliedsorganisationen aus Ostmittel- und Südosteuropa sowie aus Deutschland. Ihr Präsident Göran Lindblad ist ein ehemaliger konservativer Abgeordneter im schwedischen Reichstag.67 Hauptziele der Plattform sind dem Übereinkommen der Gründer zufolge: „1) to increase public awareness about European history and the crimes committed by totalitarian regimes and to encourage a broad, European-wide discussion about the causes and consequences of totalitarian rule, as well as about common European values, with the aim of promoting dignity and human rights, 2) to help prevent intolerance, extremism, anti-democratic movements and the recurrence of any totalitarian rule in the future, 3) to work toward creating a pan-European documentation centre/memorial for victims of all totalitarian regimes, with the aim of commemorating the victims and raising awareness of the crimes committed by those regimes.“68
Am 5. Juni 2012 organisierte die Plattform in Brüssel eine erste öffentliche Veranstaltung zum Thema „Legal Settlement of Communist Crimes“ mit Referenten aus Ostmitteleuropa, Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Deutschland, an der Pöttering, Buzek, Kalniete, Lindblad und andere teilnahmen. Anknüpfend an eine im Januar 2012 in Prag von 17 mittelund osteuropäischen Opferverbänden veröffentlichte „Declaration 2012“, in welcher „a just punishment of communist criminals and abolition of all benefits they still enjoy“ gefordert wurde,69 formulierte Lindblad das Ziel der Konferenz wie folgt: 66 Warsaw Declaration on the Occasion of the European Day of Remembrance for Victims of Totalitarian Regimes, 23rd of August 2011, URL: http://www.memoryandconscience.eu/wpcontent/uploads/2011/08/warsaw_declaration.pdf, letzter Zugriff: 13.7.2014. 67 Vgl. die Website der Plattform: URL: http://www.memoryandconscience.eu, deren Geschäftsführerin die tschechische Biologin Neela Winkelmann-Heyrovská ist. 68 Agreement establishing The Platform of European Memory and Conscience, Prague, 14 October 2011, S. 3, URL: https://www.bstu.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statut_Platform_ of_European_Memory_and_Conscience.pdf?__blob=publicationFile, letzter Zugriff: 13.7.2014. 69 Declaration 2012, URL: http://www.ustrcr.cz/en/declaration-2012, letzter Zugriff: 13.7.2014. Vgl. dazu auch den Band einer 2010 in Prag organisierten Tagung: Crimes of the Communist
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„We have a large unresolved issue in the free and democratic Europe of today. There are innumerable victims of Communist crimes and persecution living among us, brave people who fought, resisted and dissented the dictatorship, most of whom have not seen appropriate moral restitution and rehabilitation in society, let alone economic compensation for the suffering they had to endure. At the same time, the perpetrators are enjoying unbroken careers and economic benefits based on their service and active support for the totalitarian regime. We hope that the legal experts present will help us to understand whether it is possible to achieve justice and what kind of tribunal would be required. Can an existing court be used, given additional jurisdiction, or is there a need for a new international court?“70
Mit anderen Worten: Die in der Plattform-Bezeichnung verwendete Formel „Gedächtnis und Gewissen Europas“ ist weniger in einem breiteren, erinnerungskulturellen Kontext zu sehen als vielmehr in einem engen strafrechtlichen. Wie die bisherigen Plattform-Aktivitäten gezeigt haben, ist deren Hauptanliegen eine gerechte Strafe für kommunistische Staatsverbrechen. Ob sich die Initiative mit dieser thematischen Engführung einen Gefallen tut, muss dabei ebenso offen bleiben wie die Erfolgschance der Forderung nach einem internationalen Strafgerichtshof für „kommunistische Verbrechen“. Kalniete und ihre ostmitteleuropäischen Mitstreiter sind damit im Begriff, in einen geschichtspolitischen Seitenpfad einzubiegen, der sich als Sackgasse erwiesen könnte. So groß bei den Abgeordneten der Alt-EU-Staaten das Verständnis für das Anliegen einer Kommunismusfolgen einschließenden EU-Erinnerungskultur ‚auf Augenhöhe‘ auch ist, so gering ist die Bereitschaft, sich für einen neuen europäischen Gerichtshof zu verkämpfen. In ihrer zitierten Analyse „The EU Politics of Remembrance“ hat Annabelle Littoz-Monnet die These aufgestellt, EU-Kommission und Europaparlament agierten als Antagonisten in einem EU-internen geschichtspolitischen Wettbewerb, den sie „‚The Holocaust as Unique‘ vs. ‚Hitler and Stalin as equally Evil‘“ nennt und in dem sie das erstgenannte Lager (noch) im Vorteil sieht. Dafür kann sie mit gewichtigen Argumenten aufwarten: So gingen im Jahr 2009 75 Prozent aller Zuwendungen aus dem Fonds „Aktive europäische Erinnerung“ der Kommission an Projekte, die sich auf den Zweiten Weltkrieg bezogen und damit den Holocaust direkt oder indirekt thematisierten, desgleichen acht Prozent an Projekte, die sowohl Nationalsozialismus als auch Kommunismus behandelten, und nur 17 Prozent an Vorhaben zu den Verbrechen des Stalinismus. Des Weiteren führt sie an, dass der genannte Rahmenbeschluss des Rates vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegen Rassismus und Xenophobie kommunistische Massenverbrechen nicht – wie von Polen und anderen gefordert – in die Definition von Verbrechen gegen die Menschlichkeit einschließt. Darüber hinaus verweist sie auf die von der Kommission 2010 beschlossene Errichtung einer „EuRegimes. International Conference. An Assessment by Historians and Legal Experts. Proceedings, Prague 2011. 70 Göran Lindblad: Greetings to the participants, in: International Conference „Legal Settlement of Communist Crimes“. European Parliament, Brussels, 5 June 2012, Programme, S. 2, URL: http://www.memoryandconscience.eu/wp-content/uploads/2012/05/PROGRAMME-BOOKL ET1.pdf, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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ropean Holocaust Research Infrastructure (EHRI)“, welche 19 Institutionen in 13 EU-Staaten sowie in Israel umfasst.71 Auch im zivilgesellschaftlichen Bereich sieht sie die Totalitarismus-Fraktion EU-weit im Hintertreffen: „Old EU states, the Left, and civil society organisations dealing with the memory of the Holocaust have, so far, dominated the remembrance struggle. They could do so not only because they were active and well-organised, but also because they benefited from the presence of a powerful meta-narrative in Europe, which laid the emphasis on the role of the Holocaust in the very definition of European identities, both at the domestic and at the European level.“72
Ob diese Einschätzung vom Oktober 2011 auch weiterhin gültig ist, erscheint fraglich: Die besagte Plattform ist formell gegründet, sie hat ihre Tätigkeit aufgenommen, verfolgt ein konkretes Ziel – die Einrichtung eines neuen Strafgerichtshofs – und wird mit Unterstützung von EU-Parlamentariern und ihren Verbündeten in der Brüsseler Bürokratie versuchen, auf die einschlägigen EU-Förderprogramme, vor allem auf dasjenige der „Aktiven europäischen Erinnerung“, zuzugreifen. Diesem Drängen wird sich die Kommission schon aus Paritätsgründen auf Dauer nicht verweigern können. Andererseits besitzt die Kommission fraglos den größeren Einfluss, um geschichtspolitische Initiativen umzusetzen. Dies geschieht bislang hinter den Kulissen – durch Entscheidungen über Mittelvergabe und entsprechende Bewilligungen vor allem an Antragsteller, welche die Holocaust-Erinnerung pflegen und/oder schwerpunktmäßig den Zweiten Weltkrieg thematisieren. Insofern handelt es sich hier um einen ungleichen Kampf einer zwar sichtbaren, aber politisch wie institutionell schwachen Parlamentarierriege gegen weitgehend anonyme Interessengruppierungen von Bürokraten in den Generaldirektionen für Bildung und Kultur sowie für Kommunikation der EUKommission. Allerdings hat das Parlament als Institution seit 2007 ein Eisen im Feuer, mit dem es bei geschickter Handhabung der Kommission die Schau stehlen könnte. Gemeint ist natürlich das sowohl noch in Bau wie in Konzipierung befindliche Haus der Europäischen Geschichte (House of European History) in Brüssel.73 Das als Testlauf hierzu geltende Parlamentarium im Untergeschoss des Parlamentsgebäudes in der Rue Wiertz gibt einen Vorgeschmack auf Multimedialität und Interaktivität der geplanten Dauerausstellung, die wohl auch im in Sichtweite gelegenen Museumsgebäude im Léopold-Park vorherrschen werden.74
71 Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, 2011, S. 24–26. Vgl. auch die EHRI-Website www.ehri-project.eu. 72 Ebd., S. 27. 73 Vgl. dazu Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 46–48, 72, 182–188, 216–219; Wolfram Kaiser, Stefan Krankenhagen, Kerstin Poehls: Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln u.a. 2012, S. 35–38, 58f., 80–84, 147–151, 174; Stefan Troebst: Eckstein einer EU-Geschichtspolitik? Das Museumsprojekt „Haus der Europäischen Geschichte“ in Brüssel, in: Deutschland Archiv 45 (2012), S. 746–752. 74 S. dazu die Website Parlamentarium. Das Besucherzentrum des Europäischen Parlaments, URL: http://www.europarl.europa.eu/visiting/de/parlamentarium.html; Matthias Krupa: Par-
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Schluss Zwei Dinge gilt es festzuhalten: Zum einen sind landläufige, auch in Tageszeitungen reproduzierte Ansichten wie diejenige, „europäische Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik“ seien „kein Thema, für das sich die Fraktionen im Europäischen Parlament oder in irgendeiner Abteilung der Europäischen Kommission wirklich zu interessieren scheinen“, überholt.75 Parlament, Kommission und Rat der EU haben im Gegenteil Geschichtspolitik als Werkzeug für Identitätsmanagement nicht nur erkannt, sondern bereits eingesetzt, und dies teils koordiniert, teils aber auch in Konkurrenz zueinander. Dass sie es zugleich für interne Statuskämpfe nutzen, liegt dabei in der Natur der Sache. Zum anderen aber sind das weitgehend folgenlose Proklamieren eines EUweiten Gedenktags 23. August, die Gründung eines vollmundig mit „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ bezeichneten losen und unterfinanzierten Zusammenschlusses etlicher nationaler Institutionen, die mit dem Archivgut der Repressionsapparate staatssozialistischer Regime befasst sind, ja selbst die holocaustgedenkaffine „Aktion 4: Aktive europäische Erinnerung“ des Kommissionsprogramms „Bürgerinnen und Bürger für Europa“ vergleichsweise bescheidene, da öffentlich kaum wahrgenommene, überdies ‚preiswerte‘ Unternehmungen. Das Erstellen einer überzeugenden Konzeption eines europäischen Geschichtsmuseums samt didaktisch-professioneller Umsetzung hingegen, das als Portal im Wortsinne Besucher aus ganz Europa und dem Rest der Welt anziehen und beeindrucken sowie überdies gesamteuropäische, auf die EU zielende Identifikationswirkung erzielen soll, ist unvergleichlich schwieriger. Insofern dürfte das Haus der Europäischen Geschichte, dessen Eröffnung für Ende 2015 angekündigt ist, der Prüfstein für die ‚neue‘ EU-Geschichtspolitik werden. Seine Vor- und Entstehungsgeschichte bestätigt allerdings gängige Vorwürfe an „Brüssel“ wie Demokratiedefizit und Intransparenz von Entscheidungen: Das der Dauerausstellung zugrunde liegende Konzeptionspapier „Aufbau eines Hauses der Europäischen Geschichte. Ein Projekt des Europäischen Parlaments“ war bis zu seiner Veröffentlichung im Sommer 2013 streng vertraulich76 und entsprechend gab es weder im Parlament noch in der europäischen Öffentlichkeit eine Diskussion darüber, was und wie in dem neuen Museum gezeigt werden und was seine Botschaft sein wird. All dies wird in der besagten Konzeptbroschüre unter dem Rubrum „Das lamentarium: Europa gucken. 3000 Quadratmeter und 21 Millionen Euro für die schöne Seite der EU. Ein Besuch im Brüsseler Parlamentarium, in: Die Zeit, 18.10.2011. 75 Vera Lengsfeld: Last oder Chance? Die Aufarbeitung von Diktaturen und die Probleme des gemeinsamen Erinnerns, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.5.2012. 76 Europäisches Parlament. Generaldirektion Kommunikation: Aufbau eines Hauses der Europäischen Geschichte. Ein Projekt des Europäischen Parlaments, Brüssel 2013. Eine 2008 erarbeitete Vorläuferkonzeption war anfänglich gleichfalls vertraulich und wurde erst zwei Jahre später ins Netz gestellt. Vgl. Sachverständigenausschuss des Hauses der Europäischen Geschichte: Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte, URL: http://www.euro parl.europa.eu/meetdocs/2004_2009/documents/dv/745/745721/745721_de.pdf, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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Zentrale Narrativ der Dauerausstellung“ als beschlossen und nicht verhandelbar vorgestellt, und zwar in Gestalt einer an Vico erinnernden Zyklenabfolge von „Europa im Aufstieg“ über „Finsternis über Europa“ und „Das geteilte Haus“ zur „Überwindung der Grenzen“ und einem lichten „Ausblick“. Die Reaktionen auf die für 2015 geplante Eröffnung des Brüsseler Hauses der Europäischen Geschichte sind zwar nicht zu prognostizieren, doch allein die geheimniskrämerische Entstehungsgeschichte garantiert besonders kritische Begutachtung durch Bürger, Medien und Politik. Die geschichtspolitischen Debatten im Europäischen Parlament samt Entschließungen hingegen dürften auch weiterhin kaum mediales wie öffentliches Interesse finden, was überdies für die von der Kommission mit bescheidenen Summen geförderten erinnerungskulturelle Projekte gilt. Und eine geschichtspolitische Großtat wie die Proklamierung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus kann mit einiger Berechtigung als Misserfolg, bezeichnet werden, waren doch nicht breite Zustimmung, sondern demonstratives Desinteresse einerseits wie heftiger Streit andererseits die Folge. Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik sieht anders aus. Bleibt die grundsätzliche Frage, ob Geschichtspolitik transnationaler Akteure überhaupt Kollektividentitäten stiften kann, ob nicht ‚Geschichte‘ an das Kollektiv ‚Nation‘ gebunden ist. Ja und nein: EWG, EG und EU haben ja im 20. Jahrhundert periodisch durchaus versucht, ihre ‚eigene‘ Geschichte, also diejenige des (west-)europäischen Integrationsprozesses, den Gesellschaften der jeweiligen Mitgliedsstaaten offensiv als success story zu offerieren. Der Erfolg war aufgrund fehlender Transmissionsriemen, aber auch wegen der an PR-Aktionen erinnernden Jubelrhetorik, gar Weiheton, des anämischen Inhalts und der technokratischen Verpackung gering. Im 21. Jahrhundert wurde dann ein anderer Ansatz gewählt: Die historischen Unterschiede der 28 ‚Vaterländer‘ werden jetzt eingehend berücksichtigt, Diskursivität ist an die Stelle von Normativität getreten und Multiperspektivität an diejenige von Stromlinie. Das wird mutmaßlich nicht ohne Wirkung bleiben, vor allem wenn ein nicht unbeträchtlicher Teil der EU-Bürger demnächst vom neuen Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel mittels Wanderausstellungen Europageschichte(n) ‚zum Anfassen‘ präsentiert bekommt. Die Frage danach, ob es einen qualitativen Unterschied zwischen nationaler Loyalität und der Identifikation mit supranationalen Bezugsrahmen gibt, stellt sich jedoch weiterhin. Der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann ist manchen Deutschen vor allem durch seine Antwort auf die Frage, ob er die Bundesrepublik „liebe“, im Gedächtnis geblieben: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!“77 Die meisten EU-Bürger würden wohl auf die Frage, ob sie die EU „lieben“, in ihrer Antwort andere Kollektive emotionaler Verbundenheit wie ‚Nation‘, ‚Volk‘ oder eine andere Wir-Gruppe benennen. Der vormalige tschechische Staatspräsident Václav Klaus hat diesbezüglich eine ungeachtet sei77 Hermann Schreiber: Nichts anstelle vom lieben Gott. SPIEGEL-Reporter Hermann Schreiber über Gustav Heinemann, in: Der Spiegel, 13.1.1969, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/ d-45845435.html, letzter Zugriff: 13.7.2014.
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ner eigenen Euroskepsis wohl repräsentative Antwort gegeben: „[E]r fühle sich zuerst als Tscheche, dann als Slawe.“78 Die Selbstzuschreibung „Europäer“ nannte er explizit nicht.
78 Karl-Peter Schwarz: EU-Ratspräsidentschaft: Die Legende von den Euroskeptikern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2008, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/eu-rats praesidentschaft-die-legende-von-den-euroskeptikern-1745066.html, letzter Zugriff: 13.7.2014.
AUF DEM WEG ZU EINER EUROPÄISCHEN ERINNERUNGSKULTUR? DER NATIONALSOZIALISMUS, DER ZWEITE WELTKRIEG, DER HOLOCAUST UND DIE STALINISTISCHEN VERBRECHEN IM GEDÄCHTNIS DER EUROPÄER SEIT 1945 Arnd Bauerkämper
MEINEM LEHRER KARL-HEINZ STREHLE IN DANKBARKEIT GEWIDMET
Zusammenfassung: Am Beispiel der Erinnerungen an den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und die stalinistischen Verbrechen diskutiert der Beitrag, inwiefern eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur möglich ist. Die Untersuchung zeigt, dass sich in Europa seit 1945 kein einheitliches Gedächtnis herausgebildet hat. Vielmehr sind hier Erinnerungen an die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts vielfältig, pluralistisch und umstritten geblieben. Diesem Befund wird eine differenzierte Betrachtungsweise der Erinnerungslandschaft in Europa gerecht, die vor allem räumliche, zeitliche und generationelle Differenzen konturiert und Erinnerungsprozesse als offen und relational versteht. So hat die zunehmende Hinwendung zu einem universalistischen Opfergedächtnis in Europa nationale Gedächtnisregimes verändert, ohne diese zu ersetzen. Vielmehr sind sie mit dem Bezug auf Menschenrechte durch eine selbstkritische ‚dünne‘ Erinnerungskultur überlagert worden, besonders in Westeuropa. Abstract: This article deals with memories of National Socialism, the Second World War, the Holocaust and Stalinist extermination policies in Europe after 1945. It demonstrates that a common European memory culture has not evolved since the end of the Cold War. On the contrary, Europeans remember mass violence in diverse and even contradictory ways, and memories have remained contested and fractured, both within and between nation-states. This finding reveals the need to recognize the variegated perspectives of European memory culture to account for wide-ranging spatial, temporal and generational differences. Studies of memory cultures in Europe should conceive of remembering as an open-ended and multi-layered process. In particular, the turn to more cosmopolitan and even universalistic memories of mass atrocities in the twentieth century has reframed rather than replaced national memory cultures, especially in Western Europe. They have increasingly been overlaid by a ‚thin‘ culture of more self-critical narratives related to universal human rights.
Angesichts der Währungs- und Wirtschaftskrise ist seit 2008 auch die Europäische Union (EU) in eine Legitimitätskrise geraten. Unstreitig haben zwischen den Mitgliedsstaaten die Verteilungskonflikte zugenommen, und die Zentrifugalkräfte sind gewachsen. Zugleich bleibt die Eingliederung der 2004 beigetretenen osteu-
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ropäischen Länder in die EU unabgeschlossen. In dieser Konstellation ist zunehmend nach einer gemeinsamen Erinnerung gerufen worden. Einige Politiker, Journalisten und Wissenschaftler sind ausdrücklich für eine europäische Erinnerungskultur eingetreten, um damit eine kollektive Identität der Europäer zu begründen.1 Vereinzelt ist darüber hinaus sogar ein Bekenntnis zu einem selbstkritischen Gedächtnis als „europäisches Eintrittsticket“ gefordert worden. So hat das Straßburger Europäische Parlament (EP) entschieden, die Anerkennung des Genozids an den Armeniern zu einer Bedingung für den Beitritt der Türkei zur EU zu erheben. Die Erinnerung an den Holocaust als negativen Gründungsmythos des vereinten Europas ergänzend, ist schließlich vorgeschlagen worden, eine kollektive Identität der Europäer auf den europäischen Sozialstaat oder die politische Integration des Kontinents zu fundieren.2 Demgegenüber ist von skeptischen Akteuren mit Blick auf die Konjunktur von Erinnerungsgeschichte und Gedächtnispolitik seit den 1990er-Jahren vor einem „mnemonischen Overkill“ gewarnt worden.3 So haben Experten angesichts der undifferenzierten Verwendung der Kategorien ‚Erinnerung‘, ‚Geschichte‘ und ‚Identität‘ in der ‚Erinnerungsindustrie‘ ihr „Unbehagen an der Erinnerungskultur“ artikuliert.4 Kann die Rückbesinnung auf eine – auch – gemeinsame Vergangenheit in dieser Konstellation eine integrierende Wirkung entfalten? Sollte eine europäische Erinnerungskultur überhaupt angestrebt werden? Liegt dafür ein gemeinsam geteilter Fundus von Erfahrungen vor? Worauf könnte sich eine europäische Erinnerungskultur demnach stützen? Inwiefern sollte und kann ein Konsens angestrebt werden? Diese Fragen sind nicht nur in der politischen Auseinandersetzung intensiv diskutiert worden, sondern sie haben auch die neuere Erinnerungsforschung be-
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So Klaus Eder: Remembering National Memories Together. The Formation of a Transnational Identity in Europe, in: Ders., Willfried Spohn (Hrsg.): Collective Memory and European Identity. The Effects of Integration and Enlargement, Aldershot 2005, S. 197–220, hier S. 199, 218. Marcel Siepmann: Vom Nutzen und Nachteil europäischer Geschichtsbilder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013) 42–43, S. 34–40, hier S. 39f. Zum „European entry ticket“ distanzierend: Tony Judt: Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005, S. 803. Vgl. auch Jens Ruppendahl: Europäisches Gedächtnis und Kalter Krieg, in: Historische Mitteilungen 23 (2010), S. 151–165, hier S. 161, 165; Andrew H. Beattie: Geschichte und Erinnerung in deutschen und europäischen Integrationsdiskursen, in: Christian Joerges, Matthias Mahlmann, Ulrich K. Preuß (Hrsg.): „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“ und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas, Wiesbaden 2008, S. 241–257, hier S. 242, 247. Thomas Lindenberger, Muriel Blaive: Zeitgeschichte und Erinnerungskonflikte in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 62 (2012), 1–3, S. 21–27, hier: S. 25. Vgl. auch Etienne François: Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur vorstellbar?, in: Thomas Flierl, Elfriede Müller (Hrsg.): Vom kritischen Gebrauch der Geschichte, Berlin 2009, S. 83–100, hier S. 83. Konrad H. Jarausch: Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz?, in: Ders., Martin Sabrow (Hrsg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt am Main 2002, S. 9–37, hier S. 17; Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013.
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einflusst. So hat Claus Leggewie sieben „Kreise europäischer Erinnerung“ vorgeschlagen: Den Holocaust, den Gulag, ethnische Säuberungen, Kriege und Krisen, Kolonialverbrechen, Migrationsgeschichte und die europäische Integration.5 Ähnlich sind von Aleida Assmann drei Schichten eines europäischen Gedächtnisses identifiziert worden: Erinnerungen an den Holocaust, den Gulag und den Zweiten Weltkrieg.6 Jedoch weisen die nationalen Erinnerungskulturen in Europa offenbar eine beträchtliche Beharrungskraft auf, sodass die Erinnerungen der Europäer auch weiterhin uneinheitlich sind. Schon auf den ersten Blick ist der Gegensatz zwischen den westeuropäischen Ländern und den osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten unübersehbar, die über die nationalsozialistische Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg hinaus auch von der sowjetischen Hegemonie und den kommunistischen Diktaturen während der darauffolgenden vier Jahrzehnte nachhaltig geprägt worden sind. Hier wird das Kriegsende nicht nur als Befreiung, sondern auch als Beginn einer neuen Phase der Okkupation und Repression erinnert. Auf die Kluft zwischen den europäischen Ländern hat zum Beispiel der Widerspruch verwiesen, den die maßgeblich von den neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten herbeigeführten Resolutionen des EP zur Notwendigkeit der Verurteilung von Verbrechen totalitärer Regimes (Januar 2006), zum Hungertod von Millionen Bauern in der Ukraine (von der Regierung unter Viktor Juschtschenko als „Holodomor“, das heißt „Ermordung durch Hunger“, bezeichnet) und „zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ (April 2009) ausgelöst haben. Während in Osteuropa die nationalsozialistische Diktatur und die stalinistischen (oder sogar allgemeiner die kommunistischen) Regimes nach 1989/90 als Varianten ‚totalitärer‘ Herrschaft vielfach ebenso gleichgesetzt worden sind wie der Holocaust und der Gulag, dominiert in West- und Mitteleuropa eine Gedächtnispolitik, die der systematischen Ermordung der Juden einen herausgehobenen Stellenwert zugewiesen hat.7 Diese Kluft spiegelt sich in den Formelkompromissen der Beschlüsse europäischer Institutionen wider. So wurde der Entwurf einer Resolution des EP in Brüssel 2004/05 von polnischen Parlamentariern heftig kritisiert, weil die Erklärung 5
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Claus Leggewie, zusammen mit Anne Lang: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 15–47; Claus Leggewie: Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und nationale Identität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 64 (2009) 2, S. 81–93. Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?, Wien 2012, S. 21. Stefan Troebst: Eckstein einer EU-Geschichtspolitik? Das Museumsprojekt „Haus der Europäischen Geschichte“ in Brüssel, in: Deutschland Archiv 45 (2012), S. 746–752, hier S. 747f.; Birgit Hofmann, Katja Wezel: Einleitung. Neue nationale und transnationale Perspektiven der Diktaturüberwindung in Europa, in: Birgit Hofmann et al. (Hrsg.): Diktaturüberwindung in Europa. Neue nationale und transnationale Perspektiven, Heidelberg 2010, S. 1–18, hier S. 13f.; Katrin Hammerstein: Europa und seine bedrückende Erbschaft. Europäische Perspektiven auf die Aufarbeitung von Diktaturen, in: Wolfgang R. Assmann, Albrecht Graf von Kalnein (Hrsg.): Erinnerung und Gesellschaft. Formen der Aufarbeitung von Diktaturen in Europa, Berlin 2011, S. 43–56, hier S. 43f.; Birgit Schwelling: Erinnerung als Medium der kulturellen Integration Europas?, in: Johannes Wienand, Christiane Wienand (Hrsg.): Die kulturelle Integration Europas, Wiesbaden 2010, S. 212–234, hier S. 216, 229.
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Auschwitz unzutreffend als „polnisches Konzentrationslager“ bezeichnet hatte. Zugleich wandten sich deutsche Abgeordnete gegen eine Identifizierung ihres Landes mit dem Konzentrationslager. Letztlich verabschiedete das Parlament anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2005 eine Resolution, in der Auschwitz differenzierend als „Nazi-Deutschlands Todeslager“ bezeichnet wurde. Angesichts dieser Konflikte haben Wissenschaftler wie Jürgen Habermas und JanWerner Müller eine aktive Gedächtnispolitik der EU abgelehnt. Nach ihrer Auffassung ist vielmehr ein offener, räumlich nicht vorab festgelegter und wenig institutionalisierter grenzüberschreitender Austausch von Erinnerungen zu fördern, nicht zuletzt, um jeweils die eigene Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten.8 Im Folgenden werden im Anschluss an Überlegungen zur konzeptionellen Grundlage dieses Beitrages Grundzüge der Entwicklung europäischer Erinnerungskulturen nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem in Folge des tiefgreifenden Umbruches von 1989/90 vorgestellt. Die anschließende, empirisch ausgerichtete Rekonstruktion zeigt, dass nationale Gedächtnisgemeinschaften in Europa in den vergangenen Jahrzehnten zwar eine beträchtliche (und oft unterschätzte) Stabilität aufgewiesen haben; dennoch sind die transnationalen Bezüge besonders seit den 1980er-Jahren gewachsen. Diese haben sich in nationale Gedächtnisgemeinschaften eingeschrieben, vor allem in West- und Mitteleuropa, sodass sich hier Konturen einer universalistischen Erinnerungskultur abzeichnen.9 Dieser Prozess ist aber weder linear noch konfliktlos verlaufen. Zudem hat die Gedächtnispolitik der EU dabei eine ambivalente Rolle eingenommen. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zu grenzüberschreitenden Bezügen des Erinnerns in Europa. Da Politiker, Journalisten und Intellektuelle das Leitbild einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft oft auch grundsätzlich diskutiert haben, ist die Argumentation in diesem Abschnitt im Gegensatz zu den vorangehenden Ausführungen deutlich normativ ausgerichtet. Damit wechselt die Darstellungsebene und Perspektive.
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Jürgen Habermas: Ist die Herausbildung einer europäischen Identität nötig, und ist sie möglich?, in: Ders.: Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X, Frankfurt am Main 2004, S. 68–82, hier S. 78; Jan-Werner Müller: Thomas Manns Albtraum? Potential und Paradoxien europäischer Erinnerungspolitik, in: Joerges, Mahlmann, Preuß (Hrsg.), „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“, 2008, S. 231–240. Zur Debatte: Stefan Troebst: Die Europäische Union als „Gedächtnis und Gewissen Europas“? Zur EU-Geschichtspolitik seit der Osterweiterung“, in: Etienne François et al. (Hrsg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen 2013, S. 94–155. Zit. nach: Assmann: Gedächtniskultur?, 2012, S. 35. Zur Diskussion jetzt auch: Assmann: Unbehagen, 2013. Aleida Assmann: ,Ein geteiltes europäisches Wissen von uns selbst‘? Europa als Erinnerungsgemeinschaft, in: Johannes Feichtinger et al. (Hrsg.): Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck 2006, S. 15–24, hier S. 17f.
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‚Erinnerungen‘ und ‚Erinnerungskulturen‘ Im Allgemeinen bezeichnet „Erinnerungskultur“ alle „denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse (…), seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur“.10 Während „Erfahrung“ als „a highly subjective representation of internal and external stimuli“ gefasst werden kann, ist „Erinnerung“ ein „abstract recording and reordering of select experiences“. 11 In ihren Erinnerungen konstruieren und verformen Akteure Vergangenheit jeweils kontinuierlich, vor allem im Hinblick auf Bedürfnisse in der jeweiligen Gegenwart und Zukunftserwartungen. In diesen Prozessen nehmen gedächtnispolitische Interventionen und Strategien einen wichtigen Stellenwert ein. „Gedächtnispolitik“ ist institutionell verfasst, und sie zielt auf die Aktualisierung ausgewählter Erinnerungen in Repräsentationen, Ritualen und Inszenierungen, welche jeweils die „Gegenwart als Transformationsstelle von Vergangenheit und Zukunft“ verpflichten.12 Aber gedächtnispolitische Vorgaben bestimmen Erinnerungskulturen keineswegs uneingeschränkt. Wie Studien zu den kommunistischen Diktaturen in Osteuropa gezeigt haben, konnten die Machthaber hier abweichende Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg keineswegs vollständig unterdrücken oder überformen. Aber auch in europäischen Staaten, die demokratisch regiert worden sind, ist jeweils eine offizielle Gedächtnispolitik auf ,Gegenerinnerungen‘ getroffen, die in lokalen Räumen, in der Privatsphäre oder in oppositionellen Gruppen tradiert worden sind. Insgesamt ist in Europa nach 1945 kein kohärentes Gedächtnis entstanden, sondern ein „Mosaik distinkter (…) Erinnerungskulturen“.13
10 Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 548–563, hier S. 555. Vgl. auch Ders., Lutz Klinkhammer, Wolfgang Schwentker: Nationale Erinnerungskulturen seit 1945 im Vergleich, in: Dies. (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2004, S. 9–27, hier S. 12–14. 11 Richard Ned Lebow: The Memory of Politics in Postwar Europe, in: Ders., Wulf Kansteiner, Claudio Fugo (Hrsg.): The Politics of Memory in Postwar Europe, London 2006, S. 1–39, hier S. 11. 12 Burckhard Dücker: Ritual, in: Nicolas Pethes, Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek 2001, S. 502f., hier S. 502. Vgl. auch Helmut König: Das Politische des Gedächtnisses, in: Christian Gudehus, Ariane Eichenberg, Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 115–125, besonders S. 115, 120–123; Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005, S. 53–55, 81, 86f.; Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn 2007, S. 30. 13 Zum Stellenwert von ‚Gegenerinnerungen‘: Helmut Altrichter (Hrsg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozess Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München 2006; Stefan Troebst: „Was für ein Teppich?“ Postkommunistische Erinnerungskulturen in Ost(mittel)europa, in: Volkhard Knigge, Ulrich Mählert (Hrsg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln 2005, S. 31–54, hier S. 34. Zu den kommunistischen Diktaturen Osteuropas: Lebow: The Memory of Politics, 2006, S. 10, 13–15.
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Erinnerungen sind aber nicht nur vielschichtig, sondern auch umstritten. Um diese „Konflikterinnerung“, „Erinnerungskonflikte“ und „Gedächtniskämpfe“14 darzulegen, sollen im Folgenden Auseinandersetzungen über Erinnerungen an die nationalsozialistische Herrschaft beziehungsweise den Holocaust und die Kollaboration im Zweiten Weltkrieg in den einzelnen Staaten Europas konkret nachgezeichnet und erklärt werden. Zwar ist unbestritten, dass Identifikationen mit Europa auch aus Mythen, Symbolen und anderen Repräsentationen hervorgegangen sind, die sich auf die Geschichte des Kontinents bis zum 19. Jahrhundert beziehen.15 Jedoch haben die Kriege, Gewalt und Massenverbrechen, von denen der Kontinent seit dem Ersten Weltkrieg erschüttert und zerfurcht worden ist, hier die Erinnerungskulturen besonders nachhaltig geprägt. Sie sind vor allem von Zeitzeugenberichten zum Nationalsozialismus, zum Zweiten Weltkrieg, zum Holocaust und zum Gulag beeinflusst worden. Die Diskussion über das Projekt einer ‚europäischen Erinnerungsgemeinschaft‘ hat sich deshalb auf die NS-Diktatur und die stalinistischen Regimes, ihre Massenverbrechen und den Zweiten Weltkrieg als einschneidende Wendepunkte konzentriert. Dieser Bezugsrahmen liegt auch der folgenden Darstellung zugrunde.16
Europäische Erinnerungskulturen in der Systemtransformation Erinnerungen an den Nationalsozialismus, Holocaust und Zweiten Weltkrieg in Osteuropa sind nachhaltig von politischen, sozioökonomischen und kulturellen Umbrüchen geprägt worden. Hier waren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – in vielen Ländern nach einer Phase vorübergehender politischer Offenheit – kommunistische Diktaturen etabliert worden. Der Zerfall dieser Regimes mündete
14 Peter Niedermüller: Der Mythos der Gemeinschaft. Geschichte, Gedächtnis und Politik im heutigen Osteuropa, in: Andrei Corbea-Hoisie, Rudolf Jaworski, Monika Sommer (Hrsg.): Umbruch im östlichen Europa. Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis, Innsbruck 2004, S. 11–26, hier S. 17. Ähnlich: Peter Burke: Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 289–304, hier S. 298. Vgl. dazu auch das Konzept der „contested memories“ in Alexandra Barahona de Brito: Truth, Justice, Memory, and Democratization in the Southern Cone, in: Dies., Carmen González Enríquez, Paloma Aguilar Fernández (Hrsg.): The Politics of Memory. Transitional Justice in Democratizing Societies, Oxford 2001, S. 119–160, hier S. 157. 15 Vgl. Michael Gehler: Europa. Von der Utopie zur Realität, Innsbruck 2014; Wolfgang Schmale: Geschichte Europas, Wien 2000, S. 21–77; Vrääth Öhner et al. (Hrsg.): EuropaBilder, Innsbruck 2005. 16 Leggewie: Kampf, 2011, S. 15–40; Assmann: Unbehagen, 2013, S. 74–75; Siobhan Kattago: Memory and Representation in Contemporary Europe. The Persistence of the Past, Farnham 2012, S. 27, 43, 102f. Dagegen: Konrad H. Jarausch: Conclusion: Nightmares or Daydreams? A Postscript on the Europeanization of Memories, in: Małgorzata Pakier, Bo Stråth (Hrsg.): A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, New York 2010, S. 309–320, besonders S. 314, 316. Zum Stellenwert von Zeitzeugen: Annette Wieviorka: The Era of the Witness, Ithaca 2006, besonders S. 96–149.
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vierzig Jahre später erneut in eine grundlegende Transformation der Erinnerungskulturen. Die Folgen dieses Wandels sind ambivalent. Einerseits hat er in Osteuropa zu einer Rückbesinnung auf die nationale Vergangenheit geführt. In Staaten wie Ungarn ist eine Renationalisierung der Erinnerungskulturen unübersehbar. Andererseits hat die Systemtransformation seit 1989 die Auseinandersetzungen über die Geschichte von 1918 bis 1945 entspannt und entpolitisiert. Auch ist vielerorts die Bereitschaft zu einer selbstkritischen Reflexion gewachsen, sodass zuvor relativ abgeschlossene und vermeintlich stabile nationale Erinnerungsrahmen aufgebrochen worden sind. So ist in einer interviewgestützten soziologischen Studie festgestellt worden, dass in den Erinnerungskulturen der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs und Polens kosmopolitische Orientierungen zugenommen haben, ohne dass nationale Bezüge damit einfach aufgelöst worden sind. Vielmehr hat sich ein reflexiver Partikularismus herausgebildet, mit dem nationale und kosmopolitische oder sogar universalistische Erinnerungsnarrative neu ausgehandelt worden sind. Trotz der weiterhin deutlichen Skepsis gegenüber einem vereinten Europa haben viele Europäer ihre jeweiligen Erfahrungen und Erinnerungen offenbar zusehends wechselseitig anerkannt.17 Darüber hinaus haben grenzüberschreitende „Gedächtnistransfers“ zugenommen, zum Beispiel zwischen Deutschland und Polen. Dabei haben sich gelegentlich sogar Allianzen zwischen Trägern von Erinnerungsnarrativen gebildet.18 Insgesamt sind in den Systemwechseln, die sich nach 1945 in Europa vollzogen haben, „Kaskaden der Vergangenheit“ entstanden.19 Sie haben sich in einem mehrfachen Umbruch der Erinnerungskulturen niedergeschlagen, die damit wiederholt umgewandelt oder überschrieben worden sind. Obgleich der Stellenwert der Transformation seit 1989 für die Memorialkultur in Europa noch nicht systematisch erforscht worden ist, kann festgehalten werden, dass er die Erinnerungen an die nationalsozialistische Herrschaft, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg nochmals überschrieben hat. Allgemein gleicht das Gedächtnis damit einem Palimpsest, da Erinnerungen an die Geschichte Europas vor 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg fortwährend mit neuen Sinngebungen versehen und damit aktualisiert, verstärkt, verändert oder verdrängt worden sind. Außer den Intentionen der jeweils beteiligten politischen Akteure und ihren Legitimationsinteressen haben 17 Daniel Levy, Michael Heinlein, Lars Breuer: Reflexive Particularism and Cosmopolitanization. The Reconfiguration of the National, in: Global Networks 11 (2011) 2, S. 139–159, besonders S. 139, 141, 144, 146, 150, 153. Vgl. auch Aleida Assmann, Sebastian Conrad: Introduction, in: Dies. (Hrsg.): Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories, Basingstoke 2010, S. 1–16, hier S. 4f., 9. Dagegen: Bill Niven: Introduction. German Victimhood at the Turn of the Millenium, in: Ders. (Hrsg.): Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany, Houndmills 2006, S. 1–25, hier S. 4, 19, 23. 18 Thomas Serrier: Gedächtnistransfer und kulturelle Aneignung. Der deutsch-polnische Erinnerungsraum 1945-200…, in: Kirsten Buchinger, Claire Gantet, Jakob Vogel (Hrsg.): Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt am Main 2009, S. 154–163, hier S. 155. 19 Hubert Rottleuthner: Kaskaden der Vergangenheit, in: Zeitschrift für Vermögens- und Investitionsrecht 4 (1994), S. 172–175.
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auch die verschiedenen Orientierungsbedürfnisse der Europäer in den jeweiligen Zeitschichten die Erinnerungen beeinflusst.20
Erinnerungskonflikte und transnationale Gedächtnisgemeinschaften Zumindest in den west- und mitteleuropäischen Staaten hat sich nach 1945 ein ähnlicher Wandel der Erinnerungskulturen vollzogen. Zunächst dominierte hier die unmittelbare Erfahrung der nationalsozialistischen Herrschaft. Die Erinnerungen an das Leben unter den Diktaturen und im Krieg gingen in Europa von den zeitgenössischen Erfahrungen aus. Diese wurden im Gedächtnis aktualisiert, marginalisiert oder überschichtet.21 Die Europäer, die unter der Besatzungsherrschaft des ‚Dritten Reiches‘ gelitten hatten, einte in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Abgrenzung vom Nachkriegsdeutschland. Darüber hinaus prägten diese Phase nationalheroische Motive, die auf den Widerstand gegen die Okkupationsmacht und auf das Opfer für das Vaterland abhoben. Nur in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich konnten diese Narrative nicht offen artikuliert werden, sodass hier eine umfassende Selbstviktimisierung die Erinnerungskulturen bestimmte. Erst in den 1960er-Jahren stellte die junge Generation in den demokratischen Staaten Westeuropas die apologetischen Erinnerungen grundsätzlich in Frage, nachdem einzelne Akteure wie der Generalstaatsanwalt in Braunschweig, Fritz Bauer, bereits im vorangegangenen Jahrzehnt die nationalsozialistische Vergangenheit kritisch diskutiert hatten.22 Dreißig Jahre später setzte in ganz Europa ein noch tiefgreifenderer Umbruch in den Erinnerungskulturen ein. Vor allem in West- und Mitteleuropa sind die
20 Heidemarie Uhl: Die Transformation des „österreichischen Gedächtnisses“ in der Erinnerungskultur der Zweiten Republik, in: Geschichte und Region 13 (2004) 2, S. 23–54, hier S. 51. Fallstudien in: Regina Fritz, Carola Sachse, Edgar Wolfrum (Hrsg.): Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008; Julia Obertreis, Anke Stephan (Hrsg.): Erinnerungen nach der Wende. Oral History und (post)sozialistische Gesellschaften/Remembering after the Fall of Commmunism. Oral History and (Post-)Socialist Societies, Essen 2009; Angela Borgstedt, Siegfried Frech, Michael Stolle (Hrsg.): Lange Schatten. Bewältigung von Diktaturen, Schwalbach 2007; Bernd Faulenbach, Franz-Josef Jelich (Hrsg.): „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen 2006. 21 Zum hier erläuterten Zusammenhang: Toni Tholen: Erfahrung, in: Pethes, Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung, 2001, S. 150f.; Christoph Cornelißen: Die Nationalität von Erinnerungskulturen als ein gesamteuropäisches Phänomen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62 (2011), S. 6–16, hier S. 7. Zum konstruktivistischen Erfahrungskonzept, das die Annahme authentischer individueller Erfahrungen grundsätzlich in Frage gestellt hat, vgl. Peter Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1974, besonders S. 139. 22 Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, 2. Aufl., München 2009, S. 265– 283. Vgl. auch Stephan Alexander Glienke: Die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ (1959– 1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen, BadenBaden 2008.
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nationalheroischen Motive zusehends von Erinnerungsnarrativen überlagert worden, die auf universelle Normen – vor allem die Menschenrechte – abgehoben haben. Allerdings hat sich dieser Wechsel keineswegs linear und überall vollzogen. Nicht nur in Osteuropa, sondern auch in den west- und mitteleuropäischen Staaten sind nationale gedächtnispolitische Narrative weiterhin einflussreich geblieben, auch wenn sie durch das auf Menschenrechte bezogene selbstkritische Gedächtnis als ‚dünne‘ Kultur zusehends überlagert worden sind. Ebenso haben sich in den einzelnen Ländern Auseinandersetzungen vollzogen, in denen die verschiedenen Akteure nicht nur Zuschreibungen, Deutungen und Sinngebungen kontrovers diskutiert, sondern auch um politische Legitimität und gesellschaftlichen Ein- beziehungsweise Ausschluss gekämpft haben. Damit durchziehen Europa weiterhin vielfältige zwischenstaatliche und innergesellschaftliche Erinnerungskonflikte, die teilweise emotional und politisch aufgeladen sind.23 Diese Auseinandersetzungen um das kulturelle und kommunikative Gedächtnis hatten bereits unmittelbar nach dem Kriegsende eingesetzt, vor allem angesichts der Gerichts- und Entnazifizierungsverfahren, welche die alliierten Siegermächte in Deutschland, Österreich und Italien ebenso durchführten wie die neuen Regierungen in nahezu allen zuvor von den ‚Achsenmächten‘ besetzten Staaten.24 Auch die Entschädigung verfolgter oder ermordeter Angehöriger von Nationen und Völkern, die der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum Opfer gefallen waren, war eine grenzüberschreitende Herausforderung. Dabei trennte der Konflikt über die Entschädigungszahlungen auch die europäischen Nationalstaa-
23 Dazu exemplarisch: Arnd Bauerkämper: Emotionen im Gedächtnis. Erinnerungskonflikte über den Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschland und Italien (1949–1979), in: Historische Mitteilungen 26 (2013/14), S. 319-340. Vgl. auch Henning Grunwald: ‚Nothing more cosmopolitan than the camps?‘ Holocaust Remembrance and (de-)Europeanization, in: Martin Conway, Kiran Klaus Patel (Hrsg.): Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches, Houndmills 2010, S. 253–270, hier S. 263, 267; Birgit Schwelling: Heimkehr – Erinnerung – Integration. Der Verband der Heimkehrer, die ehemaligen Kriegsgefangenen und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, Paderborn 2010, S. 216; Assmann: Unbehagen, 2013, S. 94, 207f. Zum Konzept der „dünnen“ Kultur: Kenneth Cmiel: The Emergence of Human Rights in the United States, in: Journal of American History 86 (1999), S. 1231–1250, hier S. 1233, 1248f.; Michael Walzer: Thick and Thin: Moral Argument at Home and Abroad, Notre Dame 1994, S. 6. 24 Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt am Main 1999; Henning Radtke et al. (Hrsg.): Historische Dimensionen von Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg, Baden-Baden 2007. Exemplarisch für Polen und Deutschland: Laura Jockusch: Historiography in Transit. Survivor Historians and the Writing of Holocaust History in the late 1940s, in: Leo Baeck Year Book 58 (2013) 2, S. 75–94; Magdalena Saryush-Wolska: Der erste Holocaust-Spielfilm. Wanda Jakubowskas Die letzte Etappe, in: Osteuropa 62 (2010) 10, S. 71–83; Stefan-Ludwig Hoffmann: Gazing at Ruins: German Defeat as Visual Experience, in: Journal of Modern European History 9 (2011), S. 328–350. Vgl. auch Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders., Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9–19, hier S. 10f., 15.
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ten, die vom ‚Dritten Reich‘ besetzt worden waren.25 Die Verfolgtenverbände waren in diesem Prozess nur begrenzt transnational vernetzt. Sogar innerhalb der einzelnen Staaten vertraten die verschiedenen Organisationen unterschiedliche Ziele und Interessen, zum Beispiel in Frankreich, Norwegen und Dänemark.26 In den europäischen Nationalstaaten unterschieden sich das kommunikative und kulturelle Gedächtnis besonders deutlich in den kommunistischen Diktaturen Osteuropas. Hier war die Erinnerungspolitik der Regimes so erdrückend und einseitig, dass sie der Tradierung in kleinen Gruppen (vor allem Familien) oft eklatant widersprach. Diese Diskrepanz schloss aber keineswegs aus, dass sich große gesellschaftliche Gruppen partiell mit den offiziellen Erinnerungsnarrativen identifizierten. So war das ‚Antifaschismus‘-Konzept in der DDR und anderen kommunistischen Staaten durchaus weit über die jeweiligen Macht- und Funktionseliten hinaus attraktiv, weil es mit einem politisch-moralischen Überlegenheitsanspruch verbunden war. Vor allem jedoch entlastete es die Mehrheit der Bevölkerung von der Verantwortung für das nationalsozialistische Regime, dessen Herrschaft das SED-Regime letztlich auf den stigmatisierten ‚Kapitalismus‘ zurückgeführt hat. Damit verhieß die ‚antifaschistische‘ Gedächtnispolitik eine Eingliederung breiter Bevölkerungsgruppen in die Nachkriegsgesellschaft und eine Rehabilitierung von Belasteten oder ‚Mitläufern‘ durch eine Mitarbeit in der neuen Diktatur.27 Aber auch in den europäischen Demokratien trafen die jeweiligen politischen Vorgaben, die öffentlich dominierten oder sogar einen hegemonialen Status erreichten, vielfach auf ein konträres kommunikatives Gedächtnis. So blendete die Dichotomie von Kollaboration und Widerstand, die in vielen zuvor vom ‚Dritten Reich‘ besetzten Ländern teilweise bis zu den 1980er-Jahren die Gedächtnispolitik bestimmte, Formen der alltäglichen Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern und die vielerorts vorherrschenden Arrangements mit ihnen ebenso aus wie enge persönliche Beziehungen zwischen Okkupanten und Okkupierten. Auch das in den Schulen vermittelte Wissen widersprach zum Teil den Erinnerungen der Eltern und Großeltern. Allerdings bleibt angesichts der unzureichenden Forschung 25 Zusammenfassend: Hans Günter Hockerts: Die Entschädigung für NS-Verfolgte in Westund Osteuropa. Eine einführende Skizze, in: Ders., Claudia Moisel, Tobias Winstel (Hrsg.): Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000, Göttingen 2006, S. 7–58, hier S. 28, 31, 33, 35f.; José Brunner, Norbert Frei, Constantin Goschler: Komplizierte Lernprozesse. Zur Geschichte und Aktualität der Wiedergutmachung, in: Dies. (Hrsg.): Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Göttingen 2009, S. 9–47, hier S. 39f.; Benno Nietzel: Business finished? Transnationale Wiedergutmachung historischen Unrechts in Europa seit 1989, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009) 1, S. 26–50, hier S. 35, 49. 26 Dazu exemplarisch: Hans Otto Frøland: „Eine gewaltige, nicht beglichene Schuld“. Die deutsche Entschädigung für NS-Verfolgte in Norwegen. Eine einführende Skizze, in: Hockerts, Moisel, Winstel (Hrsg.): Grenzen, 2006, S. 285–356. 27 Für die DDR: Katrin Hammerstein: Schuldige Opfer? Der Nationalsozialismus in den Gründungsmythen der DDR, Österreichs und der Bundesrepublik Deutschland, in: Fritz, Sachse, Wolfrum (Hrsg.): Nationen und ihre Selbstbilder, 2008, S. 39–61, hier S. 41.
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zum Familiengedächtnis noch zu untersuchen, ob und inwiefern sich nach 1945 in den einzelnen europäischen Ländern eine „Differenz von kognitivem Geschichtswissen und emotionaler Geschichtsgewissheit“ entwickelte.28 Jedoch waren unterschiedliche Erinnerungsschichten sowohl in den einzelnen europäischen Staaten und Gesellschaften als auch zwischen ihnen keineswegs vollständig voneinander getrennt. Vielmehr hatte schon in den 1950er-Jahren ein partieller grenzüberschreitender Austausch eingesetzt. Dieser Prozess konstituierte ein transnationales Beziehungsgeflecht, das von bloßer wechselseitiger Wahrnehmung bis zur Übertragung und zum gegenseitigen Lernen reichte. So haben Studien zum Umgang mit dem Luftkrieg gezeigt, dass das individuelle, familiäre und öffentliche Gedächtnis in den davon betroffenen Ländern jeweils aufeinander bezogen blieb. Auch grenzüberschreitend haben sich Erinnerungen von Europäern schon im Wechselbezug entwickelt.29 Ein Austausch kennzeichnete zum Beispiel die Initiativen zur Versöhnung in Westeuropa. Diese Aktivitäten beschränkten sich keineswegs auf diplomatische Beziehungen zwischen den Regierungen und bi- beziehungsweise multilaterale politische Verhandlungen, so zur Entschädigung von Opfern. Vielmehr nahmen im Prozess der Annäherung nach dem Zweiten Weltkrieg auch die grenzüberschreitenden Interaktionen zwischen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Assoziationen wie Sportvereinen, wissenschaftlichen Gemeinschaften, Veteranenverbänden und Kulturvereinigungen einen wichtigen Stellenwert ein. Besonders Städtepartnerschaften ermöglichten in Europa oft schon in den ersten Nachkriegsjahren, als offizielle staatliche Beziehungen noch ausgeschlossen waren, einen informellen Austausch zwischen Angehörigen zuvor verfeindeter Staaten.30
28 Olaf Jensen: Zur Methode der vergleichenden Tradierungsforschung, in: Harald Welzer (Hrsg.): Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main 2007, S. 260–275, hier S. 263. Vgl. auch Etienne François: Meistererzählungen und Dammbrüche. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zwischen Nationalisierung und Universalisierung, in: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 1, Berlin 2004, S. 13–28, hier S. 22; Dorothee Wierling: Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918, Göttingen 2013, S. 237; David Rey: Erinnern und Vergessen im post-diktatorischen Spanien, in: Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Große Kracht (Hrsg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 343–365, hier S. 365. 29 Malte Thießen: Der „Feuersturm“ im kommunikativen Gedächtnis. Tradierung und Transformation des Luftkriegs als Lebens- und Familiengeschichte, in: Ders., Jörg Arnold, Dietmar Süß (Hrsg.): Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa, Göttingen 2009, S. 312– 331, hier S. 314, 326, 328f. 30 Corine Defrance, Michael Kißener, Pia Nordblom (Hrsg.): Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945. Zivilgesellschaftliche Annäherungen, Tübingen 2010; Christine Gundermann: Leiden ohne Täter? Deutsch-niederländische Kommunikation über die nationalsozialistischen Verbrechen, in: Hofmann et al. (Hrsg.): Diktaturüberwindung, 2010, S. 132–150; Dies.: Mémoire civile de la Seconde Guerre mondiale dans l’espace frontalier germano-néderlandais, in: Bernhard Ludwig, Andreas Linsenmann (Hrsg.): Frontières et réconciliation. L’Allemangne et ses voisins depuis 1945, Bruxelles 2011, S. 129–158.
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Dieser Prozess ist auch durch konfessionelle und interkonfessionelle Begegnungen, die Gedenkstättenarbeit und die Arbeit der Suchdienste kräftig vorangetrieben worden. Die daran beteiligten Institutionen und ihre Aktivitäten haben die Verständigung über die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, den Nationalsozialismus und Faschismus maßgeblich gefördert. Die grenzüberschreitende Interaktion ist schon seit den 1950er-Jahren auch von den Verbänden der ehemaligen Soldaten begonnen worden. Ebenso haben die Sympathisanten und Verteidiger von Soldaten der Waffen-SS in Europa zusammengearbeitet. Nicht zuletzt fanden verurteilte Kriegsverbrecher auch außerhalb ihrer Heimatländer Unterstützung. Diese transnationalen Beziehungen, die normativ ambivalent und politisch polyvalent waren, haben sich in Europa seit den 1950er-Jahren erheblich intensiviert und innerhalb einzelner nationaler Gesellschaften Rückwirkungen entfaltet. Jedoch ist die grenzüberschreitende Interaktion dieser Gruppen, deren Zusammenarbeit und Netzwerke noch detailliert zu untersuchen sind, durch nationale Gedächtnisregimes und die Abgrenzung des Kalten Krieges perforiert oder sogar blockiert worden. Diese inner- und zwischenstaatlichen Diskrepanzen verweisen grundsätzlich auf den Stellenwert von Prozessen des Ein- und Ausschlusses in nationalen und transnationalen Erinnerungsgemeinschaften. Zugleich ist umstritten geblieben, inwiefern die transnationale Aktivität zivilgesellschaftlicher Vereine und Verbände die Erinnerungen ‚europäisiert‘ hat.31
Die Gedächtnispolitik der Europäischen Union Die Gedächtnispolitik der einzelnen europäischen Staaten, aber auch der EU hat diese Beobachtungen und Überlegungen bislang nur unzureichend aufgenommen. Gegenwärtig dominiert zumindest in West- und Mitteleuropa eine Fixierung auf Leiden und Opferschaft. Nachdem das ,Stockholm International Forum on the Holocaust‘ im Januar 2000 den universellen Stellenwert der Ermordung der Juden betont hatte, sind auch von den Institutionen der EU zahlreiche gedächtnispolitische Resolutionen verabschiedet worden. Unter dem Einfluss des Europarates, der normativ geprägte, auf Menschenrechte abhebende Deklarationen und Pro-
31 Bert-Oliver Manig: Die Politik der Ehre. Die Rehabilitierung der Berufssoldaten in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2004, S. 247–249; Jay Winter: Soldiers’ Reconciliation. René Cassin, The International Labour Office, and the Search for Human Rights, in: Birgit Schwelling (Hrsg.): Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21st Century, Bielefeld 2012, S. 97–113, hier S. 100; Arnd Bauerkämper: Verflechtung und selektive Erinnerung. Soldaten des Zweiten Weltkriegs und ihre Verbände im besetzten und geteilten Deutschland 1945–1990, in: Detlev Brunner, Udo Grashoff, Andreas Kötzing (Hrsg.): Asymmetrisch verflochten? Neue Forschungen zur gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte, Berlin 2013, S. 55–76, hier S. 64; Jörg Echternkamp: Kein stilles Gedenken. Die Toten der Wehrmacht im Erinnerungskonflikt der Bundesrepublik, in: Manfred Hettling, Jörg Echternkamp (Hrsg.): Bedingt erinnerungsbereit. Soldatengedenken in der Bundesrepublik, Göttingen 2008, S. 46–57, hier S. 49; Hockerts: Die Entschädigung von NSVerfolgten in West- und Osteuropa, 2006, S. 31.
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gramme (vor allem für Lehrer) zur Geschichte und Erinnerung initiiert hat, war vom EP bereits zum 50. Jahrestag des Kriegsendes 1995 die Einführung eines Holocaust-Gedenktages beschlossen worden. Zehn Jahre später verabschiedete das Parlament eine Entschließung „zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus“. Am 19. April 2007 stimmte das EP schließlich einer Gesetzesvorlage zu, welche die Leugnung des Holocaust mit Strafen belegt.32 Allerdings wurde es den Mitgliedsstaaten, in denen die nationalen Parlamente noch nicht diesbezügliche Verordnungen verabschiedet hatten, freigestellt, die europäische Gesetzgebung in Kraft zu setzen. Damit sind nationale Erinnerungskulturen auch durch Initiativen der EU keineswegs eingeebnet worden. So ist der Holocaust-Gedenktag, der 2008 schon 34 Staaten einbezog, in den einzelnen europäischen Ländern auch nach der Jahrtausendwende durchaus unterschiedlich begangen worden. Die gedächtnispolitische Universalisierung ging mit partikularnationalen Aneignungsformen und -strategien einher.33 Nach dem Beitritt zahlreicher ost- und südosteuropäischer Länder zur EU hat sich deren Gedächtnispolitik nochmals deutlich verschoben, vor allem zugunsten einer Integration der Erinnerungen an die kommunistischen Regimes. In Osteuropa haben die Erfahrung sowjetischer Fremdherrschaft und die Folgelasten der Transformation kommunistischer Diktaturen, aber auch die neuen Unsicherheiten im Globalisierungsprozess nationalistischen Erinnerungsnarrativen nach 1989/90 erneut Auftrieb verliehen. Überdies sind hier – im Gegensatz zu den westeuropäischen Demokratien – der Zweite Weltkrieg, die Besatzungsherrschaft und der Völkermord an den Juden im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis von der Erinnerung an die kommunistische Diktatur und ihrer Repressionspolitik überschichtet und imprägniert worden. So wies die frühere lettische Außenministerin Sandra Kalniete in ihrer Rede zur Eröffnung der Buchmesse in Leipzig am 24. 32 Jens Kroh: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main 2006, S. 111–177; Ders.: Europäische Innenpolitik? Die Stockholmer „Holocaust-Konferenz“ und die diplomatischen Maßnahmen der „EU der 14“ gegen Österreich, in: Katrin Hammerstein et al. (Hrsg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung?, Göttingen 2009, S. 204–214; Elisabeth Kübler: Europäische Erinnerungspolitik. Der Europarat und die Erinnerung an den Holocaust, Bielefeld 2012, S. 69; Camille Mazé: Zwischen Geschichts- und Gedächtnispolitik. Die Europäisierung nationaler Museen, in: François et al. (Hrsg.): Geschichtspolitik, 2013, S. 491–513, hier S. 498. 33 In Frankreich ist zum Beispiel der 16. Juli – der Tag, an dem 1942 die Juden in Paris in das Radrennstadion getrieben worden waren, als Opfergedenktag wichtiger als der 27. Januar. Vgl. Emmanuel Droit: Die Shoah. Von einem westeuropäischen zu einem transeuropäischen Erinnerungsort?, in: Buchinger, Gantet, Vogel (Hrsg.): Erinnerungsräume, 2009, S. 257–266, hier: S. 260; Harald Schmid: Europäisierung des Auschwitzgedenkens? Zum Aufstieg des 27. Januar 1945 als „Holocaustgedenktag“ in Europa, in: Jan Eckel, Claudia Moisel (Hrsg.): Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008, S. 174–202, hier S. 178; Nike Thurn, Arnd Walgenbach: Holocaust-Gedenktag, in: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte nach 1945, Bielefeld 2007, S. 322.
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März 2004 den Holocaust als Fixpunkt des Gedächtnisses für die Osteuropäer zurück. Dagegen betonte sie die Unterdrückung im Stalinismus, womit sie eine heftige Kontroverse auslöste.34 Die Kluft zwischen den europäischen Ländern spiegelt sich auch in der Gedächtnispolitik der EU wider. Während von der Kommission weiterhin vorrangig auf den Völkermord an den Juden abgehoben worden ist, hat vor allem das EP in mehreren Resolutionen und Debatten nachdrücklich an alle totalitären Diktaturen und ihre Opfer erinnert, so am 23. September 2008 in einer Erklärung „zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus“. Dieser wurde 2011 unter polnischer Ratspräsidentschaft erstmals begangen. Zudem verabschiedete das EP am 2. April 2009 eine Entschließung „zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“, in der es zwar die Singularität des Holocaust anerkannte, ansonsten aber alle „totalitären“ Regimes und die von ihren Führungen begangenen Verbrechen verurteilte. Dabei verwies das Parlament auch auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (10. Dezember 1948), die nur einen Tag zuvor verabschiedete Resolution der EUGeneralversammlung zum Völkermord und auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000).35 Diese Transition in der Gedächtnispolitik der EU wurde vor allem vom deutschen EU-Präsidenten Hans-Gert Pöttering (CDU) von 2007 bis 2009 vorangetrieben und von seinem Nachfolger, dem polnischen Liberalen Jerzy Buzek, weitergeführt. Aber auch polnische und tschechische Parlamentarier und Abgeordnete der baltischen Staaten, die für die Erklärung eingetreten waren, verbanden damit die Hoffnung, „zu einer gemeinsamen Sicht“ der Geschichte Europas zu gelangen, „Kommunismus, Nazismus und Faschismus als gemeinsames Vermächtnis anzuerkennen und eine ehrliche und tiefgreifende Debatte über sämtliche totalitären Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts zu führen“. 36 Nach der Resolution vom 2. April 2009 haben osteuropäische EU-Politiker ihre geschichtspolitischen Initiativen noch stärker koordiniert und am 14. Oktober 2011 in Prag eine Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas gegründet, deren Mitglieder über die
34 Sandra Kalniete: Europa muss sich über die Bewertung der Totalitarismen in seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts verständigen, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 17 (2009), S. 359–369. 35 Vgl. Arfon Rees: Managing the History of the Past in the Former Communist States, in: Pakier, Stråth (Hrsg.): A European Memory?, 2010, S. 219–232, hier S. 231; Helmut König: Statt einer Einleitung. Europas Gedächtnis. Sondierungen in einem unübersichtlichen Gelände, in: Ders., Julia Schmidt, Manfred Sicking (Hrsg.): Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008, S. 9–37, hier S. 25. Die Forderung nach einem antitotalitären Basiskonsens auch in: Bronisław Geremek: Ost und West. Geteilte europäische Erinnerung, in: König, Schmidt, Sicking (Hrsg.): Gedächtnis, 2008, S. 133–146, hier S. 141f. 36 Günter Morsch: Geschichte als Waffe. Erinnerungskultur in Europa und die Aufgabe der Gedenkstätten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 55 (2010) 5, S. 109–121, hier S. 110.
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Erinnerung hinaus auch justizielle Aufarbeitung von Verbrechen in kommunistischen Diktaturen verlangt haben.37 Diese Verschiebung in der Gedächtnispolitik, die sich nach der Osterweiterung der EU vollzogen hat, ist auf zum Teil heftigen Widerspruch getroffen. Kritiker – vor allem Politiker west- und mitteleuropäischer Mitgliedsländer – haben besonders vor einer Gleichsetzung des Nationalsozialismus und Stalinismus gewarnt. Zudem ist eine „Enthierarchisierung“ des Gedenkens auf Kosten der Opfer des Völkermordes an den Juden befürchtet worden.38 Alles in allem stehen sich im erweiterten Europa Erinnerungen gegenüber, die der Gegensatz zwischen den Opfern des Nationalsozialismus und des Stalinismus voneinander trennt. Aber auch über die frühere Grenzlinie des Kalten Krieges hinaus spaltet eine Kluft zwischen Russland und den bis 1989/91 von der Sowjetunion beherrschten Staaten die Erinnerungskulturen in Europa. Die russische Erinnerungskultur ist weiterhin vom „affirmativen Selbstbild einer imperialen Nation“39 gekennzeichnet. Demgegenüber haben Bürger der ostmitteleuropäischen Staaten, welche die UdSSR ihrer Hegemonie unterworfen hatte, seit 1990 nachdrücklich an die Repression unter sowjetischer Okkupation als „heißes Gedächtnis“ erinnert. Dabei ist vor allem von vielen Balten und Ukrainern ihre Beteiligung an der Ermordung der Juden weitgehend ausgeblendet worden. Auch wenn dieses Verschweigen kritisiert werden muss, ist ein „europäisches Gedächtnis“, das auf eine inhaltlich einheitliche Erinnerung zielt, auch im Integrationsprozess der EU weder unabdingbar noch förderlich.40 Die oft sogar gesetzlich festgelegte Gedächtnispolitik der Union, die letztlich auf die Herausbildung einer europäischen Identität zielt, hat die Unterschiede und Gegensätze zwischen den ost- und westeuropäischen Ländern nicht zu beseitigen vermocht. Daher sind von der Europäischen Kommission im Mai 2011 erstmals Organisationen, die sich in der Auseinandersetzung über die jüngste Vergangenheit engagieren, nach Brüssel eingeladen worden, um über die Asymmetrie der Erinnerungen in Europa zu diskutieren. Im Prozess der europäischen Einigung müssen zwar Formen des Verschweigens kritisiert und gewalttätige gedächtnispolitische Konflikte verhindert oder beigelegt werden; zugleich sind aber unterschiedliche Erinnerungen grundsätzlich anzuerkennen.
37 Marcel Siepmann: Ein Haus der Europäischen Geschichte wird eingerichtet, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), S. 690–704, hier S. 692; Troebst: Europäische Union, 2013, S. 99–110, 116, 132, 136–141; Mazé: Geschichts- und Gedächtnispolitik, 2013, S. 499. 38 Troebst: Europäische Union, 2013, S. 112. 39 Assmann: Gedächtniskultur?, 2012, S. 51. Vgl. auch Rees: History, 2010, S. 224–226. 40 Zit. nach: Charles S. Maier: Heißes und kaltes Gedächtnis. Zur politischen Halbwertzeit des faschistischen und kommunistischen Gedächtnisses, in: Transit. Europäische Revue 22 (2001/2002), S. 153–165, hier S. 157f., 161, 164f. Vgl. auch Kattago: Memory, 2012, S. 23; Bernd Faulenbach: Eine neue Konstellation? Der Umgang mit zwei Vergangenheiten in Deutschland nach 1989, in: Hammerstein et al. (Hrsg.): Aufarbeitung, 2009, S. 37–47, hier S. 45; Karsten Brüggemann: „Wir brauchen viele Geschichten“. Estland und seine Geschichte auf dem Weg nach Europa?, in: Altrichter (Hrsg.): GegenErinnerung, S. 27–50, hier S. 44; Schwelling: Erinnerung, 2010, S. 224; Leggewie: Kampf, 2011, S. 23, 25.
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Das Leitbild einer europäischen oder sogar kosmopolitischen Erinnerungskultur unterschätzt aber nicht nur wichtige Differenzen und die mit ihnen verbundenen Prägungen, Erfahrungen und Erwartungshorizonte in Europa. Darüber hinaus haben die Bemühungen, Erinnerungen ‚von oben‘ festzulegen, grundsätzliche Bedenken und Kritik hervorgerufen, besonders unter Wissenschaftlern. Sie wandten sich zum Beispiel in dem 2008 verabschiedeten Appel de Blois gegen Versuche von Politikern und staatlichen Behörden, historische Wahrheit gesetzlich zu normieren.41 Dieser Widerspruch wird nicht zuletzt der Einsicht gerecht, dass Täter und Opfer gelegentlich nicht eindeutig zu unterscheiden sind, die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen und den jeweiligen Rollen aber auch nicht eingeebnet werden dürfen. Letztlich vermag eine Anerkennung der Geschichte des Anderen bei Wahrung der eigenen Identitäten ein nivellierendes, allgemeines Opferverständnis, eine Universalisierung des Leidens und eine verkürzende, vorschnelle Vereinheitlichung der unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Europa zu vermeiden. Damit kann auch ein sich abzeichnender internationaler Wettbewerb um Märtyrer, eine weitreichende Indienstnahme von Opfern und eine Aneignung des Leidens für politische oder kommerzielle Zwecke verhindert werden. Das „possessive und identitäre Verhältnis zum Holocaust“,42 das gegenwärtig gedächtnispolitische Diskussionen in West- und Mitteleuropa kennzeichnet, sollte zugunsten einer distanzierenden Reflexion und Aufarbeitung der Vergangenheit überwunden werden. Vor allem für die deutsche Erinnerungskultur ist aber auch eine Empathie mit den Opfern des Nationalsozialismus weiterhin grundlegend, zumal sie ein Bewusstsein der Differenz zu ihnen keineswegs ausschließt.43
Perspektiven und Grenzen einer Europäisierung des Gedächtnisses Grundsätzlich kann eine Angleichung der Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus, Faschismus und Holocaust in Europa durch eine gegenseitige Öffnung der verschiedenen Nationen, einen grenzüberschreitenden Austausch von Erinnerungen oder sogar die Konstruktion eines gesamteuropäischen Gedächtnisses erreicht werden. Wie dargelegt, sind die Erinnerungen in Europa im Hinblick auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus, dem Zweiten 41 Winfried Schulze: Erinnerungen per Gesetz oder „Freiheit für die Geschichte“?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 59 (2008), S. 364–381. 42 Ulrike Jureit, Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010, S. 206. 43 Assmann: Unbehagen, 2013, S. 63; Levy, Heinlein, Breuer: Particularism, 2011, S. 149–151, 153; Natan Sznaider: Suffering as a Universal Frame for Understanding Memory Politics, in: Muriel Blaive, Christian Gerbel, Thomas Lindenberger (Hrsg.): Clashes in European Memory. The Case of Communist Repression and the Holocaust, Innsbruck 2011, S. 239–254, hier S. 246, 250, 252; Volkhard Knigge: Wie aus Geschichte lernen, in: Norbert Lammert (Hrsg.): Erinnerungskultur, Sankt Augustin 2004, S. 65–76. Dagegen: Jureit, Schneider: Opfer, 2010, S. 76.
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Weltkrieg und dem Holocaust innerhalb der einzelnen Staaten und zwischen ihnen konträr und umstritten geblieben. Dieser Vielfalt werden vereinfachende Typologien nicht gerecht. So haben empirische Studien gezeigt, dass die von M. Rainer Lepsius vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einer Internalisierung (in der Bundesrepublik), einer Universalisierung (in der DDR) und einer Externalisierung des Nationalsozialismus (in Österreich) nach 1945 die – komplexe und zudem zeitlich variierende – Überlagerung dieser Prozesse in den einzelnen Staaten nicht zu erfassen vermag. 44 So kennzeichneten Bemühungen der Verallgemeinerung von Verantwortung durch Hinweise auf den ‚Faschismus‘ (in der DDR) oder ‚Totalitarismus‘ (in der Bundesrepublik) die Gedächtnispolitik beider deutscher Staaten. Überdies hat keineswegs ausschließlich die Mehrheit der Österreicher versucht, den Nationalsozialismus als Fremdherrschaft der Deutschen zu deuten und damit zu externalisieren, um sich selber zu entlasten. Schließlich blieb die Aufnahme des ‚Dritten Reiches‘ in die Erinnerungskultur nicht auf die Geschichte des westdeutschen Staates seit den 1960er-Jahren beschränkt. Prozesse der Universalisierung, Externalisierung und Internalisierung können damit nicht trennscharf auf einzelne Staaten bezogen werden.45 Vielmehr müssen Studien zum kommunikativen und kulturellen Gedächtnis die nationalen und regionalen Unterschiede in Europa ebenso berücksichtigen wie die gesellschaftlichen und politischen Erinnerungskonflikte. Dabei ist nicht zuletzt eine zeitliche Differenzierung unabdingbar.46 Wie dargelegt, sind in Europa Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und den Holocaust aber besonders seit den 1980er-Jahren über nationalstaatliche Grenzen hinaus ausgetauscht worden, nachdem sich die Basisnarrative von Widerstand und Opfer als brüchig erwiesen hatten. Die Exklusionsstrategien, mit denen eine belastende Vergangenheit jeweils aus den nationalen Erinnerungskulturen ausgeklammert werden sollte, und die Leugnung der Verantwortung für den Holocaust waren letztlich nicht aufrecht zu erhalten. Vielmehr hat sich infolge des Generationswechsels und des politischen Umbruchs in Osteuropa, der den Kalten Krieg beendete und die Erweiterung der EU nach dem Vertrag von Maastricht ermöglichte, in den letzten beiden Jahrzehnten ein „negatives Gedächtnis“ herausgebildet. Es schließt eine selbstkritische Aufarbeitung
44 M. Rainer Lepsius: Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: Max Haller, Hans-Joachim Nowotny, Wolfgang Zapf (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentages, des 11. Österreichischen Soziologentages und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt am Main 1989, S. 247–264, hier S. 250f. 45 Werner Bergmann: Die Bitburg-Affäre in der deutschen Presse, in: Ders., Rainer Erb, Albert Lichtblau (Hrsg.): Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1995, S. 408–428, hier S. 424. 46 Henri Rousso: Das Dilemma eines europäischen Gedächtnisses, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), S. 363–378, hier S. 377; Jan-Werner Müller: Europäische Erinnerungspolitik Revisited, in: Transit. Europäische Revue 33 (2007), S. 166– 175, hier S. 167, 174.
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eigener Konformität, Beteiligung und Verantwortung für die Verbrechen in Diktaturen und Kriegen ein und weist in Europa auch transnationale Bezüge auf. Das „negative Gedächtnis“ vermag vor allem die „Würde entrechteter Gruppen wiederherzustellen und soziales Vertrauen zu stärken“. Es ist deshalb nicht ausschließlich retrospektiv, sondern durchaus zukunftsgerichtet.47 Jedoch hat auch die Verschiebung der gedächtnispolitischen Bezüge von Helden zu Opfern die nationalen Bezüge keineswegs einfach beseitigt, sondern sie vielmehr neu formatiert. Nicht nur die Gedächtnispolitik, sondern auch die politischen und gesellschaftlichen Erinnerungskonflikte sind bis zur Gegenwart national geprägt geblieben. So ist in Deutschland seit der Jahrtausendwende erneut an die Opfer des Bombenkriegs und der Vertreibung erinnert worden. Auch in Norwegen sind nationale Erinnerungsnarrative in einem universalistischen Opfergedächtnis prolongiert worden. In diesem Rahmen ist der Völkermord an den Juden in den Erinnerungskulturen vieler europäischer Staaten explizit verankert worden, nachdem die jeweilige Gedächtnispolitik den Holocaust zuvor weitgehend ausgeblendet hatte, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Konfrontation im Kalten Krieg mit der Fixierung auf den ‚Totalitarismus‘ beziehungsweise ‚Antifaschismus‘. Seit den 1980er-Jahren ist der Genozid in europäischen Staaten wie Frankreich – auch unter dem Einfluss der Fernsehserie ‚Holocaust‘ Anfang 1979 und des Films ‚Schindlers Liste‘ 1993 – nicht nur abstrakt und als Verbrechen Anderer erinnert worden, sondern auch im Hinblick auf die eigene Mitwirkung. Damit hat sich in West- und Mitteleuropa ein „negatives Gedächtnis“ entwickelt, das die Aufmerksamkeit auf dunkle Kapitel der jeweiligen Nationalgeschichte gelenkt hat. In diesem Prozess selbstkritischen Erinnerns hat sich zum Teil auch eine „Pädagogisierung der Erinnerungskulturen“ entwickelt, die „Empathie über Individualisierung“ herstellt.48 Dabei sind zwar jeweils Bezüge auf nationale Erinnerungskulturen, die ihrerseits zumindest partiell an die Ereignisse selber gebunden waren, durchaus einflussreich geblieben. Jedoch hat seit den 1990er-Jahren vor allem das Gedenken der Ermordung der Juden wenigstens die Gedächtnispolitik in wichtigen europäischen Staaten auch grenzüberschreitend geprägt. Zugleich ist der Holocaust zu einer Schlüsselkategorie des grenzüberschreitenden Menschenrechtsdiskurses geworden. In diesem Universalisierungsprozess hat der Völkermord an den Juden einen über das Ereignis selber hinausweisenden Stellenwert gewonnen. Damit einhergehend, haben sich Ansätze einer europäischen Erinnerungskultur herausgebildet, die von spezifischen, kosmopolitischen Wertmaßstäben geprägt sind. 47 Assmann: Unbehagen, 2013, S. 209. Dazu: Claus Bryld: ‚The Five Accursed Years‘. Danish perception and usage of the period of the German Occupation with a wider view to Norway and Sweden, in: Scandinavian Journal of History 32 (2007) 1, S. 86–115, hier S. 99. 48 Christoph Cornelißen: „Vergangenheitsbewältigung“ – ein deutscher Sonderweg?, in: Hammerstein et al. (Hrsg.): Aufarbeitung, 2009, S. 21–36, hier S. 30. Vgl. auch Harald Welzer, Claudia Lenz: Is there a ‚European Memory‘? First Results of Comparative Research on Historical Consciousness and Family Memories, in: Blaive, Gerbel, Lindenberger (Hrsg.): Clashes in European Memory, 2011, S. 192–211, hier S. 205, 207; Cornelißen: Nationalität, 2011, S. 6–8.
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Vor allem der Bezug auf Menschenrechte hat sich als eine zweite, ‚dünne‘ Kultur über die jeweiligen nationalen Gedächtnisregimes gelegt, ohne diese aber einfach zu ersetzen.49 Dennoch droht eine umfassende Universalisierung des Holocaust-Gedächtnisses zum Gedenken unterschiedlicher Genozide mit einem Verlust an Konkretion und Präzision einherzugehen. Dabei werden nicht nur Akteure – vor allem die Täter – und ihre Interessen ausgeblendet, sondern darüber hinaus partikulare Erinnerungen verdrängt und Erinnerungsprozesse entpolitisiert. Auch wenn man die weitreichende Kritik, dass ein ausschließlich auf Opfer bezogenes transnationales oder sogar universalistisches Gedächtnis letztlich eine „paralysierende Regression der demokratischen Debatte“50 herbeiführt, nicht teilt, ist doch unverkennbar, dass es Erinnerungskonkurrenzen nährt. Ein viktimisierender Diskurs erzeugt Konflikte zwischen Opfern und verdinglicht tendenziell Völkermorde, anstatt sie als Prozesse zu fassen, die sich in konkreten Konstellationen vollzogen. Nicht zuletzt droht eine moralisierende Sakralisierung des Holocaust den Völkermord an den Juden seines spezifischen Stellenwertes zu berauben. Erinnerungsnarrative, die den Massenmord an den Juden hypostasieren und unreflektiert auch auf andere Genozide beziehen, schreiben zudem den Opferstatus fest.51 Um die Herausbildung einer ‚Gedächtnisreligion‘ in Europa zu verhindern, muss deshalb eine grenzüberschreitende, transnational ausgerichtete Erinnerungskultur in Europa die spezifischen historischen Kontexte und Erfahrungen unterschiedlicher Akteure und ihre jeweiligen Erinnerungen in den verschiedenen Räumen einbeziehen. Dabei sollten andere Genozide und die stalinistische Vernichtungspolitik – vor allem im Gulag – nicht heruntergespielt werden. Mit dieser doppelten Herausforderung, der Spezifik des Holocaust gerecht zu werden und zugleich seinen paradigmatischen Stellenwert als Verbrechen gegen die Menschlichkeit herauszuarbeiten, ist auch historische Erinnerungsforschung konfrontiert.52 49 Alan E. Steinweis: Die Auschwitz-Analogie. Die Erinnerungskultur des Holocaust und die außenpolitischen Debatten in den USA während der 1990er Jahre, in: Manfred Berg, Philipp Gassert (Hrsg.): Deutschland und die USA in der Internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Detlef Junker, Stuttgart 2004, S. 542–558; Jean H. Quataert: Advocating Dignity. Human Rights Mobilizations in Global Politics, Philadelphia 2009, S. 228–248. Vgl. auch Sara Jötten, Christian J. Tams: Die Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in: Arnd Pollmann, Georg Lohmann (Hrsg.): Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2012, S. 116–122; Eckart Klein: Die völkerrechtliche Entwicklung nach 1948, in: Ebd., S. 123–128; Friederike Eigler: Writing in the New Germany. Cultural Memory and Family Narratives, in: German Politics and Society 76 (2005), S. 16–41, hier S. 19, 21. 50 Pieter Lagrou: Europa als Ort gemeinsamer Erinnerungen? Opferstatus, Identität und Emanzipation von der Vergangenheit, in: François et al. (Hrsg.): Geschichtspolitik, 2013, S. 298– 308, hier S. 301. 51 Michael Rothberg: From Gaza to Warsaw: Mapping Multidirectional Memory, in: Criticism 53 (2011), S. 523–548, hier S. 540. 52 Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988. Vgl. auch Kirsten Buchinger, Claire Gantet, Jakob Vogel: Einleitung. Räume europäischer
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Insgesamt vermag die Erinnerung an den Nationalsozialismus, Faschismus, die Besatzungsherrschaft und die Ermordung der Juden in Europa nur begrenzt zur weiteren Integration Europas beizutragen. Obgleich der Holocaust grundsätzlich als „Zentralkategorie europäischer Erinnerung unentbehrlich“53 ist, kann ein inhaltlicher Konsens zu diesem Massenverbrechen letztlich nicht gedächtnispolitisch normiert werden. Auch die Integration Europas selber vermag eine Erinnerungsgemeinschaft offenbar nicht zu begründen.54 Eine inhaltliche ‚Europäisierung‘ der Erinnerungen ist schon in den Institutionen der Gemeinschaft umstritten, wie der Streit zwischen der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat über das seit vielen Jahren geplante und vorbereitete Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel zeigt. Das Projekt, das 2014 mit der Eröffnung des Museums abgeschlossen werden und den Holocaust umfassend darstellen soll, hat auch zwischen den Mitgliedsstaaten der EU Konflikte ausgelöst. So haben sich polnische Abgeordnete des Europäischen Parlamentes bei Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering über die ihrer Ansicht nach unzureichende Berücksichtigung der eigenen Nationalgeschichte beschwert. Letztlich ist das Haus der Europäischen Geschichte von dem gedächtnispolitischen Ziel geprägt, eine europäische Identität herauszubilden oder zu stabilisieren. Kritiker haben demgegenüber ein dezentrales Konzept von Europa-Museen vorgeschlagen, die in spezifischen lokalen, regionalen oder nationalen Kontexten verwurzelt sind. Dabei sollen sie die Ambivalenz oder sogar Widersprüchlichkeit europäischer Erinnerungsorte an der „Schnittstelle unterschiedlicher Arten und Ebenen von Erinnerungen“ zeigen.55 Weiterführend ist auch eine Übereinkunft über den Zugang zu den diversen Erinnerungen und über die Verfahren des Umgangs mit transnationalen Vergangenheitskonflikten. So sollten Europäer ermutigt werden, ihre unterschiedlichen Erinnerungen auszutauschen und aufeinander zu beziehen, damit – wie der Schriftsteller Peter Esterhazy treffend formuliert hat – „ein geteiltes europäisches Wissen über uns selbst als Täter und Opfer“ entsteht.56 Über bilaterale Beziehungen hinaus ist dabei die Rekonstruktion multipler Interdependenzen zwischen den
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Erinnerungen, in: Dies. (Hrsg.): Erinnerungsräume, 2009, 9–19, hier S. 12; Sznaider: Suffering, 2011, S. 245; Schmid: Europäisierung des Auschwitzgedenkens?, 2008, S. 177; Leggewie: Kampf, 2011, S. 24f. Michael Jeismann: Völkermord und Vertreibung als Medien der Europäisierung, in: Joerges, Mahlmann, Preuß (Hrsg.): „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“, 2008, S. 299– 307, hier S. 306. Stefan Krankenhagen: Die Sache Europa. Das Musée de l’Europe: Vom (vorerst) gescheiterten Versuch, die europäische Integration zum Subjekt der Geschichte zu machen, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 31–44. Zit. nach: Mazé: Geschichts- und Gedächtnispolitik, 2013, S. 510. Vgl. auch Troebst: Eckstein einer EU-Geschichtspolitik?, 2012, S. 748f.; Ders.: Europäische Union, 2013, S. 144; Siepmann: Haus, 2012, S. 696. Aleida Assmann: Von kollektiver Gewalt zu gemeinsamer Zukunft. Vier Modelle für den Umgang mit traumatischer Vergangenheit, in: Assmann, Kalnein (Hrsg.): Erinnerung, 2011, S. 25–42, hier S. 39. Ähnlich: Assmann: ,Ein geteiltes europäisches Wissen von uns selbst‘?.
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Erinnerungen von Angehörigen unterschiedlicher Nationen nicht nur wissenschaftlich innovativ, sondern auch der gemeinsamen Verständigung zuträglich.57 Ein Gedächtnis, das nationale Erinnerungskulturen aufeinander bezieht und ebenso selbstreflexiv wie pluralistisch ausgerichtet ist, vermag in Europa wechselseitige Verständigung zu fördern. Transnationale Erinnerung sollte damit als eine „die Vergangenheit in ihrer Sperrigkeit und Widersprüchlichkeit ernstzunehmende Vergegenwärtigung von Geschichte aufgefasst werden, die der Aufklärung über Vergangenheit im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft dient“. 58 Insgesamt hat sich in Europa keine einheitliche Erinnerungskultur herausgebildet, welche die EU legitimieren könnte. Letztlich kann auch die weiterhin bestehende Kluft zwischen den Erinnerungen an das Kriegsende, Auschwitz und an den Gulag nur in einer empathisch orientierten Memorialkultur verringert werden, die auf der Bereitschaft gründet, „sich selbst mit den Augen der Nachbarn zu betrachten“.59 Die daraus resultierende Kombination von selbstkritischer Reflexion und Empathie nimmt gleichermaßen universale und partikulare Erinnerungen auf. Aus einer transnationalen Perspektive, die bewusst multiperspektivisch ausgerichtet ist und das Leid der Anderen anerkennt, können schließlich auch eigene (nationale) Opfererfahrungen und -konstruktionen leichter erneut diskutiert werden.60 Diese Einsicht trägt auch der fortlaufenden Differenzierung der Erinnerungskulturen in den zunehmend multikulturell strukturierten europäischen Gesellschaften Rechnung. Seit dem Systemumbruch von 1989–91 hat in vielen europäischen Staaten die Einwanderung nochmals zugenommen. Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und die Ermordung der Juden werden von den verschiedenen Migrantengruppen in Europa aber jeweils in unterschiedlichem Ausmaß und in differenten Formen erinnert. So bilden die Einwanderer in Europa vielerorts separate Erinnerungsgemeinschaften, deren Angehörige nicht durch ihre Herkunft an den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen gebunden sind. Bemühungen muslimischer Immigranten und ihrer Organisationen, den Holocaust mit dem Hinweis auf die Vertreibung der Palästinenser durch Israel – vor allem die ‚Nakba‘ 1947/48 – zu rechtfertigen, widersprechen dem Leitbild einer selbstkritisch-reflexiven Erinnerungskultur in Europa.61 Demgegenüber bietet die Hin57 Jan-Werner Müller: On ‚European Memory‘. Some conceptual and normative remarks, in: Pakier, Stråth (Hrsg.): A European Memory?, 2010, S. 25–38, hier S. 26, 30, 36; Jarausch: Conclusion, 2010, S. 318; Müller: Thomas Manns Albtraum?, 2013, S. 237; Stefan Berger: Remembering the Second World War in Western Europe, 1945–2005, in: Pakier, Stråth (Hrsg.): A European Memory?, 2010, S. 119–136, hier S. 134. 58 Bernd Faulenbach: Erinnerungsarbeit und demokratische politische Kultur heute, in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hrsg.): Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg, Münster 2002, S. 81–90, hier S. 83. 59 Marek Prawda: Geteilte Erinnerung in einem vereinten Europa. Diktaturaufarbeitung zwischen Vergangenheitskonkurrenz und Erinnerungspolitik, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 16 (2009), S. 371–376, hier S. 372. 60 Assmann: Unbehagen, 2013, S. 74f.; Kattago: Memory, 2012, S. 27, 43, 102f. Dagegen: Jarausch: Conclusion, 2010, besonders S. 314, 316. 61 Hierzu und zum Folgenden demnächst: Arnd Bauerkämper: Holocaust Memory and the Experiences of Migrants in Europe after 1945, in: Jakob S. Eder, Philipp Gassert, Alan Stein-
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wendung zu einer universalistischen Form der Erinnerung an den Holocaust auch Chancen einer Annäherung muslimischer Emigranten an ein selbstkritisches und reflexives ‚negatives‘ Gedächtnis. Dazu trägt auch die beginnende Überlagerung des ‚Helden‘-Narrativs durch die Erinnerung an leidende und hilflose Opfer bei – ein Übergang, den die neuere Diskussion über grenzüberschreitende Menschenrechte gefördert hat.62 Alles in allem ist ein „shared mode of engaging with the past“63 notwendig, zu dem ein offener Austausch der Europäer über ihre jeweiligen Erinnerungen ebenso gehört wie eine geteilte kritische Distanz gegenüber der jeweils eigenen Vergangenheit. Ein „Aussöhnungsprojekt“ kann die Einigung Europas nur durch die „öffentliche Bearbeitung konkurrierender nationaler europäischer Geschichtsnarrative“ werden.64 In diesem Prozess sind Konflikte angesichts der zerfurchten Geschichte Europas unvermeidlich und notwendig; sie sollten aber auf zivilgesellschaftlicher Wertegrundlage ausgetragen werden. Die Verständigung, welche die Europäische Union fördern, aber letztlich nicht selber herbeiführen kann, wird ,von unten‘ ausgehen und aus Teilhabe und wechselseitigem Vertrauen der Europäer hervorgehen müssen. Zivilgesellschaftliche Auseinandersetzungen über die Erinnerungen an den Nationalsozialismus und Faschismus, den Zweiten Weltkrieg und Holocaust in Europa sollten auf Zusammenhänge und Beziehungen ebenso abheben wie auf ihre Vielfalt und die Mehrdimensionalität des Gedächtnisses. Dieser multilaterale Austausch und die damit verbundene Konfrontation zielen auf ein „dialogisches Erinnern“, das zu Recht auf die „wechselseitige Verknüpfung und Aufrasterung allzu einheitlicher Gedächtniskonstruktionen entlang nationaler Grenzen“ abhebt.65 Darüber hinaus muss aber die Herausbildung neuer Konfigurationen – so im Verhältnis von Tätern, Opfern und Zeugen – durch die Überlagerung von universalistischen und nationalen Narrativen in Erinnerungs-
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weis (Hrsg.): Holocaust Memory in a Globalizing World, Göttingen 2015 (erscheint demnächst). Vgl. auch Wolfgang Meseth: „Auschwitz“ als Bildungsinhalt in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, in: Lenz, Schmidt, von Wrochem (Hrsg.): Erinnerungskulturen im Dialog, 2002, S. 125–134, hier S. 125f., 131; Günther Jikeli, Joëlle Allouche-Benayoun (Hrsg.): Perceptions of the Holocaust in Europe and Muslim Communities. Sources, Comparisons and Educational Challenges, Dordrecht 2013; Omar Kamil: Der Holocaust im arabischen Gedächtnis. Eine Diskursgeschichte 1945–1967, Göttingen 2012, besonders S. 9–45, 167–171. Daniel Levy, Natan Sznaider: The Holocaust and Memory in the Global Age, Philadelphia 2006, S. 23f., 28, 195–197; Dies.: Human Rights and Memory, Pennsylvania 2010, besonders S. 142–171; Dies.: The Institutionalization of Cosmopolitan Morality. The Holocaust and Human Rights, in: Journal of Human Rights 3 (2004) 2, S. 143–157; Daniel Levy: Cosmopolitanization of Victimhood. Holocaust Memories and the Human Rights Regime, in: Annette Weinke, Norbert Frei (Hrsg.): Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, Göttingen 2013, S. 210–218. Levy, Heinlein, Breuer: Particularism, 2011, S. 153. Leggewie: Kampf, 2011, S. 115, 185. Aleida Assmann: Von kollektiver Gewalt zu gemeinsamer Zukunft. Vier Modelle für den Umgang mit traumatischer Vergangenheit, in: Kerstin von Lingen (Hrsg.): Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945, Paderborn 2009, S. 42–51, hier S. 48. Vgl. auch Assmann: Gewalt, 2011, S. 37.
Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur?
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kulturen einbezogen werden. Ebenso ist die Verschränkung ‚eigener‘ und ,fremder‘ Erinnerungsnarrative in den europäischen Migrationsgesellschaften zu beachten.66 Ein Gedächtnis, das nationale Erinnerungskulturen aufeinander bezieht und ebenso selbstreflexiv wie pluralistisch ausgerichtet ist, vermag in Europa wechselseitige Verständigung zu fördern. Interaktionen über das Gedächtnis sind als offener Prozess und die jeweils eigenen Erinnerungen relational zu anderen zu verstehen. Nur damit vermögen die Europäer „der fortwirkenden destruktiven Macht der Vergangenheit zu entkommen“67 und grenzüberschreitende zivilgesellschaftliche Verflechtungen zu stärken, auf denen auch die politische Einigung basiert. Es bleibt abzuwarten, inwieweit der Bezug auf universell verstandene Menschenrechte diesen Prozess der Aussöhnung im Konflikt in Europa zu fördern vermögen.68
66 Dazu die Beiträge in: Günther Jikeli, Joëlle Allouche-Benayoun (Hrsg.): Perceptions of the Holocaust in Europe and Muslim Communities. Sources, Comparisons and Educational Challenges, Dordrecht 2013; Viola B. Georgi: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003, besonders S. 102–105, 299–314. Allgemein auch: Michael Heinlein, Daniel Levy, Natan Sznaider: Kosmopolitische Erinnerung und reflexive Modernisierung: Der politische Diskurs der Zwangsarbeiterentschädigung, in: Soziale Welt 56 (2005), S. 225–246, hier S. 225f., 239–241. 67 König: Statt einer Einleitung, 2008, S. 29. 68 Vgl. Wolfgang Kissel, Ulrike Liebert: Einleitung: Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative nach 1989, in: Dies. (Hrsg.): Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989, Berlin 2010, S. 9–29, hier S. 22, 25; Müller: Erinnerungspolitik, 2007, S. 168; Assmann: Auf dem Wege zu einer europäischen Erinnerungskultur?, 2012, S. 57, 60, 63. Plädoyer für Menschenrechte als Bezugshorizont von Erinnerungskulturen in: Heinlein, Levy, Sznaider: Erinnerung, S. 228–236, 241.
EUROPÄISCHE HINTERGRÜNDE DES VERGESSENS IN OST UND WEST Harald Wydra
Zusammenfassung: Dieser Beitrag plädiert für eine kritische Reflexion der Kodierung des kulturellen Gedächtnisses in Europa. Die Frage ist weniger, wie im Westen und Osten Europas erinnert werden soll, sondern unter welchen existenziellen Bedingungen kollektive Gemeinschaften vergessen haben. Meine These ist, dass in (West-)Deutschland generationelle Brüche nach 1945 eine Selbstvergessenheit befördert haben, die in Symptomen wie der Entwöhnung vom Patriotismus, der Identifikation mit den Opfern und der Ausbildung eines Tätertraumas sichtbar werden. In Ostmitteleuropa hingegen haben die Modalitäten der Staats- und Nationenbildung unter Bedingungen der politischen Moderne weit vor 1945 politisch-kulturelle Unsicherheit als Seinsmodus der Nation begründet. Gerade weil territoriale Integrität brüchig war, Zugehörigkeiten zum Staatsvolk umstritten waren, und Geschichtsbewusstsein romantisiert wurde, hat das Vergessen hier Ideen wie nationale Selbstbestimmung und historischen Revisionismus befördert. Für ein besseres Verständnis des „geteilten Gedächtnisses“ in Europa sind daher vergleichende Studien notwendig, in deren Rahmen die ‚ererbten‘ Hintergründe von Praktiken des Vergessens untersucht werden. Abstract: This article makes a case for a critical reflection on the codification of cultural memory in Europe. The question is less how Europe should remember across the EastWest divide but rather under what existential conditions collective communities forget. My proposition is that generational shifts in (West-)Germany after 1945 promoted a form of self-oblivion in terms of perpetrator trauma, the coming off patriotism, and identification with victims. In East-Central Europe, however, the modalities of stateformation and nation-building under conditions of political modernity far before 1945 shaped feelings of political and cultural insecurity of the nation as a mode of being. Due to the fragility of territorial integrity, the precariousness of state populations, the contestedness of belonging, and the romanticisation of historical consciousness, forgetting promoted ideas of national self-determination and historical revisionism. The understanding of divided memories in Europe requires comparative studies of inherited backgrounds of practices of forgetting.
Zwischen Erinnerung und Selbstvergessenheit Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und zehn Jahre nach der großen Osterweiterung der Europäischen Union (EU) sind trotz allen Zusammenwachsens in Europa Asymmetrien zu spüren. Der politische Konflikt, den das gescheiterte Assoziierungsabkommen mit der EU im November 2013 innerhalb der Ukraine auslöste, deutet auf Unsicherheiten der Zugehörigkeit, aber auch auf eine gebrochene Erinnerung hin. Ähnlich wie konkurrierende Selbstverständnisse
Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 67–84
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innerhalb der Ukraine zwischen Europa und Russland schwanken, sind Fragen des kollektiven Selbstverständnisses im westlichen und östlichen Teil Europas auf unterschiedliche historische Erfahrungen zurückzuführen. Ein sich vereinigendes Europa wird getrennt von der unsichtbaren Wand des „geteilten Gedächtnisses“.1 Auf der einen Seite stehen westeuropäische Erinnerungskulturen, die über eine „Politik der Reue“2 und das kulturelle Stigma der Schuld die Holocausterinnerung in das Zentrum eines europäischen Gründungsmythos gerückt haben. Auf der anderen Seite finden wir den Wunsch ostmitteleuropäischer Staatsgesellschaften, die Verbrechen des Sowjetkommunismus als gleichberechtigten europäischen Erinnerungsstrang anzuerkennen. Diese Asymmetrie beginnt nicht 1989, sondern hat ihren „Hintergrund“ in konkreten existenziellen Bedingungen gesellschaftlicher und staatlicher Formen. Kollektive Gemeinschaften haben das Bedürfnis, ihre Geschichte an vorangehende Ereignisketten und übergreifende Bezüge zurückzubinden, die die eigene, zeitlich begrenzte Existenz überhöhen. Die Symbolik von Ritualen bindet den Tod und das Blutvergießen in eine heldenbewusste Rhetorik ein. Traditionell haben soziale und politische Gemeinschaften aus ihren passiven Opfern ihre Götter geformt, das heißt die Modelle und Pfeiler ihrer Wertesysteme. Michel de Certeau bemerkte einmal, dass der „Ursprung“ immer von Gewalt verdunkelt ist und die Nachwelt deshalb Narrative konstruiert mit dem Ziel, eine heilige Aura der Unverletzlichkeit zu schaffen. 3 Staaten müssen ihre unweigerlich gewaltsamen „Ursprünge“ akzeptabel und attraktiv machen. Sie brauchen Gründungsmythen, Rituale, und Symbolik. Aufstände, Revolutionen und Schlachten werden eingebettet in Meistererzählungen. Erinnerungen binden Menschen an Staatsgesellschaften im Sinne emotional begründeter Gemeinwesen, die ein Zukunftsprojekt und eine Friedenssehnsucht verkörpern. Neben der Legitimierung von Unrecht und Gewalt in der Vergangenheit erfüllen kollektive Identitäten auch die Aufgabe, die Gewissheit des Weiterlebens der Gemeinschaft, sei es der Familie oder der Nation, in die Zukunft zu verlagern. Dabei greifen verschiedene Zeitebenen, Symbole und Sinnstrukturen ineinander. Ludwig Wittgenstein formulierte dies einmal so: „Mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“4 Wir handeln, als ob der Hintergrund der Fall wäre, sowohl im Spiel als auch im Leben. Der Anthropologe Paul Connerton wies darauf hin, dass neben kognitivem und persönlichem Gedächtnis vor allem das Gewohnheitsgedächtnis (habit memory) einen großen Teil unserer Fähigkeiten bestimmt.5 Dieses Gewohnheitsgedächtnis steuert die meisten menschlichen Fähigkeiten. Ob Sprechen, Schreiben, Radfah1 2 3 4 5
Krzysztof Pomian: Geteiltes Gedächtnis, in: Matthias Weber et al. (Hrsg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa, München 2011, S. 27–40. Jeffrey Olick: The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibility, London 2007. Michel de Certeau: L’écriture de l’histoire, Paris 1975, S. 74. Ludwig Wittgenstein: Über Gewissheit, Frankfurt am Main 1967, § 94. Paul Connerton: How Societies Remember, Cambridge 1989.
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ren, oder Rasenmähen: Wir haben vergessen – im Sinne eines präzisen kognitiven Erinnerns –, unter welchen Umständen wir diese Tätigkeiten erlernt haben. Jede Erinnerung beruht also auf Formen des Vergessens. Die These, die ich hier vertrete, ist folgende: Um zu verstehen, wie Europäer auf beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs erinnern, müssen die kollektiven Bedingungen erfasst werden, unter denen in diesen Gemeinschaften Orientierungsrahmen ‚vergessen‘ wurden. Methodisch stützt sich dieser Beitrag auf einen begriffsgeschichtlichen Ansatz, der das Selbstverständnis kollektiver Identitäten an Erfahrungen in außerordentlichen Zwischenlagen6 bindet. Obwohl Bruchpunkte wie 1945 und 1989 aufgrund der Verdichtung historischer Entwicklungen für die Zuspitzung historischer Prozesse und für Zäsuren stehen und damit als transnationale Erinnerungsorte begriffen werden können, muss der Blick zurück tiefer gehen. Nach Reinhart Koselleck sind Vergessen und Erinnerung an generationsbedingte Erfahrungen gebunden. Generationenwechsel und Generationenschübe sind zu verstehen als dynamische Prozesse, in denen biologische Endlichkeit (der Tod von Individuen) und das Aufkommen neuer Generationen „existentielle Bestimmungen“7 sind. Der entscheidende Punkt ist, dass diese existenziellen Bestimmungen die Bedingungen sind, unter denen sinnvolle Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart entstehen. Generationenfolgen verbinden und trennen gleichermaßen. Als historische Figuren des Übergangs, sind Generationen liminale Zwischenlagen. Biologische Vergänglichkeit steht nicht in Widerspruch zum Anspruch auf kulturelle Kontinuität. Ganz im Gegenteil: Zeitwahrnehmungen, Sinngehalte und symbolisch vermittelte Gewissheiten beruhen auf der intergenerationellen Struktur, innerhalb der sie entstehen und sich wandeln. Mein Interesse hier besteht also weniger in einer vollständigen Würdigung von historischen Details. Vielmehr geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen kollektive Identitäten auf Praktiken des Vergessens beruhen. (West-)Deutschland hat sich nach 1945 beziehungsweise 1949 bei aller Erinnerungskultur gewissermaßen selbst vergessen. Zum einen wurden Patriotismus und nationale Ehre durch Schuld und Scham abgelöst. Zum anderen haben generationelle Brüche zu einer Identifizierung großer Teile der Nachgeborenen-Generation mit den Opfern geführt. In Ostmitteleuropa ist das Vergessen anders gelagert. Hier haben die Modalitäten der Staats- und Nationenbildung unter Bedingungen der politischen Moderne weit vor 1945 die Herausbildung eines kollektiven Selbstverständnisses geprägt, das von Vergessen und existenzieller Unsicherheit der Nation bestimmt wurde. Im Gegensatz zu vielen westeuropäischen Staatsgesellschaften, deren nationale Grenzen seit Jahrhunderten relativ stabil und damit mental weitgehend fi6
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Hier ist auf das der Anthropologie entlehnte Konzept der Liminalität zu verweisen, welches gesellschaftliche und politische Krisen als Rituale des Übergangs und der Initiation begreift. Bernhard Giesen: Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit, Weilerswist 2010. Siehe auch das Special Issue zu „Liminality and Cultures of Change“, International Political Anthropology 2 (2009) 1. Reinhart Koselleck: Historik und Hermeneutik, in: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main 2003, S. 97–118, hier S. 109.
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xiert sind, haben viele Staaten im Osten Europas erst im 20. Jahrhundert oder gar erst nach 1991 nationale Unabhängigkeit erlangt.8 Gerade weil der territoriale Rahmen brüchig und Zugehörigkeit zum Staatsvolk umstritten war, und Geschichtsbewusstsein deshalb romantisiert wurde, hat das Vergessen hier Ideen wie nationale Selbstbestimmung und historischen Revisionismus befördert. Wie Krzysztof Pomian kürzlich feststellte, haben Erinnerungskonflikte eine dreifache Dimension.9 Individuelle und kollektive Identitäten werden durch kognitive, emotionale und existenzielle Faktoren bestimmt. Wenn das Ziel die Herausbildung einer Erinnerungsethik ist, sind Einsichten über die Grenzen der Geschichtswissenschaft hinaus erforderlich. Es sollten auch Literatur, Künste sowie Praktiken der Solidarität, Toleranz und Versöhnung auf verschiedenen Ebenen politischer, sozialer, lokaler und transnationaler Natur herangezogen werden. Zudem sind Erfahrungen generationsspezifisch und deshalb nicht unmittelbar übertragbar.10 Eine Analogie aus Südafrika soll dies verdeutlichen. Der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee bezeichnete die Massenmigration der Landbewohner aus dem alten, stammesorientierten Afrika in die Städte als einen fundamentalen Moment in Südafrikas Geschichte. Die Generation seiner Eltern meinte, dass die in den Städten geborenen afrikanischen Kinder das Gedächtnis dieser Migration in sich selbst tragen würden, als ob sie sich dessen bewusst wären, eine Übergangsgeneration zwischen dem stammesorientierten und dem neuen, städtischen Afrika zu sein. In Wirklichkeit aber ist die Welt, in die wir hineingeboren werden, unsere Welt. „Züge, Autos, hohe Gebäude (…) Mobiltelefone, billige Kleidung, fast food begründen die Welt wie sie ist, ungefragt, sicherlich nicht als Geschenk von Fremden, ein Geschenk, über das man staunt und für das man dankbar wäre.“11 In diesem Sinne trägt das in der Stadt geborene schwarze Kind kein Zeichen des Busches in sich. Wenn von der Wandelbarkeit von Vergangenheitsdeutungen ausgegangen werden kann, dann vor allem deshalb, weil Generationsschübe Erwartungshorizonte aufbrechen und ebenso Erfahrungsräume umwerten. Erinnerungen sind nicht nur im sozialen Raum plural, sondern auch in zeitlicher Dimension.12 Eine heranwachsende Generation mag sich an den Werten und Vorstellungen der Eltern und Großeltern reiben. Sie übernimmt aber auch Rituale, Diskurse, und Orientierungsrahmen nationaler, sozialer und politischer Ordnung. Neue Generationen sind nicht nur demografische oder Erfahrungseinheiten. Sie sind auch auf der Suche nach neuen Sinnstrukturen. Individuelle Erinnerungsträger sterben, während neue Menschen die soziale Welt betreten. Generationen sind diejenigen sozialen Formationen, die als Deutungsträger Erinnerung über den Tod von Individu8
Dies gilt unter anderem für die Nachfolgestaaten Jugoslawiens wie Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegovina und Mazedonien, aber auch für Moldawien und Weißrussland. Die baltischen Staaten können auf eine Periode der Unabhängigkeit von 1918 bis 1940 zurückblicken. 9 Pomian: Geteiltes Gedächtnis, 2011. 10 Koselleck: Historik und Hermeneutik, 2003, S. 107. 11 J. M. Coetzee: Diary of a Bad Year, London 2008, S. 103. 12 Astrid Erll: Travelling Memory, in: Parallax 17 (2011) 4, S. 4–18, hier S. 11.
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en hinaus ermöglichen.13 Deutungsträger unterliegen einem starken Wandel, der nicht nur mit dem substanziellen kognitiven historischen Wissen über gewisse Ereignisse zusammenhängt. Vielmehr besteht eine Verbindung zwischen biologischer Erneuerung der Bevölkerung und der Notwendigkeit, Sinnstrukturen umzudeuten.
Die Selbstvergessenheit der Deutschen Friedrich Nietzsche drückte das Vergessen einmal so aus: „‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘,– sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“14 Wie kam es, dass die kollektive Identität der Deutschen sich gerade nicht auf Stolz, Ehre und Triumph, sondern auf die Erinnerung an die begangenen Verbrechen stützt? Wovon haben sich die Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwöhnt? Um es mit Wittgenstein zu formulieren: Was ist der ererbte Hintergrund der Deutschen im 20. Jahrhundert? In Individuen mag Stolz die Auseinandersetzung mit eigenen Untaten verhindern. In sozialen Gemeinschaften allerdings brauchen wir Bindung und kollektive Orientierungsrahmen. Mit dem Tod von Individuen werden Erfahrungen allerdings unweigerlich vergessen. Als Teil einer größeren Gemeinschaft wollen wir uns dennoch versichern, dass vor unserer Geburt schon etwas da war und dass auch nach unserem Tod noch etwas da sein wird. Dieser Anspruch ist nicht stabil oder kontinuierlich. Er ist den unkontrollierbaren Kräften neuer sozialer Prozesse, neuer Technologien und wirtschaftlichen Wandels ausgesetzt. Gerade neue Generationen bewirken nicht ausschließlich Erneuerung im biologischen Sinn. Sie verbinden – bei all den Brüchen und Veränderungen – das Alte mit dem Neuen. In den 143 Jahren zwischen 1871 und 2014 sprechen wir immer noch von Deutschland, obwohl sich drei verschiedene Verfassungsformen und zwei Diktaturen auf einem zeitweise geteilten und insgesamt deutlich verkleinerten Territorium abgelöst haben. Die Kaiserproklamation von Wilhelm I. im Januar 1871 formte das Selbst des preußisch geführten Deutschlands im Spiegelsaal von Versailles symbolisch.15 Es ‚erschuf‘ Deutschland im Zentrum der Großmacht, die Preußen Modell und Hindernis zugleich gewesen war. Die Kaiserkrönung am 18. Januar 1871 erinnerte an den 18. Januar 1701, den Tag, an dem der preußische Herrscher Friedrich I. die Königswürde erhielt. 1871 war der Umkehrpunkt, von dem aus die französische Geschichte als Geschichte der Dekadenz, die Geschichte PreußenDeutschlands dagegen als vorläufiger Gipfelpunkt dargestellt werden konnte. Ge-
13 Connerton: How Societies Remember, 1989, S. 39. 14 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Viertes Hauptstück, in: Ders.: Werke in drei Bänden, Darmstadt 1997, S. 625. 15 Friedemann Pestel: Versailles als memory building – Memory-building mit Versailles, in: Gregor Feindt et al. (Hrsg.): Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung, Göttingen 2014, S. 121–149.
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rade neue Generationen ermöglichen ihren Vorgängern sprachliche und symbolische Ausdrucksformen. Andererseits entwickeln neue Generationen ihr Bewusstsein in kritischer und häufig auch radikaler Ablehnung etablierter Eliten und Strukturen, wie anhand der Zeit nach 1918 und nach 1945 skizzenhaft umrissen werden kann. Nach dem Ersten Weltkrieg betrachteten sich weite Teile der deutschen Gesellschaft als Opfer. Sicherlich, über zwei Millionen Soldaten waren gefallen. Aber das Entscheidende war: Die Erinnerung an die Schmach von Versailles und die Dolchstoßlegende machten aus der Reichswehr ein verratenes Opfer und aus der improvisierten Demokratie von Weimar den Täter. Weimar erwies sich als unfähig, das Misstrauen von Eliten – und die ritualisierten Formen von Ehre, Nationalstolz und Führungssehnsucht – im zerbrechlichen Staatskörper zu meistern. Darüber hinaus war eine ganze Generation geprägt von verletzter Ehre und der Sehnsucht nach ‚wahrem Heldentum‘. Der jüdische Journalist und Jurist Sebastian Haffner (Jahrgang 1907) berichtet, wie er als Junge während des Ersten Weltkriegs fast täglich die Frontberichte las. 16 Nach Haffner war die Wurzel des Nationalsozialismus allerdings nicht das Fronterlebnis des Ersten Weltkriegs, sondern das Kriegserlebnis der deutschen Schuljungen. Die während der Dekade zwischen 1900 und 1910 Geborenen erlebten den Krieg – ganz ungestört von seinen tatsächlichen Ausmaßen – als großes Spiel der Strategie. Paradoxerweise ging mit dieser Erinnerung aber auch eine Form des Vergessens einher. Verletzte Ehre und die Selbststilisierung zum Opfer führten zu einer bis dahin unbekannten Form der Selbstaufgabe. Hermann Broch hat dies in seinem Roman Die Schlafwandler meisterhaft ausgedrückt.17 Konzentriert in drei Charakteren aus der Kaiserzeit werden Orientierungslosigkeit und Werteverfall beschrieben. Der soziale Querschnitt, der in den drei Bänden gezogen ist, erweist sich in allen Charakteren als Nazi-Nährboden. Am Ende der Trilogie wird der Wunsch des orientierungslos gewordenen Menschen nach einem ‚Führer‘ beschrieben. Dieser Führer formte letztlich eine Volksgemeinschaft auf dem Rücken eines Sündenbocks, der Juden. Diese Form von Selbstvergessenheit hat vielleicht Thomas Mann am eindrücklichsten erfasst. In seiner kurzen Schrift Bruder Hitler von 1938 beschreibt er die magnetische Anziehungskraft, die der „zu keiner Arbeit fähige DauerAsylist“ und „abgewiesene Viertelkünstler“ auf die Deutschen ausübte.18 Der große Führer wurde der Zeremonienmeister einer sich in Trance windenden und schüttelnden Volksmasse. Mann zog den Vergleich zwischen einer Massenversammlung der Nazis und einem Sakraltanz von Bali-Insulanern. Beide enden in vollkommener Trance und schrecklichen Zuckungen der erschöpften Teilnehmer. Schon kurz nach dem Zusammenbruch formulierte Thomas Mann das zentrale 16 Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, Stuttgart 2000, S. 22. 17 Hermann Broch: Die Schlafwandler, 8. Aufl., Frankfurt am Main 1994. 18 Thomas Mann: Bruder Hitler, in: Ders.: Achtung, Europa! Essays, Bd. 4: 1933–1938, Frankfurt am Main 1995, S. 305–314, hier S. 306.
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Problem der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg als das der Scham gegenüber der Außenwelt. In seiner Vorlesung Deutschland und die Deutschen in der Library of Congress am 20. Mai 1945 in Washington formulierte Mann die These, dass es nicht möglich sei, zwischen einem „guten“ und einem „bösen“ Deutschland zu unterscheiden.19 Es gebe eine untrennbare Verbindung, das Böse sei zugleich das Gute, das Gute auf Irrwegen und im Untergang. Er sagte aber auch: „Offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt“. 20 Praktisch zeitgleich zeigte Karl Jaspers auf, welche Folgen die Verurteilung der Deutschen durch die Weltmeinung für das Gewissen eines jeden einzelnen haben würde. „Ohne den Weg der Reinigung aus der Tiefe des Schuldbewusstseins ist keine Wahrheit für den Deutschen zu verwirklichen.“21 Auf keinen Fall dürften sich die Deutschen nun als stellvertretendes Opfer sehen. „Alle wirkliche Verwandlung geschieht durch Einzelne, in zahlreichen Einzelnen (...).“ Jaspers sprach sich vehement gegen die Kollektivschuldthese aus, vor allem, weil das Kollektivdenken einen größeren Solidarisierungseffekt unter den Deutschen hervorrufen könne. Deutschland nach 1945 und insbesondere die Bundesrepublik seit 1949 befand sich in einer welthistorisch völlig neuen Situation.22 Amnestie oder Vergessen waren unmöglich. Jahrzehnte später gibt es kaum ein anderes Land der Welt, in dem die auf eigene nationale Verbrechen bezogene Erinnerungskultur einen so prominenten Status besitzt. „Die Erinnerung darf nicht enden“, sagte Bundespräsident Roman Herzog, als Anfang 1996 der 27. Januar zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ erklärt wurde.23 Diese Einsicht dämmerte der öffentlichen Meinung allerdings nur allmählich. Der deutsche Stolz gab nicht so einfach nach. Zwar stellte Bundespräsident Theodor Heuss im November 1952 fest: „Wir Deutschen wollen, sollen und müssen (...) tapfer sein zu lernen gegenüber der Wahrheit (...). Wir haben von den Dingen gewusst“.24 Bis zum Ende der fünfziger Jahre bestimmten allerdings Beschweigen und Verdrängen den Schutzmechanismus des Vergessens. Aufgrund der Ungeheuerlichkeit des Erlebten und des Verschuldeten hatte es den Westdeutschen, aber auch den überlebenden Opfern, die Sprache verschlagen. Schon kurz nach dem Schock von 1945 wurden die Nöte der Gegenwart, Alltag und Notwendigkeit des Wiederaufbaus grundlegend für die Entwicklung eines für das Fortleben unerlässlichen Selbstgefühls. Dolf Sternberger sprach von einer vitalen Vergesslichkeit.25 Diese vitale Vergesslichkeit wurde konfrontiert mit dem Lebenshintergrund der nach dem Krieg Heranwachsenden. Trotz des Wirtschaftswunders und des ungeahnten materiellen Aufschwungs suchte die junge Generation der kurz vor 19 Zit. nach Aleida Assmann, Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 121. 20 Ebd., S. 122. 21 Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Zur politischen Haftung Deutschlands, München 1965, S. 80. 22 Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns, München 2010, S. 9. 23 Zit. nach ebd. 24 Ebd., S. 66. 25 Zit. nach ebd., S. 55.
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dem Krieg und während des Krieges Geborenen nach mehr als materiellem Wohlstand. Wenn die Generation der Väter Großes geleistet hat, werden grundlegende Werte größtenteils übernommen. Wenn die Vätergeneration kläglich versagt hat, kann der Generationenkonflikt sich verstärken. Die Tatsache, dass die meisten Deutschen heute die Kapitulation des nationalsozialistischen Regimes 1945 nicht als Niederlage der Nation, sondern als Befreiung von der Diktatur verstehen, ist primär auf den Generationenkonflikt nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzuführen.26 In Westdeutschland musste die Generation der Väter – welche Verantwortung in der Weimarer Republik und während des Naziregimes trug – mit individueller Schuld und Selbstanklage fertig werden. Die junge Nachkriegsgeneration dagegen musste nicht nur mit der militärischen Niederlage, sondern auch mit dem Stigma fertig werden, mit dem die Außenwelt die Deutschen belegte. Dieses Stigma wurde für die kurz vor und kurz nach 1945 geborene Generation zum Hauptantrieb dafür, patriotischen Ruhm und nationale Größe zu verwerfen. Die Selbstvergessenheit der Deutschen liegt in einer Uminterpretation der Kerntugenden des Deutschen Reiches: Führung, Ehre, Patriotismus und Nationalismus. Es ging um Sinnstrukturen und eine radikale Neuorientierung angesichts des Unfassbaren: Zum einen wurden die Älteren für die Zerstörung Deutschlands verantwortlich gemacht. Zum anderen wurden aber auch aufgrund der Scham vor der Weltöffentlichkeit die Schutzmechanismen der Ehre, des Stolzes und der Glorifizierung des aktiven Opfers für die Gemeinschaft abgelehnt. Der ererbte Hintergrund der imperialen Größe und der Nation wurde somit vergessen. In der Zeit der deutschen Teilung hat sich aber auch das Nationalgefühl gewandelt. Thomas Nipperdey sagte einmal, dass es in aller Welt als spezifisch deutsch gelte, zu sagen, man mache sich nichts daraus, Deutscher zu sein.27
Vergessen als ostmitteleuropäischer Seinsmodus Die (west-)deutsche Erinnerungskultur hat mittels der Anerkennung der Verantwortung für den Genozid den Maßstab für eine Politik der Reue auch im europäischen Rahmen gesetzt. Die Versuche, die Holocaust-Erinnerung als konstitutive Mythologie der europäischen Identität zu verankern, sind vielfältig. Autoren wie Claus Leggewie oder Aleida Assmann plädieren nicht für eine Überwindung, sondern für eine zivilisierende Aushandlung von Erinnerungskonflikten. Die Anerkennung von Unterschieden soll zum Vermittler einer neuen Form sozialer Integration gemacht werden.28 Mit der „Erklärung des Stockholmer Internationalen Forums über den Holocaust“ aus dem Jahr 2000 bekannten sich die Regierungen
26 Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989, S. 534f. 27 Zit. nach Meier: Das Gebot zu vergessen, 2010, S. 133. 28 Claus Leggewie, zusammen mit Anne Lang: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 7; Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?, Wien 2012.
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praktisch aller europäischer Staaten zum singulären Charakter des Holocaust, gefolgt von der Einführung des ebenso europäisch sanktionierten Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar. Nach der „Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus“ von 2008 richtete das Europäische Parlament den 23. August als „Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ ein. Die vermeintliche Anerkennung der Stalinismus-Erinnerung erfolgte allerdings innerhalb der Parameter des Gründungsmythos Holocaust. In der heutigen internationalen Menschenrechtskultur wird dem Bezugspunkt Holocaust eine zentrale Stellung, ja übermächtige und allgegenwärtige Funktion zugesprochen. In Ost- und Mitteleuropa hingegen ist gerade die Verletzung patriotischer Gefühle, der angestammten Räume und des Andenkens der eigenen Toten im Zentrum des kulturellen Gedächtnisses. Wie kann der ererbte Hintergrund in Ost- und Mitteleuropa erfasst werden? In diesem Kontext lag die Entwicklung kollektiver Identitäten in Ostmitteleuropa in einem Spannungsfeld zwischen einer gleichzeitig verspäteten und einer beschleunigten Moderne. Während im Westen Territorialität und relativ sichere Grenzen zu einer weitgehenden Übereinstimmung von Staatlichkeit und kollektiver Identität führten, ist Ostmitteleuropa von brüchigen Rahmen, unsicheren Grenzen und einem beständigen Gefühl existenzieller Bedrohung gekennzeichnet.29 Hier entbehrten das nationale Bewusstsein und das Streben nach Selbstbestimmung eines stabilen staatlichen Rahmens. ‚Kleine Völker‘ oder auch ehemals große Nationen wie Polen wollten innerhalb des Habsburger oder des Zarenreichs staatliche Identität schaffen oder wiedererlangen. Robert Musil stellte im Hinblick auf die multiethnische Zusammensetzung Österreich-Ungarns vor 1914 zutreffend fest: „Man stelle sich ein Eichhörnchen vor, das nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist, ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehen, dass es unter Umständen vor seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in solchem Verhältnis zu einander befanden sich aber die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Schreck von Gliedern, die einander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu sein“. 30 Ostmitteleuropa lässt klar fassbare und verlässliche Grenzen vermissen. Es stellt einen Schwellenzustand, eine Zwischenlage dar. György Konrád brachte es auf den Punkt: „Mitteleuropa ist (…) ein Zwischenzustand, etwas Intermediäres. Weder Westen noch Osten. Sowohl das eine als auch das andere. (…) Kleinere Völker zwischen zwei größeren, den Deutschen und den Russen. Unruhige kollektive Egos. Vorläufige, im Schwebezustand befindliche Identitäten zwischen instabilen, strittigen und mehrfach regulierten Staatsgrenzen. Warten auf etwas, warten auf eine absolut geklärte Zugehörigkeit“.31 29 Harald Wydra: Elemente einer politischen Psychologie des Raumes in Osteuropa, in: Sabine Feiner, Karl G. Kick, Stefan Krauß (Hrsg.): Raumdeutungen. Ein interdisziplinärer Blick auf das Phänomen Raum, Münster 2001, S. 113–147. 30 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, 10. Aufl., Reinbek 1999, S. 451. 31 György Konrád: Identität und Hysterie, Frankfurt am Main 1995, S. 141f.
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In der Sowjetunion brach Stalins Absicht, den Abstand zu Europa mittels Industrialisierung innerhalb von zehn Jahren zu verringern, einer Hypermodernisierung Bahn, die nach Aleksandr Solzhenitsyns treffender Charakterisierung in einem kontinuierlichen Verlust des Gedächtnisses mündete: „Wir vergessen alles. Was wir erinnern ist nicht, was tatsächlich geschah, nicht Geschichte, sondern lediglich diese abgedroschenen Phrasen, die sie beschlossen haben, durch endloses Hämmern in unser Gedächtnis zu treiben (…). Dies macht uns zu leichter Beute für Lügner“. 32 Zudem wurden die Fakten verzerrt. Anna Akhmatovas berühmte Zeilen in ihrem Requiem sagen es deutlich: „Ich wollte sie alle mit Namen nennen, doch man nahm mir die Liste, wer kennt sie noch“.33 Aus einer westlichen Perspektive sind Erinnerungen in Osteuropa mit einer Art Sozialpathologie gleichzusetzen. Es ist kein vereinzeltes Trauma, sondern eine Ereigniskette von Traumata. Die vielfachen Grenzveränderungen, Systemwechsel, Gebietsverluste und Fremdherrschaften haben Tony Judt zufolge zu einer Vielzahl von „Vergangenheitsinseln“ geführt, die mit Daten wie 1918, 1938, 1939, 1940, 1945, 1948, 1956, 1968, 1980, 1989 assoziiert sind.34 Jede dieser Vergangenheitsinseln ist eine eigentümliche Zwischenlage, eine Phase des Übergangs, ohne dass sie in klar umrissene und allgemein anerkannte Deutungen von Anfang oder Ende, von Sieg oder Niederlage gefasst werden könnte. In Polen und anderen Nationen Ostmitteleuropas bedeutete das Ende des Zweiten Weltkriegs beispielsweise gleichermaßen Befreiung und Niederlage, da die sowjetische Besatzung ein totalitäres System etablierte. Der Geist der Niederlage im Sieg führte nach 1945 zur Entstehung von Mythen eines nationalen Martyriums, aber gleichzeitig auch zu einer Heroisierung des Widerstandes. Darüber hinaus existiert eine deutliche Konkurrenzsituation im Hinblick auf das kollektive Leiden unter der Nazi-Besatzung. Die Polen streiten sich mit den Juden darum, wer das größte Martyrium erlitten habe.35 Auch 1989 blieb eine Zwischenlage. Trotz der Massendemonstrationen, die zum Sturz kommunistischer Regime führten, ist 1989 kein Meilenstein kollektiver Erinnerung. Die Ereignisse von 1989 sind im Verhältnis zu Bruchpunkten wie 1917 oder 1945 im öffentlichen Bewusstsein recht blass geblieben.36 Der polnische Schriftsteller Gustaw Herling-Grudziński wies darauf hin, dass Polen im Jahre 1989 einen kathartischen Bruch mit der Vergangenheit versäumte.37 Die gewaltlose Überwindung des Kommunismus verwischte vormals klare Trennlinien 32 Alexander Solschenitsyn: The Gulag Archipelago 1918-1956. An Experiment in Literary Investigation, Boulder 1998, S. 299. 33 Zit. nach Orlando Figes: Natasha’s Dance. A Cultural History of Russia, London 2002, S. 487. 34 Tony Judt: Die Vergangenheit ist ein anderes Land. Politische Mythen im Nachrkiegseuropa, in: Transit 6 (1993), S. 87–120, hier S. 103. 35 Piotr Wróbel: Double Memory: Poles and Jews after the Holocaust, in: East European Politics and Societies 11 (1997) 3, S. 560–574. 36 Padraic Kenney: What is the History of 1989? New Scholarship from East-Central Europe, in: East European Politics and Societies13 (1999) 2, S. 419–431. 37 Harald Wydra: Continuities in Poland’s Permanent Transition, Basingstoke 2001, S. 178.
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zwischen Freund und Feind, Opfern und Tätern, Richtern und Angeklagten. Neue Generationen in Russland, Polen oder in den baltischen Staaten – die kurz vor oder nach 1990 Geborenen –, haben kaum eine Grundlage, um in einen scharfen Generationenkonflikt mit ihren Großeltern über die Verbrechen des GULAG, in Katyń oder in den ukrainischen Bloodlands zu geraten. Der weitgehend gewaltfreie Kollaps des Kommunismus verhinderte eine klare Abrechnung mit der Elterngeneration. Die Zeit von 1989 bis zum Beitritt zur EU 2004 wurde somit zur Periode des Vergessens, in der Zeitbewusstsein und Zeitvorstellungen vor allem zukunftsgerichtet waren. Wie Paweł Wronski festellte: „Nach 1989 wollte meine Generation den alten Feldrock abwerfen (…). Wir sagten uns oft, dass die Geschichte natürlich wichtig sei, man aber ein neues Polen bauen müsse, dass der Bau von Autobahnen wichtiger als all die Feierlichkeiten, Gedenkveranstaltungen, Festmessen und Museen sei“. 38 Diese Unentscheidbarkeit über den Status der Vergangenheitsinseln im kollektiven Selbstverständnis der Nation befeuert den Wettbewerb zwischen der Bedeutung von Leiden und Märtyrertum, aber auch von Heroisierung und Glorifizierung in der eigenen Nationalgeschichte. Zwei Meistererzählungen markieren antikommunistische Erinnerungen im post-sowjetischen Ostmitteleuropa. Zum einen die Erzählung des kollektiven Leidens (als von der Sowjetunion unterdrückte Nationen), und zum anderen die Erzählung des kollektiven Widerstands (gegen Fremdherrschaft). Die Narrative des kollektiven Leidens sind konstitutiv für Gesellschaften, die sowohl die Herrschaft der Nationalsozialisten als auch des Sowjetkommunismus erfahren haben. Ein wesentlicher Grund für den Erfolg dieses Narrativs ist in der Korrektur westlicher Ansätze zu sehen, die die Unvergleichbarkeit des Holocaust und der Naziverbrechen herausstellen. Eine wichtige Studie untersuchte im Falle Estlands die Bedeutung des Narrativs des kollektiven Widerstands anhand des generationellen Hintergrunds estnischer Historiker.39 Unter neuen Bedingungen der staatlichen Unabhängigkeit Estlands nach 1991 verfolgen ehemals sowjetische Historiker verschiedene Forschungsstrategien. Abhängig von der Zugehörigkeit zu jeweiligen Generationeneinheiten sind Strategien wie Konformismus, Opportunismus, Rückzug oder passiver Widerstand zu erkennen. Die Interpretation estnischer Geschichte wird hierbei stark gekoppelt an Selbstrechtfertigung und Glorifizierung, aber auch an Verneinung beziehungsweise Distanz von dunklen Flecken estnischer Geschichte. Das Narrativ des kollektiven Widerstands glorifiziert zum Beispiel nationale Helden im Siegeskreuz am Talliner Freiheitsplatz (Vabaduse Väljak), das zu den Feierlichkeiten des 90. Jahrestages der Gründung der Estnischen Republik 2008 enthüllt wurde. Es erinnert an Freiheitskämpfer des Unabhängigkeitskrieges (1918–1920) und gleichzeitig an die Frei-
38 Zit. nach Marcin Napiórkowski: Der Warschauer Aufstand im Ringen um europäische Identität, in: Feindt et al.: Europäische Erinnerung, 2014, S. 179–204, hier S. 194f. 39 Meike Wulf, Patti Grönholm: Generating Meaning Across Generations: The Role of Historians in the Codification of History in Soviet and Post-Soviet Estonia, in: Journal of Baltic Studies 41 (2010) 3, S. 351–382.
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heitskämpfer aller folgenden Kriege, seien sie antisowjetische Partisanen, Esten in der finnischen Armee oder Esten in deutscher Uniform. Es kann nicht vergessen werden, aber es kann auch nicht erinnert werden. Wie Paul Connerton feststellte: zu erinnern, bedeute gerade nicht, Ereignisse in isolierter Weise zu erinnern, vielmehr die Fähigkeit zu entwickeln, eine sinnvolle narrative Sequenz zu formen. Im Namen eines bestimmten Narrativs wird der Versuch unternommen, andere, isolierte oder fremde Phänomene in einen Prozess zu integrieren.40 Können nationale Gemeinschaften Verbrechen anerkennen, können sie ihre Toten begraben? Trotz der großen Anstrengungen von Organisationen wie Memorial in Russland sind die Anerkennung oder gar Rehabilitation von Opfern stalinistischer Verbrechen in Russland rudimentär. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn schwarze Flecken der eigenen Vergangenheit unberücksichtigt bleiben und Schuldbewusstsein oft mit einer Selbststilisierung zum Opfer einhergeht. In einem Memorandum von 2008 wiesen prominente Historiker aus Ost- und Mitteleuropa darauf hin, dass diese Region neue historische Erfahrungen nach Europa brachte, die bis dahin im Westen ignoriert worden waren.41 Ihrer Auffassung nach hätten die etablierten westlichen Mitglieder der EU ihre Vergangenheit nicht vergessen. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, sie zu prüfen und somit gemeinsame Werte zu finden, die sie teilen konnten. Ost- und Mitteleuropäer hingegen konnten an dieser Konstruktion Europas nicht teilnehmen. Ihre Erfahrungen gemeinsamer Werte in Europa müssten zwangsläufig ‚dünner‘ sein, genauso wie ihr Verständnis informeller Regeln und Bedeutungen. Die Erweiterung der Europäischen Union erfordert die Konfrontation mit Fragen wie ‚Was ist die vollständige Geschichte Europas?‘ oder ‚Wie können wir mit verschiedenen Geschichten Europas fertig werden?‘.
Formen des Vergessens Lange Zeit stand außer Frage: Die Deutschen haben ihre kollektive Identität im späteren 20. Jahrhundert in hohem Maße mittels der Anerkennung historischer Schuld begründet. Seit einem Jahrzehnt sehen wir auch immer deutlichere Tendenzen zur Anerkennung des Leidens deutscher passiver Opfer des Bombenkriegs oder der Vertreibung. Das Selbstverständnis der Deutschen kann nicht mehr auf der Ritualisierung eines aktiven Opfers für die Gemeinschaft beruhen. Ganz im Gegenteil: Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde aus der vitalen Vergesslichkeit eine Erinnerungsarbeit. 40 Connerton: How Societies Remember, 1989, S. 26. 41 Wojciech Roszkowski et al: United Europe – United History: A Mission to Consolidate a Common Memory. Declaration by the Polish, Latvian, Lithuanian and Estonian MEPs at the European Parliament conference „United Europe, United History“, 22 January 2008, zit. nach Maria Mälksoo: The Memory Politics of Becoming European: The East European Subalterns and the Collective Memory of Europe, in: European Journal of International Relations 15 (2009) 4, S. 653–680, hier S. 657.
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Man könnte hier einwenden, dass die Konstruktion von kollektiver Identität Erinnerungsakte und Inszenierung von Erinnerung voraussetzt und deshalb Vergessen den „irrsinnigen Identitätswechsel“ (Jörg Friedrich) nur unvollkommen erfassen kann. Der skizzenhafte Vergleich der Hintergründe von Vergessenspraktiken in Ost und West steht allerdings in Einklang mit der kraftvollen These Paul Connertons, der ausführlich belegt hat, wie die Moderne vergisst.42 Connerton hat eindrucksvoll gezeigt, dass Grenzüberschreitungen der Moderne Anomie, Verlust und die Angst zu Vergessen nach sich zogen. Während das Erfahrungsgedächtnis an konkrete Räume gebunden ist, wurde gemeinschaftliches Leben in der Moderne weitgehend von lokalen Umständen getrennt. Erinnerungshandlungen sind in der Regel an einen spezifischen Ort gebunden oder mit ihm verbunden. Das mit einem Heimatgefühl verbundene Gewohnheitsgedächtnis (being ‚at home‘) ist verinnerlicht und sozusagen in einem Zustand zerstreuter Unaufmerksamkeit täglich erfahren. Dagegen sind offizielle Erinnerungsorte und Gedenkstätten häufig Ausdruck einer Angst vor Amnesie. Immer größere Siedlungskapazitäten sowie die wiederholte und oft beabsichtigte Zerstörung menschlicher Lebensräume produzierten Amnesie. Nach Connerton werden Denkmäler aus Angst vor dem Vergessen errichtet und umgekehrt erzeugt die Errichtung von Denkmälern Vergessen. Wie der Historiker Jay Winter es formulierte, sind Erlösung und das Heilige im 21. Jahrhundert tatsächlich nicht mehr in den Kathedralen zu finden, sondern in Kriegsdenkmälern, Gedenkstätten und Erinnerungsorten.43 Die selektive Geschichtskonstruktion von Ehrenmälern verdeckt allerdings zum Beispiel die Lebens- und Überlebensweise von Soldaten. Skulpturen verneinen Akte der Gewalt, der Aggression oder des Tötens. Blut, zerfetzte Körper- oder Leichenteile würden die falsche Art von Erinnerung suggerieren. Der Wunsch, mit Mahnmalen zu erinnern, „is precipitated by a fear, a threat, of cultural amnesia“.44 Die maßgebliche symbolische Referenz ist das passive Opfer, das von einer Gewaltdiktatur mit einzigartiger Zerstörungskraft misshandelt wurde. Was geschieht, wenn passive Opfer identitätsstiftend werden? Die Inanspruchnahme des passiven Opfers gilt nicht nur für diejenigen Opfer der Nazis, die dafür gezielt ausgesucht wurden.45 Sie gilt auch für diejenigen, die für die deutsche Nation kämpften. Dies wird besonders deutlich in der „Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ in Berlin, kurz: „Neue Wache“. Hier, wo bereits Preußen der Gefallenen der Napoleonischen Kriege, die Weimarer Republik der Gefallenen des Ersten Weltkriegs und die DDR der Opfer des Faschismus und Militarismus gedachte, wurde 1993 die Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik eingerichtet. Der Konsens in einer Bundestagsdebatte im Mai 1993 sah so aus: Die Neue Wache wird zum neuen zentralen Memorial, in der eine ursprünglich 37 Zentimeter kleine Plastik von 42 Paul Connerton: How Modernity Forgets, Cambridge 2009. 43 Jay Winter: Memory and Silence, Vortrag im Rahmen des Projekts „Memory at War“, Juni 2010, King’s College, University of Cambridge. 44 Connerton: How Modernity Forgets, 2009, S. 27. 45 Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten, Frankfurt am Main 2006, S. 232f.
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Käthe Kollwitz vergrößert werden soll. Bundeskanzler Helmut Kohl zufolge mahne „die Erinnerung an den Tod von Millionen unschuldiger Menschen (…) jeden einzelnen von uns, immer und überall aktiv für unsere freiheitliche Demokratie einzutreten“.46 Vor der Skulptur ist in den Boden folgende Inschrift eingelassen: „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“. Dies wirft eine Reihe von Problemen auf.47 Können Kriegsexzesse und selbst die vielen zivilen Opfer eines brutalen Angriffskrieges gleichgesetzt werden mit der Ausrottung einer ganzen ethnischreligiösen Gemeinschaft? Kann dies mittels einer Pietà ausgedrückt werden, das heißt mittels einer christlichen Symbolik, die eng an die Vorstellung von Erlösung geknüpft ist? Es findet aber auch eine Uminterpretation statt. Das aktive Opfer der Soldaten für die Nation und deren Menschen wird hier in Trauer und Ermahnung sozusagen umsymbolisiert. Es wird damit auch der Sinn dessen, was sehr viele deutsche Soldaten empfunden haben, umgewertet. Auf der anderen Seite ist mit Opfer natürlich primär das passive Opfer gemeint. Hier wird es problematisch, da die faktische Vernichtung der Juden und die Absichten der Nationalsozialisten in unangemessener Weise vermengt werden. Die Juden waren das passive Opfer schlechthin. Die nationalsozialistische Ideologie allerdings hatte den Juden gerade diese Rolle zuweisen wollen. Sie waren der Sündenbock, auf dessen Rücken die sogenannte Volksgemeinschaft der ‚reinen Deutschen‘ begründet werden sollte. Die Inanspruchnahme des Opferstatus ist einerseits eine Folge des Generationenwechsels. Viele Deutsche der vierten Nachkriegsgeneration versuchten das Tätertrauma damit zu überwinden, eine „nicht-deutsche deutsche“ (non-German German) Identität anzunehmen.48 Auf der Suche nach Unschuld und Befreiung vom Stigma geht es hier um die Opferidentifikation, die die Deutschen mit den Juden teilen wollen. Die Identifikation als Täter hatte sowohl Entlastungs- als auch Vorbildfunktion. Wenn die Deutschen als Alleinverantwortliche für unsägliche Gräuel geradestanden, könnten andere Nationen ihre Teilhabe daran relativieren. Andererseits wurde das deutsche Schuldbewusstsein vielerorts auch als ein Leitbild gesehen, so zum Beispiel hinsichtlich der Legimitationsstruktur des Verfassungspatriotismus. Jürgen Habermas hat den Begriff des Verfassungspatriotismus auf den „Schock der moralischen Katastrophe des Holocausts“49 bezogen. Jedoch war das Ziel nicht etwa der Schutz der Öffentlichkeit, sondern deren Reinigung. Der demokratische Diskurs sollte auf dem Schweigen und der rituellen Ehrfurcht vor den Schrecken des Holocaust gründen, ebenso in Schuld und Scham, aber auch im Stolz auf die Nachkriegserrungenschaften. Schließlich wurde Solidarität nicht für die Mitbürger, sondern eher für die Opfer empfunden.
46 Zit. nach Kathrin Landa: Die Neue Wache als zentrale Gedenkstätte im wiedervereinigten Deutschland, URL: http://www.hgb-leipzig.de/mahnmal/nw2.html, letzter Zugriff: 17.7. 2014. 47 Für eine Kritik siehe auch Meier: Das Gebot zu vergessen, 2010, S. 78. 48 Dirk A. Moses: Stigma and Sacrifice in the Federal Republic of Germany, in: History and Memory 19 (2007) 2, S. 139–180. 49 Jürgen Habermas: Grenzen des Neohistorismus, in: Ders: Die nachholende Revolution. Kleine Politische Schriften VII, Frankfurt am Main 1990, S. 149–156, hier S. 152.
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Tony Judt warnte bekanntlich vor dem kompensatorischen Überschuss an Gedächtnis seit 1989. Gerade wegen der häufigen Verzerrung historischer Fakten sei Vernachlässigung oder gar Vergessen für die Gesundheit der Gesellschaft notwendig.50 Nach Tony Judt geht es um „the austere passion for fact, proof, evidence, which are central to his vocation“.51 Hierbei wird übersehen, dass Historiker, genauso wie Politiker, Philosophen oder andere Interpreten sowohl Miterzeuger als auch Produkte des kulturellen Gedächtnisses sind. Die Hintergrunderfahrungen der westlichen Kultur der „Politik der Reue“ sind auch in der Kodierung und Ritualisierung historischer ‚Fakten‘ spürbar. Die Bloodlands, um Timothy Snyders plakativem Begriff zu folgen, können nur schwerlich der Typologie des Opfers entkommen.52 Snyders Absicht, den Zahlen und damit vermeintlich 14 Millionen Opfern Namen zu geben, scheint somit auf eine Strategie der vereinheitlichten Erinnerung mit ‚menschlichem Antlitz‘ abzuzielen. Auch wenn die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Sowjetkommunismus als ‚Einheit‘ betrachtet werden – oder gerade deshalb – ist diese Darstellung keinesfalls leidenschaftslos, sine ira et studio. Wenn die historische Aufarbeitung darin besteht, Fakten durch das Zählen von Opfern zu untermauern, baut der Historiker an der hegemonialen Struktur von Erinnerungsdiskursen. Denn Ost- und Mitteleuropa werden als der Schauplatz fixiert, wo Europas brutalste Regime ihre Morde verübten. Hier wird die Passivität als Opfer systematischen Massenmords zur einzigen Identität. „Die Heimatländer der Opfer lagen zwischen Berlin und Moskau; sie wurden zu den Bloodlands nach dem Aufstieg Hitlers und Stalins.“53 Der hegemoniale Diskurs bietet Dialog und Versöhnung an. Er ist aber auch ein Ausdruck der im Laufe der Zeit erfolgten Identifikation mit dem Opferstatus. Mit anderen Worten: Das kollektive und kulturelle Trauma des Holocaust kann zur Grundlage einer kosmopolitischen Identität werden.54 Der Rekurs auf das Trauma verdeckt allerdings die Vielschichtigkeit von komplexen Erfahrungen, die jeweils zu einem Bündel von Symptomen und vordefinierten Repräsentationen reduziert werden.55 Die ideologische Revolution des Traumakonzepts lag ursprünglich darin, die verwundeten Soldaten oder die Opfer eines Genozids nicht mehr als Verdächtige, als Menschen oder als kollektive Gruppen, sondern als legitime Opfer zu betrachten. Bei aller Notwendigkeit der moralischen Aufarbeitung und Gerechtigkeit wissen wir jedoch nichts, oder fast nichts, über die subjektive Innerlichkeit der Opfer. Der Opferstatus wird zur einzigen ‚persona‘. Wenn Leben also auf die Essenz eines traumatischen Ereignisses reduziert wird, dann verkürzt sie die Identität und macht die Anerkennung von Opfern – mit dem Ziel, Unschuldige zu schützen – gleichzeitig zum Objekt des 50 51 52 53 54
Tony Judt: Post-War. A History of Europe since 1945, London 2005, S. 829. Ebd., S. 830. Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2010. Ebd, S. 21. Daniel Levy, Natan Sznaider: The Holocaust and Memory in the Global Age, Philadelphia 2005. 55 Didier Fassin, Richard Rechtman: The empire of trauma. An inquiry into the condition of victimhood, Princeton 2009, S. 276–279.
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geteilten Gedächtnisses.56 Viele Beispiele – Industrieunfälle, Naturkatastrophen oder Kriegssituationen – bestätigen, dass Traumakontexte moralische Abgrenzungen vorbestimmen. Der zentrale Bezugspunkt in Lebensgeschichten der Leidenden ist immer das Trauma; dessen Artikulation geht auf Kosten der Vergegenwärtigung anderer Elemente individueller Erfahrung. In Ostmitteleuropa haben Praktiken des Vergessens auch die aktive Rolle der Opfer herausgestellt, gerade im Hinblick auf die Bedeutung für Europa. Anhand der Erinnerung an den Warschauer Aufstand vom August 1944 ist kürzlich gezeigt worden, wie dieses Ereignis strukturierend auf die polnische Wahrnehmung der EU-Erweiterung wirkte.57 Zum einen bildet das Narrativ des westlichen Verrats, symbolisiert durch Jalta und den Warschauer Aufstand, einen entscheidenden Baustein im polnischen Verständnis des eigenen Beitrags zur europäischen Identität. Zum anderen war die Erinnerung an den Aufstand innerhalb Polens geprägt von Perioden des Vergessens. In den vierziger und fünfziger Jahren diskreditierte die staatlich-offizielle Interpretation den Aufstand als Aktion der Bourgeoisie und stellte die Sinnlosigkeit dieses Aktes des Wahnsinns heraus. Die Emigrationspublizistik dagegen heroisierte den Aufstand und konstruierte ihn als zentrales Element eines Narrativs des fortdauernden Widerstandes. Die Erinnerung an den Warschauer Aufstand macht deutlich, wie der ererbte Hintergrund des Opferstatus und des kollektiven Leidens der Nation Erinnerungskonflikte prägt. Im heutigen Polen dagegen ist das Selbstverständnis als Opfer weiterhin den Narrativen des nationalen Existenzkampfes gegen Russland verhaftet. Im Falle Polens wirken Fremdherrschaft und die systematische Vernichtung polnischer Eliten während des Zweiten Weltkriegs auf die Urteilskraft hinsichtlich der Mitschuld an Judenvernichtung und Zwangsvertreibung anderer Nationalitäten ein. Der polnische Filmregisseur Andrzej Wajda resümierte die Schwierigkeiten, den Film Katyń zu drehen, im Hinblick auf eine doppelte Aufgabe. Zum einen galt es, das Verbrechen darzustellen, zum anderen, die Lüge, der die Nachkommen der Opfer in der Zeit der Volksrepublik nach 1945 ausgesetzt waren, zu dekonstruieren. Die in Moskau stattfindenden Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs nutzte Russland zur Selbstdarstellung als Befreier Europas, zum Entsetzen der ostmitteleuropäischen Staaten, die durch die auf der Konferenz von Jalta festgelegte Ordnung dem kommunistischen Machtbereich unterworfen worden waren. Angesichts des Flugzeugabsturzes bei Smolensk am 10. April 2010, bei der Präsident Lech Kaczyński und mehrere Dutzend hochstehende Politiker und Beamte ums Leben kamen, kristallisierten sich zwei konkurrierende Interpretationen heraus. Für viele war dies ein weiteres Heldenopfer im fortdauernden Kampf gegen das böse russische Imperium. Für andere war der von Kaczyński geplante, nicht offizielle Besuch und die Landung bei kritischen Wetterverhältnissen Ausdruck davon, dass im Grunde genommen Kaczyński diese Opfer auf dem Gewissen hat. Ein weiteres Beispiel: Die dreiteilige ZDF-Serie Unsere Mütter, unsere Väter wurde im März 2013 von ungefähr sieben Millionen Deut56 Ebd., S. 280–283. 57 Napiórkowski: Der Warschauer Aufstand, 2014.
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schen gesehen. In Polen erfuhr die Serie herbe Kritik. Es wurde den Deutschen vorgeworfen, sie litten an Gedächtnisschwund. Diese Kritik bezog sich vor allem auf die Darstellung der polnischen Heimatarmee. Während die Kampfhandlungen in Russland detailgetreu und historisch akkurat dargestellt worden seien, zeigten die Passagen über die polnische Heimatarmee vor allem deren Judenfeindlichkeit. Könne man da zwischen SS und den Polen noch unterscheiden? Diese Überempfindlichkeit ist wohl weniger eine Frage der fehlenden Sensibilität für die eigene Verantwortung, sondern der fehlenden Anerkennung sowohl des eigenen Leidens als auch des Widerstands geschuldet. Die Asymmetrien des geteilten Gedächtnisses in Europa reflektieren unterschiedliche Erinnerungskulturen in Berlin, Warschau oder Tallin. Um sie im Hinblick auf die Bewertung kollektiver Identitäten in Ost und West besser einordnen zu können, sollte sich die zentrale Frage nicht auf die Intensität des Leidens und die Zahl der Opfer richten. Die wesentlich wichtigere Frage ist: Was ist der ererbte Hintergrund, der über Generationen hinweg plurale und oft konfliktreiche Erinnerungsstränge hervortreten ließ? In welchem Maße müssen die Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit von Erinnerungsarbeit vom Blickwinkel der Zwischenlagen und Bruchpunkte aus verstanden werden, die Generationen als existenzielle Bestimmungen entwickeln? Die Teilung in Ost und West war nicht nur eine politisch-historische, sondern auch eine zivilisatorische. Diese Scheidelinie äußert sich im Selbstverständnis und in gegenseitiger Bewertung. Der westliche und etablierte Teil der Europäischen Union sah in der „Erweiterung“ der Union einen Ausdruck des Wohlwollens gegenüber den östlichen Nachbarn. Europa bedeutet hier „Westeuropa“, der freie und zivilisierte Teil, diesseits des Eisernen Vorhangs. In einer Binnenperspektive allerdings fühlten sich Polen, Tschechen, Balten oder Ungarn von jeher als integraler Bestandteil Europas. Sie gehörten schon dazu, also war der Begriff der Erweiterung letztlich entweder beleidigend oder sinnlos.
Schluss Somit ist das Problem des Ostens nicht so sehr, dem Erbe der doppelten totalitären Herrschaft in diesen Regionen zu entkommen. Vielmehr haben die Relativierung nationaler Größe und die Herausbildung eines Gründungsmythos unterschiedliche Formen des Vergessens ‚sichtbar‘ gemacht, die miteinander konkurrieren. Diese äußern sich in kollektiven Ritualen der Gedächtniskultur, Mahnmalen, in der Kulturpolitik oder in politisch-gesellschaftlichen Diskursen. Die Bewertung Ost- und Mitteleuropas ist dabei folgende: Erstens sei der Osten unfähig, die Vergangenheit zu bewältigen, zweitens wird der Beitrag des Ostens zur Überwindung der Teilung Europas nicht anerkannt. Wenn die Holocaust-Erinnerung als „Gründungsmythos“ für Europa bezeichnet wird, erhält Opfererinnerung eine universelle Containerfunktion. Sicherlich ist es Absicht des Dialogs, verschiedene und auch widersprüchliche Erinnerungen miteinander zu verbinden sowie auch das zerstöreri-
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sche Potenzial des geteilten Gedächtnisses zu verringern.58 Ziel ist es, eine Vielstimmigkeit zu erzeugen, ohne allerdings den zentralen Stellenwert der Erinnerung an den Holocaust in Frage zu stellen. Der ‚Preis‘ einer solchen Öffnung ist jedoch eine gewisse Entpolitisierung. Die Vorschläge zur gerechteren Austragung von Erinnerungskonflikten sind eine hegemonial strukturierte Form politischer Pädagogik. Die Holocaust-Erinnerung wird somit zur Erinnerungs- und Kulturpolitik, die vom westeuropäischen Modus des Vergessens geprägt ist und osteuropäische Praktiken und Deutungen des Vergessens missversteht oder zumindest nicht als legitim akzeptiert. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist kaum Raum für eine kreative Rolle ostmitteleuropäischer Gesellschaften in der Bewältigung der kommunistischen Herrschaft und der Teilung Europas. Dabei haben auch Osteuropäer dem Westen Lektionen im Hinblick auf Widerstand, Würde und Heldentum erteilt. Der Zusammenbruch des Kommunismus ist nicht vorstellbar ohne die gewaltlosen Reaktionen auf die gewaltsame Niederschlagung der Revolutionen 1956, 1968 oder auch das Kriegsrecht in Polen 1981. Dabei werden im Namen eines einzigartigen Opfers andere Erzählungen unterdrückt. Wie der frühere ungarische Premierminister József Antall es ausdrückte, hatte Osteuropa für den Westen den dritten Weltkrieg gewonnen, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Diese Liebe jedoch blieb im Westen unerwidert.59
58 Assmann: Auf dem Weg, 2012, S. 55–62. 59 Zit. nach Wydra: Continuities in Poland’s Permanent Transition, 2001, S. 138.
POSTSOZIALISTISCHE GEDENKMUSEEN ZWISCHEN NATIONALEN OPFERNARRATIVEN UND DER ‚EUROPÄISIERUNG DER ERINNERUNG‘ Ljiljana Radonic
Zusammenfassung: Anhand mit dem Zweiten Weltkrieg befasster postsozialistischer Gedenkmuseen wird untersucht, wie ‚doppelte‘ Okkupation und der Holocaust, Opfernarrative und Kollaboration in den jeweiligen Ländern verhandelt werden und welche Auswirkungen deren Bemühungen, der Europäischen Union (EU) beizutreten, darauf hatten. Wie rekurrieren diese Museen auf ‚europäische Standards‘ und von Holocaust-Museen ausgehende Trends? Auf Gedächtnis- und Museumstheorie aufbauend, werden die Ausstellungen und Museumskataloge großer staatlicher Museen miteinander verglichen. Eine Gruppe von Museen versucht für das eigene, anti-kommunistische Opfernarrativ bedrohlich erscheinende Aspekte des Nationalsozialismus einzudämmen, während in anderen Museen die ‚Anrufung‘ Europas und die ‚Europäisierung des Holocaust‘ vorherrscht. Abstract: On the basis of post-socialist memorial museums dealing with World War II the paper analyses how ‚double‘ occupation and the Holocaust, victims’ narratives and collaboration are represented in the respective countries and how this was influenced by the European Union (EU) accession process. How do the museums reflect ‚European standards‘ and trends set by Holocaust museums? Based on memory and museum studies the exhibitions und catalogs of state-funded museum are compared. While one group of museums tries to contain ‚threatening‘ aspects of the memory of Nazism so that it cannot compete with stories of Soviet crimes, in other museums the ‚invocation‘ of Europe and the ‚Europeanization of the Holocaust‘ predominate.
Die ungarische Regierung erklärte das Jahr 2014 zum Holocaust-Gedenkjahr. Anlässlich des 70. Jahrestags des Beginns der Deportationen der ungarischen Jüdinnen und Juden im April 1944 sollten landesweit Gedenkveranstaltungen abgehalten und Synagogen renoviert werden. Als ‚Höhepunkt‘ war die Einweihung eines Holocaust-Gedenk- und Bildungszentrums auf dem Gelände des ehemaligen Josefstädter Güterbahnhofs in Budapest geplant, von dem aus die Jüdinnen und Juden der Budapester Vorstädte deportiert wurden. In diesem „Haus des Schicksals“ soll jüdischer Kinder gedacht werden.1 Laut Mária Schmidt, der Direktorin des Budapester Museums Haus des Terrors, die mit der Leitung des neuen Projekts der Regierung Orbán betraut wurde, müsse man „die Herzen der Besucher berüh-
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Da die ungarische jüdische Gemeinde das Gedenkjahr boykottiert, aber weiter mit der Regierung über die verschiedenen umstrittenen Projekte verhandelt, stand im Juni 2014 noch nicht fest, ob das Projekt tatsächlich realisiert wird. Die Kritik setzt bereits bei dem Namen an, der die Shoa als „Schicksal“ bezeichnet.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 85–106
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ren, vor allem die der jungen Menschen. Die Tragödie des Holocausts muss für sie, die in der glücklichen Lage sind, Bürger eines freien demokratischen Landes zu sein, nacherlebbar werden.“2 Noch 1999 hatte Schmidt die Bedeutung dieser „Tragödie“ anders eingeschätzt: „Im Zweiten Weltkrieg ging es nicht um das Judentum, um den Völkermord. So leid es uns auch tut: Der Holocaust, die Ausrottung oder Rettung des Judentums war ein nebensächlicher, sozusagen marginaler Gesichtspunkt, der bei keinem der Gegner das Kriegsziel war.“3 Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, was in den vierzehn Jahren, die zwischen diesen beiden Aussagen liegen, passiert ist. Die Entwicklung in Ungarn steht aufgrund der aktuellen politischen Situation am Beginn dieser Analyse des Wandels der Vergangenheitspolitik in postsozialistischen Ländern. Darüber hinaus lassen sich die beiden Zitate aber als Hinweis auf eine Entwicklung verstehen, die als ‚Europäisierung der Erinnerung‘ bezeichnet werden kann. In postsozialistischen Ländern stehen dabei die Erinnerung an den Holocaust und jene an die sozialistischen Verbrechen beziehungsweise den Gulag in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Anhand vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg befasster postsozialistischer Gedenkmuseen wird untersucht, wie ‚doppelte‘ oder ‚dreifache‘4 Okkupation und der Holocaust, Opfernarrative und Kollaboration, in den jeweiligen Ländern verhandelt werden und welche Auswirkungen die EU-Beitrittsbemühungen auf dieses Aushandeln hatten. Wie werden also in nach 1990 neu gegründeten oder grundlegend überarbeiteten Gedenkmuseen Nationalsozialismus und Sozialismus im Spannungsfeld zwischen der ‚Europäisierung der Erinnerung‘ und nationalen Opfernarrativen repräsentiert? Wie rekurrieren diese Museen ferner auf ‚europäische Standards‘ und den von ‚westlichen‘ Holocaust-Museen ausgehenden Trend, das individuelle Opfer in den Mittelpunkt zu rücken? Es lassen sich – so die These des Beitrags – zwei Typen von Gedenkmuseen unterscheiden: jene, die ihre westlich-europäische Orientierung und ihre Ausrichtung nach nicht weiter bezeichneten ‚europäischen Standards‘ im Umgang mit der Vergangenheit unter Beweis stellen wollen und einen Fokus auf das individuelle Opfer legen; und jene, die von ‚Europa‘ die Anerkennung ihres Leidens unter dem Kommunismus verlangen, vordergründig Nationalsozialismus und Kommunismus symbolisch gleichsetzen, aber letztlich den Kommunismus als das größere Übel darstellen. 2 3
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Zit. nach Keno Verseck: Budapester Versprechungen, in: Jüdische Allgemeine, 24.10.2013. Zit. nach Magdalena Marsovszky: Zwischen Wahrheitsfindung und Amnesie: Das ‚Haus des Terrors‘ in Budapest, in: HaGalil, 7.6.2002, URL: http://www.hagalil.com/archiv/2008/06/un garn.htm, letzter Zugriff: 24.6.2014. Mit „doppelter Besatzung“ wird etwa im Haus des Terrors in Budapest die Okkupation durch das ‚Dritte Reich‘ im März 1944 und 1945 durch die Sowjetunion bezeichnet, während in den baltischen Ländern ‚dreifache‘ Okkupation die erste sowjetische Besatzung von Juni 1940 bis Juni 1941, die NS-Okkupation vom Juni 1941 bis zum Juli 1944 und die zweite sowjetische Besatzung ab 1944 meint. Zu beachten sind dabei die unterschiedlichen Arten der Machtergreifung der Kommunistischen Partei in den jeweiligen Staaten: etwa durch militärische Übermacht und schwerste Repressionen oder auf der anderen Seite in Tschechien, wo der Machtübernahme der Gewinn von 40 Prozent der WählerInnenstimmen durch die KP voranging.
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Schon der Begriff des memorial museum, der zunächst für Museen verwendet wurde, die nicht in situ, sondern etwa in den USA oder in Israel eröffnet wurden, verweist auf die Vorbildrolle dieser Holocaust-Museen. Mehrere postsozialistische Museen nahmen den Begriff nämlich später in ihren Namen auf, etwa das Jasenovac-Gedenkmuseum oder das Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest. Aber auch alle anderen hier untersuchten Museen kombinieren Gedenkelemente, wie eine ‚ewige Flamme‘ oder Tafeln mit den Namen aller Opfer, mit historischer Information und werden deshalb zu demselben Typus gezählt. Ein Gedenkmuseum scheint dabei ein Widerspruch in sich zu sein: „A memorial is seen to be, if not apolitical, at least safe in the refuse of history. (…) A history museum, by contrast, is presumed to be concerned with interpretation, contextualization, and critique. The coalescing of the two suggests that there is an increasing desire to add both a moral framework to the narration of terrible historical events and more in-depth contextual explanations to commemorative acts. That so many recent memorial museums (…) find themselves instantly politicized itself reflects the uneasy conceptual coexistence of reverent remembrance and critical interpretation.“5
Diese Museen sind an der Produktion von Wissen und Geschichte beteiligt. Sie stellen aus, wie eine Gesellschaft ihre Vergangenheit interpretiert, sind aber „keineswegs neutrale Räume der Wissensvermittlung und -popularisierung, die zeigen, wie ‚es‘ früher war, vielmehr manifestieren sich im Gezeigten kulturelle Muster, Ein- und Ausschlussmechanismen und – sozialwissenschaftlich gesprochen – soziale, ethnische oder religiöse In- und Outgroups.“6
Auf Gedächtnis- und Museumstheorie aufbauend, werden die Narrative der Ausstellungen und Museumskataloge sowie Publikationen von MuseumsvertreterInnen großer staatlicher Museen miteinander verglichen. In die Analyse einbezogen werden das Museum des slowakischen Nationalaufstands in Banská Bystrica, das Jasenovac-Gedenkmuseum in Kroatien, das Holocaust-Gedenkzentrum und das Haus des Terrors in Budapest, das Museum der Genozidopfer in Vilnius sowie das Museum der Okkupationen in Tallinn.
Universalisierung und ‚Europäisierung des Holocaust‘ Seit den 1990er-Jahren kann man eine ‚Europäisierung des Gedenkens‘ beobachten: Die bisher vorwiegend nationalen Geschichtsbilder, welche von nationalen Perspektiven und Opfermythen bestimmt sind, werden nun durch europäische Bezüge bereichert und damit transformiert. Diese Entwicklung ist eng verbunden mit der zunehmenden Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust, der als „nega-
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Paul Williams: Memorial Museums. The Global Rush to Commemorate Atrocities, Oxford 2007, S. 8. Monika Sommer-Sieghart: Historische Ausstellungen als „contested space“, in: Johannes Feichtinger (Hrsg.): Schauplatz Kultur – Zentraleuropa, Innsbruck 2006, S. 159–166, hier S. 159.
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tive Ikone“7 der Epoche ins Bewusstsein trat. ‚Universalisiert‘ wird er, weil sich die Erinnerung daran zusehends zu einem moralischen Imperativ für die gesamte Menschheit entwickelt.8 Für die EU besitzt diese Fokusverschiebung noch eine zusätzliche, identitätsstiftende Komponente, weshalb auch von einer ‚Europäisierung des Holocaust‘ gesprochen werden kann: Der Holocaust wird zu einem negativen europäischen Gründungsmythos.9 Das geeinte Europa nach 1945 wird als ‚Schicksalsgemeinschaft‘ begriffen, die aus dem ‚Zivilisationsbruch Auschwitz‘ eine Lehre gezogen und gemeinsame Strukturen entwickelt habe, um Ähnliches zu verhindern. In einer Zeit, in der nach einer europäischen Identität des neuen, vereinigten Europas gesucht wird, die über eine Wirtschafts- und Währungsunion hinausgeht, erfüllt dieser Gründungsmythos eine identitätsstiftende Wirkung. So fand zu Beginn des neuen Jahrtausends, am 27. Januar 2000, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, in Stockholm eine große internationale Holocaust-Konferenz statt, an der erstmals PräsidentInnen und RegierungschefInnen aus 46 Ländern teilnahmen.10 Ein Ergebnis war die Verpflichtung der teilnehmenden Länder, den 27. Januar oder ein anderes national bedeutsames Datum in Zusammenhang mit der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden zum Holocaust-Gedenktag zu erklären. Diese Entwicklung hat auch bei der EU-Osterweiterung eine, wenn auch nicht offizielle, Rolle gespielt.11 So wurde in Budapest wenige Wochen vor dem EU-Beitritt das Holocaust-Gedenkzentrum eröffnet, obwohl die ständige Ausstellung erst zwei Jahre später fertiggestellt werden konnte.
Gespaltene Erinnerung in Ost und West? Parallel zu dieser ‚Europäisierung des Holocaust‘ kam es in den postsozialistischen Staaten nach 1989 zu einem Neuaushandeln von Geschichte seitens der neuen Eliten. Zusammen mit der staatssozialistischen Gesellschaftsordnung wurde die Geschichtserzählung vom heldenhaften antifaschistischen Kampf delegiti7
Dan Diner: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007, S. 7. 8 Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2007. 9 Tony Judt: Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006, S. 966. 10 Jens Kroh: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main 2008. 11 Offizieller politischer Druck wurde hingegen zuvor beim NATO-Beitrittsprozess ausgeübt. So betonte ein Vertreter des US State Department 2003, der Beitritt zur Holocaust Task Force sei „part and parcel of the creation of a community of values in the Euro-Atlantic world. (…) We have in each of the seven NATO candidate-countries and in Central and Eastern Europe, more broadly, made clear that when you do business in an institution like NATO, you do it by appealing to the cooperation of your friends and allies on the basis of shared goals and values.“ Zit. nach James Mark: The unfinished revolution. Making sense of the communist past in Central-Eastern Europe, New Haven 2010, S. 112. Im Zuge des EU-Beitrittsprozesses setzten die Kandidatenländer rund um die große EU-Osterweiterung die symbolischen Akte hingegen ohne öffentliche Aufforderung der EU-Institutionen.
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miert. Im Zentrum der Erinnerung steht dort nun vielfach das Trauma der sozialistischen Verbrechen.12 Aber auch die in der sozialistischen Ära mit Ausnahme kurzer Liberalisierungsphasen tabuisierte Erinnerung an den Holocaust wurde nun möglich, stand jedoch in einem Konkurrenzverhältnis zu der ‚eigenen‘, spezifisch postsozialistischen Opfererzählung. VertreterInnen postsozialistischer Staaten fordern heute, die staatssozialistischen Verbrechen ‚in gleichem Maße‘ zu verurteilen wie den Holocaust. Die Zeit vor dem Staatssozialismus wurde nach 1989 und wird auch heute oftmals als ‚goldenes Zeitalter‘ nationaler Freiheit verklärt. So ähnlich diese Entwicklung in den postsozialistischen Ländern war, so entscheidende Unterschiede zeigen sich bei der Auswahl der für diese positive Bezugnahme geeignet scheinenden Periode. Während etwa Tschechien an das einzige durchgängig demokratische Staatssystem der Zwischenkriegszeit, Masaryks Tschechoslowakei, anknüpfte, beriefen sich Teile der slowakischen Gesellschaft und stärker noch die kroatische Öffentlichkeit in den 1990er-Jahren positiv auf die jeweiligen ‚unabhängigen‘ Staaten, die im Zweiten Weltkrieg als Satelliten des ‚Dritten Reiches‘ geschaffen wurden – wie auch die Besatzung durch die Nationalsozialisten in Litauen oder Lettland als Phase größerer nationaler Unabhängigkeit im Gegensatz zu der sowjetischen Okkupation erinnert wurde. James Mark hat in Bezug auf baltische Gedenkmuseen die These entwickelt, dass diese die Geschichte der nationalsozialistischen Besatzung als Rahmennarrativ für eine antikommunistische Geschichtsinterpretation verwenden. Den Prozess des „containing fascism“13 begreift Mark als den Versuch, als bedrohlich empfundene Aspekte der Erinnerung an den Nationalsozialismus so einzudämmen, dass diese nicht in Konkurrenz zu den Narrativen über sowjetische Verbrechen treten können. Als bedrohlich erscheint zunächst die Möglichkeit, dass das Ausmaß und die Art der nationalsozialistischen Verbrechen die Attraktivität des sozialistischen Systems erklären und Sympathien für die Idee der Sowjetunion als Befreier wecken könnten. Darüber hinaus bergen die Erinnerungen der Opfer des Nationalsozialismus die Gefahr, das Leiden während der sozialistischen Ära zu überlagern. Diese Konkurrenz ist besonders in staatlichen Gedenkmuseen präsent, in denen Identität repräsentiert und das offizielle Gedächtnis kanonisiert wird, die also das in einer Gesellschaft dominante Geschichtsnarrativ als Fundament der Gegenwart sichtbar machen. In einigen der hier analysierten Gedenkmuseen äußert sich diese ‚Eindämmung‘ darin, dass Kommunismus und Nationalsozialismus symbolisch gleichgesetzt werden, in den Ausstellungen anhand des Vergleichs der beiden Regime der Kommunismus aber als das größere Übel dargestellt wird. Die Diskussion über die Rolle von Museen als Repräsentanten und Vermittlungsinstanzen nationaler Identität geht mit einem Perspektivwechsel einher. Was vor 15 Jahren noch als Desiderat formuliert wurde, ist heute selbstverständlich: 12 Stefan Troebst: Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust. Konfligierende Erinnerungskulturen im größeren Europa, in: Bernd Faulenbach, Franz-Josef Jelich (Hrsg.): „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen 2006, S. 23–50. Vgl. auch den Beitrag des Autors in dieser Ausgabe des JPG. 13 Mark: The unfinished revolution, 2010, S. 93–125.
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Der Fokus auf die Opferperspektive hat im Wesentlichen Helden-, Märtyrer- und Widerstandsnarrative abgelöst.14 Hierbei muss man jedoch unterscheiden zwischen einem individualisierten Zugang, der das Leben ‚davor‘ mit einbezieht und Empathie ohne Identifikation erlaubt, und einem kollektiven Verständnis von Opfern als emotionalisierendes Symbol für nationales Leid. Der Fokus auf das individuelle Opfer muss dabei weder die Täterseite noch den sozialen Kontext ausblenden, da die Erinnerung die Frage nach der Art der und den Gründen für das Verbrechen impliziert. Der kollektive Zugang hingegen geht mit einer Externalisierung der Verantwortung einher, die zu einem „Europa der Opfer“15 führt.
‚Anrufung‘ Europas Bei einigen der in den letzten zehn Jahren eröffneten Ausstellungen in postsozialistischen Gedenkmuseen fällt die starke Rolle auf, die die ‚Anrufung‘16 Europas und die Argumentation mit ‚europäischen Standards‘ – unabhängig von dem unterschiedlichen inhaltlichen Fokus der Gedenkmuseen – spielen. Ein außerhalb der Slowakei kaum bekanntes Beispiel ist das 1969 eröffnete Museum des Slowakischen Nationalaufstandes in Banská Bystrica, dem Zentrum des Aufstands von 1944 gegen das ‚Dritte Reich‘ und das von Jozef Tiso angeführte slowakische Kollaborationsregime. Der Museumsdirektor meinte in der Konzeptualisierungsphase der 2004 eröffneten ständigen Ausstellung mit dem Titel „Slovak National Uprising – A Part of the Antifascist Resistance in Europe“, man müsse die Interessenssphäre des Museums erweitern, „um in der Lage zu sein, europäischen Standards zu entsprechen“.17 Der Aufstand wurde eingebettet in die Geschichte Europas seit 1918 – unter starker Betonung seiner Rolle im europäischen Wider-
14 Henry Rousso: History of Memory, Policies of the Past: What For?, in: Konrad H. Jarausch, Thomas Lindenberger (Hrsg.): Conflicted Memories. Europeanizing Contemporary Histories, New York 2011, S. 23–38, hier S. 32. 15 Ulrike Jureit: Olympioniken der Betroffenheit. Normierungstendenzen einer opferidentifizierten Erinnerungskultur, in: Katrin Hammerstein et al. (Hrsg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 108–119, hier S. 203. 16 Der Begriff Anrufung zielt hier auf das eigentümliche Verhältnis der postsozialistischen Ausstellungskonzepte zu den diffusen, nicht kodifizierten Normen, die die MuseumsleiterInnen als ‚europäische Standards‘ bezeichnen. Anrufung bezeichnet ganz allgemein den Appell an und zugleich die Berufung auf eine übergeordnete Instanz, ursprünglich in einer transzendent aufgefassten Hierarchie, um deren Legitimation und Zuspruch für das eigene Tun es geht. Das kann ein Heiliger sein oder eine Muse, ein mythisierter Herrscher oder eine abgehobene Gerichtsbarkeit. Wesentlich für die Anwendung des Begriffs im Kontext dieser Untersuchung ist zunächst nicht, dass es sich dabei historisch um vorbürgerliche Verhältnisse und Beziehungen oder religiös beziehungsweise ästhetisch bestimmte Verhaltensweisen handelt, sondern dass die Form der Anrufung unabhängig von der Form dessen, wofür sie erfolgt, bestehen kann, wie hier am Beispiel des slowakischen Museums gezeigt werden soll. 17 Ján Stanislav: Koncepcia Múzea Slovenského národného povstania, in: Museologica II (2001), Banská Štiavnica 2001, S. 95.
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stand, der internationalen Teilnehmer des Aufstandes und jener Tschechen und Slowaken, die in alliierten Verbänden im Exil kämpften. Während im Museum insgesamt das Heldennarrativ überwiegt und Waffen, Uniformen und Orden die Ausstellung dominieren, finden sich Gegenstände von Opfern aus Konzentrationslagern (KZ) fast ausschließlich in den zwei kurzen Abschnitten über den Holocaust und die Lager. Die Ästhetik der hellen und von Vitrinen voller zahlreicher 3D-Objekte geprägten Ausstellung wird dort durchbrochen: Die Stele mit Porträts von Holocaust-Opfern aus ihrem Leben ‚davor‘ erinnert stark an den „Tower of Faces“ im US Holocaust Memorial Museum. Dies sind die einzigen Ausstellungsteile, in denen individuelle Schicksale angedeutet werden, während etwa die Träger der über 300 ausgestellten Orden zwar meist namentlich genannt werden, als Individuen im Grunde aber keine Rolle spielen.
Abb. 1: Eine der vielen Vitrinen mit Orden im Museum des slowakischen Nationalaufstandes. © Ljiljana Radonic
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Abb. 2: Stele mit Privataufnahmen der Opfer im Holocaust-Abschnitt der Ausstellung. © Ljiljana Radonic
Dieser teilweisen Übernahme archetypischer Formen des Ausstellens von Holocaust-Geschichte und der ‚Anrufung‘ Europas steht ein stark nationalistisches Geschichtsnarrativ in jenen Teilen der Ausstellung gegenüber, die auf die slowakische Geschichte bezogen sind. So wird in Bezug auf die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit das demokratische Regierungssystem zwar erwähnt, aber es überwiegt eine negative Darstellung der ungelösten slowakischen Frage. Das habe in einer Art quasi-Automatismus zum Aufstieg der Hlinka-Partei von Josef Tiso geführt, da diese vor allen anderen Gruppierungen die slowakische Autonomiebewegung repräsentierte. Bei der Darstellung der Entstehung des nationalsozialistischen Satellitenstaates, der als „Slowakische Republik“ bezeichnet wird, steht die „offene Aggression Ungarns“ im Rahmen des sogenannten „Kleinen Krieges“ im März 1939 im Vordergrund – das erste in der Ausstellung präsentierte Opfer ist also ‚die Slowakei‘. Die „Slowakische Republik“ wird nicht in Anführungszeichen gesetzt, sondern es wird angedeutet, dass ein anfangs unabhängiger Staat mit einem funktionierenden Parlament existiert hätte, der sich erst nach und nach zu einem autoritären Regime entwickelt habe. So trägt das Panel über den Tiso-Staat auch den neutralen Namen „Political Life in Slovakia 1938-1944“. Darin findet sich nur ein Satz über Repressionen, ‚Errungenschaften‘ hingegen werden positiv hervorgehoben, ohne in Zusammenhang mit ersteren gestellt zu werden: „In spite of the authoritarian regime the Slovak Republic achieved many positive results in the areas of economy, science, schools and culture, owing to the war boom.“ Barbara Lášticová und Andrej Findor ist zuzustimmen, wenn sie betonen, dass das
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Museum im europäischen Geschichtskontext präsentiert wird, doch es ist anzuzweifeln, ob es als „cornerstone of the European cultural integration“18 betrachtet werden kann. Denn die ‚Anrufung‘ Europas findet hauptsächlich auf einer sprachlichen Ebene statt, die sich auf die Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nur bedingt auswirkt. Das Heldennarrativ und die Repräsentation ‚der Slowakei‘ als Opfer dominieren, während die Verbrechen des Tiso-Staates zwar korrekt benannt werden, aber keinerlei Auseinandersetzung mit der Ideologie der regierenden Hlinka-Partei stattfindet. In den Debatten im Vorfeld der 2006 eröffneten Ausstellung in der kroatischen Gedenkstätte Jasenovac auf dem Gelände des ehemaligen, von 1941 bis 1945 betriebenen Ustaša-Konzentrationslagers 100 Kilometer östlich von Zagreb fällt ebenfalls die ‚Anrufung‘ Europas auf.19 Im Vorwort des Museumskatalogs betont der kroatische Kulturminister die „spezifische Architektur der Ausstellung“ – eine Anspielung auf die Tatsache, dass die Ästhetik des Museums an ‚andere‘ Holocaust-Museen erinnert, obwohl in Jasenovac Jüdinnen und Juden bei weitem nicht die größte Opfergruppe waren und es sich deshalb auch um kein HolocaustMuseum handelt. Die Gedenkstätte gehöre zum europäischen Kulturerbe und symbolisiere eine Stätte, die nach Erinnerung strebe und das Lernen über die Geschichte einer Nation befördere, die „eigentlich immer mit der Welt und Europa kommuniziert“20 habe. Man habe die Ausstellung „in Zusammenarbeit mit internationalen Experten“ entwickelt, damit sie „international erkennbar und im Kontext internationaler Standards”21 zu verstehen sei, wird die Museumsdirektorin in einem Bericht über die neue Ausstellung zitiert. Im Gegensatz zum slowakischen Museum stehen hier deshalb, und aufgrund der Funktion des Museums im Rahmen einer KZ-Gedenkstätte, die individuellen Opfer im Vordergrund. Die Publikation des Museums enthält zahlreiche Fotografien der Opfer ‚davor‘ und weckt Empathie mit den individuellen Schicksalen, so dass bei der Betrachtung der Wunsch geweckt wird, die Bildunterschrift werde einem verraten, dass dieses eine jüdische Paar, das eine serbische Mädchen oder die eine Partisanenkämpferin überlebt hat. Neben Videos mit Überlebendenberichten sind Glastafeln mit Namen der Opfer, die über den Köpfen der BesucherInnen von der Decke hängen, ein zentrales Element der Ausstellung. Damit stehen Gedenken und Information über histori18 Barbara Lášticová, Andrej Findor: From Regime Legitimation to Democratic Museum Pedagogy? Studying Europeanization at the Museum of the Slovak National Uprising, in: Sophie Wahnich, Barbara Lášticová, Andrej Findor (Hrsg.): Politics of Collective Memory. Cultural Patterns of Commemorative Practices in Post-War Europe, Wien 2008, S. 237–257, hier S. 237. 19 Zu einer ausführlichen Analyse des slowakischen und kroatischen Museums vgl. Ljiljana Radonic: Slovak and Croatian invocation of Europe: the Museum of the Slovak National Uprising and the Jasenovac Memorial Museum, in: Nationalities Papers: The Journal of Nationalism and Ethnicity 42 (2014) 3, S. 489–507. 20 Vorwort von Božo Biskupić, in: Tea Benčić-Rimay (Hrsg.): Spomen područje Jasenovac. Jasenovac 2006, S. 5. 21 Ohne Autor/in: Seminar s međunarodnim stručnjacima, in: Vjesnik, 14.2.2004.
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sche Fakten unmittelbar nebeneinander, während die meisten anderen Gedenkmuseen, auch jene in situ wie etwa Theresienstadt, diese beiden Elemente räumlich voneinander trennen. Die „internationalen Experten“, die das Ausstellungskonzept begleiteten, arbeiten ferner meist nicht in KZ-Gedenkstätten, sondern im AnneFrank-Haus, dem US Holocaust Memorial Museum und Yad Vashem – also in Stätten, die die Empathie für die Opfer in den Vordergrund stellen. Doch in Jasenovac führt dieser Fokus auf individuelle Opferschicksale dazu, dass die TäterInnen kaum eine Rolle spielen. Eine der ersten Ausstellungstafeln zeigt den UstašaFührer Ante Pavelić bei seinem Besuch bei Hitler im Juni 1941, bei dem Hitler ihm seine „volle Unterstützung für die Politik des Genozids an der serbischen Bevölkerung“ gegeben habe, so die Bildunterschrift. So wichtig es ist, die Shoa in Kroatien in den Zusammenhang der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden zu stellen, so sehr wirkt dieser prominente Verweis auf Hitler als Externalisierung der Verantwortung für den Massenmord an der serbischen Bevölkerung. Während ferner zumindest der Erklärungstext eines Ustaša-Plakats versucht,22 Antisemitismus zum Thema zu machen, finden sich in der Ausstellung keine Erklärungen für den Hass auf SerbInnen und Roma. Ähnlich wie in Banská Bystrica wird nach der Ustaša-Ideologie nur kurz im Buchbeitrag über die serbischen Opfer gefragt.23 Die Tatsache, dass es ein Ausnahmefall war, dass die Ustaša selbständig, ohne nennenswerte Unterstützung durch das ‚Dritte Reich‘ im Zentrum des Landes ein Vernichtungslager betrieben, wird nicht thematisiert.
22 Ljiljana Radonic: Europäisierung der Erinnerung an das kroatische KZ Jasenovac. Wie europäisch sind post-sozialistische Gedenkmuseen?, in: Themenportal Europäische Geschichte, 6.3.2012, URL: http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__538/mid__11428/4 0208214/default.aspx, letzter Zugriff: 24.6.2014. 23 Drago Roksandić: O tragediji, traumi i katarzi: Srbi u Jasenovačkom logoru, 1941.-1945. godine., in: Benčić-Rimay, Spomen područje Jasenovac, 2006, S. 72–93, hier S. 83.
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Abb. 3: Die 2006 eröffnete ständige Ausstellung im Jasenovac-Gedenkmuseum, Kroatien. © Ljiljana Radonic
Abb. 4: Die 2006 eröffnete ständige Ausstellung im Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest. © Ljiljana Radonic
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Vergleicht man die Ästhetik mit dem Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest, so fällt auf, wie ähnlich beide sind: dunkle Räume, in Weiß gehaltene Namen der Opfer auf schwarzem Hintergrund, wenige Opfergegenstände in Glasvitrinen. Jasenovac sieht also wie ein Holocaust-Museum aus – doch SerbInnen waren die bei weitem größte Opfergruppe. Die ‚Universalisierung des Holocaust‘, das Thematisieren einzig des Antisemitismus und der Fokus auf individuelle Opferschicksale, erlaubt hier eine Vermeidung der Auseinandersetzung mit der Spezifik der Ustaša-Vernichtung. Die Erinnerung an den Massenmord an den SerbInnen erscheint nach dem Jugoslawien-Krieg der 1990er-Jahre schwieriger als die Anwendung allgemeinerer ‚europäischer Standards‘. Erst nach langen öffentlichen Debatten wurden den im ursprünglichen Konzept vorgesehenen, auf einem Bildschirm im Eingangsbereich durchlaufenden Opfernamen die Nationalität und das Alter der Opfer hinzugefügt. KritikerInnen hatten die Erinnerung an das individuelle Opfer als Ausblendung des historischen Kontextes, der Täterperspektive, der unterschiedlichen Gründe für die Verfolgung und der ethnischen Zugehörigkeit der Opfer bemängelt.24 Diese Debatten zeigten prägnant die Ambivalenzen der ‚Europäisierung des Holocaust‘ auf. Während in Jasenovac der Fokus auf das individuelle Opfer zu einer weitgehenden Ausblendung der Täter führt, finden sich im Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest beide Perspektiven. In der 2006 auf dem Gelände einer renovierten Synagoge eröffneten ständigen Ausstellung begleiten die Geschichten von vier jüdischen und einer Roma-Familie die BesucherInnen von Raum zu Raum, durch die Phasen der Entrechtung, Enteignung, Beraubung der Freiheit, der menschlichen Würde und des Lebens. Parallel dazu wird TäterInnen viel Raum eingeräumt, neben dem Eichmann-Kommando insbesondere dem autoritären und antisemitischen Regime von Miklós Horthy (1920–1944), den ungarischen Gendarmen, der Kirche und Gesellschaft. Einmalig für postsozialistische Gedenkmuseen sind drei Fotos, die die ungarische Bevölkerung bei der Plünderung von Ghettos zeigen und somit die bereitwillige Bereicherung auch visuell dokumentieren. Dieses erste Holocaust-Museum in Ostmitteleuropa orientiert sich in seiner Ästhetik am US Holocaust Memorial Museum und verfolgt ein Programm „basierend auf Museumstechniken aus Westeuropa“, so der neue Direktor, Szabolcz Szita.25 Regina Fritz und Imke Hansen ist zuzustimmen, dass die Ausstellung „nationsspezifische Geschichtsnarrative“ aufweist.26 Doch dies äußert sich nicht – wie sie unter anderem behaupten – darin, dass „entgegen der sonst sehr kritischen Ausstellungsnar24 Boris Pavelić: Mučni i polemički tonovi rezultirali raspadom javne rasprave o novome postavu Muzeja Jasenovac, in: Novi List, 23.2.2006. 25 Zit. nach Judit Molnár: Pictures at an Exhibition. The Story of the Permanent Holocaust Exhibition From Deprivation of Rights to Genocide, 2004–2011, in: Forum Geschichtskulturen, 1.3.2012, URL: http://www.imre-kertesz-kolleg.uni-jena.de/index.php?id=296, letzter Zugriff: 24.6.2014. 26 Regina Fritz, Imke Hansen: Zwischen nationalem Opfermythos und europäischen Standards. Der Holocaust im ungarischen Erinnerungsdiskurs, in: Jan Eckel, Claudia Moisel (Hrsg.): Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008, S. 59–85, hier S. 80.
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ration in der im Raum ‚Entrechtung‘ gezeigten Dokumentation die Verantwortung von Reichsverweser Horthy marginalisiert wird.“27 Es ist kein „Widerstandsmythos“, sondern entspricht dem Stand der Forschung, dass Horthy und Ministerpräsident Miklós Kállay (1942–1944) nach der vernichtenden Niederlage bei der Schlacht am Don 1943 „die Möglichkeit eines Separatfriedens mit den Westmächten zu sondieren“28 begannen, wie auch Fritz selbst später ausführt.29 Im Gesamtzusammenhang der Ausstellung wird deutlich, dass Horthy jahrzehntelang eine antisemitische Politik betrieb, ohne welche die Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden so nicht stattgefunden hätte. Der problematische Versuch einer Rücksichtnahme auf den nationalistischen Diskurs in Ungarn findet sich hingegen an anderer Stelle. Es handelt sich hierbei um die Bemühung, zu unterstreichen, wie integriert und wichtig für Ungarn „die Juden“ waren. Dass sie als „ungarische Staatbürger“ oder „zu Juden erklärte ungarische Staatsbürger“ bezeichnet werden, muss als Reaktion auf die in Ungarn seit langem geführten Debatten über die Frage verstanden werden, ob Jüdinnen und Juden als zur ungarischen Nation zugehörig betrachtet werden können. Deshalb wird in der Ausstellung betont, dass sich eine „überwältigende Mehrheit“ der ungarischen Jüdinnen und Juden als Angehörige der ungarischen Nation, ihrer Sprache und Kultur, sowie als „Ungarn mosaischen Glaubens“ verstanden hätten. Sie seien „loyale Staatsbürger“ gewesen und hätten eine große Rolle bei der Modernisierung Ungarns gespielt. Rabbi Löw, dessen Biografie exemplarisch für andere Opferschicksale in der Ausstellung vorgestellt wird, habe auf Ungarisch gepredigt und die ungarische Sprache und Literatur als unverzichtbar für die von ihm eingerichtete ungarische Schule erklärt. Sein Sohn wird als Symbolfigur der integrierten Juden vorgestellt, während in Bezug auf die Orthodoxen Begriffe wie „alt“, „traditionell“, „streng“ und „altertümliche Regeln“ verwendet werden.30 Auch wenn das Museum damit dem nationalistisch-revisionistischen Narrativ bewusst widerspricht, lässt sich diese Argumentation auch so lesen, dass man ‚die Juden‘ nicht hätte umbringen dürfen, weil sie so gut integriert gewesen wären und so einen wichtigen Beitrag für Ungarn geleistet hätten. Hier drückt sich im Budapester Holocaust-Gedenkzentrum die Spannung zwischen einer ‚Europäisierung der Erinnerung‘ und dem nationalen Geschichtsnarrativ aus, doch es ist unter den hier untersuchten Gedenkmuseen das am stärksten von einem ‚negativen Gedächtnis‘31 geprägte, also einer Auseinandersetzung vor 27 Ebd. 28 Christian Gerlach, Götz Aly: Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden, Stuttgart 2002, S. 84f. 29 Regina Fritz: Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit 1944, Göttingen 2012, S. 54, 58, 68. 30 Birga Meyer: The Universal Victim!? Representing Jews and Roma in European Holocaust Museums, in: Nordic Research Network in Memory Studies (Hrsg.): Towards a Common Past? Conflicting Memories on Contemporary Europe, Lund 2014 (im Druck). 31 Charakteristisch für solch eine Form des Erinnerns ist, „dass Schuld und Verantwortung nicht mehr verleugnet, abgeschoben oder überdeckt werden, sondern dass sie zu Anlässen kritischer gesellschaftlicher Selbstreflexion und Selbstvergewisserung gemacht werden. Solche
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allem mit den vom eigenen Kollektiv begangenen und nicht den erlittenen Verbrechen. Budapest ist aber auch die einzige Stadt in unserem ostmittel- und südosteuropäischen Sample, die gleich zwei große staatliche Museen vorweisen kann, die in ihrem Umgang mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges unterschiedlicher nicht sein könnten. Im Vergleich mit dem Haus des Terrors, das das offizielle Geschichtsnarrativ der Regierung Viktor Orbán repräsentiert, wird deutlich, dass das – ebenfalls von der Orbán-Regierung in die Wege geleitete – HolocaustGedenkzentrum zwar ein wichtiges Angebot für Holocaust-Education ist, aber auch ein Signal an ‚Europa‘. So war mehrere Jahre nach der Eröffnung des Museums die Startseite der offiziellen Website auf Englisch und man musste erst auf die kleine ungarische Fahne klicken, um zur ungarischsprachigen Version zu gelangen. Das Haus des Terrors ist hingegen das einzige der untersuchten Museen, dessen Ausstellung nur auf Ungarisch ist, sich also ausschließlich an ein einheimisches Publikum richtet.
„Containing Nazism“ Im Gegensatz zu den oben vorgestellten Museen, die ihr ‚Europäischsein‘ in den Vordergrund stellen, unter anderem dem Holocaust gewidmet sind und die kommunistischen Regime nach 1945 weitgehend ausblenden, scheint in einer Reihe anderer Museen die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus/Stalinismus im Vordergrund zu stehen.32 So dominiert bereits auf der Fassade des 2002 im Kontext des Wahlkampfs von Viktor Orbán eröffneten Hauses des Terrors und in dessen Eingangshalle die Parallelisierung des Symbols der Pfeilkreuzler33 mit dem roten Stern.
Erinnerung doppelt das Negative ebenso wenig wie sie – ein oft gehörter Einwand aus nationalistischer Perspektive – durch Selbstkritik Selbstbewusstsein schwächt. Vielmehr transzendiert sie die negative Vergangenheit durch bewusstes Überwinden ihrer politischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen, so dass Gegenwart und Zukunft der Wiederholung ähnlicher Untaten entgegenstehen.“ Volkhard Knigge: Europäische Erinnerungskultur. Identitätspolitik oder kritisch-kommunikative historische Selbstvergewisserung, in: Kulturpolitische Gesellschaft e.V. (Hrsg.): kultur.macht.europa – europa.macht.kultur. Begründungen und Perspektiven europäischer Kulturpolitik, Bonn 2008, S. 150–161, hier S. 157. 32 Eine dritte Variante des Umgangs mit dem Zweiten Weltkrieg stellen unter den ostmittel- und südosteuropäischen Staaten Rumänien und Bulgarien dar, in denen es keine großen staatlichen Gedenkmuseen zum Zweiten Weltkrieg gibt. In Bulgarien wurden etwa Anfang der 1990er-Jahre die zuvor zahlreichen Museen des antifaschistischen Kampfes und der sozialistischen Revolution für eine Überarbeitung geschlossen, seitdem aber nicht wiedereröffnet, was mit dem Fehlen eines deutlichen Bruchs mit dem sozialistischen Regime und einer Agonie im Umgang mit der Vergangenheit erklärt werden kann. Vgl. Nikolai Vukov: The „Unmemorable“ and the „Unforgetable“. „Museumizing“ the Socialist Past in Post-1989 Bulgaria, in: Oksana Sarkisova, Péter Apor (Hrsg.): Past for the Eyes. East European Representations of Communism in Cinema and Museums after 1989, Budapest 2008, S. 307–334. 33 Im März 1944 marschierte die Wehrmacht in Ungarn ein, doch Horthy blieb bis zur Machtergreifung der ungarischen Nationalsozialisten, die 1939 von Ferenc Szálasi gegründet wurden
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Abb. 5: Das Haus des Terrors in Budapest. © Ljiljana Radonic
Doch sind der Pfeilkreuzler-Herrschaft (auf die die Kollaboration mit dem Nationalsozialismus im Wesentlichen unter Verklärung Horthys34 reduziert wird) nur zwei, der kommunistischen Ära jedoch zwanzig Räume gewidmet.35 Der Holocaust wird bloß durch eine Videoprojektion der eisigen Donau symbolisiert, in die die von den Pfeilkreuzlern erschossenen Budapester Jüdinnen und Juden fielen. Die Deportationen beinahe aller anderen ungarischen Jüdinnen und Juden, die noch unter Horthy stattfand, wird hingegen ausgeblendet. Juden werden als Anführer des kommunistischen Regimes der 1950er-Jahre dargestellt, während nicht erwähnt wird, dass sie auch Opfer des kommunistischen Terrors nach 1945/48 wurden.36 Die Erinnerung an die Kollaboration mit dem Nationalsozialismus wird und sich ihrem Symbol entsprechend ‚Pfeilkreuzler‘ nannten, im Oktober desselben Jahres an der Macht. 34 Im Museumskatalog wird der autoritäre und antisemitische Charakter des Horthy-Regimes ausgeblendet: „1944 standen an der Spitze des Landes ein gewähltes, legitimes Parlament und eine ebensolche Regierung, oppositionelle Parteien waren legal tätig, ihre Abgeordneten saßen in den Vertretungen. Trotz der kriegsbedingten Beschränkungen gab es die Pressefreiheit. Die ungarischen Bürger lebten besser und freier als ihre Nachbarn.“ Mária Schmidt: Haus des Terrors. Andrassy Straße 60, Budapest 2003. S. 6f. 35 Jeffrey Blutinger: An Inconvenient Past: Post-Communist Holocaust Memorialization, in: Shofar. An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies 29 (2010) 1, S. 73–94, hier S. 83. 36 Krisztián Ungváry: Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit in der heutigen ungarischen Erinnerungskultur, in: Faulenbach, Jelich (Hrsg.): „Transformationen“ der Erinnerungskulturen, 2006, S. 201–220, hier S. 214.
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im Sinne von James Mark ‚entschärft‘. Mit der Behauptung, die Pfeilkreuzler hätten nach dem Krieg ihre Uniformen aus- und die kommunistischen angezogen, die in einem Video von einem Schauspieler sogar bildlich nachvollzogen wird, wird eine Kontinuität der beiden Regime und ihrer Schergen insinuiert – und eine ungarische kollektive Opferschaft begründet. Die Verantwortung für alle Verbrechen wird auf äußere Mächte und wenige einheimische Täter externalisiert, ‚die Ungarn‘ hingegen als bloße Opfer begriffen – auch diejenigen, die im Zweiten Weltkrieg Verbrechen begangen hatten, aber später Opfer des kommunistischen Regimes wurden. Auch dieses Opfernarrativ verwendet Symbole, die im ‚Westen‘ vor allem mit dem Holocaust assoziiert werden, so symbolisiert etwa ein Raum mit Bildschirmen, die wie Fenster eine vorbeiziehende Landschaft darstellen, einen Deportationswaggon. Diese Doppeldeutigkeit der Symbole, die an Holocaust und Gulag erinnern, hat jedoch nicht per se etwas mit einer Opferkonkurrenz zu tun, denn für beide Opfergruppen stehen Schienen und Eisenbahnwaggons für das Erlebte. Eine Irritation über deren Verwendung für etwas anderes als für Holocaust-Erinnerung sagt wohl etwas über die im ‚Westen‘ dominante ‚Universalisierung der Holocaust-Erinnerung‘ als moralische Negativikone und vielleicht auch über mangelnde Kenntnis über und Empathie mit Opfern kommunistischen Terrors aus. Im Haus des Terrors werden jedoch auch andere, aus dem Holocaust-Gedenken bekannte ästhetische Elemente übernommen. So findet sich in dem großen Eingangsraum über einem sowjetischen Panzer (der die Fragen von Täter- und Opferschaft plakativ vorab beantwortet) eine über alle Stockwerke reichende Wand mit Porträts der Opfer. Doch diese an den „Tower of Faces“ im US Holocaust Memorial Museum in Washington erinnernde Installation erweist sich bei der Analyse des Ausstellungsnarrativs nicht – wie bei seinem archetypischen Vorbild – als Ausdruck einer Individualisierung der Opfer, sondern als überwältigende Verdeutlichung des kollektiven Opferstatus ‚der Ungarn‘. Mark hat den Mechanismus der Eindämmung der für das eigene Opfernarrativ bedrohlich erscheinenden Aspekte des Nationalsozialismus vor allem am Beispiel des Museums der Genozidopfer in Vilnius herausgearbeitet.37 Das Gebäude hatte zunächst als Gefängnis des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKVD), dann als Gestapo- und schließlich als KGB-Gefängnis gedient, seit 1992 jedoch nur die beiden sowjetischen Besatzungen Litauens 1940– 41 und erneut 1944 zum Thema gehabt, bevor – als Ausdruck der ‚Europäisierung des Holocaust‘ – 2011 eine kleine Holocaust-Ausstellung hinzugefügt wurde. Davor thematisierten verschiedene AutorInnen, dass im Museum eine Lücke von drei Jahren klaffe, das chronologische Narrativ von 1941 zu 1944 springe.38 Im
37 James Mark: Containing Fascism. History in Post-Communist Baltic Occupation and Genocide Museums, in: Wahnich, Lášticová, Findor: Politics of Collective Memory, 2008, S. 335– 369. 38 Hanna Kuusi: Prison Experiences and Socialist Sculptures – Tourism and the Soviet Past in the Baltic States, in: Auvo Kostiainen, Taina Syrjäniaa (Hrsg.): Touring the Past. Uses of History in Tourism, Savonlinna 2008, S. 105–122, hier S. 108.
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Museumskatalog wird die Geschichte des Hauses als Gestapo-Gefängnis schlicht unterschlagen und die drei Jahre zwischen den beiden sowjetischen Besatzungen werden einzig mit den Worten „after the three-year-long occupation by Nazi Germany“39 zusammengefasst. Einzig auf der letzten Seite des Katalogs werden in der vergleichenden Tabelle der Opferzahlen während der drei Besatzungen rund 200.000 während der Besatzung durch die Nationalsozialisten getötete Juden in Klammern erwähnt. An dieser mit „Losses during the occupation“40 betitelten Tabelle zeigt sich auch, wie ‚bedrohlich‘ die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus (NS) für die Erzählung vom Sowjetkommunismus als dem größten Übel für Litauen ist, denn durch die Inklusion der jüdischen Opfer übersteigen die Opferzahlen aus der dreijährigen nationalsozialistischen Besatzungszeit bei weitem jene der insgesamt 48-jährigen sowjetischen Okkupation. Lange Jahre wurde in diesem litauischen Museum nach dem versteckten kommunistischen Exekutionsraum gesucht, der schließlich 2000 im Keller des seit den 1950er-Jahren zu einem KGB-Archiv umgewidmeten Gebäude freigelegt wurde. Dies beschreibt Hanna Kussi als Bemühung, 51 Jahre der Okkupation aufzudecken und zu beleuchten, womit sie also auch die dreijährige nationalsozialistische Besatzung in die Bemühungen mit einbezogen sieht.41 Mark hingegen argumentiert, dass es sich hierbei um eine ideologische Entscheidung handelte, jenen Raum zu suchen, in dem in der kommunistischen Ära Exekutionen stattfanden. Dieses Narrativ der Aufdeckung versteckter kommunistischer Verbrechen durch Archäologie sieht Mark im Kontext der Ausblendung der Verbrechen des ‚Dritten Reiches‘. Die Auslassung der nationalsozialistischen Besatzung wurde seitens des Museums als notwendiges Korrektiv des einseitigen ‚westlichen‘ Zugangs präsentiert, der sich stärker auf das vom Faschismus verursachte Leiden konzentriere.42 Obwohl ein Gestapo-Häftling Spuren an den Wänden der Gefängniszellen hinterlassen hat, werde, so Mark, die Auslassung der nationalsozialistischen Besatzungszeit mit fehlenden Informationen und Spuren rationalisiert, während ebendiese Lücken im Falle der kommunistischen Ära – mitunter mit enormem archäologischem Aufwand – geschlossen würden. Das Fehlen von Beweisen dient in einem Fall zur Illustration der Fähigkeit der Sowjets, ihre Verbrechen zu verschleiern, sodass ihre Aufdeckung „historische Wahrheiten“ zu Tage fördere, während es im Falle des Nationalsozialismus als Rechtfertigung für die Auslassung dient. Auch im 2003 eröffneten Museum der Okkupationen in Tallinn dominiert die symbolische Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus in Gestalt zweier Lokomotiven-Modelle, eines mit einem Hakenkreuz, das andere mit einem Stern versehen.
39 Virginija Rudienė, Vilma Juozevičiūtė: The Museum of Genocide Victims. A Guide to the Exhibitions, Vilnius 2006. 40 Ebd., S. 79. 41 Ebd., S. 106. 42 Mark: Containing Fascism, 2008, S. 341.
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Abb. 6: Museum der Okkupationen in Tallinn. © Ljiljana Radonic
Doch die Besatzung durch Nazi-Deutschland dient auch hier nur als kursorische Untermalung der schlimmeren kommunistischen Besatzung. Sie habe laut Museumsdirektor Heiki Ahonen weniger Opfer verursacht und sei durch einen geringeren Grad an Repression gekennzeichnet gewesen.43 Bei der Nennung der Zahl der im Zweiten Weltkrieg gefallenen 45.000 Opfer lässt er folgerichtig die jüdischen Opfer aus.44 Der antikommunistische Kontext bestimmt, welchen Beweisen Bedeutung zugesprochen wird: Nationalsozialistische Kriegspropaganda wird als authentischer Beleg sowjetischer Verbrechen herangezogen und durch heutige ZeitzeugInnenberichte unterstützt, ohne der Frage nachzugehen, wie das ‚Dritte Reich‘ sowjetische Verbrechen instrumentalisierte, um die lokale Bevölkerung zu beeinflussen.45 Der antikommunistische Widerstand der ‚Waldbrüder‘ wird hingegen eindrucksvoll dargestellt. Das Museum orientiert sich dabei am Museum des dänischen Widerstandes in Kopenhagen, das, so der Direktor, „im Gegensatz zu so genannten Holocaust-Museen (…) voll Licht und Farbe und darüber hinaus geräumig [ist]. Die Holocaust-Museen, die ich besucht hatte, waren dagegen eher
43 Heiki Ahonen: Wie gründet man ein Museum? Zur Entstehungsgeschichte des Museum der Okkupationen in Tallinn, in: Volkhard Knigge, Ulrich Mählert (Hrsg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln 2005, S. 107–116, hier S. 110. 44 Ebd., S. 116. 45 Mark: Containing Fascism, 2008, S. 355.
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dunkel, getragen und vermittelten das Gefühl von Unbehaglichkeit.“46 In der Ausstellung wird der Holocaust nur am Rande erwähnt, der Direktor beschreibt hingegen die ersten Jahre der sowjetischen Besatzung als „totale Vernichtung der bisherigen Lebensweise“.47
Europäisierung der „gespaltenen Erinnerung“ Der Vergleich der Gedenkmuseen darf keineswegs die unterschiedlichen historischen Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern aus den Augen verlieren. Titos Jugoslawien war zwar weniger repressiv als der Stalinismus, aber auch in Kroatien standen kommunistische Verbrechen nach 1990 im Vordergrund, und zwar die von den PartisanInnen verübten Massenmorde als Rache an den flüchtenden Ustaša und Angehörigen der damaligen Armee (Domobrani) – die „Bleiburger Tragödie“. Doch als 1996 der Plan des kroatischen Präsidenten Tuđman aktuell wurde, deren Gebeine in die KZ-Gedenkstätte Jasenovac umzubetten, um so eine „nationale Versöhnungsstätte“ zu schaffen, überschritt dies die Grenzen des im Zuge der ‚Europäisierung der Erinnerung‘ Machbaren. Also musste während der kroatischen EU-Beitrittsverhandlungen die neue Jasenovac-Ausstellung, die von einem Kritiker als „Zugpferd Richtung Europa“48 bezeichnet wurde, eine andere Strategie entwickeln. Das Erstaunliche jenseits der historisch unterschiedlichen Ausprägungen der Regime ist jedoch, dass sich dieselben Abwehr- und Externalisierungsmechanismen im Umgang mit der Vergangenheit oftmals in Gesellschaften finden, die eine völlig unterschiedliche Geschichte haben. So wurde Tschechien nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei zu einem deutschen Protektorat, weshalb das Ausmaß der Kollaboration – mit Ausnahme der stark eigeninitiativ antiziganistischen Politik – mit benachbarten Ländern nicht auf eine Stufe zu stellen ist. Dennoch wird die Rolle der tschechischen Wachen im Theresienstädter Ghetto im Katalog des Museums wie folgt beschrieben: „Die gewöhnlichen Mitglieder dieser Einheit verhielten sich in der überwiegenden Mehrheit den Gefangenen gegenüber menschlich und oft fast solidarisch. (…) Damit unterschieden sie sich stark von ihren hohen Offizieren, den Kollaborateuren Oberleutnant Janeček (der bald die deutsche Schreibweise seines Namens verwendete – Janetschek) und seinem Nachfolger Leutnant Hasenkopf, die bei der Verfolgung und Peinigung der Gefangenen den Angehörigen der SS-Kommandantur in nichts nachstanden.“49
Obwohl ohne Zweifel einige Wachen durch ihre Hilfeleistungen ihr Leben aufs Spiel setzten, dominiert hier der Versuch, zwischen den ‚guten‘ gewöhnlichen 46 Ahonen: Wie gründet man ein Museum, 2005, S. 107f. 47 Heiki Ahonen: Das Estnische Museum der Okkupationen: Ein Überblick über seine Arbeit, in: Forschungen zur baltischen Geschichte 3 (2008), S. 233–238, hier S. 237. 48 Boris Pavelić: Koji Ante, in: Novi List, 15.5.2005. 49 Vojtěch Blodig: Theresienstadt in der „Endlösung der Judenfrage“ 1941-1945. Führer durch die Dauerausstellung des Ghetto-Museums in Theresienstadt, Terezín 2003, S. 32.
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Tschechen und ‚denen da oben‘ zu unterscheiden, wobei der Tscheche von den beiden als kein ‚wirklicher‘ Tscheche stilisiert wird. Die postsozialistische Museumslandschaft spannt also einen weiten Bogen zwischen individuellen und kollektiven Opfernarrativen, Externalisierung und negativem Gedächtnis. Kehren wir zur Ausgangsfrage nach dem Wandel im Umgang mit der Vergangenheit zurück, so lässt sich sagen, dass der Holocaust auch in postsozialistischen Ländern zu einer Negativikone avanciert ist – paradoxerweise gerade auch in jenen Museen, die seine Einzigartigkeit zurückweisen. Denn die unter dem Stichwort des „containing nazism“ zusammengefassten Museen beziehen sich implizit oder explizit, positiv oder negativ auf die Ästhetik der HolocaustErinnerung. Die beschriebenen Opferkonkurrenzen müssen als Versuch ernstgenommen werden, der Erinnerung an den kommunistischen Terror ebensoviel Aufmerksamkeit wie der an den Holocaust zu sichern. Doch das Bedürfnis nach Gleichsetzung der beiden Regime unterschlägt in dieser Gruppe der Museen die Opfer des Nationalsozialismus. Es schlägt sich entweder in der Empathie mit den individuellen Opfern ausschließlich aus der eigenen Wir-Gruppe nieder oder in dem Verständnis der eigenen Nation als Opfer. Letzteres trägt aber den Schicksalen der Gulag-Opfer ebenso wenig Rechnung wie jenen der Holocaust-Opfer. In den Museen, deren Ausstellungen im Sinne eines Signals an ‚Europa‘ als Ausdruck der ‚Universalisierung der Holocaust-Erinnerung‘ gedeutet werden können, findet diese ‚Anrufung‘ Europas zum Teil bloß auf der narrativen Ebene der Inklusion des europäischen Kontextes in das nationale Narrativ Niederschlag, zum Teil aber auch in Form eines negativen Gedächtnisses. In der Slowakei werden kulturelle Errungenschaften des Tiso-Staates positiv hervorgehoben, während ähnliches in Kroatien zwar in den 1990er-Jahren gang und gäbe war, in der Jasenovac-Ausstellung aber einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Geschichtsrevisionismus in Bezug auf den „Unabhängigen Staat Kroatien“ 1941–1945 gewichen ist, um den Bruch mit der Ära unter Präsident Franjo Tuđman 1990–1999 kommunizieren zu können. In Ungarn, wo Repräsentationen des negativen Gedächtnisses einerseits und des kollektiven Opfernarrativs andererseits nur wenige Kilometer voneinander entfernt existieren, drückt sich diese „gespaltene Erinnerung“ auf einzigartige Weise in derselben Gesellschaft aus, wenn auch das im Haus des Terrors präsentierte Narrativ unter der aktuellen Fidesz-Regierung deutlich dominiert. Die neu entdeckte Pflege der Holocaust-Erinnerung verknüpft die Direktorin des Hauses des Terrors im eingangs gebrachten Zitat mit der Versicherung, bei Ungarn handle es sich um ein „freies, demokratisches Land“. Eine weitere Funktion der Holocaust-Erinnerung hat Tamás Fricz, der Leiter des Instituts für das 21. Jahrhundert, zu dem das Museum gehört, in seiner Kritik an einer angeblich „konzertierten“ Aktion der „Weltpresse“ verdeutlicht: „Da wird tatsächlich suggeriert, dass Juden in Ungarn gefährdet seien. (…) Die Verfasser der Berichte verschweigen, dass Ungarn jenes Land ist, wo (…) seit dem Jahr 2000 in allen Schulen ein Holocaust-Tag abgehalten wird; wo es 2014 ein Holocaust-Gedenkjahr geben wird; wo im Stadtteil Josefstadt ein Museum zum Gedenken an die Kinderopfer des Holocaust eröffnet wird; wo die Entschädigung der Juden außerordentlich vielschichtig ist; wo Synagogen
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erneuert werden; wo der Botschafter Israels, Ilan Mor, von einer Renaissance der jüdischen Kultur spricht. (…) Die Verdrehung von Tatsachen hat wohl zum Ziel, Ungarn als ein antisemitisches, gefährliches Land darzustellen, gegen das alle möglichen Strafmaßnahmen gerechtfertigt seien.“50
Bereits die in den späten 1990er-Jahren erfolgte Verschiebung von ‚harten‘ Fragen der Entschädigung und Restitution zu einer ‚weichen‘ Politik symbolischer Bekenntnisse barg die Gefahr eines ritualisierten Gedenkens und bloßer Lippenbekenntnisse, die keine Konsequenz für den Umgang mit und das Lernen aus der Vergangenheit haben. Doch Fricz treibt diese Problematik mit dem Verweis auf das Holocaust-Gedenken als Antwort auf die Thematisierung antisemitischer Vorfälle in Ungarn auf die Spitze. Gedächtnistheorien haben uns gelehrt, dass jeder Rückgriff auf die Vergangenheit Bedürfnisse gegenwärtiger Identitätsstiftung befriedigt, eine moralisierende Verurteilung eines bestimmten Umgangs damit als ‚Instrumentalisierung‘ der Vergangenheit also ins Leere greift. Deswegen müssen wir es als einen Ausdruck der Ambivalenzen der ‚Europäisierung der Erinnerung‘ begreifen, wenn die Erinnerung an ermordete Jüdinnen und Juden als Beweis gegen den „Vorwurf des Antisemitismus“ instrumentalisiert wird. Wenn man jedoch die Frage ernst nimmt, was diese ‚Europäisierung der Erinnerung‘ bedeuten kann, so lassen sich derzeit zwei unterschiedliche Tendenzen beobachten: Einerseits wird in Brüssel das Haus der europäischen Geschichte eröffnet und es gibt Versuche, ein europäisches Geschichtsbuch51 zu entwerfen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob die Festschreibung einer Geschichte auf europäischer Ebene nicht die gleichen Gefahren mit sich bringt, wie dies nationale Geschichtserzählungen tun: Zum Zwecke der Schaffung einer gemeinsamen Identität wird ein minimaler Konsens über einen Geschichtskanon erzielt, der für alle, die ein Mitspracherecht haben, tragbar ist. Dabei müssen zwangsläufig die Erinnerungen bestimmter ethnischer Gruppen und gesellschaftlicher Schichten ausgeblendet werden. Nötig wäre es hingegen, diesen Ausgrenzungsmechanismen entgegenzuwirken. Außerdem besteht die Gefahr, dass das Erinnern bei einem derartigen Vorgehen in einen Kampf um Opferhierarchien umschlägt, der zu einer Verschärfung der Gegensätze zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘ führen kann. Eine andere Strategie folgt dem Motto „Jede Geschichte ist EU-beitrittsfähig – aber nicht jede Art von Umgang damit“.52 VertreterInnen dieser Position plädieren dafür, sich in Ost- wie Westeuropa um eine bessere wechselseitige Kenntnis der Leidens- und Opfererfahrungen im 20. Jahrhundert zu bemühen. Dafür müssten jedoch Tendenzen wie die Gleichsetzung von Opferschicksalen (mit dem Holocaust) und die damit gegenwärtig verbundene Hierarchisierung der Opfer kritisch beleuchtet werden. Eine ‚europäische Erinnerungskultur‘ könnte in diesem Sinne als selbstkritische Auseinandersetzung eines jeden Landes mit seiner eige50 Tamás Fricz: Das entstellte Bild von Ungarn in der Weltpresse, in: Die Presse, 22.11.2013. 51 Frédéric Delouche (Hrsg.): Das europäische Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2012. 52 Jan-Werner Müller: Europäische Erinnerungspolitik Revisited, URL: http://www.eurozine.co m/articles/2007-10-18-jwmuller-de.html, letzter Zugriff: 13.12.2011.
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nen Vergangenheit unter Ausrichtung an gemeinsamen europäischen Normen gedacht werden – im Sinne einer Vereinheitlichung von Praktiken und (selbst-)kritischer Aufarbeitung der Vergangenheit, nicht im Sinne einer Gleichmacherei von Opfern oder historisch-kulturellen Inhalten.
OHNE „SCHMERZENSSPUR“: STALINISTISCHE VERFOLGUNG UND HAFT IN DEUTSCHLAND Bettina Greiner
Zusammenfassung: Stalinistische Verfolgung und Haft: 25 Jahre nach dem Mauerfall zählt die massive Gewalt, auf der die DDR gegründet wurde, noch immer zu den randständigen Erinnerungstopoi des wiedervereinigten Landes. Das gilt insbesondere für die Speziallager, die der sowjetische Geheimdienst mit Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone errichtete. Aber welchen Ort kann diese Teilgeschichte innerhalb der deutschen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts für sich reklamieren? Wie ist der Verschränkung von Täter- und Opfergeschichte gerecht zu werden? Der Artikel wirft einen Blick zurück auf drei Diskussionen aus den vergangenen 25 Jahren, in denen erbittert um diese Fragen gestritten wurde – ohne dass es zu einer Annäherung gekommen wäre. Abstract: Stalinist repression and imprisonment: The massive violence on which the GDR was founded is as of today still a marginal topos in the cultural memory of the reunified country. This is especially true for the special camps installed by the Soviet secret police in the occupation zone at the end of the Second World War. Which place might this chapter of violent history claim within the German history of violence in the 20th century? How is justice to be done to the entanglement of German perpetrators and German victims? The article highlights three discussions from the last 25 years in which these questions were bitterly debated – without finding common ground.
Stalinistische Verfolgung und Haftmaßnahmen: 25 Jahre nach dem Mauerfall zählt die Gewalt, auf der die DDR gegründet wurde, noch immer zu den randständigen Erinnerungstopoi des wiedervereinigten Landes. Dass dies insbesondere für die Speziallager gilt, die der sowjetische Geheimdienst NKWD (seit 1946 MWD) mit Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR errichtete, zeigt sich nirgends deutlicher als in der Belletristik. So finden sich in der Literatur ostdeutscher Autoren allenfalls – wie bei Brigitte Reimann – Andeutungen auf das Lagersystem.1 „Alles, was uns in den Jahren [nach 1945; B.G.] Angst gemacht hat“, schreibt der Schriftsteller Günter de Bruyn über seine Themenwahl in Abhängigkeit von der Zensur, „war tabuisiert. Kein Sowjetsoldat durfte in Deutschland geplündert und vergewaltigt haben, 1
So in Brigitte Reimanns 1974 posthum in der DDR erschienenen Roman Franziska Linkerhand. Dort heißt es über zwei Bekannte des Vaters Linkerhand: „Der eine ist später an der Ostfront gefallen. Der andere wurde gleich nach der Kapitulation von der GPU verhaftet und starb im Lager.“ Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand, Berlin 2002 (1974), S. 14.
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kein nach dem Krieg Internierter in Buchenwald, Ketschendorf oder Sibirien verendet sein.“2 Doch auch in der westdeutschen Belletristik hat die stalinistische Verfolgung in der SBZ/DDR keine „Schmerzensspur“ hinterlassen, um W.G. Sebalds Diktum über die ‚Leerstelle‘ des Luftkriegs in der Literatur aufzugreifen.3 Zwar wurde Sebalds Einschätzung umgehend widerlegt, für die Gewalterfahrung der Speziallagerhaft aber trifft sie ins Schwarze: Heinrich Cresspahl, Protagonist in Uwe Johnsons Jahrestage (1973), war für Jahrzehnte die einzige literarische Figur, deren Geschichte teilweise in einem solchen Lager spielt.4 Erst gute 30 Jahre später wurden ihm mit den beiden Berliner Schulfreunden Paul Scholz und Julian Sternberg zwei fiktive Häftlinge an die Seite gestellt – in dem Jugendbuch Julians Bruder von Klaus Kordon aus dem Jahr 2004.5 Mit diesem Beispiel aus der Belletristik ist auch angezeigt, dass es in der alten Bundesrepublik keiner repressiven Geschichtspolitik wie in der DDR bedurfte, um die Verfolgungserfahrungen dieser Opfergruppe unsichtbar zu machen – und dass sich an dieser Unsichtbarkeit und damit Randständigkeit des Themas innerhalb der nunmehr gesamtdeutschen Erinnerungskultur wenig geändert hat.6 Jenseits unmittelbar Betroffener und ihrer Angehörigen ist das Wissen um die Gewalt, die horrenden Todeszahlen in den Lagern und den schmalen Grad zwischen Entnazifizierung, Willkür und Diktaturdurchsetzung noch immer gering. Mehr noch, es scheint, als setzte die Thematisierung eine persönliche Betroffenheit voraus.7 Das war nicht immer so. Im frühen Kalten Krieg fanden die Überlebenden der Speziallagerhaft in Westdeutschland – besonders aber in Westberlin – breites Gehör. Dennoch sollte man die politische und symbolische Wirkmächtigkeit der Opfergruppe zu jener Zeit nicht überschätzen. Dazu ist der Zusammenhang von gesellschaftlicher Wahrnehmung und politischer Instrumentalisierung vor dem Hintergrund des antikommunistischen Gründungskonsenses der Bundesrepublik zu offensichtlich.8 Vor allem aber ließ die Aufmerksamkeit prompt nach, als die DDR mit dem 17. Juni 1953 und dem Mauerbau andere – eigene – politische Symbole 2 3 4 5 6 7
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Günter de Bruyn: Vierzig Jahre, Frankfurt am Main 2002, S. 117. W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur, Frankfurt am Main 2002, S. 12. Uwe Johnson: Jahrestage, Frankfurt am Main 1996 (1973). Klaus Kordon: Julians Bruder, Weinheim, Basel 2004. Zur Wahrnehmungsgeschichte: Bettina Greiner: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg 2010, bes. S. 377–458. Das gilt ebenfalls für Johnson und Kordon. In Johnsons Fall verliert sich die Spur des nach Kriegsende verhafteten und im Speziallager Fünfeichen internierten Vaters in einem Lager in der Sowjetunion; Klaus Kordon verbrachte nach einem gescheiterten Fluchtversuch längere Zeit in Haft, bevor er die DDR 1973 durch ‚Freikauf‘ verlassen konnte. Wolfram von Scheliha: Die sowjetischen Speziallager – ein Symbol des kommunistischen Unrechts in der publizistischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West bis zum Bau der Mauer 1961, in: Petra Haustein et al. (Hrsg.): Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung, 1945 bis heute, Göttingen 2006, S. 10–29; Andrew Beattie: „Sowjetische KZs auf deutschem Boden“: Die sowjetischen Speziallager und der bundesdeutsche Antikommunismus, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (2011), S. 119–137.
Ohne „Schmerzensspur“: Stalinistische Verfolgung und Haft in Deutschland
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ihres repressiven Systems ‚produzierte‘ und die Rolle der ehemaligen Häftlinge als Kronzeugen damit entwertete. Fortan gab es kaum noch Anknüpfungspunkte, die ihren Erfahrungen gesamtgesellschaftliche Bedeutung hätten verleihen können. An dieser Situation hat sich mit dem Mauerfall wenig geändert. Diese Beobachtung gilt trotz beeindruckender Forschungsleistungen seit der Öffnung russischer Archive unter Präsident Boris Jelzin. Und auch die Politik – erinnert sei an die Einsetzung der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages oder die Einberufung von Expertengremien zwecks Umgestaltung der Gedenkstätten in den neuen Bundesländern9 – blieb in dieser Hinsicht erfolglos. Trotz der Vielzahl von Gedenkorten im Osten Deutschlands und quellenfundierten wie differenzierten Ausstellungen: Es scheint, als fehle es an einem Rahmen, der historische Aufklärung und Totengedenken jenseits politischer Instrumentalisierung möglich macht. Warum ist das so? Warum entzieht sich dieses Kapitel deutscher Gewaltgeschichte seiner Verortung?
Streitgeschichte Damit ist die Leitfrage der folgenden Ausführungen benannt. Dass sie die Verortung und Bewertung der „Geschichte der DDR im gesamtdeutschen Gedächtnis“ und damit ein zentrales und nach wie vor umstrittenes Problemfeld der bundesdeutschen Erinnerungskultur betrifft, hat Aleida Assmann in ihrem Buch Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur jüngst bestätigt.10 Als eine der Wenigen hat sie den Erinnerungsort Speziallager dabei überhaupt im Blick – als ein Beispiel für ihre zutreffende Beobachtung, „dass NS-Diktatur und SED-Diktatur im Gedächtnis der Deutschen miteinander kollidieren“.11 Indem Assmann die sowjetischen Lager jedoch fälschlicherweise der SED-Diktatur zurechnet, geht verloren, dass die Erinnerung an die stalinistische Verfolgung der Nachkriegszeit aus anderen Gründen mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus ‚kollidiert‘ als etwa die Verfolgung durch die ostdeutsche Staatssicherheit oder auch der Mauerbau. Der in diesem Kontext wichtigste Unterschied: In den Speziallagern wurden Männer und Frauen festgehalten, die – und diese Einschätzung gilt ungeachtet der Haftgründe, der individuellen politischen Belastung und der unhintergehbaren sowjetischen Willkür – als Deutsche in einer Verantwortung für die na9
Einen konzisen Überblick über die Diskussionen der Expertenkommissionen seit 1991 sowie über die Anhörungen unter Beteiligung des Innenausschusses des deutschen Bundestages 1994 in der Gedenkstätte Sachsenhausen, 1996 in der Gedenkstätte Buchenwald und 1997 in Berlin und deren Niederschlag in den Veröffentlichungen der beiden Enquete-Kommissionen des deutschen Bundestages zu „Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ und „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ bietet Petra Haustein: Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006, S. 91–213. 10 Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 118. 11 Ebd., S. 112.
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tionalsozialistischen Verbrechen stehen. Wie ist ihren massiven Gewalterfahrungen vor dem Hintergrund des mühselig erarbeiteten Konsenses einer „negativen Erinnerung“ an das NS-System und seine Täter und Mitträger gerecht zu werden? Wie kann und soll das insbesondere an den sogenannten Gedenkorten mit „doppelter Vergangenheit“ geschehen, also an jenen Haftorten, die wie in Buchenwald oder Sachsenhausen vor ihrer Nutzung durch den NKWD Leidensorte des Nationalsozialismus gewesen sind? Und was waren das überhaupt für Lager, die der sowjetische Geheimdienst mit Kriegsende einrichtete und Anfang 1950, also erst nach der Gründung der DDR, endgültig auflöste? Davon abgesehen, dass die Schließung der letzten Lager weder die Entlassung aller Gefangenen zur Folge hatte noch die Einstellung von Verhaftungen bedeutete: Wer wurde als welchen Gründen an diesen Orten festgehalten? Aleida Assmann unterläuft hier eine weitere historische Ungenauigkeit, da sie von „Speziallager[n] für Kriegsgefangene und politische Häftlinge“ spricht.12 Tatsächlich aber handelte es sich bei den deutschen Gefangenen fast ausschließlich um Zivilisten,13 die der NKWD Mitte April 1945 mit dem Befehl Nr. 00315 als Sicherheitsrisiken – im Kriegsgebiet, in Feindesland und im Grenzland zum ‚imperialistischen Westen‘ – definiert und zur Internierung in eigens in der Besatzungszone einzurichtenden Lagern vorgesehen hatte. Um nur die Wichtigsten zu nennen: Nazis, Spione, Saboteure. Was aber bedeutete das für die Funktion der Speziallager? Sind sie als „Außenposten des Archipel Gulag“14 und damit als Einrichtungen zu deuten, die hauptsächlich der Durchsetzung der sowjetischen Ordnungspolitik mit terroristischen Mitteln dienten? Oder müssen die Haftmaßnahmen primär im Rahmen der Entnazifizierung gesehen werden? Welche Bedeutung kam dabei den sowjetischen Militärtribunalen zu, die (bis 1955) mehr als 35.000 Deutsche zu horrenden Lagerstrafen verurteilten – mehrheitlich wegen angeblicher oder tatsächlicher Regimevergehen nach Kriegsende? Und wie sind die menschenverachtenden Zustände in den Lagern zu erklären, die – so die offiziellen sowjetischen Zahlen – fast jedem Dritten der insgesamt 122.761 deutschen Gefangenen das Leben kosteten? Liegt gar eine Tötungsabsicht vor, die womöglich Ähnlichkeiten mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik aufweist?
12 Ebd. Im Speziallager Sachsenhausen wurden im Sommer 1946 mehrere Tausend vormalige Wehrmachtsoffiziere festgehalten, die nach ihrer Entlassung aus westalliierter Kriegsgefangenschaft bei ihrer Rückkehr an ihre Heimatorte in der SBZ durch den sowjetischen Geheimdienst verhaftet und im Herbst des Jahres als Kriegsgefangene in die Sowjetunion deportiert wurden. Sachsenhausen war für sie ein Durchgangslager. 13 Diese Unterscheidung ist auch von Bedeutung, weil der ‚Erinnerungsstatus‘ der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion noch heute in der deutschen Erinnerungskultur verankert ist; aus der Erinnerung gefallen sind hingegen die Zivilisten in sowjetischer Gewalt. Mehr noch als für die Speziallagerhäftlinge gilt das für die etwa 330.000 ‚Reichs- und Volksdeutschen‘, die während des Vormarsches der Roten Armee verhaftet und (völkerwiderrechtlich) als Arbeitskräfte in den Gulag ‚mobilisiert‘ wurden. 14 Hermann Weber: Vorwort, in: Achim Kilian: Einzuweisen zur völligen Isolierung. NKWDSpeziallager Mühlberg/Elbe 1945-1948, Leipzig 1993, S. 7–17, hier S. 7.
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Die Geschichte der Speziallager, so zeigt schon dieser Fragenkatalog, taugt gleich in mehrfacher Hinsicht zur Streitgeschichte. Man sollte daher meinen, dass auch der Erinnerungsort der Nachkriegshaft umstritten wäre. Oder anders gesagt: Versteht man Erinnerungskultur als ein gesamtgesellschaftliches selbstkritisches Verständigungsprojekt über die Vergangenheit, dann sind gleich zwei Versäumnisse zu konstatieren. So ist es bis heute nicht gelungen, den Ort näher zu bestimmen, den diese Teilgeschichte innerhalb der deutschen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts für sich reklamieren kann. Schwerer jedoch wiegt, dass diese Frage anscheinend auf gar kein öffentliches Interesse stößt. Und sollte der Eindruck zutreffen, dass sich die ebenfalls notwendige Diskussion um den 23. August als Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nazismus zum neuen Austragungsort der Frage um eine angemessene Gewichtung von Tätergeschichte und Opfergeschichte entwickelt,15 dann wird sich daran in absehbarer Zeit auch nichts ändern. Vermutlich wird es wie bisher bei kurzen medialen Strohfeuern bleiben, mittels derer die Gewalterfahrung der Nachkriegsinhaftierung vorübergehend gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfährt, freilich ohne zu verfangen. Im Folgenden sollen exemplarisch drei solcher ‚Schlaglichter‘ seit dem Mauerfall vorgestellt werden.
Chancen Das jüngste Beispiel fällt in das Frühjahr 2012: Am 18. April des Jahres wurde in Potsdam die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße eröffnet, ein in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlicher Erinnerungsort. Das gilt zunächst für das Gebäude, ein vormaliges Pfarrhaus nahe dem Schloss Cecilienhof im Neuen Garten. 1945 in das zentrale Untersuchungsgefängnis der sowjetischen Spionageabwehr Smersch umfunktioniert, sind die baulichen Veränderungen an der Villa weitgehend erhalten geblieben. Darin unterscheidet sich die Gedenkstätte von vergleichbaren Erinnerungsorten in anderen Ländern, die sich mit Kriegsende im sowjetischen Herrschafts- beziehungsweise Einflussbereich wiederfanden. Doch es ist nicht nur die Architektur, die diesen Erinnerungsort so besonders macht. Er zeichnet sich auch dadurch aus, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um den vorerst letzten authentischen Haftort auf dem Gebiet der ehemaligen DDR handelt, der in einen Gedenkort an die stalinistische Verfolgung umgewandelt wurde. Die Gedenkstätte gibt damit nicht nur die gegenwärtige Interpretation der sowjetischen Haftmaßnahmen wider. Sie schreibt sie auch auf Jahre fest.
15 Ein ersten Eindruck der gegenläufigen Positionen vermittelt Stefan Troebst: Der 23. August als euroatlantischer Gedenktag? Eine analytische Dokumentation, in: Anna Kaminsky, Dietmar Müller, Stefan Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011, S. 85–121. Siehe auch Claus Leggewie, mit Anne Lang: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, Bonn 2011, bes. S. 15–32.
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Die militärische Spionageabwehr Smersch war seit Einstellung der Kampfhandlungen für die operative Überwachung des sowjetischen Personals in den zahlreichen Behörden in der Besatzungszone verantwortlich.16 Dessen ungeachtet beteiligte sie sich – in ähnlicher Größenordnung wie das NKWD – an den Verhaftungen deutscher Zivilisten,17 die vor ihrer Überstellung in ein Lager in Untersuchungshaft genommen wurden. Zu diesem Zweck betrieben die sowjetischen Geheimdienste insgesamt etwa 500 Operativgefängnisse und Arrestlokale in der Besatzungszone,18 darunter das Gefängnis in der heutigen Gedenkstätte Leistikowstraße. Für die Betroffenen bedeutete die Inhaftierung an diesen Orten „die erste, äußerst brutale unmittelbare Konfrontation mit den Realitäten des Sowjetkommunismus, seinem Sicherheitsapparat, seinem Justizwesen und dessen Vertretern“. Bei vielen von ihnen hinterließ sie „größere seelische und körperliche Verletzungen sowie tiefere und nachhaltigere Eindrücke und Erinnerungen als der darauf folgende langjährige Lager- und Zuchthausaufenthalt“.19 Die Untersuchungshaft war zentraler Bestandteil der sowjetischen Haft- und Repressionspraxis. Zwar führte sie für die meisten der deutschen Gefangenen nicht zu einer Verurteilung. In diesem Fall wurden sie auf Grundlage des Befehls Nr. 00315 verhört und meist wenige Tage oder Wochen nach ihrer Verhaftung ohne weiteres Verfahren über Jahre in einem Speziallager interniert. Spätestens seit dem 1. Januar 1947 nahmen die Lager jedoch keine Häftlinge mehr auf, die nicht zuvor durch ein sowjetisches Militärtribunal verurteilt worden waren. Damit wurden Internierungen und Verurteilungen also nicht mehr parallel praktiziert. Das 16 Im Zuge weitläufiger Umstrukturierungen der Geheimdienste ging die Smersch Ende 1946 im MGB auf, sodass das Gebäude in der Leistikowstraße zunächst vom MGB, dann durch das KGB genutzt wurde. Nach 1955 wurden dort ausschließlich Angehörige der Sowjetischen Armee festgehalten; Mitte der 1980er-Jahre wurde das Gefängnis aufgegeben. Zur Geschichte desselben vgl. Elke Fein et al.: Von Potsdam nach Workuta. Das NKGB/MGB/KGB-Gefängnis Potsdam-Neuer Garten im Spiegel der Erinnerung deutscher und russische Häftlinge, Potsdam 1999; Elke Fein, Nina Leonhard, Jens Niederhut: Militärstädtchen Nr. 7. Zur Geschichte des sowjetischen Untersuchungsgefängnisses Potsdam-Neuer Garten, in: Deutschland Archiv 33 (2004) 4, S. 582–590; Peter Erler: Relikt der Unmenschlichkeit. Die sowjetische Spionageabwehr und ihr Untersuchungsgefängnis in der Potsdamer Leistikowstraße 1, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2005) 18, S. 138–153; Memorial Deutschland e.V. (Hrsg.): Von Potsdam nach Workuta. Katalog zur Ausstellung über deutsche und sowjetische Häftlinge im KBG-Gefängnis Potsdam und die Lagerhaft in Workuta/Sowjetunion, Berlin 2003; Ines Reich, Maria Schultz (Hrsg.): Sowjetisches Untersuchungsgefängnis Leistikowstraße Potsdam, Berlin 2012. 17 Vgl. Nikita Petrov: Zur Geschichte der sowjetischen Repressionsorgane (NKVD/MVDMGB) in der SBZ 1945/46, in: Andreas Hilger, Mike Schmeitzner, Ute Schmidt (Hrsg.): Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung in der SBZ/DDR 1945-1955, Dresden 2001, S. 31–38, bes. S. 36. 18 Klaus-Dieter Müller: Bürokratischer Terror. Justizielle und außerjustizielle Verfolgungsmaßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht 1945-1956, in: Roger Engelmann, Clemens Vollnhals (Hrsg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, Berlin 2000, S. 59–92, hier S. 67. 19 Peter Erler: Zur Geschichte und Topografie der ‚GPU-Keller‘. Arrestlokale und Untersuchungsgefängnisse sowjetischer Geheimdienste in Berlin, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2005) 17, S. 79–94, hier S. 80.
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Gefängnis in der Leistikowstraße war von dieser Veränderung freilich nicht betroffen; Gefangene des Militärgeheimdienstes – ob sie nun als Nazi, Spion, Querulant oder wegen Schwänzens des obligaten Russischunterrichts in der Schule in Feindverdacht geraten waren – wurden grundsätzlich verurteilt. Doch ob Militärgeheimdienst oder NKWD: Immer wurden die Verhafteten so lange unter ‚verschärften Bedingungen‘ verhört, bis sie die Tatvorwürfe durch eigenhändige Unterschrift der in kyrillischer Schrift verfassten Vernehmungsprotokolle bestätigt hatten. Diese oft unter Folter erpressten Geständnisse stellten in der Regel das einzige Beweismittel in den anschließend inszenierten Militärtribunalen dar, die sich mehrheitlich der 14 Gummiparagrafen des Artikel 58 StGB der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik von 1926 zur Ahndung konterrevolutionärer Verbrechen bedienten, um Vorwürfe wie Spionage, Sabotage, illegale Gruppenbildung und dergleichen mehr mit zehn, 15 oder 25 Jahren Lagerhaft oder mit dem Tod abzustrafen.20 Doch nun zur Eröffnung der Gedenk- und Begegnungsstätte im April 2012, die medial intensiv begleitet wurde. Einen der Gründe für diese Aufmerksamkeit erfuhren die Fernsehzuschauer von Claus Kleber, dem Moderator des HeuteJournals im ZDF. Er leitete den Bericht am Vorabend der Eröffnung der neuen Dauerausstellung mit dem Hinweis auf einen prominenten Häftling ein. Dass dieser nicht in Potsdam, sondern in Schwerin unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet, verhört und 1951 zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt worden war, fiel angesichts der Persönlichkeit, um die es ging, nicht ins Gewicht – sprach Claus Kleber doch vom Vater des vier Wochen zuvor gewählten Bundespräsidenten Joachim Gauck.21 Es ist tatsächlich so banal: Prominenz verschafft Aufmerksamkeit. In diesem Fall aber kam ein zweiter Aspekt hinzu. Wenige Wochen vor Ausstellungseröffnung war es zu einem ebenso unerfreulichen wie inakzeptablen Vorfall gekommen. Ein ehemaliger Workuta-Häftling hatte die Gedenkstättenleiterin tätlich angegriffen, weil sie ihm seines Erachtens den Zugang zum Gebäude verwehren wollte. Das Auftreten des alten Mannes ist weder kleinzureden noch zu entschuldigen.22 Es markiert jedoch den vorläufigen Höhepunkt einer mehrjährigen Auseinandersetzung um die Gedenkstätte, die nun weit über Potsdam hinaus publik wurde – eine Auseinandersetzung zwischen der Gedenkstättenleitung auf der einen und einer großen Zahl ehemaliger Häftlinge sowie verschiedenen zivil20 Zur Tätigkeit der sowjetischen Militärtribunale und der Bedeutung des Art. 58: Andreas Hilger, Nikita Petrov: „Erledigung der Schmutzarbeit“? Die sowjetischen Justiz- und Sicherheitsapparate in Deutschland, in: Andreas Hilger, Mike Schmeitzner, Ute Schmidt (Hrsg.): Sowjetische Militärtribunale, Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Berlin 2003, S. 59–152; siehe auch: Friedrich-Christian Schroeder: Rechtsgrundlagen der Verfolgung deutscher Zivilisten durch sowjetische Militärtribunale, in: ebd., S. 37–58. Zur Todesstrafe: Arsenij Roginskij et al. (Hrsg.): Erschossen in Moskau ... Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950-1953, 3. Aufl., Berlin 2008. 21 Zu den Hintergründen der Haft: Stefan Karner: Die MGB-Akte Joachim Gauck senior, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.3.2012, S. 7. 22 Zwischenzeitlich wurde er zu einer Geldbuße in Höhe von 1.200 Euro verurteilt. „Eine Auffälligkeit an der Halswirbelsäule“, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 31.5.2103, S. 7.
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gesellschaftlichen Organisationen, allem voran Memorial Deutschland e.V., auf der anderen Seite. Zu dieser für alle Beteiligten unwürdigen Auseinandersetzung gehört folgendes Detail: Jener ehemalige Häftling war 1948 als 19-Jähriger für acht Jahre nach Workuta deportiert worden, nachdem er sich, wie er erzählt, einer Anwerbung als Spitzel widersetzt hatte. In einem Lager am Eismeer freundete er sich mit einem Mitgefangenen an, der die Untersuchungshaft in der Leistikowstraße verbracht hatte. Diesem jüngst verstorbenen Freund zu Ehren wollte der 83-Jährige nun ein öffentliches Zeitzeugengespräch organisieren. Mit diesem Herzenswunsch wandte er sich an die brandenburgische Staatskanzlei, die ihm, wie es in den Potsdamer Neuesten Nachrichten heißt, schriftlich bestätigte, dass die Gedenkstättenleiterin „gebeten [wurde, solcherart] Anfragen positiv zu entscheiden“.23 So aber konnte der Eindruck entstehen, dass Zeitzeugengespräche in der Gedenk- und Begegnungsstätte allenfalls durch politische Intervention möglich sind. Schlimmer noch, dass diese Zeitzeugen stören. Dergleichen war sicher nicht intendiert. Umso weniger, als dass sich die Leistikowstraße als „moderne Gedenkstätte“ verstanden wissen will.24 Gleichwohl irritieren Selbstdarstellung und Politik des Hauses. So hat es offenbar langer interner Auseinandersetzungen bedurft, ehe beispielsweise das Wort Folter in der Darstellung dieses Ortes seinen angemessenen Platz fand.25 Problematisch ist jedoch nicht allein die Sprache; Fachkritik gibt es ebenfalls an handwerklichen und inhaltlichen Mängeln.26 Selbstredend sind auch positive Stimmen zu vernehmen. Martin Sabrow etwa machte jüngst darauf aufmerksam, dass die Dauerausstellung unter Historikern und Ausstellungsmachern „verbreitete Anerkennung“ finde27 – trotz Schwerpunktsetzungen, mit denen zentrale und für die Geschichte und das Verständnis dieses Ortes elementare Aspekte wie „Verurteilung, Strafvollzug und
23 Tätlicher Angriff und Todesdrohung gegen Ines Reich Leistikowstraße: Streit zwischen ExHäftling und Gedenkstätten-Chefin eskalierte, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 27.3.2012, S. 7. 24 So in: „Spuren zum Sprechen bringen“. Interview mit Ines Reich, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 26.3.2012, S. 8. Leider steht eine Veröffentlichung zum Gedenkstättenkonzept oder eine Erläuterung dieses Selbstverständnisses nach wie vor aus; es hätte dem Streit vielleicht etwas von seiner Wucht nehmen können. 25 Die Gravamina von Memorial Deutschland e.V. liegen ebenso vor wie das kritische Außengutachten durch Jörg Baberowski. Zur Kritik etwa durch Herta Müller, Nobelpreisträgerin für Literatur, oder Anna Kaminski, Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vgl. Erbitterter Streit um das Gedenken, in: Tagesspiegel, 19.3.2012, URL: http://www.tagesspiegel.de/berlin/erbitterter-streit-um-das-gedenken/6342616.html, letzter Zugriff: 14.10.2012. 26 Peter Erler: Rezension zu: Ines Reich, Maria Schultz (Hrsg.): Sowjetisches Untersuchungsgefängnis Leistikowstraße Potsdam, Berlin 2012, in: sehepunkte 12 (2012) 9, URL: http://www. sehepunkte.de/2012/09/21757.html, letzter Zugriff: 18.9.2012. 27 Martin Sabrow: Wenn die Zeitzeugen gehen, in: Tagesspiegel, 26.11.2013, URL: http//www. tagesspiegel.de/kultur/projekt-aufarbeitung-wenn-die-zeitzeugen-gehen/9131746.html, letzter Zugriff: 1.1.2014.
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Entlassung“ ausgeklammert und auf eine „Projektphase II“ verschoben werden.28 Das gilt ebenfalls, so Peter Jochen Winters, für „eine Darstellung des sowjetischen Gulag und des Schicksals der dorthin deportierten Häftlinge sowie ergänzende Informationen über den Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR und die Verhaftung von Oppositionsgruppen bis 1955“.29 Haben die ehemaligen Häftlinge also recht? Werden ihre Erfahrungen relativiert? Selbst wenn man diesem Vorwurf nicht folgen will, verwundern insbesondere die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, mit denen zwei Jahrzehnte intensiver Forschung zur sowjetischen Verfolgungspraxis in Deutschland unbeachtet bleiben. Bis zur Realisierung der nächsten Projektphase fehlen dem Gedenkstättenbesucher daher Informationen, die zum Verständnis und zur Einordnung des historischen Geschehens grundlegend sind. Das bedeutet auch, dass Informationen fehlen, die für eine aufgeklärte Annäherung an diesen Erinnerungsort und damit an die schwierige Frage nach „Deutschen als Opfer“30 von Bedeutung wären. In dieser Hinsicht steht die vorerst letzte ‚große‘ Dauerausstellung über die stalinistische Verfolgung in Deutschland für eine verpasste Chance.
Minimalkonsens „Welchen Platz nehmen die sowjetischen Speziallager und das SED-Unrecht insgesamt in der deutschen Erinnerungskultur ein und in welchem Verhältnis steht es zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Konzentrationslager?“ Wolfram von Scheliha formulierte diese doppelte Frage vor dem Hintergrund des 15. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung.31 Ausweislich der Auseinandersetzung um die Präsentation in der Leistikowstraße hat sie nichts von ihrer Aktualität verloren. Hier aber soll sie in die erste Zeit nach dem Mauerfall zurückführen. Auf Initiative ehemaliger Speziallagerhäftlinge wurden damals an zahlreichen Orten in der DDR nahe der vormaligen Lagerstätten und Haftorte Massengräber freigelegt. Die 28 Reich, Schultz (Hrsg.): Leistikowstraße, 2012, S. 95. 29 Peter Jochen Winters: Der Streit um die Leistikowstraße in Potsdam, in: Wolfgang Benz (Hrsg): Ein Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und historische Forschung, Berlin 2012, S. 37–63, hier S. 62. 30 Die Formulierung „Deutsche als Opfer“ orientiert sich an den Titeln der Sammelbände von Bill Niven (Hrsg.): Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany, Basingstoke 2006 und, in leichter Variation, von: Lothar Kettenacker (Hrsg.): Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg, Berlin 2003, das hier stellvertretend für die deutschsprachigen Veröffentlichungen über die erinnerungskulturelle Gewichtung von deutscher Täter- und Opferschaft genannt sei, die besonders zahlreich um das Jahr 2005 – und damit anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes – publiziert wurden. Die Speziallagerhaft spielte dabei keine Rolle. Vgl. Greiner: Verdrängter Terror, 2010, bes. S. 384; siehe auch: Dies.: Sowjetische Speziallager – 60 Jahre danach. Anmerkungen zu einer verstockten Debatte, in: Deutschland Archiv 43 (2010) 2, S. 289–296. 31 Wolfram von Scheliha: Sackgasse Totalitarismus. Die Forderung nach einem Gedenken an die Speziallager im Zeichen der Totalitarismustheorie führt ins erinnerungspolitische Abseits, in: Deutschland Archiv 39 (2006) 2, S. 283–290, hier S. 284.
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Medien in Ost wie West begleiteten diese Grabungen mit großer Intensität. Weil sich die Berichterstattung aber alsbald auf die sogenannten Mauerschützen und insbesondere auf Mitarbeiter der Staatssicherheit konzentrierte, verebbte die Nachrichtenflut so schnell wie sie aufgekommen war. Und doch hatten die wenigen Monate medialer Aufmerksamkeit genügt, eine politische Sensation zu bewirken: Seit 1945 hatte Moskau die Existenz der Speziallager negiert – nun, im Juli 1990, veröffentlichte das sowjetische Innenministerium den im März 1950 nach Schließung der letzten drei (von ursprünglich zehn) Lager verfassten Abschlussbericht. Demnach haben ein Drittel der offiziell 122.671 deutschen Gefangenen die Haft nicht überlebt.32 Auch wenn diese Zahlen bald nach oben korrigiert wurden, bleibt die Relation unverändert: Fast jeder dritte deutsche Häftling ist an Hunger und Krankheiten verreckt.33 Für die stalinistisch Verfolgten galt die Publikation dieser traurigen Zahlen als offizielle Bestätigung eines berechtigen Begehrens nach gesellschaftlicher Anerkennung. Binnen kürzester Zeit nahmen sie sich selbst jedoch als „Opfer zweiter Klasse“ wahr, verwickelt in eine heftige Auseinandersetzung, die allem voran an jenen Orten entbrannt war, an denen das NKWD/MWD wie in Sachsenhausen und Buchenwald vormalige nationalsozialistische Konzentrationslager für seine Zwecke genutzt hatte. Dort sahen sie sich mit der „Abwehr der jüngeren Generation“ und massiver „Kritik der HolocaustÜberlebenden“ konfrontiert,34 die sich dagegen verwahrten, „das Gedenken an die KZ-Haft mit der verdienten Haft der KZ-Aufseher zu vermischen“.35 Es ist der Geschichtswissenschaft relativ schnell gelungen, diese und ähnliche Vorwürfe zu entkräften. So ist längst bekannt, dass es sich bei der Mehrheit der Speziallagerinsassen um das Fußvolk der nationalsozialistischen Diktatur handelte, die sogenannten ‚kleinen Pgs‘. Dass die relative Belastung der Häftlinge geringer ausfiel als etwa in den Internierungslagern in der amerikanischen Zone, lag auch am Befehl Nr. 00315, mit dem Stalin angewiesen hatte, Angehörige von SS, SA und „Personal von Gefängnissen und Konzentrationslagern“ nicht in die Speziallager zu überstellen, sondern als Kriegsgefangene in die Sowjetunion zu deportieren.36 Die Gedenkstätten haben es sich nicht zur Aufgabe gemacht, die Auseinandersetzung um die „doppelte Vergangenheit“ produktiv in die Öffentlichkeit zu 32 Vgl. Bericht über sowjetische Internierungslager in der SBZ, in: Deutschland Archiv 23 (1990) 2, S. 1804–1810. 33 Zur Zahlendiskussion: Greiner: Verdrängter Terror, 2010, S. 10–11. 34 Alexander von Plato: Lebensgeschichte und Geschichte. Ein Beispiel aus der Opferkonkurrenz des Kalten Krieges, in: Kursbuch 148 (2002), S. 149–162, hier S. 159; siehe auch: Ders.: Opfer-Konkurrenten. Die Verfolgten des NS-Regimes und der sowjetischen Besatzungsmacht im Kalten Krieg und in der Entspannungspolitik, in: Elisabeth Domansky, Harald Welzer (Hrsg.): Eine offene Geschichte. Zur kommunikativen Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit, Tübingen 1999, S. 74–92. 35 Vorwort der Herausgeber, in: Sergej Mironenko et al. (Hrsg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 1: Studien und Berichte, Berlin 1998, S.11–19, hier S. 11. 36 Befehl des Volkskommissars für Inneres Nr. 00315 „Zur teilweisen Abänderung des Befehls des NKWD der UdSSR Nr. 0016 vom 11. Januar 1945“, in: ebd., Bd. 2: Dokumente zur Lagerpolitik, S. 178–180, hier S. 179.
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tragen. Dabei gibt es keine vergleichbaren Erinnerungsorte, an denen deutsche Tätergeschichte und deutsche Opfergeschichte räumlich und zeitlich so eng miteinander verknüpft sind. Wo denn sonst, möchte man fragen, soll darüber gestritten werden, wie wir als Gesellschaft diesen beiden unterschiedlichen und doch aufeinander bezogenen Verbrechenskomplexen und Opfergruppen gerecht werden wollen? Nicht minder wichtig ist die Frage, welchen Ort die Speziallager innerhalb eines zeitgemäßen Totengedenkens einnehmen können – also eines Gedenkens, das der Tatsache gerecht wird, dass „das kulturelle Gedächtnis der Deutschen in hohem Maße durch die Erfahrung und den Umgang mit dem massenhaften Tod – als massenhaftem Töten wie Getötetwerden – als einer Signatur dieses Zeitalters geprägt worden ist“?37 Doch an den Erinnerungsorten mit „doppelter Vergangenheit“ wird über diese Fragen wie unter einer Käseglocke diskutiert. Ausschlaggebend dafür erscheint ein normativer Kompromiss aus den frühen 1990er-Jahren. Hochrangige Historikergremien sowie vom Bundestag berufene Enquete-Kommissionen beteiligten sich damals an der Kontroverse um den Ort der Speziallager im historischen Erinnern. Ihre Konzepte – allem voran bei der Umgestaltung der Gedenkstätten in den neuen Bundesländern, die vor der Herausforderung standen (und stehen), sowohl NS-Opfern als auch stalinistisch Verfolgten gerecht zu werden und darüber hinaus eine Antwort auf die DDR-Gedenkkultur zu finden, die diese Orte über Jahrzehnte geprägt hat – folgen der nach dem Historiker Bernd Faulenbach benannten Faulenbachschen Formel. Darunter ist die Maxime zu verstehen, NS-Verbrechen nicht durch den Hinweis auf das Nachkriegsunrecht zu relativieren, dieses Unrecht aber auch nicht umgekehrt angesichts der NS-Verbrechen zu bagatellisieren.38 Aleida Assmann hat diesen deklaratorischen Minimalkonsens jüngst als „salomonisch“ beschrieben und als Denkfigur für die Auseinandersetzung um die europäische Erinnerung zwischen Holocaust-Gedächtnis und Gulag-Gedächtnis in Spiel gebracht.39 Tatsächlich machte die Faulenbachsche Formel die Gedenkstätten in den neuen Ländern überhaupt erst handlungsfähig. Mangels praxistauglicher Weiterentwicklung aber wirkt dieser damals so wichtige Kompromiss aus heutiger Sicht wie ein Webfehler, an dem die Erinnerung fehlläuft. Denn die Debatte um den Umgang mit der stalinistischen Verfolgung dreht sich infolge dieser Setzung fast nur um Erinnerung und nicht um Geschichte. In anderen Worten: Mit Blick auf die Nachkriegsverfolgung geht es primär um das wie und nicht das woran der Erinnerung.
37 Michael Geyer: Das Stigma der Gewalt und das Problem der nationalen Identität in Deutschland, in: Christian Jansen et al. (Hrsg.): Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 673–698, hier S. 684. 38 Bernd Faulenbach: Konkurrenz der Vergangenheiten? Die Aufarbeitung des SED-Systems im Kontext der Debatte über die jüngste deutsche Geschichte, in: Annegret Stephan (Hrsg.): 1945 bis 2000. Ansichten zur deutschen Geschichte, Opladen 2002, S. 17–32, hier S. 25. 39 Assmann: Unbehagen, 2013, S. 163.
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Herausforderung Auch wenn es sich wiederum nur um ein mediales Strohfeuer handelte, so schaffte es die Einweihung des Speziallagermuseums in der Gedenkstätte Sachsenhausen im Dezember 2001 in die New York Times.40 Grund dafür war die Presseerklärung des russischen Außenministeriums anlässlich der Ausstellungseröffnung: In der Präsentation würden die „Verbrechen des Faschismus und die Handlungen der sowjetischen Besatzungsmacht“, so der Wortlaut, „auf eine Stufe gestellt“ und dadurch „die Untaten von Naziverbrechern“ reingewaschen.41 Ungeachtet des Umstandes, dass diese Kritik der Ausstellung nicht gerecht wird – in Moskau hatte man sehr genaue Vorstellungen davon, woran zu erinnern sei: an angeblich gerechtfertigte und rechtmäßige Straf- und Sühnemaßnahmen. Tatsächlich fanden sich in den Speziallagern neben echten Gegnern der Besatzungsmacht – und den Tausenden, die durch Folter und Verhöre erst dazu ‚gemacht‘ wurden – zahllose Nationalsozialisten aller Belastungsgrade. Und doch waren die Inhaftierungen eines sicherlich nicht: Ausdruck einer politischen Moral. Dass die stalinistische Justiz primär politisch bestimmt und nicht auf rechtsstaatliche Prinzipien verpflichtet war, steht außer Zweifel. Es ist daher verfehlt, die Haftmaßnahmen des NKWD/MWD in einem Atemzug mit ‚sowjetischer Entnazifizierung‘ zu nennen – die Interpretation weckt Erwartungen an eine mit westlichen Internierungspraktiken vergleichbare Auseinandersetzung mit der personellen Hinterlassenschaft des NS-Regimes, mehr noch, sie deutet eine vergleichbare Rechtsförmigkeit an. Versteht man die alliierten Nachkriegslager gar als Ausdruck der seit der Moskauer Erklärung über Grausamkeiten vom Oktober 1943 wiederholten Selbstverpflichtung der Siegermächte, staatlich sanktioniertem Unrecht demokratische Rechtstaatlichkeit entgegenzusetzen, dann wird diese Diskrepanz überdeutlich. Weder in den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch nach der Gründung der DDR hat die sowjetische Besatzungsmacht auch nur den Versuch unternommen, diesen Vorgaben gerecht zu werden. Das Sicherheitsbegehren war immer stärker. Die Möglichkeiten und Grenzen transitiver Justiz sind nur ein Beispiel, woran erinnert werden könnte. Es würde bedeuten, sich mit Fragen an eine Besatzungsmacht auseinanderzusetzen, die Massenverhaftungen durchführte, ihre Geheimdienste auf Zivilisten hetzte und diese fern jeder rechtsstaatlichen Regularien incommunicado in Sicherheitsverwahrung nahm oder zu horrenden Lagerstrafen beziehungsweise zum Tode verurteilte. Die ehemaligen Häftlinge sind uns hier einen Schritt voraus. Sie ahnen, dass die Beschäftigung insbesondere mit diesem Themenkomplex schwierige Fragen aufwirft. Schließlich geht es um Prinzipien, die zuvor durch die Deutschen – und durchaus unter Applaus weiter Bevölkerungsteile – ebenfalls verhöhnt worden waren. Sie befürchten, dass ihre Erfahrun40 Ex-Death Camp Tells Story Of Nazi and Soviet Horrors, in: New York Times, 13.12.2001, URL: http//www.nytimes.com/2001/12/17/world/ex-death-camp-tells-story-of-nazi-and-sov iet-horrors.html, letzter Zugriff: 14.10.2012. 41 Zit. nach Haustein: Geschichte im Dissens, 2006, S. 14.
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gen vor diesem Hintergrund als gerechte Sühne angesehen und im Ergebnis bagatellisiert werden. Die Zeitzeugen trauen uns in dieser Angelegenheit nicht, vermutlich zu Recht. Ihr Misstrauen hat auch generationelle Gründe, verstehen sich die heute über 80Jährigen insbesondere durch Wissenschaft und Gedenkstätten immer wieder auf ihre Zeit als Pimpf oder in der Hitlerjugend reduziert und in moralische Mithaftung für ältere Jahrgänge genommen. Dieser kollektive Schuldvorwurf ist ihnen als kollektiver Feindverdacht aus der Haftzeit geläufig; auch vor den sowjetischen Geheimdiensten waren alle gleich schuldig. Während sie ihnen ohnmächtig ausgeliefert waren, können sie heute auf diese Vorwürfe reagieren. Wichtigstes Medium sind ihre Erinnerungsberichte, mit und in denen sie sich auf vielfältige Weise vom Nationalsozialismus zu distanzieren suchen. Es würde zu weit führen, die Erzählmotive hier im Einzelnen aufzuführen.42 Die aus anderen Kontexten deutscher Opfernarrative bekannte Strategie, die Zeit vor dem 8. Mai 1945 auszublenden, gehört zweifellos dazu. Hinzu kommen Versuche, an das in Deutschland anscheinend noch immer verfängliche Schreckbild des ‚Russen‘ anzuknüpfen. Dass der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg die meisten menschlichen Verluste abverlangt wurden, wird hingegen fast immer ausgeblendet. Der Vollständigkeit halber sind die ob ihres rassistischen Untertons unerträglichen Stereotype zu erwähnen, die in einigen Berichten aufgerufen werden. Diese Distanzierungsversuche lassen sich kürzer fassen: Für die Betroffenen gibt der Totalitarismus sowjetischer Prägung noch heute den alleinigen Erklärungsrahmen für ihre Opfergeschichte vor. Selbstverständlich ist diese Willkür ein Faktum. Darüber aber die nationalsozialistische Vorgeschichte auszublenden und ausnahmslos alle Speziallagerhäftlinge zu unschuldigen Opfern zu erklären, bestätigt wiederum all jene, die eine Relativierung des Nationalsozialismus befürchten. Damit schließt sich der Kreis: Wieder wird über das wie und nicht das woran der Erinnerung nachgedacht.
Stillstand Um mit Aleida Assmann zu sprechen: Die „Anerkennung der Deutschen als Opfer kann die Grundsituation der Deutschen als ‚Volk der Täter‘ keinesfalls außer Kraft setzen“. Daher haben die „Traumata der deutschen Zivilbevölkerung (...) Platz neben den Traumata der Holocaust-Opfer, wenn ein solides Bewusstsein des historischen Kontextes gesichert ist“.43 Doch beschreibt ihr daraus abgeleitetes Postulat, dass die Deutschen im ersten Schritt „selbst aktiv zu Trägern der jüdischen Opfer-Erinnerung“44 werden müssten, nicht nur die Dilemmata eines sol42 Ausführlich: Greiner: Verdrängter Terror, 2010, S. 406–458. 43 Aleida Assmann: Trauma und Tabu. Schattierungen zwischen Täter- und Opfergedächtnis, in: Joachim Landkammer et al. (Hrsg.): Erinnerungsmanagement, Systemtransformation und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, München 2006, S. 235–253, hier S. 252f. 44 Ebd.
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chen Bemühens, sondern womöglich auch die Unmöglichkeit seines Gelingens. Doch selbst wenn dem so sein sollte: Die Gedenkstätten an die stalinistische Verfolgung wären ein geeigneter Ort, die Möglichkeiten und Grenzen dieses Bemühens diskursiv in die Öffentlichkeit zu tragen. Die politische Kultur in Deutschland kann diese Auseinandersetzung aushalten. Stattdessen aber wird, und auch dafür steht das Beispiel Leistikowstraße, fern der Öffentlichkeit um das Wort Folter gerungen. 25 Jahre nach dem Mauerfall erscheint das wenig.
ATELIER & GALERIE
TRANSNATIONAL 9/11 MEMORIALS: AMERICAN EXCEPTIONALISM AND GLOBAL MEMORIES OF TERRORISM Erika Doss
Abstract: Since the terrorist attacks on America on September 11, 2001, hundreds of 9/11 memorials have been built in the United States and around the world. The global circulation of 9/11 is unusual, as permanent commemorations of the tragedies and disasters of particular nations are typically confined to those nations. Examining the aesthetic forms, subjects, and locations of transnational 9/11 memorials, this article considers how and why 9/11 memories circulate globally on visual and material terms. Why, for example, do other nations commemorate terrorist attacks against the United States? What are the cultural and political determinants motivating such memorials? What are their intended effects? Such questions are at the core of a growing transnational studies movement that is especially attentive to the people, places, and products of an increasingly interconnected world. Zusammenfassung: Seit den Terrorangriffen auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001 wurden hunderte von Mahnmalen zur Erinnerung an 9/11 in den USA und in vielen anderen Ländern rund um den Globus errichtet. Diese globale Verbreitung ist ungewöhnlich, da auf Dauer gestellte Erinnerungen an Tragödien und Katastrophen die Grenzen der davon betroffenen Nationalstaaten in der Regel nicht überschreiten. Mahnmale zum Gedenken an 9/11 stellen hier eine Ausnahme dar. Der Beitrag fragt nach den Gründen der globalen Ausbreitung dieser spezifischen Erinnerung und analysiert die Formen, Inhalte und Standorte dieser transnationalen Mahnmale. Im Zentrum stehen dabei Fragen, die auf ähnliche Weise im Kontext anderer, transnational perspektivierter Ansätze gestellt werden: Aus welchen Gründen erinnern andere Nationen an die gegen die USA gerichteten Terrorangriffe vom 11. September 2011? Welche kulturellen und politischen Faktoren motivieren die Errichtung solcher Mahnmale außerhalb der USA? Und welche Interessen und Absichten sind damit verbunden?
In the years since the terrorist attacks on America on September 11, 2001, hundreds of 9/11 memorials have been created. These include local and regional memorials scattered throughout the country and three national memorials sited where the attacks occurred: The Pentagon Memorial at the headquarters of the United States Department of Defense in Arlington County, Virginia; the Flight 93 Na
This article is a revised version of a paper delivered at the Fifth International Conference: Transnational American Studies organized by the Center for American Studies and Research, American University of Beirut, January 7, 2014. I thank Ingrid Gessner and Zoe Thrumston for their help with this project.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 123–142
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tional Memorial in southwestern Pennsylvania; and the National September 11 Memorial in New York, whose two huge pools occupy the footprints of the former Twin Towers (Figure 1). In December 2013, The Wall Street Journal reported that more than 11 million people had visited New York’s memorial since it opened in 2011.1
Figure 1: The South Pool, National September 11 Memorial, New York. Designed by Michael Arad and Peter Walker. Dedicated September 11, 2011; this photo October 17, 2012 (Courtesy Creative Commons)
Still other 9/11 memorials – more than fifty permanent installations to date – have been built in countries ranging from Australia and New Zealand to Brazil, Canada, Czech Republic, Denmark, England, Germany, India, Ireland, Israel, and Spain (Figure 2). Memorial services have also been held on the anniversary of 9/11 in many African, European, and Middle Eastern countries.
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Michael Howard Saul: New York Sees Record High Tourism in 2013, in: The Wall Street Journal, December 10, 2013.
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Figure 2: Donadea 9/11 Memorial, Donadea, Ireland. Dedicated 2003; this photo April 2013. Nine-foot limestone block replica of the Twin Towers inscribed with the names of firefighters and first responders who died at the World Trade Center on September 11, 2011 (Photo Rachel Schwartz)
This global circulation of 9/11 memorials is unusual, especially as permanent commemorations of the tragedies and disasters of particular nations are typically confined to that nation itself.2 Terrorist bombings in Madrid in 2004 and London in 2005, for example, are remembered, respectively, in the Atocha Bombing Memorial, a glass tower next to the Madrid station where 191 people were murdered in a series of coordinated attacks on the city’s commuter trains, and the 7 July Memorial in London’s Hyde Park, an installation of 52 stainless steel pillars representing those who were killed in the bombing of London’s public transportation system.3 Although extensively reported and widely condemned by global media, neither of these terrorist attacks have been commemorated on the global scale of 9/11. 2 3
Memorials to the millions who perished in the Holocaust are transnational exceptions. See the special issue „Remembering the 2005 London Bombings: Media, Memory, Commemoration“, in: Memory Studies 4 (2011) 3, pp. 263–335.
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Examining the aesthetic forms, subjects, and locations of transnational 9/11 memorials, this article considers how and why 9/11 memories circulate globally on visual and material terms. Why, for example, do other nations commemorate terrorist attacks against the United States? What are the cultural and political determinants motivating such memorials? What are their intended effects? Such questions are at the core of a growing transnational studies movement that is especially attentive to the people, places, and products of an increasingly interconnected world.4
9/11 Memorial Taxonomies Memorials are typically built to recognize and preserve memories, to remember and often honor people, events, and places. Claiming specific histories and marking particular social and political interests, memorials possess enormous „symbolic capital“ and as such can influence perceptions of social order, national identity, and political transition. In recent decades, memorial making and other commemorative practices have noticeably proliferated: an excessive phenomenon that I call memorial mania and define as an obsession with issues of history and memory accompanied by certain urgent and intense feelings to express those issues in public contexts.5 Today’s memorials may be best understood as „archives of feeling“, as visual and material bodies whose meanings correspond to their emotional, or affective, states. Pairing discussions of certain memorials with the affective conditions in which they are imagined, made, and experienced yields fresh insights about the nature and degree of their symbolic capital.6 America’s 9/11 memorials, for example, are unambiguously contextualized by feelings of grief and loss. Their abundance was further conditioned by the shock of foreign attacks on the nation and by widespread feelings of fear about terrorism’s impact on American vulnerability, accompanied by equally emotional demands for national stability, unity, and defense. Many American 9/11 memorials are informed by ‚security narratives‘ that interpret and explain the dangers facing the nation – such as terrorism – and simultaneously justify the actions taken by and on behalf of the nation – such as the war on terror. While attached to the historical realities of terrorist attacks on America on September 11, 2001, many 9/11 memorials employ discourses of innocence, courage, and heroism to
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See, for example, Ingrid Gessner: The Aesthetics of Remembering 9/11: Toward a Transnational Typology of Memorials, in: Journal of Transnational American Studies 6 (2014), forthcoming. Erika Doss: Memorial Mania: Public Feeling in America, Chicago 2010, pp. 2, 9–10; on „symbolic capital“ see Pierre Bourdieu: Outline of a Theory of Practice, Cambridge 1977, pp. 114–120. Ann Cvetkovich: An Archive of Feelings: Trauma, Sexuality, and Lesbian Public Cultures, Durham, NC 2003, p. 7.
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submerge the political logic of those attacks and to bolster, instead, desired American ideals of national unity, order, and power.7 There is no single ‚style‘ of 9/11 memorials. There are, however, shared materials, forms, texts, and affective conditions that coalesce to define, and manage, the memory and meaning of terrorism. Some 9/11 memorials are quite modest, consisting of plaques listing the names of the dead or groves of trees planted through the Living Memorials Project, an initiative of the U.S. Department of Agriculture Forest Service. Appropriating traditional funerary forms, these 9/11 memorials especially address emotional needs to grieve and mourn the dead. Some 9/11 memorials imitate the vertical shapes of the Twin Towers, reaffirming their formerly lofty presence on the New York skyline to infer that they, and those who died on 9/11, are not forgotten. Some appropriate the commemorative codes of certain war monuments – such as the large scale and figurative style of the U.S. Marine Corps War Memorial in Arlington Cemetery – and remember 9/11 on similarly heroic and triumphal terms. These memorials are usually dedicated to the firefighters and emergency personnel, now called „first responders“, who risked their lives to save others at the World Trade Center. Others, such as De Oppreso Liber (2013), a bronze statue near the World Trade Center that features a U.S. Green Beret riding an Afghan pony, pay tribute to American military personnel engaged in the war on terror.8 These 9/11 memorials are informed by the emotional range of moral and political obligations associated with gratitude: with giving thanks to those who serve. Many 9/11 memorials, especially those featuring twisted metal from the Twin Towers, speak to the affective conditions of rage and retribution. The City of New York donated tons of iron girders from Ground Zero to other cities eager to acquire genuine 9/11 artefacts. These pieces of deformed metal are understood as commemorative anchors that authenticate the horrible consequences of terrorism: their rough materiality substantiates the veracity of terrorist attacks that were repeatedly described at the time as „like a movie“. Featured in memorials throughout the United States, these fragments further serve to unite all-Americans in shared 9/11 memories (Figure 3). Indeed, these metal remains are often viewed as venerated relics that embody American innocence, pain, and sacrifice.
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Doss: Memorial Mania, 2010, pp. 147–167. Erika Doss: De Oppreso Liber and Reflecting Absence: Ground Zero Memorials and the War on Terror, in: American Quarterly 65 (2013) 1, pp. 203–214.
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Figure 3: Napa 9/11 Memorial, Napa, California. Designed by Gordon Huether and Gretchen Stranzi McCann. Dedicated 2013; this photo September 2013 (Courtesy U.S. Air Force; photo Ellen Hatfield)9
They are further understood as symbols of national anger. As the designers of the September 11 Memorial at the Texas State Cemetery in Austin state: „We want people to feel the relics that were washed in the blood of the innocents. We want people to recognize the horror, understand the sorrow, the righteous wrath, the resolve and remembrance.“ This memorial features two battered steel girders and two text panels, one stating, „These steel columns were salvaged from the World Trade Center at Ground Zero, New York City“, and another featuring excerpts from President George W. Bush’s address to the nation on October 7, 2001, when he announced the start of Operation Enduring Freedom (the U.S. invasion of Af-
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The names of the victims of the 2001 terrorist attacks on the World Trade Center and the Pentagon are etched on the four glass panels that anchor the center of the sculpture, which includes four steel beams salvaged from the Twin Towers.
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ghanistan) and declared: „We will not waiver, we will not tire; we will not falter, and we will not fail. Peace and Freedom will prevail.“10 Affective conditions of grief, gratitude, and rage are reinforced in American 9/11 memorials through photography and memento making. In contrast, for example, with nineteenth-century monuments of stern and unapproachable men on horses, contemporary memorials of all kinds are especially oriented toward intimacy, materiality, and ‚felt experience‘. Memorial visitors take snapshots and make videos, determined to ‚never forget‘ their feelings at these sites by creating visual ‚memory aids‘. At New York’s September 11 Memorial, many visitors make rubbings of the names of victims etched on the bronze parapets surrounding the two pools. Popularized by visitors to the Vietnam Veterans Memorial in Washington, D.C. in the early 1980s and now common at memorials worldwide, this custom corresponds to visceral desires for intense experiences that authenticate the event or subject of commemoration, and further evoke empathy and attachment. Touching the names of the dead listed on 9/11 memorials, and imprinting them on pieces of paper, serves to physically and emotionally connect visitors to the ‚reality‘ of 9/11 and produces souvenirs, Susan Stewart suggests, that authenticate their experiences.11
Transnational 9/11 Memorials Not including the 19 perpetrators, 372 foreign nationals were killed during the terrorist attacks of September 11, 2001: just over 12 percent of the total number of victims (2,977). People from 92 different countries were killed in the World Trade Center. Many transnational 9/11 memorials pay tribute to the foreign victims of 9/11 and, as such, expand 9/11’s history and memory beyond a focus on American victims and affective conditions. Others are couched in desires to affirm friendly foreign relations. And still others co-opt the terrorist attacks of 9/11 to produce memorials dedicated to different subjects and events. Transnational 9/11 memorials include both permanent installations and temporary remembrance ceremonies. Numerous countries held memorial services in the days following 9/11, and conducted annual observances over the next decade. Many of these events were organized by local authorities, and others by U.S. diplomatic missions. In September 2005, for example, more than a dozen different September 11 commemorations were held in Italy, including the dedication of the World Trade Center Memorial in Padua, which was commissioned by government officials from the Veneto Region. In London, 2,000 people, including 9/11 family members, attended tenth anniversary 9/11 memorial services organized by 10 Christy Hoppe: State’s Sept. 11 Memorial, in: Dallas Morning News, September 12, 2002, p. A-29; John Shelton Lawrence: Rituals of Mourning and National Innocence, in: The Journal of American Culture 28 (2005) 1, pp. 35–48. 11 Susan Stewart: On Longing: Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Baltimore, MD 1984.
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British officials and held in St. Paul’s Cathedral. In Paris that year, thousands participated in a 9/11 spectacle organized by The French Will Never Forget, Inc., a non-profit corporation committed to „French-American friendship“. Held at the Palais du Trocadéro, the event opened with a procession of children carrying U.S. and French flags and included a candlelight vigil, laser-light show, and two temporary ten-story replicas of the Twin Towers. Diplomatic cables obtained by WikiLeaks reveal that many U.S. embassies also organized 9/11 observances. In 2002, the U.S. Embassy in Amman and the Arabic Book Program coordinated a „September 11 Commemoration Book Set“, a three-volume collection of translations into Arabic of American literary and political texts that was distributed throughout Jordan.12 On September 11, 2005, the embassy in Vilnius, Lithuania organized an interfaith service in memory of all victims of terrorism since 9/11.13 In Abu Dhabi that year, the U.S. Embassy organized a 9/11 ceremony that was attended by ambassadors from 25 Muslim countries and was extensively covered in Arabic and English language media outlets. In 2009, following on President Obama’s call that September 11 be remembered worldwide as a „National Day of Service and Remembrance“, the U.S. Embassy in Cotonou, Benin organized the first community blood drive at the Mosque of Cadjehoun, and staff at U.S. embassies in Malta, Niger, Côte d’Ivoire, and other missions planned similar volunteer and interfaith ceremonies.14 These examples suggest that many transnational 9/11 memorials are motivated by desires to pay homage to the victims of 9/11, to express solidarity with U.S. policies regarding global anti-terrorism, and to improve foreign relations with America. Memorials organized in Amman, Ankara, and Abu Dhabi represent U.S. efforts to generate Middle Eastern partners in the war on terror, especially by highlighting shared struggles and suffering. As Nancy McEldowney, Deputy Chief of Mission for the U.S. Embassy to Turkey, remarked in a 9/11 ceremony held in 2005: „Whether the bomb goes off in New York or Istanbul, whether it is Zarkawi or Kurat Karayilan, by standing together at this monument today we send a clear message. Americans stand together with their Turkish brothers in condemning the PKK and its terrorist violence just as we condemn al-Qaida.“15
12 Invitation to Order September 11 Commemoration Book Package, U.S. Embassy Amman, June 25, 2002, Diplomatic Cable 02AMMAN342, URL: http://www.wikileaks.org/plusd/ cables/02AMMAN3423_a.html, last accessed: May 5, 2014. 13 First-Ever Interfaith Gathering in Lithuania, U.S. Embassy Vilnius, September 13, 2005, Diplomatic Cable 05VILNIUs959, URL: http://wikileaks.org/cable/2005/09/05VILNIUS959. html, last accessed: May 5, 2014. 14 Benin: Blood Drive Muslim Community Project, U.S. Embassy Benin, October 27, 2009, Diplomatic Cable 09COTONOU515, URL: http://wikileaks.org/cable/2009/10/09COTONOU 515.html, last accessed: May 5, 2014. 15 9/11 Events in Ankara, Istanbul Generate Positive Press Play, U.S. Embassy Ankara, September 12, 2005, Diplomatic Cable 05ANKARA5305, URL: http://www.wikileaks.org/plusd/ cables/05ANKARA5305_a.html, last accessed: May 5, 2014. The PKK is a terrorist organization focused on Kurdish separation from Turkey.
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Likewise, in her remarks that year in Abu Dhabi, U.S. Ambassador Michele Sison stated that 9/11 was a blow „to the entire international community“, and praised the United Arab Emirate for being a „staunch ally in the international fight against terrorism“.16 Permanent transnational 9/11 memorials are built for similarly symbolic and diplomatic purposes. Their locations vary: some are installed in public airports, cemeteries, gardens, and plazas, while others are found on the private, guarded, or otherwise restricted grounds of U.S. embassies and military bases.17 Likewise, they are commissioned by different parties: by foreign government officials interested in asserting their alliance with the United States, by U.S. diplomats and citizens who link their tributes to the American victims of terrorism with international concerns, and by other groups with different agendas. Many transnational 9/11 memorials appropriate the designs of American 9/11 memorials. Some, including memorials in Stresa, Italy and Jerusalem, reproduce the U.S. flag. Others, including memorials built in Copenhagen (Denmark), Oberviechtach (Germany), Donadea (Ireland), Be’er Sheva (Israel), Rome (Italy), Tijuana (Mexico), and Moncalvillo (Spain), feature stone, glass, or metal shafts that replicate the Twin Towers, albeit at miniscule scale. Few transnational 9/11 memorials reference the two other targets of 9/11: The Pentagon and United Airlines Flight 93. Likewise, few evoke the affective conditions of fear, rage, and retribution that are evident in many American 9/11 memorials. References to gendered terms of courage, heroism, and sacrifice are shared, however. A gaining number of transnational 9/11 memorials, both temporary and permanent, are dedicated to the 343 firefighters who died at the World Trade Center. In Sydney, the tenth anniversary of 9/11 was commemorated in a Memorial Stair Climb, an event during which firefighters meet in high-rise buildings to climb 110 flights of stairs, often wearing full firefighting outfits and carrying heavy gear, „as a tribute to their fallen brothers“.18 (Each of the World Trade Center’s Twin Towers featured 110 floors, and 343 firefighters died during 9/11 rescue operations.) First organized in 2003, the Memorial Stair Climb has become a truly transnational event: in 2011, 55 such climbs were held around the world. Some transnational 9/11 firefighter memorials originate in outreach projects organized by U.S. service organizations like the International Fire Relief Mission, a group that donates used firefighting equipment. In 2012 in the Republic of Georgia, local officials expressed their gratitude for a fire truck and assorted gear by dedicating a large 9/11 park landscaped with 343 trees (Figure 4). As Georgia’s State Deputy Governor remarked: „It’s very important that this memorial garden and monument is dedicated not only to heroically perished firefighters, 16 UAE 9/11 Commemoration, U.S. Embassy Abu Dhabi, September 12, 2005, Diplomatic Cable 05ABUDHABI3883, URL: https://www.wikileaks.org/plusd/cables/05ABUDHABI38 83_a.html, last accessed: May 5, 2014. 17 9/11 memorials were erected at Bagram Airfield in Afghanistan, Ali Al Salem Air Base in Kuwait, and Kelley Barracks in Darmstadt, Germany, among other U.S. military bases. 18 9/11 Stair Climb Mission Statement, 9-11 Memorial Stair Climbs, URL: http://www.9-11stair climb.com/about.html, last accessed: December 22, 2013.
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but it is a symbol and a demonstration of friendship between the American and Georgian nations.“19 Like their American counterparts, transnational firefighter memorials reaffirm gendered constructions of heroic manhood. One-third of those who died on 9/11 were female, including female first responders. Most 9/11 memorials, however, especially those dedicated to firefighters, discount those figures in deference to themes of masculine courage and sacrifice.
Figure 4: 9/11 Memorial, Mtskheta, Republic of Georgia. Dedicated 2012; this photo April 2012 (Photo Ron Gruening)
Other transnational 9/11 memorials simply feature trees and/or plaques. In 2002 in Cambridge, North Island, New Zealand, local authorities planted a small tree and a bronze marker reading, „In memory of all those who lost their lives in the terrorist attacks against the United States of America on 11 September 2001“. In Bridgetown, Barbados in 2003, U.S. embassy staffers planted a Cassia Fiscula, a flowering tree native to southern Asia, and erected a stone monument „to honor
19 Givi Maisuradze quoted in Rick Martley: Former Soviet country unveils vast 9/11 memorial, FireRescue.com, April 16, 2012, URL: http://www.firerescue1.com/fire-products/fire-appa ratus/articles/1272494-Former-Soviet-country-unveils-vast-9-11-memorial, last accessed: December 30, 2013.
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those Americans who lost their lives and loved ones in the September 11, 2001 attacks in the United States“. Barbados aside, American oaks are typically the tree of choice in transnational 9/11 memorials, probably because the oak was appointed America’s official „National Tree“ in 2004. In Madrid, ten American oaks were planted in El Parque Juan Carlos on the tenth anniversary of 9/11. In Paris, an American oak was planted in 2002 in Luxembourg Gardens, next to the original bronze model of the Statue of Liberty. A plaque, small and tarnished, features this text: „This American oak is dedicated to the memory of the victims of September 11, 2001 in the United States of America. Gift of the American community in Paris as a symbol of FrancoAmerican friendship, planted on January 30, 2002 by M. Christian Poncelet, President of the French Senate in the presence of The Honorable Howard Leach, Ambassador of the United States of America to France, Princesse de La Tour d’Auvergne, Président of French Heritage Society/FVMF, Paul Girod, President of the French-American Friendship Committee of the French Senate.“
American expatriates – in this case „the American community in Paris“ – organize permanent 9/11 memorials to demonstrate their enduring attachment to the United States. The repetition of the text in French and English indicates that the memorial is intended, however, for more than a monolingual American audience. Similarly, a memorial erected in 2001 in Lisbon features text in Portuguese and English that reads: „Tribute of the people of Lisbon to the victims of the attacks perpetrated in New York and Washington on September 11, 2001.“ Designed by Portuguese cartoonist Augusto Cid, Lisbon’s 9/11 memorial was the first erected outside the United States and was symbolically sited at the intersection of Avenida de Roma and Avenida dos Estados Unidos da América. Cid based the twenty-foot memorial on photographs of the shredded metal facade of the ruined Twin Towers that were widely circulated in newspapers and on TV in the days following 9/11 (Figure 5).
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Figure 5: 9/11 Memorial, Lisbon, Portugal. Dedicated 2001; this photo May 2012 (Photo courtesy Waymarking.com)
Memorials in Canada, Germany, Israel, Italy, and New Zealand, among other countries, feature distorted metal remains from the Twin Towers. Their global distribution is similar to the manner in which pieces of the Berlin Wall were scattered all over the world in the 1990s, and equally revered as authenticating historical artefacts. Their affective conditions differ, however, as fragments from Ground Zero connote pain and suffering while those from the Wall embody liberation and freedom. Typically obtained through diplomatic and military channels, in a transnational context metal pieces from the Twin Towers represent both the authenticity of 9/11 and the legitimacy of being a loyal U.S. ally. A 9/11 memorial in Pompeii, Italy, for example, features a thirty-foot span of mangled steel from the Twin Towers inserted into a large block of lava stone from the slopes of nearby Mount Vesuvius. The design, said speakers at a 9/11 ceremony in 2011, „symbolizes the solid bonds of brotherhood between the U.S. and Italian people“.20
20 News and Events: Pompei[i], September 11, 2013, Consulate General of the United States, Naples, Italy (11 September 2013), URL: http://naples.usconsulate.gov/news-events/pompeiseptember-11-2013.html, last accessed: December 30, 2013.
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Figure 6: 9/11 Living Memorial, Jerusalem, Israel. Dedicated 2009; this photo February 2010 (Courtesy Wikipedia commons; photo Dr. Avishai Teicher)
The 9/11 Living Memorial in Jerusalem’s Arazim Park, designed by Israeli artist Eliezer Weishoff and dedicated in 2009, is especially promoted as a symbol of Israeli-U.S. alliance, and is often used for state ceremonies featuring Israeli and U.S. officials (Figure 6). The 30-foot bronze sculpture, which depicts an unfurled American flag morphing into an eternal flame and incorporates steel fragments from Ground Zero, is located in an open plaza that seats 300 people and is circled by low walls etched with the names of 9/11 victims. Israel, which lost four citizens in 9/11, has built the largest number of transnational 9/11 memorials to date (over a dozen), including memorial parks, squares, and traffic circles. Many have been developed by Dov Shefi, father of an Israeli businessman killed on the North Tower’s 106th floor. And some have been built on land that is contested as being Israeli property, where Palestinians and Bedouin Arabs have been forcibly dislocated. As Shefi told President George W. Bush when they met a few years after 9/11: „I managed to persuade 10 mayors in Israel to build 10 Memorial-Monument[s] to perpetuate all the thousands victims of 9/11, including the four Israelis.“21 Paying tribute to the victims of 9/11 and demonstrating the strength of 21 Dov Shefi: Meeting with President Bush, in: Voices of September 11th, URL: http://www. voicesofseptember11.org/dev/memorial_content.php?idbio=130623967&idcontent=4004 39028, last accessed June 20, 2014.
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Israeli-U.S. ‚bonds‘, Israel’s 9/11 memorials help justify that nation’s territorial expansion and settler colonialism: another form of terrorism, some argue.22
Padua’s Memoria e Luce Dedicated in 2005, Padua’s 9/11 memorial – called Memoria e Luce, or „memory and light“ – was similarly motivated by government officials aiming to affirm enduring U.S.-Italian relations (Figure 7). Despite its recent economic and political crises and its preferred reputation as a „force for peace“, Italy is a strong U.S. military ally, including deploying ships, planes, and troops to Operation Enduring Freedom. Still, in March 2003, only 22 percent of Italians supported intervention in Iraq.23 Erected two years later, Padua’s 9/11 memorial strongly asserts American ideals on Italian soil, and friendship between the two countries. Designed by American architect Daniel Libeskind, who emigrated from Poland in 1959, the 56-foot tall memorial is located in the middle of Padua in the well-trafficked gardens of the Porte Contarine, and is laden in heavy-handed symbolism.
Figure 7: Memoria e Luce World Trade Center Memorial, Padua, Italy. Designed by Daniel Libeskind. Dedicated 2005; this photo June 2009 (Photo Pam Klobáska) 22 See, for example, Bashir Abu-Manneh: Israel in the US Empire, in: Elleke Boehmer, Stephen Morton (eds.): Terror and the Postcolonial: A Concise Companion, London 2009, pp. 226–253. 23 Jason W. Davidson: Italy-US Relations Since the End of the Cold War: Prestige, Peace, and the Transatlantic Balance, in: Bulletin of Italian Politics 1 (2009) 2, pp. 299, 302.
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A vertically hinged sculpture made of glass cladding and steel, Memoria e Luce resembles an „open book“ with a huge steel beam from the Twin Towers inserted on its left side (or „page“) and its right side left blank. The book design references Padua’s reputation as a center of learning (the University of Padua is one of the oldest in the world, numbering Galileo among its esteemed lecturers) and tolerance (despite Italy’s dominant Catholicism, Padua is famous as a center of Talmudic studies and has maintained a continuous Jewish presence since the 11th century). It also reifies particular American myths: Libeskind explains that the memorial’s „spine“ is aligned with the latitude of New York City and echoes that city’s symbolic identity as a port of entry to, and exemplar of, American ideals of freedom and liberty. As he writes: „The Light of Liberty shines through the Book of History. This Book is open to the memory of the heroes of September 11th (...). The eternal affirmation of Freedom is inscribed on the Statue of Liberty, as seen by millions of emigrants coming to America.“24 Piercing his „Book of History“ with a twisted piece of 9/11 steel, and orienting the entire memorial toward New York and the Statue of Liberty, Libeskind dramatically conveys terrorism’s threat to the United States. While his assessment is certainly valid, it promotes notions of American exceptionalism at the expense of terrorism’s global dimensions. One critic remarks that Libeskind’s recent memorial projects show a conservative adherence to „a narrative embedded in halftruths“ and „a refusal to look critically at international political reality“.25 WikiLeaks documents reveal that when Memoria e Luce was dedicated, local citizens protested that the „City of Padua should have built a memorial to commemorate all of the victims of war and not just those from 9/11“.26 Indeed, while Memoria e Luce is acclaimed by architects, ambassadors, and Italian politicos, its reputation among many Paduans is more contested. One resident writes: „As elegant as it is, I do not believe that the Paduans truly feel much of anything for this monument. It is a strange testimonial because it primarily displays a tragic American problem (...). Did the politicians in Padua believe that their medium-small city would appear more important on a world-scale with this kind of ‚international‘ monument? Is it appropriate here? I am an American here and even question it sometimes.“27
24 Daniel Libeskind: Memoria E Luce, 9/11 Memorial, Museum Without Walls, URL: http://cult urenow.org/entry&permalink=14044&seo=Memoria-E-Luce-911-Memorial_Studio-Daniel-Lib eskind, last accessed: December 28, 2013. 25 William J.R. Curtis: Daniel Libeskind, in: The Architectural Review, September 21, 2011, URL: http://www.architectural-review.com/daniel-libeskind/8620025.article, last accessed: December 28, 2013. 26 9/11 Activities in Italy, U.S. Embassy Rome, September 15, 2005, Diplomatic Cable 05$ome 3088, URL: http://www.wikileaks.org/plusd/cables/05ROME3088_a.html, last accessed: July 5, 2014. 27 Memoria e Luce, An American in Padua, June 23, 2009, URL: http://americaninpadua.blogspot. com/2009/06/memoria-e-luce.html, last accessed: December 30, 2013.
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The memorial was vandalized in 2012 – some of the glass panels were shattered by rocks – which suggests that some Paduans ‚truly feel‘ that Memoria e Luce is more of an irritant than a symbol of U.S.-Italian friendship.
Global Memories of 9/11 Despite their differences in motivation and design, transnational 9/11 memorials assert that 9/11 was a global phenomenon with global consequences: a series of terrorist actions that destroyed a world financial center located in New York, killed citizens from 92 different countries, and launched the „Global War on Terrorism“ (GWOT), a „war without borders“ pursued by the U.S. and its allies. Ironically, the terrorist attacks of 9/11 have globally eclipsed those inflicted on other nations, such as Spain in 2004 and Britain in 2005, because of enduring notions of American exceptionalism: the idea that the U.S., both because of its new nation formation in the late eighteenth century and its ideological endorsement of concepts like freedom, liberty, and individualism, is different from and more significant than other nations. American 9/11 memorials emphasize this exceptional state in references to American innocence and heroism, and many transnational 9/11 memorials do much the same. Not all 9/11 memorial audiences share these assumptions of American exceptionalism, however, as the response in Padua suggests. Indeed, the variability of contemporary cultural globalization complicates clear or precise distinctions between U.S. and transnational 9/11 memorials. Several 9/11 memorials in the United States, for example, are dedicated to and designed by foreign nationals. In 2011, Japanese artist Junkyu Muto, who was born in Sendai, Japan in 1950 and lives and works in Italy, was commissioned by New York’s Japan Society to create one of his signature Circle Wind sculptures, abstract marble renderings that resemble a Moebius strip and symbolize eternity, as a memorial to the 24 Japanese citizens who were killed on 9/11. Future plans include placing Muto’s 9/11 memorial in a sculpture garden at the World Trade Center. And in 2004, British artist Anish Kapoor, born in Mumbai in 1954, was commissioned by the British Memorial Garden Trust, Inc., a non-profit organization founded by the British Consulate and the St. George’s Society in New York, to design Unity, a sculpture commemorating the 67 British citizens who were killed on 9/11.28 Kapoor’s sculpture consists of a 20-foot granite block with a highly polished interior cavity. As he explains: „Into the center of the stone is carved a very long thin chamber with a reflective chamber. The reflective chamber forms within itself a column of light (...). What I tried to do is to pro-
28 Anish Kapoor quoted in: Kapoor to create 9/11 memorial, in: BBC News, April 1, 2004, URL: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/3588717.stm, last accessed: January 2, 2014.
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vide a moment of quiet, a moment of I hope contemplation (...). What the work needs to do is have authority, sobriety, and I hope a certain contemplative clarity.“29
Unity will be installed in the Queen Elizabeth II September 11 Garden (formerly called the British Garden), a small pocket park located in Hanover Square, a few blocks east of the World Trade Center in the Financial District in Lower Manhattan. The park also pays tribute to the commonwealth nations – including Australia, Canada, and Jamaica – who lost citizens in the terrorist attacks of 9/11. As Jamaica’s Consul General to New York, Geneive Brown Metzger, remarked during a 9/11 memorial service held in the park in 2011, „The Jamaicans who perished in the attacks on the World Trade Centre will never be forgotten by their families and homeland. This memorial in the heart of New York City is a fitting tribute and I am honoured to be able to lead the official recognition of their sacrifice to their adopted homeland.“
Kapoor similarly observes, „I think it’s interesting that the city authorities in New York have thought it correct to allow there to be a British memorial, and I hope they will allow that to others“.30 Kapoor’s remarks about the emotional reception of his forthcoming 9/11 memorial – feelings of sobriety, quiet reflection, and „contemplative clarity“ – and his approval of more inclusive, or less strictly „American-centric“ memorials, suggest the different agendas that shape transnational commemorations of 9/11. While many transnational 9/11 memorials reify American symbols and tropes from flags to freedom and, in various firefighter monuments, embrace hegemonic assumptions like authoritative masculinity, others qualify those assumptions by claiming 9/11 for themselves. Some expressly pay homage to 9/11’s global range of victims: the eleven Australians, three Brazilians, eleven Germans, 41 Indians, 16 Mexicans, and many others who were killed on September 11. The text accompanying a memorial dedicated in 2003 in St. Catherines, Ontario reads: „This site is dedicated to the 27 Canadians, including those with strong ties to Canada, who lost their lives in the tragic events of September 11, 2001.“ Likewise, a 9/11 memorial in Ottawa asserts: „In remembrance of the Canadians Lost, September 11, 2001“ (Figure 8). And a 9/11 Remembrance Garden in Mawson Lakes, South Australia, located at the headquarters of the Australian Workers Union (AWU) features a plaque that reads: „In fond memory of our mate Andrew Knox, past AWU industrial officer, victim of terrorism, New York City, 11.9.2001.“
29 Anish Kapoor quoted in: Watch and Listen: Sculptor Anish Kapoor, in: BBC News, April 1, 2004, URL: http://news.bbc.co.uk/media/audio/39991000/rm/_39991823_kapoor07_kapoor_ int.ram, last accessed: January 2, 2014. 30 Geneive Brown Metzger quoted in: Permanent Memorial in New York for Jamaican 9/11 Victims, in: Jamaica Observer, January 3, 2012, URL: http://www.jamaicaobserver.com/ news/ Permanent-Memorial-in-New-York-for-Jamaican-9-11-victims-, last accessed: January 17, 2014; Kapoor quoted in: Watch and Listen: Sculptor Anish Kapoor.
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Figure 8: 9/11 Memorial, Beechwood Cemetery, Ottawa, Ontario. Dedicated 2002; this photo May 2011. The bronze plaque on this stone cairn lists the names of the 24 Canadians killed on 9/11, as well as two other people married to Canadians (Photo courtesy Waymarking.com)
Obviously, these and other transnational memorials challenge the notion that 9/11’s victims were exclusively American. In addition, while many transnational 9/11 memorials replicate the Twin Towers in their designs, they recast them as representative buildings of the World Trade Center, not just as symbolic icons of the United States – which most American 9/11 memorials uncritically assert. That is not to say that these transnational 9/11 memorials – or any memorials referencing the Twin Towers – actually or effectively critique the World Trade Center as a monument to global capitalism. Rather, they dispute 9/11’s strictly American narrative of terrorist victimization. Perhaps the strongest challenge to assumptions of 9/11’s affective and political exceptionalism is 9/11’s appropriation as a signifier of other nation’s traumas and tragedies. In Canada, the 1985 terrorist bombing of Air India Flight 182, which killed 329 passengers and crew, is now called Canada’s „own 9/11“. In Koriyama City, Japan, a memorial to the victims of the disastrous 2011 tsunami is being made from mangled steel beams salvaged from the World Trade Center,
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shaped into the form of a giant crane. The tsunami itself is now called „3/11“, a numerical shorthand that follows 9/11’s signature reference.
Figure 9: Invitation to Remembrance Day ceremonies, February 9, 2013, at the Viscount Memorial, Voortrekker Monument, Pretoria, South Africa. Viscount Memorial dedicated 2012; this photo January 2013 (Photo Tiggs Grey)
In South Africa, a memorial commemorating the victims of what some call „Rhodesia’s 9/11“ was dedicated in 2012 (Figure 9). In 1978 and 1979, ZIPRA (Zimbabwe People’s Revolutionary Army) insurgents shot down two Vickers Viscount Air Rhodesia airplanes with surface to air missiles, killing 107 people. The Viscount Memorial features the names of the murdered passengers and crew, an abstract symbol representing a plane, and text stating that these acts of terrorism were „the first 9/11 styled attacks to destroy passenger aircraft“. Located on the grounds of Pretoria’s Voortrekker Monument, itself a problematic site of colonialist and Apartheid memory, the Viscount Memorial co-opts 9/11 in order to re-cast Rhodesia as victim, rather than racist perpetrator, and thereby re-map Rhodesia (now Zimbabwe) in the global imagination. As one supporter of the memorial remarks, „The whole world already knows and condemns the Lockerbie and Twin Towers 9/11 styled terrorist attacks. There is no better catalyst for gaining international recognition for our cause
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Erika Doss than to publicize Rhodesia’s 9/11. Ironically, what once shattered the Nation now holds the key to winning back our honour.“31
Transnational 9/11 memorials prompt us to ask ‚who counts?‘ in the memory of 9/11. While some destabilize the idea that 9/11 was only or all about American victimization, others deploy 9/11’s affective apparatus to assert their own political authority: redefining oppressors as victims, as in the case of the Viscount Memorial in South Africa, or justifying acts of state sanctioned terrorism, as in the case of Israel building 9/11 memorials on land seized from others and restricted to Israeli citizens.
Conclusion Transnational 9/11 memorials are the products of an increasingly intensified flow of cultural capital across national borders. Their diversity suggests that this flow is uneven: while these memorials may assert American identity and values globally, they are also subject to the issues and concerns of the geographies in which they are located. Many transnational 9/11 memorials ‚bear witness‘ to U.S. grief and loss, demonstrating mutual feelings of compassion for America’s victimization by foreign terrorists. Some, especially memorials made by valued U.S. allies and in countries where terrorism is a significant threat, extend these feelings of sympathy to reference their own histories of terrorism and to express solidarity with U.S. global anti-terrorism initiatives. These transnational 9/11 memorials are intended as gestures of political good will, as calculated markers of alliance and friendship with the United States. Still other memorials usurp 9/11’s historical significance and memory for their own purposes. Critical consideration of these distinctions among transnational 9/11 memorials suggests that while the terrorist attacks on America on September 11, 2001 are globally recognized and remembered, there is neither global consensus about 9/11’s meaning and symbolic capital, or about the global power and authority of the United States.
31 From the blog The Photographic journey of a bulldog, comments from Keith Nell posted January 27, 2013, URL: http://visitstothepark.wordpress.com/2012/09/04/rhodesias-911-attacka-memorial-and-unveiling-of-the-monument/, last accessed: December 30, 2013.
EIN FOTOGRAFISCHER BLICK AUF DIE INNERDEUTSCHE GRENZE. DER „AUGENSINN“ WESTDEUTSCHER ZOLLBEAMTER ZWISCHEN DEN 1950ER- UND 1980ER-JAHREN Bianca Roitsch, Anette Blaschke
Zusammenfassung: Während des ‚Kalten Krieges‘ agierten die Beamten des bundesdeutschen Zolls an der innerdeutschen Grenze auch als Fotografen, deren Bilder einen Einblick in das ‚Sichtfeld‘ des Dienstalltages an einem politischen Brennpunkt erlauben. Im Mittelpunkt des Beitrages steht eine Auswahl von Fotografien, deren Analyse erstens die Selbstwahrnehmung der Beamten, zweitens die Darstellung der Grenze als Bauwerk und drittens die Beobachtung des Fremden in Gestalt der ostdeutschen Grenzbewacher umschließt. Mittels bild- und geschichtswissenschaftlicher Methoden wird deutlich, dass die Zollbeamten einen spezifischen „Augensinn“ (Alf Lüdtke) ausprägten, der das Ergebnis sowohl einer von außen gesteuerten Perzeption als auch individueller Sehweisen war. Daher können die Bilder heute ihrem Gebrauch nach nicht nur als individuelle ‚Erinnerungsstützen‘ dienen, sondern auch als Medien zur Reflexion historischer ‚Meistererzählungen‘. Abstract: During the ‚Cold War‘ the customs office of the Federal Republic of Germany took photos along the inner German border and thereby gave us a glimpse of the daily routine next to that political hotspot. The selection of photos firstly reflects the selfperception of the officials, secondly provides images of the border as a complex system of fortifications and thirdly reveals the changing view of the ‚foreigners‘ on the other side of the border. It is apparent that the officials developed a particular perspective as a result of daily routine and the official reading of events. That is why the historical photos can nowadays be seen not just as individual memorabilia, but also as instruments for reconsidering historical master narratives.
In einem amüsanten Spottgedicht brachte der westdeutsche Zollbeamte Günter Schüttauf seinen Unmut über die zahlreichen Touristen an der innerdeutschen Grenze zum Ausdruck: „Mit Bussen wer’n sie rangekarrt, zur sogenannten Kaffeefahrt, sie hau’n sich voll mit Sahnetorte, ich finde dafür keine Worte. Und ist der Bauch so richtig voll, ‚belästigt‘ man den Mann vom Zoll.“
Nicht nur, dass sie seine berufliche Tätigkeit abschätzig beurteilten: „‚Ein Leben hat der‘ – wie man sieht –, weil hier ja doch nie was geschieht.“ Despektierlich beobachteten sie die ‚Fremden‘ auf der anderen Seite der Grenze und registrierten zugleich die potenzielle Gefahr des Ortes: „Hier vorne ist das Niemandsland. Fritz, nimm die Kinder an die Hand, geh‘ nicht so dicht zum Schlagbaum da, die
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ballern sonst, man kennt das ja.“1 Damit schärft das Gedicht des Zöllners den Blick für eine ‚schaurige Idylle‘ an der innerdeutschen Grenze, die sowohl das Erholungsbedürfnis ihrer Besucher als auch deren Sensationslust bediente. Jenseits des touristischen Blicks aber war die Grenze alltäglicher Dienstort von Beamten des bundesdeutschen Zolls, die seit 1949 die Grenzsicherung zwischen BRD und DDR übernahmen. Dabei kam dem Zoll neben der Kontrolle des Personen- und Warenverkehrs am konkreten Ort der Blockkonfrontation ebenso politische Bedeutung zu. Die dauernde Beobachtung der Gegenseite gehörte zum täglichen Aufgabenspektrum der Beamten, wobei sie besondere Vorkommnisse und Entwicklungen nicht nur schriftlich, sondern häufig auch fotografisch dokumentierten.2
Zwischen gesellschaftlicher Normierung und subjektiver Wahrnehmung: Der „Augensinn“ westdeutscher Zollbeamter an der innerdeutschen Grenze Fotografien werden im Folgenden als Konstrukte verstanden, die „niemals (…) unverzerrt Realität“3 zeigen und dennoch auf etwas Reelles verweisen.4 Dabei rekurrieren sie nicht nur passiv auf historische Sachverhalte, sondern können als gestaltende Akte die Vorstellung von Vergangenheit prägen.5 So sind es vor allem das Bild vom ‚Sprung in die Freiheit‘ des DDR-Bereitschaftspolizisten Conrad Schumann im August 1961 sowie die Farbfotografien von Menschenmengen auf der Berliner Mauer im November 1989, die gewissermaßen stellvertretend die kollektive Erinnerung an die deutsch-deutsche Geschichte wachrufen sollen. Sie zeigen, wie sich Individuen gegen einen versuchten Freiheitsentzug während der Grenzschließung beziehungsweise der Grenzöffnung zur Wehr setzten. Damit 1
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Günter Schüttauf: Beim Zoll, in: Andreas Hartmann, Sabine Künsting (Hrsg.): Grenzgeschichten. Berichte aus dem deutschen Niemandsland, Frankfurt am Main 1990, S. 294–298. Zwischen 1970 und 1986 war Schüttauf Zollbeamter an der innerdeutschen Grenze südlich von Lübeck am Grenzfluss Wakenitz. Vgl. Antje Havemann: Die Fotografie der deutsch-deutschen Grenze in den Präsentationen ausgewählter Grenzmuseen, in: Kurt Dröge, Detlef Hoffmann (Hrsg.): Museum revisited. Transdisziplinäre Perspektiven auf eine Institution im Wandel, Bielefeld 2010, S. 235–248, hier S. 235f. Jens Jäger: Photographie. Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung, Tübingen 2000, S. 154. Vgl. Ulrike Mietzner, Ulrike Pilarczyk: Methoden der Fotografieanalyse, in: Yvonne Ehrenspeck, Burkhard Schäffer (Hrsg.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch, Opladen 2003, S. 19–36, hier S. 24. Siehe auch: Ronald Berg: Die Photographie als alltagshistorische Quelle, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 187– 198, hier S. 189; Gerhard Paul: Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: Ders. (Hrsg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 7–36, hier S. 19. Vgl. Horst Bredekamp: Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004, Bd. 1, S. 29–66. Siehe auch: Paul: Von der historischen Bildkunde zur Visual History, 2006, S. 18.
Ein fotografischer Blick auf die innerdeutsche Grenze
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sind sie sowohl Überreste nicht wiederholbarer, stark affektiv aufgeladener Momente der Zeitgeschichte als auch Medien mit einer gleichsam zeitlosen Botschaft. Im Sinne von Walter Benjamin verfügen sie demnach über eine „Aura“ aus „Einmaligkeit und Dauer“, die maßgeblich zu ihrer Etablierung als Bildikonen beitrug.6 Anders als bei den Bildikonen handelt es sich bei dem für diesen Beitrag herangezogenen Fotobestand um bislang weitgehend unveröffentlichte Bilder.7 Nur einige von ihnen wurden bereits 2011 in der Ausstellung „Grenzerfahrungen“ im Historischen Museum Hannover präsentiert. Den gesamten Bestand fertigten zwischen Anfang der 1950er- und Mitte der 1980er-Jahre westdeutsche Zollbeamte an ihren Einsatzorten nah der innerdeutschen Grenze an. Mit dieser Perspektive von West nach Ost steht der Fundus für den ‚Normalfall‘ der dokumentierten Blickrichtung.8 Zumindest auf westdeutscher Seite wurden die an der Grenze entstandenen Fotografien von den entsprechenden Behörden verwahrt, an Archive abgegeben oder – wie in diesem Fall – der Wissenschaft zugänglich gemacht. Die Bilder liegen in zwölf Fotoalben vor, die sich in zwei etwa gleich große Teilbestände mit jeweils circa 1.000 Fotografien differenzieren lassen: Das erste Segment bilden Fotos, die von Mitarbeitern der Zollbehörden zwischen 1952 und 1979 während ihres Grenzstreifendienstes aufgenommen wurden. Der zweite Teilbestand setzt sich aus Bildern zusammen, die der Regierungsrat Erich Stellpflug hauptsächlich während seiner Dienstzeit zwischen 1982 und 1987 aufnahm. Der Jurist war zu dieser Zeit in der Oberfinanzdirektion (OFD) Hannover für die innerdeutsche Grenze in Niedersachsen zuständig. Die nicht von ihm aufgenommenen Bilder lagerten zunächst im Zollkommissariat Bremke, wo Stellpflug 1982 für ein halbes Jahr als Leiter fungierte. Da die Zollbehörde kein Interesse an den Bildern hegte, erhielt er die Erlaubnis, diese sicherzustellen und aufzubewahren. Die Fotos waren mehrheitlich datiert, zum Teil mit Erläuterungen versehen und im Fall von Fotoserien nummeriert. Laut eigener Aussage übertrug Stellpflug bei der späteren Anfertigung der Alben die ursprünglichen Beschriftungen, fügte aber auch eigene Kommentare hinzu.9 Im Jahr 2010 schließlich stellte er die Fotoalben als Leihgabe dem Historischen Museum Hannover zur Verfügung. Dass Stellpflug zu den Bildern der 1950er- bis 1970er-Jahre kaum mehr Auskunft geben kann als deren Beschriftung ohnehin preisgeben, hängt mit seiner Rolle als bloßer Sammler zusammen. Er vermutet aber, dass die unbekannten Fotografen auf Anweisung ihrer Vorgesetzten das Geschehen an der Grenze doku-
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Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1977, S. 15. Da die Fotografien im vorliegenden Band nur in Schwarz-Weiß abgedruckt werden, sei hier auf die Seiten des Forschungsprojekts „Innerdeutsche Grenze“ verwiesen, wo die Farbaufnahmen unter der URL: http://www.grenzprojekt.de/10774.html gezeigt werden. Vgl. Havemann: Die Fotografie der deutsch-deutschen Grenze, 2010, S. 235. Vgl. Interview mit Erich Stellpflug am 26.11.2012 in Hannover.
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mentieren sollten. Stellpflug hingegen setzte seine Kamera in den 1980er-Jahren aus persönlichem Interesse und mit erkennbar ästhetischem Anspruch ein. 10 Indes ist die nebulöse Provenienz eher charakteristisch für die Überlieferung von Fotografien. Während Bilder – wie auch andere Egodokumente – für deren Produzenten eine scheinbar eindeutig ‚lesbare‘ Bedeutung haben, können Unbeteiligte das Dargestellte und dessen Bedeutung nicht ohne zusätzliches Kontextwissen ‚entschlüsseln‘. Daher kann es als Glücksfall gelten, dass die Autorinnen den Sammler und Fotografen immerhin eines Teils der Bilder über deren individuelle Entstehungs- und Bedeutungszusammenhänge befragen konnten. Der Akt des Fotografierens selbst wird hier als soziale Praxis verstanden, bei der „jede und jeder aus dem unausgesetzten Ansturm der visuellen Impulse die jeweils bedeutungsvollen Zeichen und Bilder ausfiltert“11 − gleichwohl ohne das fotografierende Subjekt vorbehaltlos als „Herr des eigenen Blicks“12 erscheinen zu lassen. Der methodisch kaum auflösbare Aushandlungsprozess zwischen der von außen gelenkten Perzeption und dem individuell gesteuerten Sehen „beim Machen wie beim Wahrnehmen der Bilder“ lässt sich mit Alf Lüdtke treffend als „Augensinn“ bezeichnen.13 Die eingenommene Analyseperspektive geht von der Determination dieses „Augensinns“ der bundesdeutschen Zöllner durch das Spannungsfeld individueller Eindrücke vom Arbeitsumfeld und öffentlicher Wahrnehmung des ‚Politikums Grenze‘ aus.14 Entsprechend dieser Ausgangsthese lauten die zentralen Fragen des Beitrags, ob und inwiefern sich dieser „Augensinn“ der westdeutschen Zollbeamten im Kontext der sich wandelnden deutsch-deutsch10 Vgl. Interview mit Erich Stellpflug. Hinsichtlich ihres Entstehungskontextes und ihrer Nutzung oszillieren die Aufnahmen zwischen privat und beruflich. Zwar agierten die fotografierenden Zollbeamten in ihrem beruflichen Umfeld, jedoch gleichermaßen als Fotoamateure, vgl. Stefan Guschker: Bilderwelt und Lebenswirklichkeit. Eine soziologische Studie über die Rolle privater Fotos für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, Frankfurt am Main 2002, S. 17–19. Siehe auch: Berg: Die Photographie als alltagshistorische Quelle, 1994, S. 193; Jens Jäger: Fotografie und Geschichte, Frankfurt am Main 2009, S. 183–193; Timm Starl: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995, S. 12. Besonders die Amateurfotografie scheint gesellschaftlichen Konventionen und eingeübten Sehweisen zu unterliegen, vgl. Pierre Bourdieu: Eine illegitime Kunst (1965), in: Bernd Stiegler (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010, S. 270–276, hier: S. 273. Siehe auch: Jäger, Knauer: Bilder als historische Quellen, 2009, S. 17; Alf Lüdtke: Kein Entkommen? Bilder-Codes und eigen-sinniges Fotografieren; eine Nachlese, in: Karin Hartewig, ders. (Hrsg.): Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004, S. 227–236, hier S. 233; Jäger: Bilder der Neuzeit, 2000, S. 79. 11 Lüdtke: Kein Entkommen, 2004, S. 235. Siehe auch: Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002. 12 Ebd., S. 234. 13 Ebd., S. 230, S. 235. 14 Vgl. Petra Bopp: Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009, S. 10. Bopp zeigt anhand von Fotografien und Fotoalben von Wehrmachtsangehörigen, „wie der individuelle Blick von der NS-Ideologie durchdrungen war – aber auch wie er sich davon absetzte. Damit geht es um das Ineinandergreifen von privater und öffentlicher Sicht auf den Krieg.“
Ein fotografischer Blick auf die innerdeutsche Grenze
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en Beziehungen veränderte und ob beziehungsweise inwiefern die in den Fotos festgehaltene alltägliche Praxis an der Grenze offizielle Deutungen und durch Bildikonen verfestigte kollektive Erinnerung konterkariert. Zur Analyse greift der Beitrag auf die Verknüpfung von bildanalytischen Verfahren und geschichtswissenschaftlichen Methoden zurück. Dazu gehört zunächst die klassische innere und äußere Quellenkritik, die eine hilfreiche Leitlinie zur kritischen Bildbetrachtung bereitstellt.15 Als wichtiger Ausgangspunkt fungiert darüber hinaus das dreistufige Modell der ikonografisch-ikonologischen Bildinterpretation, das vom Kunsthistoriker Erwin Panofsky in den 1930er-Jahren entwickelt wurde.16 Neben die Bildbeschreibung tritt die Extrahierung der Themen und Symbole sowie die Analyse des sogenannten ‚Dokumentsinns‘ als ‚eigentlicher Bedeutung‘ des Bildes in seinem zeitgenössischen Umfeld.17 Rainer Wohlfeil versuchte in den 1980er-Jahren unter dem Begriff ‚historischer Dokumentsinn‘ diesen dritten Analyseschritt für geschichtswissenschaftliche Zugänge zu modifizieren. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage „nach Erkenntnissen über den Menschen bzw. über soziale Gruppen jener vergangenen gesellschaftlichen Wirklichkeit und damit nach der ‚historischen Aussage‘ des Bildes“18. Vor allem unterstreicht seine Methodik „die Zeitgebundenheit eines jeden Bildwerkes und verweist somit auf die kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte, die Bildern ‚Sinn‘ geben.“19 Aus der Fülle des Bildmaterials erfolgt zunächst eine Auswahl prägnanter Motivgruppen und entsprechender Einzelbilder, die zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren immer wiederkehren, wobei drei Blickwinkel berücksichtigt werden: erstens die Selbstwahrnehmung der westdeutschen Zollbeamten in ihrem Arbeitsalltag, zweitens die Wahrnehmung der Grenze als Bauwerk und drittens die Fremdwahrnehmung der ostdeutschen Grenzposten.20 Mit der ersten Motivgruppe rückt zunächst die spezifische Alltagswelt der Zollbeamten anhand der fotografischen Darstellung der Zollhunde in den Blickpunkt. Anschließend stellen die Hunde der ‚anderen Seite‘ das Bindeglied für den Perspektivwechsel nach Osten dar. Die dabei entstandenen Aufnahmen der Minenverlegungen an den DDR-Grenzanlagen dienen als exemplarische visuelle Überreste der Darstellung der innerdeutschen Grenze als Ort der Gewalt. Schließlich markieren Nah- und
15 Vgl. ebd., S. 79, S. 101. 16 Vgl. Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie. Bildinterpretation nach dem Dreistufenmodell, Köln 2006; Ders.: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst, in: Logos 21 (1932), S. 103–119. 17 Vgl. u.a. Peter Burke: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quelle, Berlin 2003, S. 41. Siehe auch: Berg: Die Photographie als historische Quelle, 1994, S. 190f. 18 Rainer Wohlfeil, Trudl Wohlfeil: Verbildlichung ständischer Gesellschaft, in: Winfried Schulze (Hrsg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, S. 269–331, hier S. 271. 19 Jäger: Fotografie und Geschichte, 2009, S. 89. Siehe auch: Mietzner, Pilarczyk: Methoden der Fotografieanalyse, 2003, S. 29. 20 Eine Untersuchung der Fotoalben als Medien mit eigenständigem Entstehungskontext und multipler Autorenschaft kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden.
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Großaufnahmen von DDR-Grenzsoldaten einen Ausschnitt des alltäglichen kommunikativen Raumes ‚Grenze‘, in dem sich bildliche Konstruktionen von Nähe und Distanz im zeitlichen Wandel widerspiegeln.21 „Mit Hund und Funk an der Zonengrenze“:22 Selbstwahrnehmungen der Zollbeamten an ihrem Arbeitsort Charakteristisch für den Dienst der Zollbeamten an der territorial abgeschiedenen deutsch-deutschen Grenze war ihre Zuständigkeit für kleine Grenzabschnitte unter der Leitung der so genannten Grenzaufsichtsstellen (GASt). Häufig hätten die Zöllner „die Bauerstöchter geheiratet und dann mit Schwiegervater auf dessen Grundstück sich ‘n Haus hochgezogen“, 23 wie Erich Stellpflug berichtet. Ihre Position innerhalb der Dorfgesellschaft, nicht zuletzt durch ihr Engagement in den örtlichen Vereinen,24 verschaffte den Zöllnern letztlich auch den Zugang zu einer Fülle von Informationen über das Grenzgeschehen.25 Fraglich bleibt dabei, inwiefern die Bilder in den Werbebroschüren des Zolls mit dem tatsächlichen Arbeitsalltag korrespondierten. So zeigen vier schwarzweiße Werbefotografien, die im vorliegenden Bestand zwischen den von den Zöllnern aufgenommenen Bildern platziert wurden, Zollbeamte beim Spähen durch Ferngläser, mit Skiern, am Funkgerät des Dienstfahrzeugs oder bei der gemeinsamen Erkundung einer Bergregion (Abb. 1). Auf einem fünften Bild ist zudem ein Zollhund mit entsprechender Zollbinde zu sehen. Sein Blick richtet sich von links unten nach rechts oben, seine Zunge hängt aus dem geöffneten Maul. Seine Augen haben ihr Ziel im Visier, die Ohren sind gespitzt, das Fell glänzt. Mut, Achtsamkeit und Fitness – Eigenschaften, die ein idealtypischer Zöllner mitbringen sollte, wurden hier auf den Schäferhund als dessen Begleiter projiziert.26
21 Das Vier-Augen-Prinzip, also der eingehende Austausch der Autorinnen, bildete ein wertvolles Korrektiv, um naheliegende Deutungen zu hinterfragen und differenzierte Interpretationen zu gewährleisten. 22 „Mit Hund und Funk an der Zonengrenze“, in: Deutsche Beamten-Warte, November 1960, S. 7, zit. nach: Hauptstaatsarchiv Hannover (HStAH) Nds. 1225 Lüneburg Acc. 2001/005 Nr. 8. 23 Interview mit Erich Stellpflug. 24 Zollhunde im Einsatz an der Grenze. Ein Bericht des Hauptzollamtes Uelzen, in: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, 30.8.1963. Die Zeitung berichtet über die Integration der Zöllner in ihre Gemeinden durch das Engagement in Hundesportvereinen. 25 Vgl. Interview mit Erich Stellpflug. 26 Die Fotografien stammen aus dem Album „Grenze 4“ der Sammlung Stellpflug.
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Abb.1: „Zoll-Werbefotos“27
Die Projektion basierte indes auf wesentlich älteren Vorstellungen vom Deutschen Schäferhund als dem ‚Idealhund‘: „Deutsch vom Temperament her, perfekt gezüchtet, unbedingt treu und furchtlos.“28 Seit dem Ersten Weltkrieg bildeten Schä27 Die Bildunterschriften entsprechen den von Erich Stellpflug verfassten Beschriftungen neben den Fotografien. 28 Aaron Skabelund: Rassismus züchten. Schäferhunde im Dienst der Gewaltherrschaft, in: Dorothee Brantz, Christof Mauch (Hrsg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 58–78, hier S. 62.
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ferhunde im deutschen Militär und bei der Polizei die größte Gruppe der Diensthunde und lebten immer häufiger als Wachhunde in Privathaushalten. Dass sie neben Hakenkreuz, SS-Runen und schwarzer SS-Uniform zu einem Symbol des ‚Dritten Reiches‘ avancierten, tat ihrem Image als treue Gefährten ihrer Besitzer keinen Abbruch.29 Auch die für den Zoll an der innerdeutschen Grenze zuständigen Oberfinanzdirektionen befürworteten den Einsatz der Schäferhunde, denn der „abgerichtete Hund (…) erleichtert das Stellen von Flüchtlingen, ersetzt weitgehend die Waffe, erspart Beamtenkräfte und bietet den Beamten Schutz für Leib und Leben“. 30 Dass die Zahl der eingesetzten Zollhunde zwischen 1958 und 1968 von 2.100 auf 1.700 Tiere reduziert wurde, war gleichwohl der zunehmenden Technisierung des Grenzdienstes durch den Einsatz von Fahrzeugen und Funkgeräten geschuldet.31 Wie die während eines Wettkampfs der Zollhundeschule Bleckede an der Elbe aufgenommene Schwarz-Weiß-Aufnahme von 1987 zeigt, waren die Zollhunde nicht nur Begleiter ihrer Hundeführer im Dienst, sondern auch Mitstreiter in sportlichen Wettbewerben (Abb. 2).32 Im Mittelpunkt des Interesses steht hier ein junger lächelnder Zollbeamter, der eine vermutlich nummerierte weiße Binde vor der Brust trägt und seinen Zollhund an der Leine führt. Die drei anderen Männer im Bildvordergrund sind exponierte Vertreter der Zollverwaltung, unter ihnen der hannoversche Oberfinanzpräsident Paul Flockermann im Trenchcoat, der dem Zollbeamten eine Urkunde überreicht. Wie auf der Fotografie zu erkennen, nahmen ebenso zahlreiche Schaulustige an der Veranstaltung teil. Erstens vermittelt das Bild die Anerkennung, die dem jungen Zollbeamten persönlich wegen seiner erfolgreichen Teilnahme an der ‚Trockenübung‘ zuteil wurde. Überdies verschaffte seine Leistung dem Zoll als Institution öffentliche Aufmerksamkeit und positive Schlagzeilen.33 Zweitens stärkten die Sportveranstaltungen die Gruppenidentität der Zöllner und waren Anlass, um eventuelle Rivalitäten mit Kollegen von Polizei und Bundesgrenzschutz (BGS) beim geselligen Beisammensein kurzfristig zu überwinden.34
29 30 31 32
Vgl. ebd., S. 61–63. Walter Eulitz: Die Geschichte des Zollgrenzdienstes, Bonn 1968, S. 288. Vgl. ebd., S. 291. Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Zoll 6“ der Sammlung Stellpflug. Die vollständige Bildunterschrift lautet: „10.9.1987 Siegerehrung OFD-Zollhundewettkampf ZHSch Bleckede mit OFPräs Flockermann und ZAR Reichelt“. 33 Überraschungssieger bei den Zollhunden, in: Elbe-Jeetzel-Zeitung, 3.6.1963. 34 Vgl. Interview mit Erich Stellpflug.
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Abb. 2: „10.9.1987 Siegerehrung OFD Zollhundewettkampf ZHSch Bleckede mit OFPräs Flockermann und ZAR Reichelt“
Dass die Zollhunde – wie Tiere im Allgemeinen – ein beliebtes Fotomotiv der Zöllner waren, konnte an ihrer Fähigkeit liegen, „Leben und Dialog in die Szenerie (zu bringen), welche ohne eine Beteiligung von Tieren leicht zum sterilen Ausstellungsstück gerät“.35 Ähnlich kleinen Kindern entziehen sie sich den üblichen Riten beim Fotografieren, sodass spannungsreiche Aufnahmen wie die vermutlich Anfang der 1950er-Jahre aufgenommene Schwarz-Weiß-Fotografie entstehen (Abb. 3).36 In der Bildmitte befinden sich nebeneinander sechs Zollhunde inmitten einer hügeligen Landschaft aus Gräsern und Nadelbäumen, während im Vordergrund die Schatten von vier oder fünf Personen zu erkennen sind, die sich offenbar im Halbkreis vor den Hunden aufgestellt haben. Besonders ungewöhnlich an der Fotografie ist die Verkleidung der Hunde mit Uniformjacken und entsprechenden Kopfbedeckungen.
35 Ulla Fölsing; Gebell im Gotteshaus. Hunde auf niederländischen Kircheninterieurs, in: Weltkunst 78 (2008) 3, zit. nach: Aline Steinbrecher: „In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede“ (Elias Canetti). Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Carola Ottenstedt, Michael Rosenberger (Hrsg.): Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009, S. 264–286. hier S. 278f. 36 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Grenze 3“ der Sammlung Stellpflug. Bildunterschrift: „GASt (ber.) Gartow und Prezelle Zollhunde“.
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Durch Menschenhand wurden die Zollhunde hier zu unfreiwilligen Rollenspielern und scheinbar der Lächerlichkeit preisgegeben. Noch mehr aber erweckt das Bild den Eindruck, als wollten die Zöllner mit der Inszenierung der Hunde ihrem ironischen Blick auf die eigene Rolle als ‚Hüter‘ der Grenze Ausdruck verleihen. Dagegen erleichterte vor allem das kameradschaftliche Miteinander der Zöllner in Begleitung ihrer Hunde die Erfüllung der Dienstpflicht. Beim Betrachten der Fotografie könnte dieses Zusammengehörigkeitsgefühl noch im Nachhinein revitalisiert worden sein.
Abb. 3: „GASt (ber.) Gartow und Prezelle Zollhunde“
Während im vorangegangenen Bild die Hunde in Szene gesetzt wurden, schlüpfte für die Aufnahme aus dem Jahr 1982 ein Zöllner selbst in die Rolle des Tieres (Abb. 4). Das Farbfoto zeigt mittig im Vordergrund einen Zollsekretär auf einer Wiese, der offenbar einen Hund imitiert, indem er seinem Kollegen in den Arm ‚beißt‘.37Der ‚gebissene‘ Zollsekretär wiederum trägt einen Vollschutzanzug mit übergroßer Schutzhose und Schutzmantel und lacht. Der andere Zollsekretär ‚beißt‘ in den linken Ärmel des Schutzmantels seines Kollegen, setzt dabei einen wütenden Blick auf und schaut in die Kamera. Er trägt dunkle Uniformhosen, dunkle Schuhe und dazu ein helles, kurzärmliges Hemd. Jackett, Krawatte und 37 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Zoll 2“ der Sammlung Stellpflug. Die vollständige Bildunterschrift lautet: „ZS W. ‚beißt’ ZS M.“ Das Bild ist Teil einer Bilderserie, die eine Hundeübung am 13. August 1982 dokumentiert.
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Dienstmütze fehlen. Dabei lässt die legere Kleidung nicht nur auf sommerliche Temperaturen, sondern auch auf eine insgesamt zwanglose Situation schließen. Durch die humorvolle Übertreibung ‚hündischer‘ Verhaltensweisen verzichtete der ‚beißende‘ Zöllner im Kreis der Kollegen kurzzeitig auf seine Fassade und schuf einen Moment der Entspannung, während ein solches ‚Aus-der-Rolle-Fallen‘ in Gegenwart offizieller Besucher kaum denkbar gewesen wäre.38 Im Unterschied zur militärischen Strenge, die von den uniformierten Hunden im Foto aus den frühen 1950er-Jahren ausgeht, konterkariert die jüngere Fotografie die Vorstellung von der risikoreichen Arbeit an der innerdeutschen Grenze und vermittelt stattdessen den Eindruck eines zunehmend harmlosen Arbeitsalltags.
Abb. 4: „ZS Wille ‚beißt‘ ZS Meyer“
38 Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 2013 (eng. Orig.: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959), S. 146.
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Grenzwahrnehmungen: Die fotografische Dokumentation von Bedrohung und Gewalt Bei der Beobachtung und Dokumentation des Geschehens auf der anderen Seite der Grenze wurden die westdeutschen Zollbeamten ebenfalls Zeugen des Umgangs der Grenztruppen der DDR mit deren Hunden. So zeigt eine vermutlich in den 1950er-Jahren aufgenommene schwarz-weiße Fotografie einen jungen ostdeutschen Grenzsoldaten mit Mantel und Stahlhelm der Nationalen Volksarmee (NVA) mit einem Schäferhund in einer Kulisse aus Hügeln, Sträuchern und Gräsern (Abb. 5).39 Tatsächlich sind nur jeweils Kopf und Schulterbereich von Grenzsoldat und Hund zu sehen, während ein mit Gras bewachsener Erdhügel den Rest verdeckt. Der Grenzsoldat richtet seinen Blick auf den Hund und setzt dabei ein gutmütiges Lächeln auf. Der Hund wiederum schaut an der Kamera vorbei und spitzt seine Ohren.40 Sowohl die umrahmenden Naturelemente als auch das Lächeln des Soldaten deuten einerseits eine friedliche Szenerie sowie einen nahezu liebevollen Umgang des jungen Mannes mit dem Tier an. Andererseits verweist die Uniform zusammen mit der Bildunterschrift auf die konfrontative Dimension des Augenblicks.
Abb. 5: „in Abständen liegen Doppel- und Dreierposten, zum Teil mit Hunden“
39 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Grenze 3“ der Sammlung Stellpflug. 40 Auf der Albumseite befinden sich zwei Fotografien, deren Beschriftung lautet: „in Abständen liegen Doppel- und Dreierposten, zum Teil mit Hunden“. Das obere Bild zeigt drei Grenzsoldaten, die mit Kameras und Ferngläsern ausgestattet sind und ihr Gegenüber auf der Westseite registrieren.
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Einen vollkommen anderen Eindruck hinterlässt die im Jahr 1982 entstandene Farbaufnahme mit der Bildunterschrift „Hundelaufanlage am Gehlenberg“ (Abb. 6).41 Zwar nimmt der Hund nur einen sehr kleinen Bereich in der Fotografie ein, bildet aber dennoch ihren Blickfang. Im Vordergrund sieht der Betrachter des querformatigen Bildes grüne Laub- und Nadelbäume. Im mittleren Teil ist ein Metallgitterzaun einschließlich zweier oben angeschrägter Pfähle zu erkennen. Unterdessen geben die Bäume im Vordergrund den Blick auf den Hund frei, dessen Blick auf den Fotografen gerichtet ist. Besonders fällt dabei der spärliche Bewuchs des Bereiches auf, in dem sich Hund und Hütte befinden. Bei genauerem Hinsehen erkennt der Betrachter auch die Bestandteile einer so genannten Hundelaufanlage: ein hoch gespanntes Metallseil, mit dem das Hundehalsband über ein kurzes Metallseil verbunden ist. Hinter dem mittleren Bildbereich lässt sich ein zweiter Zaun erahnen. Schließlich deutet sich im Hintergrund ein dichter Nadelwald an.
Abb. 6: „Hundelaufanlage am Gehlenberg“
Im Gegensatz zur Fotografie des Grenzsoldaten mit Hund ist diese Aufnahme vor allem von Distanz geprägt. Der Hund ist offenbar allein und durch die Hundelaufanlage in seinen Bewegungen erheblich eingeschränkt. Laufanlagen für speziell abgerichtete Hunde waren ab 1968 im Zuge der deutsch-deutschen Entspannungspolitik verstärkt errichtet worden und verkörperten aus westdeutscher Perspektive 41 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Zoll 2“ der Sammlung Stellpflug.
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die Unmenschlichkeit der innerdeutschen Grenze sowie eines auf Unterdrückung und Menschenverachtung aufbauenden Staates insgesamt.42 So konnte der unmittelbare Anblick eines einsamen und gequälten Trassenhundes bei einem westdeutschen Zöllner, zumal wenn er selbst Hundeführer war, Mitleid auslösen und schreckte zugleich vor einer weiteren Annäherung ab. Die räumlich-bauliche Manifestation der politischen Abschottung gegenüber ‚dem Westen‘ wurde von der DDR-Regierung seit Beginn der 1950er-Jahre durch verschärfte Bestimmungen geregelt. Dabei sollte die Verordnung über „Maßnahmen an der Demarkationslinie“ von 1952 zumindest nach offizieller Lesart das Eindringen mutmaßlicher „Diversanten, Spione, Terroristen und Schädlinge“ in die DDR verhindern.43 Wer dennoch ohne Genehmigung den Kontrollstreifen betrat, wurde von bewaffneten Grenzstreifen festgenommen.44 Schließlich vergrößerte sich 1954 das Sperrgebiet auf das Doppelte und bestand nun aus einem zehn Meter breiten Kontrollstreifen, einem 500 Meter breiten Schutzstreifen und einer über fünf Kilometer ausgedehnten Sperrzone.45 Im Vergleich zu diesen Maßnahmen sei die BRD mit „der Grenze in denkbar unspektakulärer Weise“ umgegangen, so Maren Ullrich.46 Der Einsatz des BGS und des Zolls sowie einzelne Markierungen der Grenze waren die wichtigsten Maßnahmen. Darüber hinaus erhielt das landwirtschaftlich geprägte Grenzgebiet ab Mitte der 1960er-Jahre dezidiert staatliche Beihilfen. Im Sinne der ‚Zonenrandförderung‘ „errichtete (man) Siedlungs- und Industrieanlagen, betrieb Landwirtschaft bis an die Grenzlinie heran und schlug unbebautes Terrain dem Freizeitund Erholungssektor zu“.47 Das Bauen von Grenzanlagen zur Verhinderung so genannter ‚Republikfluchten‘ hingegen blieb Angelegenheit der Nachbarn im Osten. Die bis Anfang der 1960er-Jahre noch provisorischen Grenzanlagen wurden unmittelbar nach dem Bau der Berliner Mauer massiv ausgebaut.48 Besonders die
42 Vgl. Robert Lebegern: Zur Geschichte der Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze 1945−1990, Erfurt 2002, S. 45. 43 Am 26. Mai 1952 wurde die „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen“ ratifiziert. Im gleichen Jahr fand ebenfalls die „Aktion Ungeziefer“ statt. 44 Vgl. Lebegern: Geschichte der Sperranlagen, 2002, S. 24. 45 Am 18. Juni 1954 trat in der DDR die entsprechende „Anordnung über die Neuregelung der Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der DDR und Westdeutschland“ in Kraft. 46 Maren Ullrich: Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze, Berlin 2006, S. 18. 47 Ebd., S. 19. 48 Vgl. Lebegern: Geschichte der Sperranlagen, 2002, S. 26–66. Ab März 1964 galt die „Verordnung zum Schutze der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik“, die schließlich nach mehreren Änderungen 1982 vom „Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik“ abgelöst wurde. Letzteres galt bis zum sogenannten deutsch-deutschen Einigungsvertrag. Nachdem der in den frühen 1950er-Jahren errichtete einfache Stacheldrahtzaun schnell baufällig geworden war, begann die Grenzpolizei der DDR seit Mitte der 1950er-Jahre vielerorts mit dem Bau eines doppelreihigen, etwa 1,80 Meter ho-
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Verlegung der ersten Sprengminen im Grenzgebiet stellte im Herbst 1961 eine Zäsur in den deutsch-deutschen Beziehungen dar und wurde vom bundesdeutschen Zoll entsprechend aufmerksam dokumentiert.49 So zeigt eine SchwarzWeiß-Fotografie aus dem Stellpflug-Bestand einen DDR-Grenzsoldaten beim Vergraben einer Mine (Abb. 7).50 Liegend stützt er sich auf seinen linken Unterarm und richtet seinen Blick auf den Boden, sodass sein Gesicht vom Helm verdeckt wird. Vor ihm erkennt man Stacheldrähte und im Vordergrund links eine aus dem Boden ragende Mine. Im Mittelgrund der Fotografie erkennt man einen zweiten Grenzsoldaten mit Uniform und Helm. Wegen der Unschärfe des Bildbereichs bleibt ungewiss, ob er seinen Blick zur Kamera richtet oder ob er vielmehr seinen Kollegen beobachtet. Im Hintergrund sind über die gesamte Breite der Fotografie schmale, etwa mannshohe weiße Pfeiler zu sehen, die zusammen einen Zaun bilden.
Abb. 7: „(…) hier wird eine Mine vergraben“
Wie Perspektive und Fokus erahnen lassen, handelt es sich beim Fotografen um einen geübten Amateur. Durch die Bildkomposition mit Vorder-, Mittel- und Hinhen ‚Schutzstreifenzauns’ mit Betonpfeilern. Die beiden Zäune verliefen parallel im Abstand von drei bis vier Metern, wie auch im vorliegenden Bild zu sehen ist. 49 Vgl. ebd., S. 37. 50 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Grenze 3“ der Sammlung Stellpflug.
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tergrund wird zudem, ob gezielt oder nur zufällig, der räumliche Aufbau des Grenzraums gut sichtbar. Die optische Linie, die die Mine im Vordergrund, der liegende Grenzsoldat und der Grenzposten im Mittelgrund bilden, verbindet die Objekte zu einer Sinneinheit. Im Gegensatz zur abweisenden Haltung des Grenzsoldaten in Abbildung 7 eröffnet die folgende Fotografie den Blick auf eine zunächst gelöst wirkende Szene (Abb. 8).51 Belichtung und Vegetation sprechen für die Aufnahme an einem sonnigen Tag im Sommer. Im Mittelgrund der Fotografie befindet sich eine Gruppe uniformierter Grenzsoldaten, die von zwei Stacheldrahtzäunen mit Betonpfählen eingerahmt werden. Die Gruppe aus neun Männern steht nebeneinander vor einem LKW-Anhänger, auf dem sich ein weiterer Uniformierter befindet, der sich seinen Kollegen zuwendet. Zwei der Grenzsoldaten stecken ihm je eine Hand entgegen. Der Verfasser der Bildunterschrift verglich die Verteilung von Minen unter den Grenzsoldaten lakonisch mit einer Proviantausgabe. Damit unterstellte er den DDR-Grenzsoldaten eine unangemessenen Eifer sowie potenzielle Heiterkeit bei der Tätigkeit des lebensbedrohlichen Minenverlegens.
Abb. 8: „(…) Hier werden die Minen in Empfang genommen. Das Bild erinnert an eine Verpflegungsausgabe.“
Neben der Gefahr durch Minen trug der Ausbau der Grenzanlagen ebenfalls zur Zerstörung von Natur und Landschaft bei. So zeigt eine um 1964 aufgenommene, querformatige Schwarz-Weiß-Fotografie laut Bildunterschrift ein „durch Minen
51 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Grenze 3“ der Sammlung Stellpflug.
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getötetes Wild am Doppelzaun“ (Abb. 9).52 Zu sehen ist ein mit Gras und niedrigen Pflanzen bewachsenes Gelände sowie ein Stacheldrahtzaun mit einem Betonpfosten ganz links im Bild. Im Vordergrund zeichnen sich die Reste eines toten Rehs ab: ganz rechts der Kopf, das Gesicht des Tieres zur Kamera gerichtet, der Körper bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt.
Abb. 9: „(…) durch Minen getötetes Wild am Doppelzaun“
Dabei fanden physische Versehrungen durch das DDR-Regime, so Alf Lüdtke, seit den späten 1950er-Jahren zunächst vor allem im Verborgenen statt, etwa in Gefängnissen. Erst die Tötungen an der Berliner Mauer nach 1961 machten das Gewaltpotenzial der Grenzanlagen greifbar und gingen anhand der Bildikone des toten Peter Fechter ins kollektive Gedächtnis der BRD ein.53 Neben der gegen Menschen gerichteten Gewalt an der innerdeutschen Grenze erinnern auch die Tierkadaver am Grenzzaun an das von ihm ausgehende Gewaltpotenzial. Aus Presseberichten geht hervor, dass Funde von getöteten Tieren zum Alltag an der Grenze gehörten: „Erst wenn (…) die Gefahr einer Seuche bestand, wurden die Kadaver von der NVAGrenztruppe aus dem Doppelzaun mit langen Stangen entfernt. Daß das verletzte Wild in den
52 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Grenze 5“ der Sammlung Stellpflug. 53 Lüdtke: Kein Entkommen, 2004, S. 228f.
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Bianca Roitsch, Anette Blaschke meisten Fällen (…) unter furchtbaren Qualen zugrunde ging, beeindruckte die ostzonalen Grenzwachen nicht.“54
Wie die Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide im Juni 1965 berichtete, sei die Hilfe für die verletzten Tiere vor allem deshalb ausgeblieben, weil den ostdeutschen Grenztruppen die nötigen Lagepläne für die verlegten Minen fehlten. Je nach Standpunkt wurden die ostdeutschen Grenzbewacher also entweder als mitleidlose Gesellen bloßgestellt oder aber als Dilettanten der Lächerlichkeit preisgegeben.55
Abb. 10: „Aufnahmen der im November 1976 installierten SM-70-Anlagen zwischen Klötzer Weg und Böckwitz/DDR im Bereich des Zollkommissariats Brome“
Der ‚pioniertechnische Ausbau der Staatsgrenze der DDR‘ in den 1970er-Jahren machte ein Verlassen der DDR zunehmend gefährlicher.56 Zu einem bedeutsamen Kennzeichen des tödlichen Potenzials der Grenzanlagen avancierten die seit 1971 entlang der Grenze installierten selbstauslösenden Splitterminen.57 Eine exempla54 Ständige Detonationen im verminten Doppelzaun. Das Hauptzollamt Uelzen berichtet von der Zonengrenze, in: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, 9.7.1963. 55 Vgl. Minen in Sperranlagen der Zone. Flüchtende und Grenzsoldaten sind die Opfer – Wild läuft auf Minen, in: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, Juni 1965 [Tagesangabe fehlt], zit. nach: HSTAH Nds. 1225 Lüneburg Acc. 2001/005 Nr. 8. 56 Vgl. Lebegern: Geschichte der Sperranlagen, 2002, S. 54–64. Siehe auch Über die Grenze: „Ist ja Wahnsinn“. Flucht aus der DDR wird immer schwieriger, in: Der Spiegel, 3.11.1975, S. 82–87. 57 Vgl. „Schnell das Ding vom Zaun“. Wie ein DDR-„Todesautomat“ in den Westen kam, in: Der Spiegel, 12.4.1976, S. 116–125, hier: S. 117. Siehe auch: Lebegern: Geschichte der Sperranlagen, 2002, S. 50–54.
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rische Schwarz-Weiß-Aufnahme aus dem Jahr 1976 sollte laut Beschriftung die gerade installierten SM-70-Anlagen dokumentieren. Auf dem Bild ist ein von Betonpfählen gehaltener Metallgitterzaun erkennbar (Abb. 10).58 Vier Splitterminen sind sichtbar an den Betonpfählen des Zaunes befestigt. Der Vordergrund der Aufnahme zeigt eine hochbewachsene Wiese. Rechts oben befindet sich ein nach Westen gerichtetes Schild, dessen Aufschrift vermutlich lautete: „ACHTUNG MINEN! Gesperrt! Lebensgefahr!“ Die Qualität der Aufnahme zeugt nicht von fotografischer Erfahrung des Zollbeamten: Der Metallgitterzaun mit den Minen ist weit nach oben gerückt, während die Wiese im Vordergrund sehr großen Raum einnimmt. Auf den ersten Blick mutet die Fotografie recht harmlos, fast trostlos an. Erst das Wissen um die Perfidität der kaum erkennbaren Splitterminen vermag das immanente Gewaltpotenzial sichtbar zu machen. Bei Berühren des Auslösedrahtes schleuderten die Minen scharfe Metallsplitter teilweise über 100 Meter weit. Sie wurden in Richtung des DDR-Territoriums positioniert, ihre Sprengkraft konnte in unmittelbarer Nähe tödlich wirken.59 Hinzu trat ein ideelles Bedrohungspotenzial: Die verheerende Kritik westlicher Staaten und Medien rückte die ‚Todesautomaten‘ in den negativen Fokus der westdeutschen Öffentlichkeit.60 Die Aufnahme bündelt zudem die tödliche Zielrichtung der Verminung. Während die Warnschilder nach Westen gerichtet waren, gab es hinter den Sperranlagen keine Hinweise auf eine potenzielle Gefahr. Der Fokus wird von der scheinbar unberührten Landschaft auf ein unüberwindbares Hindernis gelenkt – zugleich Freiheit suggerierend und Abschottung ausstrahlend. Die SM-70-Anlagen blieben auch in den Folgejahren ein häufiges Motiv, besonders bauliche Veränderungen wurden akribisch dokumentiert. Auf diese Weise entstand eine Aufnahmeserie, die Erich Stellpflug im Sommer 1982 von Montagearbeiten durch Angehörige der DDR-Grenztruppen anfertigte. Eine dieser Farbfotografien zeigt zwei Personen in der Supertotale inmitten einer von Bäumen und Sträuchern bewachsenen Landschaft (Abb. 11).61 Die räumliche Entfernung zum Geschehen und die leichte Vogelperspektive erzeugen einen distanzierten Eindruck. Der Fotograf überblickte das Geschehen offenbar aus sicherer Entfernung. Quer durch das Bild verläuft ein Metallgitterzaun, hinter dem sich die beiden Personen befinden. Stellpflug ging laut Bildunterschrift davon aus, soeben zwei DDR-Grenzsoldaten bei der Installierung von Splitterminen zu beobachten. Die Abbildung der beiden Personen im Zusammenspiel mit der Farbgebung und dem kontextuellem Wissen führt im Gegensatz zu der Aufnahme aus den 58 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Grenze 4“ der Sammlung Stellpflug. 59 Vgl. Chef Pionierwesen des Kommandos der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee: Abschlussbericht über die Ergebnisse der Truppenerprobung der Minensperre SM-70, 15.9.1971, S. 5, in: Berliner Mauer. Geschichte und Dokumentation des „Antifaschistischen Schutzwalls“, URL: http://www.berliner-mauer.de/splittermine-sm-70/abschlussbericht-ueber-die-ergebnisseder-truppenerprobung-der-minensperre-sm-70-datiert-15091971.html?showall=&limitstart, letzter Zugriff: 16.6.2014. 60 Vgl. Lebegern: Geschichte der Sperranlagen, 2002, S. 52. 61 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Zoll 3“ der Sammlung Stellpflug.
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1970er-Jahren zu einer ambivalenten Bildwirkung. Einerseits befinden sich die Männer im unmittelbaren Gefahrenbereich und hantieren mit einer hochexplosiven Konstruktion. Aus diesem Blickwinkel steht die Bedrohung für Leib und Leben im Mittelpunkt. Auf der anderen Seite beteiligen sie sich aktiv am tödlichen Ausbau der Grenzanlagen und werden auf diese Weise selbst zu Akteuren des gewaltsamen Grenzregimes der DDR.62
Abb. 11: „Sommer 1982 SM-70 Montage im GASt-Abschnitt Reiffenhausen (Kirchgandern bis Waldwinkel)“
Bis 1983 wurden an der innerdeutschen Grenze auf 450 Kilometern circa 60.000 ‚Selbstschussanlagen‘ montiert. Allerdings ordnete die DDR-Führung angesichts ihrer Bemühungen um internationale Anerkennung schließlich den Abbau der Minen zwischen Herbst 1983 und Herbst 1985 an.63 Entsprechend zeigt eine Farbfotografie die Sprengung von Erdminen Mitte des Jahres 1985 (Abb. 12).64 Er62 Vgl. Ines Meyerhoff: Blickwechsel. Fotografien der innerdeutschen Grenze, in: Thomas Schwark, Detlef Schmiechen-Ackermann, Carl-Hans Hauptmeyer (Hrsg.): Grenzziehungen, Grenzerfahrungen, Grenzüberschreitungen. Die innerdeutsche Grenze 1945–1990, Darmstadt 2011, S. 53. 63 Vgl. Lebegern: Geschichte der Sperranlagen, 2002, S. 53. Siehe auch: Sven Felix Kellerhoff: Wie aus Todfeinden ziemlich beste Freunde wurden, in: Die Welt, 24.7.2013, URL: http://www. welt.de/geschichte/article118317130/Wie-aus-Todfeinden-ziemlich-beste-Freunde-wurden.html, letzter Zugriff: 16.6.2014. 64 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Zoll 4“ der Sammlung Stellpflug.
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kennbar ist ein Abschnitt des doppelreihigen Metallgitterzauns, hinter dem ein Sanitätslastwagen vor einem Waldstück parkt. Über der Szenerie liegen Rauchschwaden, Erdbrocken fliegen durch die Luft − die Bildunterschrift „Minensprengung“ verrät die Entstehungsursache. Der Fotograf nahm wiederum eine distanzierte Position zur anscheinend kontrollierten, da medizinisch abgesicherten Sprengung ein.
Abb. 12: „Minensprengung, 7.6.1985“
Während der Rückbau der Minen im Westen als deutliches Zeichen der Entspannung interpretiert wurde,65 bedeutete dies längst nicht den Rückbau der Grenzanlagen oder das Ende des Tötens an der Grenze. Im Zuge neuer technischer Errungenschaften wurde die Grenze auch ohne den Einsatz tödlicher Sperren zunehmend undurchdringlich.66
65 Vgl. Lebegern: Geschichte der Sperranlagen, 2002, S. 53f. 66 Vgl. „Das schafft nur ein Stabhochspringer“. Trotz Abbau der Todesautomaten ist die DDRGrenze undurchdringlich, in: Der Spiegel, 26.3.1984, S. 34–39.
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Fremdwahrnehmungen: DDR-Grenzsoldaten im Blick westdeutscher Zollbeamter Die Aufnahmen des Grenzsicherungspersonals der DDR können auf unterschiedlichen Ebenen ‚gelesen‘ werden: Zum einen dienten sie „der Identifikation der an der Grenze beschäftigten Personen und ihrer Aufgaben“67. Zum anderen manifestiert sich in ihnen der alltägliche ‚Augensinn‘ der Zöllner, die vor allem das ‚Außeralltägliche‘ zu dokumentieren suchten.68 Im Fall des alltäglichen Grenzdienstes war dies die Begegnung mit Personen der ‚anderen Seite‘, die die Eintönigkeit des Streifendienstes der westdeutschen Zollbeamten in dem oft menschenleeren Grenzgebiet zumindest für einen kurzen Moment unterbrach und einen Anlass zum Fotografieren bot.69 Die Frage, inwiefern nun diese Fotografien Herrschafts- und Systemverhältnisse widerspiegeln, ist in der bislang überschaubaren Forschung recht einhellig beurteilt worden. So konstatiert Maren Ullrich, dass sich „(d)ie (…) vorliegenden westdeutschen Fotografien (…) durch ein hohes Maß an sachlicher Routine aus(zeichnen) und u.a. der gerichtsverwertbaren Bestandsaufnahme (dienten)“.70 Ines Meyerhoff geht in ihrer Interpretation einen Schritt weiter und verortet diese Aufnahmen als historische Quellen, die zugleich „auch als aktive politische und soziale Praxis der Grenzziehung in beiden deutschen Staaten“71 zu beurteilen seien. Dabei würden „die westdeutschen Fotos die DDR-Grenzer als die Fremden, die Unmenschlichen“ markieren.72 Gerade der Blick auf diese Motivgruppe zeigt allerdings eine stärker gebrochene, vieldeutige und sich im Rahmen der Dynamik der deutsch-deutschen Teilung wandelnde fotografische Wahrnehmung, als diese recht eindeutigen Befunde suggerieren mögen. Ein junger Mann, geschätzte 20 Jahre alt, blickt über die Schulter in die auf ihn gerichtete Kamera (Abb. 13).73 Die Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt ihn in winterlicher Kleidung vom Kopf bis zur Hüfte. Aus seinem Stoffrucksack, den er auf dem Rücken trägt, ragt eine Maschinenpistole. Seine Körperhaltung wirkt kontrolliert. Ein leises, vieldeutiges Lächeln umspielt seine Mundpartie. Da der Grenzpolizist beinahe den gesamten Bildinhalt ausfüllt, lässt sich vermuten, dass der Fotograf sehr nah an sein Gegenüber herantreten konnte. Zudem erweckt der halb zur Kamera gedrehte Körper den Eindruck, als hätte der fotografierende Zöllner den Grenzpolizisten gezielt angesprochen. Durch das Kameraobjektiv entsteht zwischen Fotografiertem und Fotografierendem eine kommunikative Nähe, die entlang der zunächst noch wenig befestigten Grenzanlagen möglich wurde.
67 Ullrich: Geteilte Ansichten, 2006, S. 23. 68 Vgl. Starl: Knipser, 1995, S. 150. 69 Vgl. u.a. Marie-Luise Scherer: Die Hundegrenze, in: Der Spiegel, 7.2.1994, S. 94−115, hier S. 110f. 70 Ullrich: Geteilte Ansichten, 2006, S. 23f. 71 Meyerhoff: Blickwechsel, 2011, S. 53. 72 Ebd., S. 52. 73 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Grenze 3“ der Sammlung Stellpflug.
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Abb. 13: „Bewacher“
Anhand der Kleidung lässt sich der Fotografierte als Angehöriger der im Mai 1952 gegründeten Grenzpolizei der DDR identifizieren.74 Die Fotografie entstand vermutlich in einem Winter zwischen den Jahren 1952 und 1961, als diese Uniform getragen wurde. Die abgewandte Körperhaltung des Grenzpolizisten kann – trotz seines Blicks in die Kamera – im Sinne der ostwärts gerichteten Grenzüberwachung zur Verhinderung von Fluchten gedeutet werden. Allerdings spricht der entspannte Blick weg von seinem Tätigkeitsfeld nicht für eine unmittelbare Gefahrensituation. In dem vorliegenden Bestand befinden sich weitere ähnliche Fotografien dieses Zeitraumes, die einen eher zwanglosen Kontakt zwischen DDRGrenzern und westdeutschen Zollbeamten suggerieren. Die Vertreter des ‚gegnerischen‘ Systems muten hier nicht als ‚unmenschliche‘ oder ‚feindliche‘ Fremde an, sondern als nah- und ansprechbar. Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Konfliktes seit Beginn der 1950er-Jahre mussten diese Bilder eine durchaus ambivalente Wirkung entfalten. Gleichwohl war die innerdeutsche
74 Vgl. Lebegern: Geschichte der Sperranlagen, 2002, S. 23–33. Siehe auch: Ullrich: Geteilte Ansichten, 2006, S. 18–22.
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Grenze bereits zu diesem Zeitpunkt ein Ort der Gewalt, an dem Flüchtlinge durch Waffengebrauch an der Überwindung der Grenzanlagen gehindert wurden.75
Abb. 14: „Einsatz von Grenzaufklärern der NVA-Grenztruppe, Juni 1970“
Der weiträumige Grenzausbau schritt in den 1960er-Jahren erheblich voran.76 Der fotografische Blick der westdeutschen Zollbeamten auf die DDR-Grenzsoldaten erscheint dementsprechend deutlich distanzierter als noch in den 1950er-Jahren. Die gegenseitige Beobachtung zur Identifizierung und ‚Aufklärung‘ wurde zum bestimmenden Sujet. Exemplarisch dafür erscheint eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Juni 1970, die zwei Grenzsoldaten mittig von Kopf bis Fuß zeigt (Abb. 14).77 Beide stehen nebeneinander vor einem Metallgitterzaun, tragen den typi75 Vgl. Peter Joachim Lapp: Von der Grenzpolizei zur Grenztruppe (1946–1961), in: Hendrik Thoß (Hrsg.): Europas Eiserner Vorhang. Die deutsch-deutsche Grenze im Kalten Krieg, Berlin 2008, S. 33–86, hier S. 42. 76 Vgl. Hendrik Thoß: Die Grenztruppe als militärischer Verband (1961–1990), in: Ders. (Hrsg.): Europas Eiserner Vorhang, 2008, S. 87–143, hier S. 90–94. Siehe auch: Lebegern: Geschichte der Sperranlagen, 2002, S. 35–66. Seit Anfang der 1970er-Jahre unterstanden die ‚Grenztruppen‘ dem Ministerium für Nationale Verteidigung und setzten sich aus Zeitsoldaten und Wehrpflichtigen zusammen. 77 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Grenze 3“ der Sammlung Stellpflug.
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schen Kampfanzug der DDR-Grenztruppen mit Kopfbedeckung sowie ein Fernglas.78 Der links stehende Grenzsoldat richtet seinen Blick leicht rechts an der Kamera vorbei und zeigt einen neutralen, zugleich aufmerksamen Gesichtsausdruck. Seine Körperhaltung mutet ebenfalls konzentriert, aber nicht besonders angespannt an. Der rechts stehende DDR-Grenzsoldat trägt eine Sonnenbrille und sein Gesicht wird von einer Kamera verdeckt, die er in den Händen hält. Dabei scheint die Kamera direkt auf den fotografierenden Zollbeamten gerichtet zu sein. Die Körperhaltung des Grenzsoldaten wirkt ebenfalls nicht übermäßig angespannt. Bildaufbau, Komposition und Schärfentiefe erzeugen einen recht harmonischen Eindruck, die beiden bestimmenden Motive sind zentral ins Bild gerückt. Aus der Perspektive des DDR-Territoriums befinden sich die Grenzsoldaten hinter den Grenzsperranlagen. Allerdings war es Soldaten der NVA-Grenztruppen verboten, sich in diesem ‚vorgelagerten Hoheitsgebiet‘ der DDR aufzuhalten. Folglich handelte es sich wahrscheinlich nicht um gewöhnliche Grenzsoldaten, sondern um ‚Grenzaufklärer‘, die als ‚menschliche Quellen‘ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) die Grenztruppen unterstützten.79 In einem Artikel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel vom 9. August 1976 waren deren Aufgaben aufgelistet: „Absicherung von Grenzbaustellen; Kontrolle und Überwachung der Grenztruppenangehörigen und der Zivilbevölkerung (…); intensive Beobachtung des Bundesgebietes (…)“. 80 Voraussetzungen für die Übernahme dieser speziellen Tätigkeit waren politische Linientreue und eine besondere Ausbildung in den Bereichen Fotografie, Observation, Spurensuche und Nahkampf. Eine Kontaktaufnahme zu Personen jenseits der Grenzlinie auf westlicher Seite war besonders für diese ‚Grenzer‘, die wegen der Fluchtgefahr stets als Doppelstreifen auftraten, unter schwerer Strafandrohung verboten.81 Die auf der exemplarischen Fotografie abgebildeten ‚Grenzaufklärer‘ wirken in ihrer Beobachterposition in Richtung Westen deutlich konzentrierter und distanzierter als der Grenzpolizist in den 1950er-Jahren. Die räumliche Distanz und vermutlich auch die spezielle ideologische Unterweisung ließen keinerlei kommunikative Nähe zum westdeutschen Zöllner entstehen. Der Metallzaun im Hintergrund verstärkt den Eindruck der in dieser Umgebung zementierten Teilung. Die Angehörigen des DDR-Grenzregimes, die das gegnerische System verkörperten, sind zwar sichtbar, erscheinen aber zugleich unnahbar. Angesichts der vermutlich alltäglichen Begegnung mit westdeutschen Zollbeamten bleibt das von den ‚Grenzaufklärern‘ ausgehende Bedrohungspotenzial indes weitgehend unsichtbar. Wenngleich diese Fotografie lediglich für private oder dienstinterne Verwendung vorgesehen war, fügt sich die Dokumentation alltäglicher ‚Grenzbewegun-
78 Vgl. Klaus-Ulrich Keubke, Manfred Kunz: Uniformen der Nationalen Volksarmee der DDR 1956–1986, Berlin 1990, S. 138–143. 79 Vgl. Stephan Wolf: Hauptabteilung I. NVA und Grenztruppen (Handbuch), Berlin 2005, S. 37. Siehe auch: „Härteste Prüfung“, in: Der Spiegel, 9.8.1976, S. 19f., hier S. 20. 80 „Härteste Prüfung“, in: Der Spiegel, 9.8.1976, S. 20. 81 Vgl. ebd., S. 19f.
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gen‘ auf der östlichen Seite in zeitgenössische Deutungsmuster ein und unterstützt diese zumindest hinsichtlich der öffentlich kommunizierten, massiven ‚Aufklärungstätigkeit‘ der östlichen ‚Grenzbewacher‘. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass der westdeutsche Grenzstreifendienst in analoger Position den ostdeutschen Grenzsoldaten gegenüberstand und eine ähnliche Fotografie aus der Gegenperspektive entstanden sein dürfte, wenn auch ohne Grenzsicherungsanlagen im Hintergrund. Entgegen des allgemeinen Befundes der räumlichen und mentalen Distanzierung gelang es Erich Stellpflug in den frühen 1980er-Jahren mehrfach, mit einem Vergrößerungsobjektiv ‚Grenzaufklärer‘ aus einer gewissen Distanz zu fotografieren und sogar mit ihnen zu sprechen (Abb. 15).82 So zeigt eine Farbaufnahme vom Juli 1982 eine Gruppe von drei uniformierten Männern, die sich laut Bildunterschrift an der Grenze bei Glasehausen im Bezirk Erfurt befinden und offenbar soeben das Streichen von Grenzsäulen beendet haben.
Abb. 15: „17.7.1982 Grenzaufklärer nach Streichen der Grenzsäule bei Glasehausen“
Die drei Personen stehen in der Mitte des Bildes, links von ihnen befinden sich zwei Motorräder. Der ‚Grenzer‘ links scheint zum Fotografen zu schauen, während der rechts stehende Mann lediglich von der Seite zu sehen ist. Der Grenzsoldat in der Mitte wiederum richtet sein Kameraobjektiv direkt auf den Fotografen im Westen und geht damit als einziger im Moment der Aufnahme einer ‚grenzty82 Die Fotografie stammt aus dem Fotoalbum „Zoll 3“ der Sammlung Stellpflug.
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pischen‘ Tätigkeit nach. Insgesamt strahlen die drei Fotografierten keine besondere Anspannung aus, sondern scheinen eine Arbeitspause einzulegen, worauf auch die geöffnete Bierflasche auf einem der Motorradsitze hinweist. Die Umgebung wirkt zudem geradezu idyllisch: Die Gruppe steht auf einer wild bewachsenen Wiese, im Bildvordergrund blühen rosafarbene Gladiolen. Allerdings verlaufen hinter den ‚Grenzaufklärern‘, teilweise verdeckt durch Bäume, zwei durch Betonpfähle gehaltene Zäune. Wiederum dahinter sind mehrere Häuser abgebildet, wahrscheinlich die Ortschaft Glasehausen, die sich im 500 Meter breiten Schutzstreifen unmittelbar hinter dem Grenzzaun befand. Die Bildkomposition verstärkt zunächst den harmonischen Eindruck der Szenerie: So nutzt Stellpflug – ob bewusst oder nicht – annähernd die Drittel-Regel, nach der das Bild gedanklich in jeweils zwei horizontale und zwei vertikale Linien aufgeteilt wird, so dass neun gleiche Teile entstehen. Die ‚Grenzaufklärer‘ sind aus diesem Blickwinkel entlang der unteren gedachten horizontalen Gerade am Schnittpunkt zur linken vertikalen Gedankenlinie angeordnet und werden damit zum Blickfang. Gleichzeitig sorgt die leichte Steigung des Zauns für Dynamik im Bildaufbau. Der Schärfeeindruck ist ebenfalls auf die drei Personen zugeschnitten. Die satte Farbgebung des Abzuges, wenn auch etwas verfremdet durch den altersbedingten Gelbstich, begünstigt den friedlichen Anschein des abgebildeten Moments. Allerdings erzeugen das auf den Fotografen gerichtete Kameraobjektiv und der massive, lückenlose Grenzzaun im Hintergrund eine widersprüchliche Stimmung. Trotz der scheinbaren Feierabendstimmung vergaß der ‚Grenzaufklärer‘ nicht seine dokumentarischen Pflichten: die Ablichtung von Personen und deren Aktivitäten auf dem Gebiet der BRD. Entsprechend beschreibt Erich Stellpflug die Kontakte zu den ‚Grenzaufklärern‘: „Sie durften ja nicht mit uns reden und dann habe ich ihnen aber gesagt: ‚Passt auf Leute, wir machen ’nen Deal: Ich sammle die Fotos für mich privat. Ich nehme jetzt (…) für zwei, drei Minuten die Kamera runter, dann könnt ihr mich fotografieren. (…) und dann lasst ihr mich euch auch fotografieren‘. (…) Da haben die Jungs mitgespielt. Sie brauchten ja ihre (…) Fotos als Beweis ihres Einsatzes.“83
Diese rückblickend eher vergnüglich geschilderten Begegnungen zwischen ostund westdeutschen Grenzsicherungskräften hatten hinsichtlich des bedrohlichen historisch-politischen Kontextes gleichwohl eine andere Signifikanz. Auch die ‚Gegenseite‘ der ostdeutschen ‚Grenzaufklärer‘ wird diese Situation vermutlich anders beurteilt haben.
83 Interview mit Erich Stellpflug.
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Fazit Inwiefern tragen Fotografien dazu bei, neue Perspektiven auf die Kultur- und Alltagsgeschichte der deutsch-deutschen Teilung jenseits der Politik- und Realgeschichte zu erschließen?84 Und welche Bedeutung kommt ihnen innerhalb des Forschungsfeldes der Erinnerungs- und Geschichtspolitik zu? Im Gegensatz zu Textquellen legen Bilder „Zeugnis von etwas ab (…), das nicht in Worte gefaßt“85 werden konnte. Sie gewähren auf diese Weise Einblicke in das ‚Sichtfeld‘, den „Augensinn“ der historischen Akteure. Dies bedeutet auch, dass es sich bei keiner der ausgewählten Fotografien um Abbilder einer wie auch immer gearteten Realität handelt, sondern vielmehr um „Verzerrungen, die (…) vergangene Standpunkte oder ‚Blicke‘“86auf einen historischen Gegenstand aufdecken. Die Erforschung der affektiv und polysemisch wirksamen Bildquellen im Hier und Jetzt erfordert zum einen die Heranziehung bildwissenschaftlicher Analysemethoden und zum anderen – ebenso wie textliche Überlieferungen – eine sorgfältige historische Kontextualisierung. 87 Daraus geht der besondere Mehrwert der historischen Bildanalyse hervor, der in der „(Re-)Konstruktion“, in der Annäherung an das Alltagsleben von Menschen, an ihre Mentalitäten und die Materialität ihres Umfeldes liegt.88 Die Bildanalyse erlaubt einen erweiterten Blick auf Vergangenheit und deren Konstruktion. Wie gezeigt werden konnte, bewegte sich der „Augensinn“ der westdeutschen Zollbeamten im Spannungsfeld von erlebtem Arbeitsalltag und offiziellen zeitgenössischen Deutungsversuchen. Gleichzeitig gewährte den Zöllnern ihr Arbeitsort individuelle und gruppenspezifische Erlebnisse an der innerdeutschen Grenze, die weitaus vielschichtiger waren, als dies die offizielle Lesart suggerierte. Dabei verweisen die Fotografien der westdeutschen Zöllner und ihrer Zollhunde auf die Bedeutung der Tiere als ‚Kollegen‘ und ‚Kameraden‘ bei der täglichen Arbeit. Insbesondere die Teilnahme an Wettkämpfen verschaffte ihnen öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. Jenseits der beruflichen Verpflichtungen deutet sich in den fotografierten Rollenspielen darüber hinaus der Wunsch nach Abwechslung in der territorialen Abgeschiedenheit und dem Ausbruch aus der zugeschriebenen Ernsthaftigkeit ihrer Rolle an.
84 Vgl. u.a. Peter Joachim Lapp: Eine Grenze durch Deutschland, Erfurt 2011; Thoß (Hrsg.): Europas Eiserner Vorhang, 2008; Dietmar Schultke: „Keiner kommt durch“. Die Geschichte der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer 1945–1990, Berlin 2008; Roman Grafe: Die Grenze durch Deutschland. Eine Chronik von 1945 bis 1990, Berlin 2002; Lebegern: Geschichte der Sperranlagen, 2002; Bernd Weisbrod (Hrsg.): Grenzland. Beiträge zur Geschichte der deutsch-deutschen Grenze, Hannover 1993. 85 Burke: Augenzeugenschaft, 2003, S. 35. 86 Ebd. 87 Vgl. Ulrike Mietzner, Ulrike Pilarczyk: Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005, S. 157. 88 Christoph Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historischpolitischen Bildung, Herbolzheim 2007, S. 57.
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Entsprechend der offiziellen westdeutschen Perspektive auf die Grenze als Ort der Bedrohung und Gewalt avancierte der in der Hundelaufanlage gefangene Trassenhund zu einem Sinnbild des unbarmherzigen Grenzregimes. Rückblickend vermitteln aber vor allem die in den 1960er-Jahren aufgenommenen Bilder der Minenverlegungen die konkrete Gefahr der sich zuspitzenden Blockkonfrontation. Die Konzentration der DDR-Grenzsoldaten auf ihre lebensbedrohliche Arbeit wird deutlich durch die auffällige Nichtbeachtung ihrer westdeutschen Beobachter. Wahrnehmbare Folgen hatte die grausame Abriegelungstechnik auch für am Grenzzaun getötete Wildtiere, deren Kadaver das Gewaltpotenzial konkret sichtbar machten. Die Installierung der selbstauslösenden Splitterminen seit Beginn der 1970er-Jahre markierte eine neue Qualität des inhumanen Grenzregimes und provozierte eine detaillierte Dokumentationstätigkeit der westdeutschen Zollbeamten. Die seit den 1960er-Jahren zunehmende Distanz verstärkte sich in ihrer fotografischen Wirkung in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren durch die deutlich undurchdringlicher erscheinenden Grenzanlagen. Dass die Zollbeamten beim Fotografieren eine zunehmend distanzierte Beobachterposition einnahmen, spricht nicht nur für die unmittelbare Gefahrenlage, sondern auch für eine gewisse mentale Distanzierung. Dieser Befund gilt gleichermaßen für die im Foto festgehaltenen DDRGrenzbewacher: Simultan zum fortschreitenden Grenzausbau wurden die persönlichen (Sicht-)Kontakte seltener. Die wachsende räumliche Distanz bewirkte eine Abnahme kommunikativer Nähe. Die gegenüber den westdeutschen Zollbeamten eher unnahbar auftretenden ‚Grenzaufklärer‘ wurden zu bestimmenden fotografischen Motiven. Vor allem ihre spezifische Uniformierung machte sie als Stellvertreter des ‚fremden‘ Regimes erkennbar. Allerdings strahlen die Beispielfotos weder in den 1950er-Jahren noch in späteren Jahrzehnten ein ‚unmenschliches‘ oder ‚feindliches‘ Bedrohungspotenzial der DDR-Grenzbewacher aus. Anders als die nationalen Bildikonen der deutsch-deutschen Teilungsgeschichte haben die untersuchten Bildbeispiele keine breite öffentliche Wirksamkeit entfaltet. Sie können dennoch vielschichtige erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Relevanz erlangen, die je nach Akteur und Blickwinkel variiert. Insofern es sich bei den Bildern nicht um bloße Auftragsfotografien handelte, konnten sie zunächst als ‚Erinnerungsstützen‘ an vergangene Ereignisse und Handlungsweisen im persönlichen Umfeld der Zollbeamten dienen. Darüber hinaus verleihen die Bilder ihren Fotografen durch den unmittelbaren Bezug zu einem räumlichen Brennpunkt der Zeitgeschichte den besonderen Status von Augenzeugen und gelegentlich auch den von ‚Experten‘. Dieser Befund trifft auch auf den ambitionierten Hobbyfotografen Erich Stellpflug zu, der aus den ‚fremden‘ Bildern Fotoalben anfertigte89 und diesen seine eigenen Bilder hinzufügte. 89 Vgl. Cord Pagenstecher: Private Fotoalben als historische Quellen, in: Zeithistorische Forschungen /Studies in Contemporary History, 6 (2009) 3, S. 449–463, hier S. 453. Der Bildproduzent entwickelt durch das Einkleben und Beschriften seiner Fotografien in Fotoalben immer eine zweite, eigenständige Erzählung jenseits des Fotografierens und der Bilder selbst. Wie teilweise auch im vorliegenden Fall sind Fotograf und ‚Albenproduzent‘ zudem häufig
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Mit der Übergabe der Alben an das Historische Museum Hannover im Jahr 2010 verlieh Stellpflug wohl nicht zuletzt seinem Wunsch Ausdruck, als passionierter Sammler Anerkennung zu finden und der Zollbehörde sowie deren Mitarbeitern eine Wertschätzung zuteil werden zu lassen, an der es – wie das eingangs zitierte Gedicht nahelegt – in der öffentlichen Wahrnehmung häufig mangelte. Sie zielt deshalb auch auf eine autobiografische erinnerungskulturelle Konstruktion. Darüber hinaus könnten die bisher weitgehend unveröffentlichten Fotografien durch die gezielte Gegenüberstellung mit Bildikonen durchaus geschichtspolitische Bedeutung erlangen. Denn der Bildvergleich kann anhand von sichtbar werdenden Widersprüchen potenzielle Irritationen erzeugen und damit bisherige historische ‚Meistererzählungen‘ in Frage stellen oder zumindest ergänzen. Zu einer differenzierten Wahrnehmung der alltäglichen Praxis an der innerdeutschen Grenze könnten beispielsweise die stärkere Betonung der häufigen Langeweile des Zollgrenzdienstes und die vor allem in den ersten Jahrzehnten teils legeren Kontakte zwischen den diensthabenden Männern in Ost und West anregen. Außerdem sollte ins geschichtspolitische Bewusstsein rücken, dass es noch immer der von West nach Ost gerichtete Blick ist, der die Wahrnehmung der deutschen Teilung bis in die Gegenwart hinein prägt. Dieses Ungleichgewicht in der offiziellen Erinnerungskultur kann ein möglicher Anknüpfungspunkt sein, um anhand bisher nicht publizierter Fotografien im Sinne des ‚Visual Turn‘ über „sozial und kulturell geformte Blickwinkel“ zu reflektieren, diese neu zu kontextualisieren und zu deuten.90
nicht identisch, sodass Entstehungskontext und nachträglich erdachtes Narrativ keineswegs miteinander korrespondieren müssen. 90 Gerhard Paul: Die aktuelle Historische Bildforschung in Deutschland. Themen – Methoden – Probleme – Perspektiven, in: Jens Jäger, Martin Knauer (Hrsg.): Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um historische Bildforschung, München 2009, S. 125–143, hier S. 127.
„GESCHICHTE ALS ARGUMENT“ – EIN STIEFKIND DER NEUEREN GESCHICHTSPOLITISCHEN FORSCHUNG Manuel Becker
Zusammenfassung: Der Aufsatz vermittelt einen Überblick über den Forschungsstand zum Ansatz der „Geschichte als Argument“. Verschiedene in der Forschung dazu existierende Konzeptualisierungen werden präsentiert und synthetisiert. Darüber hinaus wird ein eigener Vorschlag für eine politikwissenschaftliche Operationalisierung zur Analyse von historischen Argumenten im politischen Diskurs entwickelt. Im Zentrum steht dabei einerseits die Frage, ob unterschiedliche historische Argumente auf hinter diesen stehende, sich wiederholende Muster zurückgeführt werden können, und andererseits, welche Maßstäbe an eine kritischen Überprüfung der Angemessenheit historischer Argumente angelegt werden dürfen. Abstract: This contribution provides an overview of the current state of research regarding the approach „history as argument“. In doing so, several conceptualizations drawing upon this approach in academic research shall be presented and synthesized. Taking this as a starting point, I am going to devise a new suggestion for a fruitful operationalization of historical argument within political discourse and the field of political sciences. For this purpose, two questions will be central: Can or should different lines of historical argument be tied to underlying recurring patterns? And which standards seem suitable for a critical examination of the adequacy of historical argument?
Unter den verschiedenen wissenschaftlich reflektierten Konzeptualisierungsversuchen der Geschichte als Element des politischen Handelns umschreibt der Topos „Geschichte als Argument“ den ältesten Strang, da er bereits in den 1970er-Jahren von der Geschichtsdidaktik und der Geschichtswissenschaft aufgegriffen wurde. Der Oberbegriff Geschichtspolitik kann politikwissenschaftlich in einer ersten allgemeinen Annäherung als kulturelle oder strategische Bezugnahme auf die Vergangenheit durch politische Akteure erfasst werden. Es lässt sich eine Ebene, auf der der Zugriff auf die Geschichte als Element des politischen Handelns instrumentell erfolgt, von einer weiteren Ebene abgrenzen, auf der der Zugriff auf die Geschichte als Element des politischen Handelns materiell erfolgt.1 Der Ebene des instrumentellen Zugriffs auf Geschichte kann die „Geschichte als Argument“ 1
Diese Unterscheidung stellt eine Weiterentwicklung der Unterscheidung von Erik Meyer dar, der zwischen den Ebenen der politischen Deliberation und der politischen Dezision unterscheidet. Vgl. Erik Meyer: Erinnerungskultur als Politikfeld. Geschichtspolitische Deliberation und Dezision in der Berliner Republik, in: Wolfgang Bergem (Hrsg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen 2003, S. 121–136, hier S. 122.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 173–187
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Manuel Becker
zugeordnet werden, das heißt die Historie wird von einem politischen Akteur affirmativ oder negativ in einen politischen Argumentationszusammenhang eingebunden.2 Schaut man sich das breite Spektrum von Themen an,3 die in der Forschung unter dem Schlagwort Geschichtspolitik verhandelt werden, so scheint diesem Ansatz in der aktuellen Forschung ein eher randständiger Status zuzukommen. Im Folgenden geht es zunächst um die Definition des Schlagwortes „Geschichte als Argument“. Anschließend folgt ein Überblick über den Forschungsstand, der unterschiedliche Ansätze und Akzentuierungen von verschiedenen Autoren vorstellt und systematisiert. Auf dieser Grundlage wird ein eigener Konzeptualisierungsvorschlag der „Geschichte als Argument“ erarbeitet. Erkenntnisleitend stehen dabei folgende Fragestellungen im Mittelpunkt: Welche unterchiedlichen Argumentationsmuster lassen sich entschlüsseln und wie lassen sich diese beschreiben? Wo liegen Grenzen des Argumentierens mit Geschichte? Welche Kriterien können einer kritischen Prüfung auf Zulässigkeit beziehungsweise Angemessenheit zugrunde gelegt werden?
Was bedeutet „Geschichte als Argument“? Was mit „Geschichte als Argument“ konkret gemeint ist und warum die Beschäftigung damit politikwissenschaftlich relevant ist, lässt sich am besten an einem Beispiel illustrieren: Der grüne Außenminister Joschka Fischer hatte 1999 im Kontext des Kosovo-Krieges den ersten Auslandseinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg ohne UN-Mandat zu rechtfertigen. Es war eine Ironie der Geschichte, dass diese ohnehin schon schwierige Herausforderung einem Politiker zugefallen war, der einer Partei angehörte, zu deren Wurzeln ein kompromissloser Pazifismus gehörte. Als Fischer mit sicherheitspolitischen und verantwortungsethischen Sachargumenten, die sich auf die Gegenwart bezogen, bei seinen Parteifreunden nicht mehr durchdrang, bediente er sich eines historischen Arguments: „Ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“4 Der Außenminister verwies damit auf einen zentralen Traditionsbestand in der außenpolitischen Kultur der Bundesrepublik. Es ließe sich historisch und begrifflich darüber streiten, ob die von Slobodan Milosevic betriebene Politik der ethnischen ‚Säuberung‘ mit dem industriell organisierten Massenmord an den europäischen Juden, für den die Chiffre „Auschwitz“ steht, auf eine Stufe gestellt werden kann. Im Kern ging es Fischer letztend2 3
4
Vgl. Manuel Becker: Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“. Konzepte und Kontroversen, Wiesbaden 2013, S. 191–201. Vgl. in diesem Zusammenhang die Verteilungsanalyse bei Harald Schmid: Vom publizistischen Kampfbegriff zum Forschungskonzept. Zur Historisierung der Kategorie „Geschichtspolitik“, in: Ders. (Hrsg.): Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis, Göttingen 2009, S. 53–75, hier S. 69f. Zit. nach Auszügen aus der Rede von Joschka Fischer, in: Der Spiegel, 26.4.1999, S. 33.
„Geschichte als Argument“
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lich darum, ein aus Gründen der Staatsraison gebotenes politisches Projekt in der Öffentlichkeit und vor allem in seiner Partei zu legitimieren: durch den Appell an historische, auf abstrakter Ebene konsensfähige Lehren. Ähnlich gelagerte Beispiele, in deren Gegenstandsbereich die „Geschichte als Argument“ im politischen Kontext eine Rolle spielt, sind etwa die Rede eines Bundespräsidenten zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober oder eine Bundestagsdebatte zum Kampf gegen Rechtsextremismus. Mit dem Topos „Geschichte als Argument“ ist demnach eine politische Argumentationsstrategie gemeint, im Rahmen derer eine historische Tatsache, ein historischer Zusammenhang oder eine historische Interpretation herangezogen wird, um Zustimmung für ein konkretes politisches Vorhaben zu gewinnen und um Legitimität für dasselbe einzuwerben.
Frühe Typologisierungsversuche und Pionierstudien aus den 1970er-Jahren Ab der Mitte der 1970er-Jahre waren es zunächst Historiker, die sich im Zusammenhang mit der damals geführten Debatte um Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft 5 systematisch der Frage nach der politischen Instrumentalisierbarkeit von Geschichte zuwendeten. Der Begriff Geschichtspolitik kommt in dieser frühen Phase der wissenschaftlichen Diskussion noch nicht vor, er gewinnt erst gut zehn Jahre später mit dem „Historikerstreit“ an Kontur.6 Die Debatte wurde stattdessen unter dem Schlagwort „Geschichte als Argument“ geführt, das auf eine Monografie des Althistorikers Alexander Demandt aus dem Jahr 1972 zurückgeht, die sich mit Formen des politischen Zukunftsdenkens in der Antike auseinandersetzt.7 Es zeigt sich in diesen Ansätzen der wissenschaftsgeschichtlich früheste Diskussionsstrang, der einen analytischen Blick darauf freigibt, was später Geschichtspolitik genannt wurde und erst ab den 1990er-Jahren eine dezidiert politikwissenschaftliche Forschungstätigkeit erfahren sollte. Erste assoziative Annäherungen an das „politische Handeln aus historischem Bewußtsein“ finden sich 1975 in einem Aufsatz von Theodor Schieder.8 Die wenigen größeren Arbeiten zur historischen Argumentation in politischen Debatten waren Teil einer Forschungstradition, die sich der historischen Textpragmatik und -exegese widmete. So untersuchte Hans Ulrich Gumbrecht die Funktionen parlamentarischer Rhetorik in der Französischen Revolution und stieß dabei unter anderem auf Argumentationsstrategien, die auf die Geschichte rekurrierten.9 Den 5 6 7 8 9
Vgl. statt vieler Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Objektivität, Göttingen 1975. Vgl. zur Begriffsgeschichte Harald Schmid: Erinnern an den „Tag der Schuld”. Das Novemberpogrom von 1938 in der deutschen Geschichtspolitik, Hamburg 2001, S. 23–32. Alexander Demandt: Geschichte als Argument. Drei Formen politischen Zukunftsdenkens im Altertum, Konstanz 1972. Theodor Schieder: Politisches Handeln aus historischem Bewußtsein, in: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 4–25. Vgl. exemplarisch Hans Ulrich Gumbrecht: Funktionen parlamentarischer Rhetorik in der Französischen Revolution. Vorstudien zur Entwicklung einer historischen Textpragmatik, München 1978.
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Manuel Becker
ersten systematischen Operationalisierungsversuch für die empirische Forschung legte der Historiker Karl-Georg Faber in einem Aufsatz von 1975 vor.10 Faber plädierte für einen neutralen wissenschaftlichen Zugang zur Geschichte als politisches Argument: „Ist also dieser Verwendungszusammenhang zwischen Geschichte und Politik als ein permanenter ausgemacht, dann kann sich der die Stellung seines Fachs reflektierende Historiker nicht damit begnügen, ihn entweder als mißbräuchlich (…) zu beklagen oder als angemessen zu loben (…). Er sollte ihn vielmehr (…) zum Gegenstand einer zugleich historischen und theoretischen Untersuchung machen.“11
Unmissverständlich rät Faber seinen Kollegen, historische Argumentationen in politischen Reden nicht abzutun, sondern sie zum Forschungsthema zu machen. Faber beließ es nicht bei dieser Position, sondern schlug einen konkreten analytischen Untersuchungsansatz vor. Er legt seinem Schema als empirische Basis die Fallstudien von drei parlamentarischen Debatten im 19. und 20. Jahrhundert zugrunde. Dabei arbeitet Faber die grundsätzliche Trennung zwischen dem isolierten Rückgriff auf historische Einzelbeispiele und der Einführung von übergreifenden historischen Sinn- und Wirkungszusammenhängen in der politischen Auseinandersetzung heraus. Beim Verweis auf historische Einzelbeispiele identifiziert er drei Argumentationstypen: – – –
erstens die Nennung als positives oder negatives exemplum mit instrumentellnormativer Intention zweitens die Ableitung konkreter Rechtsansprüche aus historischen Sachverhalten drittens die Verwendung wertbesetzter Ereignisse als Zeichen oder Symbole für den von ihnen einlösbaren Wert oder „Unwert“.12
Beim Zugriff auf Geschichte als Sinnzusammenhang benennt er ebenfalls drei Varianten: –
–
erstens die Erzählung zur Auseinandersetzung über Kontinuität und Wandel in der vergangenen und künftigen Politik oder zur Ableitung von Rechtfertigungen und Verpflichtungen zweitens die Schilderung mit Tiefendimension, um Unrechtsverantwortung auf Zwangsläufigkeiten abzuschieben und um mit Sachzwangargumenten die Notwendigkeit eines bestimmten Gedankengangs zu fundieren
10 Vgl. Karl-Georg Faber: Zum Einsatz historischer Aussagen als politisches Argument, in: Historische Zeitschrift 221 (1975), S. 265–303. 11 Ebd., S. 268. 12 Vgl. ebd., S. 275–286.
„Geschichte als Argument“
–
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drittens die Reihung von verschiedenen Ereignissen zur Kennzeichnung eines bestimmten Trends.13
Es handelt sich hier um den wissenschaftshistorisch frühesten Versuch einer Typologie geschichtspolitischer Argumentationsmuster. Fabers Beitrag wurde von der Forschung nicht weiter verfolgt. An ihn knüpfte lediglich die politikwissenschaftliche Studie seines Schülers Wolfgang Bach an, der den Rekurs auf die Geschichte anhand ausgewählter außenpolitischer Debatten im Deutschen Bundestag untersuchte.14 Bach unterscheidet fünf Formen von Geschichtsverständnis, im Kontext derer Geschichte als politisches Argument verwendet werden kann: – – – – –
Geschichte als Prozess Geschichte als Ereignis Geschichte als Metapher Geschichte als Instanz die Ablehnung der Argumentation mit Geschichte.
Die beiden erstgenannten Formen sind deckungsgleich mit der Grundunterscheidung von Faber. Die drittgenannte Form versteht sich von selbst. Erläuterungsbedürftig sind die beiden letztgenannten Typen: Sie entspringen für Bach einer jeweiligen Grundhaltung zur Geschichte. Entweder die Historie wird als Lehrmeisterin akzeptiert oder ihrem pädagogischen Charakter wird eine grundsätzliche Absage erteilt.15 Wird die Geschichte in einem Prozesscharakter thematisiert, so lassen sich nach Bach neun Subtypen differenzieren: Geschichte als Ort der Entscheidung, das Tragische in der Geschichte, Geschichte als das Unausweichliche, das Nichtabsehbare an der Geschichte, Geschichte als Wiederkehr des Alten, Geschichte als Beispielsammlung, Geschichte in anthropologischen und ethnologischen Thesen, Geschichte als das Wiederholenswerte sowie Geschichte als das Überholte.16 Diese relativ unübersichtliche Sammlung ließe sich systematisch sicher noch etwas verschlanken. Die Formen des argumentativen Einsatzes von Geschichte sind in jedem Fall äußerst vielfältig und entziehen sich häufig einer trennscharfen Unterscheidung. Bach weist explizit darauf hin, dass die politische Argumentation mit Geschichte genau wie jede andere politische Argumentation nicht primär der Wahrheitsfindung, sondern der „Platzbehauptung“ diene. Es sei daher naheliegend, gewisse „Spielregeln“ vorzuschlagen, die den Missbrauch historischer Argumentationen in der Politik wenigstens eindämmen könnten.17
13 Vgl. ebd., S. 286–293. 14 Vgl. Wolfgang Bach: Geschichte als politisches Argument. Eine Untersuchung an ausgewählten Debatten des Deutschen Bundestages, Stuttgart 1977. 15 Vgl. ebd., S. 66–111. 16 Vgl. ebd., S. 67–96. 17 Vgl. ebd., S. 138.
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Der Historiker Christoph Steinbach wählt einen breiteren Untersuchungsrahmen als Faber und Bach, indem er in seiner Analyse zu historischen Argumenten zum 30. Jahrestag der deutschen Kapitulation von 1945 nicht nur die parlamentarische Debatte, sondern politische Reden im Allgemeinen sowie journalistische Leitartikel in den Blick nimmt.18 Steinbach möchte anhand von einzelnen Beispielen Anknüpfungspunkte für ein kritisches Verfahren gewinnen, mit dem sich historische Argumentationsmuster in der Öffentlichkeit analysieren lassen. Sieben verschiedene Verfahren zur Gewinnung von Lehren aus der Geschichte werden aus den untersuchten Quellen destilliert: 1. die bloße Feststellung einer historischen Lehre 2. die Ableitung einer historischen Lehre nach der kurzen Skizzierung eines historischen Zusammenhangs 3. der defensive Verweis darauf, dass die historische Kenntnis der Umstände eines politischen Problems das Auffinden einer angemessenen Lösung ermöglichen kann 4. die Forderung nach der Verflüssigung gegenwärtiger Zustände und die Entwicklung von Alternativen 5. der komparative Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede einer historischen Situation mit der gegenwärtigen Lage 6. der komparative Blick auf die Vergangenheit in ihrem Verlauf bis heute 7. die Kritik der gegenwärtigen Entwicklung.19 Die vielen Einseitigkeiten und Verzerrungen geschichtlicher Ereignisse und Zusammenhänge, die in politischen Reden und Leitartikeln als historische Realität ausgegeben würden, werden von Steinbach ebenso kritisiert wie die selten deutlich gemachte Trennung zwischen historischen Fakten und politischer Interpretation.20 Es bleibt also die Problematik der von Bach eingeforderten „Spielregeln“ für den Einsatz des historischen Arguments bestehen. Hierzu hat Jürgen Kocka einen Vorschlag unterbreitet. Der in den 1970ern vorherrschenden dichotomischen Betrachtungsweise von Objektivität versus Parteilichkeit in der Darstellung historischer Ereignisse setzt er eine graduell abgestufte Perspektive entgegen. Kocka möchte keine trennscharfe Linie zwischen legitimen und illegitimen Argumentationen konstruieren, sondern versucht etwas bescheidener, die Grenzen für den Spielraum zwischen einem angemessenen und einem nicht angemessenen Rückgriff auf die Geschichte in der politischen Auseinandersetzung auszuloten. Dazu werden zunächst drei erkenntnistheoretische Grundannahmen vorausgesetzt:
18 Christoph Steinbach: Historische Argumentation in politischen Reden und Leitartikeln zum 30. Jahrestag der deutschen Kapitulation von 1945, in: Wilhelm van Kampen (Hrsg.): Geschichte in der Öffentlichkeit. Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom 5.–8. Oktober 1977 in Osnabrück, Stuttgart 1979, S. 237–262. 19 Vgl. ebd., S. 245–257. 20 Vgl. ebd., S. 245–253.
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erstens sei der Bezug jedes historischen Arguments zu seinem geschichtlichen Gegenstand selektiv, woraus notwendig folge, dass immer verschiedene Interpretationen desselben Gegenstandes möglich seien zweitens seien historische Argumentationen stets vom gesamtgesellschaftlichen Kontext des Argumentierenden einschließlich dessen Wertvorstellungen und Interessen beeinflusst drittens diene das historische Argument dem politischen Zweck.21
Kocka stellt für die drei Bereiche Merkmalskataloge auf, die zumindest prinzipiell eine Abgrenzung legitimer von illegitimen Argumentationsmustern erlauben: Für den hier gegebenen Zusammenhang sind vor allem Kockas Vorschläge für die Grenzen zwischen wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Verwendungsweise von Bedeutung. Es müsse nicht immer, es könne aber durchaus legitim sein, wenn historische Erkenntnis zur nachträglichen Rechtfertigung politischer Ziele eingesetzt wird. Der Spielraum zwischen den beiden Polen sei allerdings ausgereizt, wenn geschichtliches Wissen mit politischen Intentionen in einen Zielkonflikt gerate und dieser Widerspruch zu Lasten der historischen Aussage gelöst werde. Dies gelte auch in dem Fall, wenn historisches Wissen für Zwecke eingesetzt werde, die die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen aufhöben, unter denen Geschichtswissenschaft existieren könne.22 Die rar gesäten Ansätze zum Themenkomplex „Geschichte als Argument“ aus den 1970er-Jahren fanden immerhin Eingang in den Artikel eines einschlägigen geschichtsdidaktischen Handbuchs. Neben der Zusammenfassung der bis dahin erschienenen wenigen Studien schlägt dessen Autor Jörg Calließ eine weitere, auf vier idealtypische Muster konzentrierte Typologie der „Geschichte als Argument“ vor: 1. die Einführung historischer Beispiele (argumentum ad exemplo) 2. die Konstruktion von Analogien (argumentum ab analogia) 3. die Darstellung von Trends und Entwicklungen, die zur Genese aktueller Wirklichkeit gehören (argumentum a progressione) 4. die Inanspruchnahme von Wirkungs- und Sinnzusammenhängen, die Geschichte als Prozess konstituieren (argumentum a processe).23
Neuere politikwissenschaftliche Untersuchungsansätze Die oben genannten Ausarbeitungen stellen bereits die Quintessenz dessen dar, was die Geschichtswissenschaft und -didaktik in dieser Zeit zu dem Thema beizu-
21 Vgl. Jürgen Kocka: Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: Reinhart Koselleck et al. (Hrsg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, S. 469–475, hier S. 470f. 22 Vgl. ebd., S. 472f. 23 Vgl. Jörg Calließ: Geschichte als Argument, in: Klaus Bergmann (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, 3., völlig überarb. u. bedeutend erw. Aufl., Düsseldorf 1985, S. 56f.
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tragen hatte. Die methodische Beschäftigung der Politikwissenschaft mit dem Thema „Geschichte als Argument“ setzte später ein. Die erste erwähnenswerte Studie stammt aus dem Jahr 1989.24 Katherina Oehler stellt ihre Analyse der historischen Argumentation im Bundestag zwischen 1949 und 1979 auf eine deutlich breitere empirische Basis als Bach, da bei der Auswahl der Debatten jede Legislaturperiode mit einbezogen wird. Daraus ergibt sich die methodische Schwierigkeit, sowohl die Vergleichbarkeit der Debatten zu berücksichtigen als auch zugleich solche Kontroversen herauszugreifen, die exemplarisch für die jeweilige Legislaturperiode stehen. Oehler löst das erste Problem, indem sie jeweils die erste Regierungserklärung inklusive Aussprache und die letzte Haushaltsdebatte einer jeden Legislaturperiode auswählt. Oehler wählt bei den Kriterien zur Ordnung der historischen Argumente zwei Perspektiven: 1. In qualitativ-inhaltlicher Hinsicht lassen sich die Argumente nach Epochen der politischen Geschichte in Deutschland ordnen. Daneben scheint es ratsam zu sein, für bestimmte Argumente, etwa solche, die sich auf die außerdeutsche Geschichte beziehen, abstrakte Kategorien wie „Nation“ oder „Partei“ variabel zu wählenden zeitübergreifenden Bereichen zuzuordnen. 2. In quantitativ-empirischer Hinsicht verwirft Oehler wegen grundlegender methodischer Probleme eine exakte quantitative Festlegung. Sie verzichtet bewusst auf eine genaue Auflistung aller Argumente, sondern konzentriert sich auf die strukturelle Zusammenfassung von Argumentationszusammenhängen.25 Eine gänzlich anders gelagerte Untersuchungsperspektive wählt Dieter Langewiesche, der sich in einem Aufsatz anders als Bach und Oehler nicht mit parlamentarischen Debatten, sondern mit Reden von deutschen Bundespräsidenten beschäftigt.26 Dieser Ansatz liegt insofern nahe, als dass gerade das an praktisch-politischer Gestaltungsmacht arme Amt des Bundespräsidenten auf die prägende Kraft der politischen Rede sowie auf die Kunst der politischen Rhetorik im Allgemeinen angewiesen ist. Daher muss jeder Bundespräsident die Klaviatur der Geschichte als politisches Argument gut beherrschen, wenn er an öffentlicher Statur gewinnen und nicht zum bloßen formalen Gesetzesunterzeichner verkommen will. Langewiesche kommt zu der Erkenntnis: „Reden über Geschichte war und ist für sie eine Form des politischen Handelns ohne institutionelle Macht.“ 27 Matthias Rensing greift in seiner 1996 veröffentlichten Dissertation das Untersuchungsanliegen von Langewiesche auf und beschäftigt sich mit dem Ge24 Vgl. Katherina Oehler: Geschichte in der politischen Rhetorik. Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, Hagen 1989. 25 Vgl. ebd., S. 42–46. 26 Vgl. Dieter Langewiesche: Geschichte als politisches Argument. Vergangenheitsbilder als Gegenwartskritik und Zukunftsprognose. Die Reden der deutschen Bundespräsidenten, in: Saeculum 43 (1992) 1, S. 36–53. 27 Vgl. ebd., S. 53.
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schichtsdenken in den Reden der deutschen Bundespräsidenten von Theodor Heuss bis Karl Carstens.28 Die Funktion der Deutung von Geschichte und die Ableitung von möglichst allgemein konsensfähigen Interpretationen daraus gehört nach Rensing „in ihrer gewissermaßen metapolitischen Anlage gewiß zu den unbestrittenen Kompetenzen des Bundespräsidenten“. 29 Über Stellungnahmen zu den Schlüsselbegriffen Nation und Staat, Individuum und Gemeinschaft wird das jeweils eigenständige Geschichtsbild nachgezeichnet. Er problematisiert den Unterschied zwischen einer Untersuchung der Rolle von Geschichte in parlamentarischen Debatten und in Präsidentenreden: In Abgrenzung zu Wolfgang Bach, der den jeweiligen Redeanlass und Redehintergrund bewertend mit einbezieht und daher gezwungen ist, sich auf wenige Debattenbeispiele zu konzentrieren, behandelt Rensing die Reden der Präsidenten als Ensemble von Gedanken und Positionen einer Person. Das historische Argument wird also nicht mit Blick auf seine innere Stimmigkeit und Angemessenheit vor dem Hintergrund einer konkreten Situation bewertet, sondern zur Rekonstruktion des Geschichtsbildes einer politischen Persönlichkeit verwendet.30 Rensing rückt damit einen anderen Untersuchungsgegenstand in den Mittelpunkt als Faber, Bach, Steinbach und Oehler. Er befasst sich mit einem Fragehorizont, der vor allem für die politische Biografik von Bedeutung sein dürfte. Eine explorative Analyse zum Verhältnis von Reformpolitik und geschichtspolitischer Argumentation der ersten Großen Koalition in der Bundesrepublik hat Harald Schmid vorgelegt.31 Er erläutert den instrumentell-argumentativen Rückgriff auf die Geschichte und dessen Verknüpfung mit den leitenden Zukunftsbildern anhand von Kurt Georg Kiesingers erster Regierungserklärung, dem Umgang mit dem 17. Juni, den Notstandsgesetzen und den Diskussionen um die Wahlrechtsreform.32 Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Regierung Kiesinger/Brandt vor allem aus einer defensiven Position heraus geschichtspolitisch argumentierte und daher zumeist den Weg einer Vermeidung und des opportunistischen Umgangs mit Geschichte wählte. In einer Zeit technokratischen und auf planungstheoretische Zukunftsentwürfe gerichteten Denkens kam der Geschichte eine allenfalls sekundäre Rolle zu: „So war Geschichte als Orientierungs- und Begründungselement von Politik für die Große Koalition eher ein Problem als ein lohnenswerter Fundus.“33 Der Vollständigkeit halber weiter zu erwähnen wären noch einige wenige Studien, die sich der Analyse von Parlamentsdebatten oder allgemeinen politi-
28 Matthias Rensing: Geschichte und Politik in den Reden der deutschen Bundespräsidenten 1949–1984, Münster 1996. 29 Ebd., S. 11. 30 Vgl. ebd., S. IX. 31 Vgl. Harald Schmid: Reform und Geschichte. Das Beispiel der ersten Großen Koalition 1966–1969, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 20 (2010) 3–4, S. 291–325. 32 Vgl. ebd., S. 301–317. 33 Ebd., S. 318.
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schen Diskursen zu geschichtspolitisch relevanten Themen widmen.34 Da sie es jedoch größtenteils mit der schlichten Zusammenfassung und Bewertung des Gesagten bewenden lassen, müssen sie an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden. Insgesamt kann festgehalten werden, dass alle vorgestellten Ansätze niemals über den Status eines wenig beachteten Randzweiges der Forschung hinausgekommen sind, weswegen die Bezeichnung als ‚Stiefkind‘ der neueren geschichtspolitischen Forschung gerechtfertigt erscheint. Es mangelt sowohl an konkreten Untersuchungen als auch an theoretischen Ausarbeitungen.
„Geschichte als Argument“ – ein neuer Ansatz Der Sinn und Nutzen einer methodisch sorgfältigen Analyse historischer Argumentationsmuster für die Politikwissenschaft lässt sich in zwei zentralen Forschungszielen bündeln: Erstens geht es um die Erforschung von Prämissen, Verfahren und Wirkungsmechanismen der Instrumentalisierung von historischen Ereignissen und Sinnzusammenhängen. Auf diese Weise lassen sich die Logik und die Funktionsweise dieser Mechanismen entschlüsseln. Zweitens geht es um die kritische Prüfung der Zulänglichkeit unterschiedlicher historischer Argumentationen. Der seriöse Forscher darf dabei der Bewertung nicht ausweichen. Dergleichen Analysen sind nämlich zugleich einem demokratiepolitischen Bekenntnis verpflichtet. Alle modernen Massenideologien haben sich um die Verordnung staatlich festgelegter Geschichtsbilder bemüht. Es ist auch und gerade eine politikwissenschaftliche Aufgabe, dogmatische Geschichtsdeutungen aufzudecken und die Geschichtspolitik offen zu halten.35 Die beiden Forschungsziele lassen sich in ein zweistufiges Verfahren für wissenschaftliche Untersuchungen zur Geschichte als Argument überführen: 1. Zur Entschlüsselung von Logik und Funktionsweise historischer Argumente seien auf einer prinzipiellen Ebene konkrete inhaltliche Argumente von formalen Argumentationsstrategien unterschieden. Konkrete inhaltliche Argumente, wie zum Beispiel Fischers oben zitiertes „Nie wieder Krieg, nie wieder 34 Stefan Weinfurter, Frank-Martin Siefarth (Hrsg.): Geschichte als Argument. Berichtsband, 41. Deutscher Historikertag, München 1997; Helmut Altrichter (Hrsg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel und Südosteuropas, München 2006; Christian Weiß: Eine Leitwissenschaft für Europa? Historische Argumente in den deutschen Diskussionen zum EU-Beitritt der Türkei 2002–2006, in: Christoph Kühberger, Clemens Sedmak (Hrsg.): Europäische Geschichtskultur, europäische Geschichtspolitik. Vom Erfinden, Entdecken, Erarbeiten der Bedeutung von Erinnerung und Geschichte für das Verständnis und Selbstverständnis Europas, Innsbruck 2009, S. 186–201; Martin Wieczorek: „Revolutionszeiten brauchen leitende Weltanschauungsgedanken“. Geschichtspolitische Argumentationen in der Weimarer Nationalversammlung, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 3 (2012), S. 113–130. 35 Vgl. Günther Sandner: Hegemonie und Erinnerung: Zur Konzeption von Geschichts- und Vergangenheitspolitik, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 30 (2001) 1, S. 5–17, hier S. 15.
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Auschwitz“, müssen je nach untersuchtem Fallbeispiel in den konkreten Kontext eingeordnet und einer konsistenzkritischen Prüfung unterzogen werden, die sowohl präzise historiografische Kenntnisse als auch politikwissenschaftliche Expertise voraussetzt. Zur Kategorisierung historischer Argumentationsmuster im politischen Diskurs wird folgende Typologie vorgeschlagen: Anknüpfend an die oben genannte, von Calließ aufgestellte Typologie lassen sich zwei Modi des Zugriffs auf die Geschichte im politischen Kontext unterscheiden: – erstens der Rekurs auf ein historisches Einzelbeispiel – zweitens die Bezugnahme auf einen historischen Sinnzusammenhang. Die von Calließ weiterhin genannten Varianten der historischen Analogiebildung sowie der Darstellung von langfristigen Trends und Entwicklungen, die das Zustandekommen eines Ist-Zustands in der Jetzt-Zeit erklären, sind letzten Endes als Varianten des Zugriffs auf einen historischen Sinnzusammenhang auf einer untergeordneten Ebene zu betrachten, die ebenso im Zusammenhang mit historischen Einzelbeispielen Anwendung finden können. Darum bietet es sich an, eine zweite typologisierende Ebene einzuführen. Neben den beiden grundlegenden Modi des Zugriffs auf Geschichte im politischen Argumentieren gibt es drei Spielarten des historischen Arguments: a) die Variante der historischen Überhöhung: Sie setzt ganz darauf, Mehrheiten für ein politisches Vorhaben zu organisieren und unentschlossene oder opponierende Bürger für die eigene Sache zu gewinnen. Dazu bedienen sich Politiker zumeist einer gehörigen Portion Pathos. So interpretierte Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Rede vor dem EU-Gipfel von Helsinki 1999 die Erweiterung der Europäischen Union um die osteuropäischen Staaten als Vollendung des Mauerfalls, der als Symbol für das Ende des Kalten Krieges stehe, dessen letzte Relikte man nun endgültig zu beseitigen habe.36 Zwei Wochen später fand die letzte Sitzung des Deutschen Bundestages im 20. Jahrhundert statt. Die Debatte war atmosphärisch sehr stark emotional aufgeladen und nahezu alle Redner fühlten sich bemüßigt, von „großen Linien“ und „historischen Dimensionen“ zu sprechen.37 Gleich zu Beginn seiner Regierungserklärung an diesem Tag ließ Kanzler Schröder verlauten, Helsinki habe Ergebnisse gebracht, die man in der Rückschau sicher einmal als historisch bezeichnen werde.38 Den so genannten „Geist von Helsinki“, wie er sich in der KSZE-Schlussakte manifestiert habe, wählte er als Anknüpfungspunkt, um sich selbst in 36 Vgl. Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht zur 77. Sitzung des 14. Deutschen Bundestages vom 3. Dezember 1999, S. 7059–7120, 7061f. 37 Dies gilt im Einzelnen etwa für Gerhard Schröder, Wolfgang Schäuble, Peter Struck, Ulrich Irmer und Joschka Fischer. Vgl. im Einzelnen dazu Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht zur 79. Sitzung des 14. Deutschen Bundestages vom 16. Dezember 1999, S. 7211– 7357, 7212, 7216, 7219, 7222, 7224. 38 Vgl. ebd., S. 7213.
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die historische Traditionslinie von Willy Brandt und Helmut Schmidt über die friedliche Revolution von 1989 einzuordnen. Er selbst betrachtete sich als Vollender dieser Linie.39 Historische Überhöhungsstrategien haben jedoch ihre Grenzen. Sie bieten mitunter ein nicht geringes ‚Aufblähungspotenzial‘. Das Adjektiv ‚historisch‘ – mittlerweile im öffentlichen Diskurs durch inflationären Gebrauch fast schon wieder ‚verbrannt‘ – wird sehr oft und sehr gern einer politischen Entscheidung oder Weichenstellung semantisch vorangestellt. Dabei begibt sich der Kommentator stets in die Gefahr, schnell als unglaubwürdiger Übertreiber oder Panikmacher abgestempelt zu werden, wenn der Bogen überspannt wird. Die Überfrachtung mit dem Historischen kann so den Blick für nüchterne politische Sachfragen verstellen. b) die Variante der historischen Analogisierung: Bereits in der Wissenschaft ist der historische Vergleich ein äußerst anspruchsvolles und ein mit hohen methodischen Anforderungen verbundenes Verfahren.40 In der emotional aufgeladenen politischen Debatte werden historische Vergleiche zumeist holzschnittartig verwendet. Ein Beispiel ist die Empfehlung des SPD-Bundestagsabgeordneten Markus Meckel, den Zypernkonflikt zwischen Griechenland und der Türkei analog zum historischen Beispiel der Integration der ehemaligen DDR-Bürger in die EU zu lösen: „Auch die alte Bundesrepublik konnte (…) Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden, ohne daß die Einbeziehung des Ostens Deutschlands, der nicht dazugehören konnte (…) zur Bedingung gemacht wurde. Im Zuge der Vereinigung war es dann möglich, ohne Verhandlungen auch diesen Teil Deutschlands in die Europäische Union einzugliedern. Bei den Verhandlungen mit Zypern sollte ähnlich verfahren werden.“41
Meckel formulierte einen Vorschlag, wie man ein politisches Problem durch die Orientierung an einem historischen Exempel lösen könnte. Nach der Typologie von Wolfgang Bach handelt es sich hierbei um den Subtypus „Geschichte als das Wiederholenswerte“, der der Oberkategorie „Geschichte als Prozess“ zugeordnet wird.42 Dergleichen historische Quervergleiche hinken jedoch oftmals, da jede geschichtliche Konstellation zunächst einmal von spezifischen Rahmenbedingungen abhängig ist, die sich nur selten auf eine andere Situation übertragen lassen. Daher stößt auch der historische Vergleich als politisches Argument an enge Grenzen, sodass es nur sehr wenige Fälle gibt, in denen man von einer gelungenen und aussagekräftigen Analogisierung sprechen kann. Wenn die Konstruktion historischer Analogien bemüht wird, so sollte sie zumindest mit der gebotenen Vorsicht angewendet werden und keine universalhistorischen Aussagen treffen oder gar Prozesse voraussagen wol39 Vgl. ebd., S. 7212f. 40 Vgl. hierzu ausführlich Manuel Becker: Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland. Zu den weltanschaulichen Grundlagen im „Dritten Reich“ und in der DDR, Bonn 2009, S. 28–33. 41 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 14/77, S. 7091. 42 Vgl. Bach: Geschichte als politisches Argument, 1977, S. 67–96.
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len. Sonst macht sich der Argumentierende auf der Sachebene sehr leicht angreifbar, mögen die Argumente auch stilistisch und semantisch noch so schön formuliert sein. c) die Variante des Argumentierens mit Autoritäten: Vom Argumentieren mit Autoritäten kann man sprechen, wenn Historiker und Intellektuelle gleichsam als Kronzeugen zur Untermauerung der eigenen Meinung in den Zeugenstand gerufen werden. Die Bezugnahme auf Koryphäen bietet sich für Politiker vor allem deswegen an, weil sie so ihrer Position eine gewissermaßen parteipolitisch ungebundene und sachfundierte Integrität verleihen können. Nun treten zwar Historiker oder auch Politikwissenschaftler nicht immer als unpolitische Sachkundige auf, aber die akademische Autorität genießt im öffentlichen Diskurs einen so hohen Stellenwert, dass dergleichen Techniken sich als äußerst wirksam erweisen. Der Sozialtypus des Geschichtsprofessors genießt in Deutschland bereits seit dem Kaiserreich eine hohe gesellschaftliche Anerkennung. Dieses Element scheint sich in der politischen Kultur trotz aller sonstigen Brüche bis heute erhalten zu haben. In den parlamentarischen Debatten zum Beitritt der Türkei zur EU beispielweise bezog sich Gerhard Schröder in seinem Werben für den Beitritt in einer Regierungserklärung auf den französischen Intellektuellen und Kulturphilosophen Bernard Henri-Lévy,43 während Oppositionsführerin Angela Merkel den Historiker Heinrich August Winkler, seit den 1960er-Jahren bekennendes SPD-Mitglied, zur Fundierung ihrer Beitrittsskepsis argumentativ ins Feld führte.44 Was die sachliche Angemessenheit des Argumentierens mit Autoritäten angeht, so sind auch dieser Variante enge Grenzen gesetzt. Einerseits wird man von Politikern aufgrund ihrer regulären Arbeitsbelastung kaum erwarten können, dass sie sich wirklich ausführlich mit dem Forschungsstand in einzelnen akademischen Disziplinen auskennen. Insofern ist die verkürzte Wiedergabe wissenschaftlicher Positionen bereits vorprogrammiert. Andererseits greift zugleich dasjenige, was in anderem Zusammenhang „Expertendilemma“45 genannt wird. Alle opponierenden Seiten eines politischen Streits werden einen tatsächlichen oder selbst ernannten „Experten“ finden, der mehr oder weniger sachlich ihre Position als wissenschaftlich gehaltvoll bestätigen wird. Daher scheint auch das Argumentieren mit Autoritäten letzten Endes ein machtpolitisches Instrument zu sein, das die Debatte inhaltlich nur bedingt weiterzubringen vermag. Die hier vorgestellte Typologie kann nicht mehr sein als ein Vorschlag zur Vorstrukturierung argumentationstheoretischer Analysen, die
43 Vgl. Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht zur 16. Sitzung des 15. Deutschen Bundestages vom 19. Dezember 2002, S. 1181–1311, 1184. 44 Vgl. ebd., S. 1189. 45 Vgl. Hans-Ulrich Nannen, Detlef Garbe (Hrsg.): Das Expertendilemma. Zur Rolle wissenschaftlicher Gutachter in der öffentlichen Meinungsbildung, Wiesbaden 1996.
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sich auf die Geschichte beziehen. Sie müsste durch weitere empirische Forschungen fundiert und gegebenenfalls noch ergänzt werden. 2. Dem Schritt der Entschlüsselung formaler Argumentationsstrategien muss die kritische Prüfung derselben folgen. Es kann nicht genügen, wie in den Studien von Oehler und Bach auf die Festlegung normativer Spielregeln für den Gebrauch des historischen Arguments zu verzichten, sondern es müssen in Anknüpfung an Kocka zumindest weiche Angemessenheitskriterien zur Beurteilung des Einsatzes historischer Argumente entwickelt werden. Kockas oben erwähnte Kriterienkataloge sind in erster Linie mit Blick auf die Geschichtswissenschaft und die Rolle des Historikers konzipiert. Zu leisten bleibt die Erarbeitung von Angemessenheitskriterien für den Umgang des Politikers mit historischen Argumenten: a) Grundsätzlich gilt es zunächst einmal anzuerkennen, dass der Politiker in einer pluralistischen Demokratie darauf angewiesen ist, durch Argumente seinen Standpunkt zu fundieren und dass er dabei selbstverständlich auch auf die Historie zurückgreifen darf. Dies sollte allerdings nicht zu einer Vereinseitigung des Blickwinkels führen. Wenn beispielsweise Joschka Fischer sein oben erläutertes „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz“ als einziges taugliches Argument zur Rechtfertigung des KosovoEinsatzes in Anschlag bringt, so geht der Blick für die Befindlichkeiten und Handlungsnotwendigkeiten der Gegenwart verloren. Ein Politiker sollte ein politisches Vorhaben niemals ausschließlich mit historischen Argumentationsmustern rechtfertigen, sondern diese jeweils mit und gegen Sachargumente aus der Gegenwart abwägen (Kriterium der Abwägung zwischen Geschichte und Gegenwart). b) Weiterhin darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die Bezugnahme auf geschichtliche Fakten immer einen großen Spielraum der historischen Interpretation zulässt. So ist es beispielsweise ein geschichtliches Faktum, dass die Partei DIE LINKE in einer historischen Kontinuität zur SED in der untergegangenen DDR steht. Welche Interpretation daraus jedoch als Wegweiser für den politischen Umgang mit dieser Partei heute folgt, ist umstritten und darf nicht eindimensional geschlussfolgert werden. Mit anderen Worten: Politisches Handeln vor dem Hintergrund historischer Fakten zu reflektieren ist ausgesprochen sinnvoll, bei der Formulierung einer historischen Interpretation gilt es jedoch ausgesprochen vorsichtig zu sein (Kriterium der Behutsamkeit bei Interpretationen). c) Jeder verantwortliche Politiker steht in einer liberalen Demokratie im Spannungsfeld zwischen der Vertretung von Partikularinteressen und dem Dienst am Gemeinwohl. Insofern ist es mit Blick auf geschichtspolitische Vorhaben auch legitim, sich für die Interessen einer bestimmten gesellschaftlichen Klientel einzusetzen. Gleichzeitig darf aber auch die Sensibilität für dem Vorhaben entgegenstehende Interessen nicht verloren gehen. Um dies ebenfalls an einem Beispiel zu konkretisieren: Die Interessens-
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vertreter der Vertriebenenverbände forderten um die Jahrtausendwende völlig zu Recht eine angemessene geschichtspolitische Infrastruktur zum Gedenken an ihr kollektives Schicksal.46 Dass das anvisierte „Zentrum gegen Vertreibungen“ allerdings aus außenpolitischen Gründen nicht unilateral ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten von Polen und Tschechien durchsetzbar war, ist dabei gelegentlich aus dem Blick geraten. Insofern müssen historisch legitimierte politische Projekte immer die Gesamtheit der politischen Interessen mit berücksichtigen (Kriterium der Multiperspektivität auf Interessen).
Fazit Das Schlagwort „Geschichte als Argument“ verweist auf eine spezifische Form von Geschichtspolitik, die auf der rhetorischen Ebene angesiedelt ist und sich deshalb plausibel von der Ebene des politischen Handelns abgrenzen lässt. Historische Argumente in politischen Debatten gehören zum liberaldemokratischen Diskurs und verweisen auf kein prinzipiell undemokratisches politisches Agieren. Sie sind vielmehr ein in einer liberalen Demokratie existierendes und legitimes Mittel, mit dem eine faire politische Auseinandersetzung zumindest prinzipiell möglich ist. Es wäre naiv, auf so etwas wie die Verbannung historischer Argumente aus dem politischen Diskurs zu drängen. Der strategische Einsatz historischer Legitimation stellt eine überzeitliche anthropologische Konstante menschlicher Kulturtätigkeit seit der Vor- und Frühgeschichte dar.47 Historische Argumente sollten nicht nur wegen dieser faktischen Gegebenheit akzeptiert werden, sondern ihnen lässt sich ein normativer Eigenwert als Teil eines wohlverstandenen modernen pluralistischen und deliberativen Gemeinwesens abgewinnen. Damit historische Argumente diese demokratische Funktion erfüllen können, müssen sie argumentativ überprüfbar sein. Die Politikwissenschaft ist in diesem Kontext gefordert, ein handhabbares methodisches Instrumentarium zu entwickeln. Durch das Zugrundelegen der oben genannten drei formalen Argumentationsstrategien „historische Überhöhung“, „historische Analogisierung“ und „Argumentieren mit Autoritäten“ können sowohl politische Diskurse dechiffriert als auch die Logik und Funktionsweise historischer Argumente freigelegt werden. Mit Hilfe der Merkmale der Abwägung, der Behutsamkeit und der Multiperspektivität steht zumindest ein weiches Analyseraster zur Verfügung, mit Hilfe dessen die Angemessenheit historischer Argumente im politischen Diskurs politologisch überprüft und nicht angemessene Argumente methodisch nachvollziehbar entschlüsselt werden können.
46 Vgl. ausführlich zu dieser Kontroverse Becker: Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“, 2013, S. 399–492. 47 Vgl. ebd., S. 60–66.
AKTUELLES FORUM
KEIN ABGESANG! HISTORISCHE GRUNDLAGEN DER POLITIK. ABSCHIEDSVORLESUNG, GEHALTEN AN DER UNIVERSITÄT MANNHEIM AM 18. SEPTEMBER 2013 Peter Steinbach
Macht Geschichte Politik, oder ist es gerade umgekehrt? Vielleicht ergeht es manchen wie mir zu Schulzeiten, als Gottfried Kellers Novelle von den Kleidern, die angeblich Leute machen, behandelt wurde. Ich hatte – im Englischunterricht auf S-P-O getrimmt, wohlgemerkt: nicht SPD, sondern S-P-O wie Subjekt, Prädikat, Objekt – meine Schwierigkeiten, in diesem Novellentitel Subjekt und Objekt auseinanderzuhalten. In der Tat: Das Subjekt kann oft auch Objekt sein. Warum erzähle ich das? Weil dies auch für das Verhältnis von Politik und Geschichte gilt. Gewiss entsteht ‚Geschichte‘ durch politische Entscheidungen. Aber eigentlich kann die Geschichte nicht das Subjekt der Politik sein – die Zeiten sind vorbei, als man dachte, Geschichte selbst sei Akteur, sie sei geradezu Subjekt des Geschehens, hätte einen Willen und ein Ziel, griffe ein, eröffne Chancen, handele, husche vorüber, so, dass Politiker wie Bismarck nur noch den Zipfel des Mantels der Geschichte ergreifen müssten.
Streitbare Geschichte – umstrittene Geschichte Spätestens seit dem Essay des – auch – Geschichtstheoretikers Karl Marx über den 18. Brumaire wissen wir: Die Menschen machen ihre Geschichte selber. Damit sind die Probleme nicht gelöst: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Es gibt historische Vorprägungen, Zwänge, Interessen, Nachwirkungen zurückliegender Entscheidungen und Entwicklungen, der Geschichte eben, die Pfade bestimmen, Erfahrungen spiegeln, Einstellungen, Mentalitäten, Emotionen prägen – Legacies, sagt der Politologe – und auf diese Weise weitere Entwicklungen beeinflussen, Handlungsspielräume einengen, Vorstellungen und Wertmuster formieren. An Sonderwege glauben wir nicht mehr, wir sprechen eher von Pfadabhängigkeiten. Wie aber lassen sich Pfade bestimmen oder Wahrnehmungs-Stereotype, die Menschen prägen und ihre Perzeption der Welt, in der sie leben und handeln, ohne Kenntnisse der Genese von Stereotypen oder konstruierten Pfaden, kritisch
Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 191–203
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deuten? Denn Wahrnehmungen der Vergangenheit sind oftmals die Folge von historischen Sinn-Konstruktionen, die im Zusammenhang kritischer Analyse erklärt und nicht selten sogar in ihrer angeblichen Eindeutigkeit und Schlüssigkeit dekonstruiert, aufgelöst und verflüchtigt werden können. Es geht also nicht um die klassische leninistische Frage „Wer wen?“, sondern um die Analyse von Vorprägungen, die Historiker nicht selten ausblenden oder aber wie eine Glaubensfrage behandeln, bei der um ‚letzte Dinge‘ gestritten wird. Um letzte Dinge geht es in der Geschichtswissenschaft schon längst nicht mehr. Viele Schlachten sind geschlagen, über Politikgeschichte, Sozialgeschichte, Gesellschaftsgeschichte haben vor vierzig Jahren Historiker heftig gestritten. Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand standen auf der einen, Hans-Ulrich Wehler auf der anderen Seite im Streit um die Politikgeschichte. Dabei ging es um die Bedeutung von Strukturen, aber auch um Erzählweisen. Dann ging es um die Alltags- und die Mentalitätsgeschichte. Gestritten wurde über Michel Foucault und die Diskursanalyse, um Analogien, Parallelen und Deutungen. Gestritten haben Historiker immer: Sybel-Ficker-Streit, Lamprecht-Streit, die Auseinandersetzung um die Schuldfrage, um die Erklärung des Nationalsozialismus als angeblicher Betriebsunfall, um die Fischer-Kontroverse, im Historikerstreit und in der Goldhagen-Kontroverse, um Totalitarismus, DDR-Geschichte, Stalin-Note – Clio war immer streitbar. Historische Kontroversen hatten zugleich einen großen Unterhaltungswert, den Publizisten wie Guido Knopp ausnutzten. Und ich hatte manchmal das Gefühl, beschädigt würde die Geschichtswissenschaft selbst, auch wenn sich Fachhistoriker in jeder dieser Auseinandersetzungen letztlich über den Quellen geeinigt haben. In Mannheim haben wir den Respekt vor der methodischen Vielfalt sogar in unsere Studienangebote integriert, weil wir uns bewusst für moderne Fragestellungen öffneten und zeitgemäße Berufsbilder der Historiker als Herausforderung annahmen. Bewusst haben wir Fragestellungen der Soziologie, der Kommunikationswissenschaft, der Politologie aufgenommen und methodisch inter- und intradisziplinär gearbeitet.
Geschichte und Sozialwissenschaften Nicht zu übersehen ist eine merkwürdige doppelte Tendenz der Geschichtswissenschaft: Die historischen Disziplinen haben sich gegenüber sozialwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden geöffnet – parallel dazu haben sich die Sozialwissenschaften von der historischen Perspektive gelöst. Sozialwissenschaftler erfahren heute nicht mehr, wie Historiker vorgehen, Historiker hingegen imitieren sozialwissenschaftliche Interpretationsmuster, ohne sich mit sozialwissenschaftlichen Arbeitsmethoden auseinanderzusetzen. Ich halte diese doppelte Abwendung für ebenso problematisch wie eine nur aufgesetzte Hinwendung, etwa, wenn Historiker sozialwissenschaftliche Interpretamente übernehmen. Das beste Beispiel bietet der Anspruch, eine Diskursanalyse vorzulegen, aber lediglich Argumente, Kontroversen zu diskutieren.
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Vielleicht lassen sich Geschichts- und Sozialwissenschaften doch viel systematischer aufeinander beziehen, als es augenblicklich der Fall ist, und ich nutze diese Abschiedsvorlesung gerne, um mich zu dieser Verschränkung zu bekennen. Nicht, weil nach vierzig Jahren ein nostalgischer Blick zurück angebracht wäre, sondern weil ich der Ansicht bin, dass Sozialwissenschaften und Geschichtswissenschaft zwar einerseits durch spezifische Methoden charakterisiert werden können, andererseits ihre Kombination bei der Gegenwartsanalyse vor allem eine große Erklärungskraft aufweist, wenn sich historische und sozialwissenschaftliche Methoden und Fragestellungen überlagern, wenn es also nicht nur um Meinungen oder gar die Auflösungen der Wirklichkeit in Meinungen geht, wie in Talkshows, sondern um Erklärungen, Begründungen, überzeugende Nachvollziehbarkeit von Positionen. Glücklicherweise hat sich die Geschichtswissenschaft in den vergangenen fünfzig Jahren erheblich erweitert, wie Werner Conze einmal sagte. Die Prinzipien des Historismus galten seit dem Lamprecht-Streit nicht mehr uneingeschränkt und schon gar nicht unbestritten. Seitdem vergleichen wir Strukturen, Entwicklungen, Konstellationen. Unmittelbar zu Gott, singulär war Geschichte auch für Otto Hintze nicht, der vergleichende Fragestellungen entwickelte und sich von Max Weber anregen ließ. Die Öffnung für systematische sozialwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden ist der Geschichtswissenschaft so gut bekommen, dass sie die Proklamation ihres Endes in den späten sechziger Jahren – Habermas hielt Theologie für wichtiger als Geschichte! − bisher sehr gut überlebt hat. Heute sprechen selbst konservativ gesonnene Historiker von neuer Politikgeschichte und sogar von „historischer Politikforschung“ und machen deutlich, dass sie historisch-sozialwissenschaftliche Fragestellungen ernst nehmen und aufgreifen. Überraschend ist angesichts dieser Öffnung allerdings, wie sehr sich die Politikwissenschaft – zumindest in Deutschland – in den vergangenen zwanzig Jahren von historischen Fragestellungen entfernt hat. Ideengeschichte, Theoriegeschichte und die historischen Grundlagen der Politik als Teilbereiche der Politikwissenschaft sind nicht nur an den Rand des Interesses gerückt, vielfach wurden entsprechende Lehrstühle umgewidmet oder ganz abgeschafft. Ich halte das für bedenklich und bedauerlich, denn wenn moderne Politik wesentlich geprägt ist durch die Notwendigkeit, immer auch Politikfolgen zu bewältigen, dann arbeitet sie sich an Entscheidungen der Vergangenheit ab. Wie aber soll das ohne Kenntnis dieser Vergangenheit gehen, ohne Kenntnis von Entscheidungen, Absichten, Rahmenbedingungen, also ohne einen historischen Blick, ohne Beachtung politischer Kultur, von Perzeptionsmustern, von Optionen, die immer auch kulturelle und historische Prägungen spiegeln? Vergangene Entscheidungen werden zudem immer gedeutet, kritisch oder affirmativ, sie werden im Streit um Deutungen zum Gegenstand eines neuen Politikfeldes, der Geschichts-, der Erinnerungs- und der Gedenkpolitik. Geschichtspolitik als neues Politikfeld steht dann neben anderen Politikfeldern, der Sozial-, der Wirtschafts-, der Bildungspolitik. Entscheidungen müssen dann in ihren Verläufen analysiert werden.
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Symbolische Überhöhungen, Emotionalisierungen, retrospektive Deutungen verlangen dieselbe kritische Analyse.
Politikwissenschaft und Zeitgeschichte Als die Politikwissenschaft sich nach 1945/1950 als neue Disziplin an den Universitäten etablierte, war sie wesentlich durch den Willen und den Auftrag legitimiert, die Nachwirkungen unmittelbar vergangener verfehlter Geschichte, der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) bewusst zu machen. Die frühe Politologie der fünfziger Jahre war vor allem eine zeithistorische Disziplin, der es allerdings weniger um die Rekonstruktion von Ereignissen als vielmehr um die Reflexion von zeitgeschichtlichen Erfahrungen und ihre Auswirkungen für das politische Bewusstsein ging. Zeithistoriker, von denen es in den fünfziger Jahren eigentlich nur sehr wenige gab, weil sich diese Bindestrich-Disziplin unter dem Dach der Geschichtswissenschaft noch nicht etabliert hatte, suchten die Nähe zur Politikwissenschaft, die sich als Ordnungs- und Orientierungs-, als Demokratiewissenschaft verstand, sich dabei – wie Wilhelm Hennis, Ludwig Bergsträsser oder Eric Voegelin − auf Aristoteles berief, der die „Politikologie“ zur „Königswissenschaft“ erklärt habe. Das Tagesgeschäft der Forschung war aber durch zeitgeschichtliche Dimensionen bestimmt. Es galt zunächst, Lehrer für ein neues Fach, die Sozialkunde, auszubilden – ohne gründliche historische Kenntnisse schien das nicht möglich zu sein. So entstanden Walther Hofers Quellensammlung über den Nationalsozialismus, Kurt Sontheimers Studie über das Antidemokratische Denken oder Waldemar Bessons profunde Studie über Württemberg in der deutschen Staatskrise oder Hofers Darstellung der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. In der Frühgeschichte des Faches waren die Nachwirkungen der NS-Zeit unübersehbar. Eugen Kogon, Darmstädter Politologe, hatte das Buch Der SS-Staat geschrieben, Theodor Eschenburg Stresemann behandelt, Dolf Sternberger sich mit Gerhard Storz und W. E. Süskind an dem Wörterbuch des Unmenschen versucht. Wolfgang Abendroth hatte die Frühgeschichte der Bundesrepublik und die Geschichte der Arbeiterbewegung zum Thema gemacht und systematische historische Wahlforschung und eine Reihe von Untersuchungen über die sozialistischen Brückenparteien angeregt, Ernst Fraenkel Strukturdefekte der Demokratie historisch aufgeklärt. Karl Dietrich Bracher hatte die Auflösung der Weimarer Republik in einer bis heute gültigen Weise analysiert und der Mannheimer Erich Matthias Nation und Sozialdemokratie zum Gegenstand einer breit angelegten Untersuchung gemacht. Damals kamen auch Soziologen nicht ohne historische Rückkopplungen aus. Einer von ihnen, der von mir stets ganz besonders verehrte Mannheimer Soziologe Mario Rainer Lepsius, wurde zum vielleicht wichtigsten Gesprächspartner und Herausforderer der neueren Geschichtswissenschaft, die sich mit Werner Conze in ihre sozial- und begriffsgeschichtliche „Erweiterung“ begeben hatte und erforschte, wie sich Vorstellungswelten wandelten und begrifflich zeitspezifisch – begriffsgeschichtlich sagte man – fassen ließen.
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Geschichte – keine exakte Wissenschaft Es sind bedeutende Namen aus dem Fach, die ich hier als Zeugen aufrufe. Aber ich weiß: Die Beschwörung der Vergangenheit legitimiert nicht. Machen wir es also weniger dramatisch, viel harmloser: Gegenstand der Geschichte, so liest man, ist der Wandel im Zeitverlauf. Was genau als gewandelt untersucht wird, – ob Politik, Umwelt, Alltag, Sprache, Kultur, Schichtung, Werte, Mentalitäten – das alles hängt von den Interessen des Forschers, von seiner Schulung und seiner disziplinären Orientierung ab. In der Vielzahl der Fragestellungen hat sich allerdings die altbekannte angebliche Einheit des Faches ‚Geschichte‘ ebenso wie der Gegenstand ‚Politik‘ weitgehend aufgelöst. Das bedauern manche, die in Staaten Akteure sahen, das entlastet alle, die Gesellschaften, Individuen, Kulturen, Religionen und Mentalitäten erforschen wollten. Übersehen wir nicht: Die Vielfalt an Perspektiven und Untersuchungsfeldern beschert der Geschichtswissenschaft eine gewisse thematische Beliebigkeit. Sie erscheint nicht selten geradezu als methodisch entgrenzt. Vertreter einer strengen Wissenschaft unterstellen den Historikern dann gerne Subjektivität und methodologische Leichtfertigkeit, die natürlich, zumal in Mannheim, den Zugang der hiesigen und methodisch so streng-selbstbewussten Sozialwissenschaftler zur Geschichte erschwert. Für den Historiker, um mit Tucholsky zu reden, ist das Leben nicht immer, wie für viele mathematisch orientierte Sozialstatistiker, ein Quadrat. Es kann auch ein Kreis sein, bei dem immer ein kleiner Rest, etwas, das niemals ganz exakt und endgültig aufgeht, bleibt. Tucholsky spricht deshalb von der Zahl „Pi“ als einer Metapher des Lebens. Die Zahl 3,14 Periode entzieht sich der Messbarkeit, den Quadratzentimetern. Insofern ist der Geschichtsunterricht ein wichtiges Pendant zu der Wissenschaft, „in der am klarsten zwischen richtig und falsch unterschieden wird“ (Sebastian Krass), der Mathematik. Ich denke, nicht nur die Freude am Pi trennt den Historiker von empirisch orientierten Wissenschaftlern, sondern der Wunsch, nicht nur zu erklären, was ist, sondern auch darüber zu reflektieren und zu spekulieren, warum es so geworden ist. Gewiss: Wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt, begibt sich immer auf ungefestigtes Gelände. Das macht ihren Reiz aus, diese Unsicherheit, eben das historische Pi. Zufälle haben immer wieder Ereignisse mehr prägen können als bewusstes Kalkül der Handelnden. Die Folgen dieser Zufälle prägten die anschließende Politikfolgenbewältigung. Vielleicht war aus dieser diffusen Erfahrung und Befürchtung heraus der Wunsch immer sehr stark, aus der Geschichte lernen zu können. Er war stets vorhanden, wenn sich Menschen mit der Vergangenheit beschäftigten. Geschichte sei das Laboratorium des Sozialwissenschaftlers, sagte man früher salopp. Aber dieses Laboratorium ist zunehmend verwaist. Historische Blauäugigkeit und Ratlosigkeit der politischen Führungsschicht und der Sozialwissenschaftler ist derzeit nicht zu übersehen, wenn es um Geschichte, um Analogien und Vergleiche geht. Beispiele: „Spätrömische Dekadenz“ oder „Abtreibung ist Völkermord!“ Oder: Das Parteiprogramm der Grünen sei eine nachträgliche For-
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mulierung des Morgenthau-Planes. Die Schließung eines Orchesters kann, wie im SWR-Land geschehen, von einem großen Dirigenten sogar mit Hitlers Ausrottungspolitik verglichen werden. Dies ist nicht nur Ausdruck politisch-polemischer Verhärtung, sondern vermutlich auch der historischen Beliebigkeit, die in Talkshows oder auch in HistoryChannels gepflegt wird. Hinzu kommt, dass viele der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Veränderungen als kaum mehr beeinflussbar erscheinen. Vorausgesehen wurde in der Tat in den vergangenen Jahrzehnten wenig Grundstürzendes, weder der Zusammenbruch des Ostblocks im Herbst 1989 noch die Konfrontation mit dem religiös motivierten Terrorismus im Herbst 2001 oder gar die sich zur Finanzkrise ausweitende Bankenkrise von 2007/08.
Kritik der Geschichtsdeutungen: Aufklärung und Geschichtswissenschaft Hier wird deutlich: Politik macht nicht immer Geschichte. Geschichtsdeutungen spiegeln Wahrnehmungen, Empfindungen, Interessen und beeinflussen Politik. Aber sie wird eben aus den Tagesgeschäften heraus gedeutet, Politiker versuchen, mit historischen Argumenten zu überzeugen und sind dennoch ratlos. Wer der Ideologie nicht entspricht, wird ausgeschaltet. Die Süddeutsche Zeitung erinnerte am 17. September 2013 an die Ermordung des Konjunkturforschers Nikolai Kondratieff, der die langen Entwicklungen erforschte, den Kapitalismus für überlebensfähig hielt, obwohl er im stalinistischen Russland forschte und Stalin so erzürnte, dass er ein Mann des Todes war. „Kommt ein neuer 17. Juni 1953?“, fragte Erich Mielke, als die Menschen in Leipzig im Oktober und November 1989 demonstrierten. Gängige Übung ist es heute, das Jahr 1928 mit dem Jahr 2008 zu vergleichen. Merkwürdig und unverständlich ist, weshalb die vergangenen Krisenjahre nicht zu einer Annäherung von Geschichts- und Sozialwissenschaft geführt haben. Der Historiker ist vergleichsweise gut aus den Turbulenzen seit 1989 herausgekommen. Die Proklamation des Endes der Geschichte wurde auf dem Balkan widerlegt. Der Clash der Kulturen war eine Eintagsthese, denn sie führte zur Verhärtung der Positionen, zur Verängstigung, zur Lähmung. Konsequenzen werden in der amerikanischen Politikwissenschaft seit Jahren gezogen, denn dort werden politik-genetische Untersuchungen immer wichtiger. Nur wer weiß, wie Denkvorstellungen entstanden sind, wie sie sich erklären, kann auch darauf reagieren, kann Stereotype und gedeutete historische Pfade und Konflikte verstehen – und entschärfen. Der Historiker beansprucht keine prognostische Kompetenz, denn ihn treibt eigentlich ein Ziel an: zu verstehen, besser zu verstehen. Dieses Ziel unterscheidet ihn vom Planungswissenschaftler, vom Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler. Deren Erklärungsnot 1989 und 2001 und noch einmal 2008 machte schlagartig klar: Auch bei diesen gegenwartsorientierten Disziplinen handelt es sich um historisch orientierte Wissenschaften, denn auch ihre Vertreter konnten nur erklären, was sich ereignet hatte, nachdem es geschehen war.
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Dann kann Geschichte zur politischen Wissenschaft werden, die sich nicht so sehr für das Gewandelte, sondern für das Wandelbare interessiert. Der Begriff des Wandels ist allerdings höchst unbestimmt, ebenso vage, wie viele der Faktoren, die angeblich den sozialen Wandel beeinflussen. Diese Unbestimmtheit kommt dem Historiker entgegen, denn er hat sich stets das Gespür für das NichtEindeutige, für das Vage, das Unsichere gewahrt. Seine Erfahrung erleichtert seine Orientierung auf Multiperspektivität und Pluralität, Vielschichtigkeit, auf das ‚Kann sein, muss aber nicht…‘ und macht ihn in den Augen präziser empirischer Sozialforschung zugleich verdächtig, eigentlich zum historischen Unterhalter, der keineswegs auf zweifelsfreiem Boden steht. Wenn Wissenschaft dadurch bestimmt ist, dass Untersuchungsergebnisse interpersonal überprüfbar sein müssen und den Evidenztest zu bestehen haben, dann hat der Vertreter von Plausibilität in der Tat vergleichsweise schlechte Karten. Aber ist Evidenz im empirisch-sozialwissenschaftlichen Sinne alles? Ein Beispiel für einen problematischen statistischen Zusammenhang: ‚Je kleiner die Füße, desto geringer die Lesefähigkeit!‘ Was bedeutet das Beispiel? Es kommt immer auch auf Kontexte, Zeitpunkte und Rahmenbedingungen an. Diese lassen sich aber niemals so exakt bestimmen, wie eine demoskopische Momentaufnahme, etwa die berühmte ‚Sonntagsfrage‘, nahelegt. Mich reizte an der Geschichte gerade ihre Unbestimmbarkeit. Und wenn Politik ganz entscheidend durch vergangene Entscheidungen determiniert ist, also durch die Geschichte bestimmt, dann meint das anderes als die historische Sonntagsbeschwörung nach dem Motto ‚Herkunft ist Zukunft‘. Politische Gestaltungsräume werden doch entscheidend geprägt durch den ständigen Zwang, Politikfolgen zu beseitigen. Wenn Politik also vor allem, wie Claus Offe in den bewegten frühen siebziger Jahren schrieb, Politikfolgenbewältigung ist, dann gehört der Blick zurück und die präzise Bestimmung von Ausgangskonstellationen in die Ausbildung des Sozialwissenschaftler, ebenso, wie die Statistik, die auch die quantifizierende Geschichtswissenschaft prägt. Kann dann ein politischer Akteur überhaupt ohne Gespür für die Genese von Problemen, ohne die Bereitschaft zum Vergleich oder zur Analogiebildung gegenwärtige politische Herausforderungen, Gefahren und Entscheidungskonstellationen einschätzen? Werden Gestaltungsräume, die Politik ausmachen, nicht stark bestimmt durch politisch-kulturelle Dimensionen, die vor allem in der ‚Internationalen Politik‘ und in der politologischen Perzeptionsanalyse eine so wichtige Rolle spielen? Und wenn der Politiker nicht auf retrospektive Reflexionen verzichten kann, kann sein Berater, der Politikwissenschaftler, auf die politisch-kulturelle und damit historische Dimension verzichten? Oder gilt nicht, dass die Zukunft das Kind der Gegenwart, nicht der Vergangenheit ist? Genügt es heute wirklich, wie ein verkürztes Verständnis der empirischen Politikwissenschaft behauptet, die Gegenwart präzise zu vermessen, demoskopisch zu bestimmen, sie quantitativ zu beschreiben? Hat der bereits erwähnte Kurt Tucholsky vielleicht nicht doch Recht gehabt, als er beklagte, die Gegenwart würde zunehmend beschrieben, aber es würde nicht mehr erklärt, warum etwas sei, wie
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es ist? Reicht es zu wissen, was ist, ohne verstehen oder reflexiv klären zu können, weshalb es so ist?
Aus der Geschichte lernen? Und schließlich die größte aller Fragen, der Selbstläufer des früheren Geschichtsunterrichts: Kann man gar aus der Geschichte lernen? Eine Frage, die Knut Borchardt in seiner grundlegenden Mannheimer Antrittsvorlesung stellte. Historia magistra vitae, wirklich? Und es hilft bis heute eigentlich auch nicht, dass der Historiker Reinhart Koselleck immer neue Anläufe unternahm, um den praktischen und durchaus zuweilen sehr naiven Anspruch dieses Satzes – erlauben Sie mir diesen Begriff – auszuloten. Oder gilt das Diktum des großen Karl Löwith, der meinte: „Wenn uns die Zeitgeschichte irgendetwas lehrt, dann offenbar dies, dass sie nichts ist, woran man sich halten und woran man sein Leben orientieren kann. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte.“ Dies zeigt: Geschichte als der Stoff, aus dem die Diskussionen der Intellektuellen sind, geht in der Erinnerung und in der Politik nicht auf. Dies spüren alle, die bis heute unter den Folgen einer traumatisierten Lebensgeschichte leiden; Verfolgte, Zwangsarbeiter, Vertriebene, Gefolterte, Menschen, deren Angehörige im Krieg oder in den Nachkriegswirren umgekommen sind, leben mit ihrer Geschichte. Ein Blick über die deutschen Grenzen macht deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mehr als eine politisch durchzusetzende Aufgabe der Nachlebenden ist. Etwa nach Polen, wo am Beispiel der Gemeinde Jedwabne über die Beteiligung der Polen an der Verfolgung der Juden gestritten wird, nach Frankreich, wo das Vichy-Regime weiterhin ein Stachel im Fleisch der französischen Gesellschaft ist, oder in die Schweiz, wo es um die Immigrationsbedingungen und die Abweisung von Flüchtlingen vor 1945 geht, oder nach Tschechien, wo man, mehr als die Deutschen wahrnehmen, über die Beneš-Dekrete diskutiert. Überall wurde die Geschichte zu einem Faktor der Politik und zwang die Politiker, die historischen Grundlagen der Gegenwart schärfer in den Blick zu nehmen. Denn die europäische Gesellschaft, die nach dem Umbruch des Jahres 1989 entstand, musste die Voraussetzungen ihrer vergangenen Transformationen als Faktor zukünftiger und erstrebter politischer Veränderungen ernst nehmen. Die deutsche Vereinigung konnte ebenso wie die europäische nur dann gelingen, wenn ihre Wurzeln denen bewusst waren, die aus unterschiedlichen Staaten und Gesellschaften eine neue politische Gemeinsamkeit erwachsen lassen wollten. Besonders deutlich wurde der Preis, der für die mangelhafte Vertrautheit mit den geschichtlichen Grundlagen zu zahlen war, auf dem Balkan und in den ethnischen Konflikten der zerfallenden Sowjetunion. Innerhalb der politischen Bildung hat sich der Bedeutungswandel des Historischen allerdings noch nicht im notwendi-
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gen Umfang niedergeschlagen: Geschichte ist weit davon entfernt, als Rückgrat politischer Bildung anerkannt zu werden. Politikwissenschaftler stehen wohl immer in besonderer Weise unter dem Eindruck des Wandels in der Zeit und verändern deshalb in der Regel mehrmals den Grundansatz ihres wissenschaftlichen Zugriffs. Sie bahnen sich den Weg zur Wirklichkeit auf vielfältige Weise, die im Rückblick oftmals mehr über die Forschung als über die untersuchte Wirklichkeit aussagt. Vergangenheit hingegen ist abgeschlossen und nicht beeinflussbar – sie erzeugt den Rahmen für jene, die Verhältnisse politisch verändern und neu gestalten wollen. Analyse der Geschichte in Verbindung mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen – dies zielt auf die Durchdringung einer Komplexität, die Gegenwart nicht nur als Ergebnis der Vergangenheit sieht, sondern darauf abstellt, die Auswirkungen der Vergangenheit in der Gegenwart und für die Zukunft zu erkennen. Dabei geht es vorrangig nicht allein um Modellbildungen oder die Ersetzung der Experimente durch intertemporale und interregionale Vergleiche, sondern es kommt auch auf die bewusste Reflexion von vergangenen Konstellationen der Politik für die Gegenwart an. Dass Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens gewesen sei, wird nach den Erfahrungen im Europa der ‚zweiten‘ und ‚dritten‘ Diktaturen unseres Jahrhunderts kaum jemand überzeugend behaupten können. In der Geschichte verbirgt sich offenbar kein tieferer Sinn, und mit der Krise des Fortschrittsgefühls wird auch deutlich, dass es kein Entwicklungsziel der Geschichte gibt. Unbestritten ist aber, dass sozialwissenschaftliche Forschungen historischer Fundierung bedürfen, ebenso wie geschichtswissenschaftliche Untersuchungen nicht auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen und Untersuchungen verzichten können. Die Perspektive der Geschichtswissenschaft veränderte sich nicht zuletzt unter dem Einfluss der grundlegenden Herausforderungen und Wandlungen unseres Jahrhunderts: aus den engen Grenzen des Nationalstaates lässt sie sich nicht mehr rechtfertigen und strebt nach europäischen Vergleichen oder gar nach der Darstellung welthistorischer Zusammenhänge. Dadurch haben sich neue Berührungspunkte zu den Sozialwissenschaften im weitesten Sinn ergeben, die immer auch Analysen von Veränderungen im Zeitverlauf angestrebt haben und bereits aus diesem Grunde der Geschichtswissenschaft als einer wichtigen Korrektivwissenschaft bedürfen. Andererseits wird es für Geschichtswissenschaftler immer wichtiger, sozialwissenschaftliche Modelle und Theorien mit den spezifischen Fragestellungen der eigenen Disziplin zu verbinden. Aus diesem Grunde wird das Problemfeld Politik und Geschichte nicht nur durch realhistorische Aspekte, sondern auch durch methodische Reflexionen bestimmt. Fragen wir nach den Voraussetzungen und nach der Wirklichkeit von Macht und Herrschaft, nach den Voraussetzungen ihres Erwerbs ebenso wie nach deren Gebrauch, nach Verfall oder Verlust von Macht, dann richtet sich unser Interesse auf die Bedingungen politischen Handelns, um die Struktur und den Wirkungszusammenhang unterschiedlicher Systeme zu erhellen. In der Regel wird dabei schnell deutlich: Die Zustände der Welt folgen nicht im chronologischen Sinne aufeinander, sondern im genetisch-kausalen Sinne auch auseinander. Deshalb sind multikausale Erklärungsansätze in der historisch-politischen Analyse in besonde-
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rer Weise notwendig. Hier liegt die Bedeutung der historischen Grundlagen der Politik: Allgemein ausgedrückt geht es darum, die Entstehung gesellschaftlicher und politischer Probleme, ihrer Strukturen und der dahinter stehenden Interessen unter einem bewusst historischen Blickwinkel herauszuarbeiten. Der ändert, der weitet sich – gerade deshalb ist es wichtig, dass Gesellschaft, Politik, Kultur und Geschichte fachübergreifend erforscht und interdisziplinär verstanden werden. Aber auch die Historiker haben zu vermitteln, dass Geschichte niemals allein die vergangene Wirklichkeit ist. Sie ist auch das Bild, das sich Menschen von ihr machen. Deshalb müssen wir erkennen, dass politische Konstellationen der Gegenwart sehr häufig in Gestalt von Geschichtsbildern wahrgenommen werden, die der vergangenen Wirklichkeit sehr häufig nicht entsprechen. Geschichtsbilder sind oftmals bewusst von Eliten erzeugt und als angebliches ‚kollektives Gedächtnis‘ durchgesetzt worden. Sie werden deshalb als ‚Konstrukte‘ bezeichnet, die wiederum, wie jeder Wahlkampf zeigt, politische Wirkungen entfalten können. Denn nicht selten bewirken Geschichtsbilder Reduktionen von Komplexität, erzeugen Schweigespiralen und Fraglosigkeit.
Historische Grundlagen der Politik als Korrektiv Hier wird vom Historiker verlangt, dass er falsche Bilder von der Vergangenheit korrigiert – der historisch orientierte Politikwissenschaftler will überdies die politische Funktion von Deutungen der Vergangenheit analysieren, er untersucht Auseinandersetzungen um die Vergangenheit als die Auseinandersetzungen um Geschichtsbilder und um Versuche, ein verbreitetes, ein gleichsam ‚kollektives‘ Geschichtsbewusstsein zu prägen. Dies wird in pluralistischen Gesellschaften immer schwieriger. Verändern sich geschichtswissenschaftliche Theorien, Methoden und Interpretationen grundlegend, dann kann dies ein Signal für eine tiefgreifende Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung der Vergangenheit, aber auch der Funktion der Geschichte für die politischen Auseinandersetzungen sein. Die Deutung der Vergangenheit wird dabei nicht nur zum Streitfall, sondern zum Ziel politischer Einflussnahme – sei es, um Formen kollektiver Identität zu beeinflussen, sei es, um politische Gegner mit historischen Argumenten zu bekämpfen, sei es, um in den internationalen Interessenkonflikten Ansprüche historisch zu rechtfertigen. Nicht selten wird in diesem Zusammenhang ‚Erinnerung‘ statt historischer Erklärung gesucht; Traditionsbildung wird dann wichtiger als die angemessene Kritik problematischer Geschichtsbilder. Es geht dann häufig um kollektive Identität statt um Aufklärung. Deshalb muss jede Generation neue Fragen an die Geschichte stellen, nicht zuletzt auch an die Historiker, die sich aus den jeweiligen Horizonten ihrer Gegenwart mit der Analyse der Vergangenheit befassen. Geschichte ist niemals nur ein Politikum, mit dem sich politische Lagerungen bilden oder scheiden lassen. Sondern sie bleibt auch eine Chance, politische Koordinaten und Maßstäbe aus zeithistorischer Erfahrung abzuleiten. Deshalb ist der Blick auf die Vergangenheit Ausdruck einer Ortsbestimmung, aus der vieles re-
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sultieren kann – Toleranz, Verständnis, Verpflichtung, auch politischer Realismus und der Wille zur innergesellschaftlichen Verständigung. Mögliche Antworten sind ebenso vielfältig wie die mögliche Präzisierung der Begriffe Politik und Geschichte. Sie können niemals eindeutig sein und bleiben deshalb immer umstritten. Zu Beginn meines Studiums stand die geschichtspolitische Auseinandersetzung um die deutsche Mitschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Als Schüler hatte ich Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht gelesen – ich gestehe heute gerne, nichts hatte ich richtig verstanden – aber Fischer wurde zu einem Vertrauensmann, der in der Zeit, die ich mir vom Taschengeld finanzierte, einen mich lange begleitenden Artikel verfasst hatte, in dem er aufforderte, gleichzeitig Geschichte und Politologie zu studieren. Das ermutigte, beide Fächer zu kombinieren. Bereut habe ich es nicht, und so war es klar, dass ich bei einem ausgesprochen historisch orientierten Politikwissenschaftler hören wollte, bei Wolfgang Abendroth in Marburg. Zum Glück zeichnete sich die Philipps-Universität durch eine wirklich beeindruckende Vielfalt aus. Neben Abendroth lehrten dort Ernst-Otto Czempiel, Werner Link und Hans-Gerd Schumann. Ich begriff: Politologie allein, das war es nicht. Geschichte war offensichtlich eine wichtige Grundlage der Politikwissenschaft, neben Wirtschaftswissenschaft – unvergessen ist der EuckenSchüler Karl Paul Hensel – Verfassungsrecht und Philosophie, vor allem bei dem faszinierenden Reinhart Brandt. Ich beklage deshalb heute nicht nur nostalgisch, wie es im Rahmen einer Abschiedsvorlesung gestattet ist, dass seit Jahren im politikwissenschaftlichen Forschungszusammenhang eine intensivere Auseinandersetzung mit den ‚Grundlagen der Politik‘, also mit Recht, Wirtschaft, Philosophie und politischen Ideen und vor allem mit Geschichte, immer stärker an den Rand gedrängt worden ist. Dies ist nicht nur eine Folge abgeschaffter Diplomstudiengänge, der Kapazitätsverordnungen und Prüfungsordnungen, sondern des inneren Wandels der Disziplin Politikwissenschaft und der Politik selbst, die zunehmend situativ zu reagieren scheint und sich nicht mehr bemüht, zu reflektieren, was Richard von Weizsäcker „den Grund von Politik“ nannte. Ich bin davon überzeugt, dass wir ohne historische Dimensionierung Politik kaum verständlich machen und so auch nicht über Politik aufklären können oder die Kritik an geschichtspolitischen Initiativen und Akzenten unterstützen können und so im politisch verantwortlich handelnden Zeitgenossen das Gefühl stärken können, dass die Zukunft natürlich das Kind der Gegenwart ist, dass die Gegenwart aber auch ihre Prägungen, historisch entstandene Mentalitäten und die Entstehung ihrer politischen Kultur realisieren muss, um politisch rational zu handeln. Der Politikwissenschaft ist ihre Distanzierung von der Zeitgeschichte augenscheinlich wenig bekommen. Galt die Politologie in den sechziger und siebziger Jahren mit der Soziologie als eine Leitwissenschaft, ein wenig modisch, aber immer interessant, so hat sich dies geändert. Politologen fallen heute nur selten als Teilnehmer an erregenden öffentlichen Diskussionen auf. In der Erklärung der internationalen Politik haben sie die Führung an Auslandskorrespondenten abgegeben. Größere Aufmerksamkeit genießen
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sie an Wahltagen – als Zuarbeiter demoskopischer Umfragen. Wenn sie als Kommentatoren gefragt sind, verbreiten sie häufig nicht mehr als politischen Common Sense, der Stimmungen einfängt und reproduziert, nicht aber politische Strategien und schon gar keine politisch-kulturellen Hintergrundanalysen liefert. Dazu abschließend ein Hinweis, der Erfahrungen spiegelt, die ich wegen einer nicht entwickelten Zusammenarbeit zwischen Politik- und Geschichtswissenschaft in Mannheim machen konnte. Die Mannheimer Politikwissenschaft versteht sich als empirische Sozialwissenschaft – Zeitgeschichte war mit der Politikwissenschaft durch die spezielle Denomination von Lehrstühlen in das Studium integriert. Das ist seit Jahren anders geworden. Die Lehrstühle für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte, die Erich Matthias, Hermann Weber und Klaus Schönhoven bekleidet haben, sind umbenannt worden. Sozialwissenschaftlich aufgeschlossene Zeithistoriker, die im Rahmen der Geschichtswissenschaft angesiedelt sind, sollen die Lücke füllen. Dabei geht es nicht nur um die Lehre, sondern auch um die interdisziplinäre historisch-politikwissenschaftliche Forschung, die gerade in Mannheim exemplarisch angelegt sein könnte. Welche Möglichkeiten eine historisch-politisch orientierte Wahlforschung bieten kann, ließe sich gerade durch die Nutzung der sich seit den sechziger Jahren entwickelnden Mannheimer Wahlforschung zeigen. Sie unterschied sich von anderen Ansätzen der Wahlanalyse, wie sie etwa an der Freien Universität in Berlin im Umkreis von Otto Stammer oder in Marburg im Umkreis von Wolfgang Abendroth vorangetrieben wurde, durch eine deutliche Betonung von politischpsychologischen Fragestellungen, die eher auf Wahlkampfgestaltung als Wahlanalysen zielten. Nach jeder Bundestagswahl erschien seit der Mitte der sechziger Jahre zumindest eine umfangreiche Beschreibung von Wahlkampfthemen und eine politisch-psychologisch fundierte Wahlanalyse, die durch die Mannheimer Wahlforscher entscheidend inspiriert worden waren. Diese Wahlkampfbeschreibungen und -analysen bedürfen inzwischen nach Jahrzehnten einer historischpolitischen Einordnung und verlangen die Zusammenarbeit von Historikern, Kommunikationswissenschaftlern, methodenbewussten empirischen Sozialforschern, Vertretern der politischen Ökonomie und der politischen Kulturforschung. Man stelle sich vor, wir hätten ähnliche Studien und das ihnen zugrundliegende Befragungsmaterial für die Jahre der Weimarer Republik, die Bismarckzeit und die Wilhelminische Ära! Deshalb habe ich eine Vision: Vielleicht ist es möglich, dass gerade in Mannheim, der Hochburg der modernen Wahlforschung, die Trennung der Geschichtsund Sozialwissenschaften aufgehoben wird und eine Zusammenarbeit von Politik-, Sozial- und Kommunikationswissenschaftler und auch Zeithistorikern entsteht. Sie könnten diese Materialien der Forschungsgruppe Wahlen nutzen, die in Mannheim in Jahrzehnten entstanden sind. Auf diese Weise ließe sich zeigen, dass die Selbstbeschränkung der Politik- und Sozialwissenschaften auf Gegenwarts- und Momentaufnahmen zu kurz greift, dass politische Kultur als genetischer Prozess begriffen werden kann, dass Geschichts- und Politikwissenschaften zusammen die Relevanz der Fächer für den öffentlichen Diskurs und das kritische Verständnis politischer Kommunikationsstrategien belegen können.
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Als ich mich in den siebziger Jahren in der historischen Wahlforschung verlor, da überkam mich – in Zeiten, in denen Computer noch nicht für Forschungen dieser Art zur Verfügung standen – der Gedanke, historische Wahlforschung bedeute den Triumph des Hinterteils über den Geist. Nicht vorstellen konnte ich mir, dass im Laufe von Jahrzehnten eine Reihe von Wahlstudien entstand, die heute gestatten, politisch-kulturellen Wandel im Langzeitverlauf zu analysieren, vorausgesetzt, der Zeithistoriker lässt sich auf methodologisch reflektierte Vorgehensweisen ein. Mir ist es nicht mehr vergönnt, an Versuche einer politisch-kulturellen, Geschichte und Politikwissenschaft verbindenden Wahlforschung anzuknüpfen, die mich in den siebziger Jahren stark beschäftigten, weil ich der festen Überzeugung war, gerade durch Wahlstudien zu zeigen, dass es einen Überschneidungsbereich von Sozial- und Geschichtswissenschaft gab. Er machte in meinem Verständnis den Kern der ‚Historischen Grundlagen der Politik‘ aus und diente zugleich der historischen Demokratieforschung, der Sozial- und Verfassungsgeschichte. Deshalb, vor allem auch deshalb, scheide ich mit einer gewissen Wehmut aus den Universitätsdiensten. Aber alles, was einen Anfang hatte, muss auch mal ein Ende haben, sagte der große Niklas Luhmann. Wo er Recht hatte, hatte er Recht.
DIE RHEINWIESENLAGER – EINE HERAUSFORDERUNG FÜR DIE HISTORISCH-POLITISCHE BILDUNGSARBEIT IN RHEINLAND-PFALZ Uwe Bader
Das Thema Kriegsgefangenschaft deutscher Soldaten am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz hatte bis 2011 für mich als Leiter des Referats für die Aufklärungsarbeit über den Nationalsozialismus und das Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft der Landeszentrale für politische Bildung keinen besonderen Stellenwert. Dies änderte sich, als Standorte ehemaliger sogenannter Rheinwiesenlager, in denen bei der Befreiung unserer Region amerikanische Einheiten deutsche Kriegsgefangene festsetzten, zunehmend von rechtsextremistischen Kräften für ihre politischen Zwecke instrumentalisiert wurden. Dazu kam, dass sich Personen, die bereits seit vielen Jahren an die Kriegsgefangenschaft deutscher Soldaten in Bretzenheim an der Nahe an einem Mahnmal erinnern, mit einer Bitte an die Politik wandten: Sie baten um Sicherstellung, Erhalt und unveränderte Fortsetzung dieser bislang von ihnen praktizierten Erinnerung an deutsche Kriegsgefangene. Die staatliche Erinnerungsarbeit zu den Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Diktatur wird im Bundesland Rheinland-Pfalz seit 1991 durch die Landeszentrale für politische Bildung gebündelt und seit 2001 in enger Kooperation mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten- und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in Rheinland-Pfalz durchgeführt. Die Landeszentrale leistet die Gedenkarbeit für die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft und die Aufklärungsarbeit über die Diktatur vor allem an den beiden landeseigenen KZ-Gedenkstätten in Osthofen und Hinzert. Die über 50 ehrenamtlich tätigen Mitgliedsgruppen und -vereine der Landesarbeitsgemeinschaft befassen sich dezentral an vielen Standorten mit der Thematik des Nationalsozialismus und engagieren sich in lokal-regionalen Projekten zu den Geschehnissen in den Jahren 1933 bis 1945. Bis 2011 hatten sowohl die Landeszentrale für politische Bildung als auch die Landesarbeitsgemeinschaft im Hinblick auf das Jahr 1945 vor allem die Befreiung der Konzentrationslager und der Region durch die Alliierten, das Ende des Krieges und die schreckliche Bilanz der NS-Jahre im Fokus ihrer Betrachtungen und Aktivitäten. Im Hinblick auf das Thema Kriegsgefangenschaft stand die Vermittlung von Forschungsergebnissen zu Kriegsgefangenenlagern unter deutscher Regie im Mittelpunkt. So wurden in der Gedenkstätte SS-Sonderlager/KZ Hinzert bei Trier beispielsweise wissenschaftliche Tagungen zu den Themen „Konzentrationslager, Sonderlager, Polizeihaftlager“ (2006) und zum „Schicksal sowjetischer
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Kriegsgefangener 1941 bis 1945“ (2011) veranstaltet und dokumentiert.1 Beim Thema der Kriegsfolgen stand und steht das Schicksal der vom ‚Dritten Reich‘ verfolgten Opfergruppen im Vordergrund, gefolgt von den Lasten für die Zivilbevölkerung durch den von Hitler und seiner Regierung angezettelten Zweiten Weltkrieg. Darüber hinaus stehen in der grenzüberschreitenden Gedenkarbeit die umfangreichen Schädigungen unserer Nachbarregionen in Elsass, Lothringen, Luxemburg und Belgien im Blickfeld. Das Feld der militärgeschichtlichen Entwicklung bei Kriegsende wurde nur insoweit näher behandelt, als es die Befreiung der heute rheinland-pfälzischen Gebiete von der nationalsozialistischen Diktatur betraf. Militärhistorische Aspekte gewannen bei den Akteuren der Gedenkarbeit in Rheinland-Pfalz bereits 2007 an Bedeutung, als das von der Landeszentrale für politische Bildung in der Gedenkstätte KZ Osthofen betriebene NS-Dokumentationszentrum seitens der Landesregierung um Beratung bei der Gestaltung eines Westwall-Wanderweges in der Südpfalz gebeten wurde. Es ging darum, auf Informationstafeln an noch bestehenden Höckerlinien, nassen Panzergräben und an Resten von Bunkern des Westwalls neben den Aspekten des Denkmalschutzes und der Biotope auch über die historischen Hintergründe dieser Festungsbauten aufzuklären.2 In diesem Zusammenhang kooperierten Historiker und politische Bildner mit militärhistorisch interessierten und spezialisierten Personen. Wichtig war dabei, den Westwall wissenschaftlich und pädagogisch in den Kontext der nationalsozialistischen Weltanschauung und Zielsetzungen zu stellen. Für die Gedenkarbeit des Landes Rheinland-Pfalz standen die ehemaligen Kriegsgefangenenlager, welche die Alliierten unmittelbar nach der Befreiung Südwestdeutschlands für Soldaten der Wehrmacht eingerichtet hatten, bis Ende 2010 nicht auf der Tagesordnung. Diese ‚Rheinwiesenlager‘, von denen viele auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz errichtet worden waren, galten als ‚Nachkriegsgeschichte‘ und wurden auch vom NS-Dokumentationszentrum bis dahin nicht näher behandelt. Die meisten Rheinwiesenlager existierten nur von April 1945 bis zum Sommer desselben Jahres. Eine Ausnahme stellte das alliierte Kriegsgefangenenlager Bretzenheim/Nahe dar, das – in wesentlich verringertem Umfang – nach Juli 1945 von den französischen Streitkräften als zentrales Sammel- beziehungsweise Durchgangslager für Kriegsgefangene benutzt wurde. Dies änderte sich, seit verstärkt Nachrichten zu vernehmen waren, die von Aktionen von rechtsextremistischer, geschichtsrevisionistischer Seite an Standorten der ehemaligen alliierten Kriegsgefangenenlager und von regionalen Gegendemonstrationen und starken Polizeiaufgeboten berichteten. So gab die Polizeidirektion Bad Kreuznach folgende Pressemitteilung heraus: 1
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Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Konzentrationslager, Sonderlager, Polizeihaftlager – SS-Sonderlager/KZ Hinzert und andere Orte des Verbrechens in den Lagersystemen der NS-Zeit. Dokumentation der Fachtagung, Mainz 2007; Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener 1941 bis 1945. Dokumentation der Fachtagung am 17. Oktober 2011, Mainz 2012. Siehe dazu: Rolf Übel, Oliver Röller (Hrsg): Der Westwall in der Südpfalz. OtterbachAbschnitt, Ludwigshafen am Rhein 2012.
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„Sonntag, 20.11.2011, 13:45 Uhr bis 18:00 Uhr – Der Evangelische Kirchenkreis ‚An Nahe und Glan‘ hatte für den gestrigen Volkstrauertag eine Gedenkveranstaltung mit Friedensgebet am Mahnmal Feld des Jammers angemeldet. Für den gleichen Zeitraum hatten der NPDKreisverband Naheland und ein als dem rechten Spektrum zuzurechnender Einzelanmelder ebenfalls zu einer Gedenkveranstaltung am Mahnmal aufgerufen. Unter Auflagen der Versammlungsbehörde (Kreisverwaltung Bad Kreuznach) wurden alle drei Versammlungen zeitlich versetzt zugelassen. Zu der Veranstaltung des Kirchenkreises hatten sich gegen 15:00 Uhr etwa 350 Teilnehmer am Mahnmal eingefunden, darunter Ministerpräsident Kurt Beck, die Landesvorsitzende der CDU Rheinland Pfalz, Julia Klöckner, und namhafte Politiker aus der Region. Eine Gruppe von etwa 40 Personen weigerte sich nach Ende der Versammlung zunächst, den Bereich des Mahnmals zu verlassen und verharrte dort, um den Beginn der anschließenden Veranstaltung der rechten Gruppierung hinauszuzögern. Nach dreimaliger Aufforderung durch die Polizei verließen diese Personen dann friedlich das Mahnmal hinter die circa 50 Meter entfernte Absperrung, sodass eine polizeiliche Räumung nicht erforderlich wurde. Die Veranstaltung der NPD mit 26 Teilnehmern dauerte von 13:40 Uhr bis etwa 14:20 Uhr. Die zweite rechtsextreme Versammlung (31 Teilnehmer) fand von etwa 17:00 Uhr bis 18:00 Uhr statt.“3
Drei Tage nach dieser Pressemitteilung der Polizei über das Geschehen am Mahnmal wandte sich ein persönlich betroffener Bürger aus Bad Kreuznach mit einem Schreiben an den Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz. Hintergrund für den Brief des Bürgers waren die Kundgebungen am Mahnmal Feld des Jammers in Bretzenheim in den Jahren 2009 und 2010. Der Autor des Briefes beklagte in seinem Schreiben aus seiner Sicht inakzeptable Bestrebungen aus kirchlichen Kreisen und von Bürgerinitiativen, die sich gegen rechtsextremistische Aktivitäten gebildet hatten, das Mahnmal umwidmen zu wollen. In dem Brief betonte der Bürger, es sei in den 1960er-Jahren der ausdrückliche Wunsch und Beschluss des damaligen Mahnmalausschusses gewesen, dass das Mahnmal folgende Inschrift trage: „ALLEN in Gefangenschaft verstorbenen DEUTSCHEN Soldaten zum Gedenken!“ Er bat vor diesem Hintergrund darum, das Land möge denjenigen keine Unterstützung gewähren, die den Charakter des Mahnmals verändern wollen. Er betonte, dass auch der Ortsbürgermeister in dieser Angelegenheit der gleichen Auffassung sei. In seinem Schreiben distanzierte sich der Autor gleichzeitig von „Demonstrationen von Rechtsradikalen/NPD-Anhängern“. 4 Daraufhin bat die Staatskanzlei das Gedenkstättenreferat der Landeszentrale darum, sich ein Bild von der Situation zu machen und sich der Problematik anzunehmen. Im März 2011 fand dann ein erstes Zusammentreffen zwischen Vertretern der Landeszentrale und dem Autor der Eingabe sowie dem Ehepaar Ute und Wolfgang Spietz statt, das sich im Amtshaus der Gemeinde Bretzenheim um eine kleine Dokumentationsstelle und eine Ausstellung zum Kriegsgefangenenlager Bretzenheim sowie auch um das außerhalb des Ortes gelegene Mahnmal kümmert. Die Vertreter der Landeszentrale stellten fest, dass die Darstellung des La3
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URL: http://www.polizei.rlp.de/internet/nav/7ca/presse.jsp?uMen=7ca4f5d4-a938-2011-99f31a94839292e2&sel_uCon=62f70039-8af5-c331-c5ec-3f110b42f27b&page=1&pagesize=10, letzter Zugriff: 25.4.2014. Briefkopie liegt dem Verfasser vor.
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gers in der Ausstellung erst 1945 einsetzt und somit eine notwendige Kontextualisierung zur Vorgeschichte fehlt. Die drei Bretzenheimer Gesprächspartner machten deutlich, dass sie mit Veränderungen am Mahnmal Mühe hätten und solche ablehnten. Sie zeigten sich aber erfreut, dass sich jemand von Landesseite über die bisher geleistete Arbeit vor Ort informiert und signalisierten ihr Interesse, die Kontakte zu vertiefen. Im Hinblick auf den Missbrauch des Mahnmals durch Rechtsextremisten zeigten sich die drei Gastgeber recht hilflos. Sie brachten mehrfach zum Ausdruck, dass Demonstrationen von Rechtsradikalen und NPD-Anhängern nicht in ihrem Sinne seien und sie sehr unglücklich darüber gewesen seien, dass in der Vergangenheit solche Kundgebungen nicht untersagt werden konnten. Das genannte Mahnmal befindet sich südlich des Ortes Bretzenheim an der heutigen Bundesstraße 48. Das weite und bis zu den Weinbergen reichende Gelände des Lagers umfasste eine Fläche von zirca 210–220 Hektar und wurde über einige Wochen mit mehr als 100.000 Gefangenen belegt. Von April bis zum 10. Juli 1945 stand das Lager unter dem Kommando der US-Army. Auf der Website der Landesarchivverwaltung ist zum Lager unter anderem Folgendes zu lesen: „Die hier untergebrachten Menschen wurden nicht als Kriegsgefangene, sondern als Displaced Enemy Forces, als entwaffnete Feindkräfte bezeichnet und behandelt. Es wurde keine Registrierung der Gefangenen und keine Weitermeldung an das Rote Kreuz vorgenommen (…). Die Unterbringung auf freiem Feld, die Ernährung und die ärztliche Versorgung waren in der Anfangszeit gekennzeichnet von vollständiger Improvisation (…). Am 16. März 1949 gab die französische Militärregierung das Gelände an die Landesregierung zurück (…). Der Kreisverband Bad Kreuznach des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermissten spricht davon, dass in den Monaten Mai bis Juli 45 allein im Lager Bretzenheim etwa 3.500 ehemalige deutsche Soldaten gestorben seien.“5
Sowohl das Mahnmal Feld des Jammers als auch die Ausstellung im Amtshaus erinnern ausschließlich an das schwere Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen im Lager Bretzenheim, das ihnen zwischen 1945 und 1948 erst unter amerikanischer, dann unter französischer Verantwortung widerfahren ist. Dabei wurde in den 1960er-Jahren und auch später noch außer Acht gelassen, dass auch Zwangsrekrutierte aus Luxemburg und Elsass-Lothringen (also Franzosen) und aus weiteren Ländern, zum Beispiel Ungarn, unter den von den Alliierten ins Lager gebrachten Gefangenen waren. In der Ausstellung gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich unter den gefangenen deutschen Soldaten auch viele befunden haben dürften, die sich an Kriegsverbrechen beteiligt hatten. Tendenziell wird dadurch das Narrativ bedient, aus allen deutschen Kriegsgefangenen ‚Opfer‘ zu machen, unabhängig davon, wie sie sich zuvor selbst als Angreifer im Vernichtungskrieg in den besetzten Ländern verhalten hatten. Am 11. Mai 2011 befasste die Landeszentrale für politische Bildung den Wissenschaftlichen Fachbeirat zur Gedenkarbeit in Rheinland-Pfalz mit dem Thema Kriegsgefangenenlager Bretzenheim. Der Vorsitzende des Beirates, der emeritier5
Vor 55 Jahren: Der 16. März 1949. Kriegsgefangenenlager Bretzenheim, URL: http://www. landeshauptarchiv.de/index.php?id=382, letzter Zugriff: 25.4.2014.
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te Professor und ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung Wolfgang Benz (Berlin), und die Beiratsmitglieder beschlossen, die nächste Sitzung des Gremiums in Bretzenheim durchzuführen und sich vor Ort über die Situation zu informieren. In einem weiteren Treffen mit Mitarbeitern der Landeszentrale erklärte sich das Ehepaar Spietz von der Dokumentationsstätte in Bretzenheim mit allen, zehn Punkte umfassenden, grundsätzlichen Vorschlägen der Landeszentrale einverstanden. Dazu gehörten eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Thematik und die Bildung einer Arbeitsgruppe zur Erarbeitung einer historischen Kontextualisierung, die auch zu einer Erweiterung oder Umgestaltung des Mahnmalbereichs führen könnte. Im Herbst 2011 führte die Landeszentrale auch mit der Initiative Netzwerk am Turm in Bad Kreuznach ein Gespräch über die Situation in Bretzenheim. Teilnehmer waren Pfarrer Marcus Harke, Superintendent des Kirchenkreises an Nahe und Glan, Klothilde Hinz von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes –Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), Siegfried Pick vom Netzwerk am Turm Bad Kreuznach und weitere Akteure des Netzwerks. Dieser Personenkreis organisiert Mahnwachen und ökumenische Gebete als Protest gegen Aufmärsche von Rechtsextremisten am Mahnmal. Die Landeszentrale informierte den von beiden christlichen Kirchen und auch dem Deutschen Gewerkschaftsbund unterstützten Kreis über die ersten Arbeitsschritte der Landeszentrale und bat die lokalen Akteure, ihre Auffassungen zum Umgang mit dem Kriegsgefangenenlager auf einer Sitzung des Wissenschaftlichen Fachbeirates zur Gedenkarbeit im Jahr 2012 vorzustellen. Auch die Mitarbeit an der konzeptionellen Arbeit für die zukünftige Erinnerungsarbeit am Mahnmal Bretzenheim bot die Landeszentrale der Initiative an. Am 15. November 2011 fand in Bretzenheim dann die Sitzung des Wissenschaftlichen Fachbeirates unter Leitung von Wolfgang Benz statt. Der Beirat ließ sich von Wolfgang Spietz über die Geschichte und die Entwicklung des Mahnmals sowie der Dokumentationsstätte berichten und nahm das Mahnmal und die Dauerausstellung im Amtshaus in Augenschein. In Anbetracht der zunehmenden Aktivitäten von Rechtsextremisten und der NPD zwischen Volkstrauertag und Totensonntag an mehreren Standorten ehemaliger Rheinwiesenlager und im Internet sah es der Fachbeirat für geboten an, dass sich das Land und die Landeszentrale für politische Bildung der Thematik annehmen. Für Bretzenheim sollten eine Dokumentation auf wissenschaftlicher Grundlage erarbeitet und verschiedene Schritte zu einer Neugestaltung eingeleitet werden. Zustimmung fand dieses Vorgehen mit einer von staatlicher Seite beeinflussten Aufarbeitung und Gestaltung auch bei denjenigen Mitgliedern des Beirates, die sich dazu aus historischen Gründen und wegen zum Teil persönlich von deutscher Seite erlittenen Unrechts nur schwer durchringen konnten. Unter der Voraussetzung einer Dokumentation und Darstellung, die dem historischen Kontext der nationalsozialistischen Diktatur und des Völkermordes Rechnung tragen wird, erklärten sich so auch ein im Fachbeirat tätiger ehemaliger französischer Widerstandskämpfer und KZ-Häftling, ein Vertreter des Centre de Recherche de la Résistance et de la Déportation Luxembourg und ein Vertreter des
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Landesverbandes deutscher Sinti und Roma in Rheinland-Pfalz bereit, ein Engagement der Landeszentrale in dieser Hinsicht zu akzeptieren. Der Fachbeirat begrüßte daher die Vorschläge der Landeszentrale, im Hinblick auf alliierte Kriegsgefangenenlager – vor allem in Bretzenheim – folgende Maßnahmen umzusetzen: 1. Erarbeitung eines Überblicks über die Grundlagen der Thematik unter dem Gesamtkontext „Ausländische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam“ und „Deutsche Kriegsgefangene im Gewahrsam der Alliierten“ während des Zweiten Weltkrieges und danach; dies sollte im Rahmen einer wissenschaftlichen Fachtagung 2012 geschehen 2. Ausarbeitung von Vorschlägen für eine Veränderung des Mahnmalbereiches durch Errichtung eines wissenschaftlich fundierten Informationsangebotes unter freiem Himmel 3. Feststellung der in Rheinland-Pfalz und darüber hinaus vorhandenen Stätten der Erinnerung an Kriegsgefangenenlager und dort agierender zuverlässiger Initiativen beziehungsweise Gemeindevertreter (Vernetzung der zu diesem Thema arbeitenden Personen und Gruppen). Das Gedenkstättenreferat der Landeszentrale nahm auch Kontakt zu Personen an anderen Standorten ehemaliger Rheinwiesenlager auf, so zuerst im Heimatmuseum der Gemeinde Böhl-Iggelheim, das Vitrinen zum dortigen vormaligen Kriegsgefangenenlager beherbergt. Zudem besichtigten Referatsmitarbeiter den am ehemaligen Standort des Lagers gesetzten Gedenkstein. Sie bezogen auch den ehemaligen Bürgermeister der Stadt Remagen Hans-Peter Kürten mit ein, der das Friedensmuseum Brücke von Remagen initiiert und 1980 eröffnet hatte. Auch in dem Friedensmuseum befindet sich eine Abteilung zur Geschichte der Rheinwiesenlager von Remagen und Sinzig. Kürten stellte weitere Verbindungen zu in Remagen an der Geschichte des alliierten Kriegsgefangenenlagers arbeitenden Personen und zum Bündnis Remagen für Frieden und Demokratie her, in dem Personen und Gruppen organisiert sind, die gegen Rechtsextremismus und Vereinnahmung des Denkmals der ‚Schwarzen Madonna‘ von Remagen durch Neonazis aktiv sind. Kürten war auch der Initiator dieses Mahnmals der ‚Schwarzen Madonna‘ und führte mehrfach Treffen für ehemalige Kriegsgefangene durch, so 2012 zum 13. Mal. 2010 waren noch 400 ehemalige Gefangene des Lagers Remagen-Sinzig gekommen, 2012 nahmen an dem Treffen immerhin noch über 300 Personen (inklusive Begleitpersonen) teil. Auch in Remagen besteht alljährlich die Problematik, dass vor allem seit 2005 größere Demonstrationen durch Rechtsextremisten stattfinden, gesteuert durch eine aktive rechte Szene im Kreis Ahrweiler, die Gedenkfeiern am Volkstrauertag und Totensonntag stören und die Erinnerung an Kriegsopfer für ihre Zwecke instrumentalisieren. Es ist vor allem dem Friedensbündnis unter der Regie von Agnes Menacher, engagierten Bürgerinnen und Bürgern und kirchlichen Vertretern zu verdanken, dass die Rechtsextremen ihr Vorhaben nicht nur infolge umfangreicher Polizeieinsätze, sondern auch wegen der entschlossenen Aktionen und Gegenwehr zahlreicher Bürgerinnen und Bürger nicht mit dem gewünschten Erfolg umsetzen konnten.
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Auch in Ludwigshafen-Rheingönheim informierte sich die Landeszentrale über den Standort, die historischen Hintergründe und die bisherigen lokalen Aktivitäten zum dortigen ehemaligen Rheinwiesenlager. Der dort in der Chemiemetropole an der Thematik arbeitende Wolfgang Lauenstein wurde ebenso wie HansPeter Kürten aus Remagen und das Ehepaar Spietz aus Bretzenheim gebeten, bei der in der Gedenkstätte KZ Osthofen geplanten Fachtagung im Rahmen einer Podiumsrunde den Stand der örtlichen Situation und der Forschungsarbeiten vorzustellen. Ort der Fachtagung „Kriegsgefangenenlager 1939–1950 – Kriegsgefangenschaft als Thema der Gedenkarbeit“ am 17. August 2012 war bewusst die Gedenkstätte KZ Osthofen. Mit der Wahl des Tagungsortes unterstrich die Landeszentrale die notwendige Kontextualisierung der Rheinwiesenlager mit der nationalsozialistischen Diktatur, dem Kriegsgeschehen vor 1945 und mit der Behandlung von ausländischen Kriegsgefangenen unter deutscher Obhut. Die Tagungsergebnisse wurden in einer Dokumentation zusammengefasst, die an der Gedenkstätte KZ Osthofen erhältlich ist.6 Im Vorwort der Dokumentation schreibt der Direktor der Landeszentrale, Dieter Schiffmann, dass in den letzten Jahren „mit wachsender zeitlicher Entfernung vom fürchterlichen Geschehen die Appelle ewig Gestriger an alte nationalistische Vorurteile und Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft im rechtsextremistischen und rechtsterroristischen Lager“ zunehmen. „Zu diesen Erscheinungsformen gehört auch der Versuch, Geschichte zu verbiegen, im Mantel des Erinnerns und Gedenkens an vermeintlich vergessene Opfer Aufrechnung zu betreiben, Täter und Opfer auszutauschen und Hintergründe und Zusammenhänge nicht zur Kenntnis zu nehmen.“7 Auf der Tagung referierten Wolfgang Benz über „Kriegsgefangenschaft in NSLagern – Kriegsgefangenschaft in alliierten Gefangenenlagern“, Reinhard Otto über „Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam“ und Barbara Distel über „Alliierte Kriegsgefangene und Internierte in Dachau“. Zu den Kriegsgefangenen unter alliierter Obhut gab es Vorträge von Paul Dostert über „Luxemburger Zwangsrekrutierte als Kriegsgefangene – eine ungenügend recherchierte Frage oder ein Tabuthema?“ und von Rüdiger Overmans über „Deutsche Kriegsgefangene in den Rheinwiesenlagern – Alltagsrealität und Erinnerung.“ Birgit Schwelling stellte den „Verband der Heimkehrer und die Erinnerung an die Kriegsgefangenschaft in der frühen Bundesrepublik“ vor. Wolfgang Bula widmete sich unter polizeilicher Sicht dem Thema „Vereinnahmung von Gedenkstätten ehemaliger Rheinwiesenlager durch die rechte Szene am Beispiel des ‚Rheinwiesenlagers Goldene Meile‘ in Remagen“. Abgeschlossen wurde die Tagung mit einer Gesprächsrunde, an der die bereits oben näher beschriebenen Akteure aus Bretzenheim, Remagen und Ludwigshafen-Rheingönheim teilnahmen. Somit trafen in Rheinland-Pfalz erstmals lokale Akteure mit renommierten Wissenschaftlern zusammen, um das 6 7
Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Kriegsgefangenenlager 1939– 1950. Kriegsgefangenschaft als Thema der Gedenkarbeit, Mainz, Osthofen 2012. Dieter Schiffmann: Vorwort, in: Landeszentrale (Hrsg.): Kriegsgefangenenlager, 2012, S. 4f., hier S. 4.
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Thema der alliierten Kriegsgefangenenlager bezogen auf die Region am Rhein gemeinsam zu bearbeiten. Im Hinblick auf den Stand der Forschung zu den Rheinwiesenlagern urteilte Rüdiger Overmans: „Die allermeisten Publikationen konzentrierten sich darauf, die Thesen von James Bacque zu widerlegen; inhaltlich Neues wurde selten publiziert (…). Über die britischen und US-amerikanischen Entscheidungsprozesse auf der militärischen Ebene sind wir faktisch nicht informiert. Wie die Durchschleusung von der Front in die Lager erfolgte, ist unbekannt. Gleiches gilt für die vielen Zwischenfälle in den Lagern, deren Hintergrund bis heute ungeklärt ist. Von vielen Lagern sind nicht einmal die Eckdaten wie die Gründung und die spätere Auflösung bekannt. Über den Umfang und den Zeitpunkt der Entlassung von Kriegsgefangenen wie über die Zahl der Todesfälle wissen wir in den meisten Lagern ebenfalls wenig. Die Liste der Desiderata ist damit nicht abgeschlossen, die Lücken sind zahlreich – weitere Forschung würde sich lohnen.“8
In seinem Beitrag hatte Overmans zuvor gezeigt, dass die Thesen des kanadischen Autors James Bacque nicht haltbar sind. Er hatte zum Beispiel behauptet, in den Rheinwiesenlagern seien bis zu einer Million Kriegsgefangene umgekommen. Gerade die Thesen von Bacque dienen den Rechtsextremisten für ihre Legendenbildungen. Die Tagung zeigte auch: Um der rechtsextremistischen Propaganda, Legendenbildung und Verfälschung solides Faktenmaterial entgegenzuhalten, gibt es gegenwärtig genügend Erkenntnisse. Neben den Arbeiten von Rüdiger Overmans seien hier nur die Studien von Arthur L. Smith und die Ergebnisse der Wissenschaftlichen Kommission für die Dokumentation des Schicksals der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges unter Leitung von Erich Maschke aus den 1960er-Jahren genannt.9 Zum Abschluss der Tagung blickte Wolfgang Benz auf das weitere Vorgehen: „Auftrag der politischen Bildung ist nun, das weiter zu führen, nicht nur museal und emotional, denn irgendwann gibt es die alten Herrschaften nicht mehr und irgendwann interessieren sich auch die Enkel und Urenkel nicht mehr so schrecklich für diese Geschichte. Dann kommt es auf die allgemeine, historische Ebene. Dann gilt es nicht nachzulassen darin, diejenigen, die es noch interessiert, zu informieren und vor allem aber denjenigen, die Mythen erzeugen wollen, die Legenden bilden, die die Geschichte missachten wollen, solide entgegen zutreten. Dies scheint mir die wichtigste Aufgabe zu sein, die wir gemeinsam mit Wissenschaft, mit den Kämpfern und Bewahrern vor Ort und der institutionalisierten politischen Bildung zu leisten haben.“10
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Rüdiger Overmans: Deutsche Kriegsgefangene in den Rheinwiesenlagern. Alltagsrealität und Erinnerung, in: Landeszentrale (Hrsg.): Kriegsgefangenenlager, 2012, S. 54–75, hier S. 74. 9 Wolfgang Benz: Kriegsgefangenschaft in NS-Lagern – Kriegsgefangenschaft in alliierten Gefangenenlagern, in: Landeszentrale (Hrsg.): Kriegsgefangenenlager, 2012, S. 12–21, hier S. 16–20, sowie das Literaturverzeichnis, in: Ebd., S. 112f. 10 Podiumsdiskussion. Auszüge aus dem Abschlussgespräch der Tagung, in: Landeszentrale (Hrsg.): Kriegsgefangenenlager, 2012, S. 104–111, hier S. 110f.
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Wie andere Tagungsteilnehmende sprach sich auch Benz dafür aus, nicht nur mit Broschüren, sondern auch durch einen Internetauftritt zuverlässige und für Lehrer wie Schüler nutzbare Informationen zur Verfügung zu stellen. Auf Einladung des Landrates von Ahrweiler, Jürgen Pföhler, hielt der Verfasser dieses Textes am Volkstrauertag 2012 auf dem Soldatenfriedhof in Bad Bodendorf bei Remagen im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung eine Ansprache, in der er die Notwendigkeit historisch-politischer Bildung zu diesem lange als Tabu betrachteten Thema unterstrich. Die Kreisverwaltung ist dort in der Thematik sehr aktiv und hat einen Informationsfilm über das Rheinwiesenlager in Remagen-Sinzig ins Internet gestellt.11 Im Jahr 2013 wurden neben der Veröffentlichung und Verteilung der Tagungsdokumentation zwei Vernetzungstreffen mit Akteuren der Standorte Remagen, Rheingönheim und Bretzenheim durchgeführt. Dabei wurden erste Entwürfe für Bausteine zu einer Konzeption erarbeitet, die 2014 der Landesregierung als Vorschlag unterbreitet werden sollen. Im zweiten Halbjahr 2013 wurden finanzielle Mittel aus anderen Bereichen der Landeszentrale für politische Bildung gebündelt, um eine junge Wissenschaftlerin mit einem Werkvertrag auszustatten. Christiane Weber, derzeit Doktorandin und an der Justus-Liebig-Universität in Gießen in der Arbeitsstelle Holocaustliteratur tätig, hat die Aufgabe übernommen, bis zum Herbst 2014 eine Informationsbroschüre und einen Internet-Auftritt der Landeszentrale zum Thema Rheinwiesenlager zu erarbeiten. Dabei sollen weitere Standorte von Rheinwiesenlagern auf heute rheinland-pfälzischem Boden untersucht werden. Außerdem wird sie die Landeszentrale bei der Fertigstellung der Konzeption für die Landesregierung unterstützen. Die von der Landeszentrale übernommene, ohne zusätzliche personelle oder finanzielle Ressourcen versehene Arbeit zu den Rheinwiesenlagern konnte und kann bislang nur neben den umfangreichen und expandierenden Aufgaben der Aufklärungsarbeit über die nationalsozialistische Zeit erfolgen. Die Initiativen vor Ort begrüßten nach anfänglicher Skepsis das entwickelte Zusammenwirken mit der Landeszentrale und erhoffen sich nun von staatlicher Seite noch schnellere und wirksamere Hilfe. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass sich die inhaltlichen und historischen Perspektiven der von der Landeszentrale angesprochenen Partner mittlerweile auch erweitert haben. Die an den Mahnmalen wirkenden Personen sind nicht mehr ausschließlich auf das Schicksal der Kriegsgefangenen und auf die jeweiligen Lagerumstände fixiert. Durch die Arbeit der Landeszentrale entwickeln auch die Partner vor Ort langsam die bislang zumeist fehlende Kontextualisierung der alliierten Kriegsgefangenenlager mit der Geschichte der NS-Diktatur und des von Deutschland angezettelten Vernichtungskrieges. Entscheidend für die Zukunft wird es sein, wie die im Spätjahr 2014 fertiggestellten Basisinformationen im Netz und in der Informationsbroschüre für eine seriöse und zuverlässige Bildungsarbeit an den Standorten angenommen werden. Wenn mit 11 URL: http://www.kreis-ahrweiler.de/textMI.php?id=255, letzter Zugriff: 25.4.2014; zur Ansprache: Uwe Bader: Kriegsgefangenschaft nicht von der NS-Diktatur trennen, in: Kreis Ahrweiler: Heimatjahrbuch 2014, 71 (2013), S. 201–204.
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den Informationsmaterialien zum Beispiel in Bretzenheim, Rheingönheim oder Remagen mit Pädagogen aus den Schulen, mit regionalhistorisch interessierten Gruppen und lokalen Journalisten gearbeitet wird, kann der Besetzung der Thematik durch rechtsextremistische Kreise entgegengearbeitet werden. Durch Kontakte zu den Universitäten könnte die Bearbeitung der Geschichte der Rheinwiesenlager nach der Herausgabe der Basisinformationen auch einen zusätzlichen Auftrieb erhalten. Von großer Bedeutung wird der noch zu erarbeitende Konzeptionsvorschlag zum Umgang mit dem Thema und den Mahnmalen sein, der für die Landesregierung ausgearbeitet wird. Bei knapper werdenden personellen und finanziellen Möglichkeiten ist es allerdings derzeit für eine Prognose zu früh, ob die Aufklärungsarbeit über die Rheinwiesenlager in den nächsten Jahren in einem größeren Umfang wird erfolgen können.
FUNDSTÜCK
EINFÜHRUNG Harald Schmid
Besondere historische Ereignisse verdichten sich in gesellschaftlichen Prozessen mitunter zu sinnstiftenden Zeichen, manchmal gar zu Ikonen. Als solche Symbole sind sie dann oft Gegenstand der öffentlichen Kulturen des Erinnerns und der Politik mit Geschichte. In diesen Zusammenhang gehört auch eine Zeichnung mit bemerkenswerter Wirkungsgeschichte. Ihr Urheber ist Kurt Reuber, ein deutscher evangelischer Pastor, Arzt und Maler. Die Umstände der Genese des Werks, dessen Inhalt und insbesondere seine Rezeption haben Reuber zu einer Person der Zeitgeschichte – und der (Nachkriegs-)Erinnerungskultur gemacht.
Kurt Reuber und die Stalingradmadonna Reuber, in Theologie und Medizin promoviert und lebenslang von einer Begegnung mit Albert Schweitzer geprägt, wurde im Oktober 1939 als Oberarzt der Reserve zur Wehrmacht eingezogen. Sein Biograf schildert ihn als vielseitig begabten, kraftvollen und dem Nationalsozialismus mit kritischer Distanz begegnenden Mann.1 So sind Reubers Kriegszeichnungen von Sowjets nicht vom nazistischen Rassismus, sondern von menschlichem Einfühlungsvermögen gekennzeichnet. Als Truppenarzt der 16. Panzer-Division nahm er 1942/43 an der „Schlacht um Stalingrad“ teil. Zu Weihnachten 1942 zeichnete er in einem Unterstand mit Kohle auf die Rückseite einer russischen Landkarte ein Bild, das er mit der Umschrift „1942 – Weihnachten im Kessel – Festung Stalingrad – Licht, Leben, Liebe“ versah, letztere mit ausdrücklichem Bezug auf das Evangelium nach Johannes. In einem Brief an seine Frau beschrieb er die Zeichnung als „‚Madonna‘ oder Mutter mit Kind“. Das Kind deute er als das „Erstgeborene einer neuen Menschheit“ und „Sinnbild sieghaften zukunftsfrohen Lebens“, und berichtete von der „eindrucksvollen Wirkung“ auf seine Kameraden am Abend des 24. Dezember. 2 Wenig später gelang es Reuber, das Bild mit einem der letzten Flugzeuge aus Stalingrad an seine Frau zu schicken.
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Zur Biografie vgl. Erich Wiegand: Kurt Reuber. Pfarrer, Arzt und Maler, 3., akt. u. erw. Aufl., Kassel 2004. Zit. nach Matthias Rogg: Seelsorge und Leibsorge. Das Geheimnis der Madonna von Stalingrad, in: Gorch Pieken, Matthias Rogg, Jens Wehner (Hrsg.): Stalingrad. Eine Ausstellung des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Dresden 2012, S. 158–167, hier S. 160f.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 217–221
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Nach der Kapitulation der 6. Armee am 2. Februar 1943 ging Reuber mit über 90.000 Wehrmachtssoldaten in die sowjetische Kriegsgefangenschaft. Dort entstand, zu Weihnachten 1943, eine zweite Madonnenzeichnung, genannt die „Lager“- oder auch „Gefangenenmadonna“. Knapp ein Jahr darauf, am 20. Januar 1944, starb Kurt Reuber 37-jährig im Offiziersgefangenenlager Jelabuga im heutigen Tatarstan. Kurz vor seinem Tod hatte er sich dem Nationalkomitee Freies Deutschland angeschlossen.
Bild und Rezeption „Mutter mit Kind, geborgen unter einem Tuch. Eine Schutzmantelmadonna, eine große Friedliche.“3 So lässt sich das Bild sehr knapp beschreiben. Reuber verwandte mit der „Schutzmantelmadonna“ eines der ältesten, in der bildenden Kunst seit dem 13. Jahrhundert nachzuweisenden Motive christlicher Ikonografie.4 Entstanden ist so ein „meditatives, fast zärtliches Bild“, ein „Andachtsbild (…), in dem Privat- und Kultbild miteinander verschmelzen“. 5 Auf den ersten Blick scheint es denkbar weit von den extrem bedrohlichen und schier hoffnungslosen Entstehungsumständen entfernt zu sein und lässt sie nur im Negativen erahnen, durch Ausdruck der darin gründenden existenziellen Wünsche. Religion als der „Seufzer der bedrängten Kreatur“ (Karl Marx) – ein Zusammenhang, der jedenfalls in Reubers Madonna-Zeichnung aus dem „Kessel“ von Stalingrad unmittelbar greifbar zu sein scheint: Die Madonna, im christlichen Glauben also die Jesusmutter Maria, als letzte Hoffnung, als letzter Trost der halb Verhungerten, halb Erfrorenen von Stalingrad in aussichtsloser militärischer Lage. Die Rezeptionsgeschichte der „Madonna von Stalingrad“ ist bislang nur in Umrissen deutlich.6 Nach Reubers Tod setzte die Verbreitung seines Bildes ein, besonders gefördert durch seinen Freund, Marineoberpfarrer Arno Pötzsch.7 Bald rückte die Stalingrader „Festungsmadonna“ in den ikonografischen Fokus west3
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Birgit Galle: Die Stalingrad-Madonna des Kurt Reuber. Vor 30 Jahren erhielt die Gedächtniskirche das Werk als Dauerleihgabe, in: RBB-Kulturradio, 20.8.2013, URL: http://www.kultur radio.de/programm/sendungen/130820/kulturtermin_1904.html, letzter Zugriff: 24.7.2014. Rogg: Seelsorge, 2012, S. 167. Ebd., S. 158, 162. Vgl. Ebd., S. 164f.; Martin Kruse (Hrsg.): Die Stalingrad-Madonna. Das Werk Kurt Reubers als Dokument der Menschlichkeit, vollst. überarb., akt. u. erw. Neuaufl., Hannover 2012; Wiegand: Kurt Reuber, 2004; siehe auch Karoline Kuhla: Die Madonna von Stalingrad. Vom Krieg gezeichnet, in: Spiegel-Online, 21.12.2012, URL: http://www.spiegel.de/einestages/stal ingradmadonna-kurt-reuber-und-seine-beruehmte-zeichnung-a-947850.html, letzter Zugriff: 24.7.2014. Die Madonna von Stalingrad. Ein Gedenken vor der Weihnachtsmadonna von Stalingrad. Verse von Arno Pötzsch, Zeichnungen von Kurt Reuber, Hamburg 1945 (zuerst 1944, noch „Im Felde, Weihnachten 1944“, S. 2); Arno Pötzsch: Kurt Reuber. Pfarrer, Arzt, Künstler. Gedächtnispredigt, gehalten in der Dorfkirche zu Wichmannshausen in Hessen am Sonntag, dem 17. Februar 1946, Hamburg 1946. Pötzsch ließ noch während des Krieges 30.000 Bildkarten von Reubers Madonna drucken, wie er im Nachwort schreibt (unpag.), S. 22.
Einführung
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deutscher soldatischer Kriegserinnerung, beispielsweise im Rahmen der Wanderausstellung des Verbands der Heimkehrer, die seit 1951 circa 20 Jahre lang in Städten der Bundesrepublik und vereinzelt auch im Ausland gezeigt wurde.8 „Seit den 1950er Jahren gehörte die Madonna zum festen Bildrepertoire im Gedenken an die Schlacht an der Wolga und mutierte schrittweise zum Sinnbild für Leiden im Krieg schlechthin“, schreibt Matthias Rogg: „Die ‚Stalingradmadonna‘ drohte in diesem Diskurs vom Bild des Trostes, der Mahnung und Versöhnung zum Bild der Entschuldung zu werden.“9 Das Changieren des gänzlich unpolitisch anmutenden, alle historischen Kausalitäten und Bewertungen hinter sich lassenden Bildes zwischen konkretem Bezug auf die Stalingrader Situation und allgemein menschlicher Friedens- und Geborgenheitssehnsucht war dabei wohl eine maßgebliche Voraussetzung für seine rasche Verbreitung. Einer Anregung von Bundespräsident Karl Carstens folgend, ist das Bild seit August 1983 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin ausgestellt, die im Zweiten Weltkrieg 1943 zerstört und 1961 als Ruinen-Mahnmal gegen den Krieg und Neubau eingeweiht worden war. Darüber hinaus ist die Madonna in ungezählten Kopien meist in Kirchen verbreitet. Seit 1990 respektive 1995 sind Reproduktionen auch zu sehen in den Kathedralen von Coventry und Wolgograd, dem früheren Stalingrad, seit 1997 auch in der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München. Mitunter sind auch Skulpturen und Reliefs auf der Basis der Zeichnung entstanden. Auf Friedhöfen, in Kirchen und Kapellen, in Jugendprojekten oder Gedenkveranstaltungen von Traditionsverbänden hat sich die Stalingradmadonna etabliert, nach Reuber sind auch Gebäude der evangelischen Kirche benannt. So ehrt beispielsweise auch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge verdiente Mitarbeiter/innen mit seiner Medaille „Madonna von Stalingrad“. Heute steht das auch international rezipierte Bild im Kontext grenzüberschreitender Versöhnungsarbeit und hat sich so – ein häufiges Ergebnis von Metaphorisierungsprozessen – weit von seiner Genese entfernt. Kritische Stimmen finden sich in der vorherrschenden erinnerungskulturellen Narration nur selten.10
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Vgl. Birgit Schwelling: Heimkehr – Erinnerung – Integration. Der Verband der Heimkehrer, die ehemaligen Kriegsgefangenen und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, Paderborn 2010, S. 66–79; Dies.: Gedächtnis, Materialität und Emotion. Die Ausstellung Wir mahnen. Erlebnis ist Aufgabe als Medium der Erinnerung, in: Monika Heinemann et al. (Hrsg.): Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch. Konstruktionen historischer Erinnerungen, München 2011, S. 237–257; Andrea von Hegel: Der Sinnlosigkeit einen Sinn geben. Zur Kriegsgefangenenausstellung des Verbandes der Heimkehrer, 1951–1962, in: Elke Scherstjanoi (Hrsg.): Russlandheimkehrer. Die sowjetische Kriegsgefangenschaft im deutschen Gedächtnis, München 2012, S. 71–90; Peter Jahn (Hrsg.): Stalingrad erinnern. Stalingrad im deutschen und russischen Gedächtnis, Berlin 2003, S. 76f.; Bernd Ulrich: Stalingrad, München 2005, S. 6. 9 Rogg: Seelsorge, 2012, S. 164f. Als ein Beispiel von vielen vgl. Alexander Werth: Rußland im Krieg, in: Der Spiegel, 28.7.1965, S. 38–47, hier S. 38. 10 Siehe etwa den Artikel: Bündnis gegen Antisemitismus Kassel: Kurt Reuber und die Sehnsucht nach dem guten Deutschen, URL: http://bgakassel.wordpress.com/2014/01/25/kurtreuber-und-die-sehnsucht-nach-dem-guten-deutschen, letzter Zugriff: 24.7.2014.
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Harald Schmid
Zum Fundstück Joe Perry, Historiker an der Georgia State University in Atlanta, USA, widmet sich in seinem hier als JPG-Fundstück präsentierten Aufsatz dem Zusammenhang von sozialer Erinnerung und nationaler Identität im Nachkriegsdeutschland. Perry gelingt es, vier Ebenen überzeugend miteinander zu verbinden und zu analysieren: Weihnachten und Militär in Deutschland; Wehrmacht, Stalingrad und die Madonna; die Nachkriegsrezeption; sowie nationale Identität und soziale Erinnerung. Er fragt nach den Mechanismen jenes gesellschaftlichen Prozesses, den er „the construction of a usable past in postwar West Germany“ nennt. In diesem Zusammenhang bestimmt Perry „Kriegsweihnachten“ mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg und dessen zweiter Geschichte als „Erinnerungsort“. Anhand des Fallbeispiels von Reubers Madonna-Zeichnung zeigt er eindrücklich, wie das Bild nach den nationalsozialistischen Versuchen zur völkischen Umdeutung der Weihnachtstradition nach 1945 im Kontext einer Rechristianisierung derselben Teil des ambivalenten westdeutschen Viktimisierungsdiskurses wurde, der sowohl die Integration von etwa 11 Millionen Kriegsheimkehrern sowie von (ehemaligen) Nationalsozialisten beförderte als auch der Verdrängung der NSGewaltherrschaft und deren epochaler Verbrechen inklusive der Beteiligung der Wehrmacht daran zuarbeitete. Perry bewegt sich damit in einem breiten Strom von Forschungen, der sich insbesondere seit Mitte der 1990er-Jahre formierte, nicht zuletzt im Gefolge der Auseinandersetzungen um die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Stets geht es dabei um das Ineinander von Krieg und Nachkrieg, von Gewalttaten und -erfahrungen und deren Verarbeitung in gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen, von Verbrechen und Erinnerung. Durch die große Zahl von Biografien ehemaliger Wehrmachtsoffiziere, von Studien zu einzelnen Aspekten von Wehrmachtseinheiten oder besonderen Frontabschnitten, von Analysen der gesellschaftlichen Integration der Soldaten nach 1945 sowie im Zuge wissenschaftlicher und politischer Debatten ist seither auch für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar geworden, welch gewichtiger soziokultureller Faktor die Rückkehr und heikle Eingliederung der Wehrmachtssoldaten in die deutschen Gesellschaften West und Ost darstellte. 11 11 Vgl. etwa Robert G. Moeller: War Stories. The search for a usable past in the Federal Republic of Germany, Berkeley 2001; Klaus Naumann (Hrsg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001; Frank Biess: Homecomings. Returning POWs and the legacies of defeat in postwar Germany, Princeton 2006; Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 209–279; Svenja Goltermann: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2009; Elena Agazzi, Erhard Schütz (Hrsg.): Heimkehr: Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien, Berlin 2010; Gilad Margalit: Guilt, suffering, and memory. Germany remembers its dead of World War II, Bloomington 2010; Schwelling: Heimkehr, 2010; Norman Ächtler: Generation in Kesseln. Das soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945– 1960, Göttingen 2013.
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Perrys früher Beitrag zu dieser Diskussion um den deutschen Umgang mit der totalen Niederlage und historisch singulären Zäsur von 1945 vermag ihr eine wichtige zusätzliche Dimension zu geben. Sein Hinweis auf die sinnstiftende, am 24. Dezember 1942 in Stalingrad just mit Reubers Madonna-Bild in schwierigster militärischer und menschlicher Lage aktualisierte Tradition des Weihnachtsfestes zeigt die Bedeutung nicht nur der christlichen Zeremonie und Motivik, sondern auch den starken Drang nach solchen Trost spendenden Symbolen. Die nach 1945 übliche allgemeine Rede von der „Sinnlosigkeit“ des angeblich nur Hitlerschen Krieges fand hier einen gegenläufigen Anker zur retrospektiven Sinnkonstruktion des individuellen Leidens. Die spannungsvolle Verschränkung von nationalsozialistischer und Wehrmachts-Kriegsweihnacht mit der ‚Bewältigung‘ dieser Epoche gibt dem Text Perrys seine Signatur. Reubers Madonna-Bildnis durchlief, wie oben angedeutet, eine erstaunliche, den ursprünglichen Stalingrad-Kontext überschreitende metaphorisierende Karriere. Diesen Aspekt streift Perrys Aufsatz nur am Rande, indem er seine These formuliert, Reuber und das Madonna-Bild seien zu zentralen Ikonen des Nachkriegsprotestantismus geworden, Reuber gar zu einem Märtyrer.12 Eine empirische Analyse dieser gesellschaftlichen Rezeption steht noch aus. Die Geschichte der Stalingradmadonna verdient, nicht nur im Zuge des Iconic Turn, weitere vertiefende Analysen, ist sie doch auch Ausdruck, Faktor und Medium eines deutschen Vergangenheitsverhältnisses. Dazu anzustoßen, ist eines der Motive, Perrys Untersuchung hiermit einem primär deutschen Publikum zugänglich zu machen. Der hier erneut veröffentlichte Aufsatz erschien zuerst im Frühjahr 2002 in der Nummer 83 der Radical History Review. Wir präsentieren den Text im geringfügig überarbeiteten Original. Für die Erlaubnis zum Wiederabdruck des Textes danken wir herzlich dem Autor und Diane Grosse von Duke University Press. Unser Dank geht auch an das Lutherische Verlagshaus (Hannover) für die freundliche und entgegenkommende Zustimmung zur Veröffentlichung der Aufnahme von Reubers Bildnis.
12 Vgl. hierzu auch Margalit: Guilt, suffering, and memory, 2010, S. 68.
THE MADONNA OF STALINGRAD: MASTERING THE (CHRISTMAS) PAST AND WEST GERMAN NATIONAL IDENTITY AFTER WORLD WAR II Joe Perry
In August 1983, a charcoal sketch titled the „Madonna of Stalingrad“ was donated in a public ceremony to the Kaiser Wilhelm Memorial Church, the central tourist site in the heart of West Berlin (see figure 1). Drawn in a German bunker by Lieutenant Kurt Reuber, a staff physician and Protestant pastor, during the Battle of Stalingrad in December 1942, the Madonna was flown out of Stalingrad on the last transport plane to leave the surrounded German Sixth Army. Now on permanent display in the Memorial Church, the Madonna of Stalingrad evokes troubling memories of wartime Christmas and the Nazi past while simultaneously offering Germans a way to manage those recollections. The organizers of the 1983 dedication ceremony positioned the Madonna as a symbol of peace and safety (Geborgenheit), and the links between Stalingrad, German victimhood, and the tragedy of world war forged in their rhetoric resonated with Berliners. Observers of the ceremony wrote the Berliner Morgenpost, a popular daily, to describe the „deep impression“ made by the drawing and the „deeply distressing“ memories of Stalingrad it recalled. Just as the United States was stationing nuclear missiles on West German territory, one woman from Berlin drew connections between the escalation of the Cold War and the trauma of World War II, writing that „when I think back full of horror on the terrible years of the war, I wish that all the ruling statesmen in the world, who stand again on the edge of the abyss, would have to stand in front of the Stalingrad Madonna and memorize the words ‚light, life, love‘, so that the insane arms race would end and the world would get true peace and liberty“.1 Even after the official dedication ceremony, the Madonna continued to prompt expressions of popular memory. According to Ruth Niebuhr, who worked in the souvenir stand in the anteroom of
First published in: Radical History Review 83, spring 2002, pp. 7–27. Copyright MARHO: The Radical Historians Organization, Inc. All rights reserved. Republished by permission of the copyrightholder, and the present publisher, Duke University Press, www.dukeupress.edu. I am grateful to the editors of the Jahrbuch für Politik und Geschichte and especially Harald Schmid, for their interest in my work and this article. My friends and colleagues Eve Duffy, Ian Fletcher, Peter Fritzsche, Brent Maner, Joyce de Vries, and the reader for the Radical History Review, were most generous in offering suggestions for the original publication of this essay; I am grateful for their support. 1 „Stalingrad-Madonna“ hat tiefen Eindruck hinterlassen, in: Berliner Morgenpost, November 21, 1983; compare to readerʼs letters, in: Welt am Sonntag, October 2, 1983.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 223–243
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the church, repeat visitors to the Madonna included „visibly moved women“ who whispered „my husband also fell at Stalingrad“. 2 In this essay, I fold back these layers of memory and myth that surround Reuberʼs Madonna and Christmas at Stalingrad, to address larger questions about popular memory and the construction of a usable past in postwar West Germany. In the late 1940s and 50s, what the Nazis called „war Christmas“ (Kriegsweihnachten) became a powerful „site of memory“, an event invested in shared memories with symbolic significance for the construction and contestation of national identity.3 For the postwar generation, memories of „war Christmas“ and especially Christmas at Stalingrad were particularly useful as a way of remembering the past in order to come to terms with the present. West German poets, priests, and politicians, as well as a number of authors and filmmakers, returned repeatedly to wartime Christmas scenes to conjure a vision of national continuity that overcame the burdens of the immediate past. Reuber and his sketch became integral figures in a myth of the Christmas past focused on the suffering and victimization of the ordinary soldier. In postwar memory at least, wartime celebrations of this „most German“ holiday hinged on apolitical values of community, comradeship, and Christian fellowship, rather than the ideology of National Socialism. These reworked Christmas memories offered postwar West Germans a means to construct a viable national identity based on shared suffering and allowed them to evade personal responsibility for National Socialism.4 This was the dominant message purveyed in the Madonna dedication ceremony of 1983, and this essay opens with an analysis of how the contemporary framing of the sketch promotes a narrative of suffering and forgiveness that ignores other possible readings of the Madonna and the events surrounding its production. I then examine the way the events of Stalingrad Christmas sustained multiple readings and appropriations, at first by soldiers at the battle itself, who used the traditional rituals of military celebration to cope with a hopeless situation, and then by Nazi propagandists, who developed their own myth of Stalingrad Christmas. Finally I consider postwar cultures of wartime memory centered on Christmas. Examples from popular reportage, memoirs, novels, and films from the late 1940s and 1950s show how memories of Christmas at Stalingrad were reused and sometimes misused by a variety of
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Madonna aus Berlin soll nach Stalingrad, in: Berliner Morgenpost, December 25/26, 1988. Indeed, the myth of the Madonna was kept alive after its dedication in articles in the annual Christmas issues of Berlin papers and in church attempts to give a copy of the drawing to the Archbishop of Volgagrad (former Stalingrad) in 1988. See Pierre Nora (ed.): Realms of Memory. Rethinking the French Past, trans. Arthur Goldhammer, 3 vols., New York 1996. Recent studies of Nazism and German society have underscored the importance of the way myths of victimhood are constructed and whom they serve. Omer Bartov argues for example that „Germans experienced the last phases of World War II and its immediate aftermath as a period of mass victimization“. Omer Bartov: Defining Enemies, Making Victims: Germans, Jews, and the Holocaust, in: American Historical Review 103 (1998), pp. 771–816, here p. 788; Elizabeth Heineman: The Hour of the Woman: Memories of Germanyʼs ‚Crisis Years‘ and West German National Identity, in: American Historical Review 101 (1996), pp. 29–60.
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interests. In postwar popular culture, the narratives of victimhood linked to what one author called „black Christmas at Stalingrad“ had widespread appeal, because they forgave and even sanctified the sacrifices made by the German people during the war.
Kurt Reuber: Madonna of Stalingrad, 1942; in the Kaiser Wilhelm Memorial Church, Berlin. © Lutherisches Verlagshaus, Hannover
The question of how Germans continue to process their responsibility for the crimes of the Nazi period – how they master the unmasterable past, as Charles Maier put it – has been a central issue in German historiography. Studies of the way collective memory and commemoration shape national identity, however, generally focus on public memory, memorials and the built environment, and the role of state institutions and elite cultural leaders.5 The memory practices of eve5
Charles S. Maier: The Unmasterable Past. History, Holocaust, and German National Identity, Cambridge 1988. For an important analysis of the often exculpatory „war stories“ West Germans told in the postwar period see Robert G. Moeller: War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley 2001. For a selection of just some of the recent work on German memory see also Andreas Huyssenʼs analysis of the „memory boom“ in Germany in the last twenty years in: Twilight Memories. Marking Time in a Culture of Amnesia, New York 1995; Klaus Neumann: Shifting Memories. The Nazi Past in the New
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ryday life tend to be subsumed in the larger context of public actors. Reuberʼs Madonna, for example, bears a remarkable similarity to Käthe Kollwitzʼs sculpture of the Pieta, the centerpiece of the Neue Wache (New Guardhouse) in Berlin, Germanyʼs „Central Memorial to the Victims of War an Tyranny“. But while Kollwitzʼs Pieta and the Neue Wache – an officially sanctioned site of commemoration – have received repeated attention from historians, Reuberʼs Madonna, a monument to vernacular memory, has been overlooked.6 The Madonna has been ignored by historians, but not by ordinary Germans, as they come to grips with their memories of the war. The drawing offers a point of entry for the analysis of the symbolic terms of national reconstruction of postwar West Germany on the level of popular memory and popular culture. Christmas at Stalingrad with Lieutenant Reuber, his Madonna, and his comrades, would lend itself to multiple reconstructions following World War II, as West Germans sought to construct a viable national identity that could encompass their difficult past.
The Stalingrad Madonna between myth and memory Lieutenant Reuberʼs Madonna sends a mixed message to the some 2000 tourists who visit the Kaiser Wilhelm Memorial Church each day. Hanging in the bluetinged light of the Memorial Church, the Madonna signals German repentance and a desire for reconciliation with the past. The preserved ruins of the late nineteenthcentury Memorial Church tower, destroyed by allied bombing raids, are one of West Berlinʼs central landmarks, meant to remind viewers of the cost of war; the Church itself is formally dedicated to „the will to peace in this city and in the entire world“.7 The Madonna is a fitting relic for this sacred space, but it is not a simple testament to a German desire for world peace. A product of the battle that Germans remember as the greatest tragedy of the war, the Madonna also testifies to the complex tensions of everyday life in the Nazi period, when „ordinary peo-
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Germany, Ann Arbor 2000; Jeffrey Herf: Divided Memory. The Nazi Past in the Two Germanys, Cambridge 1997; Rudy Koshar: Germanyʼs Transient Pasts. Preservation and National Memory in the Twentieth Century, Chapel Hill 1998; and on historical approaches to memory in general Peter Fritzsche: The Case of Modern Memory, in: Journal of Modern History 73 (2001), pp. 87–117. On the Neue Wache see among others Brian Ladd: The Ghosts of Berlin. Confronting German History in the Urban Landscape, Chicago 1998, pp. 217–224; Wallis Miller: Schinkel and the Politics of German Memory. The Life of the Neue Wache in Berlin, in: Scott Denham, Irene Kacandes, Jonathan Petropoulos (eds.): A Userʼs Guide to German Cultural Studies, Ann Arbor 1997, pp. 227–256; and Harold Marcuse: The National Memorial to the Victims of War and Tyranny: From Conflict to Consensus, paper presented at the German Studies Association Conference, September 25, 1997; the text of the paper and other materials related to the Neue Wache at URL: http://www history.ucsb.edu/faculty/marcuse/gsa.979.htm, last accessed: June 29, 2001. Quoted in: Symbol für die Sehnsucht nach Geborgenheit, in: Hamburger Abendblatt, August 27/28, 1983.
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ple“ made „choices among the various greys of active consent, accommodation, and non-conformity“. 8 Christmas itself was hardly immune from nazification: the Madonna in fact reveals the ambivalent effects of National Socialist attempts to transform Germanyʼs foremost holiday into „war Christmas“ appropriate to a nation engaged in total war. The three by four foot sketch depicts Mary wrapped in a large shawl, holding the infant Jesus close to her cheek. On the right border, Reuber penciled in the words „Light, Life, Love“, from the gospel of St. John, a quote that connotes Reuberʼs training as a pastor as well as his longing for home and family. The men in Reuberʼs unit, who celebrated Christmas around the sketch, could take comfort from this image of Mary, the universal mother who takes her followers into protection under her cloak. This is an image of Christian mercy, but it is also mapped by the language of National Socialism. On the left of the sketch, Reuber wrote „Christmas in the Cauldron 1942“, and on the bottom, „Fortress Stalingrad“. Cauldron or „Kessel“ is the German word for an encircled military area, and Fortress Stalingrad the label for the encircled army promoted in the Nazi press. Thus the drawing expresses both the nazified, masculine language of war and the private, more feminine language of family and Christian love. This duality exemplifies what Adelheid von Saldern has called the „apparently productive synthesis between the ‚public‘ and the ‚private‘“ that typified everyday life in the National Socialist „peopleʼs community“ (Volksgemeinschaft).9 My reading of the Madonna is intended to uncover the ambivalence of the drawing, but this is not the dominant narrative that emerges from its display in the Memorial Church. Instead of recognizing the several alternate mappings of the past embodied in its language and iconography, the presentation of the Madonna reminds viewers of the victimhood, not the disturbing complicity, of the ordinary German soldier. By the time the drawing was donated to the Church in 1983, this understanding of the Madonna had a well established history that stretched back at least to 1945, if not to the war years themselves. In a number of novels, memoirs, and reportage published in the twenty years following the war, Reuber had come to symbolize the ordinary German soldier as a Christian caught up in a war he neither wanted nor believed in. Despite his inner dissent, however, this rehabilitated soldier never abandoned his post. Reuber remained in Stalingrad until he was taken prisoner by the Red Army; out of loyalty to comrades and to the „homeland“ (Heimat), but not to National Socialism, he performed his duty to the end. Cast as an apolitical pastor and doctor, Reuber became a victim of a brutal regime. His death in a Soviet POW camp underscored his status as victim, not only of the Nazis, but of the Russian Communists as well, a conflation that well 8 9
Detlev Peukert: Inside Nazi Germany. Conformity, Racism, and Opposition in Everyday Life, New Haven 1987, p. 243. Adelheid von Saldern: Victims or Perpetrators? Controversies about the role of women in the Nazi state, in: David F. Crew (ed.): Nazism and German Society 1933–1945, New York 1994, p. 151. On the language of National Socialism see Victor Klemperer: The language of the Third Reich: LTI, Lingua Tertii Imperii: a philologistʼs notebook, trans. Martin Brady, London 2000.
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suited the Cold War politics of both the postwar decades and the early 1980s. In short, Reuber and his Madonna became central figures in a reconstituted myth of Nazi „war Christmas“ centered on the victimhood and suffering of the ordinary soldier, and indeed are paradigmatic of the sort of vernacular memory work that occurred in the first decades following the war. The transfer of Kurt Reuberʼs Stalingrad Madonna to a place of honor in the preserved ruins of West Berlinʼs Memorial Church in 1983 marked a significant public affirmation of popular Christmas myths. After encouragement from conservative publishing magnate Axel Springer, Reuberʼs surviving children agreed to donate the Madonna to the Church. The dedication ceremony was attended by Springer, Reuberʼs three children, and Hohenzollern Prince Louis Ferdinand (in his role as chair of the Memorial Church Board of Trustees). During the ceremony, the audience listened to the story of the drawingʼs production at Stalingrad. In his dedication speech, Board of Trustees business director Horst Gunter concluded that the picture was a symbol of the human desire for comfort (Geborgenheit), „an expression of hope found in the depths of [Reuberʼs] own passion“. 10 Despite appeals to universal human values, the ceremony and the public framing of the drawing evoke the specific suffering and victimhood of the German soldier. A placard accompanying the Madonna explains the circumstances of its creation and concludes that „[t]hese three words [light, life, love] became a symbol of the will to live for hundreds of thousands. With this hope in their hearts began the indescribable suffering of a dying army as Russian prisoners of war.“11 Furthermore, the drawing- hangs next to the so-called „Martyrʼs Tablet“ that commemorates Protestant clergy persecuted by the Nazis, donated by Otto Dibelius, the Bishop of Berlin and a member of the Confessing Church during the war. The Madonna and the didactic material around it positions the invading German soldiers as suffering martyrs, whose „will to live“ had been crushed between the totalitarian systems of Communism and National Socialism. This understanding of the Stalingrad Madonna could readily draw on the sentiments expressed in Reuberʼs personal letters, written to his family during Christmas 1942 and flown out with the drawing in January 1943. Reuberʼs Christmas Eve on the Stalingrad front in 1942 is the archetypal primal scene, the Urbild of the postwar myth of „war Christmas“. 12 His words underscore the religiosity, sentimentalism, and suffering of the ordinary German soldier. „I went to all the bun10 Symbol für die Sehnsucht nach Geborgenheit, in: Hamburger Abendblatt, August 27/28, 1983. 11 Madonna aus Berlin soll nach Stalingrad, in: Berliner Morgenpost, December 25/26, 1988. 12 The letters quickly became a key part of the Stalingrad myth, reprinted time after time in postwar books, newspaper articles, and highly selective collections of soldiersʼ mail. See for example Arno Pötzsch: Die Madonna von Stalingrad. Ein Gedenken vor der Weihnachtsmadonna von Stalingrad, Hamburg 1946; Walter Bähr, Hans W. Bähr (eds.): Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939–1945, Tübingen 1952, pp. 193–200. It is worth noting that in the reproduction of the Madonna that accompany Reuberʼs letters in the Bähr edition, the words „Festung Stalingrad“ do not appear on the bottom of the drawing, perhaps an attempt to divorce Nazi language from Christian symbolism.
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kers, brought my drawing to the men, and chatted with them“, Reuber wrote, „How they sat there! Like being in their dear homes with mother for the holiday.“ Later Reuber hung the drawing in his bunker for his unit celebration, which he described as a moment of Christian devotion shared by all the soldiers in his command. „When according to ancient custom I opened the Christmas door, the slatted door of our bunker, and the comrades went in, they stood as if entranced, devout and too moved to speak in front of the picture on the clay wall (…) The entire celebration took place under the influence of the picture, and they thoughtfully read the words: light, life, love (…) Whether commander or simple soldier, the Madonna was always an object of outward and inward contemplation.“13
According to Reuber, the Madonna touched the deep religiosity of its viewers. The drawing „became a symbol of the desire for all that which is outwardly so lacking and which in the end can only be discovered in our most inner depths (…) the eternal but earthly moment of solace between mother and child“.14 As one noted historian put it, Reuberʼs letters are „a vivid description of Christmas celebrations in the bunkers of the city of Stalingrad“.15 This may well be true, but such comments also underscore the difficulties involved in untangling the sentimental threads of history, memory, and myth, that circulate around the Madonna of Stalingrad. Reuberʼs account did indeed capture something of the experience of Christmas in the Stalingrad „cauldron“, but it quickly became inseparable from various mythical appropriations of the event, first by Nazi propagandists and then by West German culture-makers in the postwar period. But how accurate is Reuberʼs story? Before turning to these appropriations of „war Christmas“, it is worth examining what we actually know about Christmas at Stalingrad in December 1942.
Really quite festive: The Christmas of the ordinary soldier The popular resonance of memories of Stalingrad Christmas and their availability for various appropriations can be traced to the multiple meanings contained in the event itself. For the individual German soldier and his family, wartime Christmas, and especially Christmas at Stalingrad, could be a personal tragedy. Numerous 13 Bähr, Bähr (eds.): Kriegsbriefe, 1952, pp. 194, 200. An eye-witness from the celebration confirmed Rueberʼs account, noting that „the Staff Doctor led his men into a bunker“ where they stood in the crowded room in front of the Madonna. „An uncanny view, the flickering candle light. (We stood) Silent, with eyes wide open. The picture emanated a ghostly calm: security (Geborgenheit) (…) The picture wouldʼt leave us alone. Many eyes were damp, there were tears (…).“ Quoted in: Jochen Kummer: Weihnachten in Stalingrad, in: Welt am Sonntag, November 22, 1992, p. 29. 14 Bähr, Bähr (eds.): Kriegsbriefe, 1952, p. 200. 15 Wolfram Wette: Das Massensterben als „Heldenepos“. Stalingrad in der NS-Propaganda, in: Wolfgang Wette, Gerd R. Ueberschär (eds.): Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt am Main 1992, p. 274, fn. 35.
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first-hand reports from the battle describe tenuous attempts to celebrate a „German“ Christmas in the hopeless conditions of the „cauldron“, the increased religious awareness of the ordinary soldier at Christmas time, and the comradely fellowship of German troops during makeshift festivities. These multiple personal memories gave weight to collective reconstructions of „war Christmas“ as a time of victimization, political innocence, and even resistance to National Socialism. But the constant retelling of wartime Christmas memories in the postwar period erased as much as it preserved. Surviving documents from the battle contain little to suggest that Christmas was incompatible with ideologies of National Socialism or that increased religiosity inspired expressions of dissent or resistance, even at Stalingrad. Conditions on the battlefield were hardly conducive to festive expressions of holiday cheer. By mid-December, Field Marshall Friedrich Paulus and the general staff of the Sixth Army knew that the army was more or less doomed. After the Soviet encirclement on November 21, Paulus had asked for and been refused permission to break out of the „cauldron“ on his own. The strategic „Christmas gift“ promised by General Manstein, a relief thrust from the south intended to break through the Soviet lines, was halted on December 23. The air force could only deliver a fraction of the required materials, including food, fuel, and ammunition, so daily life for the troops became increasingly hopeless. Food was scarce, and many troops had no winter clothing. Around Christmas, matters became decidedly worse. Reports from the army quartermaster note that heavy snow storms prevented supply planes from landing behind the German lines from the afternoon of December 23 until the night of December 25/26. On December 24 the quartermaster realized bread rations would need to be cut from 100 to 50 grams per day, but withheld this information from the troops until the 26th, if only to preserve the holiday spirit. On Christmas Eve, the quartermaster reported 64 casualties from starvation.16 Under such conditions, the holiday was decidedly grim. Nonetheless, soldierʼs personal accounts of Christmas at Stalingrad reveal the importance of some sort of improvised celebration. The core of wartime celebration depended on a culture of military festivity rooted in the barracks culture of the ordinary soldier dating back to the Franco-Prussian War (1870–1871) and World War I. These hybrid celebrations included a distinct set of masculinized ritual practices, with partying and entertainment that preserved something of the topsy-turvey and drunken rowdiness of working-class festivity. Through countless descriptions in the popular press and in propaganda, the idea of military celebration and a „typical“ soldierʼs wartime Christmas was a familiar image in German mass culture; from 1914 to 1945, after all, fully one of every three German Christmases had been celebrated during a World War. Popular conceptions of „war Christmas“ included stereo16 Kriegstagebuch, Festung Stalingrad, Quartermasterʼs Reports, November 22, 1942 – January 21, 1943, pp. 49–53, Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), RH20-6/794. On January 21, the quartermaster reported that „it has been established that troop morale is considerably improved when they simply hear the engine noise of the aircraft“, p. 79.
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types of sentimental but still boisterous military rituals, improvised hand-made decorations, exchange of mail between home and front, expressions of soldierly comradeship, and even tears of longing in the eyes of homesick men during frontline celebrations. These key tropes – all reproduced in Reuberʼs familiar, almost generic account of Christmas at the front – provided a model of expectations for soldiers at the front. At Stalingrad, however, attempts to preserve something of the traditional army celebration faltered. Numerous letters written home by ordinary soldiers, many of which were never delivered, show that Christmas in the „cauldron“ mingled happy memories of previous holidays with hopes for rescue and bitter acknowledgment of despair. One soldier simply wrote his aunt that „things here are totally crappy and I will never forget this Christmas and New Years“. 17 Many wrote about the bad food and lack of mail; others told of soldiers who broke down and wept during holiday celebrations.18 Still the holiday was important enough that makeshift celebrations like Reuberʼs could inspire the sought-after „Christmas mood“ (Weihnachtsstimmung) despite the difficult conditions. As one officer wrote, the ten surviving officers of his unit observed Christmas with the help of a tree sculpted out of scrap wood, decorations made with tin foil from cigarette wrappers, and a holiday dinner of beef liver, bread, and coffee. After singing „the well-known Christmas songs“, the officer remarked, the evening was after all „really quite festive“. 19 Christmas in the crisis conditions of Stalingrad apparently evoked an intense sense of religiosity among some soldiers, according to chaplains active in the battle. The clergy was certainly active during the holiday season. Chaplains of both faiths held holiday services, visited field hospitals, distributed makeshift gifts, befriended the unhappy, and so generally carried out their normal duties. A main concern was getting soldiers into Christmas services; one clergyman proudly noted that in twenty-eight masses between 23 and 27 December he had reached 108 officers and 2650 enlisted men.20 Soldiers were reportedly eager to get Christmas literature and songbooks and participate in holiday masses; one soldier commented that the Christmas prayer was the most beautiful ever he had ever heard.21
17 Many soldiersʼ letters were released from Russian archives only after 1991. This quote from Antoly Golovchansky et al. (eds.): „Ich will raus aus diesem Wahnsinn“. Deutsche Briefe von der Ostfront 1941–1945, Reinbek bei Hamburg 1993, pp. 161–162, 164. 18 For example see quotes in Timothy W. Ryback: Stalingrad. Letters From the Dead, in: The New Yorker, February 1, 1993, pp. 65, 66; cf. army radio man Max Plakolbʼs memories of Stalingrad Christmas: Eine Distel als Weihnachtsbaum, in: Heinz Blaumeiser, Eva Blimlinger (eds.): Alle Jahre wieder... Weihnachten zwischen Kaiserzeit und Wirtschaftswunder, Wien 1993, pp. 172–179; and Golovchansky: Ich will raus, 1993, p. 162. 19 Letter of January 12, 1943, in: Golovchansky: Ich will raus, 1993, pp. 212–214, 213. 20 Auszug aus einem Bericht des Kriegspfarrers Ebert, ev. Divisionspfarrer der 14. Pz. Div. aus Stalingrad vom 30.12.1942, BA-MA, RW4/264, p. 208. 21 Auszug aus einem Bericht des Kriegspfarrers Altmann, kommandiert zur 113. I. D. aus Stalingrad vom 30.12.1942, BA-MA, RW4/264, p. 213.
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According to one Protestant chaplain, many of the enlisted men at Stalingrad were conscious for the first time of the deepest spiritual meaning of the birth of Christ. „The value of religious care“, he wrote, „has probably seldom been so quickly recognized as now in the time of encirclement. This was especially apparent during the Advent and Christmas celebrations, when so many of the outward trappings [of the normal holiday] had to be renounced. Here the most inner meaning of Christmas came to have much more validity than in other years.“22
First-hand accounts of Christmas in the „cauldron“, from soldiers and clergy alike, reveal that the key component of the Stalingrad Christmas myth – the community of soldiers celebrating a non-Nazi, Christian holiday – has some validity. Yet there is little to show that the holiday evoked ideological resistance to Nazism, as postwar memories would insist. Nor did the holiday appear incompatible with the larger goals of the German military or the Nazi state. The chaplains describe hunger, deprivation, and distress, and even minor acts of disobedience committed by the troops, most notably acts of petty thievery (especially of food). But the turn towards the comfort of religion, widespread as it might have been, hardly encouraged dissent in the ranks. Instead, the general impression made by the activities of the military clergy is that they added to rather than detracted from the armyʼs stability and willingness to continue fighting. The inclusion of material by army chaplains in the official Nazi archives underscores this interpretation. The gloomy feelings expressed by enlisted men in private letters further suggests that though soldiers felt victimized by events, they rarely questioned the legitimacy of Nazi ideology, even when they anticipated defeat and death in the near future. Surviving documents from the Fourth Panzer Army High Command mail censorship office, which vetted soldiersʼ mail, conclude that ordinary solders remained remarkably loyal. During the Christmas season, the head of the office wrote that though „many letters were written while crying, and many times the letter in question is a farewell letter“, in seventy percent of checked letters the mood of the soldiers remained positive.23 Where one might expect some mention of minor acts of dissent or resistance, as portrayed in the postwar myth of Stalingrad Christmas, the censor reported the opposite: „faith, belief, and trust in the Führer“ survived the „test“ of the defeat surprisingly well.24 Nor did German soldier succumb to increased Soviet propaganda during the holiday season. Attempts by Red Army propaganda companies to encourage desertion by exploiting the depressed mood at Christmas time, via leaflets and the broadcast of revised Ger22 Auszug aus dem Bericht des ev. Divisionsspfarrers der 60. (mot.) Div. (Wehrmachtpfarrer, Hauptmann d. R. Czygan) aus Stalingrad vom 8. Januar 1943, BA-MA, RW4/264, p. 205. 23 Three of these censorship reports on soldiersʼ mail from Stalingrad prepared by the Feldpostprüfstelle des Panzer-Armeeoberkommandos 4 (originals in BA-MA, RW4/264) are reprinted in Wolfram Wette: „Unsere Stimmung ist auf dem Nullpunkt angekommen“. Berichte von Feldpostprüfstellen über die „Kessel-Post“, in: Wette, Ueberschär (eds.): Stalingrad, 1992, pp. 92–101, here p. 96. 24 Bericht der Feldpostprüfstelle des Panzer-Armeeoberkommandos 4 über die Post aus dem Kessel von Stalingrad, 30. Dezember 1942–16. Januar 1943, in: Wette: „Unsere Stimmung“, 1992, p. 97.
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man carols from loudspeaker trucks, apparently had little effect.25 At the same time, German censorship reports make clear that the holiday season was something of a breaking point for many soldiers: hopes for rescue collapsed after the holiday and „letters [written] after 1 January testify to a fundamental decline in confidence“. 26 In short, in contradiction to postwar memory, Stalingrad Christmas seems to have been a moment of renewed faith in the Nazi project, or at least a distraction from the horrors of the „cauldron“, followed by a plunge into despair. What was supposed to be a private, „family“ celebration, even in the military, engendered popular support for the nationalist agendas of fascism, even when it resisted the most determined acts of political appropriation.
The golden bridge: Stalingrad Christmas in Nazi propaganda Military celebrations of „war Christmas“ had been a central figure in the German national imaginary at least since the Franco-Prussian War. Christmas during wartime, so numerous stories went, constructed a „golden bridge“ that united Germans otherwise divided by region, religion, and class, and purportedly created bonds of memory and longing between home and front, between German men (soldiers/husbands) and women (mothers/wives). This national myth had fortuitous origins in the Franco-Prussian War, when German troops celebrated a particularly chauvinist Christmas just before they broke the siege of Paris in December 1870. The Christmases of World War I and again in the initial years of World War II confirmed the connections between „war Christmas“ and popular support for the national cause.27 An idealized image of „Christmas in enemy territory“ had long been a staple of National Socialist propaganda, and in 1942 the Nazi leadership moved quickly to appropriate Christmas at Stalingrad, constructing its own holiday myth that wove traditional holiday stories about German unity with newer themes of sacrifice and „holding out“ (Durchhalten). The elements of this version of „war Christmas“, drawing as they did on well-known traditions, would persist in popular memory long after the end of the war. The collective „fate“ of the nation at Stalingrad resonated during homefront Christmas celebrations in 1942 and were in fact fundamental to this reputedly private, domestic ceremony. According to the internal Security Service, a branch of the secret police (Gestapo) responsible for monitoring public mood and opinion, ordinary Germans waited „on the hour“ for special updates on the course of the battle during the holiday season.28 Rumors about possible encirclement surfaced in the weeks before Christmas, as doubts increased about the veracity of of25 See Erich Weinert: Erziehung vor Stalingrad. Fronttagebuch eines Deutschen, New York 1943, p. 23. 26 Bericht der Feldpostprüfstelle des Panzer-Armeeoberkommandos 4, p. 98. 27 For further details see Joseph B. Perry: The Private Life of the Nation. Christmas and the Invention of Modern Germany, Ph.D. diss., University of Illinois at Urbana-Champaign, 2001. 28 Heinz Boberach: Stimmungsschwung in der deutschen Bevölkerung, in: Wette, Ueberschär (eds.): Stalingrad, 1992, p. 61.
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ficial news; in response, the Nazi press undertook an extensive misinformation campaign. Official news bulletins described the failure of the „break-out“ attempt just before Christmas and the increasingly desperate conditions in the „cauldron“ as heroic fighting and continued repulsion of enemy attacks. In fact, news of the successful Soviet encirclement of the German Sixth Army – on November 21, 1942 – was made public, quite obliquely, only on 16 January 1943. Speaking to popular fears, Propaganda Minister Joseph Goebbels delivered his annual holiday radio speech on Christmas Eve, 1942. Broadcast across Germany and to troops on military fronts, including Stalingrad, Goebbelsʼs text exemplifies the Nazi appropriation of „war Christmas“ as a moment of fraternity and sacrifice. Goebbels invoked that most venerable cliché, the „golden bridge“ that supposedly linked home and front during the holiday season. Claiming that combined national effort would allow „the hurtful wounds of today to become the honorable scars of tomorrow“, the propaganda minister argued that Christmas epitomized the unity of the German Volk (people). He praised the sacrifice of life for the future of Germany and offered special words of consolation to German mothers: „How happy is the soldier out there, because his family lives in quiet security. This is what he fought for. He places his life on the line, so that the life of his Volk remains protected.“ In an unusual concession to religious feeling, Goebbels called on „the all-mighty“ to protect Volk and Führer and asked God to ensure victory and a „better peace“ for „tortured mankind“. 29 The infamous Stalingrad Radio Broadcast (Stalingrad Ringsendung) of Christmas Eve 1942 – a regime attempt to make the „golden bridge“ more concrete in the minds of the radio audience – is now seen as an egregious example of Nazi propaganda.30 But it was a crucial part of the experience of Christmas in 1942 for millions of Germans, who gathered around their radios more than ever, in part in response to the lack of newspapers printed on the actual holidays.31 As in previous years, the 1942 holiday broadcast purportedly linked German soldiers on a variety of fronts in Christmas greetings and song. A series of radio calls and responses from various military posts – Stalingrad, but also Lapland, southern France, the Gulf of Biscayne, Leningrad, the English Channel, Crete, and so on – climaxed in a collective rendition of „Silent Night“, Germanyʼs favorite Christmas carol, from all fronts. The dramatic radio show described „war Christmas“ at Stalingrad, where cheerful front-line soldiers made merry around a decorated tree,
29 Durch Kampf und Arbeit zum Sieg und zum Frieden: Reichminister Dr. Goebbels sprach zu den Deutschen an der Front, in der Heimat und in aller Welt, in: Völkischer Beobachter, December 25/26/27, 1942, pp. 1–2. 30 According to the Völkischer Beobachter, the special broadcast showed that „the miracle of technology has once again triumphed over space and time“. Ibid., p. 2. 31 There were some 15 million registered radio uses in Germany in 1942. For background on the Ringsendung, see Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, Frankfurt am Main 1996, pp. 170–171.
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even as the Red Army tried to „disturb“ German celebrations.32 Though many of the connections were faked on sound stages in Berlin, the broadcast effectively used the kitsch and sentimentalism of „German war Christmas“ to link home and front and connect nation, Volk, and family in a „community of fate“ (Schicksalsgemeinschaft). According to Security Service reports, the public responded positively to this interweaving of the holiday spirit with nationalist themes of unity and sacrifice. In the context of suspicion and growing recognition of defeat, Christmas had a more serious tone in 1942 for many Germans; the Security Service was satisfied that the „press and radio, in numerous contributions, knew how to direct the vision of the audience inward by appealing in a slogan free, dignified manner to bearing and spiritual values“. 33 Goebbelsʼs speech in particular „struck the right tone and spoke to the heart“.34 His rather somber Christmas message seemed to fit the mood of the general population and the warning of the struggle to come resonated with public suspicions that victory had been spoken of too easily in the years before; women were especially touched by the speech.35 The Security Service noted that the sound of the soldiersʼ voices from Stalingrad, broadcast during the Ringsendung, reassured listeners that though the rumors about encirclement might be true, the troops in the city had not surrendered.36 These accounts suggest that Christmas 1942 was a peak experience for the German people. Recollections of „war Christmas“ after the end of the war would continue to draw from the images of national collectivity, sacrifice, and „spirituality“ promoted in wartime propaganda.
Rechristianizing Christmas in postwar West Germany In the immediate postwar period, Germans would again use Christmas to reconstitute a sense of national fellowship, as they had in the late-nineteenth century, in World War I, and in the mid-1930s. Christmas in the postwar period served a diverse range of goals. Both East and West German politicians used this „most German“ holiday to promote competing official national identities and remember the experience of war. In his annual Christmas speeches from 1949 to 1962, for example, West German Chancellor Konrad Adenauer remembered the German victims of the war and National Socialism and promoted the Christian values of the new Federal Republic. Citing the „thousands of German slave laborers and forced workers“ still in the Soviet Union and the German exiles forced out of for32 Weihnachtsringsendung von allen Fronten, broadcast on December 24, 1942, Deutsches Rundfunkarchiv, Archivnummer 2570043. For a comparison from 1940 see: Deutsche Weihnacht 1940, from December 24, 1940, Deutsches Rundfunkarchiv, Archivnummer 2955859. 33 Hans Boberach (ed.): Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Herrsching 1984, p. 4599. 34 Ibid., p. 4598. 35 Ibid., p. 4600. 36 Ibid., p. 4601.
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mer East Prussia by the Communist „occupation“, Adenauer repeatedly expressed his desire to „preserve a German, Christian holiday“ as a way to differentiate the Federal Republic from the Nazi past and the East German Communist present.37 At the same time, in everyday celebration, West German families turned increasingly toward domesticity and consumption, rebuilding their personal histories even as they shaped the consuming family that would be a fundamental building block of liberal capitalism under the Christian Democrats.38 Christmas further offered ordinary Germans one solution to what was perhaps the most difficult problem of the recent past: how to deal with the wartime role of the „simple soldier“ and his responsibility for the criminality of National Socialism. Official and unofficial representatives of the postwar Protestant Church helped develop a revised myth of „war Christmas“ by exaggerating the religiosity of the ordinary soldier. At the heart of this project was the rechristianization of Christmas, which marked a break with Nazi attempts to turn the holiday into a celebration of the pagan Volk. Numerous writers described the wartime holiday using religious tones and language, telling of almost sacred events that supposedly occurred during the holiday season. This was at once a way to present the Churchʼs own difficult Nazi past in the best possible light, while appealing to popular understandings of the war by forgiving and even sanctifying the sacrifices made by the German people. The conventional associations of Christmas with Christian „peace on earth“, family, and German tradition, helped Germans remember the soldier as victim, not perpetrator, of Nazism. Kurt Reuber and the Madonna of Stalingrad became central icons in this rechristianized version of „war Christmas“. Yet postwar memories of Stalingrad Christmas hardly escaped the impact of Nazi propaganda, which provided some foundation for a usable, non-Nazi past; narratives of comradely holiday heroism played well into any political ideology. The drawing of the Madonna and Reuberʼs letters were published shortly after the war, notably in Navy chaplain Arno Pötzschʼs apologetic book of poetry entitled The Madonna of Stalingrad (published in 1946 and still sold in the museum shop at Berlinʼs Memorial Church).39 Pötzschʼs book of poetry, with reprints of the Madonna and other drawings (Reuber also drew sketches of his fellow officers) however is the immediate foundation of the myth that turned Reuber into a martyr for German Protestantism. Pötzschʼs verse purports to capture the feeling of being at Stalingrad and combines religious faith and notions of martyrdom with steadfastness in the face of certain defeat. In his introduction, Pötzsch notes that he wrote these verses „in the field“ during Christmas 1944. Perhaps this is why the text hardly questions National Socialism or the legitimacy of the German war aggression against the So-
37 Konrad Adenauer: Nachdenken über die Werte. Weihnachtsansprachen, ed. by Walter Berger, Buxheim/Allgäu 1976, no page numbers, first quotation from Adenauerʼs Christmas speech of 1950; second quotation from 1952. 38 See Erica Carter: How German Is She? Postwar West German Reconstruction and the Consuming Woman, Ann Arbor 1997. 39 Pötzsch: Die Madonna von Stalingrad, 1946.
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viet Union. Instead, Pötzsch fits Christian themes into a defense of the „Reich“, a rhetorical stance that could support Nazism or postwar West German Christian Democracy. Sounding very much like a Nazi radio broadcaster, Pötzsch wrote that during Christmas 1942 „our gaze was steadfastly focused on the East/where true to your oath, at lost posts/you [soldiers] fought to the death for the Reich“. 40 Pötzsch tells how Reuberʼs Madonna, a symbol for Christian faith, helped the lost soldiers find comfort in Godʼs mercy: „With burning eyes they drank it in/they, who knew that they must die/and now realized that they would live.“41 The poetry cycle exemplifies the way the postwar turn towards Christianity, embodied in the Christmas Madonna, effectively turned the German soldiers into victims who find comfort in God. „The Mother of God of Stalingrad – so she came, the Mother full of mercy/to the poorest of the poor on the holy night/because the Mother still always thinks of the poorest/she came to the German soldiers.“42 Thus by 1946, associations between German suffering, God, and redemption were already sharply etched into the Madonna of Stalingrad, underscoring the ideological malleability of the soldierʼs Christmas but also its close links to the Nazi past. The confluence of Nazi myth and postwar Christmas memory under the aegis of rechristianization is further demonstrated in the work of Heinz Schröter, a lieutenant in a propaganda company at Stalingrad. Schröter was flown out of the „cauldron“ before the end and was given the task of writing a report on the battle for public distribution by the Propaganda Ministry in 1943; to this end, he was allowed access to official and individual reports about the battle. When finished, however, the report was too revealing. Goebbels forbade publication, reportedly calling Schröterʼs work „unbearable for the German people“. 43 Schröter published his report as Stalingrad – „To the Last Bullet“ only in 1953.44 This book of „Iwas-there“ style reportage includes some of the most spectacular fantasies about the rechristianization of „war Christmas“ at Stalingrad; Schröter readily travels the border between fact and fiction, which doubtless helps account for the enduring appeal of his book. After a description of the general conditions of deprivation that typified Christmas in the cauldron, Schröter turns to a series of vignettes, which presumably took place on Christmas Eve during the battle. He includes a description of the Madonna and several long quotes from Reuberʼs letters and then tells of a mystical Christmas tree with actual candles set up on the battlefield, quickly blown away by enemy fire. These mysterious and anonymous Christmas lights seem to suggest that Christ himself had visited Stalingrad to offer solace to 40 41 42 43
Ibid., p. 13. Ibid., p. 4. Ibid., p. 16. Schröterʼs sources are in the „Stalingrad file“ in BA-MA RW4/264. On Heinz Schröter himself see Wette: Das Massensterben als „Heldenepos“, 1992, p. 55. 44 Heinz Schröter: Stalingrad. „…bis zur letzten Patrone“, Osnabrück 1955. The subtitle was excised in the English translation; see Stalingrad, trans. Constantine Fitzgibbon, New York 1958. All quotes from the English version. The chapter on Christmas is one of the longest in the book, see pp. 129–137.
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the troops. Schröter includes classic Christmas myths, like the Red Army POW who sings a German carol in „a beautiful, strong voice“ or the story of Christmas Eve (re)conversions to the faith. „‚In happier days, Sir, I left the Church‘“, says one soldier to a chaplain, „‚To think we have had to come all this way to understand what the Church is!‘ ‚To think we have had to come all this way to learn what home means.‘“45 These stories, published by a veteran „eye-witness“ and so presumably true, contributed to a growing myth of religiosity in the cauldron articulated at its most obvious during Christmas. Their veracity might be questionable, though other survivors do note similar occurrences.46 Religion helped veterans like Schröter and legions of German readers recover some meaning from Stalingrad, packaged with the appeal of holiday sentimentalism. The final scene in To the Last Round is described as „a Christmas fairy tale“ or „miracle“. In this „true story“, a company of one hundred and fifty men march for hours along the Stalingrad front, late on Christmas Eve. After midnight, the Company reaches „hill 426.5“, where about twenty-five wounded stragglers have set up a make-shift Christmas tree. The leader of the wounded men, who wanted to be a priest in civilian life, gives an ad hoc Christmas sermon that underscores the innocence of the German soldier: „We do not know these men against whom we fight, nor would it occur to us to shoot at them, had it not been for the war. We are told where to go, and what to do.“ The soldier/priest recites the „Latin prayer“ and then the Lordʼs Prayer, „for the benefit of those who were not of his faith“. Then the men repeat „Amen“ and together they sing Silent Night.47 This final scene nicely ecapsulates the conflation of military heroism with rechristianization, victimization, and borderline naiveté that would dominate memories of wartime Christmas in the postwar period. Similar scenes of redemption would be repeated time and again in postwar memoirs, novels, and films throughout the 1950s; the ideal of Christian martyrdom at Stalingrad was thus well developed before the formal religious evocation of the Madonna sketch in the dedication ceremony of 1983.
„Black Christmas“ at Stalingrad: Postwar literature and the politics of cultural memory In a number of West German novels and films from the 1950s, the rechristianization of Christmas was connected to larger issues about the German soldier in World War II. As a seemingly inevitable part of the typical war story, Christmas scenes were particularly effective at portraying the soldier as victim, a symbol of
45 Schröter: Stalingrad, 1955, p. 132. 46 For another example Edgar Klaus reports seeing a special Christmas lantern hanging at a crossroads outside the village of Gumrac, in: Durch die Hölle des Krieges. Erinnerungen eines deutschen Unternehmers an Stalingrad, Gefangenschaft und Wiederaufbau, Berlin 1991, p. 50. 47 Schröter: Stalingrad, 1955, p. 135–137.
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the general victimization of the German people at the hands of Nazi regime. These fictional reconstructions helped Germans regain a sense of social and national solidarity after the war and offered a way to dodge questions of responsibility for the persecution of Jews and the war of „extermination“ waged against the Soviet Union. The transformation of the ordinary soldier – from loyal Nazi front fighter to Christian humanist, only doing his duty – also legitimized contemporary political choices, as West Germans joined NATO in May 1955 and began a controversial process of remilitarization. The reconstruction of the Christmas past, often anti-Soviet and Communist in tone, thus served the political ideologies of Christian Democracy in 1950s West Germany. As historian Martin Broszat and others have convincingly argued, literature is an appropriate and revealing place to examine the way Germans have undertaken what Broszat calls the „working-through of the brown [Nazi] past“. 48 Such cultural texts are directly linked to the social and political environments in which they were produced; they show how German culture-makers portrayed and understood changes in historical conditions; and while fictional accounts can not entirely structure individual beliefs or memories, they provide a cultural framework that helps individuals make sense of their collective history. Indeed, fiction and film can provide a better assessment than other historical sources of the strategies used to rework and reconstruct the past in attempts to mythologize, transform, overcome, and repress social memory.49 This is particularly evident in the first phase of postwar „working through“, in the search for a usable past for the new German Federal Republic and the German Democratic Republic in the late 1940s and 1950s.50 Far from repressing, ignoring, or remaining silent about the Nazi past and the war, Germans used Christmas to construct a „usable past“ that let them remember the war without feeling guilt.
48 Martin Broszat: Literatur und NS-Vergangenheit, in: Idem: Nach Hitler: Der Schwierige Umgang mit unserer Geschichte, ed. Hermann Graml and Klaus-Dietmar Henke, München 1987, p. 121; see also Jochen Pfeifer: Der deutsche Kriegsroman 1945–1960. Ein Versuch zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte, Königstein/Ts. 1981. On Stalingrad novels in particular see Jörg Bernig: Eingekesselt. Die Schlacht von Stalingrad in deutschsprachigen Romanen nach 1945, New York 1997; Jörgen Schäfer: „Alle fluchten, alle funktionierten“. Die Schlacht um Stalingrad in deutschen Romanen der Nachkriegszeit, in: Sozialwissenschaftliche Informationen (SOWI) 22 (1993) 1, pp. 42–49; and Ulrich Baron: Stalingrad als Thema der deutschsprachigen Literatur, in: Wette, Ueberschär (eds.): Stalingrad, 1992, pp. 226–232. 49 On film as a key element in the reconstruction of German identity after World War II see Eric Rentschler: The Ministry of Illusion. Nazi Cinema and Its Afterlife, Cambridge 1996; Heidi Fehrenbach: Cinema in Democratizing Germany. Reconstructing National Identity After Hitler, Chapel Hill 1995; Anton Kaes: From Hitler to Heimat. The Return of History as Film, Cambridge, MA 1989; Linda Schulte-Sasse: Entertaining the Third Reich. Illusions of Wholeness in Nazi Cinema, Durham, NC 1996. For a review essay on some of these works see Scott Spector: Was the Third Reich Movie Made? Interdisciplinarity and the Reframing of „Ideology“, in: American Historical Review 106 (2001), pp. 460–484. 50 Schäfer: „Alle fluchten, alle funktionierten“, 1993, p. 42.
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By the mid-1950s, the popularity of the „literature of the private first-class“ in West Germany was beyond question.51 Just as postwar fiction helped Germans remember and come to terms with the wars of 1870–1871 and 1914–1918, so war literature, popular and élite, again blossomed after the Second World War. The recovery of the ordinary soldier was particularly important in 1950s West Germany. As George Mosse has convincingly shown, the soldier was a key symbol of German national identity; furthermore, West German rearmament after 1955 needed legitimation to calm public unease about the dangers of nationalist militarism.52 War stories became a central component of postwar mass culture.53 Novels and films about Germany in World War II were joined by „war novelettes“, (Kriegsromanhefte) cheap magazine-like paperbacks published in weekly or biweekly pocket editions of up to 60,000 copies, starting in the mid to late 1950s.54 Despite shared narratives of individual heroism and „trench community“, the war literature of World War II bore a marked difference from that of World War I. Novels like Ernst Jüngerʼs Storm of Steel celebrated the blood lust and machinelike attributes of the German storm trooper. After 1945, novels still portrayed the German soldier as an effective and heroic comrade who did his duty, but he was also a sensitive and caring man who was not a convinced Nazi. The Battle of Stalingrad was a particular focus of postwar novelists and film directors because the topic resonated with recent and painful wartime memories. Public fascination with Stalingrad was particularly intense because Nazi censorship had obscured the facts of the battle in 1942. After the war, novels and films offered a „true-to-life“ picture of the „catastrophe“ and explained the „story of the nation“ in vernacular terms. Thus Theodor Plievierʼs Stalingrad met with immediate public acclaim when it was first published in 1945. Though Plievierʼs work showed that the German soldier was perpetrator as well as victim, popular reception in West Germany focused on German suffering and the guilt of the upper leadership for the „Hitler war“. 55 Indeed Stalingrad served as a surprisingly effective backdrop for the presentation of the German soldier as a victim of the Nazis. At the fictional Stalingrad, soldiers appear as „tools“ of Hitler and the regime, even though the Wehrmacht, both high command and common soldiers, was deeply involved in the planning and execution of National Socialist policies of extermination in the Russian campaign.56 51 Hans Schwab-Felisch: Die Literatur der Obergefreiten, in: Der Monat 4 (1952), pp. 644–651. Compare to Baron: Stalingrad als Thema der deutschsprachigen Literatur, 1992. 52 George L. Mosse: Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars, New York 1990. 53 See Moeller: War Stories, 2001, esp. chapter 5. 54 War „novelettes“ included Der Landser (1957–1986), Der Landser (Großband), and Der Landser-Ritterkreuzträger (1958–1986); see Schäfer: „Alle fluchten, alle funktionierten“, 1993, p. 44. 55 Bernig: Eingekesselt, 1997, pp. 41–44. 56 See the articles in Ulrich Herbert (ed.): National Socialist Extermination Policies. Contemporary German Perspectives and Controversies, New York 2000; and Omer Bartov: Hitlerʼs Army. Soldiers, Nazis, and War in the Third Reich, New York 1992.
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As literary historian Jörg Bernig has shown at length, though Stalingrad novels and films were anti-Nazi insofar as they criticized the German political leadership and High Command, most of them contain distinct racist, militarist, and even National Socialist themes.57 Books by surviving veterans of the battle including Panzer officer Heinrich Gerlach (The Forsaken Army, 1957), communications officer Fritz Wöss (Dogs, Do You Want to Live Forever? 1958, filmed in 1959), and East Front war correspondent Heinz Konsalik (The Doctor of Stalingrad, 1956, filmed in 1958, and The Heart of the Sixth Army, 1964), essentially portrayed the German Landser (ordinary soldier) as a victim of the Nazi leadership. These and other fictionalized accounts of Stalingrad remain remarkably popular, selling hundreds of thousands of copies in dozens of editions; Konsalikʼs Heart of the Sixth Army, for example, still on sale in subway kiosks across Germany, went through thirty-three editions between 1964 and 1991.58 All of these novels and films invariably include sentimental Christmas scenes that draw on the clichés of wartime Christmas familiar since the siege of Paris in 1870. The holiday thus has its place in the postwar imagination alongside other key memories of the battle, such as wounded soldiers fighting for a place on an out-going transport plane, starving troops eating soup cooked with horse bones, or the insanity of Hitlerʼs commands and the „cadaver obedience“ of the supposedly weak-willed Field Marshal Paulus. Heinrich Gerlachʼs bestseller The Forsaken Army, for example, includes an entire chapter on „Black Christmas“ with scenes that could be lifted from any of the novels. Suffering horrific deprivation, groups of ordinary soldiers decorate their bunker and fashion gifts for each other with materials at hand, creating the atmosphere for a moving celebration and cementing the bonds of group belonging. In such scenes, which bear striking resemblance to Kurt Reuberʼs letters describing the immediate reaction to his Madonna, the „miraculous sound“ of holiday carols turns grown soldiers into children and evokes a community based on tradition, not political belief, while open bibles and praying soldiers evoke Christianity not Nazism.59 The depiction of pathetic celebrations, with starving soldiers gathered around the Christmas tree in a freezing dugout, underscores the victimhood of good Germans forced into a war „they did not desire“ and only slowly understood. Repeated Christmas scenes highlight the tensions between convinced National Socialists, always presented as an exception, and the „ordinary soldier“, who finds his identity in religion or in his immediate group rather than in ideologies of the Nazi „national community“ (Volksgemeinschaft). Christianity is portrayed as the ideology favored at the front. Gerlachʼs Christmas scene in Forsaken Army exemplifies these narratives of popular sacrifice and resurrection. As one soldier on watch confesses to a sympathetic priest, „I canʼt listen to any more Christmas songs. For me, God died at Stalingrad.“ The priest answers that „Yes, God died at Stalingrad, a thousand times. He fell alongside each of our dead – and at Stalin57 Bernig: Eingekesselt, 1997, pp. 41–44. 58 See statistics on numbers of Stalingrad novels published in Ibid., pp. 281–282. 59 Heinrich Gerlach: Die verratene Armee. Ein Stalingrad-Roman, München 1957, pp. 195.
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grad he will rise again!“60 Lieutenant Breuer, the main character in Gerlachʼs novel, also confronts his ideological beliefs during Christmas. Breuer supports Nazism out of opportunism rather than conviction, revealed when he gives an impromptu Christmas speech to the soldiers in his command that evokes the „inner peace, which we can only find in our own hearts“.61 Later that night, Breuer is confronted by First Lieutenant Wiese, who compliments Breuer on his „beautiful“ Christmas speech but flatly accuses Breuer of inauthenticity and self-deception. „Whoever still understands the celebration of Christmas“, Wiese remarks, „he canʼt really be a Nazi, can he?“62 In the course of a lengthy conversation, Wiese argues that National Socialism and Communism are „as similar as two apples on the same tree“ and that Breuerʼs sort of opportunistic support is representative of millions of his fellow Germans. Christmas becomes the time for an examination of collective conscience, and those same millions are offered some redemption, because after all they are innocent of the abuses perpetrated by „real“ Nazis. Popular memories of „Black Christmas“ as Stalingrad recovered the humanity of the German soldier by sentimentalizing it. The end effect was to make war excusable and even noble for a generation troubled by memories of defeat and shame.
Conclusions To fully understand the way social memory is connected to national identity, we need to examine its vernacular roots as well as its official appropriations. Popular experience and memories of that experience comprise not simply a „private“ sphere that either withstands or succumbs to attempts to manipulate it from above. Instead, they are complicated processes by which people make sense out of their daily lives and their interaction with larger social and political spheres, and in turn shape those spheres. Memories of wartime Christmas in postwar West Germany exemplify this process. West Germans used recollections of the Nazi „war Christmas“ to overcome the moral ambiguities of their „unmasterable“ past, in part because the holiday linked public constructions of national identity to the supposed innocence of private experience. Widely shared and repetitive cultural practices, like holiday rituals, make the articulation of social memory particularly effective, because they merge private, individual experience and public, historical events. In the postwar decades, West Germans returned repeatedly to memories of the Madonna of Stalingrad and the shared suffering she embodies. Mass-market war novels, popular films, a recent TV special on Stalingrad (released in 1993 to coincide with the 50th anniversary of the battle), and visits to the Memorial Church view the Madonna itself all speak to this endeavor. In stories about the Christmas past, West Germans shaped memories of German suffering and heroism. Explicating the history of these vernacular and often sentimental memories helps us un60 Ibid., p. 208. 61 Ibid., pp. 195–196. 62 Ibid., p. 210.
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derstand the tenacity of popular assumptions about the innocence of the „simple soldier“, recently revealed in the public outrage that accompanied an exhibition of photographs showing German soldiers committing atrocities on the East Front.63 Recollections of wartime Christmas gave West Germans a remarkably effective way to transform responsibility for Nazism into a satisfying myth of collective victimhood. Far from repressing, ignoring, or remaining silent about the war, West Germans reinvented the past in a way that differentiated between a minority of evil Nazis and a large majority of good, ordinary Germans. By exaggerating the victimhood of the ordinary soldier, West Germans used memories of „war Christmas“, bit by bit, to shed their responsibility for National Socialism.
63 The exhibition „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ was organized by the Hamburger Institut für Sozialforschung and generated much public controversy when it was shown in thirty-three German and Austrian cities from 1995 to 2000; see Hamburger Institut für Sozialforschung: Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, URL: http://www.his-online.de/veranst/ausstell/vernicht.htm, last accessed: June 29, 2001.
FORSCHUNGSBERICHT
AUTOBIOGRAFIE UND BIOGRAFIE IM ZEICHEN DES CULTURAL TURN Volker Depkat
Als vergangenheitsbezogene Sinnstiftung durch Erzählung auf dem Boden einer jeweiligen Gegenwart stellen Biografie und Autobiografie Praktiken kultureller Sinnstiftung dar, die im Zusammenhang mit Erinnerungskultur, Geschichtspolitik und Gedächtnisbildung vielfältige Funktionen erfüllen. Zugleich aber handelt es sich bei beiden Genres um narrative Deutungsinstrumente historischen Wandels, die jenseits aller gegenwartsbezogenen Sinnstiftung auch Erkenntnismodelle vergangener Wirklichkeit darstellen, die in der Kategorie des Individuums ankern und deshalb personalisierende beziehungsweise personifizierende Geschichtsbilder mit Wahrheitsanspruch entwerfen. Wegen dieser komplexen Lagerung im Spannungsfeld von identitätsrelevanter kultureller Sinnstiftung und historischer Erkenntnis können Biografie und Autobiografie nicht einseitig dem Feld der Erinnerungskultur zugeschlagen werden. Sie stehen vielmehr höchst spannungsreich genau auf der Grenze zwischen Gedächtnis und Geschichte.1 Die Beschäftigung mit Biografie und Autobiografie als Praxis kultureller Sinnstiftung, als Kategorie sozialer Selbstbeschreibung und als Instrument historischer Erkenntnis stößt deshalb unweigerlich zu Grundfragen sowohl der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung als auch der historiographischen Epistemologie vor. Es kann vor diesem Hintergrund kaum überraschen, dass sich Biografie und Autobiografie im Zeichen des Cultural Turn nach langen Jahren der Vernachlässigung eines besonderen Booms in vielen Wissenschaftsdisziplinen erfreuen. Parallel dazu hat sich eine komplexe, interdisziplinäre Theoriediskussion entfaltet, die um die drei Kategorien Lebenslauf, Biografie und Autobiografie oszilliert.2 In 1 2
Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998. Jo Burr Margadant (Hrsg.): The New Biography. Performing Feminity in Nineteenth-Century France, Berkeley, CA 2000; Peter France, William St. Clair (Hrsg.): Mapping Lives. The Uses of Biography, Oxford 2002. Hans E. Bödeker (Hrsg.): Biographie schreiben, Göttingen 2003; Lloyd E. Ambrosius (Hrsg.): Writing Biography. Historians and their Craft, Lincoln, NE 2004; Volker R. Berghahn, Simone Lässig (Hrsg.): Biography between Structure and Agency. Central European Lives in International Historiography, New York 2008. Zur jüngeren Autobiografiediskussion: Dagmar Günther: „And now for something completely different.“ Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 25–61; Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 441–476; Ders.: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007; Ders.: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographiefor-
Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 247–265
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diesem Zusammenhang meint Lebenslauf die äußeren Daten eines gelebten Lebens, die unabhängig von aller individuellen oder kollektiven Deutung als Fakten zu konstatieren sind. Biografie ist die Erforschung und narrative Darstellung eines Lebens durch einen Dritten. Autobiografie schließlich ist die retrospektive Beschreibung eines Lebens durch denjenigen, der dieses Leben selbst gelebt hat. Während Autobiografie mithin ein Akt von ich- und weltbezogener Sinnstiftung im Kontext gesellschaftlicher Wissensproduktion ist, ist Biografie darüber hinaus auch wissenschaftliche Methode und Erkenntnismodell. Diese begriffliche Unterscheidung gleich am Anfang zu betonen, scheint aus zweierlei Gründen angebracht: Zum einen tendiert die aktuelle Theoriedebatte dazu, bei aller Anerkennung formaler und epistemologischer Unterschiede die hochkomplexe Verschränkung aller drei Kategorien des Biografischen zu betonen. Zum anderen ist die jüngste Auseinandersetzung mit Lebenslauf, Biografie und Autobiografie nicht primär von Historikern, sondern von Literatur- und Kulturwissenschaftlern sowie von Soziologen geprägt worden, weshalb die Geschichtswissenschaft nun vor der Aufgabe steht, die Debatte in ihrem Wert für die eigenen Erkenntnisinteressen reflektieren zu müssen. Klarheit über die zirkulierenden Kategorien scheint hier die Basis für eine erfolgreiche ‚Übersetzung‘ der interdisziplinären Theoriediskussion in die disziplinäre Praxis zu sein. Daraus ergeben sich Aufbau und Leitfragen dieses Forschungsberichts, der ausgewählte Neuerscheinungen der literatur- und kulturwissenschaftlichen, der soziologischen, der feministischen, der erziehungswissenschaftlichen und der historischen Lebenslauf-, Biografie- und Autobiografieforschung vorstellt und kritisch erörtert. Insbesondere wird gefragt: Welche Perspektiven, Erkenntnisinteressen und Forschungsthemen sind den verschiedenen Ansätzen zur Biografie- und Autobiografieforschung zu eigen? Wo liegen ihre Leistungen und Defizite für die historische Forschung? Im Folgenden werden zunächst Publikationen der literatur- und kulturwissenschaftlichen Biografieforschung besprochen, dann Arbeiten aus dem Feld der Frauen- und Geschlechterstudien vorgestellt. Anschließend werden Studien zur Erfahrungs-, Ideen- und Erinnerungsgeschichte der Neuesten Geschichte rezensiert, bevor sich ein letzter Abschnitt neuesten Beiträgen aus der soziologischen Biografie- und Autobiografieforschung zuwendet, wobei hier ein Schwerpunkt auf Arbeiten zu Migration gelegt wird.
Biografie als Erzählung Die literatur- und kulturwissenschaftliche Diskussion erörtert Biografie als eine Form der Erzählung im Spannungsfeld von Fakt und Fiktion. Es geht ihr um die sprachlich-rhetorische Verfasstheit, um die Poetik der Gattung, um narrative schung in der Geschichtswissenschaft, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 23 (2010) 2, S. 170–187; Jeremy D. Popkin: History, Historians, and Autobiography, Chicago 2005; Sidonie Smith, Julia Watson: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives, 2. Aufl., Minneapolis 2010.
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Strukturen, Formen, Konventionen und Funktionen von Biografie als Form der „Wirklichkeitserzählung“, die sowohl konstruktiv als auch referenziell ist.3 Ihr annus mirabilis erlebte diese Biografieforschung 2009, als gleich drei Grundlagenwerke erschienen, die den Rahmen abstecken, in dem sich die Diskussion seither bewegt. Damals legte Christian Klein sein Handbuch Biographie vor und gaben Bernhard Fetz und Wilhelm Hemecker substantielle Bände zu Theorie und Geschichte der Biografie heraus.4 Kleins perspektivenreiches Handbuch gründet auf der Prämisse, dass biografisches Erzählen eine universale menschliche Praxis sei, die das Bedürfnis nach Sinnangeboten auf vielfältige Art befriedige. Unter Biografie wird hier sowohl das Leben selbst als auch dessen narrative Repräsentation verstanden, doch ist abgehobene Metareflexion gar nicht einmal das primäre Ziel des Bandes. Vielmehr will er „möglichst viele der Zugänge und Wege [zur Biografieforschung; V.D.] kartographisch erfassen, um so einen Überblick zu liefern und Orientierung zu ermöglichen“.5 Das ist insgesamt hervorragend gelungen: Das Handbuch Biographie informiert zuverlässig, forschungsorientiert und weiterführend über Geschichte und Theorie der Gattung, ihre vielfältigen kulturellen und sozialen Funktionen sowie über die Narratologie biografischen Erzählens. Ebenso geht es um die Entwicklung der Biografieforschung in verschiedenen westlichen Ländern, das biografische Arbeiten in diversen Wissenschaftsdisziplinen und um die Praxis des biografischen Schreibens. Diese Theoretisierung des Praktischen schwingt auch bei den von Fetz und Hemecker herausgegebenen Bänden zur Biografieforschung mit, die aus der Arbeit des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie in Wien resultieren. Der von Fetz herausgegebene Band zur theoretischen Grundlegung der Biografie will die Fragestellungen bündeln, die „sich in den theoretischen Debatten zur Biographie in den letzten Jahren als zentral herauskristallisiert haben“.6 Erörtert werden folglich die Themen Voraussetzungen der Biografie, Biografie und Geschlecht, Biografie und Gesellschaft, Biografie und Kulturtransfer sowie Biografie und Medialität. Allerdings ist das Format des Sammelbandes nicht dazu geeignet, die Theorie eines bislang weitgehend theorieresistenten Genres zu begründen. Deshalb ist es gut, dass der Herausgeber in einer ausführlichen und sehr lesenswerten Einleitung einige wichtige Deutungsachsen durch das Themenfeld legt. Völlig zu Recht betont Fetz, dass das „Verhältnis von Evidenz und Konstruktion“ der „heiß[e] Kern“ der aktuellen Theoriediskussion sei, die sich 3
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Der Begriff der „Wirklichkeitserzählung“ ist von Christian Klein und Matías Martínez in die Diskussion eingespeist worden, um die Möglichkeit referenziellen Schreibens im Lichte poststrukturalistischer Kritik zu betonen. Christian Klein, Matías Martínez (Hrsg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart 2009. Christian Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009; Bernhard Fetz, unter Mitarbeit von Hannes Schweiger (Hrsg.): Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin 2009; Wilhelm Hemecker, unter Mitarbeit von Wolfgang Kreutzer (Hrsg.): Die Biographie. Beiträge zu ihrer Geschichte, Berlin 2009. Klein: Handbuch, 2009, S. xiii. Fetz: Biographie, 2009, S. 8.
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deshalb nahezu zwangsläufig mit „erzähltheoretischen Überlegungen“ auseinanderzusetzen habe.7 Allerdings diskutieren die Beiträge des Bandes Biografie nicht nur als eine Form der Erzählung, sondern auch als ein wissenschaftliches Erkenntnismodell, das zur Schärfung jener theoretischen Positionen beigetragen habe, die „an der ‚Unhintergehbarkeit von Individualität‘“ festhielten.8 Es bleibt freilich die Frage, wie Individualität im Lichte der poststrukturalistischen Diskussion über ‚dezentrierte Subjekte‘ zu denken ist und wie eine Biografik, die sich dieser epistemologischen Herausforderung stellt, darauf reagieren will. Hier fügt sich der von Hemecker herausgegebene Band zur Geschichte der Biografie ein, der komplementär zu dem von Fetz zusammengestellten Theorieband zu sehen ist. Hemecker versammelt fünfzehn Essays, die neue Formen und Möglichkeiten von Biografie jenseits der subjektzentrierten, linearen Entwickungsgeschichte kritisch erörtern. Zu nennen sind „der biographische Torso, das essayistische Portrait, die psychoanalytische Fallgeschichte, die Mythographie, die explizit literarische Biographie, die autobiographisch verfahrende biographische Erzählung bis hin zu postmodernen Formen biographischen Erzählens und Biopics“.9 Die Kritik an den Prämissen konventioneller Biografik mit ihren kohärenten, linearen und teleologischen ‚Lebens- und Entwicklungsgeschichten‘ ist in vielen Beiträgen präsent. Sie setzen sich folglich in besonderem Maße mit dezentrierten und multiperspektivischen Formen biografischen Schreibens auseinander und beziehen dabei auch audiovisuelle und visuelle Medialisierungsformen ein. Insgesamt bilden die Bände von Fetz und Hemecker eine tragfähige Grundlage für die weitere problemorientierte Theoriediskussion im Feld der Biografieforschung. Zusätzlich haben die beiden im Jahr 2011 eine Sammlung theoretischer Grundlagentexte zur modernen Biografik vorgelegt, die als ein überaus nützliches Studienbuch in den kommenden Jahren ihre Dienste leisten wird.10 Der Band vereinigt 19, teils bislang schwer zugängliche Grundlagentexte zur Theorie der Biografie aus den Jahren von 1750 bis 2003, denen kommentierende Essays an die Seite gestellt sind. Historiker, ich sagte es, haben sich an dieser literatur- und kulturwissenschaftlichen Theoriedebatte zur Biografie nicht führend beteiligt. Zwar haben sie durch alle Konjunkturen ihres Faches hindurch nie aufgehört, Biografien zu verfassen, doch ist die historische Biografik als Genre und Erkenntnisinstrument bei den großen theoretischen und methodischen Innovationen des Fachs seit den 1960erJahren unberücksichtigt geblieben.11 Dies ist nicht zuletzt deshalb bedauerlich, weil Biografie als Methode historischer Erkenntnis und Praxis sozialer Selbstbe7 8 9 10
Ebd., S. 53, 59. Ebd., S. 6. Hemecker: Biographie, 2009, S. 2. Bernhard Fetz, Wilhelm Hemecker (Hrsg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin 2011. 11 Vgl. Andreas Gestrich: Einleitung. Sozialhistorische Biographieforschung, in: Ders., Peter Knoch, Helga Merkel (Hrsg.): Biographie – sozialgeschichtlich. Sieben Beiträge, Göttingen 1988, S. 5–28, hier S. 5. Wolfram Pyta: Biographisches Arbeiten als Methode. Geschichtswissenschaft, in: Klein: Handbuch, 2009, S. 331–338, hier S. 332.
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schreibung in vielfältiger Weise anschlussfähig ist an das kulturgeschichtliche Projekt der Dynamisierung des Verhältnisses von Individuum, Gruppe und Struktur im Zeichen der Agency, sowie auch der Neudefinition des Verhältnisses von Teil und Ganzem, von Besonderem und Allgemeinem. „Kulturgeschichtliche Forschung“, schreibt Rudolf Vierhaus, „in deren Zentrum die Beziehung zwischen dem Leben des Einzelnen und dem sozialen und kulturellen System steht, geht gleichsam vom Punktuellem zum Allgemeinen, vom Detail zum Ganzen, von innen nach außen, vom Individuum zu sozialen Gruppe vor.“12 Hier bietet Biografie vielfältige Erkenntnischancen, die bei einer eingehenderen Theoriereflexion aus dezidiert historiografischer Perspektive realisiert werden können. Vor diesem Hintergrund ist Thomas Etzemüllers Einführung Biographien zu sehen, deren wichtigste Leistung darin besteht, die aktuelle kulturwissenschaftliche Biografiediskussion in Form eines soliden und problemorientierten Überblicks in die Geschichtswissenschaft übersetzt und sie in ihren Konsequenzen für historische Fragestellungen reflektiert zu haben.13 Als in besonderem Maße weiterführend erscheint Etzemüllers Vorschlag, Biografie als eine im Konzept des Individuums ankernde Kategorie zur „Beobachtung von Welt“ zu analysieren, die sich fundamental von anderen Formen der Weltbeobachtung, wie zum Beispiel Struktur, unterscheidet.14 Dies geht über Barbara Tuchmans vor langer Zeit schon geäußerte Idee von Biografie als ein „Prism of History“ insofern hinaus, als Biografie hier nicht nur als ein geschichtswissenschaftliches Erkenntnismodell, sondern auch als ein Instrument kommunikativ gesteuerter Sinnstiftung in den sozialen Selbstverständigungsprozessen einer jeweiligen Gegenwart erschlossen wird.15 Deshalb fordert Etzemüller die Historiker zu Recht dazu auf, stärker „über die realitätsstiftende Macht“ des Genres Biografie nachzudenken,16 die konstruktive Performanz der biografischen Quellen als Ort der Selbstreflexion in ihre Überlegungen miteinzubeziehen und die jeweiligen zeitspezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieser kulturellen Praxis zu bestimmen. Insgesamt stellt Etzemüller Biografie in das Spannungsfeld von Essentialismus und Konstruktivismus, erörtert problemorientiert die vielfältigen gesellschaftlichen Funktionen von Biografie, analysiert ihre Instrumentalisierung und ihre Effekte im Kontext kultureller Sinnstiftungsprozesse, doch bleibt er dabei des Öfteren in der Textualität von Biografien stecken. Mit ihrer etwas einseitigen Fixierung auf narrative Muster, der Entlarvung von Kohärenzfiktionen tatsächlich ‚dezentrierter Subjekte‘ und der postulierten Unmöglichkeit, gelebte Leben überhaupt durch Erzählung darstellen und verbindliche Aussagen über das portraitierte Individuum machen zu können, läuft die insgesamt hilfreiche und didaktisch sehr 12 Rudolf Vierhaus: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.): Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, Göttingen 1995, S. 5–28, hier S. 23. 13 Thomas Etzemüller: Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt am Main 2012. 14 Ebd., S. 21. 15 Barbara W. Tuchman: Biography as a Prism of History, in: Marc Pachter (Hrsg.): Telling Lives. The Biographer’s Art, Philadelphia, PA 1981, S. 132–147. 16 Etzemüller: Biographien, 2012, S. 15.
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gut aufbereitete Einführung wiederholt Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Biografie, Autobiografie und die Ordnung der Geschlechter Direkt in den hochkomplexen Zusammenhang von Erinnern und Vergessen hinein führt die feministische Autobiografie- und Biografieforschung, von der schon frühzeitig wichtige Impulse für das gesamte Feld ausgingen. Die feministische Kritik entfaltete sich in der Infragestellung der Prämissen einer Geschichtswissenschaft, die in der Trennung von öffentlich und privat gründete, das Private für historisch nicht bedeutsam erklärte und sich folglich auf öffentliche Handlungsfelder und dort wirkende Akteure konzentrierte. In der Autobiografie- und Biografieforschung führte diese Geschlechterordnung des Faches zu einer Kanon- und Traditionsbildung, die, in der Meistererzählung vom autonomen, authentischen und öffentlich wirksamen Selbst ankernd, Frauen marginalisierte und ihr Wirken in der Geschichte dem Vergessen anheim gab. Allerdings ging es der frauen- und geschlechtergeschichtlichen Autobiografie- und Biografieforschung niemals nur darum, die Präsenz von Frauen in der Geschichte sichtbar zu machen. Sie arbeitete sich vielmehr auch daran ab, die biografischen und autobiografischen Genrekonventionen als männlich grundiert zu entlarven und die in sie eingeschriebenen geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse zu analysieren. Die frauen- und geschlechtergeschichtliche Autobiografieforschung zielte darüber hinaus auch darauf ab, ichbezogene Repräsentationsformen jenseits der autobiografischen Gattungsnorm überhaupt erst einmal als autobiografisch zu identifizieren, um sie als Form weiblicher Selbstthematisierung analysieren zu können. In diesen Kontext fügt sich der von Susanne Blumesberger und Ilse Korotin herausgegebene Band Frauenbiografieforschung ein.17 Er enthält dreißig Beiträge, die insgesamt scharfe Schlaglichter auf die aktuelle Theorie- und Methodendiskussion des Feldes werfen. Ausgehend von der These, dass Geschlecht nicht nur sozial, sondern auch biografisch konstruiert werde, erörtern die Beiträge innovative Darstellungsmöglichkeiten, liefern Werkstattberichte zu aktuellen Frauenbiografieprojekten und reflektieren die Probleme des biografischen Quellenmaterials, wobei hier nicht nur die ‚klassischen‘ Quellen (Autobiografien, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte), sondern auch Bilder, Krankenakten, Leichenpredigten und Totengespräche herangezogen werden. Kennzeichnend für alle Beiträge ist die Erprobung theoretischer und methodologischer Ansätze an konkreten frauenbiografischen Fallbeispielen. Damit liefert der Band insgesamt einen bunten ‚Strauß‘ an theoretischen Überlegungen, methodischen Einsichten und sachlichen Erkenntnissen, die die Fülle der aktuellen Frauenbiografieforschung aufscheinen lassen. Leider ist dieser Strauß nur sehr locker gebunden. Die auf 652 Seiten ausgestreuten Aspekte und Erkenntnisse werden nirgends zusammengezogen, so dass 17 Susanne Blumesberger, Ilse Korotin (Hrsg.): Frauenbiografieforschung. Theoretische Diskurse und methodologische Konzepte, Wien 2012.
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es dem Leser überlassen bleibt, die in dem Band umrissenen Forschungsprobleme und Forschungslinien für sich selbst freizulegen. Fokussierter ist da das von Claudia Ulbrich, Gabriele Jancke und Mineke Bosch herausgegebene Themenheft „Auto/Biographie“ im 24. Jahrgang von L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft. Dessen Beiträge verfolgen dezidiert historische Erkenntnisinteressen, geht es hier doch um die Positionalität, Relationalität und Situativität von Biografie und Autobiografie im sozialen Raum und werden hier Fragen nach der historischen Wirkmächtigkeit von biografischen und autobiografischen Konzepten gestellt. In ihrem Editorial betonen die Herausgeberinnen, dass ungeachtet aller poststrukturalistischen Dekonstruktion des authentischen und autonomen Selbst, das Narrativ von Authentizität, Autonomie und Individualität in „der Praxis des Schreibens und Rezipierens von Auto/Biographien (…) weiterhin überaus wirksam“ sei.18 In den Beiträgen dieses Bandes geht es um die Situierung von Autobiografien und Biografien im Spannungsfeld von Textsorten, narrativen Mustern und gesellschaftlichen Diskursen, um die Funktion von Biografie und Autobiografie im Hinblick auf Affirmation, Adaptation oder Infragestellung von Geschlechterordnungen, um die Performanz von Biografie und die Materialität biografischer Quellen. Ein besonderer Themenstrang ist das komplexe Verhältnis von Biografie und Autobiografie. Von Geschlecht als Kategorie der Wissenschaftsgeschichte handelt Levke Harders Geschichte der American Studies zwischen 1900 und 1965.19 Die Studie verbindet wissenschafts- und gendergeschichtliche Ansätze mit biografischen Methoden, um die Geschlechterordnung des Fachs in dreierlei Hinsicht zu erörtern. Harders fragt erstens nach Frauen als Akteuren in der Fachgeschichte, untersucht zweitens, wann, wie und warum Geschlechterverhältnisse zum Gegenstand amerikanistischer Forschung wurden, und erörtert drittens, welche Rolle Geschlecht in der theoretischen Grundlegung der American Studies als Wissenschaftsdisziplin spielte. Für die Biografie- und Autobiografieforschung besonders interessant ist der vierte Abschnitt dieser klar argumentierenden, akribisch recherchierten und sauber dokumentierten Studie. Hier verbindet Harders prosopografische und biografische Methoden miteinander, um einerseits das Wirken von Amerikanistinnen in der Geschichte des Faches sichtbar zu machen und andererseits zu zeigen, wie sich im Zuge der Institutionalisierung, Professionalisierung und Differenzierung der Wissenschaftsdisziplin nach 1945 eine horizontale und vertikale Geschlechterordnung herausbildete, die Frauen systematisch marginalisierte. Mit ihrer Studie leistet Harders nicht nur wertvolle biografische Erinnerungsarbeit am disziplinären Gedächtnis, sondern sie rekonstruiert auf struktureller, normativer, symbolischer und personeller Ebene die Geschlechterordnung der American Studies, die Frauen strukturell benachteiligte und sie „auf symbolischer Ebene aus der Wis-
18 Claudia Ulbrich, Gabriele Jancke, Mineke Bosch: Editorial, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 24 (2013) 2, S. 5–10, hier S. 5. 19 Levke Harders: American Studies. Disziplingeschichte und Geschlecht, Stuttgart 2013.
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sensproduktion“ ausschloss.20 Allerdings endet der Untersuchungszeitraum dieser Studie just bevor jene tiefgreifende, maßgeblich von den Bürgerrechtsrevolutionen der 1960er-Jahre vorangetriebene Transformation des Faches einsetzte, in deren Verlauf sich bis zu den 1980/90er-Jahren die New American Studies formierten. Deren maßgeblich von Akademikerinnen getragene Agenda machte gender neben race, ethnicity und class im Kontext von Pluralität und Diversität zum ‚Mantra‘ des Faches, dessen Geschlechterordnung sich in der Folge ebenfalls grundlegend wandelte. Um das Sichtbarmachen einer weithin vergessenen Gruppe von Frauen geht es auch in Sylvia Schrauts kleiner Studie zu Bürgerinnen im Kaiserreich. 21 Mittels kollektivbiografischer und dicht beschreibender Verfahren wird hier die Lebenswelt bürgerlicher Frauen, die zwischen 1830 und 1880 geboren wurden und das Kaiserreich als Jugendliche und Erwachsene erlebten, detailgesättigt und sehr anschaulich rekonstruiert. Es gibt Kapitel zu Kindheit und Jugend, zu Ehe und Familie, zum bürgerlichen Haushalt, zum ‚Fräulein‘, zum Alter, sowie zu den Transformationsprozessen der bürgerlichen Geschlechterordnung, die bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges immer brüchiger wurde. Allerdings ist der Untertitel Biografie eines Lebensstils insofern irreführend, als die flüssig geschriebene Darstellung ein insgesamt eher statisches Bild der bürgerlichen Lebenswelt liefert. Strukturen, Praktiken und Wertideen des bürgerlichen Lebensstils werden nicht in ihrer Genese, sondern in ihrem damaligen Sosein beschrieben. Im Zentrum steht das Typische, nicht das Individuelle. Die Darstellung zielt nicht primär darauf ab, Variationen, Schattierungen, Widerspüchlichkeiten und Paradoxien im Typischen herauszuarbeiten, was ja die Chance eines biografischen Ansatzes wäre, sodass Biografie hier wohl vor allem metaphorisch zu verstehen ist.
Biografie und Autobiografie in der Neuesten Geschichte In der Geschichtswissenschaft ist die neuere Autobiografieforschung maßgeblich von Studien zu Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit angeregt worden.22 Historiker der Neueren und Neuesten Geschichte haben diese Debatte vergleichsweise zurückhaltend rezipiert, doch ändert sich das gerade, denn in den vergangenen Jahren sind einige Publikationen erschienen, die autobiografisches Material als Quelle auch für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts neu reflektieren. Die von Magnus Brechtken herausgegebene Aufsatzsammlung Life Writing and Political Memoir vereinigt zehn Fallstudien, die die Nützlichkeit und Produk20 Ebd., S. 233–234. 21 Sylvia Schraut: Bürgerinnen im Kaiserreich. Biografie eines Lebensstils, Stuttgart 2013. 22 Gabriele Jancke, Claudia Ulbrich (Hrsg.): Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, Göttingen 2005. Claudia Ulbrich, Hans Medick, Angelika Schaser (Hrsg.): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, Köln 2012. Erinnert sei auch an die von Winfried Schulze für Deutschland angestoßene Debatte zu Ego-Dokumenten. Winfried Schulze (Hrsg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996.
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tivität der neuen Ansätze in der Autobiografie- und Selbstzeugnisforschung für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ausloten wollen.23 Allerdings sucht dieser Band an keiner Stelle die systematische Auseinandersetzung mit den in der aktuellen Autobiografieforschung diskutierten diskurstheoretischen, narratologischen, text- und kommunikationspragmatischen Konzepten. Dadurch enthält er zwar viele schöne Einzelleistungen zu ausgewählten Fallbeispielen, die dazu anregen, den Wert autobiografischen Materials gerade für die Neuere und Neueste Geschichte weiter zu erörtern, doch zeigt er auch, wie wichtig eine terminologisch präzise quellenkundliche Durchdringung von autobiografischem Material im Lichte neuer theoretischer Erkenntnisse und historischer Fragestellungen ist. Will Brechtken die neuen Erkenntnischancen im Umgang mit autobiografischem Material breit erproben, so ist Barbara Stambolisʼ Sammlung von 58 Essays zu autobiografischen Texten von insgesamt 61 prominenten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die zwischen etwa 1890 und 1930 geboren wurden und eine jugendbewegte Vergangenheit haben, klarer fokussiert.24 Es geht darum, aus autobiografischem Material die lebensgeschichtliche Bedeutung der Erfahrungen herauszuarbeiten, die sich für Politiker, Pädagogen, Soziologen und Philosophen mit der Jugendbewegung verbanden. Die autobiografischen Zeugnisse wurden von der Herausgeberin vorrecherchiert und ausgewiesenen Experten zur Interpretation übergeben. Entstanden ist durch diese strukturierte biografische Zusammenschau, die einerseits die Offenheit, Widersprüchlichkeit und Kontingenz von Lebensgeschichten anerkennt und zugleich allgemeinere Muster, Konstellationen und Grundelemente aufscheinen lässt, das kaleidoskopische Portrait einer von der Jugendbewegung maßgeblich geprägten Generation, deren Vertreter nach 1945 die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland teils in Schlüsselpositionen beeinflussten. Im Zentrum aller Beiträge steht die Frage nach der mittel- und langfristigen biografischen Bedeutung der Jugendbewegung, und es wird deutlich, dass Bedeutung lebensgeschichtlich ganz Unterschiedliches heißen kann. Die einen erhielten von der Jugendbewegung wichtige weltanschauliche Impulse, anderen vermittelte sie handlungsleitende Lebensentwürfe. Wieder andere erhielten in ihrer jugendbewegten Phase Anregungen für die spätere Berufswahl oder legten damals die Grundlagen für persönliche Netzwerke, die weit über 1945 hinaus tragfähig waren. Insgesamt erweitert dieses monumentale Werk die bislang dominant ideenund organisationsgeschichtlich ausgerichtete Forschung zur Jugendbewegung um die erfahrungsgeschichtliche Dimension. Sie lässt in besonderem Maße die für das Problem von Erinnerungskultur und Gedächtnisbildung zentrale Spannung von individueller Erfahrungsgeschichte und kollektiver Geschichtskonstruktion hervor23 Magnus Brechtken (Hrsg.): Life Writing and Political Memoir. Lebenszeugnisse und politische Memoiren, Göttingen 2012. Vgl. ausführlich: Volker Depkat: Rezension zu: Magnus Brechtken (Hrsg.): Life Writing and Political Memoir – Lebenszeugnisse und Politische Memoiren. Göttingen 2012, in: H-Soz-u-Kult, 30.1.2013, URL: http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/rezensionen/2013-1-065, letzter Zugriff: 20.7.2014. 24 Barbara Stambolis (Hrsg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013.
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treten. Doch findet sich leider auch auf den 819 Seiten dieses Bandes keine systematische quellenkundliche Reflexion über autobiografisches Material als sozialisations- und erfahrungsgeschichtliche Quelle. Das hat Auswirkungen auf den Umgang der einzelnen Autoren mit den Selbstzeugnissen, aus denen zwar breit zitiert und viel paraphrasiert wird, die jedoch nicht systematisch auf ihr narratives Wie und ihr historisch-biografisches Warum befragt werden. Was Historiker aus einer solchen text- und kommunikationspragmatischen Beschäftigung mit Selbstzeugnissen lernen können, zeigt die eindrucksvolle Studie von Christiane Lahusen zu Autobiografien von sechs DDR-Geisteswissenschaftlern, die zwischen 1998 und 2008 erschienen sind.25 Die zwischen 1921 und 1935 geborenen Autobiografen hatten sich nach der Zeit des Nationalsozialismus bewusst für ein Leben in der DDR entschieden und als Mitglieder der Aufbauund Aufsteigergeneration zur Ausgestaltung des Arbeiter- und Bauernstaates beigetragen. Der Zusammenbruch der DDR war für sie eine tiefgreifende Zäsur, die eine gleichermaßen biografische wie historische Verunsicherungskrise auslöste, die den Entschluss zur autobiografischen Selbstvergewisserung freisetzte. Lahusen begreift die von ihr untersuchten Autobiografien als narrative Instrumente der biografischen und historischen Sinnstiftung, durch die Identität verhandelt und Orientierung in der Zeit im Lichte erfahrenen historischen Wandels geleistet wird. Die textuelle Verfasstheit der autobiografischen Erzählung wird hier zum Ausgangspunkt einer überaus anregenden Untersuchung zu den vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsbezogenen Selbstverständigungsdebatten im gerade wiedervereinigten Deutschland. Lahusens Dissertation zu den autobiografischen Erinnerungsarbeitern am kollektiven Gedächtnis der Nachwende-Bundesrepublik bietet geradezu ein Musterbeispiel dafür, was eine sich ihrer eigenen Erkenntnisinteressen bewusste (Zeit-)Geschichte aus dem Gespräch mit den Literaturwissenschaften gewinnen kann. Autobiografien von Zeitzeugen sind nicht nur Gegenstand, sondern auch Phänomen der Zeitgeschichte, und der Zusammenhang von Autobiografie und Zeitgeschichte ist höchst komplex. In vieler Hinsicht formieren sich die Gegenstände zeitgeschichtlicher Forschung oft zuerst im Modus autobiografischer Selbsthistorisierung, denn es sind ja vielfach die Autobiografen, die vor den Fachhistorikern bereits die Ereignisse und Erfahrungen des von ihnen biografisch durchmessenen Zeitraums dicht beschreibend rekonstruieren, sie in ihrer historischen Relevanz bestimmen, die periodisieren und den Ort der eigenen Zeit in der Geschichte bestimmen. Historiografische Epochenkonstruktionen sind eben niemals nur rein wissenschaftliche Abstraktionsleistungen, sondern fußen zentral im Epochen- und Geschichtsbewusstsein derjenigen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt fragend und forschend der Vergangenheit zuwenden.26
25 Christiane Lahusen: Zukunft am Ende. Autobiographische Sinnstiftungen von DDR-Geisteswissenschaftlern nach 1989, Bielefeld 2014. 26 Vgl. dazu insbesondere Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Vorwort, in: Dies. (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, S. vii–x, hier S. vii.
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Diese Spannung zwischen den empiriegesättigten subjektiven Periodisierungen der Zeitgenossen und den wissenschaftlichen Epochengliederungen der Historiker ist besonders virulent im Feld der Zeitgeschichte, wo das in subjektiv erfahrener Geschichte ankernde Epochenbewusstsein der Zeitgenossen und die wissenschaftliche Epochenbildung der Zeithistoriker strukturell eng aneinander gekoppelt sind, wenn sie nicht anfangs gar ganz ineinander fallen.27 Gerade hier stehen Epochenbewusstsein und Epochenbegriff in einem komplexen Zirkel: Die Erfahrung von Zeitgeschichte erzeugt ein bestimmtes Epochenbewusstsein bei den Zeitgenossen, und dies erzeugt auch immer erst wieder die Epochengliederung, durch die erfahrene Geschichte als Zeitgeschichte konstituiert wird. Insofern lassen sich Autobiografien als Quellen begreifen, aus denen sich Erkenntnisse darüber gewinnen lassen, wie bereits die jeweiligen Zeitgenossen selbst die eigene Zeit in Geschichte verwandeln, und damit den Zeithistorikern Quellen liefern, die sie zur Grundlage für ihre historischen Erkenntnisanstrengungen nutzen können. Die Frage ist dann freilich, wie autonom die Zeitgeschichte in ihrer Themenbildung und Epochengliederung eigentlich gegenüber den in subjektiver Erfahrung und kollektiver Erinnerung gründenden autobiografischen Geschichtskonstruktionen der Zeitgenossen ist. Ebenso wäre zu fragen, wie lange sich die zeithistorische Forschung in den von den Zeitgenossen autobiografisch vorgegebenen temporalen Bahnen bewegt und wann sie sich vom Epochenbewusstsein der Zeitgenossen emanzipiert, wann also Gedächtnis allmählich in Geschichte übergeht. Aus der Flut von Erinnerungsbüchern, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, sei hier Susanna Filbinger-Riggerts Buch Kein weißes Blatt hervorgehoben, weil es als Vater-Tochter-Biografie ein besonders scharfes Schlaglicht auf die komplexe Verwobenheit von Biografie und Autobiografie wirft.28 FilbingerRiggerts Bericht ist sowohl Autobiografie der Autorin in therapeutischer Absicht als auch Biografie ihres Vaters Hans Filbinger. Dieser musste bekanntlich im Jahr 1978 als CDU-Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg zurücktreten, nachdem bekannt geworden war, dass er als Marinerichter bis in die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges hinein Todesurteile gefällt hatte. Die Enthüllungen über ihren Vater, die sie im Alter von Mitte Zwanzig erlebte, kamen für Filbinger-Riggert als Schock, der eine lebensgeschichtliche Wunde schlägt, die sie durch die autobiografische Auseinandersetzung mit der Biografie ihres Vaters heilen will. Den Anlass für dieses Buch bot das säuberlich geführte Tagebuch ihres Vaters, das Filbinger-Riggert nach dessen Tod im elterlichen Haus fand. Allerdings kann sie für ihren Bericht nicht direkt auf die väterlichen Diarien zurückgreifen, weil ihr Bruder, der Grünen-Politiker Matthias Filbinger, zusammen mit einer ihrer Schwestern mit Hilfe eines Anwaltes durchsetzte, dass keine Zitate aus den Aufzeichnungen des Vaters in der Vater-Tochter-Biografie enthalten sein dürften. Doch auch so gelingt der Autorin ein nuanciertes Charakterporträt ihres Vaters, den sie immer auch als Vertreter seiner Generation reflek27 Vgl. dazu ausführlich Depkat: Zum Stand und zu den Perspektiven, 2010, S. 179f. 28 Susanna Filbinger-Riggert: Kein weißes Blatt. Eine Vater-Tochter-Biografie, Frankfurt am Main 2013.
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tiert. Ihr Vater, resümiert Filbinger-Riggert, habe als Marinerichter zum Funktionieren des totalitären und verbrecherischen Systems der nationalsozialistischen Diktatur beigetragen und damit moralisch Schuld auf sich geladen, ohne diese jemals als persönliche Schuld anzuerkennen. Allerdings ist das Buch nicht nur als Biografie Hans Filbingers bedeutsam. Als Autobiografie ist es auch Quelle zur Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die 1951 geborene Filbinger-Riggert erzählt farbenreich von ihrem Leben in einer konservativen, bildungsbürgerlichen, südwestdeutschen Familie mit dem patriarchalischen Vater als Zentrum, deren Wertehimmel durch Disziplin, Ordnung, Zielstrebigkeit und den katholischen Glauben umrissen ist. Sie erzählt aber auch, wie sie sich, freiheitsliebend und stets auf die eigene Unabhängigkeit bedacht, gegen die Welt ihrer Eltern auflehnte und auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben auch bereit war, den Preis des Außenseitertums und Alleinseins zu zahlen. Zwar ist dies in vieler Hinsicht aufschlussreich für die Liberalisierungsprozesse der Bundesrepublik während der 1970/80er-Jahre, doch sind gerade diese Passagen oft viel zu persönlich geraten, um für ein breiteres Publikum von Belang zu sein. Hat sich die Neuere und Neueste Geschichte in jüngster Zeit verstärkt mit autobiografischem Material auseinandergesetzt, so wurden in diesem Feld auch weiterhin Biografien in großer Zahl verfasst. Dabei boten insbesondere Biografien des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit, das Verhältnis von Kontinuität und Bruch in diesem zäsurenreichen Säkulum zu erörtern. Aus der Fülle der biografischen Literatur sollen hier drei Publikationen vorgestellt werden, die biografische Zugänge zur Intellectual History des 20. Jahrhunderts suchen. Ellen Thümmlers politikwissenschaftliche Dissertation will die intellektuelle Biografie Waldemar Gurians schreiben. 29 Sie sieht im Publizisten und Wissenschaftler Gurian einen besonderen Typus des Intellektuellen, dessen Ideen- und Gedankenwelt in Abhängigkeit von den biografisch-historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts rekonstruiert werden soll. Thümmlers Ansatz der intellektuellen Biografie sieht „eine Verknüpfung von Produkt (Werk), Produktionsweise (Art des Schreibens) und Kontext dieser Produktion“ vor, um biografische und thematische Zäsuren seines Werkes freizulegen, sie aufeinander zu beziehen und in ihrem Verhältnis zueinander zu bewerten.30 Das Verfahren ist das der Analyse des publizistischen und wissenschaftlichen Werkes Gurians, das, über Bibliotheken und Archive breit verstreut, von Thümmler akribisch zusammengetragen und gewissenhaft ausgewertet worden ist. Allerdings will sie ihre Werkanalyse „von der biografischen Halterung“ lösen und zur „inhaltlichen Klammer“ hin öffnen, „die Gurian bewusst im Austausch mit anderen schafft“. 31 Mit dieser überraschenden methodischen Wendung nimmt sie sich selbst die Möglichkeit, den erfahrungsgeschichtlich-biografischen Ort der Gurianschen Ideen- und Gedankenwelt präzise zu identifizieren. Die in elf 29 Ellen Thümmler: Katholischer Publizist und amerikanischer Politikwissenschaftler. Eine intellektuelle Biografie Waldemar Gurians, Baden-Baden 2011. 30 Ebd., S. 24. 31 Ebd., S. 21.
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Kapitel gegliederte Werkanalyse entfaltet sich folglich primär als deskriptiver Nachvollzug der Gedankengänge Gurians und legt dabei dessen eigene Begriffe, Muster und theoretische Skizzen an, sodass die lebensgeschichtliche Grundierung der Gurianschen Ideenwelt eher vage bleibt. In welchem Verhältnis Biografie und Denken hier stehen, wie genau sich beides wechselseitig beeinflusst und wie sich dies aus den publizistischen und wissenschaftlichen Äußerungen rekonstruieren lässt, das wird in dieser Studie nicht recht deutlich, die gleichwohl wegen ihres Materialreichtums und der akribischen ideengeschichtlichen Analyse für die weitere Auseinandersetzung mit Gurian eine wichtige Grundlage bildet. Um Intellectual History geht es auch in dem von Alexander Gallus herausgegebenen Band zu Helmut Schelsky, der dessen 100. Geburtstag am 14. Oktober 2012 zum Anlass für eine Neurezeption dieser jenseits der akademischen Fachöffentlichkeit weithin vergessenen Gründerfigur der Bundesrepublik Deutschland nimmt.32 Darin zeigt sich, wie sehr erinnerungs- und geschichtspolitische Aktivitäten durch Jahrestage und Jubiläen strukturiert werden, doch geht es in diesem Band keinesfalls nur um das pflichtschuldige akademische Begehen eines 100. Geburtstages. Vielmehr nimmt der Herausgeber die enge Verbindung von Biografie und Werk Schelskys mit der Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert und insbesondere der Intellectual History der Bundesrepublik Deutschland zum Anlass für eine Wiederbeschäftigung mit dieser Person der Zeitgeschichte. Zu diesem Zweck vereinigt der Band soziologische, philosophische, historische und politikwissenschaftliche Perspektiven, die Schelsky in seiner ganzen Ambivalenz und Widersprüchlichkeit als konservativen Intellektuellen, Soziologen und Hochschulmanager diskutieren. Die Beiträger rekonstruierten Schelskys Welt-, Wissenschafts- und Selbstverständnis, nehmen kritische Re-Lektüren seiner Studien vor und verankern Leben und Werk Schelskys breit in den Bezügen und Kontexten des 20. Jahrhunderts. Insgesamt liefert dieser interessante, gut konzipierte und auch von autobiografischen Erinnerungen an den Geehrten durchsetzte Band wichtige Bausteine für die erst noch zu schreibende intellektuelle Biografie Helmut Schelskys. Abschließend zu diesem Aspekt sei eine Biografie besprochen, die besonders tiefe Einblicke in die sozialen, kulturellen und auch ökonomischen Uses of Biography im Kontext populärer Erinnerungskulturen ermöglicht. Walter Isaacsons Biografie über den Apple-Gründer Steve Jobs ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.33 Sie liefert nicht nur ein sehr plastisches Bild von Jobs‘ Leben und Wirken, sondern bietet auch tiefe Einblicke in den Stellenwert von Biografie als Akt sozialer Kommunikation im Kontext der globalisierten New Economy. Isaacsons Werk ist sowohl Produkt der zeigenössischen Biografie-Industrie als auch selbst ein Marketingcoup von Apple, der das Vermächtnis von Jobs sichern und in die Zukunft tragen soll. Kein Geringerer als der Biografierte selbst hat im Angesicht seines bevorstehenden Krebstodes diese Biografie angeregt und sie von ei32 Alexander Gallus (Hrsg.): Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption, Göttingen 2013. 33 Walter Isaacson: Steve Jobs. Die autorisierte Biografie des Apple-Gründers, München 2011.
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nem Celebrity der amerikanischen biografischen Industrie verfassen lassen. Die Quellengrundlage für diese auch in sehr guter deutscher Übersetzung vorliegende, flüssig geschriebene und detailgesättigte Biografie stellen zahllose Interviews dar, die Isaacson zwischen 2009 und 2011 mit Jobs, seiner Familie und vielen Weggefährten geführt hat, darunter nicht nur Freunde und Bewunderer. Entstanden ist auf diese Weise eine lesenswerte Biografie, die Jobs als genialischen Visionär einer durch und durch computerisierten Welt entwirft, ihn als Anreger und Designer weltverändernder Produkte darstellt und als gewieften Geschäftsmann beschreibt. Gleichzeitig werden Jobs‘ höchst problematischer Umgang mit Mitmenschen, seine Arroganz und hochfahrende Ungeduld ebenso geschildert wie seine vielen Macken. Dadurch entsteht das differenzierte und lebenspralle Bild einer widersprüchlichen Persönlichkeit, deren Leben aufs engste mit der Geschichte der Computertechnologie verbunden ist, so dass sich hier Biografie mit Firmen-, Technik- und Produktgeschichte des 20./21. Jahrhunderts verbindet. So biografisch-historisch interessant das alles ist, man darf darüber nicht vergessen, dass diese Biografie das letzte Projekt des Marketinggenies Steve Jobs ist, der es geschafft hat, Apple-Computer zu einem Lifestyle-Produkt zu machen und dieses unauflösbar mit der Person und insbesondere mit seinem Gesicht zu verbinden. Nicht zuletzt deshalb trägt diese populäre Biografie zur Formierung eines Gedächtnisses der Computerbranche und ihrer User bei.
Biografie und Autobiografie im Kontext gesellschaftlicher Prozesse – soziologische und erziehungswissenschaftliche Perspektiven Die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Lebens- und Erfahrungsgeschichte von Individuen zerfällt in zwei Hauptstränge, und zwar die Lebenslaufssoziologie und die soziologische Biografieforschung. Die soziologische Biografieforschung, die sich seit etwa den 1970er-Jahren in der Kritik an einer rein quantitativ arbeitenden Sozialforschung entfaltete, untersucht „das sinnhafte Handeln eines Subjekts in einer durch einen Lebensprozess vorgegebenen Zeitstruktur“, wobei das „sinnhafte biografische Handeln“ auch „antizipierende Entscheidungen und Selbstreflexion“ umfasst. Biografie ist gekoppelt an „biografische Kompetenz“, also „die praktische, meist nur halbbewusste Steuerung des Prozesses biografischen Handelns“.34 Insgesamt also geht es in der soziologischen Biografieforschung um den Dreiklang von subjektiver Erfahrung sozialer Prozesse, individueller Agency und gesellschaftlicher Struktur. Demgegenüber befasst sich die auf quantitativen Methoden beruhende Lebenslaufssoziologie damit, wie gesellschaftliche Strukturen und Transformationsprozesse individuelle Lebensverläufe prägen. Zugleich analysiert sie Lebenslauf als ein hochstandardisiertes Dokument zur Darstellung von Qualifikationserwerb und beruflichen Werdegängen, in die gesellschaftliche Erwartungs- und Handlungsstrukturen eingeschrieben 34 Reinhold Sackmann: Lebenslaufanalyse und Biografieforschung. Eine Einführung, 2. Aufl. Wiesbaden 2013, S. 53.
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sind. Wer sich als Historiker in die Theorien, Kategorien, Methoden und Grundprobleme der soziologischen Lebenslauf- und Biografieforschung einführen lassen will, der findet in Reinhold Sackmanns nun in zweiter Auflage vorliegender Einführung ein zuverlässiges und didaktisch gut aufbereitetes Hilfsmittel. Ebenso weiterführend für die historische Arbeit ist der von Carsten Heinze und Alfred Hornung herausgegebene Band zu Medialisierungsformen des (Auto-) Biografischen.35 Dieser Band identifziert mit Medialisierung eine Blindstelle nicht nur der soziologischen, sondern auch der literatur- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Biografie und Autobiografie, gibt es doch zwischen Narration und Leben auch noch das Medium der Lebensrepräsentation. Folglich zielen die Beiträge dieses Bandes auf das mediale Wie von Biografie und Autobiografie, auf die ästhetischen und medialen Praktiken der Selbst- und Fremddarstellung sowie auch auf die dem jeweiligen Medium eigene Logik der Wirklichkeitsrepräsentation. Besonders bedenkenswert ist der einleitend von Heinze entwickelte Zugriff auf Biografie und Autobiografie als „Kommunikationscode unserer Lebenswelt“, der in konkreten situativen Kontexten eine breite Vielfalt unterhaltender, aufklärender und wissensvermittelnder Funktionen erfüllt. 36 Dieser Absatz ist für die historische Forschung in besonderem Maße anschlussfähig, und er ist ja auch schon mit guten Ergebnissen historisiert worden, wie nicht zuletzt Lahusens Arbeit zeigt.37 Migration ist derzeit eines der relevantesten Felder soziologischer Forschung, das schon frühzeitig starke Bezüge zur Biografie- und Lebenslaufforschung entwickelt hat. Biografische Perspektiven wurden als Möglichkeit erkannt, grenzüberschreitende Lebenserfahrungen freizulegen sowie transnationale soziale Räume zwischen Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft zu umreißen, um so den dem Phänomen unangemessenen methodischen Nationalismus zu überwinden.38 Gleichwohl ist über die biografische Dimension von Migration noch vergleichsweise wenig bekannt. Gleichzeitig lassen biografische Ansätze Migration in neuem Licht erscheinen, indem sie lange Zeit für gültig gehaltene theoretische Grundannahmen infrage stellen und überhaupt den Begriff Migration komplexer machen. Vor diesem Hintergrund sind nun abschließend drei Publikationen vorzustellen, die Biografie als Kategorie der Migrationsforschung in verschiedenen Zusammenhängen reflektieren. Die Aufsätze in dem von Gudrun Hentges, Volker Hinnenkamp und Almut Zwengel herausgegebenen, nun in zweiter Auflage vorliegenden Band Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion siedeln die Debatte in dem
35 Carsten Heinze, Alfred Hornung (Hrsg.): Medialisierungsformen des (Auto-)Biografischen, Konstanz 2013. 36 Carsten Heinze: Einleitung. Die mediale und kommunikative Perspektive in der (Auto-)Biografieforschung, in: Ebd., S. 3–32, hier S. 6. 37 Vgl. dazu auch Depkat: Zum Stand und zu den Perspektiven, 2010, S. 177–179. 38 Grundlegend: William I. Thomas, Florian W. Znaniecki: The Polish Peasant in Europe and America. Monograph of an Immigrant Group, 5 Bde., Boston 1918–1920.
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durch die Pole Sprache, Bildung und Biografie definierten Dreieck an.39 Als ein blinder Fleck der aktuellen Migrationsforschung wird dabei die Auseinandersetzung mit den Biografien, den Erfahrungen, der Rolle sowie den migrationsbezogenen Sinnstiftungen von Migrantinnen identifiziert. Das verknüpft der Band mit einem Plädoyer für die stärkere Öffnung der Migrationsforschung zu den Gender Studies. Die Studien von Andreas Oskar Kempf zu aktuellen Migrationsverläufen von Ost- nach Westeuropa sowie die von Isabel Sievers, Hartmut Griese und Rainer Schulte zu deutsch-türkischen Transmigranten leuchten migrationsgefügte transnationale soziale Räume aus, in denen sich Migrationsbiografien entfalten.40 Diese migrationsgefügten sozialen Räume sind immer auch transnationale Erinnerungsräume. Kempf befasst sich mit der nach 1989 neu einsetzenden innereuropäischen Ost-West-Migration, die zu einer ‚Westerweiterung‘ des Ostens geführt und neue transnationale soziale Räume kreiert hat. In aufwendiger ethnologischer Feldforschung hat Kempf narrative Interviews von rumänischen Migranten aus einer ländlichen Gemeinde im Bezirk Vrancea, die nach 1989 nach Italien auswanderten, zusammengetragen, um zu analysieren, welche biografischen Erfahrungsmuster und migrationsbezogenen biografischen Sinnstiftungen sich beobachten lassen. Dabei untersucht Kempf die biografische Bedeutungsbildung auch in Abhängigkeit von Familiengeschichte, Milieu und den strukturellen Rahmenbedingungen des Migrationsfeldes. Im Mittelpunkt dieser als „Miniatur“41 von Fallstudien konzipierten Studie steht die Frage nach Migration als Kontinuitäts- oder Diskontinuitätserfahrung, und es wird gezeigt, dass die individuelle biografische Sinnstiftung über Migrationserfahrungen „vielfach in familienbiographische sowie milieuspezifische und gesellschaftsgeschichtlich konturierte Mobilitätsprozesse eingebettet“ ist.42 Im Lichte dieser breiten Kontextualisierung erscheint Migration nicht per se als ein biografischer Bruch, sondern sie kann vielmehr einen biografischen Wendepunkt darstellen, die Kontinuierung biografischer und generationenübergreifender Orientierung bedeuten oder als ein „Resonanz-Horizont“ lebensgeschichtlicher Selbsterkenntnis fungieren.43 Das noch kaum erforschte Phänomen von Remigration untersuchen Sievers, Griese und Schulte in ihrer Studie zu Migrationsbiografien von Deutsch-Türken der zweiten Migrantengeneration, die in Deutschland Abitur gemacht und erfolgreich studiert haben, sich dann aber dazu entschlossen, in das Land ihrer Eltern/ Großeltern auszuwandern, ohne darüber die engen Verbindungen nach Deutsch39 Gudrun Hentges, Volker Hinnenkamp, Almut Zwengel (Hrsg.): Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion. Biografie, Sprache und Bildung als zentrale Bezugspunkte, 2., akt. Aufl., Wiesbaden 2010. 40 Andreas Oskar Kempf: Biographien in Bewegung. Transnationale Migrationsverläufe aus dem ländlichen Raum von Ost- nach Westeuropa, Wiesbaden 2013; Isabel Sievers, Hartmut Griese, Rainer Schulte: Bildungserfolgreiche Transmigranten. Eine Studie über deutschtürkische Migrationsbiographien, Frankfurt am Main 2010. 41 Kempf, Biographien, 2013, S. 17. 42 Ebd., S. 21. 43 Ebd., S. 334.
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land aufzugeben. Biografische Ansätze mit ihren lebensgeschichtlichen Interviews und schriftlichen Emailbefragungen scheinen hier überhaupt die einzige Möglichkeit zu bieten, dieses Phänomen zu erforschen. Dies gilt nicht nur, weil es noch kaum repräsentatives statistisches Material gibt, sondern vor allem auch, weil die Lebenswelten und Migrationsgeschichten der Transmigranten ungeachtet aller Gemeinsamkeiten insgesamt so heterogen und individuell sind, dass sie biografieorientiert betrachtet werden müssen. Dieser Band ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil er einen Fragenkatalog formuliert, Problemhorizonte umreißt und Analyseschemata bereithält, die auch für die historische Untersuchung von Remigration relevant sind.
Fazit In den letzten fünf bis zehn Jahren hat sich eine Theoriedebatte zu lebensgeschichtlicher Forschung formiert, die, im spannungsgeladenen Dreieck von Lebenslauf, Biografie und Autobiografie angesiedelt, zu grundlegenden Fragen der gegenwärtigen Kulturwissenschaft vordringt. Insgesamt sind die drei Kategorien des Biografischen Lebenslauf, Biografie und Autobiografie als höchst komplexe soziale Phänomene greifbar geworden, die auf vielfältige Art und Weise aufeinander verweisen und ineinander verschränkt sind, ohne ineinanderzufallen. Als hybride Genres auf der Grenze von Fakt und Fiktion sind Lebenslauf, Biografie und Autobiografie Phänomene wissenschaftlicher und kultureller Praxis. Sie spielen vielfältige Rollen für die Formierung, Ausgestaltung, Verhandlung und Infragestellung von individueller und kollektiver Erinnerung als Teil gesellschaftlicher Wissensproduktion. Deshalb ist der Inhalt biografischer und autobiografischer Texte stets in Abhängigkeit von ihrer Medialität und ihren vielfältigen kommunikativen Funktionen in gesellschaftlichen Kontexten zu analysieren. Dies eröffnet neue anregende und historisch relevante Fragestellung, die die Geschichtswissenschaft freilich nur im Gespräch mit den Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaften adäquat beantworten kann, wobei das Gespräch mit den Literaturwissenschaften besonders dringlich erscheint, weil hiervon wichtige Impulse für die quellenkritische Auseinandersetzung mit biografischen Quellen ausgehen können.44 Nicht nur, dass das Spektrum der biografischen Quellen sich im Zuge der aktuellen Diskussion radikal erweitert hat; es gilt vielmehr auch, neue Formen einer text- und kommunikationspragmatisch orientierten Quellenkritik in Auseinandersetzung mit biografischem Material zu entwickeln. Allerdings sollten sich Historiker nicht völlig der Textualität und Diskursivität von Lebenslauf, Biografie und Autobiografie ausliefern, sondern stets die Beziehung von Text und Kontext im Blick behalten. Das bedeutet einerseits, sich wei44 Dies hat sich bei dem von mir zusammen mit Wolfram Pyta organisierten Workshop „Autobiographie zwischen Text und Quelle“, der im November 2012 in Regensburg stattfand, eindrucksvoll gezeigt. Vgl. URL: http://www.ahf-muenchen.de/Tagungsberichte/Berichte/pdf/20 13/027-13.pdf, letzter Zugriff: 20.7.2014.
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terhin darum zu bemühen, die Distanz zwischen lebensgeschichtlichen Repräsentationen und historischer Wirklichkeit auszumessen. Andererseits heißt dies, Lebenslauf, Biografie und Autobiografie als Akte sozialer Kommunikation in ihren historischen Ursachen und Folgen zu erörtern. In diesem Zusammenhang wäre dann wohl auch zu betonen, dass Identität historisch gesehen nicht immer so frei wählbar war wie heutzutage, dass Individualitätsfiktionen, Identitätsbewusstsein und Kohärenzbedürfnisse, so konstruiert sie auch immer gewesen sein mögen, historisch wirkmächtige Faktoren waren, und dass ein gelebtes Leben nicht beliebig ‚umerzählbar‘ ist. Es müsste deshalb unter historischem Blickwinkel in der Auseinandersetzung mit Lebenslauf, Biografie und Autobiografie auch immer darum gehen, die Grenzen des ‚Um-Erzählbaren‘ in spezifischen historischen Kontexten abzustecken.
Rezensierte Publikationen Susanne Blumesberger, Ilse Korotin (Hrsg.): Frauenbiografieforschung. Theoretische Diskurse und methodologische Konzepte, Wien 2012. Magnus Brechtken (Hrsg.): Life Writing and Political Memoir. Lebenszeugnisse und politische Memoiren, Göttingen 2012. Thomas Etzemüller: Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt am Main 2012. Bernhard Fetz, unter Mitarbeit von Hannes Schweiger (Hrsg.): Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin 2009. Bernhard Fetz, Wilhelm Hemecker (Hrsg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin 2011. Susanna Filbinger-Riggert: Kein weißes Blatt. Eine Vater-Tochter-Biografie, Frankfurt am Main 2013. Alexander Gallus (Hrsg.): Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption, Göttingen 2013. Levke Harders: American Studies. Disziplingeschichte und Geschlecht, Stuttgart 2013. Carsten Heinze, Alfred Hornung (Hrsg.): Medialisierungsformen des (Auto-)Biografischen, Konstanz 2013. Wilhelm Hemecker, unter Mitarbeit von Wolfgang Kreutzer (Hrsg.): Die Biographie. Beiträge zu ihrer Geschichte, Berlin 2009. Gudrun Hentges, Volker Hinnenkamp, Almut Zwengel (Hrsg.): Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion. Biografie, Sprache und Bildung als zentrale Bezugspunkte, 2., akt. Aufl., Wiesbaden 2010. Walter Isaacson: Steve Jobs. Die autorisierte Biografie des Apple-Gründers, München 2011. Andreas Oskar Kempf: Biographien in Bewegung. Transnationale Migrationsverläufe aus dem ländlichen Raum von Ost- nach Westeuropa, Wiesbaden 2013. Christian Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009. Christiane Lahusen: Zukunft am Ende. Autobiographische Sinnstiftungen von DDR-Geisteswissenschaftlern nach 1989, Bielefeld 2014. Reinhold Sackmann: Lebenslaufanalyse und Biografieforschung. Eine Einführung, 2. Aufl., Wiesbaden 2013. Sylvia Schraut: Bürgerinnen im Kaiserreich. Biografie eines Lebensstils, Stuttgart 2013. Isabel Sievers, Hartmut Griese, Rainer Schulte: Bildungserfolgreiche Transmigranten. Eine Studie über deutsch-türkische Migrationsbiographien, Frankfurt am Main 2010. Barbara Stambolis (Hrsg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013.
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Ellen Thümmler: Katholischer Publizist und amerikanischer Politikwissenschaftler. Eine intellektuelle Biografie Waldemar Gurians, Baden-Baden 2011. Claudia Ulbrich, Gabriele Jancke, Mineke Bosch (Hrsg.): Auto/Biographieforschung, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 24 (2013) 2, S. 3-147.
AUTORINNEN UND AUTOREN
Uwe Bader, Historiker und Pädagoge, Leiter des Gedenkstättenreferates der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz im NS-Dokumentationszentrum in Osthofen (mit Zuständigkeit für die KZ-Gedenkstätten in Osthofen und Hinzert). Ausgewählte Publikationen: Justizgeschichte in Gedenkstätten – die Beispiele der Gedenkstätten in Hinzert und Metz, in: Albrecht Pohle, Martin Stupperich, Wilfried Wiedemann (Hrsg.): NS-Justiz und Nachkriegsjustiz. Beiträge für Schule und Bildungsarbeit, Schwalbach/Ts. 2014, S. 201–216; Zukunft ungewiss – Die Gedenkstätte „Sonderlager Feste Goeben“ in Metz, in: Dachauer Hefte 25 (2009), S. 245–254; Das SS-Sonderlager/KZ Hinzert 1939–1945, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Terror im Westen. Nationalsozialistische Lager in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg 1940–1945, Berlin 2004, S. 249–274. Prof. Dr. Arnd Bauerkämper, Professor für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Freien Universität Berlin. Ausgewählte Publikationen: Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012; Der Faschismus in Europa, 1918– 1945, Stuttgart 2006; Die Sozialgeschichte der DDR, München 2005; Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur. Zwangsmodernisierung und Tradition in Brandenburg 1945–1963, Köln u.a. 2002. Dr. Manuel Becker, Politikwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn. Ausgewählte Publikationen: Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“. Konzeptionen und Kontroversen, Wiesbaden 2013; Koalitionen als politisches „Projekt“? Die rot-grüne und die schwarz-gelbe Bundesregierung, in: Frank Decker, Eckhard Jesse (Hrsg.): Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, Baden-Baden 2013, S. 139–157; Die Ideokratie als Herrschaftsform. Potentiale eines vergessenen Begriffs in der aktuellen Autokratieforschung, in: Zeitschrift für Politik 58 (2011) 2, S. 148–169; Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland. Zu den weltanschaulichen Grundlagen im „Dritten Reich“ und in der DDR, Bonn 2009. Anette Blaschke, M.A., Historikerin und Kulturwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin der Forschungsinitiative „Relations of Difference“ an der Philosophischen Fakultät der Leibniz-Universität Hannover. Ausgewählte Publikation: Die Reichserntedankfeste vor Ort. Auf der „Hinterbühne“
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Autorinnen und Autoren
einer nationalsozialistischen Masseninszenierung, in: Dietmar von Reeken, Malte Thießen (Hrsg.): ‚Volksgemeinschaft‘ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn 2013, S. 125–141. Prof. Dr. Volker Depkat, Historiker und Professor für Amerikanistik am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Regensburg. Ausgewählte Publikationen: Zum Ort der Biografik in der Arbeitergeschichtsschreibung, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 45 (2011), S. 21–35; Remembering War the Transnational Way. The U.S.-American Memory of World War I, in: Udo J. Hebel (Hrsg.): Transnational American Memory, Berlin 2009, S. 185–213; Autobiography Between Memory and Historiography, in: Hans-Jürgen Grabbe, Sabine Schindler (Hrsg.): The Merits of Memory. Concepts, Contexts, Debates, Heidelberg 2008, S. 275–297; Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007. Prof. Dr. Erika Doss, Professorin für Amerika-Studien am Department of American Studies der University of Notre Dame, Indianapolis, USA; Mitherausgeberin der Schriftenreihe „Culture America“; Mitglied im Herausgebergremium der Zeitschriften „Memory Studies“, „Public Art Dialogue“ und „Material Religion: The Journal of Objects, Art, and Belief“. Ausgewählte Publikationen: Memorial Mania. Public Feeling in America, Chicago 2010; Twentieth-Century American Art, Oxford 2002; Spirit Poles and Flying Pigs. Public Art and Cultural Democracy in American Communities, Washington, D.C. 1995; Benton, Pollock, and the Politics of Modernism. From Regionalism to Abstract Expressionism, Chicago 1991. Dr. Claudia Fröhlich, Politikwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Leibniz-Universität Hannover. Ausgewählte Publikationen: Geschichtspolitische und erinnerungskulturelle ZeitRäume. Vom Reiz einer analytischen Kategorie, in: Janina Fuge, Rainer Hering, Harald Schmid (Hrsg.): Gedächtnisräume. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland, Göttingen 2014, S. 43–54; Rückkehr zur Demokratie – Wandel der politischen Kultur in der Bundesrepublik, in: Peter Reichel, Harald Schmid, Peter Steinbach (Hrsg.): Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung, Deutung, Erinnerung, München 2009, S. 105–126; Vergesst Habermas nicht! DIE ZEIT im Historikerstreit, in: Axel Schildt, Christian Haase (Hrsg.): DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008, S. 200–217; „Wider die Tabuisierung des Ungehorsams“. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Frankfurt am Main, New York 2006. Dr. Bettina Greiner, Historikerin, Koordinatorin der Berliner Colloquien zur Zeitgeschichte am Hamburger Institut für Sozialforschung. Ausgewählte Publikationen: Die Speziallager des NKVD in Deutschland, 1945–1950. Annäherungen an ein vermintes Terrain, in: Bettina Greiner, Alan Kramer (Hrsg.): Die Welt der Lager. Zur „Erfolgsgeschichte“ einer Institution, Hamburg 2013, S. 276–301;
Autorinnen und Autoren
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Nach Abu Ghraib, in: Bernd Greiner, Tim B. Müller, Klaas Voß (Hrsg.): Erbe des Kalten Krieges, Hamburg 2013, S. 111–127; Erzählen vom Leid. Stalinistisch Verfolgte und ihr Ringen um gesellschaftliche Anerkennung, in: K. Erik Franzen, Martin Schulze Wessel (Hrsg.): Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012, S. 45–67; Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg 2010 (Suppressed Terror. History and Perception of Soviet Special Camps in Germany, Lanham, MD 2014). Prof. Dr. Joe Perry, Associate Professor für Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Department of History der Georgia State University, Atlanta, USA. Ausgewählte Publikationen: The Mediatization and Eventisierung of German Christmas in the Late Imperial Period, in: Passions in Context. International Journal for the History and Theory of Emotions (im Erscheinen); A History of Western Society, 11th ed., Boston 2013 (Mitautor); Christmas in Germany. A Cultural History, Chapel Hill 2010; Healthy for Family Life. Television, Masculinity, and Domestic Modernity during West Germanyʼs Miracle Years, in: German History 25 (2007) 4, S. 560–595. Dr. Ljiljana Radonic, Politikwissenschaftlerin, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften (APARTStipendium). Ausgewählte Publikationen: Slovak and Croatian invocation of Europe. The Museum of the Slovak National Uprising and the Jasenovac Memorial Museum, in: Nationalities Papers: The Journal of Nationalism and Ethnicity 42 (2014) 3, S. 489–507; Trans-national European Memory vs. New Postcommunist National Narratives after 1989, in: Olga Gyarfasova, Karin Liebhart (Hrsg.): Constructing and Communicating EUrope, Berlin 2014, S. 171–186; Croatiaʼs Politics of the Past during the Tuđman Era (1990–1999) – Old Wine in New Bottles?, in: Austrian History Yearbook XLIV (2013), S. 234–254; Krieg um die Erinnerung – Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards, Frankfurt am Main 2010. Bianca Roitsch, M.A., Kulturwissenschaftlerin und Doktorandin, Mitglied des Niedersächsischen Forschungskollegs „Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort“, ehemalige Mitarbeiterin des Forschungsprojekts Innerdeutsche Grenze. Ausgewählte Publikationen: „Ueberall [...] merkt man, daß sich in nächster Nähe eine kleine Stadt aufgetan hat“. Interaktionsformen der frühen Konzentrationslager Moringen und Esterwegen mit ihrem Umfeld, in: David Reinicke et al. (Hrsg.): Gemeinschaft als Erfahrung. Kulturelle Inszenierungen und soziale Praxis 1930–1960, Paderborn 2014, S. 63–88; „An der Stätte der Baracken und des Stacheldrahtes ein freundlicher Park“. Diskurse und Praktiken der Marginalisierung im Umfeld ehemaliger NS-Zwangslager nach 1945, in: Dietmar von Reeken, Malte Thießen (Hrsg.): ‚Volksgemeinschaft‘ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NSGesellschaft vor Ort, Paderborn 2013, S. 325–340.
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Autorinnen und Autoren
Dr. Harald Schmid, Politikwissenschaftler und Zeithistoriker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten. Ausgewählte Publikationen: Gedächtnisräume. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland, Göttingen 2014 (Hrsg. mit Janina Fuge und Rainer Hering); „Als die Synagogen brannten“. Narrative des Gedenkens der Novemberpogrome, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013) 11, S. 888–905; Das Unbehagen in der Erinnerungskultur. Eine Annäherung an aktuelle Deutungsmuster, in: Margrit Frölich et al. (Hrsg.): Das Unbehagen an der Erinnerung. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt am Main 2012, S. 162– 181; Religiöse und säkulare Bedrohungsnarrative. Zu einer Typologie des Fundamentalismus, in: Sir Peter Ustinov Institut (Hrsg.): Fundamentalismus: Aktuelle Phänomene in Religion, Gesellschaft und Politik, Wien 2011, S. 35–47. Dr. habil. Birgit Schwelling, Politikwissenschaftlerin und Zeithistorikerin, derzeit Fellow am Käte Hamburger Kolleg/Centre for Global Cooperation Research in Duisburg. Ausgewählte Publikationen: Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21st Century, Bielefeld 2012 (Hrsg.); Heimkehr – Erinnerung – Integration. Der Verband der Heimkehrer, die ehemaligen Kriegsgefangenen und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, Paderborn 2010; Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004 (Hrsg.). Prof. Dr. Peter Steinbach, Historiker und Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, bis Herbst 2013 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Mannheim. Ausgewählte Publikationen: Wege in die Moderne. Eine Vorgeschichte der Gegenwart im deutschen Südwesten, Stuttgart 2014 (Hrsg. mit Reinhold Weber); Baden-Baden 1962: Weichenstellung der deutschfranzösischen Union? Charles de Gaulle und Konrad Adenauer als Protagonisten der europäischen Integration, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 160 (2013), S. 481–537; Geschichte im politischen Kampf. Wie historische Argumente die öffentliche Meinung manipulieren, Bonn 2012; Baden-Württembergische Erinnerungsorte, Stuttgart 2012 (Hrsg. mit Reinhold Weber und Hans-GeorgWehling). Prof. Dr. Stefan Troebst, Historiker und Slavist, Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig und stellvertretender Direktor des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), ebenfalls in Leipzig. Ausgewählte Publikationen: West-östliche Europastudien. Rechtskultur, Kulturgeschichte, Geschichtspolitik, Leipzig 2014; Geschichtspolitik. Politikfeld, Analyserahmen, Streitobjekt, in: Etienne François et al. (Hrsg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen 2013, S. 15–34; Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa, Stuttgart 2013; Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Göttingen 2010 (Hrsg.).
Autorinnen und Autoren
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Dr. Harald Wydra, Official Fellow am St Catharine’s College der University of Cambridge, wo er seit 2003 Politikwissenschaft lehrt. Seit 2007 Gründungsherausgeber der Zeitschrift „International Political Anthropology“. Ausgewählte Publikationen: Politics and the Sacred, Cambridge 2015 (im Erscheinen); Breaking Boundaries. Varieties of Liminality, New York 2015 (im Erscheinen, Hrsg.); Democracy and Myth in Russia and Eastern Europe, London 2008 (Hrsg.); Communism and the Emergence of Democracy, Cambridge 2007.
Claudia Fröhlich / Horst-Alfred Heinrich / Harald Schmid (Hg.)
Jahrbuch für Politik und Geschichte – Band 2 Schwerpunkt: Extremismus und Geschichtspolitik Wie benutzen Extremisten Geschichte? Was kennzeichnet eine „extremistische Geschichtspolitik“? Der zweite Band des JPG widmet sich den Zusammenhängen von Extremismus und Geschichtspolitik mit Beiträgen von Samuel Salzborn, Gideon Botsch, Michael Kohlstruck, Karin Priester, D. J. Mulloy, Stefan Peters und Sabine Bergstermann. Im Aktuellen Forum schreibt Krzysztof Ruchniewicz über die „Instrumentalisierung des Nachbarn“ im deutschpolnischen Verhältnis. Als Fundstück präsentiert das JPG eine Vorlesung des englischen Historikers John Robert Seeley über Politik und Geschichte aus dem Jahr 1885 und Katarzyna Stoklosa stellt im Forschungsbericht Neuerscheinungen zum Umgang mit Vergangenheit in Osteuropa vor. .............................................................................................................
Jahrbuch für Politik und Geschichte Band 2 / 2011 Schwerpunkt: Extremismus und Geschichtspolitik 2011. 190 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-09841-0
Ebenfalls lieferbar
Jahrbuch für Politik und Geschichte – Band 1 Historische Gerechtigkeit. Geschichtspolitik im Vergleich 256 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-09824-3
Welche Ziele und Strategien sind mit dem Handlungskomplex historische Gerechtigkeit verbunden? Welche Akteure fordern historische Gerechtigkeit ein? Was sind die Folgen geschichtspolitischer Interventionen zum Ausgleich historischen Unrechts? Diese Fragen analysieren Kerstin von Lingen, Micha Brumlik, Zaur Gasimov, Isabelle de Keghel, Frank Renken, Rachid Ouaissa, Jacques Portes und Martin Großheim. Der Philosoph Lukas H. Meyer führt in das Thema ein. Im Aktuellen Forum bezieht der Chefredakteur des Tagesspiegels, Lorenz Maroldt, Stellung zum Konflikt um die politische Tätigkeit von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern in der Bundesrepublik.
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Claudia Fröhlich / Harald Schmid (Hg.)
Jahrbuch für Politik und Geschichte – Band 3 Schwerpunkt: Brauchen Demokratien Geschichte? „Brauchen Demokratien Geschichte?“ Diese Frage steht im Mittelpunkt des dritten Bandes des JPG. In theoretisch und empirisch orientierten Beiträgen setzen sich Mark Arenhövel, Wolfgang Bergem, Michel Dormal, Regina Fritz, Michael Th. Greven, Elisabeth Kübler und Martin Wiezorek mit diesem Schwerpunktthema auseinander. In der neu eingeführten Rubrik Atelier & Galerie stellen Christian Haase, Birgit Schwelling und Meik Woyke aktuelle Forschungen und Projekte vor. Christoph Cornelißen und Moshe Zimmermann diskutieren im Aktuellen Forum über die Bedeutung und den Nutzen von Historikerkommissionen. Eine erinnerungspolitische Bildanalyse liefern Horst-Alfred Heinrich und Bernhard Stahl in der Rubrik Fundstück. Abgeschlossen wird der Band von Marcel Berlinghoffs Forschungsbericht über „Geschichte in der Einwanderungsgesellschaft“. .............................................................................................................
Aus dem Inhalt Jahrbuch für Politik und Geschichte Band 3 / 2012 Schwerpunkt: Brauchen Demokratien Geschichte? 2013. 263 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-10265-0
m. t. greven: Brauchen Demokratien Geschichte? | w. bergem: Warum Demokratien Geschichte brauchen | m. arenhövel: Gesellschaftliche Selbstthematisierung als Modellierung von Geschichte | e. kübler: Wie ist eine demokratische Geschichtspolitik auf der EU-Ebene möglich? | r. fritz: Ungarn nach dem Krieg. Geschichtspolitik als Instrument der Demokratisierung | m. dormal: Zur Analyse eines Spannungsverhältnisses am Beispiel Luxemburg | m. wieczoreck: Geschichtspolitische Argumentationen in der Weimarer Nationalversammlung p Atelier & Galerie: b. schwelling: Europäische Dimensionen des Erinnerns | m. woyke: Konzeption und didaktisches Profil einer Internetpräsentation für die historisch-politische Bildung | c. haase: Marion Gräfin Dönhoff und die Medialisierung adliger Erinnerungskultur p Aktuelles Forum: c. cornelißen: Zur ambivalenten Rolle von Historikerkommissionen | m. zimmermann: Über den Nutzen von Historikerkommissionen | c. cornelißen: Über Grenzen der Wirksamkeit und Fallstricke der Politik – eine Erwiderung auf M. Zimmermann | m. zimmermann: Auf die Historiker kommt es an! Eine Replik p u.a.
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Claudia Fröhlich / Harald Schmid / Birgit Schwelling (Hg.)
Jahrbuch für Politik und Geschichte – Band 4 Schwerpunkt: Geschichte ausstellen Die vierte Ausgabe des JPG widmet sich im Schwerpunkt dem Thema „Geschichte ausstellen“. Mit dieser aktuellen Perspektive auf den Umgang mit Vergangenheit setzen sich Martin Große Burlage, Thorsten Heese, Stefan Krankenhagen, Britta Lange, Bert Pampel, Silvio Peritore, Thomas Thiemeyer und Irmgard Zündorf auseinander. In der Rubrik Atelier & Galerie formulieren Félix Krawatzek und Rieke Trimçev eine Kritik des Gedächtnisbegriff s und Sebastian Haak erörtert die Geschichtspolitik des USamerikanischen Militärs. Das Aktuelle Forum beteiligt sich mit Beiträgen von Bill Niven und Thomas Großbölting an der Debatte um die „Zukunft der Erinnerung“. Kunst und Erinnerungskultur stehen mit dem Beitrag von Sophie Oliver über Oscar Muñoz im Blickpunkt des Fundstücks. Wichtige Neuerscheinungen aus dem Feld der Transitional Justice stellt Anne K. Krüger im Forschungsbericht vor. Jahrbuch für Politik und Geschichte Band 4 / 2013 Schwerpunkt: Geschichte ausstellen 2014. 263 Seiten mit 12 Fotos. Kart. & 978-3-515-10265-0 @ 978-3-515-10706-8
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Aus dem Inhalt t. thiemeyer: Museumsausstellung als Hort und Ort der Geschichte | s. krankenhagen: Das Musée de l’Europe: Vom (vorerst) gescheiterten Versuch, die europäische Integration zum Subjekt der Geschichte zu machen | t. heese: Das Virtuelle Osnabrücker Migrationsmuseum als Instrument partizipativer Museumsarbeit | b. lange: Deutsche Kolonien und deutsche ‚Heimat‘ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896 und in der Retrospektive von 1996/2007 | m. große burlage: Die Stauferausstellungen von 1977 und 2010/11 | s. peritore: Die Präsentation des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma in Ausstellungen | b. pampel: Besucherreaktionen an historischen Orten aufeinanderfolgenden nationalsozialistischen und kommunistischen Unrechts | i. zündorf: DDR-Geschichte – ausgestellt in Berlin p Atelier & Galerie: f. krawatzek / r. trimçev: Eine Kritik des Gedächtnisbegriffes als soziale Kategorie | s. haak: Das US-amerikanische Militär und The Good War p u.a.
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Aus Anlass des 25. Jahrestages der Wende in Europa nimmt das JPG die europäische Gedächtnislandschaft in den Blick. Im Schwerpunkt untersuchen Stefan Troebst, Arnd Bauerkämper, Harald Wydra, Ljiljana Radonic und Bettina Greiner geschichtspolitische Narrative in Europa. In Atelier & Galerie geht Erika Doss den memorialen Spuren der Terroranschläge von 9/11 nach. Bianca Roitsch und Anette Blaschke fragen nach der erinnerungskulturellen Bedeutung von Fotogra-
fien der deutsch-deutschen Grenze. Manuel Becker diskutiert das Konzept „Geschichte als Argument“. Im Aktuellen Forum plädiert Peter Steinbach in seiner Abschiedsvorlesung für die „Historischen Grundlagen der Politik“ und Uwe Bader schildert den Umgang mit den Rheinwiesenlagern. Joe Perrys Analyse der „Madonna von Stalingrad“ ist das Fundstück dieser Ausgabe. Mit Autobiografien und Biografien beschäftigt sich Volker Depkats Forschungsbericht.
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ISBN 978-3-515-10912-3