Jahrbuch für Politik und Geschichte 7 (2016–2019): Virtuelle Erinnerungskulturen 3515125027, 9783515125024

"Virtuelle Erinnerungskulturen" bilden den Schwerpunkt dieser Ausgabe des Jahrbuchs für Politik und Geschichte

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German Pages 257 [260] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Editorial (Claudia Fröhlich / Harald Schmid)
Schwerpunkt: Virtuelle Erinnerungskulturen
Grenzen der Immersion. Die Erinnerung an den Holocaust und das Zeitalter der Digitalität (Habbo Knoch)
Neue Dimensionen der Zeugenschaft. Digitale 2D/3D-Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden aus fachdidaktischer Sicht (Michele Barricelli / Markus Gloe)
Virtuelles Erinnern? Chancen und Grenzen des historischen Lernens im virtuellen Raum (Katrin Biebighäuser)
Geschichtsvermittlung und Geschichtspolitik in der Wikipedia (Peter Hoeres)
Levelaufstieg. Impulse für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit digitalen Spielen zwischen Geschichtsbildern und Erinnerungskultur (Nico Nolden)
Atelier & Galerie
Stolpersteine. Eine empirische Annäherung an die alltägliche Rezeption (Julia Gilowsky / Horst-Alfred Heinrich)
Entrümpelung postnazistischer Geschichtspolitik. Das Wiener Heldendenkmal und seine Transformation 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (Magnus Koch / Peter Pirker)
Aktuelles Forum
Reformation als Gedenkort im Jahr 2017. Überlegungen zum erinnerungskulturellen Ertrag des Reformationsjubiläums (Benjamin Hasselhorn)
(Re-)Kapitulation. Der 20. Juni als Opfergedenktag und erinnerungskulturelles Instrument (David Zolldan)
Fundstück
Erinnerungskultur der besonderen Art. Adolf Brütts Bismarck-Denkmal auf dem Aschberg (Jens Rönnau)
Forschungsbericht
„Erinnerung kann nicht überlebenan einem toten Ort“ Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus in Gedenkstätten (Harald Schmid)
Autorinnen und Autoren
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Jahrbuch für Politik und Geschichte 7 (2016–2019): Virtuelle Erinnerungskulturen
 3515125027, 9783515125024

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Jahrbuch für Politik und Geschichte Geschichte Franz Steiner Verlag

Band 7 | 2016–2019 | Virtuelle Erinnerungskulturen Herausgegeben von Claudia Fröhlich Harald Schmid

jahrbuch für politik und geschichte

Herausgegeben von Dr. Claudia Fröhlich und Dr. Harald Schmid

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Aleida Assmann, Prof. Dr. Horst-Alfred Heinrich, Prof. Dr. Helmut König, Prof. Dr. Bill Niven, Prof. Dr. Peter Reichel, Prof. Dr. Peter Steinbach, Prof. Dr. Edgar Wolfrum https://elibrary.steiner-verlag.de/yearbook/JB-JPG

JAHRBUCH FÜR POLITIK UND GESCHICHTE JPG 7 (2016–2019)

Schwerpunkt: Virtuelle Erinnerungskulturen

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: © seventyfour/stock.adobe.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 2191-2289 ISBN 978-3-515-12502-4 (Print) ISBN 978-3-515-12507-9 (E-Book)

Inhalt

CLAUDIA FRÖHLICH / HARALD SCHMID

Editorial

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schwerpunkt: Virtuelle Erinnerungskulturen HABBO KNOCH

Grenzen der Immersion

Die Erinnerung an den Holocaust und das Zeitalter der Digitalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 MICHELE BARRICELLI / MARKUS GLOE

Neue Dimensionen der Zeugenschaft

Digitale 2D/3D-Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden aus fachdidaktischer Sicht . . . 45 KATRIN BIEBIGHÄUSER

Virtuelles Erinnern?

Chancen und Grenzen des historischen Lernens im virtuellen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 PETER HOERES

Geschichtsvermittlung und Geschichtspolitik in der Wikipedia . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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NICO NOLDEN

Levelaufstieg

Impulse für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit digitalen Spielen zwischen Geschichtsbildern und Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

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Inhalt

Atelier & Galerie JULIA GILOWSKY / HORST-ALFRED HEINRICH

Stolpersteine

Eine empirische Annäherung an die alltägliche Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 MAGNUS KOCH / PETER PIRKER

Entrümpelung postnazistischer Geschichtspolitik

Das Wiener Heldendenkmal und seine Transformation 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Aktuelles Forum BENJAMIN HASSELHORN

Reformation als Gedenkort im Jahr 2017

Überlegungen zum erinnerungskulturellen Ertrag des Reformationsjubiläums . . . . . . . . 173 DAVID ZOLLDAN

(Re-)Kapitulation

Der 20. Juni als Opfergedenktag und erinnerungskulturelles Instrument . . . . . . . . . . . . . . 189 Fundstück JENS RÖNNAU

Erinnerungskultur der besonderen Art

Adolf Brütts Bismarck-Denkmal auf dem Aschberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Forschungsbericht HARALD SCHMID

„Erinnerung kann nicht überleben an einem toten Ort“

Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus in Gedenkstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Editorial Claudia Fröhlich / Harald Schmid

Virtuelle Erinnerungskulturen

Wie verändern, wie schaffen virtuelle Welten und Digitalisierung Kulturen des Erinnerns? Mit dieser Frage nach der Neujustierung des Blicks von Gesellschaft auf Vergangenheit durch Digitalisierung und Virtualisierung beschäftigen sich die Beiträge im Schwerpunktthema des siebten Jahrbuchs für Politik und Geschichte . Die jüngere interdisziplinäre Forschung der memory studies hat diese große Frage natürlich längst konkretisiert, wobei insbesondere die Folgen für den Umgang der Gesellschaft mit der NS-Vergangenheit im Mittelpunkt stehen . Deutlich wird mittlerweile, dass Digitalisierung und Virtualisierung im Kontext gegenwärtiger politischer und soziologischer Rahmenbedingungen von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur zu diskutieren sind . So lässt sich fragen: Welche Bedeutung haben diese Faktoren etwa im Rahmen des generationenbedingten Abschieds von den Zeitzeugen? Wie verändern die Produktion von virtuellen Räumen und Rekonstruktionen zerstörter Orte die Beschäftigung mit Geschichte und das Lernen an – seit Jahrzehnten nicht sichtbaren – historischen Stätten? Verändern digitale Medien mit den Lernprozessen auch Partizipation, indem sie das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden neu bestimmen? Welche Auswirkungen haben hierarchische gesellschaftliche Strukturen im Zeitalter der Digitalisierung auf Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen? Diese Fragen bilden den weiten konzeptionellen Rahmen unseres Schwerpunkts „Virtuelle Erinnerungskulturen“ . Habbo Knoch eröffnet die Rubrik mit einem breit angelegten diskursiven Überblick über das Verhältnis von Erinnerungskultur und Digitalisierung im Kontext einer grundlegenden Neubestimmung von „Gedenken“ und „Erinnerung“ unter den Bedingungen des 21 . Jahrhunderts . Knochs Analyse unter dem Titel „Grenzen der Immersion“ bestimmt zunächst die Merkmale von Digitalität und beschreibt die Veränderung von „Erinnerung“ durch sie . Er analysiert in einem zweiten Schritt den Einsatz digitaler Technologien in der Holocaust-Erinnerung . Dabei be-

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CLAUDIA FRÖHLICH / HARALD SCHMID

fasst sich Knoch mit drei Feldern: Gedenkstätten und Gedenkmuseen, topografischen Repräsentationen der Tat und archivalischen Gedächtnissen . Er sichtet Möglichkeiten und Nutzung von 3D-Animationen, Digitalmodellen historischer Orte, mehrdimensionalen Apps, Audiokunst und -guides, von „augmented“ oder „virtual reality“ und simulierter Erfahrbarkeit von Vergangenheit ebenso wie deren interaktive Erkundungen . Dies führt Knoch zur Feststellung eines nicht nur „grundlegenden Wandels der Erinnerungskultur im digitalen Zeitalter“ . Vielmehr kann er zeigen, „wie die Standards und Grenzen der Repräsentation des Holocaust immer wieder neu verhandelt werden“ . Der Autor plädiert dafür, „durch digitale Technologien und virtuell erweiterte Erfahrungsräume nicht ohnehin schon vorhandene auratisierende oder sakralisierende Effekte zu verstärken, sondern das Widersprüchliche, Lückenhafte und Spezifische der historischen Überlieferung und ihrer Deutungen sichtbar werden (zu) lassen“ . Knoch betrachtet nicht „das Digitale“ als „die eigentliche Herausforderung der Erinnerungskultur, sondern die damit aufscheinende Form eines Erinnerns, das sich der Sehnsucht nach abschließenden Erklärungen nicht fügen will . Bislang sind die neuen Möglichkeiten digitaler Informationsräume noch nicht ansatzweise daraufhin analysiert und genutzt, was sie für unsere Grenzen des Verstehens und Erfahrens letztlich bedeuten und bereithalten . Darüber sollte aber nicht „das Digitale“ als neuer Fetisch entscheiden, sondern die Bereitschaft zu einer deliberativen Form des Erinnerns .“ Michele Barricelli und Markus Gloe befassen sich in ihrem Aufsatz „Neue Dimensionen der Zeugenschaft . Digitale 2D/3D-Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden aus fachdidaktischer Sicht“ mit einer gegenwärtig auch öffentlich viel diskutierten Frage . Ausgehend von einem umfassenden Überblick über die nach dem Zweiten Weltkrieg beginnende Technikgeschichte im Rahmen der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und über die aktuelle Relevanz von Projekten, Gedenkstätten und Lernorten, die mit digitalen Zeugnissen arbeiten, diskutieren die Autoren exemplarisch Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Zeugnissen von Überlebenden des Holocaust als „Bildungsmedium“ . Barricelli und Gloe argumentieren schließlich gegen eine „Verschleierung der Virtualität und Digitalität“ und für ein „forschend-entdeckendes Lernarrangement“, in dem sich die Lernenden sowohl mit der Geschichte wie auch mit den Medien der Vermittlung kritisch auseinandersetzen können . Als eine zentrale Frage diskutieren die Autoren dabei, wie das innovative Medium – beispielsweise der holografierte Zeitzeuge – den Inhalt, also die Vermittlung der Vergangenheit, beeinflusst . Veränderung von Lernprozessen durch digitale Angebote untersucht auch Katrin Biebighäuser in ihrem Beitrag „Virtuelles Erinnern? Chancen und Grenzen des historischen Lernens im virtuellen Raum“ . Ihre Beobachtung von Lernprozessen bei Schülergruppen rückt unter anderem mit der App „Tod an der Berliner Mauer“ exemplarisch virtuelle historische Lernorte in den Blick, die dreidimensionale Räume generieren und historisch relevante Orte nachstellen . Sollen virtuelle Räume von Schülerinnen und Schülern als Lernorte genutzt werden können, müssen nach Biebighäuser zwei

Editorial

Bedingungen erfüllt sein: Als Lernort erfordert der virtuelle Raum eine konkrete Anleitung aus dem nicht virtuellen Raum etwa durch den Lehrenden; zudem müssen die Lernenden die Möglichkeit haben, eine die Geschichte kommunizierbare Erzählung zu verfassen . Die Frage, wie das Medium (in diesem Fall das World Wide Web) den Inhalt (das Wissen über Geschichte) prägt, beschäftigt auch Peter Hoeres in seinem Beitrag „Geschichtsvermittlung und Geschichtspolitik in der Wikipedia“ . Hoeres analysiert die Wissensproduktion der Wikipedia, indem er auf Wikipedia veröffentlichte Sachartikel und biografische Einträge untersucht . Dabei macht er jene Hierarchien und geschichtspolitischen Praxen sichtbar, die der Wissensproduktion zugrunde liegen und kommt zu dem Ergebnis, dass mit Blick auf die untersuchten Wikipedia-Einträge „die digitale Public History (…) Popular History“ bleibe . Auch Hoeres fordert die Einübung digitaler Quellenkritik und Medienpädagogik, die die Nutzer der Wikipedia befähigen, die spezifischen Mechanismen und Bedingungen der Wissensproduktion im World Wide Web zu erkennen . Einem von der Geschichtswissenschaft bisher kaum behandelten Thema widmet sich Nico Nolden . Sein Aufsatz „Levelaufstieg . Impulse für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit digitalen Spielen zwischen Geschichtsbildern und Erinnerungskultur“ verfolgt deshalb zwei Ziele: Nolden möchte eine inhaltliche Analyse von Erinnerungskulturen und Geschichtsbildern in digitalen Spielen etablieren und er sensibilisiert für innovative methodische Zugänge zu diesem bisher randständigen Forschungsfeld . Er plädiert für eine „technikkulturelle Historiografie“ und unterbreitet „Vorschläge, um disparate Forschungsansätze zusammenzuführen, Diversität und Interdisziplinarität von Studien zu erhöhen und die Vielfalt historischer Inszenierungen zu überblicken“ . In den Beiträgen der Rubrik Atelier & Galerie geht es in diesem Band um zwei – wenn auch ganz verschiedene – gegenwärtig umstrittene und konfliktgeladene erinnerungskulturelle Praxen . Die seit einigen Jahren insbesondere von der ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, vorgebrachte Kritik an den mittlerweile europaweit über 70 .000 verlegten „Stolpersteinen“ zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, war Anlass für Julia Gilowsky und Horst-Alfred Heinrich „Eine empirische Annäherung an die alltägliche Rezeption“ der Stolpersteine zu wagen . Knobloch hatte kritisiert, die kleinen, in den Gehwegen vor den letzten Wohnsitzen der Opfer verlegten Messingplatten seien keine angemessene Erinnerung, vielmehr würden die Opfer erneut mit Füßen getreten . Heinrich und Gilowsky haben in ihrer Pilotstudie mittels Befragung und Beobachtung das Wissen über die Stolpersteine bei Hamburger Bürgerinnen und Bürgern sowie das Verhalten von Passanten in der Konstanzer Altstadt in Bezug auf diese Steine erfasst . Aus den erhobenen Daten schlussfolgern sie, dass „das Wissen um die Stolpersteine unter Deutschen mit hoher Bildung weit verbreitet“ und die „Bewertung des Denkmalprojektes durch diesen Personenkreis“ größtenteils zustimmend sei . Zwar beobachteten die Au-

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CLAUDIA FRÖHLICH / HARALD SCHMID

torinnen, dass die meisten Passanten die Steine gar nicht bemerkten . Dennoch liefere das Untersuchungsergebnis „einen Beleg für die Wichtigkeit dieses Denkmals im kulturellen Gedächtnis“, weil die Stolpersteine „wenigstens einmal an jedem Untersuchungstag von einer Person genauer angeschaut“ wurden und „dieser Befund (…) auf alle bislang verlegten Stolpersteine hochgerechnet“ eine Wirkung vermuten lasse, „die nicht unterschätzt werden sollte“ . Das Ergebnis widerspreche jedenfalls der Annahme, Denkmäler hätten für uns – also in diesem Fall für die an den Stolpersteinen vorbeigehenden Passanten – in der Regel keine Bedeutung . Mit Blick auf die Kritik Charlotte Knoblochs stellen Gilowsky und Heinrich fest, in der Praxis würden Passanten selten auf Stolpersteine treten . Somit sei Knoblochs Kritik empirisch widerlegt . Magnus Koch und Peter Pirker werfen einen Blick auf eine „Entrümpelung postnazistischer Geschichtspolitik“, indem sie die „Transformation“ des Wiener Heldendenkmals 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges thematisieren . Sie zeigen, dass und wie seit dem 19 . Jahrhundert an diesem zentralen österreichischen Kriegerdenkmal in Wien wichtige Fragen der nationalen Identität verhandelt werden – und wie unter wechselnden politischen Rahmenbedingungen seit 2012 ein Transformationsprozess diskutiert wird . Um das vielleicht größte erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Ereignis in Deutschland seit der Wiedervereinigung, das Reformationsjubiläum im Jahr 2017, geht es dieses Mal im Aktuellen Forum. Benjamin Hasselhorn analysiert die erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Dimensionen des bereits mit einer Erinnerungsdekade vorbereitenden Großereignisses . Der Autor untersucht öffentliche Stellungnahmen der am Erinnerungsdiskurs beteiligten staatlichen, kirchlichen und akademischen Akteure, wertet die Präsenz des Jubiläums auf dem Buchmarkt sowie das Veranstaltungsprogramm des Jahres 2017 aus . In seiner erinnerungskulturellen Bilanz kommt Hasselhorn zu dem Befund, dass „die Krise der evangelischen Kirche in Deutschland durch das Jubiläum eher noch manifestiert wurde“, während es hingegen Historikern, Museen und staatlichen Akteuren gelungen sei, „das historische Erbe der Reformation sowie die Person Martin Luther als positiven Bezugspunkt kultureller Identität im öffentlichen Bewusstsein zu verankern .“ Unter der Überschrift „(Re-)Kapitulation“ diskutiert David Zolldan die Einführung des 20 . Juni als „Opfergedenktag und erinnerungskulturelles Instrument“, mit dem „unter besonderer Betonung von Flucht und Vertreibung der Deutschen“ den Opfern von Zwangsmigrationen am Weltflüchtlingstag gedacht werden soll . Dabei argumentiert Zolldan, dass die mit dem 20 . Juni fortgesetzte Rekontextualisierung des Topos ‚Flucht und Vertreibung‘ diesen weiter kausal entkoppelt vom nationalsozialistischen Krieg und seinen Folgen . Zolldan zeigt, wie die mit dem neuen Gedenktag vollzogene Einbettung in die Migrationsgeschichte und -gegenwart zu Konflikten führt – auch bei den Vertriebenenverbänden und ihrer politischen Lobby . Als Fundstück präsentieren wir Jens Rönnaus Foto und Reflexion über eine „Erinnerungskultur der besonderen Art“, nämlich des Bismarck-Denkmals auf dem Aschberg

Editorial

in Schleswig-Holstein . An diesem Beispiel gibt er einen Einblick in das geografisch weitverteilte Gedenken des deutschen Reichskanzlers insbesondere in Form von Denkmälern und Türmen . Rönnaus Text lädt dazu ein, über historische und gegenwärtige Sinn-Zuschreibungen des Denkmals nachzudenken, indem er die machtpolitischen Kontexte der Denkmalsgeschichte skizziert und das politisch aufgeladene Kunstwerk näher betrachtet, das als „symbolisches Kultobjekt“ sogar „über die Landesgrenzen verschoben“ wurde . Eine breit angelegte Literaturübersicht zur „Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus in Gedenkstätten“ bietet Harald Schmid in seinem Forschungsbericht . Schmid beleuchtet strukturelle und akteursbezogene Bedingungen des gegenwärtigen Umgangs mit der NS-Vergangenheit, reflektiert politische und soziologische Rahmenbedingungen, mit denen Gedenkstätten, Erinnerungsorte wie auch die Forschung umgehen müssen, ebenso wie Phänomene des Massentourismus und des „Datenschutzes im Feld des Gedenkens und Erinnerns“ . Dank

Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Aufsätzen diesem siebten Band des JPG sein Profil gegeben haben – und dieses Mal sich in Geduld üben mussten, bis das Jahrbuch erschien . Besonders verbunden sind wir unseren Gutachterinnen und Gutachtern, die uns durch ihre konstruktiven Stellungnahmen zu den Aufsätzen der Rubriken Schwerpunkt sowie Atelier & Galerie eine Hilfe bei der Qualitätssicherung waren: Cord Arendes, Horst-Alfred Heinrich, Christian Hellwig, Steffi de Jong, Angelika Königseder, Helmut König, Stephan Linck und Corinna Tomberger . Unser Dank gilt auch dem Franz-Steiner-Verlag für die stets ermutigende Begleitung des Jahrbuchs . Verlagsleiter Thomas Schaber danken wir herzlich für die fortgesetzte und geduldige Unterstützung des JPG .

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Schwerpunkt: Virtuelle Erinnerungskulturen

Grenzen der Immersion Die Erinnerung an den Holocaust und das Zeitalter der Digitalität1 Habbo Knoch

Zusammenfassung

Die gesellschaftliche Etablierung digitaler Technologien hat mit dem Beginn des 21 . Jahrhunderts neue Formen der Kommunikation, Repräsentation und Erfahrung von Geschichte ermöglicht . Der Beitrag zeigt anhand von vier Bereichen, wie sich die Holocaust-Erinnerung unter dem Eindruck der Digitalisierung verändert: Gedenkstätten und Gedenkmuseen, topografische Repräsentationen der Tat, Gedächtnis und Archiv sowie das Verhältnis institutioneller und individueller Erinnerung . Digitalität wird dabei weder als dystopische Bedrohung noch als utopisches Projekt, sondern als eine reale Dimension der sozialen Wirklichkeit verstanden . Sie prägt zwar die Erinnerungskultur schon länger, als darüber diskutiert wird, ist aber noch nicht hinreichend auf ihre Implikationen und Potenziale hin betrachtet worden . Abstract

Since the beginning of the 21st Century, the social implementation of digital technologies has lead to new options to communicate, represent, and experience history . This article

Der Beitrag verdankt wesentliche Anregungen Prof . Dr . Paul Verschure (Barcelona) und seinem Team, besonders Sytse Wierenga, sowie Stephanie Billib und Stefan Wilbricht im Rahmen des für die Gedenkstätte Bergen-Belsen entwickelten Projekts „Memostory 3 .0“ . Zu danken habe ich auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Hauptseminars „Der Holocaust: Ereignis und Erinnerung im digitalen Zeitalter“ im Sommersemester 2016 an der Universität zu Köln sowie der Mitveranstalterin Dr . Steffi de Jong . – Der Erhebungszeitraum für die Auswahl der Beispiele endete mit Erstellung der Erstfassung dieses Beitrags im Dezember 2016 . 1

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HABBO KNOCH

shows how digitalization has influenced the memory of the Holocaust . It will discuss four relevant topics: memorial sites and museums; topographical representations; cultural memory and the archive; the relation of individual and institutional memories . Digitality will not be understood as a dystopic threat nor as a utopian project but rather as a determining factor of social reality which has shaped cultural memory significantly . Yet, its implications and potential have not been discussed sufficiently .

Der Fotoblog „Tindercaust“ mit Selfies vom Holocaust-Denkmal in Berlin, von Schülern online gestellte Animationsfilme wie „Lego Holocaust“ oder das über YouTube verbreitete Kunstvideo „Dancing Auschwitz“ mit dem Holocaust-Überlebenden Adam Kohn: Digitale Produkte dieser Art haben in jüngster Zeit immer wieder für zum Teil heftige Diskussionen gesorgt .2 Die Beispiele belegen nicht nur die grundlegende Bedeutung von Medien für das kollektive Gedächtnis,3 sondern auch, wie derzeit Standards und Grenzen der Repräsentation des Holocaust, aber auch von Erinnerung im digitalen Zeitalter überhaupt neu verhandelt werden .4 Welche Auswirkungen haben dabei der Übergang in das „digitale Zeitalter“ und dessen neue Formen der kulturellen Gedächtnisbildung und historischen Kommunikation – auch im Verhältnis zu anderen Faktoren, die schon seit längerer Zeit diskutiert werden, etwa dem Schwinden der Zeitzeugen oder dem wachsenden zeitlichen Abstand zum Holocaust? Und, so lässt sich in Abwandlung eines Ansatzes von David Gugerli zur Geschichte des Computers fragen, wie kommt nicht nur das Digitale in die Erinnerung an den Holocaust, sondern die Erinnerung in das Digitale?5 Was manchen als große Chance für eine Demokratisierung des Erinnerns erscheint, bereitet anderen größtes Unbehagen: So konstatiert Steffi de Jong eine „Angst vor offenen Narrativen“, Wulf Kansteiner eine „digital anxiety“ .6 Solche Ängste sind oftmals ebenso diffus wie grundlegend, weil sie Fragen des Geschichtsbewusstseins und seiner Vgl . Paige L . Gibson, Steve Jones: Remediation and Remembrance: „Dancing Auschwitz“ . Collective Memory and New Media, in: ESSACHESS . Journal for Communication Studies 5 (2012), S . 107–131 . 3 Vgl . Aleida Assmann, Erinnerungsräume . Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg .): Medien des kollektiven Gedächtnisses . Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin 2004 . 4 Vgl . Claudio Fogu, Wulf Kansteiner, Todd Presner (Hrsg .): History Unlimited . Probing the ethics of Holocaust culture, Cambridge/Mass . 2016; Andrew Hoskins (Hrsg .): Digital Memory Studies . Media pasts in transition, New York, London 2018 . 5 David Gugerli: Wie die Welt in den Computer kam . Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit, Frankfurt am Main 2018 . 6 Steffi de Jong: Von Hologrammen und sprechenden Füchsen – Holocausterinnerung 3 .0, in: erinnern_kontrovers . Aufbrüche in den Erzählungen zu Holocaust, Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, 9 .7 .2015, URL: http://erinnern .hypotheses .org/465, letzter Zugriff: 4 .7 .2018; Wulf Kansteiner: The Holocaust in the 21st Century . Digital anxiety, transnational cosmopolitanism, and never again genocide without memory, in: Hoskins (Hrsg .): Digital Memory Studies, S . 110–140 . Vgl . auch die Themenausgabe „Holocaust und Digitalität: Populär- und gegenkulturelle Aneignungen“ von Zeitgeschichte 43 (2016) 4 . 2

Grenzen der Immersion

Veränderungen aufwerfen: Das Digitale befördere, so die Kritiker, eine Zerstreuung der Aufmerksamkeit, gehe mit einer Kommerzialisierung von Geschichte einher, führe zu einer wachsenden Selbstbezüglichkeit und Selbstdarstellung der Nutzer, bringe den Verlust hermeneutischer und reflexiver Kompetenzen mit sich und bedeute die Überschreitung ethischer Repräsentationsgrenzen als Folge des wachsenden Bedürfnisses nach Imagination und Immersion, Reenactment und Nacherleben . Nicht wenige halten digitale Technologien und die Erinnerung an den Holocaust – vor allem an den Orten der Tat – aus ethischen und didaktischen Gründen für grundsätzlich unvereinbar oder auch angesichts der Authentizität der Überreste für überflüssig . Wahrnehmbar ist auch eine generelle Unsicherheit angesichts eines kaum noch überschaubaren, nicht in gewohnten Konventionen kommunizierten und technisch den meisten im Detail nicht verständlichen Angebots an digitalen Anwendungen und Repräsentationen . Vor allem die sozialen Medien gelten vielen als besondere Herausforderung: Dating-Selfies vom Holocaust-Mahnmal, mit Legofiguren nachgestellte Erschießungsszenen oder ein mit seinen Angehörigen in KZ-Gedenkstätten tanzender Überlebender, die virale Verbreitung finden, werden von vielen als Verletzung von Grundregeln der Holocaust-Erinnerung wahrgenommen, die sich seit den 1970er-Jahren etabliert haben .7 So twitterte die Gedenkstätte Auschwitz nach der Online-Vorstellung des kommerziellen Projekts „Witness: Auschwitz“, das auf der Basis von Überlebendenberichten eine virtuelle Rekonstruktion von Auschwitz anstrebt, die Nutzung von Virtual Reality, um Auschwitz „nacherleben“ zu lassen, überschreite eine „ethical red line“ .8 Es geht also in der Debatte über das Verhältnis von Holocaust-Erinnerung und Digitalität oft mehr um Phänomene, die als Grenzüberschreitungen oder Unvereinbarkeiten aus einer bestimmten normativen Perspektive betrachtet werden, als um die tatsächlichen, strukturellen Veränderungen . So gerät die Diskussion um das Verhältnis von Digitalität und Holocaust-Erinnerung viel zu eng, wenn sie auf besonders kritisch diskutierte Bereiche wie Social Media, Computerspiele oder die Virtualisierung von Zeitzeugen als Hologramme beschränkt wird . Denn dies übersieht Zweierlei: Zum einen setzt das willkürlich einen recht späten Zeitpunkt, von dem an digitale Medien als relevant betrachtet werden und reduziert die Breite und Tiefe des Phänomene beträchtlich . So sollte man die digitale Bearbeitung von Filmbildern in „Schindlers Liste“ vor mehr als 25 Jahren als einen deutlich Vgl . Habbo Knoch: Die Serie „Holocaust“ . Geschichtsvermittlung als Fernsehunterhaltung, in: INDES . Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 1/2016, S . 62–73; Miriam B . Hansen: „Schindler’s List“ is not „Shoah“ . Second Commandment, popular modernism, and public memory, in: Barbie Zelizer (Hrsg .): Visual Culture and the Holocaust, Brunswick (New Jersey) 2001, S . 127–151; David Bathrick, Brad Prager, Michael D . Richardson (Hrsg .): Visualizing the Holocaust . Documents, aesthetics, memory, Rochester 2008; Tobias Ebbrecht-Hartmann: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis: Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011 . 8 Für den Hinweis danke ich Felix Zimmermann (Köln) . 7

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HABBO KNOCH

früheren Einschnitt sehen, der auch mit einer gängigen Datierung der Ausbreitung digitaler Arbeits- und Archivtechnologien in dieser Phase korrespondiert . Zum anderen ist der Fokus auf die genannten Bereiche selektiv, weil damit die jahrzehntelang Prägung von Sag- und Zeigbarkeitsregeln durch analoge Medien wie Fotografie, Film, Fernsehen und AV-Aufzeichnungsmedien ausgeblendet wird . Das Verhältnis von Erinnerungskultur und Digitalisierung steht somit in einem weiten Feld nicht-digitaler Formen medialer Holocaust-Repräsentationen und ihrer Überlieferungen .9 Lange Emergenz und mediale Vorprägung zeigen an, dass in der Debatte um Effekte der digitalen Transformation weit mehr als diese behandelt wird . Indem Menge, Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Geschwindigkeit, Reproduktion, Rekombination, Referentialität und Vernetzung von Daten sowie deren interaktiv generierte, netzwerkstrukturierte Zirkulation exponentiell zunehmen, eröffnen sich bislang ungekannte Repräsentationsformen, Kommunikationsräume und Erfahrungswelten auch für historische Ereignisse und deren Erinnerung . Dadurch stellen digitale Repräsentationen und Kommunikationsformen nicht nur zur Disposition, wie der Holocaust dargestellt wird und ob dies „angemessen“ ist, sondern wer die Kontrolle darüber hat und inwieweit es diese überhaupt geben sollte . Ähnlich wurde auch bereits gefragt, als 1979 „Holocaust“ gesendet, 1989 Art Spiegelmans Comic „Maus“ erschien oder 1994 „Schindlers Liste“ in die Kinos kam . Leitbegriffe dieser Debatten waren „Trivialisierung“, „Ästhetisierung“ und „Kommerzialisierung“, die oft in einer pejorativ verstandenen „Amerikanisierung“ summiert wurden und mit denen zum Beispiel auf die seinerzeit forcierte Mediatisierung der NS-Verbrechen in den ersten Holocaust-Museen in Washington oder Los Angeles reagiert wurde . Die „ethical red lines“ wurden wiederholt überschritten und neu verhandelt . So hat Imre Kertész bereits 1998 aus Anlass des Films „Das Leben ist schön“ eindrücklich auf eine mit der Medialisierung des Holocaust verbundene Zwiespältigkeit hingewiesen: Die Überlebenden bestünden auf dem „alleinigen geistigen Eigentumsrecht am Holocaust“, könnten sich jedoch gegen die mediale Verfälschung ihrer Erfahrungen durch Kitsch, Konformismus und Konsum nicht wehren .10 Alvin H . Rosenfeld spricht von einem massenmedial bedingten „Ende des Holocaust“, vor dem nur die Unvergänglichkeit des Schmerzes der Überlebenden bewahren könne .11 „Ethical red lines“ als Grenzmarkierungen des Statthaften korrespondieren mit Instanzen oder Diskursformationen, die deren Einhaltung kontrollieren . Nun ist gerade die Frage der Kontrolle über die Erinnerung auch ein zentrales Motiv, von dem aus manche Forderungen nach einer Neubestimmung des Holocaust-Gedenkens unter den Bedingungen des 21 . Jahrhunderts erhoben werden . So betrachten Kritiker der Vgl . Diana Popescu, Tanja Schult (Hrsg .): Re-visiting Holocaust Representation in the Post-Witnessing Era, Basingstoke 2015 . 10 Imre Kertesz: Wem gehört Auschwitz?, in: Die Zeit, 19 .11 .1998 . 11 Vgl . Alvin H . Rosenfeld: Das Ende des Holocaust, Göttingen 2015 . 9

Grenzen der Immersion

herrschenden Erinnerungskultur den staatsgeprägten, normativen Charakter des Holocaust-Gedenkens als Problem, greifen dessen „Opferzentrierung“ an oder fordern eine „multidirectional memory“, um der Vielfalt und Konfliktivität von Gewaltverbrechen über den Holocaust hinaus besser gerecht zu werden .12 Im Verbund mit den grundlegenden Veränderungen der kommunikativen und kulturellen Gedächtnisbildung stellt sich zudem die Frage, ob die wachsende Zerstreuung, Dezentrierung und Postinstitutionalität von digital geprägten Kommunikationsräumen mit dem Anspruch von Grenzen und deren Kontrolle noch vereinbar ist . Im Folgenden soll ausgehend von einigen Merkmalen von „Digitalität“ für vier Bereiche aufgezeigt werden, wie sich die Holocaust-Erinnerung unter dem Eindruck der neuen digitalen Technologien verändert: Gedenkstätten und Gedenkmuseen, topografische Repräsentationen der Tat, Gedächtnis und Archiv sowie das Verhältnis institutioneller und individueller Erinnerung . Der Beitrag versteht sich vor allem als exemplarische Bestandsaufnahme, der zugleich den Bedarf empirischer Studien zu den einzelnen Feldern und der Varianz innerhalb von (nationalen) Erinnerungskulturen sichtbar werden lässt . Digitalität wird dabei weder als dystopische Bedrohung noch als utopisches Projekt, sondern als eine reale Dimension der sozialen Wirklichkeit verstanden, die nicht nur schon länger die Erinnerungskultur prägt, als darüber diskutiert wird, sondern auch noch nicht hinreichend auf ihre Potenziale und Chancen hin betrachtet worden und deshalb noch gar nicht ausgemacht ist, ob sie nicht Formen des Erinnerns hervorbringen, die dem Gedächtnis der Opfer womöglich nicht mehr oder weniger gerecht werden als die bisherige Erinnerungskultur .13 Digitalität und Gedächtnis

Digitalität ist in der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts aus der Verflechtung und Weiterentwicklung technologischer, praxeologischer und steuerungstechnischer Potenziale als neues soziales Dispositiv entstanden . Sie hat seit den 1990er-Jahren eine gesellschaftsverändernde Bedeutung erlangt, deren Reichweite, Tiefenwirkung und

Vgl . Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur . Eine Intervention, München 2013; Ulrike Jureit, Christian Schneider: Gefühlte Opfer . Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010; Dana Giesecke, Harald Welzer: Das Menschenmögliche . Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012; Michael Rothberg: Multidirectional Memory . Remembering the Holocaust in the age of decolonization, Stanford 2009 . 13 Der Frage, was mit Begriffen wie „gerecht“, „angemessen“ oder „erlaubt“ gemeint ist und ob sie oder damit verbundene Positionen der Darstellbarkeit oder Undarstellbarkeit des Holocaust triftig sind, kann hier nicht weiter nachgegangen werden . Vgl . exemplarisch: Slavoj Žižek: „Beschreibung ohne Ort“ . Über den Holocaust und die Kunst, in: Diaphanes 1/2009, S . 141–161; Bettina Bannasch, Almuth Hammer (Hrsg .): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung . Mediale Repräsentationen der Schoah . Frankfurt am Main, New York 2004 . 12

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Typik allerdings noch umstritten sind und der genauen Analyse harren . Ihren Kern macht aber ein neuer Status von Daten und deren Produktion, Zirkulation, Nutzung, Bewertung und Erfahrung aus . Digitalität wird deshalb hier verstanden als die wachsende Verfügbarkeit und ortsunabhängige Teilbarkeit von digital reproduzierten oder generierten und über diverse elektronische Geräte gespeicherten, bearbeiteten und bereitgestellten Daten . Sie sind in lokalisierbaren Datenräumen verfügbar oder in einem virtuellen globalen Raum faktisch oder potenziell miteinander verbunden, indem sie über Knotenpunkte in physische Netzwerke eingespeist und dort durch Nutzer mit unterschiedlichen Nutzungsrechten, ökonomischen Möglichkeiten und Endgeräten abgerufen, kommentiert, verändert, ergänzt und geteilt werden können . Kommunikation wird so um verschiedene neue Formen des (zeit-)unmittelbaren Teilens, Kommentierens und Löschens erweitert . Ein wesentliches Merkmal der Digitalität ist ihre hypermediale Struktur, die aus der computergenerierten simultanen Verwendung und Integration verschiedener vordigitaler oder hybrider Medien erwächst . Vernetzungen von Daten und mikrotechnologische Geräteformate machen Digitalität immersiv erfahrbar, und sie eröffnen neuartige immersive Erfahrungsräume . Datenströme entziehen sich der Steuerbarkeit und drohen, manipulativ zu werden: Digitalität ermöglicht nutzergesteuerte Profile durch unhierarchische Datenverknüpfungen, produziert akzidentielle temporäre oder dauerhafte Netzwerke und erweitert sich durch unmittelbare Feedbacks in Datensysteme hinein, die aber den Nutzern nicht zugänglich sind .14 Elementar sind für diese „Kultur der Digitalität“ Operationen, die (semi-automatisch) Verknüpfungen zwischen Daten herstellen, sei dies intentional („Referentialität“) oder technisch („Algorithmizität“) auf einem technologisch für Laien oder Nichtautorisierte kaum mehr nachvollziehbaren oder zugänglichen Niveau .15 Immer mehr breiten sich semi- oder vollautomatisierte Anwendungen zur Auswertung, Visualisierung und Kommunikation auch von historischen Daten aus . Materialien, Grundlagen und Praktiken des Forschens und Sammelns, Lehrens und Lernens verändern sich gravierend . Doch nach einem jahrelangen Hype um „Big Data“, bei dem die Generierung digitaler und digitalisierter Daten im Vordergrund stand, wird inzwischen stärker die kontextsensible Steuerung und das fragegenerierte Verstehen wachsender Datenmengen vorangetrieben („smart data“), etwa durch die Verfeinerung von Algorithmen, die automatisch Zusammenhänge zwischen (Nutzer-)Daten Vgl . Matthias Kriest: Der Einsatz von neuen Medien und Multimedia in KZ-Gedenkstätten, in: Katja Köhr, Hauke Petersen, Karl-Heinrich Pohl (Hrsg .): Gedenkstätten und Erinnerungskulturen in Schleswig-Holstein . Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Berlin 2011, S . 169–185 . 15 Vgl . Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Frankfurt am Main 2016 . Im Unterschied zu Stalder betrachte ich Digitalität nicht in einem weiten Sinne als intellektuelle Operation, die bereits vor der Erfindung von Computern existierte, sondern als maschinengebundene Durchdringung des Sozialen mit automatisierbaren Technologien, die im Prinzip auf Binärcodierungen beruhen, letztlich jedoch ebenfalls auf das Ende des 19 . Jahrhunderts zurückgehen . 14

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erkennen oder herstellen .16 Die Hybris eines „total recall“ einerseits und der Ruf nach einem „delete“ angesichts der Datenfülle andererseits erscheint deshalb als ein künstlicher Gegensatz, geht es doch zunehmend um intelligente und reflektierend begleitete Formen der Datennutzung für komplexe Deutungsbedarfe der modernen Welt .17 Die Dateninfrastruktur der Welt im „digitalen Zeitalter“ ist jedoch trotz Großprojekten wie Google Books oder Europeana weiterhin durch einen „digital divide“ gekennzeichnet: Die weitaus größeren Teile der kulturellen Überlieferung liegen nicht digitalisiert vor oder sind (noch) nicht digital zugänglich .18 Charakteristisch ist eine hybride und zudem längst nicht untereinander verbundene Struktur von Daten und Überlieferungen: Physische Bibliotheken und Archive koexistieren oder interferieren mit digitalen Infrastrukturen . Zudem geht der immense Zuwachs an Datenverfügbarkeit und aktiven Zugangsmöglichkeiten global mit beträchtlichen regionalen und sozialen Diskrepanzen einher . Solche Spaltungen prägen schließlich auch die Geisteswissenschaften, in denen Forschungsmethoden und Präsentationsformen aus dem vordigitalen Zeitalter dominieren, während es beim Einsatz digitaler Technologien noch an Grundlagenreflexion mangelt . Immer noch – und auch für die Holocaust-Erinnerung – gilt Kiran Patels Feststellung von 2011, „dass technologische Innovationen und veränderte Kulturpraktiken die Beschaffenheit des Quellenmaterials (…) neu bestimmen, ohne dass in der Forschung darüber bislang eine angemessene Debatte geführt würde“ .19 Einrichtungen ebenso wie Nutzer der Erinnerungskultur bewegen sich somit innerhalb eines wachsenden Fundus an digital verfügbaren Informationen, der sich als teils paralleler, intermittierender und vor allem interaktiv von vielen mitgestaltbarer Datenraum neben konventionellen Informationsangeboten und Erinnerungsorten etabliert hat .20 Zugleich lässt sich eine wachsende Hybridisierung analog und digital generierter Informationsformen feststellen – etwa bei Online-Ausstellungen von Memorial Museums, die den Nutzern Kommentarfunktionen erlauben, oder durch Webseiten von „Stolperstein“-Projekten, die den Gedenkort virtuell rekonstruieren . Angebote erinnerungskultureller Datenproduzenten überschneiden sich, sie sind eingewoben in ein ebenso randunscharfes wie vielfältig verflochtenes Angebot an dafür relevanten his-

Vgl . Ramón Reichert (Hrsg .): Big Data . Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, Bielefeld 2014 . 17 Vgl . Gordon Bell, Jim Gemmel: Total Recall . How the E-Memory revolution will change everything, New York 2009; Viktor Mayer-Schönberger: Delete . The virtue of forgetting in the digital age, Princeton 2009 . 18 Vgl . Eleanor Kelly: Europeana . Cultural Heritage in the Digital Age, in: Perla Innocenti (Hrsg .): Migrating Heritage . Experiences of cultural networks and cultural dialogue in Europe, Farnham 2014, S . 85–94 . 19 Kiran Klaus Patel: Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter . Neue und alte Herausforderungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2011), S . 331–351, hier S . 332 . 20 Vgl . Erik Meyer (Hrsg .): Erinnerungskultur 2 .0 . Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt am Main, New York 2009 . 16

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torischen und gegenwartsbezogenen Informationen und tragen über ihre jeweiligen Nutzerkontakte zu individuellen Informationsprofilen bei . So zeichnen sich grundlegende Veränderungen der Axiome des im 19 . Jahrhundert entstandenen Dispositivs des kulturellen Gedächtnisses ab, das auf einer kontrollierten, hierarchisierten und strukturierten Sicherung von Quellen (Archiv), ihrer akademisch beglaubigten Prozeduren folgenden Auswertung (Wissenschaft) und einer normativ sowie institutionell gebundenen Vermittlung (Schulen, Universitäten, Museen) beruhte . Zu den letztlich geringsten Herausforderungen dieses Dispositivs gehört die Digitalisierung vorhandener Quellen und Daten . Relevanter wird dies bereits für die Sicherung primärdigitaler Bestände, mit denen ganz andere Ordnungen in den Archiven Einzug halten . Noch weitergehende Effekte haben jedoch digitale Erhebungs-, Auswertungs- und Visualisierungstechnologien für die Wissenschaft, weil sie grundlegende epistemologische Fragen aufwerfen . Es sind aber vor allem die digitalen Möglichkeiten der (Re-)Produktion, Zirkulation und Kommentierung, die manche von einem Ende des Archivs, einer Zeitordnung, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet, sowie des kollektiven Gedächtnisses überhaupt sprechen lassen . Andrew Hoskins führt dies auf eine „hyperconnectivity“ als neuartigem Modus digitaler im Unterschied zu analogen Medien zurück, die zu einer grenzenlosen „attention of the multitude“ und dem Abschied von kollektiv geteilten Imaginationen führen .21 Nach Wolfgang Ernst wird mit digitalen Signalübertragungen das Prinzip des fixierenden Speicherns durch eine ganz anders geartete „generic memory“ abgelöst: Gespeichertes verliert die Aura des Vergangenen, Erinnerung ist von physisch gebundener Zeit entkoppelt und Geschichte von der Gegenwart nicht mehr zu unterscheiden .22 Archivierung nimmt demnach eine neue Form als ein permanenter, zirkulierender Austausch von Daten an, der durch die Gleichzeitigkeit enthierarchisierter Operationen des Einstellens, Löschens, Kommentierens und Einordnens ohne kulturell beglaubigte Regelcodes gekennzeichnet ist .23 Nach Andrew Hoskins erleben wir deshalb die Veränderung des menschlichen Gedächtnisses durch ein technologisches „Unbewusstes“ der Digitalität . Sie führt demnach anthropologisch zu einer Transformation des kulturellen Erinnerns in einen dauernd rekonfigurierten „On-the-fly“-Modus der

Andrew Hoskins: Memory of the Multitude . The end of collective memory, in: Ders . (Hrsg .): Digital Memory Studies, S . 85–109 . 22 Wolfgang Ernst, Tempor(e)alities and Archive-Textures of Media-Connected Memory, in: Ebd ., S . 143–155 . 23 Vgl . Wolfgang Ernst: Digital Memory and the Archive, Minneapolis, London 2013; Ekaterina Haskins: Between Archive and Participation . Public memory in a digital age, in: Rhetoric Society Quarterly 37 (2007) 4, S . 401–422; Jens Brockmeier: After the Archive . Remapping Memory, in: Culture Psychology 16 (2010), S . 5–35 . 21

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Flüchtigkeit, Synchronizität und Instabilität von Daten .24 In dieser neuen digitalen „culture of connectivity“ schwindet der räumliche und zeitliche Unterschied zwischen dem „Speichern“ und dem „Gebrauchen“ von Informationen .25 Entsprechend hat die Gedächtnisforschung gerade solche Konzepte von „Erinnerung“ grundsätzlich in Frage gestellt, die von Metaphern des Fixierens, Stabilisierens und Überdauerns geprägt waren: Identitäten werden aufgrund einer instabilen Akkumulation von Daten und ihrer individualisierten Aneignung autobiografisch wie im sozialen Austausch permanent situativ organisiert und reorganisiert .26 Auch der durch Medienereignisse strukturierten Erinnerungskultur der „zweiten Moderne“ wird durch die digitale Transformation des Medienraums ihre Grundlage entzogen, indem die Diversifizierung von Medienformaten und Sendeorten eine Partialisierung und zeitliche Horizontverschmelzung mit sich bringt . Verschleppte Ankunft: Digitale Techniken und Institutionen des Gedenkens

Betrachtet man Akteure der Erinnerungskultur als Datenproduzenten in diesem digitalen Raum, lassen sich vier Typen unterscheiden: – erstens primär durch physische Orte bestimmte Einrichtungen wie Gedenkstätten an historischen Orten oder Memorial Museums, die sich nicht an historischen Orten der Tat befinden; – zweitens konventionelle Publikumsmedien wie Printprodukte, Rundfunk, Fernsehen oder Film, die sich in den letzten Jahren zunehmend zu hybriden Medienensembles aus analogen und digitalen Technologien entwickelt haben; – drittens rein oder primär digitale Formate, die sich zunächst über ein geschlossenes Angebot an Daten definieren wie Online-Ausstellungen, Virtual Memorials oder Computerspiele, aber auch CD-ROMs oder eBooks;

Andrew D . Hoskins: Digital Network Memory, in: Astrid Erll, Anne Rigney (Hrsg .): Mediation, Remediation, and the Dynamics of Cultural Memory, Berlin 2009, S . 91–106; Ders .: 7/7 and Connective Memory . Interactional trajectories of remembering in past-scarcity culture, in: Memory Studies 4 (2011) 3, S . 269–280 . 25 Vgl . José van Dijck: Flickr and the Culture of Connectivity . Sharing views, experiences, memories, in: Memory Studies 4 (2011), S . 401–415; Ders .: Mediated Memories in the Digital Age, Stanford 2007 . 26 Vgl . Joanne Garde-Hansen, Andrew Hoskins, Anna Reading (Hrsg .): Save As … Digital Memories, Basingstoke 2009; Motti Neiger, Oren Meyers, Eyal Zandberg (Hrsg .): On Media Memory . Collective memory in a new media age, Basingstoke 2011; Angela Pereira, Alessia Ghezzi, Lucia Vesnić-Alujević (Hrsg .): The Ethics of Memory in a Digital Age . Interrogating the right to be forgotten, Basingstoke 2014; Andra Hajek, Christine Lohmeier, Christian Pentzold (Hrsg .): Memory in a Mediated World, Basingstoke 2016 . 24

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– viertens der Bereich der Social Media, der durch einen offenen, interaktiven Informationsmarkt aufgrund der Bereitstellung von Daten durch Nutzer gekennzeichnet ist, deren Zugang nicht durch eine institutionelle Funktion bedingt ist oder autorisiert wird . Während sich die Beobachtungen zu den Effekten des Digitalen für die Erinnerungskultur vor allem auf die sozialen Medien richten, erscheinen demgegenüber die meisten deutschen Institutionen des Erinnerns an den Holocaust und die nationalsozialistischen Verbrechen, auf die sich dieser Beitrag hier im Wesentlichen beschränken muss, wie eine Version 1 .0 . In Gedenkstätten werden digitale Anwendungen bestenfalls als Hilfsmittel oder Ergänzung zu vorhandenen, analogen Medientechnologien genutzt . Dem entspricht historisch die Nutzung von Audio- und Videotechniken vor allem zur Aufzeichnung von Zeitzeugengesprächen seit den 1980er-Jahren, die nur in wenigen Fällen zu einem konsequent integrierten Einsatz dieses Materials auch in seiner genuinen Medialität in Gedenkstättenausstellungen geführt haben .27 Zwar ist der Einsatz von technischen Medien in Gedenkstätten an sich eine etablierte Praxis, aber es gab immer wieder Vorbehalte gegenüber in ihrer Zeit innovativen Formaten wie dem Einsatz von Videos, Hörstationen oder stationären Multimedia-Tablets . Diese Distanz wirkt sich letztlich trotz weniger Ausnahmen und einzelner Versuche kooperativer Erschließungsprojekte bis in den Bereich der Erschließung und Erforschung der Quellen aus – ein Bereich, der allerdings auch seitens der Politik und der verantwortlichen Ministerien nicht hinreichend unterstützt wird . Insgesamt haben die Technikdistanz und eine Privilegierung von Wort und zweidimensionalem Bild als Quellenfaksimile oder von Fotografien in Gedenkstätten zu einer im Vergleich mit anderen historischen Museen und Ausstellungen bestenfalls verzögerten und zurückhaltenden Nutzung neuer Medien geführt . Bis heute herrschen trotz weniger Ausnahmen konventionelle Informationsträger in den Dauerausstellungen vor: Objekte, Karten und Modelle, Erläuterungen, Fotowände und Paratexte . Werden digitale Arbeitsformate eingesetzt, folgen sie oft dem Prinzip der in den 1990er-Jahren entwickelten „Computerinseln“ oder sind – wie im NS-Dokumentationszentrum München – auf eine eigene Etage verbannt . Ausnahmen finden sich oft eher in kleineren Gedenkstätten, die dezidierter integrierte und raumkompakte Lösungen auch für didaktische Arbeitsangebote mit digitalen Arbeitstischen schaffen, zum BeiZur Geschichte von Video-Testimonies vgl . Judith Keilbach: Mikrofon, Videotape, Datenbank . Überlegungen zu einer Mediengeschichte der Zeitzeugen, in: Norbert Frei, Martin Sabrow (Hrsg .): Die Geburt des Zeitzeugen, Göttingen 2012, S . 281–299; Jeffrey Shandler: Holocaust Memory in the Digital Age . Survivors’ stories and media practices, Stanford 2017; Steffi de Jong: The Witness as Object . Video Testimonies in Memorial Museums, New York 2018; Dies .: Bewegte Objekte . Zur Musealisierung des Zeitzeugen, in: Sibylle Schmidt, Sibylle Krämer, Ramon Voges (Hrsg .): Politik der Zeugenschaft . Zur Kritik einer Wissenspraxis, Bielefeld 2011, S . 243–264; Dies .: Im Spiegel der Geschichten . Objekte und Zeitzeugenvideos in Museen des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges, in: WerkstattGeschichte 62/2013, S . 19–41 . 27

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spiel in der Gedenkstätte Stille Helden in Berlin (2008), der KZ-Gedenkstätte Lichtenburg Prettin (2011) oder der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel (2016) . Der Einsatz von AV-Medien, Computerstationen oder digitalen Speichertechnologien ordnet sich aber in der Regel immer noch einem Repräsentationsmodus unter, der Inszenierungen, Selbststeuerung und spielerische Zugangsweisen schon länger vermeidet, als es digitale Medien gibt . Vorwiegend ergänzend und konservativ werden digitale Technologien auch in anderen Arbeitsbereichen verwendet . Datenbanken für Sammlungsbestände und Häftlings- oder Gedenkbücher sind in der Regel nicht öffentlich beziehungsweise online zugänglich, Quellen und Zeitzeugeninterviews liegen meist nicht in digitaler Form vor und müssen vor Ort eingesehen werden, die Sammlungsbestände der meisten, vor allem kleineren Einrichtungen sind bislang nicht – wenn überhaupt – einheitlich erschlossen und vernetzt .28 Websites, Facebook oder YouTube dienen vor allem einer monodirektionalen und serviceorientierten Informationsvermittlung statt einer interaktiven Kommunikation . Wenn Gedenkstätten „virtuelle“ Rundgänge oder Ausstellungen anbieten, handelt es sich nicht selten um die Eins-zu-Eins-Übernahme vorhandener gedruckter oder stationärer Informationsmedien wie Faltblättern oder Wandpräsentationen .29 Auch bei Apps wird so verfahren: Sie sind zwar komplementär zu Ausstellungen, aber ihnen nachgeordnet und bestätigen deren Primat historisch gesicherter Information . Für diese Zurückhaltung gibt es viele Gründe, die oft auf den Kern der Gedenkstättenarbeit zur Wahrung der Würde von Opfern und Überlebenden zurückgeführt werden . Doch unterstützt diese Art der Nutzung eher passive Konsumpraktiken als interaktive Diskurse . Sie ist wesentlich durch die eminent ortsgebundene Form der Erinnerungsarbeit bedingt: Besucher sollen, so das Ethos, an den Ort kommen, um sich dort die historischen Informationen und Quellen über die „Dauerausstellung“ als zentralisiertem Medium anzueignen . Die Vermittlung von ortskonkretem Wissen durch persönliche „Guides“ herrscht trotz aller neueren Formate vor, die auf technisch unterstützte Selbsterkundungen setzen . Hinzu kommen die Furcht vor einem Missbrauch digitalisierter Quellen und vor rechtsradikalen Kommentaren im digitalen Raum, ein Mangel an personellen und finanziellen Ressourcen, um andere und bessere Formen – etwa optisch wie technisch auf einem halbwegs modernen Stand befindliche Websites – zu realisieren, aber auch eine wissenschaftliche Expertenkultur, zu der

Vgl . Hans Coppi (Hrsg .): Elektronische Erschließung archivalischer Quellen in Gedenkstätten . Beiträge des internationalen Workshops in der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen am 23 ./24 . März 2001, Münster 2002; Johannes Ibel: Die Häftlingsdatenbank der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, in: Gedenkstätten-Rundbrief 115/2003, S . 3–13; Thomas Grotum: Das digitale Archiv . Aufbau und Auswertung einer Datenbank zur Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz, Frankfurt am Main 2004; Christian Römmer: Digitalisierung der WVHA-Häftlingskartei . Ein Projektbericht, in: Gedenkstätten-Rundbrief 150/2009, S . 20–25 . 29 Vgl . Ina Lorenz: Gedenken online . Wie Museen und Gedenkstätten im Internet an die Opfer des Holocaust erinnern, in: Gedenkstätten-Rundbrief 164/2011, S . 9–20 . 28

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lange Zeit bestenfalls „digital migrants“ gehörten und deren eigener professioneller Statusgewinn der vergangenen Jahrzehnte sich im Medium konventionell linearer und hierarchischer Vermittlungsformen ereignet hat .30 Einen deutlich avancierteren Weg gehen seit den 1990er-Jahren Gedenkmuseen, die nicht an historischen Orten der Verbrechen selbst situiert sind – so das United States Holocaust Museum (USHMM), Yad Vashem oder auch der Ort der Information im Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin mit der Bereitstellung digitaler Zeitzeugenvideos der Shoah-Foundation .31 Vor allem bei den beiden erstgenannten Einrichtungen ist der – auch in Konkurrenz zueinander stehende – Anspruch unverkennbar, durch die Nutzung zumindest von Webpräsentationen weltweit wirken zu wollen .32 Die Websites beider Institutionen fungieren – im Unterschied zu denen der meisten Gedenkstätten – als eigenständige und umfassende Informationsplattformen zur Geschichte des Holocaust und seiner Erinnerung . Dies wird durch eine große Zahl von Online-Ausstellungen und Wissensportfolios ergänzt, die oft im Verbund mit temporären Ausstellungen vor Ort entstanden sind . Digitale Bildungsmaterialien sind zudem ein fester Bestandteil der Vermittlungsprogramme und mithin auch der Erinnerungsmissionen, die beide Museen verfolgen . Datenbankinformationen zu den eigenen Sammlungen, aber auch digitalisierte Quellen – in wenn auch unterschiedlichem Umfang und nur als Bruchteil der tatsächlichen Bestände – sind ebenso für Forscher und andere Interessierte einsehbar . Seit 2004 hat Yad Vashem auch seine Datenbank der über sechs Jahrzehnte hinweg gesammelten Namen von Opfern des Holocaust online zugänglich gemacht – etwas, das von deutschen Gedenkstätten bislang unter anderem aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes oder Datenmissbrauchs nicht vorgenommen worden ist . Unverkennbar wird die Nutzung digitaler Technologien jedoch nicht von Gedenkstätten und auch nur bedingt von Memorial Museums forciert . So enthält das neueste Standardwerk zur Gedenkstättenpädagogik unter 23 Beiträgen nur einen, der sich unter dem Titel „Gelände erkunden“ mit „virtuellen Medien“ befasst, während Aspekte wie Menschenrechte, Herkunftsheterogenität und Globalisierung umfänglich debattiert werden .33 Die vor allem normativ begründete Distanz zum öffentlichen Gebrauch von Vgl . Dörte Hein: Erinnerungskulturen online . Angebote, Kommunikatoren und Nutzer von Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust, Konstanz 2009; Jennifer Heiberger: Holocaust-Erinnerung online – eine Utopie? Der Internetauftritt der Gedenkstätte Auschwitz, in: Wolfgang Form (Hrsg .): Narrative im Dialog . Deutsch-polnische Erinnerungsdiskurse, Dresden 2013, S . 223–239 . 31 Irit Dekel: Mediated Space, Mediated Memory . New Archives at the Holocaust Memorial in Berlin, in: Neiger, Meyer, Zandberg (Hrsg .): On Media Memory, 2011, S . 265–277; Adam Brown, Deb Waterhouse-Watson: The Future of the Past . Digital Media in Holocaust Museums, in: Holocaust Studies 20 (2014), S . 1–32 . 32 Anna Reading: Digital Interactivity in Public Memory Institutions . The uses of new technologies in Holocaust museums, in: Media Culture Society 25 (2003), S . 67–85 . 33 Fabian Müller, Martina Ruppert-Helly: Gelände erkunden . Virtuelle Medien bei der Vermittlung an Gedenkorten, in: Elke Gryglewski u . a . (Hrsg .): Gedenkstättenpädagogik . Kontext, Theorie und Praxis der 30

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Digitalität behindert ihre innovative Nutzung und Entwicklung, die offenbar lieber kommerziellen Anbietern überlassen wird . Entsprechende Projekte werden vor allem an den historischen Orten eher an sie herangetragen, als von ihnen selbst entwickelt . Damit befinden sich Gedenkstätten in guter Gesellschaft, da sich Digitalität auch in vielen anderen Bereichen vor allem als Übersetzung traditioneller Wissensrepräsentationen äußert .34 Doch dürften bei Gedenkstätten ethische Vorbehalte eine besondere Rolle spielen, die mit dem besonderen Charakter des Ortes als Friedhof und der Wahrung der Würde der Opfer und Überlebenden begründet werden . Von grundlegender Bedeutung scheint die Skepsis gegenüber den Implikationen und vermeintlichen Gefahren digitaler Technologien zu sein, die nicht lineare Wissensangebote, andere Formen plastischer Anschaulichkeit, die auf virtuellen Rekonstruktionen beruhen, sowie Optionen simulierter Teilhabe beinhalten . Der verbreiteten Scheu vor dem Digitalen liegt eine tief eingewurzelte Skepsis gegenüber dem Bildlichen, Sinnlichen und Anschaulichen zugrunde, die sich mit grundlegenden Erwägungen zum problematischen Verhältnis von Modernität und Massenmord paart . Im amerikanischen, westeuropäischen und israelischen Raum hat sich ein Konsens mit gewissen Spielräumen zum Einsatz von Medien insgesamt und Digitalität entwickelt, der zwar Rekonstruktionen oder Inszenierungen nicht gänzlich ausschließt, aber doch Grenzen bezüglich eines Zeit und Raum auflösenden, immersiven „Nacherlebens“ durch Formen der Animation, des Reenactment oder virtueller Erfahrungsräume setzt . Bezogen auf den Holocaust ist vor allem in Osteuropa ein anderer Trend zu beobachten . So wird in den neuen Museen zur jüdischen Geschichte in Moskau oder Warschau unter starkem Einsatz digitaler Präsentationstechnologien die Idee einer symbolischen und sinnlich empfindbaren Wiederbelebung der zerstörten Kultur inszeniert .35 Digitalität ist hierbei nur eines von vielen Instrumenten, die eine Umsetzung der programmatischen Idee erleichtern, aber gerade im Verbund mit analogen Formen (etwa dem Nachbau einer Synagoge) und Medien oder historischen Objekten ihre Wirkung entfalten . Wie im Museum in der ehemaligen Schindler-Fabrik in Krakau verlaufen dabei die Grenzen zwischen Rekonstruktion, Erlebnisangebot und Sinnesüberwältigung fließend .

Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin 2015, S . 251–263 . Ebenfalls ohne Digitalität: Bünyamin Werker: Gedenkstättenpädagogik im Zeitalter der Globalisierung, Münster, New York 2016 . Stattdessen: Daniel Bernsen, Ulf Kerber (Hrsg .): Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im Digitalen Zeitalter, Opladen 2017 . 34 Vgl . Thomas Nachreiner: Digital Memories . The Remediation of National Socialism and the Holocaust between popular culture and the web public, in: Alfred Grossegesse, Mário Mato (Hrsg .): Mnemo-Grafias Interculturais / Intercultural Mnemo-Graphies, Braga 2013, S . 251–272 . 35 Vgl . Steffi de Jong: Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau POLIN Dauerausstellung (Ausstellungsbesprechung), in: WerkstattGeschichte 69/2015, S . 83–88 .

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Orte digital: Von Lagerkarten zur digitalen Modellierung

Das Digitale ist nicht immer neu: Um Übersichten der nationalsozialistischen Verbrechensorte zu erstellen, wurden bereits seit 1945 wiederholt Datenerhebungen zur Kartografierung von Stätten der nationalsozialistischen Verbrechen und von Grablagen oder Friedhöfen durchgeführt, die aber meist ohne konkrete Untersuchungen der Orte selbst auskommen mussten . Die im Rahmen von Tatortkommissionen und Prozessen vor allem der frühen Nachkriegszeit erhobenen Daten harren noch einer digitalen Erschließung und Aufbereitung . Dies gilt auch für den großen Fundus ortsspezifischer Quellen, wie sie etwa mit den jüdischen Gedenkbüchern der Nachkriegszeit oder anderen gemeindebezogenen Sammlungen vorliegen . Hier zeichnet sich im Zuge eines „spatial turn“ der Holocaust-Forschung eine stärkere Hinwendung zu einer nicht nur ortsspezifischen, sondern auch raumbezogenen Auswertung der Quellen ab .36 In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Portale, ortslexikalische Websites oder themenbezogene Verbindungen von Daten und Karten entwickelt worden . Portale zu Gedenkstätten und Verbrechensorten bieten dabei in der Regel umfangreiche Sachinformationen, aber schon die Verlinkung zwischen den Einträgen ist meist nur rudimentär .37 Darüber geht das in Teilen der ehemaligen Sowjetunion nach Massengräbern deutscher Erschießungen suchende Projekt „Yahad-in-Unum“ hinaus . Die erhobenen Quellen werden bei angemessenem Forschungsinteresse digital zur Verfügung gestellt, und die topografisch strukturierte Website verbindet ortsbezogene Informationen mit Zeitzeugenvideos und anderen Quellen .38 Vermehrt finden sich daneben „virtuelle Landkarten“ zu einzelnen Themen . So wird an der Justus-Liebig-Universität Gießen an einem „virtuellen Atlas“ in Verbindung mit einer Online-Bibliografie gearbeitet, um frühe Texte der Holocaustliteratur kartografisch sichtbar zu machen,39 und das 2008 online gestellte Portal „Virtual Shtetl“ des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau beinhaltet Bilder und Informationen zur Geschichte von fast zweitausend jüdischen Gemeinden in Polen .40 Allerdings werden Möglichkeiten, über georeferenzierte Quellen die Dynamiken und Netzwerke in und zwischen Orten zu erforschen und zu visualisieren, was in der historischen Forschung bereits Standard ist, bislang kaum genutzt . Analog zur wachsenden Bedeutung dinglicher Überreste in den ehemaligen Konzentrationslagern werden an diesen Orten seit zwei Jahrzehnten vermehrt Verfahren Vgl . u . a . Waitman Wade Beorn: Marching into Darkness . The Wehrmacht and the Holocaust in Belarus, Harvard 2014; Tim Cole: Holocaust Landscapes, London u . a . 2016 . 37 Vgl . Hanna Huhtasaari, Fabian Müller: Digitales Lernen ermöglichen . Erste Überlegungen für ein open-source-app-portal für Gedenkstätten und Erinnerungsorte, in: Gedenkstätten-Rundbrief 179/2015, S . 51–63 . 38 URL: http://yahadmap .org/#map/ . 39 URL: https://www .uni-giessen .de/fbz/zmi/projekte/geobib . 40 URL: http://www .sztetl .org .pl . 36

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der zeitgeschichtlichen Archäologie eingesetzt, die auch mit digitalen Technologien der Erfassung von Daten und ihrer Aufbereitung arbeiten . In der Regel waren solche Untersuchungen Teil von Neugestaltungsprojekten, was die Archäologin Caroline Sturdy Colls als generalisierbares Merkmal einer „reactive response“ charakterisiert hat .41 Ebenso dominieren nach ihrer Einschätzung konventionelle, invasive archäologische Untersuchungsmethoden, während zum Beispiel nicht invasive, geophysikalische Erhebungen, die mit bildgebenden Verfahren und großen Datenmengen einhergehen, noch unzureichend eingesetzt werden . Insgesamt ist die Situation bezogen auf Orte der nationalsozialistischen Verbrechen aber ungleich besser als für lange Zeit verdrängte Komplexe staatlicher Massengewalt wie die Franco-Diktatur in Spanien oder die stalinistische Säuberungspolitik in der Sowjetunion .42 Während lange Zeit ein lediglich kommemorativer Umgang mit den früheren Lagergeländen dominiert und zu sakralisierten Formen des Erhalts oder der Überformung geführt hat, werden digitale Technologien von einigen Forschern inzwischen aktiv genutzt, um die Topografie von Lagerorten, Ghettos oder Erschießungsstätten in diachroner Perspektive anschaulich zu machen . Eines der frühesten Projekte in dieser Hinsicht ist die 1995 an der TU Darmstadt begonnene digitale Gebäude- und Innenrekonstruktion von 1938 während der „Novemberpogrome“ im Deutschen Reich zerstörten Synagogen .43 In den letzten Jahren sind zudem erste digitale Modellierungen ehemaliger Lagerorte oder einzelner Gebäude erstellt worden, die an die Seite klassischer Karten oder statischer, analoger Miniaturnachbauten treten . Bereits 2005 verwendete die BBC in einer Auschwitz-Dokumentation eine 3D-modellierte Gaskammer, die – eine berühmte Szene aus Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ zitierend – in Verbindung mit Zeitzeugenberichten virtuell aus der Perspektive eines damaligen Opfers begangen wurde .44 Bezogen auf die nationalsozialistischen Verbrechen hat das interdisziplinäre „Holocaust Geographies Collaborative“ an der Stanford University seit 2007 in einigen Pilotprojekten den sinnhaften Einsatz von geolokalisierten Daten, demografischen Algorithmen und zeitdynamischen Kartografierungen unter Beweis gestellt .45 So hilft die geodatenbasierte, dynamische Simulation und Animation der Bewegungen innerCaroline Sturdy Colls: Holocaust Archaeologies . Approaches and future directions, New York 2015; Dies .: Holocaust Archaeology . Archaeological approaches to landscapes of Nazi Genocide and persecution, in: Journal of Conflict Archaeology 7 (2012), S . 71–105 . 42 Francisco Ferrándiz, Alejandro Baer: Digital Memory . The Visual Recording of Mass Grave Exhumations in Contemporary Spain, in: Forum Qualitative Sozialforschung 9 (2008), URL: http://www .qualita tive-research .net/index .php/fqs/article/view/1152/2578, letzter Zugriff: 4 .7 .2018; Vera Dubina: Spuren des GULag im postsowjetischen Russland, in: Mittelweg 36 24 (2015) 3, S . 110–118 . 43 Marc Grellert: Erinnerungskultur im immateriellen Raum . Potenziale digitaler Technologien für die Erinnerung an zerstörte Synagogen, in: Meyer (Hrsg .): Erinnerungskultur 2 .0, 2009, S . 113–143 . 44 Vgl . Lutz Kaelber: A Memorial as Virtual Traumascape . Darkest Tourism in 3D and Cyber-Space to the Gas Chambers of Auschwitz, in: e-Review of Tourism Research 5 (2007) 2, S . 24–33 . 45 Vgl . Anne Kelly Knowles u . a . (Hrsg .): Geographies of the Holocaust, Bloomington u . a . 2014 . 41

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halb und jenseits des nicht von einer Mauer umgebenen Ghettos in Budapest besser zu verstehen, welche Bedeutung Raum, Zeit und Grenzen für die Jüdinnen und Juden einerseits, für die übrige Stadtbevölkerung andererseits hatten . Da das Modell auf bestimmten Setzungen beruht, haben Onlinenutzer die Möglichkeit, diese zu ändern, um so neue Perspektiven zu gewinnen .46 Im gleichen Projektkontext hat ein Team um Paul B . Jaskot Geodaten zu Gebäuden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau erhoben . Damit konnten anhand von zeitspezifischen Rekonstruktionen nicht nur Sichtbezüge einzelner Orte bezüglich einzelner Tathandlungen oder genaue Lokalisierungen von Zeitzeugenberichten vorgenommen werden . Auch ließen sich die gewonnenen Daten für eine präzisere Analyse des Verhältnisses von Bauschritten und Vernichtungsmaßnahmen nutzen .47 Mit deutlich geringerem Datenaufwand, nur für einen Zeitpunkt der Lagergeschichte und mit einem klaren Verwendungsfokus hat wiederum ein Experte der digitalen Forensik des bayerischen Landeskriminalamts im Kontext eines der letzten Auschwitzprozesse eine virtuelle Rekonstruktion des Lagers Birkenau hergestellt, um Aussagen von Angeklagten und Zeugen hinsichtlich von Sichtbezügen und Bewegungsmöglichkeiten überprüfen zu können . Wie bei der neuartigen Übersetzung von Tatorten in 3D-Räume wurde das Gelände hierfür unter anderem mit einem terrestrischen Laserscanner vermessen und digital bearbeitet .48 Inzwischen ermöglichen digitale Technologien jenseits der klassischen CAD-Verfahren mit mobilen Laserscangeräten, hochauflösenden Bildgebungsverfahren und rechnerintensiven Datenverknüpfungen noch präzisere und besser steuerbare 3D-Modelle, die nicht nur in der Archäologie und in Museen, sondern zum Beispiel auch in der forensischen Architektur eingesetzt werden – etwa bei der zeitzeugengestützten 3D-Modellierung des berüchtigten syrischen Saydnaya-Gefängnisses .49 Einer 3D-Brillen-Optik nachempfunden ist die etwa fünfminütige „Auschwitz Virtual Tour“ von Luca Bersiga .50 Sie knüpft wiederum an die 360-Grad-Fotoansichten der „Virtual Tour of Auschwitz“ als Kooperationsprojekt des Online-Bildungsportals remember .org mit der Gedenkstätte an .51 Diese Technologie verwenden auch die Auschwitz „Virtual Reality Movies“ des in Florida ansässigen „Teacher’s Guide to the Holocaust“ .52 Hier ist die Datengrundlage oft unklar, es fehlen Kontextinformationen und Quellen, und das Streben überwiegt, einen optisch-sinnlichen Eindruck bis hin zu einer gewissen Faszi-

Vgl . Mapping Mobility in the Budapest Ghetto, URL: http://web .stanford .edu/group/spatialhistory/ cgi-bin/site/viz .php?id=411&project_id=#swf, letzter Zugriff: 4 .7 .2018 . 47 Vgl . Paul B . Jaskot: Visualizing the Archive . Building at Auschwitz as a geographic problem, in: Knowles (Hrsg .): Geographies of the Holocaust, 2014, S . 159–191 . 48 Vgl . 3-D-Modell von Auschwitz soll Verbrecher überführen, in: Süddeutsche Zeitung, 29 .8 .2016 . 49 URL: https://saydnaya .amnesty .org . 50 URL: https://www .youtube .com/watch?v=nsRHn0ixcqw . 51 URL: http://www .remember .org/auschwitz . Vgl . Kaelber: Memorial as Virtual Traumascape, 2007 . 52 URL: https://fcit .usf .edu/holocaust/resource/VR/AUSCHWIT .HTM . 46

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nation zu vermitteln . Technisch weiter geht ein Projekt der niederländischen „Stiftung Sobibor“ . Auf der Basis umfangreicher archäologischer Erkundungen des ehemaligen Vernichtungslagers, von dem keine Baupläne vorliegen und bisher kaum Spuren bekannt sind, wurde ein „Virtual Walk“ entwickelt, der mit 3D-Brillen selbstgesteuert an Computerstationen genutzt werden kann .53 Auch die zwei besucherintensivsten Orte haben inzwischen eigene digitale Angebote erstellt: Die Gedenkstätte Auschwitz verwendet dafür eine große Zahl von navigierbaren, untereinander verlinkten und kommentierten Bildpanoramen, die Schlüsselpunkte des Stammlagers und von Auschwitz-Birkenau erfassen . Textauszüge aus Zeitzeugeninterviews, historische Aufnahmen und Hintergrundinformationen eröffnen neben der aktuellen Bildebene weitere, diachrone Vertiefungsebenen .54 Stärker auf sinnliche Reaktionen setzt das Anne-Frank-Haus in Amsterdam, das eine navigierbare, von Musik und leisen Außengeräuschen untermalte 3D-Animation des kompletten Hinterhauses mit Erläuterungen online gestellt hat . Sie kann unter der Überschrift „Anne stellt das Hinterhaus vor . Sie nimmt Dich mit von Zimmer zu Zimmer“ auch als geschlossene Tour begangen werden .55 Das 2012 für die Gedenkstätte Bergen-Belsen produzierte virtuelle 3D-Modell des gesamten Lagergeländes hingegen verzichtet explizit auf Formen einer simulierten Erfahrbarkeit . Es basiert auf der Auswertung von Karten, Fotografien, Luftbildern und Vermessungsdaten . Das Modell ermöglicht, sich passiv oder mit Hilfe interaktiver Steuerungsmodule in einem virtuellen Lagerraum zu bewegen, der bewusst nicht fotorealistisch gestaltet worden ist . Es kann über ein Tablet im Gelände oder in einem Raum als Panoramaprojektion abgerufen werden .56 In Verbindung mit der digitalen Rekonstruktion des ehemaligen Lagergeländes sind im „Augmented“- oder „Virtual-reality“-Modus geolokalisierte Text- und Bildquellen verfügbar . Diese sind nicht vorab geordnet, sondern sollen durch die Nutzer im Gelände interaktiv erkundet werden . Dezidierter als andere digitale Projekte, die – wie der „Geschichtomat“ des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden oder die Zeitzeugen-App der Berliner Geschichtswerkstatt – Quellen und deren historische Lokalität miteinander verbinden,57 geht das Bergen-Belsen-Projekt von der lerntheoretischen Annahme aus, dass ortskonkrete Quellen, die Bewegung im Raum und individuelle, nicht lineare

Vgl . Virtueel bezoek aan Sobibor, URL: http://www .nmkampvught .nl/virtueel-bezoek-aan-sobibor/ . URL: http://panorama .auschwitz .org . URL: http://www .annefrank .org/de/Subsites/Home/Betritt-das-3D-Haus/#/house/20/ . Vgl . Daniel Pacheco u . a .: Spatializing Experience . A framework for the geolocalization, visualization and exploration of historical data using VR/AR technologies, in: Proceedings of the 2014 Virtual Reality International Conference (VRIC); David J . Bodenhamer, John Corrigan, Trevor M . Harris (Hrsg .): Deep Maps and Spatial Narratives, Bloomington 2014; Ian Gregory, Alistair Geddes (Hrsg .): Toward Spatial Humanities . Historical GIS and Spatial History, Bloomington 2014 . 57 URL: http://www .geschichtomat .de; http://www .berliner-geschichtswerkstatt .de/app .html .

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Steuerungsoptionen einen nachhaltigeren Bildungseffekt zur Folge haben . Im Unterschied zu den beiden „Audiokunstwerken“ der „Memory Loops“ zu Stätten der Verfolgung und von Verfolgten in München oder dem „Audioweg“ im Ort des ehemaligen KZ-Außenlagers Gusen, wo digital abrufbare Soundinstallationen nicht nur zur Erkundung von Zeitschichten der jeweiligen Orte, sondern auch dezidiert sinnliche Kontrasterlebnisse schaffen sollen,58 verzichtet die Bergen-Belsen-App auf inszenatorische Audiokulissen, die zu einer Verwischung des Unterschieds zwischen Gegenwart und Vergangenheit durch die Steigerung von Authentizitätsempfindungen beitragen könnten . Durch das Fehlen ludischer Elemente oder eine entsprechende Grafik und Bedienung unterscheidet sich die Bergen-Belsen-App prinzipiell von Computerspielen und deren Ziel, immersive Erlebnisse zu schaffen . Doch ist die Grenze zwischen digitalen Rekonstruktionen einerseits und virtuellen Simulationen oder Animationen andererseits, die stärker fiktionalisierende Elemente beinhalten und Immersionswelten erzeugen, immer schwieriger zu ziehen . Einen in diese Richtung weisenden, bislang – auch im Bereich der Computerspiele – aber nicht weiter betriebenen Ansatz verfolgte vor einigen Jahren das USHMM mit einer 3D-Animation im Second Life Grid zu den „Novemberpogromen“ 1938, in der die Nutzer als Avatare in der Rolle eines Journalisten auf Spurensuche geschickt wurden und die zu erkundenden Räume zugleich als Repositorien – verwaltete Quellensammlungen – dienten .59 Für einen solchen Einsatz hat der Kultur- und Medienwissenschaftler Tobias Ebbrecht-Hartmann Kriterien formuliert: Digitale Technologien sollen keine personalisierten Identifikationsangebote liefern, nicht auf Emotionalisierung abzielen und keine Handlungsträger oder mit Avataren bespielbare Räume für quasi-filmische Narrative einschließen .60 Doch während Simulation oder Rekonstruktion bereits probate vordigitale Verfahrensweisen zur Repräsentation von Geschichte waren, werden zunehmend Animationen vom Reenactment über bewegte Strichzeichnungen bis hin virtuellen Spielwelten eingesetzt . Vor allem für Computerspiele wird argumentiert, dass die konventionelle Unterscheidung zwischen Fakten, Quellen und Interpretationen durch simulierte Geschichtswelten abgelöst wird, in denen die Vergangenheit wie die Bühne eines unbegrenzten Möglichkeitsraums an die Stelle des tatsächlich Geschehenen tritt .61

Peter Larndorfer: Unsichtbares hören . Der „Audioweg Gusen“, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2011) 2, URL: http://www .zeithistorische-forschungen .de/2–2011/ id=4581, letzter Zugriff: 4 .7 .2018 . 59 Geoff Giglierano: Museums and Virtual Worlds, in: Patricia C . Franks, Lori A . Bell, Rhonda B . Trueman (Hrsg .): Teaching and Learning in Virtual Environments . Archives, museums, and libraries, Santa Barbara 2016, S . 149–164, hier S . 151 . 60 Tobias Ebbrecht-Hartmann: Jurassic Park im Führerhauptquartier . Digitale Authentizitätsfiktion oder virtuelles Vorstellungsbild, in: Ruth Geier (Hrsg .): Medien und Wirklichkeit, Chemnitz 2008, S . 59–73 . 61 Claudio Fogu: Digitalizing Historical Consciousness, in: History and Theory 47 (2009), S . 103–121 . 58

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Gedächtnis digital: Vom stationären Archiv zur Cloud Memory

Während Gedenkmuseen wie das United States Holocaust Memorial Museum oder Yad Vashem sukzessive Teile ihrer Text- und Bildbestände in digitalisierter Form online verfügbar machen,62 ist dies bei deutschen Gedenkstätten nicht der Fall . Eine Ausnahme stellt das „Offene Archiv“ der KZ-Gedenkstätte Neuengamme dar, das vornehmlich zu Vermittlungszwecken ausgewählte Quellen in kommentierter Form digital zugänglich macht . Insgesamt beschränkt sich selbst bei Augenzeugenberichten oder AV-Interviews mit Überlebenden der Einsatz digitaler Technologien weitgehend auf Erschließungen in Datenbanken, die selbst aber nicht online zugänglich sind . So restriktiv sich diese Sammlungspolitik auch darstellt, korrespondiert mit ihr in gewisser Weise doch die Praxis vieler kommerzieller Anbieter oder öffentlicher Einrichtungen, die nur eine Auswahl ihrer Bestände online stellen und damit mehr durch Präsenz als durch Qualität und Quantität die Aufmerksamkeit von Nutzern auf sich lenken wollen . Einen etwas anderen Weg verfolgen seit einigen Jahren die Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution (bis 2019 International Tracing Service, ITS) in Bad Arolsen . Hier werden die immensen Bestände sukzessive digitalisiert und in dieser Form an sechs weiteren internationalen Standorten vorgehalten .63 Dank dieser Erschließung bilden die Erfassungen der Bestände der Arolsen Archives einen wichtigen Grundstock des Projekts „European Holocaust Research Infrastructure“ (EHRI), das im Kern eine voll recherchierbare digitale Metaplattform für Sammlungsbestände zum Holocaust ist, der die Beteiligten ihre jeweiligen Metadaten übergeben . Solche Cyberinfrastrukturen dienen der Integration themennaher Bestandskataloge, die nur insoweit direkten Zugriff auf die Quellen ermöglichen, wie diese von den Einrichtungen selbst bereits digital zugänglich gemacht worden sind . Virtuelle Leseräume sind jedoch auch bei dem Schwesterprojekt CENDARI für mittelalterliche Quellen noch Zukunftsprojekte . EHRI nutzt die geschaffene Webplattform auch für Research Guides, Country Reports und Online Courses, während der eingerichtete Blog als Austauschmedium bislang nur auf wenig Interesse stößt . Gleichwohl bedeutet EHRI einen wichtigen Schritt hin zu einer transparenteren Struktur einer kollaborativen Holocaust-Forschung, zumal der Aufbau eines solchen „digital ecosystem“ mit einem „constant process of engagement, adjustment, and readjustment“ der Daten und Quellen einhergeht .64 Vor allem kleinere Einrichtungen Julia Werner: Erinnern – Erforschen – Erschließen . Das Online-Fotoarchiv der Gedenkstätte Yad Vashem, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 9 (2012) 1, URL: http://www . zeithistorische-forschungen .de/1–2012/id=4753 . 63 Elizabeth Anthony: The Digital Transformation of the International Tracing Service Digital Collection, in: Andrea Peto, Helga Thorson (Hrsg .): The Future of Holocaust Memorialization . Confronting racism, antisemitism, and homophobia through memory work, Budapest 2015, S . 46–53 . 64 Vgl . Sheila Anderson: What are Research Infrastructures?, in: International Journal of Humanities and Arts Computing 7 (2013), S . 4–23; Dies ., Tobias Blanke: Infrastructure as Intermediation . From archives 62

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haben oft nicht die technischen, personellen und finanziellen Möglichkeiten, um eine entsprechende Aufarbeitung ihrer Daten und Digitalisierung ihrer Quellen – und dies nachhaltig – zu leisten . Gleichzeitig verändern sich Erwartungen und Standards: Wichtige Editionen von Dokumenten zum Holocaust und den NS-Verbrechen erscheinen hybrid, also als Printversion und Online, oder sind multimedial als Printversion, Höredition und Webpage verfügbar .65 Werden hier wissenschaftliche Editionsstandards in den digitalen Raum eingeschrieben, entsteht durch Open Access, Wikileaks und Forderungen nach Informationsfreiheit ein gewisser Druck, gerade Quellen zu sensiblen Themen wie den NS-Verbrechen freizugeben . Dagegen betonen die Verantwortlichen entsprechender Sammlungen moralische Vorbehalte und insbesondere den Schutz der wichtigsten Zeugnisgeber: der Überlebenden . Was den Umgang mit Quellen angeht, finden digitale Technologien gleichwohl am intensivsten für Zeitzeugenvideos Einsatz, aufgrund des Entstehungszeitpunktes vieler Interviews oft aber zunächst in Form ihrer sekundären Digitalisierung .66 Neben signifikanten Verwendungen von digital entstandenen oder digitalisierten Testimonies in den Gedenkstätten Bergen-Belsen und Yad Vashem,67 ist Vorreiter die an der University of South California (USC) angesiedelte und aus dem Spielberg-Interviewprojekt hervorgegangene Shoah Foundation .68 Während andere größere Interviewprojekte mit

to research infrastructures, in: Journal of Documentation 71 (2015), S . 1183–1202; Tobias Blanke u . a .: From Fragments of an Integrated European Holocaust Research Infrastructure, in: Heike Neuroth, Norbert Lossau, Andrea Rapp (Hrsg .): Evolution der Informationsstruktur . Kooperation zwischen Bibliothek und Wissenschaft, Glückstadt 2013, S . 157–178 . 65 Vgl . Editions- und Forschungsprojekt „Societies under German Occupation – Experiences and Everyday Life in World War II“ (Peter Haslinger, Tatjana Tönsmeyer); Editionsprojekt „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ (Susanne Heim u . a .) . 66 Vgl . De Jong: Witness as Object, 2018; Shandler: Holocaust Memory, 2017; Gerda Klingenböck: Between Memory and Audiovisual Representation . Changes of paradigm, questioning the approach to the „eyewitness“ in the „digital age“, in: Bulletin trimestriel de la fondation Auschwitz 95/2007, S . 71–84; Almut Leh: Zeitzeugen online . Archive und andere Web-Angebote, in: BIOS . Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 22 (2009), S . 268–282; Judith Keilbach: Collecting, Indexing and Digitizing Survivors . Holocaust testimonies in the Digital Age, in: Axel Bangert, Robert S . C . Gordon, Libby Saxton (Hrsg .): Holocaust Intersections . Genocide and visual culture at the New Millennium, Oxford 2013, S . 46–63; Nicolas Apostolopoulos, Cord Pagenstecher (Hrsg .): Erinnern an Zwangsarbeit . Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt, Berlin 2013; Noah Schenker: Reframing Holocaust Testimony, Bloomington 2015 . 67 Diana Gring: Die Darstellung von Zeitzeugen in den visuellen Medien der Dauerausstellung der Gedenkstätte Bergen-Belsen, in: Gedenkstätten-Rundbrief 152/2009, S . 16–20; Tobias Ebbrecht-Hartmann: Überlebenswege . Audiovisuelle Überlebendenzeugnisse in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, in: Rebecca L . Boehling (Hrsg .): Freilegungen . Überlebende, Erinnerungen, Transformationen, Göttingen 2013, S . 329–342 . 68 Stephen D . Smith: On the Ethics of Technology and Testimony, in: Fogu, Kansteiner, Presner (Hrsg .): History Unlimited, 2016, S . 203–217; Linde Apel: „You are participating in history“ . Das Visual History Archive der Shoah Foundation, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 5 (2008) 3, URL: http://www .zeithistorische-forschungen .de/16126041-Apel-3–2008; Michele Baricelli, Juliane Brauer, Dorothee Wein: Zeugen der Shoah . Historisches Lernen mit lebensgeschichtlichen Videointer-

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Überlebenden wie das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies oder der Gedenkstätte Bergen-Belsen die Möglichkeit der digitalen Verbreitung ihrer Bestände eher verhalten oder gar nicht einsetzen,69 verfolgt die Shoah Foundation eine deutlich aktivere Strategie: Die Interviewbestände des Visual History Archive werden – teils mit Partnern wie dem Holocaust-Mahnmal in Berlin – für edukative Zwecke in Memorial Museums weiterentwickelt und in der Regel kostenpflichtig bereitgestellt . Über die Website „iWitness“ können Nutzer individuell auf aufbereitete Interviews zugreifen . Zuletzt erregte die Shoah Foundation mit dem Projekt eines Überlebenden-Hologramms großes Aufsehen: Der Holocaust-Überlebende Pinchas Gutter antwortete 2012 in mehreren mehrstündigen Interviews auf Hunderte von Fragen und wurde dabei mit einer „Light-Stage“-Technologie ganzkörperlich durch mehrere Kameras aufgenommen .70 Ziel des in den letzten Jahren technisch weiter verfeinerten und schon für mehrere Überlebende eingesetzten Projekts ist ein in den Raum projiziertes Hologramm . Es soll so lebensnah wie möglich wirken und von Nutzern als ein dialogischer Gesprächspartner wahrgenommen werden, der nicht nur berichtet, sondern auch auf konkrete Fragen antworten kann . Einzelne frühere Formen, mit zweidimensionalen Hologrammen zu arbeiten (wie im Jüdischen Museum Wien), werden damit auf eine neue Stufe gehoben, zumal das Ziel nicht mehr Verfremdung, sondern eine technisch perfektionierte Inszenierung von Nähe und Echtheit ist . Trotz der Vergangenheit des Zeitzeugen wird eine Gleichzeitigkeit mit ihm simuliert und damit zur Auflösung der Grenzen zwischen Geschichte und Gegenwart beigetragen . Während viele Reaktionen auf den Prototyp des Gutter-Hologramms gerade angesichts noch lebender Zeitzeugen überaus skeptisch waren, hat Bernd Körte-Braun aus pädagogischer Sicht nüchterner auf die Chancen und Entwicklungsbedarfe hingewiesen: Bei der Erstellung solcher Hologramme solle der zukünftig ebenso wahrscheinliche Einsatz holografischer Techniken zur Darstellung von Objekten und Lebenswelten mitbedacht werden, um nicht den Fehler zu begehen, die Aufnahmesituation nur aus der konventionellen Perspektive des „Zeitzeugengesprächs“ zu determinieren . Ungelöst bleibt jedoch die in der Zukunft des Hologramm-Gebrauchs eintretende „vergangene Gegenwart“, die den Einsatz von Überlebenden-Interviews bereits heute kennzeichnet: Auf nicht imaginierte Fragen, die in der Zukunft gestellt werden könnten, konnte Pinchas Gutter nicht antworten .71 Eine entsprechende algorithmisch ba-

views . Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute in der schulischen Bildung, in: Medaon 5 (2009) . S . 1–17 . 69 Joanne Weiner Rudof: Das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies . Denjenigen, die da waren, zuhören und von ihnen lernen, in: Daniel Baranowski (Hrsg .): „Ich bin die Stimme der sechs Millionen“ . Das Videoarchiv im Ort der Information, Berlin 2009, S . 57–71 . 70 Vgl . de Jong, Von Hologrammen und sprechenden Füchsen, 2015 . 71 Bernd Körte-Braun: Erinnern in der Zukunft . Frag das Hologramm, URL: http://www .yadvashem . org/yv/de/education/newsletter/10/article_korte .asp, letzter Zugriff: 4 .7 .2019 .

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sierte Auswertung des Interviews könnte zukünftig aber auch dies ermöglichen und würde die Grenze zwischen Simulation und Animation überschreiten . Weitaus größere Reichweite entfaltet derzeit noch die Nutzung des World Wide Web als Sammelbecken für die Veröffentlichung von Quellen und Zeitzeugenberichten, insbesondere AV-Interviews, die teils von unabhängigen Projekten, teils von Gedenkinstitutionen eingestellt worden sind . So ist ein heterogenes, in seinen Provenienzen nicht immer bekanntes, geschweige denn kompatibles Ensemble von biografischen Zeugnissen in Form digitaler Datensätze entstanden, die rezipiert, geteilt und genutzt werden können . Auffällig ist – auch in der Erfassungsintention von EHRI – die Akzentuierung eines opferbiografischen und emotionalen Zugangs zur Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen . Diesem Übergewicht entsprechen die Kommentare von Nutzern, etwa zu personenbezogenen Informationen auf Facebook-Seiten von Gedenkstätten, in denen – neben revisionistischen und leugnenden Bemerkungen – in hohem Maße emotionalisierte Reaktionen und moralische Botschaften hinterlassen werden . Die so entstehenden fluiden Archive des digitalen sozialen Gedächtnisses lassen sich als Motor einer zunehmenden wechselseitigen Verschränkung von „Geschichte“ und „Erinnerung“ interpretieren . Dies wird durch die akzidentielle und ungeordnete Verfügbarkeit von historischen Zeugnissen unterstützt, die – wie im Fall der vom Google Cultural Institute generierten virtuellen Quellenensembles – aus ihrem Überlieferungszusammenhang gerissen sind . Demgegenüber versuchen gut entwickelte Projekte wie die Online-Ausstellung „dubistanders“ explorative Zugänge und zufällige Personen- oder Quellenbezüge in eine interaktiv zu nutzende Informationsmatrix einzubetten, die biografische mit zeitlichen, räumlichen und thematischen Kontextualisierungen verbindet, ohne ihren grundständig nicht linearen Ansatz zu verlieren .72 Solche neuen Möglichkeiten sozialer Kommunikation über digitale Medien und ortsbezogene digitale Informationsträger konvergieren im Bereich von Virtual Memorials für Opfer von Gewaltereignissen oder in Websites, die Angehörige von Holocaust-Opfern einrichten, um das Gedächtnis an zerstörte lokale Gemeinschaften virtuell zu bewahren .73 Diese Entwicklung gehört letztlich zum weiten Feld der Transformation von Trauerriten im Zeichen von Social Media und Onlinegedenken, die auf eine bislang zu wenig analysierte Konvergenz zwischen der Transformation von kulturellen Umgangsformen mit dem Tod und überindividuellen Gedenkpraktiken hinweisen .74 Amit Pinchevski erkennt hier neue „communities of memory“, die eine URL: www .dubistanders .de . Vgl . Marianne Hirsch, Leo Spitzer: The Web and the Reunion . http://czernowitz .ehpes .com, in: Marianne Hirsch, Nancy K . Miller (Hrsg .): Rites of Return . Diaspora poetics and the politics of memory, Columbia 2011, S . 59–71 . Vgl . auch URL: https://www .joodsmonument .nl; dazu: Laurie M . C . Fargo: The Digital Monument to the Jewish Community in the Netherlands . A meaningful, ritual place for commemoration, in: New Review of Hypermedia and Multimedia 21 (2015), S . 165–184 . 74 Vgl . Tony Walter u . a .: Does the Internet change how we die and mourn? An overview, in: Omega . Journal of Death & Dying 64 (2011), S . 275–302; Dorthe Refslund Christensen, Stine Gotved: Online Memorial 72 73

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Tiefenwirkung der medial ermöglichten Befassung mit den traumatischen Erfahrungen der Opfer verbindet . Angelehnt an Alison Landsbergs Konzept der „prosthetic memory“75 sieht Pinchevski im „audiovisual unconscious“ eine neue Form der gemeinschaftlichen Erinnerung begründet: „Traumatic memory, like the new archival forms of collective memory, might also become a matter of elective affinities .“76 Erinnern digital: „Remediation“ oder Paradigmenwechsel?

Mit der umfassenden Digitalisierung von Informationsressourcen und Kommunikationsformen ergeben sich somit zahlreiche neue Formen der Produktion und des Transfers von Geschichtsrepräsentationen aller Art – von Quellen über deren Auswertung, Deutung und Präsentation bis hin zur bildenden und sozialen Kommunikation über Vergangenes . Hier beschleunigt und verdichtet sich eine Transformation der Erinnerungskultur, die Rosmarie Beier-de Haan für die „zweite Moderne“ insgesamt konstatiert hat: Nationale, normative, kollektiv für verbindlich erklärte Geschichtsdeutungen verlieren zugunsten individueller, reflexiver Identitätskonstruktionen an Bedeutung, die einerseits Deutungshorizonte für persönliche Erfahrungen fördern, andererseits mit einer starken Emotionalisierung und Moralisierung verbunden sind .77 Dem Bild eines grundsätzlichen Wandels der Holocaust-Erinnerung infolge der digitalen Transformation stehen allerdings manche Befunde entgegen: – Erstens und vor allem werden durch die Digitalität die Orte der Tat und deren materielle Überlieferungen nicht obsolet und sind durch sie auch nicht ersetzbar . – Zweitens entstehen durch die digitale Aufbereitung oder Präsentation von Daten oft keine grundsätzlich neuen Informationsformate . Wenn etwa vorhandene Zeit-

Culture . An introduction, in: New Review of Hypermedia and Multimedia 21 (2015), S . 1–9; Dies . (Hrsg .): Dorthe Refslund Christensen, Kjetil Sandvik (Hrsg .): Mediating and Remediating Death, London 2014 . 75 Vgl . Alison Landsberg: Prosthetic Memory . The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture, Columbia 2004 . 76 Amit Pinchevski: The Audiovisual Unconscious . Media and Trauma at the Yale Archive for Holocaust Testimonies, in: Critical Inquiry 39 (2012), S . 142–166, hier S . 149; Ders .: Archive, Media, Trauma, in: Neiger, Meyer, Zandberg (Hrsg .): On Media Memory, 2011, S . 253–264 . Vgl . Caroline Wake: Regarding the Recording . The Viewer of Video Testimony, the complexity of copresence and the possibility of tertiary witnessing, in: History and Memory 25 (2013), S . 111–144 . 77 Vgl . Rosmarie Beier-de Haan: Geschichte, Erinnerung und Neue Medien . Überlegungen am Beispiel des Holocaust, in: Dies . (Hrsg .): Geschichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main, New York 2000, S . 299–323; Dies .: Erinnerte Geschichte – Inszenierte Geschichte . Historische Museen und Ausstellungen in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2005 . Vgl . auch Clemens Wischermann: Kollektive versus „eigene“ Vergangenheit, in: Ders . (Hrsg .): Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996, S . 9–17; Ders . (Hrsg .): Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung, Stuttgart 2002 .

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zeugenvideos unverändert auf YouTube eingestellt werden, dient dies zwar der Distribution im Raum der sozialen Medien, führt aber nicht automatisch zu neuen interaktiven Nutzungsformen . – Dies verweist drittens auf die Phänomene der „remediation“ und „premediation“: „Neue“ und „alte“ Medien stehen in komplementären, konkurrierenden oder einander umdeutenden Beziehungen zueinander, so dass digitale Informationen sich einerseits nur aus dem Kontext kulturell und medial tradierter Formate, Praktiken und Deutungen erschließen lassen, andererseits selbst durch diese vorstrukturiert werden . Das relativiert den kategorischen Einschnitt des Digitalen im Sinne einer stärker evolutionären Betrachtungsweise .78 – Viertens lässt eine alleinige Fokussierung auf „das Digitale“ außer Acht, dass sich Grundfragen im Zusammenhang mit der Medialisierung von Geschichte bereits länger stellen und eng mit einer wachsenden populären Nachfrage zu tun haben . Diese zeigt sich von dokufiktionalen Fernsehformaten über Geschichtsmagazine, historische Comics und Biografien bis zum Reenactment als breitem Trend einer Personalisierung, Authentizitätsbeglaubigung und Emotionalisierung von Geschichtsdarstellungen, dem sich die deutsche Forschung – im Unterschied zum digitalen Wandel – vor allem in den 2000er-Jahren intensiv gewidmet hat . Insgesamt ist hier ein deutlicher Trend zu mehr Anschaulichkeit und „Authentizitätsfiktionen“, Erlebnisorientierung und Immersion erkennbar .79 – Fünftens wäre es deshalb verkürzt, würde man Veränderungen der Erinnerungskultur allein auf das Vordringen der Digitalität zurückführen, geht es doch vielmehr um das Verhältnis von Medien insgesamt und einer postulierten Authentizität des Überlieferten in Form von Aussagen, Objekten oder materiellen Überresten, die durch deren Mediatisierung als bedroht wahrgenommen wird .

Vgl . Jay D . Bolter, Richard Grusin: Remediation . Understanding new media, Cambridge/Mass . 1999; Astrid Erll, Ann Rigney (Hrsg .): Mediation, Remediation and the Dynamics of Cultural Memory, Berlin 2009 . 79 Vgl . Wulf Kansteiner: Alternative Welten und erfundene Gemeinschaften . Geschichtsbewusstsein im Zeitalter interaktiver Medien, in: Meyer (Hrsg .): Erinnerungskultur 2 .0, 2009, S . 29–54; Christoph Kühberger, Christian Lübke, Thomas Terberger (Hrsg .): Wahre Geschichte – Geschichte als Ware . Die Verantwortung der historischen Forschung für Wissenschaft und Gesellschaft, Rahden 2007; Wolfgang Hardtwig, Alexander Schug (Hrsg .): History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart 2009; Claudia Cippitelli, Axel Schwanebeck (Hrsg .): Fernsehen macht Geschichte . Vergangenheit als TV-Ereignis . Baden-Baden 2009; Barbara Korte, Sylvia Paletschek (Hrsg .): History goes Pop . Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009; Angela Schwarz: „Wollen Sie wirklich nicht weiter versuchen, diese Welt zu dominieren“ . Geschichte in Computerspielen, in: Ebd ., S . 313–340; Mark Rüdiger u . a . (Hrsg .): Echte Geschichte . Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, Bielefeld 2010 . 78

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Gleichwohl sind es nicht nur digitale Angebote, sondern auch deren Nutzungsformen, die mit einem grundlegenden Wandel der Erinnerungskultur verbunden werden . Immer mehr Nutzer sind auch Produzenten sowie durch ihre Bewertungen unmittelbar wirksamer Bestandteil der netzwerkartigen Verbreitung von Deutungen und Bildern . Grundlegende Kontroversen – etwa um die „Darstellbarkeit“ des Holocaust – werden durch kurzfristigere Aufmerksamkeitseffekte abgelöst, die sich bestenfalls noch segmentär, aber nicht mehr im Diskursfeld einer überfachlichen intellektuellen und politischen Meinungsbildung niederschlagen . Durch dauernde Feedbackschleifen zwischen individuellen und sozialen Gedächtnisprägungen scheint sich die ohnehin auch für das analoge Zeitalter nur typologisch tragfähige Unterscheidung eines „kommunikativen“ und eines „kulturellen“ Gedächtnisses aufzulösen . Mit der Kopräsenz, Kurzfristigkeit und Dezentralität von heterogenen Daten, so Thomas Nachreiner, tritt eine „contingency of cultural appropriations of the past“ ein .80 Diese Tendenz wird durch eine post- oder zumindest transnationale „Globalisierung“ von Datenströmen und sozialen Vernetzungsformen in Gestalt einer „globital memory“ akkumuliert .81 Diese zunehmend rhizomatische Struktur der historischen Kommunikation geht mit einer Zerstreuung von Mediennutzern und einer geringeren Nachhaltigkeit in der Behandlung einzelner Themen einher . Während konventionelle Einrichtungen des öffentlichen Gebrauchs von Geschichte durch kulturell validierte, je nach System unterscheidbare (Wahrheits-)Codes der Verwendung, Kompilation und Bewertung von Daten gekennzeichnet waren und so Informationen als kontrollierte Formen der Interpretation und Deutung verbreitet wurden, existieren mit dem digitalen Raum und den damit verbundenen partizipatorischen Möglichkeiten immer mehr Datenangebote und Informationen im Bereich der Erinnerungskultur, die sich institutionellen, wissenschaftlichen oder didaktischen Regulierungen oder Validierungen entziehen . Die mit der Digitalität entstehende Möglichkeit, an einem temporären digitalen Archiv des sozialen Gedächtnisses selbst teilzuhaben, sind mit starken Emotionalisierungen und Formen der Selbstrepräsentation verbunden . Zugleich ist der Verlust produzierter Daten immens, die sich zumindest zeitweise auf Trägermedien befinden . Facebook, Instagram oder YouTube seien nur stellvertretend für die vielfältigen Kanäle genannt, Selfies mit Überlebenden oder an historischen Verbrechensorten, selbst aufgenommene Filme oder Kommentare ins Netz zu stellen . So rückt das dokumentierende Selbst stärker ins Zentrum der Repräsentation . Fotografien dienen einer Bekräftigung der persönlichen Erfahrung und transponieren den außeralltäglichen Ort eines

Vgl . Nachreiner: Digital Memories, 2013 . Anna Reading: Memory and Digital Media . Six dynamics of the globital memory field, in: Neiger, Meyers, Zandberg (Hrsg .): On Media Memory, 2011, S . 241–252; Dies .: The Globytal . Towards an understanding of globalised memories in the digital age, in: Anna Maj, Daniel Riha (Hrsg .): Digital Memories . Exploring critical issues, Oxford 2009, S . 31–40; Dies .: Seeing Red . A political economy of digital memory, in: Media Culture Society 36 (2014), S . 748–760 . 80 81

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ehemaligen Konzentrationslagers über vertraute Kommunikationsmodi in die eigene Alltagswelt . Gleichzeitig verstärken sie das Gefühl der Ortspräsenz, wirken über den Moment hinaus als Beweis der Anwesenheit und schaffen als geteilte Selbstobjekte neue Kommunikationsräume . Aber sie heben das Gesehene auch in den Raum gewöhnlicher und vertrauter Ausdrucksformen, die vor allem der Selbstvergewisserung und Selbstpositionierung gegenüber anderen dienen . Kritiker dieser Entwicklung wie Wolfgang Hardtwig, der vor einem „Verlust der Geschichte“ warnt, betonen, wie nach objektivierbaren Prozeduren validierte Erkenntnisse verloren gehen .82 Die Normen dafür, was bezüglich des Holocaust als „angemessen“ und „erlaubt“ gilt, dürften dabei weiterhin vor allem durch staatlich getragene Einrichtungen und geschichtspolitische Diskurse gesetzt werden, die mit den Zielen und Inhalten anderer Bildungsinstitutionen wie Schulen oder Universitäten korrespondieren . Allerdings wird deren normativer Anspruch womöglich durch die digitalen Kommunikationsformen unterwandert . Damit zeichnet sich ein wachsendes Missverhältnis ab, auf das Wulf Kansteiner hingewiesen hat: Immer mehr Mediennutzer seien es gewohnt, ihre alltägliche Informationswelt und Kommunikation selbst zu gestalten, hätten aber bei den institutionell verantworteten Geschichtsrepräsentationen vor Ort ebenso wie im Internet „no power over the conceptual framing, narrative emplotment, and visual display“ .83 In diesem Sinne wird auch eine aktive Hinwendung zu einer „akteurszentrierten Erinnerungskultur“ in Form eines „prosuming“ gefordert, das die Gleichrangigkeit und Gleichzeitigkeit des individuellen Wahrnehmens und Produzierens von Geschichte betont . Damit ist nicht selten auch die Vision verbunden, die Erinnerungskultur grundlegend neu zu demokratisieren, statt sie nur staatlichen Institutionen oder Medien zu überantworten, sie für nachfolgende Generationen nutzungsadäquater zu gestalten und dadurch ihre Attraktivität zu erhöhen .84 Damit geht eine starke Betonung

Wolfgang Hardtwig: Verlust der Geschichte – oder wie unterhaltsam ist die Vergangenheit?, Berlin 2010 . Zum Bedürfnis nach Authentizität als mythologischer Überwindung zeitlicher Grenzen vgl . Silke Arnold-de Simine: Mediating Memory in the Museum, Basingstoke 2013 . 83 Wulf Kansteiner: Genocide memory, Digital cultures, and the Aesthetization of Violence, in: Memory Studies 7 (2014), S . 404–408, hier S . 406 f .; Ders ., Alternate Worlds and Invented Communities . History and historical consciousness in the age of interactive media, in: Keith Jenkins, Sue Morgan, Alan Munslow (Hrsg .): Manifestos for History, Oxford 2007, S . 131–148; Ders .: Virtuelle Welten und erfundene Gemeinschaften, in: Meyer (Hrsg .): Erinnerungskultur 2 .0, 2009, S . 29–54 . 84 Dem Trend zum „prosuming“ entsprechend ist ein Großteil der bisherigen Studien zum Verhältnis von Erinnerung und Digitalität sozialen Medien wie Facebook, YouTube oder Instagram gewidmet . Vgl . Alina Bothe: Negotiating Digital Shoah Memory on YouTube, in: Gary Robson, Malgorzata Zachara, Agnieszka Stasiewicz-Bieńkowska (Hrsg .): Digital Diversities . Social media and intercultural experience, Cambridge 2014, S . 256–272; Dörte Hein: Das World Wide Web als Medium des sozialen Gedächtnisses . Formen der Erinnerung am Beispiel des Holocaust, in: Arnulf Kutsch, Stefanie Averbeck, Klaus Beck (Hrsg .): Großbothener Vorträge zur Kommunikationswissenschaft, Bremen 2003, S . 99–128; Victoria Grace Walden: New Ethical Questions and Social Media . Young people’s construction of Holocaust memory online, in: Frames Cinema Journal 2015, URL: http://sro .sussex .ac .uk/63344/; Dieter de Bruyn: World War 2 .0 . Commemorating war and Holocaust in Poland through Facebook, in: Digital Icons 4 (2010), S . 45–62 . 82

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sozialer Medien einher, die allerdings auch dadurch mitbegründet ist, dass viele digitale Anwendungen – wie nicht-lineare Vermittlungsformen, virtuelle Rekonstruktionen, Computerspiele oder Simulationsräume – im Zusammenhang mit dem Holocaust bislang kaum genutzt werden . Selbst Blogs, offene Foren oder interaktives Bildsharing sind eine Ausnahme . Für Entwickler von Computerspielen etwa bietet sich der Holocaust – ganz anders als der Zweite Weltkrieg – kaum als marktfähiges Thema an, zumal in Deutschland wichtige Rechtsvorbehalte hinzukommen .85 Offenbar fürchten die Unternehmen damit verbundene Skandalisierungseffekte und Rechtsstreitigkeiten mehr als die vermutlich bei vielen Nutzern verbreitete Faszination an der moralisch eindeutig kodierten Gewalt der nationalsozialistischen Verbrechen . Es wundert nicht, dass sich gerade an den Computerspielen die kontroversesten Debatten im Bereich des Verhältnisses von Digitalität und Holocaust-Erinnerung festmachen, scheint hier doch – neben der Kommerzialisierung – die Aushebelung von Grenzen des Darstellbaren, das Primat von Erlebnis gegenüber Kognition und die Gefahr einer Banalisierung durch spielerische Elemente und fiktive Möglichkeitsräume besonders ausgeprägt zu sein .86 Trotz der vielen Vorbehalte gegenüber zahlreichen digitalen Technologien hat Wulf Kansteiner eine „series of path-breaking, transgressive media events“ gefordert – „fully interactive historical worlds“, die der „video game culture“ nachempfunden sein sollen .87 Auch angesichts solch weitreichender Forderungen werden bezogen auf den erinnerungskulturellen Einsatz digitaler Technologien von Kritikern oft vier Probleme konkret benannt: – das Missverhältnis zwischen der Nutzung von historischen Informationsangeboten und einem unzureichend ausgebildeten (quellen-)kritischen Medienbewusstsein; – die Angleichung von historisch überlieferten Quellen und virtuell rekonstruierten Objekten oder Umgebungen;

Vgl . Felix Zimmermann: Wider die Selbstzensur – Das Dritte Reich, nationalsozialistische Verbrechen und der Holocaust im Digitalen Spiel, 27 .08 .2017, URL: https://gespielt .hypotheses .org/1449, letzter Zugriff: 4 .7 .2018; Eugen Pfister: „Of Monsters and Men“ . Shoah in Digital Games, URL: https://public-history -weekly .degruyter .com/6-2018-23/shoah-in-digital-games/ letzter Zugriff: 4 .7 .2018 . 86 Vgl . Brian Rejack: Toward a virtual reenactment of history: Video games and the recreation of the past, in: Rethinking History 11 (2007), S . 411–425; Steffen Bender: Virtuelles Erinnern . Kriege des 20 . Jahrhunderts in Computerspielen, Bielefeld 2012; Adam Chapman, Jonas Linderoth: Exploring the Limits of Play . A case study of representations of Nazism in games, in: Torill Elvira Mortensen, Jonas Linderoth, Ashley Brown (Hrsg .): The Dark Side of Game Play . Controversial issues in playful Environments, London 2015, S . 137–153; Eugen Pfister: Das Unspielbare spielen – Imaginationen des Holocaust in Digitalen Spielen, in: Zeitgeschichte 43 (2016) 4, S . 250–263 . 87 Kansteiner: Genocide memory, 2014, S . 406 f . Vgl . auch Fogu: Digitalizing Historical Consciousness, 2009 . 85

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– die Verschiebung von kognitiv-sprachlichen Diskursen zu emotional-sinnlichen Wahrnehmungen und damit – wie im Bereich der Museen insgesamt – von „knowledge“ zu „experience“; – der Verlust der Fähigkeit, zwischen dem eigenen Ich und der Vergangenheit unterscheiden zu können . Dabei geht es nicht zuletzt um die (drohende) Verschleifung von „Faktischem“ und „Fiktionalen“ sowie von historisch Konkretem zu moralisch Allgemeinem – und damit auch um die Verschiebung der Hierarchie zweier Wissensordnungen von Authentizität . So konstatierte einer der ersten Beiträge im „taz-Hitler-Blog“ 2006, der Nationalsozialismus nehme immer mehr Züge eines Fantasy-Gegenstands an, weil nicht zuletzt in Computerspielen vor allem Aspekte wie „Macht“, „Stärke“ oder „das Böse“ betont würden .88 Zudem lassen die Selbstrepräsentationen im Social Web im Kontext der Holocaust-Erinnerung auf eine ausgeprägte emotionale Ansprechbarkeit durch dieses Thema schließen . Beides steht aber in einer grundlegenden Spannung zu kognitiven Lernzielen, die sich am historisch Konkreten orientieren: Die Privilegierung emotionalisierter Zeitzeugenschaft durch die digitale Verfügbarkeit ihrer Zeugnisse, digitale Erlebniseffekte in Museen, Filmen und Computerspielen sowie der Trend zum digitalen Self-Fashioning selbst an historischen Orten der Verbrechen befördern empathisierende, identifikatorische und nacherlebende gegenüber reflektierenden oder strukturorientierten Zugängen .89 Gepaart mit einer mehr oder weniger großen Prise pessimistischer Kulturkritik wird dem Vordringen von Anschaulichkeitsfaszination, Trivialisierung und Aufmerksamkeitsstreuung die Forderung nach einer Stärkung kognitiv-wissensorientierter Zugänge entgegengehalten . Damit hält die in den 1970er-Jahren entstandene Debatte um das Verhältnis eines reflexiven, eines normativen und eines „trivialen“ Geschichtsbewusstseins wieder Einzug . Kritiker der Digitalität sehen durch sie die Entwicklung einer historischen Urteilskraft per se als gefährdet an . Vielleicht sind viele Phänomene, die gegenwärtig kritisiert werden, nur exemplarisch dafür, dass das Geschichtsbewusstsein nie so rational war und wird sein können, wie es sich viele ihrer Theoretiker und Praktiker wünschen . Allerdings macht das kritisches oder reflexives Bewusstsein nicht obsolet – es zeigt nur, dass nicht das Digitale an sich das Problem darstellt, sondern – wie bereits im Zeitalter analoger Massenmedien – die Frage der Vereinbarkeit von historischer Urteilskraft mit digitalen Angeboten und Nutzungen . Wer im Sinne kognitiv-reflektie-

URL: http://blogs .taz .de/hitlerblog/2006/06/27/freude-durch-kraft-vom-holocaust-zum-holodeck, letzter Zugriff: 4 .7 .2018 . 89 Vgl . Steffen Jost: #darfmansowasposten . Fotografische Repräsentationen von KZ-Gedenkstätten bei Instagram, URL: http://erinnern .hypotheses .org/494#Instagram, letzter Zugriff: 4 .7 .2018, sowie Bothe: Negotiating Digital Shoah Memory on YouTube, 2014; Wake: Regarding the Recording, 2013 . 88

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render Zugänge mehr Regulierung, Kontextualisierung und Kontrolle der Daten im digitalen Raum fordert, kann sich dabei zu Recht nicht zuletzt durch das notorisch relevante Problem der Leugnung oder „distortion“ des Holocaust bestätigt fühlen, das sich im Netz etwa in aggressiven, revisionistischen Kommentaren über Zeitzeugen bemerkbar macht, deren Aussagen mit haarsträubenden Argumenten in Zweifel gezogen werden . Doch sollte der Verweis auf diese und andere Gegner des Erinnerns an die Opfer des Holocaust nicht dazu dienen, innovative Prozesse im Namen einer normativ gesteuerten Erinnerungskultur zu verhindern, die ihre vornehmlichen Adressaten zu verlieren droht . Fazit

Den unvermeidbaren Effekten des Zeitalters der Digitalität auf die Holocaust-Erinnerung werden weder technikbegeisterte Visionen eines digitalen Paradigmenwechsels noch kulturpessimistische Warnungen vor einem Verfall der Holocaust-Erinnerung gerecht . Ob alle zuvor benannten Analysen der Auswirkungen des Digitalen auf das kulturelle Gedächtnis so eintreffen, ist dabei nicht ausschlaggebend, denn es wird keine Erinnerung ohne Digitalität mehr geben . Steffi de Jong hat deshalb zu Recht dazu geraten, „mehr Vertrauen in die Adressaten (zu) haben“ . Diese sollten nicht nur als „Konsumenten eines (…) vorgefertigten Erinnerungskorpus“ betrachtet, sondern als Produzierende ihrer eigenen Erinnerung ernst genommen werden .90 Dennoch könnte es sein, dass die pluralistischen, widersprüchlichen, nicht linearen Angebote im digitalen Raum gerade durch ihre Akzidentialität, Erlebnisorientierung und Sinnlichkeit eine grundlegendere Einsicht in den traumatischen Charakter des Geschehens verhindern, die einen bestimmten kognitiven Aufwand verlangt, um nicht in einem emotionalen Einerlei der Opferempathie unterzugehen . Es sollte also darum gehen, durch die Einbeziehung digitaler Technologien und virtuell erweiterter Erfahrungsräume nicht ohnehin schon vorhandene Effekte zu verstärken, die einerseits die Überlieferung auratisieren oder sakralisieren, andererseits emotionalisieren oder banalisieren, sondern das Widersprüchliche, Lückenhafte und Spezifische der historischen Überlieferung und ihrer Deutungen – die „limits of representation“ – sichtbar werden lassen . Algorithmen ließen sich zum Beispiel nutzen, so Todd Presner, um der mit den nationalsozialistischen Verbrechen verbundenen fundamentalen Erfahrung einer „fragility of life“ in einer dauernden Suchbewegung zwischen dem „saying and unsaying“ gerecht zu werden .91

De Jong: Von Hologrammen und sprechenden Füchsen, 2015 . Todd Presner: The Ethics of the Algorithm . Close and distant listening to the Shoah Foundation Visual Archive, in: Fogu, Kansteiner, Presner (Hrsg .): History Unlimited, 2016, S . 175–202, hier S . 201 . 90 91

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Schon die meist vor-digital aufgenommenen Video-Interviews mit Überlebenden offenbaren oft deren Ringen um die Grenzen von Sprache und Emotion, wenn dies nicht aufgrund positivistischer oder narrativer Verwendungen übersehen oder weggeschnitten wird . Wie sensibilisieren wir das Digitale für diese Deutungen, und wie können wir das Digitale dazu nutzen, damit es uns für das Fraktale des Geschehens und seiner Erklärung sensibilisiert? Vielleicht ist deshalb nicht „das Digitale“ die eigentliche Herausforderung der Erinnerungskultur, sondern die damit erneut aufscheinende Form eines Erinnerns, das sich nach abschließenden Erklärungen und holistischen Repräsentationen sehnt . Doch noch sind die neuen Möglichkeiten des Digitalen nicht ansatzweise daraufhin analysiert worden, was sie für eine Holocaust-Erinnerung bedeuten und bereithalten, die von den Grenzen des Verstehens und Erfahrens ausgeht . Gleichwohl sollte jeder Nutzung von – nicht nur digitalen – Medien im Kontext der Holocaust-Erinnerung eine Durchdringung der kognitiven, emotionalen und moralischen Dimensionen des historischen Gegenstands vorausgehen, um nicht die Verheißungen der Digitalität zum Spielfeld historisch beliebiger Repräsentationen werden zu lassen .

Neue Dimensionen der Zeugenschaft Digitale 2D/3D-Zeugnisse von HolocaustÜberlebenden aus fachdidaktischer Sicht Michele Barricelli / Markus Gloe

Zusammenfassung

Technik und Bildung stehen im Kontext der Aufarbeitung von NS-Verbrechen in einem spezifischen Bedingungsverhältnis . Dies betrifft auch unseren Begriff von historischer Zeugenschaft . In diesem Artikel wird der Blick auf digitale 2D/3D-Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden gelenkt – ein Bildungsmedium, das, in gewissen Grenzen, spontan und responsiv innerhalb der arrangierten Lernsituation agiert . Um die Möglichkeiten, aber auch Grenzen des Einsatzes der digitalen 2D/3D-Zeugnisse angemessen aus fachdidaktischer Sicht zu diskutieren, wird in einem weiteren Schritt die Rolle von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im medialisierten Erinnerungsdiskurs erörtert . Dabei wird auch die Kritik am Einsatz von digitalen 2D/3D-Zeugnissen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hauptsächlich von Seiten erinnerungskultureller Akteure rekapituliert . Der Aufsatz endet mit einem Plädoyer für didaktisch-kritische Zusatzangebote beim Einsatz von digitalen 2D/3D-Zeugnissen . Abstract

The article begins with an outline of the problem of technology and education in the context of Nazi-crimes and testimony . Therefore, the focus is placed on digital 2D/3D-testimonies of Holocaust survivors, an educational medium that, within certain limits, acts spontaneously and responsively within the arranged learning situation . In order to adequately discuss the possibilities as well as the limits of the use of digital 2D/3D-testimonies from a didactical perspective, there will be a further step in which the role of contemporary witnesses in the medialized discourse of memory will be discussed . The criticism of

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the use of digital 2D/3D-testimonies of contemporary witnesses will also be presented, especially by actors of commemorative culture . The article ends with a plea for didactical and critical additional offers regarding the use of digital 2D/3D-testimonies .

Der Zugang zu dem in diesem Artikel beschriebenen Problemzusammenhang müsste über zwei Wege gleichzeitig erfolgen: aus einer Überlegung zur sich wandelnden Bedeutung von Zeugenschaft im Kontext der Vermittlung von NS-Geschichte sowie, uno actu, durch die Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen der immer weiter entwickelten (technischen) Mittel, die uns dafür zur Verfügung stehen . Trotz eines eindeutig erkennbaren Bedingungsverhältnisses können die Dinge nur nacheinander abgehandelt werden . Da in diesem Fall der digitalen 2D/3D-Zeugnisse („Hologramme“1) von Holocaust-Überlebenden die Impulse zur Rekonstitution von Erinnerungskultur ihren Ausgang bei den innovativen Medien der geschichtlichen Vorstellungsbildung nehmen, betrachten wir zunächst den technologischen Komplex, um danach dessen Einwirkung auf Geschichtsbewusstsein, historisch-politisches Lernen, kollektives wie individuelles Gedenken zu untersuchen . Vorschläge für eine gute Praxis sind in die Argumentation eingelassen, müssen sich aber angesichts der Neuartigkeit des Mediums im Wesentlichen auf eine Ermahnung zum kritischen Umgang beschränken .2 Technik und Bildung im Kontext von NS-Verbrechen und Zeugenschaft – ein Problemaufriss

Technik spielte für die Aufarbeitung und Unterrichtung von „Auschwitz“, als Metonymie für die NS-Gräueltaten, und dann, als das Wort dafür in der Welt war, des Holocaust in Deutschland und anderswo stets eine bedeutende Rolle . So fiel das Ende des Zweiten Weltkrieges – und damit auch von Verfolgung und Völkermord – zusammen mit der Verbreitung eines neuartigen Aufnahmegeräts: Der tragbare „Drahtton-Rekorder“, der 1946 vom US-amerikanischen Psychologen David Boder für erste Audio-Interviews mit den Überlebenden der Lager genutzt wurde, schuf bereits unsere Vorstellung von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als Menschen, die man an ihrem Lebensort und später Alterssitz aufsucht, um sich Informationen und Erzählungen über ‚damals‘ abzuholen . Die Modellierung des Zeitzeugen als medialisierter Quelle strebte Der Begriff des „Hologramms“ ist zwar alltagssprachlich verbreitet und wird auch in bewerbenden Selbstauskünften von Herstellern gebraucht . Bei Zeitzeugen-Anwendungen, wie sie hier interessieren, handelt es sich aber realiter oft um reduzierte oder 2D-Vorformen . Um Missverständnisse zu vermeiden, wird daher nachfolgend in der Regel der generelle Begriff „digitales 2D/3D-Zeugnis“ verwendet . 2 Der Text wurde erstmals im Jahr 2016 verfasst und im Jahr 2018, nachdem die technische Entwicklung rasant fortgeschritten war, aktualisiert . Die Kooperation von Geschichts- und Politikdidaktik verweist auf den fachübergreifenden Charakter der Thematik . 1

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dabei, gerade so wie die gleichzeitig ablaufende Medialisierung des Holocaust in Film, Fernsehen, Literatur, auf der Bühne, in Museen, auf der Straße, nie nur nach Erkenntnisgewinnung oder Urteilsbildung, sondern nach der Stillstellung von Zeit .3 Denn so fraktioniert die Überlieferung durch mündliches Erzählen erst nur durch Ton, dann audiovisuell war – man konnte sich doch zumindest für den Augenblick sicher sein, dass die befragten Personen irgendwo lebten und durch ihre schiere Existenz das, was sie zu sagen und berichten hatten, beglaubigten . Dieses Beweisprinzip läuft nun, fast 75 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur, aus . Antwort auf das vorhersehbare Versiegen einer wertvoller als je zuvor betrachteten Quelle ist wiederum der forcierte technologische Wandel . Er berührt schulisches und außerschulisches Lernen sowie historisch-politische Bildung in stetig zunehmendem Maße . Technik und (institutionelle) Bildung freilich stehen in einem grundsätzlich ambivalenten Verhältnis . Einerseits halten sich traditionelle ‚analoge‘ Medien und Methoden an Stätten des beaufsichtigten Lernens länger als in der durchkommerzialisierten Wirtschaft oder unserer an Unterhaltung und Erlebnis ausgerichteten modernen Lebenswelt; Tafel und Kreide sind wohl tatsächlich nur noch in der Intimität von (deutschen) Klassenräumen vorstellbar . Andererseits ist die Zahl der auf technologischem Fortschritt beruhenden Programme, die schulische und außerschulische Bildung innovieren sollen, mittlerweile Legion . Deren Einführung war und ist allerdings regelmäßig von Ermahnungen durch Experten begleitet gewesen . Das galt für die avancierten Sprachlabore der 1970er-Jahre – deren Einzelkabinen aus der Sicht ihrer Gegner die Schülerinnen und Schüler der realen Kommunikationssituation entfremdeten – genauso wie für das konzertierte Großvorhaben „Schulen ans Netz“, wofür 1996 sogar ein eigener Verein gegründet wurde . Unter dem Zeichen einer zeitgemäßen Medienbildung sollte seinerzeit, ganz schlicht, der Computer in deutschen Bildungsanstalten Einzug halten . Doch fühlten sich zu Beginn selbst renommierte Pädagogikprofessoren bemüßigt, vor einer Verirrung der jugendlichen Schutzbefohlenen in den unfeinen Winkeln der Onlinewelt und dem Ersticken im Informationsmüll zu warnen . Heute muss man urteilen, dass die Effekte des Programms trotz mancher Unzulänglichkeiten nachweisbar und oft sogar nachhaltig waren .4 Die stürmischste Entwicklung von Technik im Bildungswesen findet zurzeit zweifellos im Bereich der Digitalität statt . In gesellschaftswissenschaftlichen Fächern wie Geschichte, Politik, Ethik/Religion, zudem den Sprachen, wo die Repräsentation abstrakter Bildungsinhalte durch konkrete Lerngelegenheiten seit jeher eine Herausforderung darstellt, dringt als jüngste Neuerung ein Seiten-Phänomen der computergestützten Technik von virtual oder augmented reality (VR/AR) ein, wenn die NS-Zeit oder Verbrechen und Völkermord thematisiert werden sollen . Gemeint sind Vgl . für den Zusammenhang und alle folgenden Ausführungen zur Figur des Zeitzeugen Martin Sabrow, Norbert Frei (Hrsg .): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012 . 4 Ein besonders nützliches und erkennbar überdauerndes Teilprojekt ist die Seite www .lehrer-online .de . 3

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damit digitale 2D- und 3D-Projektionen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die bisher exklusiv von Holocaust-Überlebenden existieren (eine Ausnahme bildet, soweit zu sehen, ein digitales Zeugnis zum Massaker im chinesischen Nanking 19375) . Wie so oft in Medienfragen ist die historisch-politische Bildung hier Nutznießerin einer anderenorts entwickelten und verfeinerten digitalen Technik . Das Medium „Hologramm“ entstammt nämlich, wie überhaupt ein Großteil des technologischen Fortschritts, dem Militärsektor, genauer dessen taktischen und Führungsschulungen .6 Holografierte Darstellerinnen und Darsteller, die aufgezeichnete Bewegungsabläufe vollführen und den Betrachtenden dabei, je nach Projektionsmechanismus, durchaus lebensecht erscheinen können, sind heute aber genauso fester Bestandteil der Unterhaltungsindustrie, wo sie in der Regel verstorbene Künstlerinnen und Künstler vor großem Publikum wieder auf die Bühne bringen . Sogar für den politischen Bereich leistet die Technik Dienste: Während aufreibender Wahlkämpfe können sich Kandidatinnen und Kandidaten, deren Zeitbudget die Auswahl von Kundgebungsorten begrenzt, vor ihren Anhängern „telepräsent“ in den Saal projizieren lassen, um ihre Ansprachen unter optimalen Bedingungen (keine Stammler oder Versprecher, keine linkischen Bewegungen, ohne oder mit gezielt eingesetztem Schweiß auf der Stirn) zu halten .7 Schon etwas länger auch in Deutschland bekannt sind außerdem architektonische 3D-Visusalisierungen und hier besonders jene von (in der NS-Zeit zerstörten) Synagogen – was kein kultureller Zufall ist . Man kann mit Marc Grellert sagen, dass durch solche computeranimierte Technologie, die einstmalige bauliche Realitäten in Form eines holographic display rekonstruiert, dreidimensionale Erinnerungsräume in einem neuen Verständnis eröffnet wurden .8 Enger auf den Menschen bezogene VerEin Hinweis darauf in: Hillary Jackson: Holocaust Survivor Holograms Give History New Depth, URL: https://www .kcet .org/shows/artbound/holocaust-survivor-holograms-give-history-new-depth, 13 .9 .2017, letzter Zugriff: 11 .9 .2018 . 6 Immerhin verriet das Institute for Creative Technologies (ICT) an der University of Southern California auf seiner Homepage, dass es gegründet wurde, um im Auftrag der U . S . Army und seines „Research Laboratory“ zu erkunden, was möglich wäre, „if leading technologists in artificial intelligence, graphics, and immersion joined forces with the creative forces of Hollywood and the game industry“ . Vgl . URL: http:// ict .usc .edu/About, letzter Zugriff: 16 .5 .2016, auf der weiter existierenden Website ist diese Passage jetzt aber nicht mehr vorhanden (15 .9 .2018) . 7 So geschehen zum Beispiel beim französischen Präsidentenwahlkampf im Frühjahr 2017: Der linkspopulistische Bewerber Jean-Luc Mélenchon vollführte so bis zu sieben Auftritte an einem Tag, vgl . URL: http://www .spiegel .de/video/jean-luc-melenchon-macht-wahlkampf-mit-hologramm-video-1759751 . html, letzter Zugriff: 15 .9 .2018 . 8 Marc Grellert: Erinnerungskultur im immateriellen Raum . Potenziale digitaler Technologien für die Erinnerung an zerstörte Synagogen, in: Erik Meyer (Hrsg .): Erinnerungskultur 2 .0 . Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt am Main 2009, S . 113–143 . Der Aufsatz stellt ein entsprechendes Projekt an der TU Darmstadt vor, im Zuge dessen seit Mitte der 1990er-Jahre mehr als 20 solcher hologrammartigen „Exponate“ entworfen worden sind . Der Begriff „immateriell“ ist in diesem Zusammenhang indessen eher unscharf – gemeint ist ja nicht das Gegenteil zu einem irgendwie „materiellen“ Raum, da Räume stets mental konstruiert sind und nie ‚tatsächlich‘ sein können . Einfacher könnte man von ‚virtuell‘ sprechen . 5

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wendungszusammenhänge der Holografierung existieren darüber hinaus in der Wirtschaftskommunikation („teleconferencing“) und der Medizin . In der technologischen Entwicklung9 von Hologrammen verschiedener Art hervorgetan hat sich von Beginn an die University of Southern California (Los Angeles) mit ihrem Institute for Creative Technologies (ICT) . Auf dessen Website findet sich eine Vielzahl von Applikationen noch aus anderen Bereichen, so etwa „Disaster Relief “, „Post-Traumatic Stress Treatment“, „Job Training“ oder „Sexual Harassment Prevention“ .10 Allen Anwendungen gemeinsam sei der kombinierte Ansatz von „science and storytelling“ . Ebenso leistete das ICT Schützenhilfe bei erfolgreichen 3D-Kinofilmen wie „The Curious Case of Benjamin Button“ (USA 2008) und, most noteworthy, „Avatar“ (USA 2009) .11 Immerhin haftet gerade dieser kinematografischen Vergewisserung im Augenblick durchaus noch etwas Fantastisches an . So taucht zum Beispiel in dem im Frühjahr 2016 gestarteten deutsch-US-amerikanischen Spielfilm „A Hologram for the King“ (dt . „Ein Hologramm für den König“, Regie: Tom Tykwer) das den Filmtitel abgebende Medium als von IT-Experten geschöpfter Deus ex Machina während einer interkulturell verfahrenen Situation auf und rettet diese . Das Heilsversprechen von Hologrammen – mindestens in einem Hollywood setting – bleibt damit greifbar . Um solche Formen einer streng dramatisierten holografischen Präsentation wird es im Folgenden indes nicht gehen, sondern um ein Bildungsmedium, das, in gewissen Grenzen, spontan und responsiv innerhalb der arrangierten Lernsituation agiert . Denn die Überlebenden-Hologramme besitzen als entscheidende Zusatzfunktion eine Sprachsoftware, mit deren Hilfe sie auf entsprechende ‚Eingaben‘ Texte aus einem vorbereiteten Fundus ‚ausgeben‘, um damit eine Zeitzeugenbefragung weitgehend zu simulieren . Das Resultat aus Präparat und Abfrage ist dann ein in jeder Anwendungssituation neu entstehendes digitales Zeugnis, wenn man so sagen will, „im 3D-Format“ . Konzipiert wurde eine solche „virtual survivor visualization“ seit 2012 im Zuge einer gemeinsamen Initiative der USC Shoah Foundation wiederum mit dem ICT; das Produkt ist damit Frucht einer typisch kalifornischen campus connection .12 Das Projekt

Über die zugrunde liegenden physikalischen Gegebenheiten, fotochemischen Aufnahmeprozesse, Hologrammtypen und speziellen Bedingungen der Nutzung in der Informationstechnologie kann hier nicht gehandelt werden . Unter den Überblickswerken sei verwiesen auf Gerhard K . Ackermann, Jürgen Eichler: Holography . A Practical Approach, Berlin 2007 . 10 URL: http://ict .usc .edu/prototypes/new-dimensions-in-testimony, letzter Zugriff: 22 .8 .2018 . 11 Eine Seitenlinie der Hologramm-Technik feierte kürzlich mit den 3D-„Oculus Rift“-Brillen Erfolge, wie sie etwa für das Remake des Filmklassikers „Das Dschungelbuch“ („The Jungle Book“, USA 2016) und seine standesgemäße Rezeption zur Anwendung kamen . 12 Diese Formung des kulturellen Gedächtnisses nach Art der US-amerikanischen Westküste („Amerikanisierung des Holocaust“) war bereits ein Vorbehalt gegenüber dem vom Spielfilmregisseur und -produzenten Steven Spielberg initiierten und finanzierten „Visual History Archive“ (VHA), einer Sammlung von mehr als 50 .000 videografierten Interviews mit Holocaust-Überlebenden . Die vollständig so genannte „Survivors of the Shoah Visual History Foundation“ wurde 1994 wesentlich zur Errichtung und Pflege dieses erst analogen, jetzt digitalen Film-Archivs gegründet und Mitte der 2000er-Jahre in das „Shoah 9

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trägt den anspielungsreichen Namen „New Dimensions in Testimony“13 (daher der Titel dieses Beitrags) und wird von eindeutiger Werbung begleitet . So sei das Ziel, „to develop interactive 3-D exhibits in which learners can have simulated, educational conversations with survivors through the fourth dimension of time . Years from now, long after the last survivor has passed on, the New Dimensions in Testimony project can provide a path to enable young people to listen to a survivor and ask their own questions directly, encouraging them, each in their own way, to reflect on the deep and meaningful consequences of the Holocaust . The project also advances the age-old tradition of passing down lessons through oral storytelling, but with the latest technologies available .“14

Bereits dieses mission statement zitiert also mit der Modellierung von Lerngelegenheiten, die durch ihre spezifische Zurichtung effektvolle better-than-life-situations generieren, und durch die Betonung der Langfristigkeit der Zielperspektive („years from now“) die Grundsätze des US-amerikanischen Bildungsoptimismus: Alles ist auf Dauer lern- und vermittelbar, wenn nur die richtigen und zweckmäßigen Vorrichtungen am Werk sind . Aufgabe ist es, die connection der Lernenden mit den aus grauer Vergangenheit erzählten Geschichten zu ermöglichen, was wiederum bei den Erlebenden zu activity und einem positive impact (das heißt einer Bewusstseinsänderung) führen soll .15 Moderne Technik besitzt dabei den Auftrag, diachrone Tiefe („age-old tradition“) mit gegenwärtiger menschlicher Erfahrung zu koppeln, sodass beide sich gegenseitig verstärken . Ermöglicht wird mithin, dass die uralte Kulturtradition des Erzählens noch in Zukunft segensreichen Bestand hat . Eng schließt sich bei alldem der ausdrücklich pietätvolle Umgang mit den Holocaust-Überlebenden an (die, was der Normalfall sein wird, im Augenblick der Rezeption oder ‚Begegnung‘ gar nicht mehr unter den Lebenden weilen werden): Zeitzeuginnen und Zeitzeugen entwickeln sich auf diese Weise endgültig, eben sogar unabhängig von ihrer physischen Anwesenheit, zu Autoritäten, vertrauenswürdigen Respektspersonen, Lehrern . Bereits ganz in diesem erzieherischen Sinn stellte das ICT im Herbst 2012 den Prototyp eines digitalen 3D-Zeugnisses vor, der seitdem sowohl auf den Internetseiten des Instituts wie auf anderen Online-Plattformen wie Youtube auszugweise im Clip-Format präsentiert wird . Es handelt sich hierbei um die holografische Aufnahme des Ho-

Foundation Institute for Visual History and Education“ überführt . Zur Sache vgl . Michele Barricelli: Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute als geschichtskulturelle Objektivation und seine Verwendung im Geschichtsunterricht – ein Problemaufriss, in: Hans-Jürgen Pandel, Vadim Oswalt (Hrsg): Geschichtskultur . Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach/Ts . 2009, S . 198–211 . 13 Für tiefere technische und konzeptuelle Erwägungen vgl . David Traum et al .: New Dimensions in Testimony . Digitally Preserving a Holocaust Survivor’s Interactive Storytelling, in: Henrik Schoenau-Fog et al . (Hrsg .): Interactive Storytelling, Heidelberg u . a . 2015, S . 269–281 . 14 Informationen und Zitierungen gemäß eines seit 2013 verfügbaren und ständig ergänzten und veränderten „Overview“ des ICT, URL: http://ict .usc .edu/about, letzter Zugriff: 18 .8 .2018 . 15 Vgl . Traum et al .: New Dimensions, 2015, S . 280 .

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locaust-Überlebenden Pinchas Gutter .16 Aktuell wird das Gutter-Hologramm in Museen und an außerschulischen Bildungsorten genutzt .17 In einem Präsentationsvideo sieht man Gutter, virtuell vergegenwärtigt, vor einer amerikanischen Schulklasse sitzend, die aus ebenso unschuldig dreinblickenden wie charmanten Teenagern besteht; zwei Fragen werden aus deren Mitte an die Figur gerichtet und beantwortet . Als Gutter, der entsprechenden Bitte folgend, ein sentimentales Volkslied seiner Jugendzeit anstimmt, zeichnet sich auf den Lippen der Jungen und Mädchen ein scheues Lächeln ab, das selbstverständlich, wie alles andere in dem Film, vom Regisseur inszeniert ist, aber an eine durchaus vielen Lehrkräften bekannte Urreaktion des historisch-politischen Unterrichts gemahnt: die Verlegenheit der Nachgeborenen, wenn sie unvermittelt auf eine ehrliche Äußerung aus lange vergangener Zeit stoßen, die ihnen so fremd wie verstörend und zauberhaft erscheint . Der praktische Fortschritt hat seitdem, also über nur wenige Jahre, zu erheblichen Ausdehnungen geführt, obschon das Medium des digitalen 3D-Zeugnisses im Moment noch weit von einer technischen oder Anwendungsreife entfernt ist und, mindestens im Hintergrund, beständig Korrekturen unterworfen wird . Bis vor Kurzem (aber auch dies ändert sich bereits wieder) wurden die digitalen Zeugnisse mithilfe der vom ICT entwickelten und als „pioneering“ bezeichneten „Light Stage technology“ hergestellt . Dies bedeutet, dass mit bis zu 116, in einer ausgeklügelten Konfiguration installierten Kameras der Zeitzeuge oder die Zeitzeugin über Tage im Ganzkörperformat dabei aufgenommen wird, wie er oder sie eine größere Zahl – man liest von 800 bis 1 .000 (s . u .) – vorbereiteter Fragen insbesondere zu seinem oder ihrem Leben und Überleben während der Zeit des Nationalsozialismus beantwortet . Einen Eindruck von solchen Filmaufnahmen sowie den begleitenden Umständen (Empfang im Studio, Instruierung, Einschärfung von Maßregeln) liefert der Dokumentarfilm „116 cameras“ von Davina Pardo .18 Die Vielzahl der digital verrechneten Aufnahmeperspektiven ermöglicht dann die 3D-Projektion des Abbilds des mit natürlicher Stimme sprechenden Menschen in einer präparierten Raumsituation . Im besten Fall wird tatsächlich die Illusion einer physischen Anwesenheit des Zeitzeugen oder der Zeitzeugin erzeugt .

Pinchas Gutter, Kindheit im Warschauer Ghetto, im Alter von zehn Jahren Deportation in das Vernichtungslager Majdanek, 1945 befreit; für das Hologramm vgl . URL: http://ict .usc .edu/prototypes/newdimensions-in-testimony/, hier „Relighting Method“ und „Classroom Concept“, letzter Zugriff: 22 .8 .2018 . Ein älteres narratives Interview mit Pinchas Gutter im VHA mit Hintergrundinformationen unter URL: https://www .youtube .com/watch?v=H1mfybmZxgI, letzter Zugriff: 2 .5 .2016 . 17 Vgl . die „Special Exhibition“ „New Dimensions in Testimony“, die 2017 und 2018 im Museum of Jewish Heritage – A Living Memorial to the Holocaust gezeigt wurde, hier jedoch nur eine 2D-Version . 18 Der Film ist online auf dem Open-Docs-Kanal der New York Times einsehbar, URL: https://www . nytimes .com/video/opinion/100000005201010/116-cameras .html, letzter Zugriff: 15 .07 .2018 . Interessant bleibt, dass der Filmtitel die erstaunliche Technik hervorhebt, nicht den Zeitzeugen, dessen Erlebnisse, die erzählte Geschichte, das Zuhören oder Lernen . 16

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Obwohl eine solche Technik buchstäblich staunen macht, ist ihre Verbreitung bisher gering . Das liegt einerseits an Fragen von Lizenzierung und Finanzierung; viele Entwicklungen fallen zudem in die Kategorie des Betriebsgeheimnisses . Andererseits können die Substrate nicht einfach aus bereits bestehenden Interview-Aufnahmen mit Zeitzeuginnen oder Zeitzeugen gewonnen werden . Vielmehr müssen die wenigen überhaupt noch infrage kommenden, sämtlich hoch betagten Holocaust-Überlebenden die damit verbundenen Strapazen überstehen: die Anreise zu einem Forschungsinstitut, die stundenlang sich hinziehenden und körperlich beengenden Aufnahmesituation in einem heißen Studio unter gleißenden und blitzenden Lichtquellen bei ausdauernder Konzentration auf eine regelmäßig quälende unmittelbare Erinnerung . Regelmäßig gehört auf Produzentenseite viel Fingerspitzengefühl, Vertrauenswürdigkeit und Glück dazu, Interviewpartner für das Unterfangen zu gewinnen . Nur wenige Einrichtungen besitzen das nötige Know-how, die Finanzkraft und Verbindungen in die kleiner werdende community der Holocaust-Überlebenden; Kooperationen (damit aber genauso gewisse Standardisierungen) sind der Regelfall . Eng mit der Shoah Foundation zusammen arbeitet etwa das Illinois Holocaust Museum und Education Center in Skokie, einem nördlichen Vorort von Chicago . Es ist dabei der erste Ort, an dem die digitalen 3D-Zeugnisse dauerhaft eingerichtet sind und gezeigt werden . Anders als von der Shoah Foundation favorisiert, hat sich das Illinois Holocaust Museum dazu entschlossen, die Hologramme mit Hilfe der sogenannten Pepper´s Ghost-Technik zu präsentieren, einem von John Henry Pepper bereits im 19 . Jahrhundert entwickelten und nach ihm benannten Illusionstrick unter Zuhilfenahme spezieller Spiegel; Ort dafür ist eine Art Theater für circa 60 Personen . Die aus dem Auditorium gestellten Fragen werden außerdem von einem zusätzlich anwesenden Moderator in ein Mikrofon gesprochen – und dadurch manchmal in nicht unproblematischer Weise reformuliert –, um von der Sprachsoftware besser erkannt zu werden . Neben dem Zeugnis von Pinchas Gutter sind im Augenblick vor allem die Aufnahmen von drei in der Nähe des Museums lebenden und mit diesem verbundenen Zeitzeugen zu sehen . Die digitalen Zeugnisse von vier weiteren Personen befinden sich noch in der Erprobung . Weitere kontinuierliche Präsentationen, die alle im Zusammenwirken mit der Shoah Foundation entstanden, sind in den Holocaust-Museen von Houston und Dallas zu sehen . Bis heute gibt es lediglich einen weiteren europäischen Bildungsakteur, der sich mit eigenen Mitteln der Hologramm-Technik anschließt: das „Forever Project“ des National Holocaust Centre and Museum in Nottingham .19 Das Museum selbst ist aus privater Initiative hervorgegangen und in einem ehemaligen Freizeitheim für jüdische Bürger der Region untergebracht . Zum zentralen Bestandteil eines Rundgangs durch diesen Vgl . URL: https://www .holocaust .org .uk/foreverproject1, letzter Zugriff: 13 .07 .2018; zur Produktion der „video testimonies“ in Nottingham vgl . Minhua Ma / Sarah Coward / Chris Walker: Question-Answering Virtual Humans Based in Pre-recorded Testimonies for Holocaust Education, in: Minhua Ma, Andreas Oikonomou (Hrsg .): Serious Games and Edutainment Applications . Volume II, Cham 2017, S .391–409 . 19

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Lern- und Erinnerungsort in ländlicher Umgebung zählte quasi von Beginn an das reale Zusammentreffen mit einem Zeitzeugen . Aus den bekannten Gründen hat man sich jedoch entschlossen, die originale Begegnung Schritt für Schritt durch interaktive digitale Zeugnisse zu ersetzen, wofür bisher zehn Anwendungen produziert worden sind . Im Gebetsraum des früheren Freizeitheims, was den respektvollen Charakter der Atmosphäre unterstützt, werden mit Hilfe eines 3D-Beamers die Personen auf einer Projektionsfläche gezeigt und zugleich die entsprechenden Antwortsequenzen in 2D auf einer weiteren Leinwand präsentiert . Anders als in Illinois jedoch steht hier ein Moderator nur dann zur Verfügung, falls das System die Fragen des Publikums nicht erkennt, um die Frage entsprechend neu zu formulieren . Es mag zumindest deutlich geworden sein, dass sich konzeptuelle und organisatorische Überlegungen zur Produktion und dem Einsatz der digitalen Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden auf technologische Aspekte konzentrieren . Wie das Medium die von ihm verbreitete Botschaft beeinflusst und formt, ist noch wenig in den analytischen Blick geraten . Zu einer tragfähigen Einschätzung wird man hier nur gelangen, wenn man Zeugenschaft noch einmal in den Kontext von moderner Erinnerungskultur und den Maßstäben historisch-politischer Bildungsarbeit stellt .20 Zur Rolle von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im medialisierten Erinnerungsdiskurs

Befassen sich junge Menschen heute in der Schule oder an außerschulischen Lernorten mit der NS-Vergangenheit,21 stehen keineswegs nur die Vermittlung, Einordnung und Bewertung bestimmter historischer Gegebenheiten (Personen, Orte, Strukturen,

Die Autoren dieses Aufsatzes verfolgen zurzeit ein kritisch-wissenschaftliches Projekt zur reduzierten 3D-Aufnahme von, was in Europa erstmalig geschieht, deutschsprachigen Zeitzeugen (Eigenname „LediZ“ – Lernen mit digitalen Zeugnissen), gefördert von der Bundesstiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) . Im Dezember 2018 und Januar 2019 wurden dazu zwei Holocaust-Überlebende in Zusammenarbeit mit der „Forever Holding“ in Großbritannien gefilmt . Beschreibungen des Projekt-Fortschritts werden zu gegebener Zeit publiziert, vgl . Anja Ballis / Michele Barricelli / Markus Gloe: Interaktive digitale 3-D-Zeugnisse und Holocaust Education – Entwicklung, Präsentation und Erforschung, in: Anja Ballis / Markus Gloe (Hrsg .): Holocaust Education Revisited, Wiesbaden 2019 . Alle hier vorgestellten Überlegungen sind Bestandteil der theoretischen und praktischen Grundlagen von LediZ . Als große Herausforderung technischer Art wird dabei die Verfeinerung der Spracherkennungssoftware gesehen . Auf konzeptueller Seite von noch dringenderem Interesse ist allerdings, wie solche 3D/2D-Medien in Settings der historisch-politischen Bildung sinnvoll eingebaut werden können . Dabei geht es um die Unterstützung von Erkenntnisförderung und Urteilsbildung in gleichem Maße wie um die Schaffung von kreativen Aufgabenumgebungen für junge Lernende und die Formulierung praktischer Kompetenzen der Lehrenden . 21 Zum Nationalsozialismus als Lerngegenstand liegt eine breit gefächerte geschichts- und politikdidaktische Literatur vor . Einen guten aktuellen Überblick bietet Hanns-Fred Rathenow, Birgit Wenzel, Norbert H . Weber (Hrsg .): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust . Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung, Schwalbach/Ts . 2013 . 20

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Begriffe; Ausmaß und ‚Begründung‘ der Verbrechen) auf dem Programm . Genauso dringlich im Sinne eines reflektierten Geschichts- und Politikbewusstseins wäre es, dass die von den Jugendlichen eher nicht hinterfragte aktuelle Erinnerungskultur – die nie statisch und richtig betrachtet nie im Singular zu haben war – problematisiert und selbst historisiert würde . Denn bekanntermaßen lag, anders als womöglich angenommen, vor der mehr oder minder unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit dem NS-Terrorregime, welche irgendwann zu sorgfältiger Dokumentation und eklatanter Präsentation und dem verantwortungsvollen Bedenken der Fragen von Schuld und Verantwortung führte, ein weiter Weg . Der je unterschiedliche Status von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hat an allen Stationen der öffentlichen Gedächtnisbildung eine nicht unerhebliche Rolle gespielt . Die längste Zeit vor dem generationellen Erinnerungsumbruch der 1980er-Jahre standen die Täter im Mittelpunkt der Debatte .22 Meist wurde sie ausgelöst durch die einigen großen und vielen kleineren Gerichtsprozesse der 1950er- und 1960er-Jahre, Daneben machte sich durchaus früh und dann hartnäckiger eine vielfältige Thematisierung und Darstellung des Widerstands bemerkbar – was für Außenstehende kurios anmuten muss angesichts seines prozentual völlig unerheblichen Vorkommens im Gesamtgeschehen: Widerstand ist das Letzte, was für die Geschichte des Nationalsozialismus irgendwie typisch oder exemplarisch gewesen wäre . Zeitzeugen- als Opfererzählungen gab es daneben zwar ebenfalls von Anfang an und sie wurden, wie erwähnt, auch schon systematisch erzeugt und gesammelt .23 Aber ihre Zahl blieb klein und erregte wenig Aufsehen . Ausschlaggebend, ja paradigmatisch bedeutsam wurden die Verfolgten erst in der Endphase der alten Bundesrepublik und damit des Kalten Krieges . Dann jedoch erhielten sie zeitweise eine Art Dominanz; von gewissen Seiten zugesprochen wurde ihnen bald sogar die letztinstanzliche Zuständigkeit im Erinnerungsdiskurs . Heute scheint es vielen fast so, dass Zeitzeuginnen und Zeitzeugen allein kraft der durch sie geäußerten Worte den Aufarbeitungsdiskurs buchstäblich bestimmen . Das womöglich kontraintuitiv interpretierbare Wort des „opferzentrierten Ansatzes“ (das stärker klingt als das englische „victim-centred“ oder „victim-oriented“) macht derweil die Runde .24 Mit der Neubewertung der Sprecherrollen einher ging dennoch weit mehr als ein immerhin nicht zu unterschätzender inhaltlicher Rahmenwechsel . Die Holocausterinnerung war nämlich seit diesem Umschwung fortan außer Gegenstand von Analyse und Reflexion auch Ort von Empathie und Affekt (hauptsächlich der Schülerinnen und Schüler, aber ebenso eines Film- und Fernsehpublikums) .

Vgl . für den Absatz Torben Fischer, Matthias N . Lorenz (Hrsg .): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ . Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, 3 . Aufl ., Bielefeld 2015 . 23 Vgl . Gerda Klingenböck: „Stimmen aus der Vergangenheit“ . Interviews von Überlebenden des Nationalsozialismus in systematischen Sammlungen von 1945 bis heute, in: Daniel Baranowski (Hrsg .): „Ich bin die Stimme der sechs Millionen“ . Das Videoarchiv im Ort der Information, Berlin 2009 . 24 Vgl . URL: https://www .goethe .de/de/kul/ges/20542299 .html, letzter Zugriff: 17 .9 .2018 . 22

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An dieser neuartigen Emotionalisierung des historisch-politischen Lernens ist sicher manches Übertriebene kritikwürdig .25 Aber sie ist zuerst ein Zeichen unserer Zeit und wird durch teilweise verletzende Angriffe auf die heutige empathiegetriebene Erinnerungskultur nicht aus der Welt geschafft .26 Im Verbund entfaltete sich jedenfalls eine ‚allgemein menschliche‘ Sicht auf Genozid und Massenverbrechen, die ihr Vehikel vor allem im vornehmlich US-amerikanischen Konstrukt der Holocaust Education fand . Das Leid des Einzelnen stand und steht dort nicht mehr als spezifische, raumzeitlich konkrete Erfahrung im Lernfeld . Sondern jenes dient als Lehre und Mahnung für eine globalhumane Zukunft ebenso wie für den Aufruf zu Einlenken und Läuterung auf individueller oder kollektiver Ebene . Zur Voraussetzung für solche Wirkungen gehört allerdings genau die möglichst direkte Verfügbarkeit der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie ihrer Erzählung in einem Modus, der ungehinderte Zugänglichkeit zumindest vorspielen kann . Es war zwar didaktisch nie ernsthaft umstritten, dass es in Bezug auf die mündlich überlieferte Geschichte neben der persönlichen Begegnung gleichermaßen Surrogate wie etwa Autobiografien, gedruckte oder gefilmte Interviews, Ausstellungen, Theaterstücke geben dürfe . Aber die Überzeugungskraft des jeweils zulässigen Mediums maß sich immer auch an seiner Nähe zur ‚Wirklichkeit‘ und daran, ob die Vergegenwärtigung der eigentlich abwesenden Person auf der Höhe der Zeit geschah . Mit dem fortschreitenden Alter der Holocaust-Überlebenden erhält dieser Anspruch immer weitere Dringlichkeit . Indes ist hier nicht der Ort, die Diskussion um den spezifischen Beitrag von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zur kritischen Vergegenwärtigung von dunkler Vergangenheit, zur Privilegierung bestimmter Arten von Erinnerung oder zu den pluralen Weisen der Wissensproduktion zu wiederholen . Auf den ersten Blick verständlich ist die Sorge über die Folgen des Verstummens der Erlebnisgeneration in einem analytisch-wissenschaftlichen Sinne eher nicht . Denn die Annahme trifft nicht zu, wir benötigten die Erzählungen der Überlebenden der Sache wegen . Erkenntnisse über die Vergangenheit lassen sich, wie Historikerinnen und Historiker es für alle älteren Perioden gewohnt sind zu tun, für unsere begrenzten historischen Bedürfnisse quasi hinreichend aus den schriftlichen Quellen, Bildern, Monumenten konstruieren .27 Das gilt im Besonderen für die außerordentlich gut dokumentierte Epoche des Nationalsozialismus . Die von Deutschen und in ihrem Namen verübten Verbrechen, deren Ausmaß und Unerhörtheit stehen in aller Regel ohne jede Aussage einer Zeitzeugin oder eines Zeitzeugen bereits unverrückVgl . zur Kritik an dieser besonderen Rolle von Emotionalität, die in den US-amerikanischen Bildungsmedien explizit gemacht und prominent platziert wird, aus gedenkstättenpädagogischer, zudem empirisch untermauerter Sicht Verena Haug: Am „authentischen“ Ort . Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik, Berlin 2015 . 26 Vgl . vor allem Ulrike Jureit, Christian Schneider: Gefühlte Opfer . Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010 . 27 Anderes mag gelten für die – hier nicht interessierenden – juristischen Verhältnisse, wo Aussagen von Zeugen unabdingbar sind, um die notwendige persönliche Zurechnung von Schuld zu ermöglichen . 25

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bar fest . Deren Beitrag zu Aufklärung und Aufarbeitung muss ein anderer sein . Das ist so, weil in der Möglichkeit, gerade Holocaust-Überlebende über ihre Erlebnisse und Erfahrungen, ihre gedanklichen Verarbeitungen des Geschehens und ihr Weiterleben befragen zu können, ein zivilisatorisches Versprechen liegt, das andere forschende und erklärende Instanzen, wie gerade die Wissenschaft, nur schwer geben können . Das ist die Bedingung der Existenz einer spezifischen Figur des Zeitzeugen . Ihr wird ein Vertrauen im Hinblick auf Aussagekraft, Bewertungsmaßstab, historische Weisheit entgegengebracht, welches sogar zur Grundlage unserer seit einer Generation entscheidend weiterentwickelten, gesamtgesellschaftlich relevanten und lebendigen Erinnerungskultur werden konnte . Die angesichts des historischen Erlebens paradoxe Botschaft lautet: ‚Hier spricht einer oder eine von euch – Ähnliches, was er oder sie erlebt hat, könnte euch also auch einmal widerfahren .‘ Verbürgt wird diese Botschaft durch die Authentizität der Äußerung . Und es ist diese Authentizität der geäußerten, verständlich gemachten Erfahrung – nicht eigentlich das dahinter stehende Wissen oder die aus dem Erleben geschöpfte Abgeklärtheit –, die im Augenblick des Wandels die Empfindung des größten Verlustes ausmacht, die wiederum nach Kompensierung verlangt . Das Schlüsselwort der Authentizität war bisher aus gutem Grund noch nicht gefallen . Geredet wurde allenfalls von „ehrlicher Äußerung“, „originaler Begegnung“ oder „unmittelbarer Erinnerung“ . Zur Karriere dieses ja schon sehr alten, daher vielfältig aufgeladenen Begriffs während der letzten zwei Jahrzehnte soll nur gesagt werden, dass sie ohne den Eingriff der (sicher wohlmeinenden) Bildungspolitik nicht vorstellbar ist . Zum Gütesiegel von (durch Steuermittel finanzierter) historischer Bildungsarbeit machte die Authentizität spätestens der Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“, in dem es bekanntermaßen vornehmlich um die Einrichtung und mithin das pädagogische Wirken von Gedenkstätten zur DDR-Geschichte ging, in der Folge jedoch gleichfalls von Gedenkstätten für die Verbrechen des Nationalsozialismus . Beschworen wurde dort namentlich die „Authentizität des historischen Ortes“; durch sie „lassen die Menschen diese Geschichte näher an sich herankommen und werden aufnahmebereiter für das, was an diesen Orten und darüber hinaus geschehen ist“ .28 Nun hat es mit den unterschiedlichen Authentifizierungsstrategien von historischen Medien, die es solange gibt wie diese selbst, nichts Besonderes auf sich . Zwecks Erzeugung von Glaubwürdigkeit und Autorität mussten Produkte der intentionalen Erinnerung (ob ein-, zwei- oder dreidimensional) immer schon eine Form von Echtheit vorgeben, und zwar, wenn es sein musste, selbst gegen den Augenschein .29

Schlussbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, Deutscher Bundestag, Drucksache 13/11000 vom 10 .6 .1998, hier S . 241 . 29 Man schaue etwa auf das berühmte, deutsche Identität mitbestimmende Gemälde „Proklamierung des Deutschen Kaiserreichs“ (Zeughaus-Fassung 1883) von Anton von Werner, eines Augenzeugen des Ereignisses, der, zweifellos um die Authentizität der Abbildung zu wahren, Otto von Bismarck in die dem 28

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Denn semantisch gilt, dass authentisch ist, was per definitionem unhinterfragbar geworden ist . Zu denken gibt daher, dass der notorische Begriff langsam auf den ersten Rang zur Beurteilung der Leistungskraft von Lernmedien aufsteigt, so dass ausgerechnet eine vorgeblich originalgetreue Kopie der Vergangenheit wie das Hologramm zum günstigsten Ausgangspunkt historischen Lernens gemacht werden kann . Zum fachdidaktischen Umfeld digitaler 2D/3D-Zeugnisse

Bei theoretischen und didaktischen Annäherungen an die beschriebenen digitalen 2D/3D-Zeugnisse stellen sich viele Fragen . Die Wesentliche mag sein: Sind diese so aufbereiteten Zeugnisse im Kontext des bald evolutionären, bald revolutionären technologischen Fortschritts etwas durchaus Normales oder Reguläres, das sich schließlich im Bildungsgeschehen neben allen anderen weiterbestehenden Verfahren und Anwendungen behaupten wird – oder zeichnet sich diesmal doch eine neue Qualität ab, verändert also das Medium die Botschaft in erheblichem Maße? Denn es fällt ja auf, dass, obgleich es um die Darstellung der furchtbaren Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland und dem kriegsbesetzten Europa geht, die Techniken, Begriffe und Erzählungen rund um das digitale Zeugnis in ganz anderen kulturellen, sprich angloamerikanischen Kontexten entwickelt werden . Das kann nicht ohne Wirkung auf etwas so national Imprägniertes wie historisch-politische Bildung bleiben, wo in den entsprechenden Unterrichtfächern nicht weniger als das ethnische Selbstverständnis von Staatsnationen verhandelt wird . Eine fachdidaktische Untersuchung wird jedenfalls an Bewusstseinsprozessen und praktischen Fragen der Umsetzung in präparierten Lernsituationen mit Jugendlichen ebenso interessiert sein wie an den Werten und Normen von Erziehung und Demokratiebildung im 21 . Jahrhundert . Aufgrund der Neuheit des Mediums, der fehlenden theoretischen Rahmung und empirischen Erforschung sowie infolge der hohen Innovationsraten können indessen nur vorläufige Einschätzungen (oder Spekulationen) zu seiner Wirkweise auf der Grundlage eines Resümees älterer Debattenbeiträge abgegeben werden . Für eine systematische, den Diskurs disziplinierende Abhandlung wäre es zurzeit noch zu früh . Evidenzbasierte Prüfungen und methodisch vielfältige Unterrichtserfahrungen werden folgen, obgleich es heute immer noch mit Kosten und Mühen verbunden ist, die digitalen 3D-Zeugnisse, über welche ihre Urheber und Rechteinhaber strenge Kontrolle walten lassen, überhaupt unmittelbar zu Gesicht zu bekommen . Die schwierige Einordnung der digitalen Zeugnisse von Überlebenden als neuestem Vorschein von digital memory besteht zu einem nicht geringen Teil darin: Man

Anlass angemessene weiße Uniform kleidete, welche dieser allerdings, wie alle Beteiligten wussten, gar nicht getragen hatte .

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soll schon wieder theoretisch und konzeptuell über ein in der Tat beispielloses Medium in Bezug auf die Vermittlung des Holocaust nachdenken, während man sich über viele verwandte Vorläufer noch gar keine richtige Meinung gebildet hat, namentlich die videografierten Interviews mit Holocaust-Überlebenden, wie sie in großen Online-Archiven (allen voran dem bereits genannten VHA) gesammelt und daneben in den Ausstellungen historischer Museen oder Gedenkstätten genutzt werden . Bei letzteren gab es und gibt es wohl noch Berührungsängste in der klassischen Geschichtswissenschaft, doch schreitet die Debatte – oft befeuert von Interessengruppen und jenen, welche die Produkte herstellen oder die betreffenden Archive pflegen – zumindest an ihren Rändern voran . Eine jüngere geschichtsdidaktische Monografie zum Thema Oral History enthält zwar nur wenige mürrische Zeilen zum Medium des Videozeugnisses .30 Die Handvoll Didaktikerinnen und Didaktiker jedoch, die sich ihm ausdauernd widmen, können inzwischen sogar bei aller gebotenen Vorsicht mithilfe empirisch gestützter Forschungsergebnisse, was im Fach eher eine Seltenheit ist, seine Vorzüge für wirksame problem- und schülerorientierte Lernprozesse untermauern .31 Damit soll allerdings nicht gesagt werden, dass digitale 3D-Zeugnisse eine Art Weiterentwicklung von Zeitzeugen-Videos seien und daher ihr Wirkmechanismus von den Erfahrungen mit dem Vorläufer hochzurechnen wäre . Das trifft technisch überhaupt nicht und konzeptuell nur bedingt zu . Eine direkte Beziehung wird selbst von den Entwicklern nicht behauptet .32 Dies berechtigt und verlangt, bei der Diskussion wieder ganz von Neuem anzusetzen . Digitale 2D/3D-Zeugnisse von Zeitzeugen werden unter erinnerungskulturellen Akteuren durchaus kritisch beäugt, wenn auch nicht so kritisch, wie es bei einem solch gravierenden Qualitätssprung denkbar wäre . Die Peinlichkeit einer sich später als hoffnungslos rückständig herausstellenden Kritik (siehe oben in Bezug auf Sprachlabore

Gerhard Henke-Bockschatz: Oral History im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts . 2014 . Vgl . z . B . Michele Barricelli, Martin Lücke: Für eine Weile noch . Videozeugnisse zur NS-Vergangenheit aus geschichtsdidaktischer Sicht, in: Nicolas Apostolopoulos, Cord Pagenstecher (Hrsg .): Erinnern an Zwangsarbeit . Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt, Berlin 2013, S . 49–58 . Christina Brüning: Unterricht mit videografierten Interviews aus dem Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“ . Die Lehrer_innen-Perspektive, in: Ebd ., S . 273–286; Michele Barricelli, Juliane Brauer, Dorothee Wein: Zeugen der Shoah: Historisches Lernen mit lebensgeschichtlichen Videointerviews . Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute in der schulischen Bildung, in: Medaon . Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 11/2009, URL: http://www .medaon .de/bildung .html, letzter Zugriff: 15 .3 .2016 . Jüngst weist Christina Brüning: Holocaust Education in der heterogenen Gesellschaft . Eine Studie zum Einsatz videographierter Zeugnisse von Überlebenden der nationalsozialistischen Genozide im Unterricht, Frankfurt am Main 2018, indes noch einmal auf die Grenzen des Mediums vor allem in Hinblick auf die erwünschten „Immersionseffekte“ hin . 32 Ein Hauptentwickler der Hologramme, David Debevec, misst diese immerhin gedanklich an den ursprünglich analog aufgezeichneten und später digitalisierten Video-Interviews im Visual History Archive des USC Shoah Foundation Institute und stellt die Überlegenheit der neuen Technik fest: „I think it’s going to be considerably more engaging and immersive and moving than if they are just up there on a video screen .“ In: Jerusalem Post, 15 .2 .2013 . 30 31

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und Computer in der Schule) möchte man sich wohl ersparen . Sicher gibt es einzelne Warner, die mitunter zu harten Worten und haltlosen Vergleichen greifen und ansonsten, zur Stützung ihrer Kulturkritik, auf philosophische Denker zurückgreifen aus Zeiten, die noch keine Digitalität kannten oder in denen diese noch kaum eine Rolle spielte . Micha Brumlik vor allem spricht in Bezug auf die digitalen Zeugnisse von einer „erschreckende[n] Utopie“ und unter dem Stichwort der „Trivialisierung“ von einem „Bemühen, die Erinnerung an den Holocaust mit im wahrsten Sinne des Wortes zwielichtigen Mitteln wie der gespenstischen Holographisierung von Überlebenden aufrechtzuerhalten“ .33 Die deutlich differenziertere und hörenswerte Kritik der Leiterin des NS-Dokumentationszentrums in München, Mirjam Zadoff, entzündet sich eher an der unnötig bühnenmäßigen Inszenierung der digitalen Zeugnisse im Umfeld bestimmter Lernorte .34 Die Fachdidaktik hingegen wird für die eigene Urteilsbildung auf ihre genuinen Kategorien zurückgreifen, die sie in einem langen Prozess in Bezug auf das Digitale adaptiert hat .35 So nähert sich Bernd Körte-Braun, der lange an der Freien Universität Berlin in Projekten der Aufbereitung und didaktisch informierten Verbreitung von videografierten Zeitzeugeninterviews zu Holocaust und Zwangsarbeit tätig war, dem Medium verständnisvoll . Er diskutiert, wie Hologramm-Projekte versuchen, mithilfe der gezielt gefilmten Mimik und Gestik die Glaubwürdigkeit der Person und Überzeugungskraft ihrer Erzählung zu unterstreichen; die mangelhafte technische Reife der Anwendung erkannte er als Schwachpunkt . Kritischer sieht er jedoch, dass im angepeilten Endstadium, wenn der lebende Zeitzeuge und sein digitales Zeugnis quasi in eins fallen, die Rezipienten den Repräsentanten der Vergangenheit vor allem in einer „Form der Affirmation“ begegnen, was bedeutet, die erinnerten Ereignisse erschienen dann plötzlich so nah und sogar vertraut, dass eine reflexive Distanz nur mehr schwer aufgebaut

Micha Brumlik: Hologramm und Holocaust . Wie die Opfer der Shoah zu Untoten werden, in: Meike Sophia Baader, Tatjana Freytag (Hrsg .): Erinnerungskulturen: Eine pädagogische und bildungspolitische Herausforderung, Köln, Weimar 2015, S . 19–30, hier S . 23, 28 . Freilich bezieht sich Brumlik auf die philosophisch hoch elaborierte Fassung von „Geistern“ oder „Gespenstern“ bei Jacques Derrida . Daneben spielt er bemerkenswert locker mit dem Gleichklang von „Hologramm“ und „Holocaust“ . 34 Holocaust im Hologramm . Interview von Jakob Wetzel und Sonja Zerki mit Mirjam Zadoff, in: Süddeutsche Zeitung, 17 .5 .2018 . 35 Zum Stand des Verhältnisses von Geschichtsdidaktik und digitaler Welt liegen nun, nach einigem (womöglich klugen) Zögern theoretische Überblicke und praktische Konzeptualisierungen vor . Vgl . insbes . Marko Demantowsky, Christoph Pallaske (Hrsg .): Geschichte lernen im digitalen Wandel, München 2015; Daniel Bernsen, Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen . Herausforderungen und Hypes im digitalen Wandel, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S, 191–203, dort viel weitere aktuelle Literatur . Die zwei letztgenannten Autoren haben erheblich zum „Hype“ des Digitalen beigetragen und verteilen auf der Grundlage eines recht eigenen Medienverständnisses freizügig gute und schlechte Noten für angeblich bessere oder unpassende Auseinandersetzungen mit der Digitalität durch Kolleginnen und Kollegen aus den Fachdidaktiken . 33

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werden könne .36 Diese Funktion geriete, ließe sich hinzufügen, zur Perfektion jener bekannten Konzeption von Martin Sabrow, in welcher der Zeitzeuge als „Mittler zwischen der Welt der Vergangenheit und der Gegenwart“ wandele .37 Auf einer vergleichbaren, aber eher weniger durchdachten Ebene der Kritik an medialen Geschichtskonstruktionen im Allgemeinen und dem Zeitzeugenhologramm im Besonderen arbeitet Steffi de Jong . Sie macht zwar die „Fluidität des Internets“ als unterliegende Strömung der „Holocausterinnerung 3 .0“ aus, kommt aber doch nur zu dem Schluss: Das „Hologramm ist der Versuch, den natürlichen Verfallsprozess des kommunikativen Gedächtnisses aufzuhalten“ .38 Als reine Idee besitzt das kommunikative Gedächtnis allerdings gar keine natürlichen Eigenschaften, kann weder, im biologischen Sinn, wachsen noch verfallen . Zweifellos bleibt bei der Würdigung der gedächtnisbildenden Funktionalität von digitalen 2D/3D-Zeugnissen auf mittlerer Ebene zweimaliges Hinschauen ratsam . Gewiss, wenn wir lediglich die technischen Prozeduren der Imitation betrachten, hat man es mit einer Form digitaler Geschichte zu tun . Allerdings mit einer der ganz separaten Art . Denn quasi alles, was wir für Wesensmerkmale – oft Vorzüge – digitaler Medien halten, lässt sich in Bezug auf dieses Medium, so lässt sich jetzt resümieren, gar nicht in Anschlag bringen, zumindest nicht in der augenblicklichen, womöglich genauso wenig in der endgültigen Form: – Die Anwendung ist erstens keineswegs leicht oder bequem oder gar world wide verfügbar, sondern ihre Installation bleibt in hohem Maße ortsgebunden; selbst wenn sowohl die Shoah Foundation als auch das National Holocaust Centre and Museum Nottingham zurzeit an dem bahnbrechenden Vorhaben arbeiten, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer an ihren Endgeräten den digitalen Zeugnissen online Fragen stellen können (der digitalisierte Zeitzeuge entspränge dann also jedem empfangsbereiten Bildschirm oder Computer) . – Das Programm bietet zweitens nur im beschränkten Umfang interaktive Zugänge . Zwar ist die Gesprächsführung nicht vorgeschrieben, kann das Medium per mehr oder weniger sensibler Spracherkennungssoftware auf durchaus mannigfaltige Fragen oder ‚Eingaben‘ reagieren . Aber diese bleiben in Art und Zahl – selbst wenn

Bernd Körte-Braun: Erinnern in der Zukunft: Frag das Hologramm, URL: http://www .yadvashem . org/yv/de/education/newsletter/10/article_korte .asp, letzter Zugriff: 15 .9 .2018 . Der entsprechende „Newsletter“ der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und seiner „Internationalen Schule für Holocaust-Studien“ steht unter dem suggestiven Titel „Leben nach dem Überleben“ . Vgl . mit ähnlich abgewogenem kritischen Unterton: Ders .: Digitale Schatzkammern . Selbstzeugnisse Holocaust-Überlebender und ihre Bedeutung für die Zukunft, in: werkstatt .bpb .de vom 30 .9 .2015, URL: https://www .bpb . de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/212852/digitale-schatzkammern, letzter Zugriff: 15 .9 .2018 . 37 Martin Sabrow: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen den Welten, in: Ders ., Frei: Geburt des Zeitzeugen, 2012, S . 13–32 . 38 Vortragsmitschrift von Steffi de Jong auf der Berliner Tagung „Erinnern kontrovers“ vom 9 .–10 . Juli 2015 . 36

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1 .000 gestellte wie beantwortete Fragen wahrlich viel sind – doch strikt vorgegeben . Körte-Braun formuliert spitz, „für die Antworten der Hologramme [sind] in der Zukunft nicht mehr die Befragten, sondern letztlich Algorithmen verantwortlich“ .39 Mit einer sinnvollen Rückmeldung auf „their own questions“ können Schülerinnen und Schüler jedenfalls nur rechnen, wenn jene im Programm vorgesehen waren . Das ist in etwa das Gegenteil von dem, was von den Produzenten als „dialogische Interaktion“ angepriesen wird – oder wer wollte etwas als offenes Gespräch bezeichnen, in dem nur beantwortet wird, was andere als der oder die Befragte oder die Fragenden, gegebenenfalls sogar vor langer Zeit, als sinnvoll, nützlich oder triftig befunden haben? Sonderbarerweise wirbt das ICT gleichwohl mit einem „new set of interview questions, some that survivors are asked on a regular basis, plus many of which have not been asked before“ . Dies muss irritieren, da es ja zunächst bedeutet, durch ein – also deduktives – Auswahlverfahren im Sinne eines „Was könnte und sollte Fragende in einer Zeitzeugenbegegnung interessieren?“ würden bestehende urtümliche beziehungsweise subjektive (induktive) Fragehaltungen quasi ignoriert . Nachzuvollziehen ist eine solche Aussage kaum . Nicht zu unterschätzen ist im Übrigen die Frage der Anwendungssprache: Bis vor Kurzem waren alle digitalen Zeugnisse in englischer Sprache verfasst . Nun existieren erste digitale Zeugnisse in Spanisch, Hebräisch und Mandarin (s . o .) . Deutschsprachige Hologramme werden im LediZ-Projekt (s . o .) gerade produziert . Mindestens bliebe die weitgehende Begrenzung auf englischsprachige Produkte nicht nur eine praktische Hürde auf Seite der Anwender, sondern gleichfalls ein theoretisches Problem – denn das Englische ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, gerade keine Erfahrungssprache des Holocaust; die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bewegen sich mithin in einer Fremdsprache, müssen Rückbesinnungen, Begriffe, Namen übersetzen, dadurch interpretieren, formen, neu gestalten .40 – Drittens bietet die Anwendung (noch) keine tools zur Selbst- und Weiterarbeit, keine Verlinkungen, keine Vernetzung, keine evaluativen Ebenen . Das in der IT-Community oft beschworene Ideal vom Wandel des analogen consumer zum digitalen prosumer, der oder die mithin sich die Wege zum Gegenstand der Erkenntnis selbst ebnet, diesem eigene Realisierungen abgewinnt und in sein oder ihr individuelles Dingverstehen (hier: Geschichtsbewusstsein) einbaut, bleibt fern wie ehedem .

Körte-Braun: Digitale Schatzkammern, 2015 . Beide Aspekte sind selbstverständlich auch schon für die Videointerviews zum Beispiel im VHA virulent . Denkbar wäre, die Spracherkennung mit einer Übersetzungsfunktion auszustatten . Beim derzeitigen Stand der Technik sind hier allerdings größere Fehlerquellen zu erwarten . 39 40

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Selbst wenn vieles von dem Vermissten später dazukonstruiert werden könnte, bleibt das digitale Zeugnis an und für sich, das heißt ohne didaktisch-kritische Zusatzangebote, eine Technik, die, so muss man in Fortführung von Körte-Braun urteilen, ihre Virtualität und Digitalität am liebsten verschleiern möchte, um nämlich als analoges Wesen wahr- und ernst genommen zu werden . Bedeutet das Hologramm am Ende die Dekonstruktion von Digitalität mit ihren eigenen Mitteln – vielleicht sogar eine neue Art von Autorität durch Ähnlichkeit? Aber womöglich schürfen diese überkritischen Fragen doch zu tief; Nutzungsroutinen, die Fehlerquellen überspielen und Wege zu Ad-hoc-Justierungen aufweisen, werden sich einstellen . Das mag dann sogar für die recht simplen Alltagsprobleme gelten, welchen wir in den wenigen eigenen Erprobungen oder bei der Beobachtung von Nutzern im Zuge ihrer Begegnung mit den digitalen Zeugnissen begegnet sind: Zu viele Eingaben werden schlicht nicht erkannt . Mindestens ebenso viele werden „vom Hologramm“ falsch verstanden und augenscheinlich nicht im Sinne der konkreten Frage beantwortet . Dies führt häufig zu dem merkwürdigen Effekt, dass man rein aus Respekt und Ehrerbietung gegenüber sogar einer Simulation den Redefluss nicht unterbrechen möchte, aber eben im Innersten doch unbefriedigt zurückbleibt . Daneben mündet die Aufforderung durch eine Lehrkraft oder aber Aufsicht im Museum, „das Hologramm zu fragen“, was man eben gern wissen möchte, schnell in eine Verlegenheit: Man soll sich laut und deutlich vor anderen im Raum artikulieren – aber sind die eigenen Beiträge klug, angemessen, originell? Hat man überhaupt ein authentisches Frage- und Wissensbedürfnis? Kann, was man hier tut, nicht sehr schnell sehr peinlich werden? Bisher führen außerdem die menschengroße Erscheinung der holografierten Person mit all ihren Körperbewegungen, Blicken der Augen, Gesichtsausdrücken (tatsächlich gewohnt sind wir wesentlich kleinere, dadurch distanzierende Bildschirmformate) wie auch Unzulänglichkeiten des Schnitts bei der Montage der Gesprächsanteile zu einem befremdlichen Gefühl von „zu echt“ einerseits, „zu künstlich“ andererseits . Das alte Problem von Nähe und Distanz des historischen Subjekts wird hier noch nicht gelöst, sondern auf eine andere, wiewohl höhere Ebene verschoben . Trotz aller genannten Einschränkungen wäre es verfehlt und unbegründet, digitale 3D-Zeugnisse aus der historisch-politischen Bildung herauszuhalten . Erstens hat ein solches Entfernen ja schon mit Film, Fernsehen und PC-Spielen nie geklappt; zweitens darf man auf die avisierten technischen und konzeptuellen Optimierungen des Mediums setzen . Drittens besitzt das Medium ohne Frage ein didaktisches Potenzial, mithilfe dessen Lernsituationen motiviert, inspiriert und befruchtet werden können, selbst wenn die Begeisterung, gar Euphorie, welche im Zuge des ersten Aufeinandertreffens zu beobachten ist, bei wiederholter Anwendung schwinden mag; nicht in Abrede gestellt werden kann zumindest, dass die digitalen Zeugnisse in einer diffizilen Unterrichtssituation Gesprächsanlässe oder eine Aufforderung zum Sich-Einlassen („engaging“) liefern, die mit anderen Mitteln nicht leicht zu erreichen sind . Die eigent-

Neue Dimensionen der Zeugenschaft

liche Bedeutung des Mediums liegt jedoch tatsächlich in den, wie man sagen müsste, new dimensions of storytelling, die es noch eher anbahnt als neue Dimensionen des Bezeugens, Befragens oder Erinnerns . Neue Dimensionen des Erzählens

Die vollmundigen Versprechen der Programm-Entwickler, die Hologrammtechnik verbinde auf eine neuartige Weise science and storytelling, treffen zu . Die Prüfung liefert zwar ein differenziertes Ergebnis: Die Geschichten, die auf die beschriebene hybride Weise erzählt werden, sind nicht ko-konstruiert, da sie nur auf vorweggenommenen Fragen und Antworten beruhen; sie sind nicht subjektorientiert, da sie streng am Erkenntnisobjekt ausgerichtet sind (was diesem nicht eingegeben ist, kann nicht ausgegeben, muss ignoriert werden); ja, recht eigentlich handelt es sich nicht einmal um historische Erzählungen strictu sensu, denn programmiert sind lediglich Kurzgeschichten, Episoden, Anekdoten, keine durchkomponierten Darstellungen, narrativen (Selbst-)Beschreibungen, Autobiografien . Gleichwohl aber wird mithilfe der digitalen 2D/3D-Zeugnisse grundsätzlich ein forschend-entdeckendes Lernarrangement generiert, das zum tastenden Nachvollzug historischer Zeiten und individueller Schicksale einlädt . Im Rahmen eines gut vorbereiteten und ausgewerteten Umgangs ist es möglich – anders als bei Video-Interviews, die in ihrem starren, analogen Ablauf als abgeschlossen und hermetisch erscheinen, obwohl sie natürlich einmal in einer ergebnisoffenen Gesprächssituation entstanden sind – bei der „Befragung“ des digitalen Zeugnisses selbständig mit den Kategorien narrativer Sinnbildung zu operieren .41 Die Montage von Antwortelementen, Sinnabschnitten und Gedankengängen zu einer Aussprache über die Vergangenheit wird nie ganz zufällig erfolgen, sondern sich an narrativen Mustern orientieren, für welche in der Didaktik bisher noch ein Begriff fehlt . Gewiss ist dabei für die Reflexion der subjektiven Geschichtskonstruktion am Ende nicht nur von Belang, was der Zeitzeuge oder die Zeitzeugin als „Informant“ (Fritz Schütze) jeweils zu sagen oder zu berichten hat . Wie oben erwähnt, ‚lernt‘ man, durchschnittlich vorgebildet, kaum je Neues oder Überraschendes, der Programmablauf bleibt zudem automatisiert . Aber der als solcher zu erkennende Automat vermittelt doch eine humane Präsenz, die zu einer Reaktion auf mehr als nur eine verbalisierte historische Erzählung herausfordert . Gerade weil die holografierten Personen so geduldig und unendlich wissend und erfahren erscheinen, ermöglichen sie Momente von serendipity, also beglückenden Zufallsfunden . Das Gefühl, dass die Hologramme, egal wie man sich ihnen gegenüber anstellt, immer etwas zu sagen haben, dies in Ruhe

Vgl . Michele Barricelli: Narrativität, in: Ders ., Martin Lücke (Hrsg .): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd 1, Schwalbach/Ts . 2012, S . 255–280 . 41

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vortragen, Augenkontakt suchen, trotzdem niemanden bedrängen oder verpflichten, trägt entscheidend zur Wirkung des digitalen Zeugnisses bei . So ist es gerade die Würde der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocaust, die im Medium des digitalen 2D/3D-Zeugnisses dann doch in besonderer Weise zur Geltung kommt . Jede moderne Aufarbeitung der Geschichte von Terrorregimen, Diktaturen und Unrechtsstaaten muss heute – soll historische Wissenschaft nicht argloser Selbstzweck sein – von der Empathie mit den an Leib, Leben und/oder Besitz zu Schaden Gekommenen ausgehen . Jedes weitere Informationsmedium, das deren Erfahrung erhebt, dokumentiert, aufbereitet, präsentiert und kommuniziert, ist daher von einem historiografischen wie fachdidaktischen Standpunkt aus zu begrüßen . Dies gilt unverkürzt für die neuartigen digitalen Zeugnisse von Zeitzeugen . Bis zu einem gewissen Grad ist sogar in Kauf zu nehmen, dass die Weiterführung der medialen Geschichtskonstruktion immer auch der Profilierung von Akteursgruppen, der Professionalisierung von Experten, der Instrumentenentwicklung sowie der Kommerzialisierung im Sinne einer Bewirtschaftung von Vergangenheit dient . Dies war ja bereits beim Buchdruck, bei der Historienmalerei, auditiven oder audiovisuellen Medien, künstlerischen Umsetzungen der Fall und darf der Holografie dementsprechend nicht vorgehalten werden . Die Frage ist also nicht, ob zum Zwecke der Innovation von (historischen oder jedweden) Bildungsprozessen gemacht werden soll oder darf, was technisch möglich ist – auf solche Skrupel nehmen Produzenten und Konsumenten zu Recht keine Rücksicht . Zur Verfügung stehen müssen jedoch Mittel und Methoden, um die gesellschaftliche Relevanz, wissenschaftliche Tragweite und politische Wirkung der betreffenden Medien reflektieren sowie analytisch beschreiben und bemessen zu können . Dann ist es nicht mehr erstaunlich zu sehen, an welche technische Errungenschaften wir heute große pädagogische Erwartungen knüpfen, die wir vor 500 Jahren noch als pure Hexerei, vor 100 Jahren zumindest als Magie oder Trick, mit Walter Benjamin später als „Schock“ bezeichnet oder gefürchtet hätten . Unsere Gewöhnung an technische Neugestaltungen ist jedenfalls gewaltig . Doch wird man bei jungen Lernenden kaum je auf Vorbehalte gegenüber fordernden medialen Transformationen stoßen, zumal wenn diese helfen, die Botschaft des (historischen) Lernens in ein helleres Licht zu stellen . Geschichtsunterricht im US-amerikanischen Kontext enthielt schon immer stärker als in Deutschland mit seinem analytisch-ideologiekritischen Ansatz eine identitätsverbürgende Affirmation . Er bevorzugte – unter Vereindeutigung des Guten und Fortschrittlichen hier, des Schlechten und Rückständigen da – die exemplarische Sinnbildung anhand von vorbildlichen Beispielen etwa von mutigem, klugem, am Ende obsiegendem Handeln in der Geschichte . Es kann daher nicht genug betont werden, dass es sich bei den Zeitzeugen-Hologrammen um die Repräsentation von Überlebenden handelt . Insofern steckt in den digitalen Zeugnissen, was offen eingestanden wird, auch eine Instrumentalisierung der Erfahrung von Leid zum Zwecke einer Zivilisierung der Menschheit in der Gegenwart der Lernenden .

Neue Dimensionen der Zeugenschaft

So ist am Ende leicht zu beantworten, warum wir Debatten führen um eine Form von Medialität, die wenigstens im Augenblick eher erschreckt, als dass sie die Zukunftsfähigkeit von Geschichte und Erinnerung belegt . Wir benötigen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen schrecklichster Vergangenheit, egal in welcher Dimension, für unser spezifisch modernes Verhältnis zur Geschichte, das ein Lernen sein will, eben unbedingt42 – wohl wissend, dass es keine Garantien für das Erzählen gibt .

Abzulehnen ist die zumindest missverständliche, womöglich pietätlose, jedenfalls geschichtstheoretisch überhaupt nicht begründbare Position von Dana Giesecke und Harald Welzer, „mit dem Verschwinden der Zeitzeugen wird die Geschichte [des Nationalsozialismus] wieder frei, zu einer lebendigen Betrachtung nämlich, zum Gebrauch . Sie wird zukunftsfähig“ . Dana Giesecke, Harald Welzer: Das Menschenmögliche . Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012, hier S . 49 f . 42

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Virtuelles Erinnern? Chancen und Grenzen des historischen Lernens im virtuellen Raum1 Katrin Biebighäuser

Zusammenfassung

Virtuelle historische Lernorte sind digitale Angebote, die einen dreidimensionalen Raum generieren und die historisch relevante Orte nachstellen oder virtuell anreichern . Im vorliegenden Artikel soll anhand verschiedener virtueller historischer Lernorte dargestellt werden, wie sich der Zugang zu historischen Themen sowie historisches Lernen durch diese digitalen Angebote verändert . Ausgehend vom medial vermittelten historischen Lernen, auch an historischen Orten, sowie vom Konzept der Erinnerungsorte werden diese virtuellen Lernorte exemplarisch an zwei Angeboten dargestellt sowie ihre Potenziale und Grenzen für das historische Lernen aufgezeigt . Abstract

Virtual historical learning places are digital materials that create a three-dimensional space which represents or enriches existing historical relevant places . This article discusses how historical learning and the perspective of learners towards historical topics change due to the use of virtual historical places of learning . Two of these places will be discussed based on historical learning by media and on historical learning spaces as well as on the concept of places of remembrance . Das Manuskript dieses Artikels wurde am 30 .04 .2016 eingereicht . Anlässlich der später als ursprünglich geplanten Publikation des Jahrbuchs wurden lediglich redaktionelle sowie leichte inhaltliche Änderungen vorgenommen . Konzeptionelle Anpassungen, insbesondere in Hinblick auf die Vorstellung aktuellerer digitaler Angebote, aber auch hinsichtlich der Verfügbarkeit der hier vorgestellten virtuellen historischen Orte, konnten nicht mehr vorgenommen werden . 1

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KATRIN BIEBIGHÄUSER

Geschichtsunterricht und jegliche Beschäftigung mit Geschichte2 war schon immer an Medien gebunden: Die Auseinandersetzung mit dem Vergangenen findet anhand von Medien statt, die dieses Vergangene als Quellen zugänglich machen oder als Darstellungen (sekundäre Medien) über das Vergangene berichten . Die Spanne der Medien wird ergänzt durch historisches Lernen an Orten, in Museen, Ausstellungen oder an historischen Schauplätzen3 . Die Möglichkeit des historischen Lernens an historischen Orten versprechen auch neue digitale Angebote, indem sie nicht nur digitale Medien als Informationsquelle oder Werkzeug zur Verfügung stellen, sondern virtuell historische Orte nachbilden oder mittels entsprechender Programme (Apps) digitale Informationen an historischen Orten in die reale Umgebung einblenden . Damit eröffnen diese digitalen Angebote Lernräume, in denen die Vergangenheit des realen historischen Ortes vermittelt werden kann . Nachfolgend soll anhand zweier Beispiele diskutiert werden, ob dieses Versprechen eingehalten werden kann und welche besonderen Aspekte es bei den virtuellen historischen Orten zu berücksichtigen gilt . Medial vermitteltes historisches Lernen

Medien sind einem geschichtsdidaktischen Medienbegriff zufolge „Objektivationen und Präsentationsformen von Vergangenheit und Geschichte“ .4 Da Vergangenes nicht mehr direkt erlebbar ist, werden Medien benötigt: „Die nicht wiederzubelebende Vergangenheit ist ebenso wie die Geschichte als gegenwartsbezogene Deutung der Vergangenheit nicht unmittelbar erfahrbar . Beide können uns nur vermittelt in Form von Quellen und Darstellungen entgegentreten .“5 Quellen lassen sich in gegenständliche Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte eines Landes, wie sie im Fremdsprachenunterricht stattfindet . Dieser Bereich, für den es im deutschsprachigen Raum verschiedene Bezeichnungen wie Landeskunde oder Kulturstudien gibt, soll Lernenden über die Vermittlung der Sprache hinaus auch kulturelles Wissen über ein Land vermitteln, um hierdurch in die Lage versetzt zu werden, sich situationsadäquat in einem Land zu verhalten, impliziertes, kulturspezifisches Wissen in zielsprachigen Diskursen verstehen zu können und interkulturelle Kompetenzen zu erlangen . Zu diesem kulturellen Wissen gehört auch historisches Wissen . Ein Umstand, der in den letzten Jahren wieder zunehmend an Aufmerksamkeit innerhalb der Fremdsprachendidaktik des Deutschen gewinnt . Vgl . Uwe Koreik: Deutschlandstudien und deutsche Geschichte . Die deutsche Geschichte im Rahmen des Landeskundeunterrichts für Deutsch als Fremdsprache, Baltmannsweiler 1995 . Die Autorin dieses Beitrages arbeitet in diesem Kontext zu historischem Lernen . 3 Christian Kuchler unterscheidet diesbezüglich ‚Orte historischen Lernens‘ und ‚historische Orte‘: Er führt an, dass Archive und Museen zwar durchaus Orte historischen Lernens seien, jedoch keine historischen Orte, „die durch geschichtliche Ereignisse, Prozesse oder Strukturen geprägt sind“ . Christian Kuchler: Historische Orte im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts . 2012, S . 19 . 4 Christoph Pallaske: Die Vermessung der (digitalen) Welt . Geschichtslernen mit digitalen Medien, in: Marko Demantowksy, Christoph Pallaske (Hrsg .): Geschichte lernen im digitalen Wandel, München 2015, S . 140 . 5 Christoph Pallaske: Medien machen Geschichte . Überlegungen zu Medienbegriffen des Geschichtslernens, in: Ders . (Hrsg): Medien machen Geschichte . Neue Anforderungen an den geschichtsdidaktischen Medienbegriff im digitalen Wandel, Berlin 2015, S . 7–16 . 2

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Quellen, filmische und fotografische Illustrationen oder die künstlerische Aufarbeitung von Historischem in Literatur, in grafischen Darstellungen oder Gemälden unterteilen . Quellen sind Medien, die in der Vergangenheit entstanden sind und bieten damit einen sehr direkten Zugang zur Geschichte: In historischen Filmdokumenten kann man durch Bild und Ton Szenen aus der Vergangenheit anschauen . Auch andere Quellen, wie Texte, Fotografien, Kunstwerke oder Tonträger bieten Aufschluss über das Zusammenleben der Menschen in vergangenen Zeiten . Trotz ihrer Nähe zum historischen Geschehen implizieren diese Quellen immer auch die Perspektive des Verfassers .6 Neben der Perspektivierung hat auch die Darstellungsform der Informationen im Medium Auswirkungen auf die Auseinandersetzung mit dem historischen Thema: „Für den Geschichtsunterricht ist es (…) eine zentrale Frage, in welcher Form eine Quelle oder Darstellung vorliegt . Jedes Medium bildet einen eigenen Lern- und Denkraum mit spezifischen Möglichkeiten und Grenzen, die reflektiert werden müssen .“7 Je nachdem, ob beispielsweise eine Rede als Quellentext vorliegt oder als Videoaufnahme zur Verfügung steht, wirkt der Inhalt unterschiedlich auf den Rezipienten . Auch der Umstand, ob ein Video auf einem Fernseher angeschaut wird oder online zur Verfügung steht und hierdurch in andere Kontexte und Web 2 .0-Anwendungen wie Blogs oder Kommunikationswerkzeuge eingebunden werden kann, beeinflusst die mögliche Weiterarbeit am Material erheblich . Denn der Kontext, in dem Medien rezipiert werden, beeinflusst ihre Deutung – ob also ein Informationstext im Schulbuch in der Klasse gelesen wird oder an einer Tafel innerhalb einer Ausstellung oder an einem historischen Ort macht einen großen Unterschied . Digitale Medien ebenso wie Filme bieten in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, Geschichte multimedial dazustellen: Informationen werden nicht nur textuell übermittelt, in digitalen Medien kann multimodale Geschichtsschreibung erfolgen . Dies kann die Perspektivität und Mehrdimensionalität von Geschichte verdeutlichen und wirkt einer linearen Geschichtsauffassung entgegen . In oben beschriebenen Sinne verstanden, lassen sich Medien als Lerngegenstände verstehen, historisches Lernen vollzieht sich anhand dieser Medien . Medien können aber auch in anderen Kontexten im historischen Lernprozess auftreten: Indem sie als Vermittler zwischen Menschen genutzt werden und so zu Kommunikationsmedien werden, kann historisches Lernen zweitens durch Medien ermöglicht werden . Darüber hinaus können Medien, insbesondere digitale Medien, drittens als Werkzeuge geIndem bei Bildern durch die Wahl des Bildausschnittes oder bei Filmen zusätzlich durch Kameraführung oder akustische Untermalung ein bestimmter Ausschnitt der Wirklichkeit in einem bestimmten Kontext gezeigt wird, sind auch Quellen keine objektive Darstellung von Geschichte – zumal fraglich ist, inwieweit eine objektive Form von Geschichte überhaupt existiert, weil letztlich alle Auseinandersetzung mit Ereignissen unter bestimmten Voraussetzungen und damit Perspektiven stattfindet . 7 Daniel Bernsen: Geschichtsdidaktik 2 .0 . Digitale Medien im Geschichtsunterricht, in: Geschichte lernen 27 (2014) 159/160, S . 2–6, hier S . 2 . 6

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nutzt werden, mit deren Hilfe historisches Lernen erfolgen kann, indem beispielsweise in Blogs Artikel geschrieben werden . Medien können viertens selbst zum Lerngegenstand werden, indem anhand ihrer Entwicklung ihre Geschichte selbst, aber auch ihre Rolle bei geschichtlichen Entwicklungen diskutiert wird . Werden Medien komplexer genutzt als nur als Werkzeug, findet historisches Lernen fünftens im Medium statt: das Medium wird zum Lernort .8 Das Medium liefert Inhalte, über die gesprochen wird, es bietet gleichzeitig aber auch den Kommunikationsrahmen, in dem gesprochen wird . Medien als Lernort evozieren besondere Bedingungen des historischen Lernens . Diesem Umstand soll später anhand zweier digitaler Lernorte nachgegangen werden . Historisches Lernen an Lernorten gab es schon vor den digitalen Medien, indem für die Auseinandersetzung mit Vergangenem historische Orte, Gedenkstätten und Ausstellungen genutzt wurden . Nachfolgend wird historisches Lernen an diesen Orten analysiert und verortet, wobei auch das Konzept der Erinnerungsorte diskutiert wird . Historisches Lernen an historischen Orten

Am historischen Ort9 soll der Lernende die Möglichkeit erhalten, Fragen an die Geschichte zu stellen und durch die Untersuchung des historischen Ortes eine Narration des Vergangenen zu entwickeln: „Der historische Ort als solcher ist nämlich zunächst kein ‚Lernort‘ im eigentlichen Sinne, sondern Überrest und Darstellung vergangener Wirklichkeit und Geschichtsbewusstseins . (…) Zum eigentlichen Lernort werden diese Überreste somit erst durch den Prozess des Befragens (…), bzw . wenn sie unter bestimmten Aspekten und Fragestellungen untersucht werden (…) und aus diesen Ergebnissen eine Erzählung konstruiert wird“ .10

Eine ausführlichere Darstellung der verschiedenen Funktionsbestimmungen von Medien für das historische Lernen liefern Daniel Bernsen, Alexander König, Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen . Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften 1 (2012), S . 1–27, URL: http://universaar .uni-saarland .de/journals/index . php/zdg/article/view/294 ., S . 17–19; letzter Zugriff: 30 .04 .2016, wobei die Autoren weitere Funktionsbestimmungen nennen wie die Möglichkeit, über die Mediengeschichte Zugänge zur Geschichte zu erhalten, beispielsweise in Bezug auf den Buchdruck . 9 Unter den Sammelbegriff „historische Orte“ fallen originale Orte, die durch historische Ereignisse, Prozesse oder Strukturen geprägt sind, welche am entsprechenden historischen Ort rekonstruiert werden können, vgl . u . a . Ulrich Baumgärtner: Historische Orte, in: Geschichte lernen 18 (2005) 106, S . 12–18, hier S . 12 . 10 Christian Heuer: Historisches Lernen vor Ort – Skizze für ein zeitgenössisches Bild vom außerschulischen historischen Lernen, in: Kurt Messmer et al . (Hrsg .): Außerschulische Lernorte – Positionen aus Geographie, Geschichte und Naturwissenschaften, München 2011, S . 50–81, hier S . 55 f . 8

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Historische Orte gehören zur Kategorie der Sachquellen11 . Sie existierten schon in der vergangenen Zeit, im Gegensatz zu Ausstellungen und Museen, welche zwar über das Vergangene berichten, aber explizit hierfür erstellt wurden und verschiedene Quelle zusammentragen . Sachquellen bieten besondere Chancen für historisches Lernen: sie lassen sich konkret „Be-Greifen“12 und können hierdurch motivations- und erinnerungsfördernd wirken . Thorsten Heese sieht den Vorteil der Sachquelle darin, „dass sie authentisch und in ihrer dreidimensionalen Qualität konkret ist, forschendes Lernen und Lernen mit allen Sinnen ermöglicht und zudem hilft Methodenkompetenz zu entwickeln“ .13 Dieser Vorteil, den Heese Sachquellen zuschreibt, kann auch auf Erinnerungsorte übertragen werden . Mit dem Konzept der Erinnerungsorte lieferte Pierre Nora ein kulturwissenschaftliches Konzept, das insbesondere für das historische Lernen und die kulturelle historische Narration von Bedeutung ist . Demnach können Erinnerungsorte konkrete materielle Stätten historischer Ereignisse sein . Mit Bezug auf Maurice Halbwachs‘ nicht topografischen Ortsbegriff können sie jedoch auch Gegenstände oder immaterielle kulturelle Konzepte umfassen . Denn der Begriff Erinnerungsort umschließt alle historischen und kulturellen Phänomene, „über die eine Nation, sei es bewusst oder unbewusst, ihre kollektive Erinnerung und Identität konstruiert und konstituiert“ .14 Dabei kann Roger Fornoffs Beschränkung auf Nationen durchaus problematisiert werden . Sicherlich spielen Erinnerungsorte für nationale Identifikationen eine zentrale Rolle, aber auch andere soziale Gruppen können sich gemeinsame Erinnerungsorte schaffen, welche die Gruppenbindung verstärken – dies ist bei Fußball-Fangemeinden genauso zu beobachten wie in Schulklassen . Gleichwohl bietet das Konzept der Erinnerungsorte bezogen auf nationale Identitäten insbesondere für die landeskundliche Auseinandersetzung mit der Geschichte eines Landes im Fremdsprachenunterricht besonderes Potenzial . Es erlaubt Lernenden, die der Erinnerungsgemeinschaft nicht angehören, die implizierten Bedeutungszuschreibungen zu erkennen, die Mitglieder des Kollektivs bewusst oder unbewusst mit dem jeweiligen Erinnerungsort verbinden . Hierdurch kann das Verständnis dafür, warum einzelne Orte, Gegenstände und Konzepte für eine Gemeinschaft besondere

Schneider teilt die Sachquellen in mobile und immobile Objekte ein, wobei die immobilen Sachquellen als historische Orte bezeichnet werden können . Vgl . Gerhard Schneider: Sachüberreste und gegenständliche Unterrichtsmedien, in: Ulrich Mayer, Hans-Jürgen Pandel, Gerhard Schneider (Hrsg .): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts . 2011, S . 189–207 . 12 Ulrich Mayer: Klassenfahrten und historisches Lernen, in: Geschichte lernen 19 (2006) 113, S . 2–9, hier S . 6 . 13 Thorsten Heese: Unterricht mit gegenständlichen Quellen . Kann man Geschichte „begreifen“?, in: Geschichte lernen 18 (2005) 104, S . 12–20, hier S . 14 . 14 Roger Fornoff: Erinnerungsgeschichtliche Deutschlandstudien in Bulgarien . Theoriekonzepte, unterrichtspraktische Ansätze, Lehrerfahrungen, in: InfoDaF 36 (2009) 6, S . 499–517, hier S . 502 . 11

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Bedeutungen besitzen, gefördert und einige Bedeutungen von Erinnerungsorten exemplarisch erarbeitet werden .15 Virtuelle Welten

Mit der zunehmenden Bedeutung von digitalen Medien im Alltag der Lernenden wird auch die Auseinandersetzung mit ihnen im (Geschichts-)Unterricht immer relevanter . Digitale Medien können als Lerngegenstand genutzt werden, indem sie Inhalte transportieren, sie können darüber hinaus als Werkzeug verwendet werden, mit dem Aufgabenstellungen bearbeitet werden können, um historisches Lernen zu befördern . Digitale Medien, die komplexe virtuelle Räume erschaffen, bieten darüber hinaus Gelegenheit, als virtuelle Erinnerungsorte und virtuelle historische Orte zu dienen . Als virtuelle Welten werden Computerprogramme bezeichnet, in welchen eine dreidimensionale Umgebung grafisch dargestellt wird, die der Nutzer mit einer Computerfigur, dem Avatar, durchschreiten kann . Er sieht die Umgebung aus der Perspektive des Avatars (oder wahlweise über dessen Schulter) und fühlt sich damit in die Umgebung hineinversetzt . Einige virtuelle Welten können von Nutzern selbst gestaltet werden, indem sie virtuelles Land erwerben und dieses entsprechend ihrer Vorstellungen gestalten können; in anderen virtuellen Welten wird die Umgebung von der Betreiberfirma erstellt . Die noch immer bekannteste virtuelle Welt ist das sogenannte Second Life, eine Welt, in der Nutzer selbst die Umgebung gestalten können . Diese Möglichkeit wurde sowohl von Privatpersonen, als auch von Organisationen und Museen genutzt . Neben Fantasieumgebungen wurden dementsprechend auch Nachbauten von Straßenzügen aktueller und vergangener Stadtbilder programmiert, ebenso wie Sehenswürdigkeiten oder museale Angebote . So unterschiedlich wie die Arten des Dargestellten ist auch deren Güte: Da jeder Nutzer selbst Orte erbauen und benennen kann, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, ob beispielsweise ein Ort, der in „Second Life“ Schloss Neuschwanstein heißt, ein Abbild des realen Schlosses Neuschwanstein ist und in welcher Genauigkeit die Nachbildung erstellt wurde . Ähnlich wie mit Informationen im Internet, deren Validität man sorgfältig überprüfen muss, ist es notwendig, die entsprechenden Darstellungen genau zu untersuchen, insbesondere dann, wenn man den Erbauer dieser Umgebungen nicht kennt .

Dementsprechend hat das Konzept der Erinnerungsorte Eingang in den Fremdsprachenunterricht des Deutschen gefunden, vgl . Sabine Schmidt, Karin Schmidt: Erinnerungsorte . Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht . Materialien und Kopiervorlagen, Berlin 2007 . Darin stellen die Autorinnen Erinnerungsorte Deutschlands vor – beispielsweise die Berliner Mauer, den Kölner Dom sowie die Paulskirche – und lassen Lernende deren Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland erarbeiten . 15

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Verantwortet aber ein Museum oder eine andere Institution mit entsprechendem Bildungsinteresse die Darstellung, scheinen virtuelle Orte lohnenswert für historisches Lernen zu sein: Man muss nicht an einen weit entfernten Ort reisen, sondern kann auf dem Computer die entsprechenden Orte scheinbar persönlich durchschreiten . Es ist darüber hinaus auch möglich, dass Orte, die heute nicht mehr existieren, virtuell nachgebildet werden, wodurch der Nutzer mit seinem Avatar in die Vergangenheit eintauchen kann . So wurde beispielsweise innerhalb von „Second Life“ eine Umgebung erschaffen, die sich ‚The 1920 s Berlin Project‘16 nennt . Dort taucht man ein in das Leben im Berlin der 1920er-Jahre . Der eigene wie auch die Avatare aller anderen beteiligten Nutzer bekommen hier der Zeit entsprechende Kleidung zur Verfügung gestellt, es erklingt Musik aus der damaligen Zeit und man wird durch Flugblätter, Plakate und andere Schriftstücke auf Ereignisse und Konventionen der damaligen Zeit hingewiesen . Hierdurch können Nutzer spielerisch in die vergangene Epoche eintauchen, sich mit ihr auseinandersetzen und sie selbst gemeinsam mit andern Nutzern virtuell erleben . Während die Auseinandersetzung mit der Geschichte hier spielerisch und implizit geschieht (und häufig verfälscht wird oder das Agieren nicht epochenspezifisch erfolgt), gibt es in virtuellen Welten auch Orte, die explizit als historische Lernorte konzipiert wurden . Virtuelle Welten als virtuelle historische Lernorte

Historische Orte, die im Virtuellen nachgestellt wurden und als historische Lernorte Eingang in geschichtsdidaktische Projekte finden, werden von mir als virtuelle historische Lernorte bezeichnet . Lernende können sich allein oder in Gruppen an die entsprechenden Orte bewegen und diese erkunden . Durch die didaktische Konzeption der Orte sollen die Lernenden notwendige Informationen erhalten, um sich historische Zusammenhänge zu erarbeiten bzw . diese gemeinsam auszuhandeln . In einem Forschungsprojekt habe ich diesen Ansatz genutzt und polnische Germanistikstudierende mit angehenden Lehrenden des Faches Deutsch als Fremdsprache aus Deutschland in der virtuellen Welt „Second Life“ aufeinandertreffen lassen . In Kleingruppen sollten sie verschiedene virtuelle historische Orte zum Thema Deutsche Teilung und Wiedervereinigung besuchen und sich an diesen themenbezogen austauschen . Die Orte waren dabei unterschiedlich ausgestaltet: In einer Umgebung durchliefen die Gruppen eine (englischsprachige) Ausstellung von Bildern, Grafiken und Informationstexten zur deutschen Teilung und Wiedervereinigung, welche an einem virtuellen Mauerstreifen angebracht waren . Die Studierenden bewegten sich durch den Todessteifen, während sie die Inhalte der Ausstellung rezipierten .

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Vgl . URL: http://secondlife .com/destination/1828/; letzter Zugriff: 05 .04 .2018 .

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Eine weitere Umgebung war der Nachbau einer Wohngegend in der DDR, welche durch das Berliner DDR-Museum in Auftrag gegeben worden war . Hier konnten sich die Nutzer durch Plattenbauten, ein Café sowie einen Konsum-Markt bewegen – da die Umgebung noch nicht fertiggestellt war und nur mit besonderen Rechten betreten werden konnte, wurden hier keine anderen Nutzer angetroffen . Darüber hinaus wurde das virtuelle Brandenburger Tor, eine dortige Ausstellung zur Wiedervereinigung sowie die virtuelle East Side Gallery besucht; diese Orte waren von der Berlin Tourismus und Kongress GmbH in Auftrag gegeben worden . Die Gruppen bekamen jeweils recht offene Aufgabenstellungen, nach denen sie sich durch den virtuellen Raum bewegen sollten und sich über die Umgebung mit den Gruppenpartnern austauschen und darüber diskutieren sollten .17 In der Auswertung des Projekts mittels eines Fragebogens, welchen die teilnehmenden Studierenden nach Ende des Projektes ausfüllten, wurde deutlich, dass die Lernenden sehr motiviert waren, sich mit der Umgebung auseinanderzusetzen . Auch diejenigen, die zuvor angegeben hatten, sich wenig für Geschichte zu interessieren, gaben an, viel aus den jeweiligen Treffen mitgenommen zu haben . Bei der Auswertung der Gespräche über die virtuellen Umgebungen wurden aber auch Probleme deutlich: In der Mauer-Ausstellung, die mit Hilfe von Texttafeln Informationen über die Exponate bereit hielt, fand kaum Kommunikation der Gruppenmitglieder untereinander statt; jeder durchlief individuell die Ausstellung und auch im Anschluss waren die Gespräche über das Gesehene relativ kurz und oberflächlich .18 Beim gemeinsamen Durchlaufen der nachgestellten Wohnsiedlung fand zwar ein kommunikativer Austausch statt, dieser blieb aber in einigen Gruppen sehr oberflächlich und auch in den Gruppen, die explizit auf ihr historisches Wissen und ihre Vorannahmen Bezug nahmen, wurden Konzepte, auf denen diese Vorannahmen beruhten, nicht explizit thematisiert .19 Bei der virtuellen East Side Gallery wurde deutlich, dass die Lernenden einige der Graffiti-Kunstwerke nicht deuten konnten: So stand eine Gruppe vor dem Bruderkuss-Bild Mein Gott hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben von Dmitri Wrubel . Zunächst versuchten sie, die dargestellten Personen zu identifizieren, was den Lernenden in Bezug auf Erich Honecker auch gelang . Die Kussgeste deutete die Gruppe aber falsch, indem zunächst die Deutung der Homosexualität aufkam, im Anschluss gemutmaßt wurde, dass der andere Mann (Leonid Breschnew) für Westdeutschland stehe und die Liebe der geteilten deutschen Staaten zueinander symbolisiert werden solle .20 Die Offenheit der Aufgabenstellung war mit der Absicht formuliert worden, die Auseinandersetzung der Lernenden mit dem virtuellen Lernort möglichst wenig zu beeinflussen und diese dann als Grundlage einer Erarbeitung von Handlungsempfehlungen zu verwenden . 18 Vgl . Katrin Biebighäuser: Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten . Empirische Untersuchung eines Begegnungsprojekts zum interkulturellen Lernen, Tübingen 2014, S . 379–388 . 19 Vgl . Ebd ., S . 400–410 . 20 Vgl . Ebd ., S . 396–400 . Da die Gruppe bei dieser Deutung verblieb, gab ich ihnen abschließend weitere Informationen, die die richtige Deutung des Bildes ermöglichen sollen . 17

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Vor dem Hintergrund der an den unterschiedlichen virtuellen historischen Orten in „Second Life“ gemachten Erfahrungen habe ich als ein Ergebnis die Empfehlung formuliert, dass Nutzer mit Experten innerhalb derartiger Umgebungen kommunizieren können sollten . Diese Experten können in Form von Avataren ebenfalls in der virtuellen Umgebung anwesend sein und Hintergrundwissen vermitteln . Sie stehen bei Nachfragen zu Verfügung, ermöglichen aber weiterhin eine kommunikative und kooperative Auseinandersetzung mit der Umgebung und werden durch ihr Agieren in einer historischen Rolle Teil des virtuellen Ortes, in welchem der Lernende auch bei der Aufarbeitung der Zusammenhänge verbleiben kann . Eine weitere Möglichkeit wäre es, durch das Vorhandensein umfangreicher Informationen die Fehldeutung virtueller historischer Orte zu reduzieren und durch gezielte Aufgabenstellungen die Lernenden Zusammenhänge und Kontroversen selbst erarbeiten zu lassen . Die Experten böten allerdings den Vorteil, dass mit ihnen interagiert werden kann, so dass die Lernenden durch diese Interaktion offener im Prozess der Sinnzuschreibung und des gemeinsamen Aushandelns des Beobachteten wären . Problematisch bleibt weiterhin die Frage nach dem Verantwortlichen hinter derartigen Angeboten . Daher sollten virtuelle historische Orte auch genutzt werden, um Quellenkritik an digitalen Materialien zu üben: Virtuelle Welten stellen sehr komplexe Anwendungen dar, in denen Informationen auf verschiedenen Kanälen und in dreidimensionaler Perspektive vermittelt werden . Es wer-den nicht nur Bildausschnitte erkennbar, der Nutzer kann virtuelle Gegenstände und Orte aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten . Durch die oben dargestellte Veränderbarkeit der virtuellen Umgebung seitens des Nutzers ist zu betonen, dass die virtuellen Umgebungen, in denen sich ein Nutzer befindet, keine Gewähr korrekter Informationen implizieren, welche sie darstellen . Hier ist eine sorgfältige Quellenkritik notwendig, in der der Nutzer versucht, den Produzenten der Umgebung zu identifizieren und diesen in der Folge als vertrauenswürdig einschätzt oder aber weitere Recherchen in Bezug auf die Korrektheit der Darstellung anstellt . Virtuelle Welten erlauben also die Thematisierung der Perspektivität des Dargestellten, zum anderen eine Quellenkritik, die das Dargestellte auch im Hinblick auf die Korrektheit der Darstellung hinterfragt . Augmented Reality

Eine Mischung aus virtueller und realer Welt wird durch Augmented Reality21 (erweiterte Realität) ermöglicht: Augmented Reality ist ein Sammelbegriff und umfasst Programme, welche die reale Welt durch zusätzliche Informationen anreichern . Beispiele hierfür sind Apps auf dem Smartphone, welche durch GPS und die Kamera des Tele„Unter Augmented Reality oder Erweiterter Realität versteht man die Projektion von computergenerierten Daten in die reale Umgebung“ . Sarah Seifer: Augmented Reality . Die Erweiterung der Realität, URL: www .informatik .uni-leipzig .de/~graebe/Texte/Seifert-14 .pdf, letzter Zugriff: 05 .04 .2018 . 21

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fons erfassen, wo sich ein Nutzer gerade befindet und in das Bild des Ortes, dass der Nutzer auf dem Smartphone sieht, zusätzliche Informationen zur abgebildeten Umgebung liefern . Diese Informationen können Sachtexte zu Sehenswürdigkeiten sein, wie sie die App „Wikitude World Browser“ anbietet .22 Hier werden zu Sehenswürdigkeiten, an denen man sich befindet, Informationstexte auf Basis der Wikipedia in die Umgebungsansicht eingeblendet . Es gibt auch Anwendungen, in welchen bildliche Informationen mit dem von der Kamera erfassten Bild vermischt und zu einem hybriden Bild vereint werden23 . Die zusätzlichen Informationen können Fehlinterpretationen, wie sie oben für die Deutung virtueller Welten in „Second Life“ dargestellt wurden und welche auch an realen historischen Orten stattfinden können, verhindern . Damit können auch für das historische Lernen derartige Anwendungen eingesetzt werden: Die App „layar“24 beispielsweise liefert verschiedene virtuelle Layer (Überlegfolien) für reale Umgebungen . Diese virtuellen Überlegfolien erlauben es, an einem Ort zusätzliche Informationen, aber auch Gebäude oder Landschaften, die sich zu unterschiedlichen Zeiten dort befunden haben, einzublenden . So lässt sich beispielsweise die architektonische Entwicklung einer Stadt darstellen, indem Überlegfolien aus verschiedenen Jahrzehnten oder Jahrhunderten eingeblendet werden, die die Veränderungen des Ortes chronologisch veranschaulichen . Ein solcher Layer, der über die App „Layar“ verfügbar ist, lässt die Berliner Mauer virtuell auferstehen: Er blendet an entsprechenden Orten in Berlin den entsprechenden Abschnitt der Mauer in das projizierte Bild auf dem Smartphone ein, so dass der damalige Verlauf der Mauer lokalisiert und die versperrte Sicht durch die Mauer selbst erlebt werden kann . Augmented Reality und historisches Lernen

Die App „Tod an der Berliner Mauer“25 geht noch ein Stück weiter . Auch sie blendet Bilder und Informationen rund um den Mauerfall in die projizierte Umgebung ein, bettet diese Informationen aber in ein Rollenspiel, in das der Nutzer eingebunden wird: Die App stellt den Fall des ostdeutschen Grenzpolizisten Reinhold Huhn dar,

URL: https://play .google .com/store/apps/details?id=com .wikitude&hl=de, letzter Zugriff: 05 .04 .2018 . Durch Datenbrillen kann der Eindruck des Erlebens dieser Umgebungen noch unmittelbarer werden, da der Nutzer nicht nur auf den Bildschirm schaut, sondern die Informationen direkt in sein Sichtfeld eingeblendet werden . 24 Vgl . URL: https://www .layar .com/layers/berlinermauer . „Layar“ ist nur eine von mittlerweile zahlreichen Anwendungen, welche durch Standortermittlung und Georeferenzierung zusätzliche Informationen zu Orten, an denen sich der Nutzer aufhält, bereitstellt, weitere Anwendungen sind beispielsweise URL: www .zeitfenster .uni-leipzig .de oder https://www .historypin .org/en/ . letzter Zugriff jeweils: 05 .04 .2018 . 25 URL: http://sprylab .com/de/projekte/interaktives-edutainment-die-app-tod-der-mauer, letzter Zugriff: 30 .04 .2016 . 22 23

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der bei der Flucht einer Familie in den Westen von Schüssen getroffen wird und stirbt . Sein Tod wird in Ost- und West-Berlin unterschiedlich dargestellt: Während in der DDR erklärt wird, dass Rudolf Müller, der Familienvater der flüchtenden Familie den Grenzpolzisten bei der Kontrolle angeschossen hat, gibt dieser nach der geglückten Flucht in Westdeutschland an, dass er den Grenzpolizisten lediglich geschubst habe und dann geflüchtet sei . Der zweite Grenzsoldat, der dem Flüchtenden hinterherschoss, habe dann seinen Kollegen getroffen . Diese Version wird von der West-Berliner Justiz geglaubt, das Ermittlungsverfahren gegen Rudolf Müller wird eingestellt .26 Die App versetzt den Nutzer nun in die Rolle eines Journalisten, welcher den Fall recherchieren soll, um 38 Jahre nach dem Vorfall anlässlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das den Fall neu bewertete, einen Kommentar zu verfassen . Um diese Aufgabe zu lösen muss sich der Nutzer über den Fall informieren . Hierzu kann der Nutzer georeferenziert, also indem er sich an bestimmte Orte begibt, die für die Ereignisse um den Tod Reinhold Huhns relevant sind, auf Originaldokumente des Vorfalls zugreifen . Nach und nach leitet die App den Nutzer zu verschiedenen Orten, an denen er immer mehr Materialien erhält, welche abschließend deutlich machen, was sich damals ereignete . Virtuelle Räume und historisches Lernen – Chancen und Grenzen

An den oben dargestellten Beispielen wurde deutlich, dass mittlerweile einige Möglichkeiten bestehen, virtuelle Angebote für das historische Lernen zu nutzen . Nachfolgend sollen die Potenziale, aber auch die Risiken, die in der Besonderheit der virtuellen Repräsentation der historischen Orte begründet liegen, vor dem Hintergrund des historischen Lernens dargestellt werden . Virtuelle Angebote entsprechen dem Lebensumfeld von Schülerinnen und Schülern, von denen mittlerweile 97 Prozent ein Smartphone besitzen .27 Virtuelle historische Orte erlauben es, ähnlich wie reale historische Orte, in die damalige Zeit einzutauchen, da durch die multimediale Darbietung von Informationen, Bildern und Tönen verschiedene Sinneskanäle gleichzeitig angesprochen werden und der Nutzer sich frei in der Umgebung bewegen kann . Dabei ist das Aufsuchen des virtuellen historischen Ortes mit weniger Aufwand und Kosten verbunden als eine Exkursion zu realen historischen Orten: Die Nutzer können die hier vorgestellten Angebote kostenlos nutzen und sich mit einem digitalen Endgerät zu jeder Zeit an die entsprechenden

Vgl . hierzu die Darstellung seines Todes in der Chronik der Mauer unter URL: http://www .chronikder-mauer .de/index .php/de/Start/Detail/id/593928/page/11, letzter Zugriff: 05 .04 .2018 . 27 Dieser Wert gilt für Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren und wurde im Rahmen der JIM-Studie 2017 erhoben, vgl . Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM-Studie 2017, S . 8 URL: https:// www .mpfs .de/studien/jim-studie/2017/; letzter Zugriff: 05 .04 .2018 . 26

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Orte versetzen . Ein Besuch an einem virtuellen historischen Ort nimmt keine Zeit für An- und Abreise in Anspruch, so dass sich auch kurze Ausflüge realisieren lassen, beispielsweise als Impuls zu Beginn einer neuen Unterrichtseinheit, in der der jeweilige Ort im Fortgang dann intensiver aufgearbeitet wird . Der Nutzer muss an virtuellen historischen Orten, wie auch an realen historischen Orten, dem Ort durch eine Narration historische Bedeutung zuschreiben . Hierbei können insofern Probleme entstehen, als das diese Narrationen aufgrund von mangelndem Wissen oder Fehlinterpretationen nicht adäquat sind . Augmented-Reality-Anwendungen überlagern den realen Raum mit virtuellen Informationen, welche – wie im dargestellten Beispiel „Tod an der Mauer“ intendiert – für Bildungsprozesse genutzt werden können . Dieses Zur-Verfügung-Stellen historischer Informationen zur Deutung des jeweiligen Ortes kann Fehlinterpretationen verhindern – beziehungsweise Deutungen in eine den Informationen entsprechende Richtung lenken . Auch hier ist daher die Thematisierung der Quelle der Informationen und ihre Perspektive essentiell . Aber können die virtuellen Räume gewinnbringend für historisches Lernen genutzt werden? Wie verläuft historisches Lernen und kann dieser Prozess im virtuellen Lernraum seine Entsprechung finden? Mirjam Schmid28 erläutert den Prozess des historischen Lernens auf Basis des Kompetenzmodells historischen Lernens nach Peter Gautschi:29 „Historisches Lernen kann durch eine Begegnung des Individuums mit historischen Begebenheiten ausgelöst werden, denn dadurch tauchen bei den Lernenden Fragen auf und sie stellen Vermutungen an . Die Lernenden erschließen danach wahrgenommene historische Sachverhalte (Quellen, Darstellungen oder Aussagen von Zeitzeugen) und beschreiben diese in einer Sachanalyse . Ein historisches Sachurteil entsteht dank der Interpretation und dem Erkennen von Zusammenhängen . Durch die Beurteilung historischer Gegebenheiten anhand individueller Fragestellungen kommen die Schülerinnen und Schüler zu einem historischen Werturteil . Dieses beruht auf Moralvorstellungen und ermöglicht, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu hinterfragen . Es ist wichtig, dass jeweils Quellen und Darstellungen sowie gesellschaftliche Normen zur Überprüfung konsultiert werden“ .

Eine sorgfältige Aufgabenstellung und -sequenzierung ist für das historische Lernen ohnehin von zentraler Bedeutung . Im multimedialen, virtuellen Raum mit seinen vielen Eindrücken ist es umso wichtiger, dass die Lernenden geleitet werden . Dies

Mirjam Schmid: Historisches Lernen vor Ort . Theorie und Einblick in eine kompetenzorientierte Materialsammlung, in: Schulpädagogik heute 6 (2015) 11, Außerschulische Lernorte, S . 1–9, hier S . 3 . URL: http:// www .schulpaedagogik-heute .de/SHHeft11/03_Praxisbeitraege/03_10 .pdf; letzter Zugriff: 30 .04 .2016 . (Kursiv im Original) . 29 Vgl . Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht . Grundlagen . Erkenntnisse . Hinweise, Schwalbach/ Ts . 2009, S . 44 . 28

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erfordert eine Aufgabenstellung, die hinreichend begrenzt ist, um den Lernenden Sicherheit, Orientierung und einen Fokus zu liefern, die aber gleichzeitig im Sinne des Scaffoldings30 weit genug ist, damit die Lernenden selbst innerhalb des virtuellen Lernorts Sinn konstruieren und aushandeln können . Neben der engen Anleitung des Lernprozesses muss der Lernende abschließend über die Sachanalyse zu einem Werturteil gelangen . Nach Bettina Alavi und Marcel Schäfer31 gelingt dies durch eine Narration: „Die Schüler/innen sollten als Produkt eine Narration erstellen, der eine sinnvolle historische Fragestellung zugrunde liegt, d . h . eine, die Veränderungen in der Zeit beinhaltet . Eine solche Fragestellung könnte beispielsweise sein, wie sich die Wahrnehmung des Krieges verändert hat und von welchen Faktoren diese Veränderungen abhängen . (…) [D]ie Darstellung einer historischen Narration durch die Schüler/innen als Lösung und Endprodukt der Lernaufgabe (…) stützt sich auf das narrativistische Paradigma der Geschichtsdidaktik, das davon ausgeht, dass die Erkenntnisse aus historischen Lernprozessen nur in narrativen Konstrukten gefasst werden können . Diese Narrationen entstehen zunächst als mentales Konstrukt der Individuen, als deren Denkergebnis, müssen aber in einer medialen Form dargestellt werden, damit sie anderen Individuen verfügbar und damit vergleichbar und diskutierbar werden . Diese Darstellungen der Narrationen ermöglichen dann den kommunikativen Austausch zwischen Individuen und Geschichte“ .

Die oben dargestellten virtuellen Räume sind vor allem Lerngegenstand und Lernort . Sie liefern Informationen, die durch eine unter den oben dargestellten Bedingungen sinnvoll konstruierte Lernaufgabe gefiltert und interpretiert werden . Virtuelle Welten wie „Second Life“ bieten zwar die Möglichkeit, von Nutzern selbst gestaltet zu werden, aufgrund der Dauer und Komplexität der Erschaffung virtueller Umgebungen wird dies als Produkt eines historischen Lernprozesses aber kaum Eingang in den regulären Unterricht finden . Am Beispiel der Seminargruppen in „Second Life“ wurde deutlich, dass diese durchaus Fragen generieren und Vermutungen über das Gesehene anstellen . Was in der virtuellen East Side Gallery fehlte waren weitere Informationen, die es den Lernenden erlaubten, ihre Vermutungen über das Gesehene auf Basis eines Sachurteils zu revidieren oder zu bestätigen . Dadurch kam es gegebenenfalls zu falschen Einschätzungen, aus denen Werturteile folgten, die nicht auf dem korrekten Sachverhalt beruhten .

Mit Scaffolding bezeichnet man in der Analogie eines Gerüstes konkrete Arbeitsschritte und Hilfsmittel, die der Lehrende den Lernenden zur Verfügung stellt, damit diese erfolgreich eine komplexe Aufgabe bewältigen können, vgl . Pauline Gibbons: Scaffolding Language, Scaffolding Learning . Teaching Second Language Learners in the Mainstream Classroom, Portsmouth, NH; 2002 . 31 Bettina Alavi, Marcel Schäfer: Elemente sinnvoller netzbasierter historischer Lernaufgaben – aufgezeigt an einem Beispiel, in: Bettina Alavi (Hrsg .): Historisches Lernen im virtuellen Medium, Heidelberg 2010, S . 240 f . (Kursiv im Original) . 30

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„Tod an der Mauer“ führt mithilfe der Spielhandlung durch die Geschichte, in welcher der Lernende immer wieder Aufgaben lösen muss und Fragen beantwortet . Damit leitet die Anwendung durch die Phasen der Hypothesenbildung und Sachanalyse . Um zu einem Werturteil zu gelangen ist es notwendig, eine Narration zu generieren . In „Tod an der Mauer“ erfolgt dies durch den Kommentar, den der Spieler in seiner Rolle als Journalist über den Fall verfassen soll, aber auch hier ist keine Handlung (beispielsweise durch die Herstellung eines Lernerproduktes) im virtuellen Raum vorgesehen . Vielmehr wird der Lernende am Ende von „Tod an der Mauer“ dazu aufgefordert, einen Artikel zu schreiben, welcher dann digital publiziert wird . Es werden also andere Medien als die App genutzt, die Narration entsteht außerhalb der Lernumgebung . Durch das Verfassen des Artikels wird eine Narration erstellt, welche als Ausgangspunkt für eine sinnstiftende Kommunikation genutzt werden kann . Die App bietet den kommunikativen Austausch über die erstellte Narration (den Zeitungsbericht) nach dessen Erstellung allerdings ebenfalls nicht mehr an . Es wäre ja durchaus denkbar, dass den Nutzern nach der Erstellung eines eigenen Kommentars die Produkte anderer Nutzer zur Verfügung gestellt werden oder Nutzer über die App miteinander in Kontakt gebracht werden, um sich dann über ihre Kommentare auszutauschen – ein virtueller Pressespiegel . Hier sollten Lehrende eine weitere Teilaufgabe hinzufügen, in der sich die Schüler auf Basis ihrer jeweiligen Kommentare über den Fall austauschen und neben der eigenen Meinung auch andere Perspektiven auf das historische Ereignis erfahren . Fehlen derartige Aufgabenstellungen und Anschlusskommunikationen, bleibt es bei der Vermittlung deklarativen Wissens, welches nach dem Ausflug ins Virtuelle womöglich dort verhaftet bleibt .

Geschichtsvermittlung und Geschichtspolitik in der Wikipedia Peter Hoeres

Zusammenfassung

Der Aufsatz untersucht unter Nutzung des Theorieangebotes von Marshall McLuhan, Gilles Deleuze und Félix Guattari die Struktur der historischen Narration in der Wikipedia . Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den Mechanismen und Auswirkungen der Re-Etablierung von Hierarchien und Machtstrukturen in der rhizomatischen Struktur der Wikipedia geschenkt . Anhand von Beispielen in Sachartikeln und Biografien werden die Durchsetzung geschichtspolitischer Interessen und der Umgang mit Kritik in der Wikipedia-Community beleuchtet . Zum Schluss wird die Frage nach der Auswirkung von Wikipedia auf das Schreiben und Lesen in den ‚alten‘ Medien gestellt . Abstract

Using the theoretical approaches of Marshall McLuhan, Gilles Deleuze and Félix Guattari, the paper examines the structure of the historical narration on Wikipedia . Special attention is given to the mechanisms and effects of the re-establishment of hierarchies and power structures within the rhizomatic structure of Wikipedia . The implementation of interest-driven politics of memory into historical articles and biographies are discussed as well as the Wikipedia-community’s lack of responsiveness to criticism . Finally, the question of Wikipedia’s effect on the writing and reading in the ‚old‘ media is debated .

Die Etablierung von Wikipedia als primäre Informationsquelle vor allen anderen Enzyklopädien und Lexika, ja die weitgehende Ersetzung dieser Wissensspeicher durch die freie Internet-Enzyklopädie, die umfassende Wikipedisierung des Wissens also,

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verlangt nach einer theoretischen Durchdringung und genauen Beobachtung der dadurch erzeugten Wissensproduktion . Schon mit dem Durchbruch der Kommunikation via Internet im Allgemeinen hat Marshall McLuhans Theorieangebot ein Comeback erlebt . Viele seiner Aussagen über die Ablösung der Gutenberg-Galaxis1 und das Zeitalter der elektronischen Medien können heute fruchtbar gemacht werden . Entscheidend für die Mediengeschichte und den communicative turn2 wurde sein Axiom: „Societies have always been shaped more by the nature of the media by which men communicate than by the content of the communication .“3 Die medialen Inhalte bleiben demzufolge bei einem Transfer in neue Medien nicht stabil, sondern werden von den neuen medialen Bedingungen verändert . Paradigmatisch kann man dies bei der Etablierung des World Wide Web beobachten . Das Netz wurde zunächst – ähnlich wie bei anderen Medienumbrüchen beobachtbar – mit den Inhalten ‚alter‘ Medien, des Buches und der Zeitung, dann auch des Radios und Films, bestückt . Es veränderte aber nicht nur unsere Wahrnehmung und unser Verhalten einschließlich der ökonomisch merkwürdigen Einstellung, dass wir für Netz-Content nichts zahlen wollen . Mittlerweile haben sich darüber hinaus spezifische Formen der crossmedialen Contentproduktion im Internet herausgebildet . Auch im Bereich der Public History, also der nichtwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte, verändern diese die Modi des historischen Erzählens . Anhand des digitalen Erzählens von Geschichte auf Wikipedia soll diese Veränderung im Folgenden betrachtet werden . Dabei stellt sich die Frage, ob das Konzept der Autorenschaft, wie oft proklamiert,4 wirklich obsolet wird und ob das Netz einen freieren Zugang und vor allem eine demokratische, transparente und offene Hervorbringung historischer Narrative durch Schwarmintelligenz, das Wissen der Vielen also, ermöglicht . Dabei wird an dieser Stelle auch auf teilnehmende Beobachtungen zurückgegriffen, die in zwei Seminaren gemacht wurden, in welchem die Studenten historische Artikel für Wikipedia neu anlegen und existierende verbessern sollten .5 Die dabei ge-

Siehe Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis . Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf 1968 . Eine erste Fassung dieses Beitrages ist als E-Book erschienen: Peter Hoeres: Gärtner der Rhizome: Geschichte digital erzählen auf Wikipedia, Berlin 2013, eine weitere unter dem Titel: Hierarchien in der Schwarmintelligenz . Geschichtsvermittlung auf Wikipedia, in: Thomas Wozniak, Jürgen Nemitz, Uwe Rohwedder (Hrsg): Wikipedia und Geschichtswissenschaft, Berlin 2015, S . 15–31 . Hier können nun auch Reaktionen, welche der Beitrag in der WP-Community ausgelöst hat, diskutiert werden . 2 Dazu Stefan Haas: Die kommunikationstheoretische Wende und die Geschichtswissenschaft, in: Andreas Schulz, Andreas Wirsching (Hrsg .): Parlamentarische Kulturen in Europa . Das Parlament als Kommunikationsraum, Düsseldorf 2012, S . 29–43 . 3 Marshall McLuhan, Quentin Fiore: The Medium is the Massage, London 1996, S . 8 . 4 Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 6 (2009), URL: http:// www .zeithistorische-forschungen .de/16126041-Krameritsch-3–2009, letzter Zugriff: 19 .4 .2016; Jan Hodel: Wikipedia und Geschichtslernen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), S . 271–284 . 5 Public History online, Hauptseminar am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen im 1

Geschichtsvermittlung und Geschichtspolitik in der Wikipedia

machten Erfahrungen mit Wikipedia wurden von den Studenten in Portfolios notiert und reflektiert . Zunächst soll aber ein kurzer Blick auf die Bedeutung von Narrativität für die Vermittlung von Geschichte geworfen werden, um dann die Bedingungen der Geschichtserzählung in Wikipedia vorzustellen und exemplarische historische Sachartikel und Biografien in den Blick zu nehmen . Die Biografien haben in der Wikipedia einen besonderen Stellenwert gewonnen, sie werden aufgrund ihrer Aktualität und schnellen Erreichbarkeit vor allen biografischen Nachschlagewerken als erstes (und oft zugleich letztes) konsultiert . Im Fazit werden dann einige allgemeine Schlüsse gezogen und Postulate formuliert . Historische Narration

Die Geschichte ist vergangen . Was wir von ihr haben, sind Traditionen und Überreste, Quellen . Diese sind Fragmente, Schnipsel aus einem anderen Leben, ungeschliffene Scherben vergangener Gesellschaften und ihrer Wertehimmel . Um diese Quelleninseln zum Sprechen zu bringen und sie in einen Sinnhorizont einbetten zu können, müssen diese Relikte nicht nur befragt und durch die Quellenkritik ‚gereinigt‘, sondern auch verbunden werden . Diese Verbindung wird auktorial erzeugt und in einen linearen Zeitverlauf gebracht . Die historische Narration besteht also in der Verbindung der Quelleninseln zu einer kohärenten Geschichte . Zu dieser Narration gehört auch das, „was nicht gesagt/geschrieben wird“, denn „hinter jedem formulierten Satz stehen reihenweise nicht formulierte Sätze (…)“6 . Bei geschichtswissenschaftlichen Synthesen und Enzyklopädien bestehen die Quelleninseln nicht mehr aus Primärquellen, sondern aus Forschungsliteratur . Die narrative Verbindungsstruktur bleibt jedoch analog der Erzählung, die aus Primärquellen gewonnen wird . Historisches Erzählen wird damit nicht als Sonderform der Historiografie verstanden, wie sie besonders in den 1970er-Jahren in der Debatte zwischen Hans-Ulrich Wehler und den Sozialhistorikern auf der einen, Thomas Nipperdey und Golo Mann als bekennenden Erzählern auf der anderen Seite diskutiert wurde .7 Vielmehr ist jede Geschichte im Sinne Hegels als Vereinigung der historia rerum gestarum und der res gestae gleichzeitig Erzählung .8 Wie Paul Watzlawick proklamiert, dass man nicht nicht

Wintersemester 2011/12; Historische Artikel für Wikipedia, Seminar im Vertiefungsmodul am Institut für Geschichte der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Sommersemester 2015 . 6 Ute Daniel: Narrative Strukturen von Ab- und Aufstiegserzählungen der Geschichtswissenschaft, in: Peter Hoeres, Armin Owzar, Christina Schröer (Hrsg .): Herrschaftsverlust und Machtverfall, München 2013, S . 51–64, hier S . 52 . 7 Dazu Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey (Hrsg .): Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979 . 8 Vgl . Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt am Main 1986, S . 83 .

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kommunizieren kann,9 so kann man also in der Historiografie nicht nicht erzählen . Oder noch bündiger ausgedrückt in Anlehnung an Benedetto Croce: Wo es keine Erzählung gibt, gibt es keine Geschichte .10 Für Hayden White ist im Gefolge von Roland Barthes die Erzählung daher „ein Metacode, eine menschliche Universalie, auf deren Basis sich transkulturelle Botschaften (…) weitergeben lassen“ .11 Das trifft im hohen Maße auch auf die Erzählung in der vielsprachigen Wikipedia zu . Die in narrative Sequenzen gegossene, auktorial erzeugte und linear und chronologisch geformte Erzählung fand ihre Meisterform im Buch, das ebenso mit Baum- oder Wurzelmethapern symbolisiert werden kann, wie seit der Scholastik die gesamte Ordnung der Dinge und der Wissenschaften, der ontologische, kategoriale und begriffliche Aufbau der Welt, von der arbor porphyriana bis zur arbor scientiae . Der Baum hat, so Gilles Deleuze und Félix Guattari, „die Wirklichkeit und das gesamte Denken des Abendlandes beherrscht“ .12 Die beiden Philosophen forderten mit einigem Aplomb einen Paradigmenwechsel: „Macht Rhizome und keine Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht, stecht!“13 . Der aus der Botanik stammende Begriff des Rhizoms kennzeichnet das Sprossengeflecht von Maiglöckchen, Ingwer, Spargel und anderen Pflanzen und verweist auf eine (Nicht-)Ordnung des Wissens, die durch Konnexion, Heterogenität, Vielheit und assignifikante Brüche gekennzeichnet ist und ein nichthierarchisches Netzwerk darstellt . Damit haben Deleuze und Guattari schon im Prä-Internetzeitalter Merkmale der historischen Erzählung beschrieben, welche die etablierten Modi des Erzählens nun im Netz auf Wikipedia mehrfach aufbrechen . Folgende Merkmale der digitalen Erzählweise ersetzen die traditionelle Erzählung: – Kollaboration und Pseudonymität lösen, so scheint es, die Autorschaft auf oder verschleiern diese . Die in den Printmedien absolute Unterscheidung von Autor und Leser wird durch die schnelle Möglichkeit der Änderung der Artikel tendenziell aufgehoben, wofür der hässliche Neologismus wreader in Gebrauch gekommen ist .14 – Modul- und Hyperlinkstruktur brechen Linearität und Geschlossenheit der Erzählung auf, jeder Link führt zu einer neuen Erzählung . Eine hierarchische, chronologische oder auch nur alphabetische Ordnung ist nicht oder nur in Ansätzen existent . Die Erzählung ist niemals abgeschlossen, kann jederzeit durch weitere Verlinkung

Paul Watzlawick, Janet H . Beavin, Don D . Jackson: Menschliche Kommunikation . Formen, Störungen, Paradoxien, 11 . unveränd . Auflage, Bern 2007 (zuerst 1969), S . 53 . 10 Vgl . Hayden White: Die Bedeutung der Form . Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1990, S . 11 . 11 Ebd . 12 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Rhizom, aus dem Französischen von Dagmar Berger u . a ., Berlin 1976, S . 29 . 13 Ebd ., S . 41 . 14 Vgl . Hodel: Wikipedia und Geschichtslernen, 2012, S . 278 . 9

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und Ergänzung von Textpassagen und Referenzen erweitert werden . Damit wird die Erzählung fluide, situativ .15 – Die Chronologie historischen Erzählens wird durch das enzyklopädische Primat der Begriffsgliederung dominiert, die aber nicht holistisch konstruiert, sondern unabgeschlossen wuchernd erzeugt wird . Wird in Wikipedia also nicht mehr eine geschlossene Großerzählung von einem Autor erzeugt, so stellt sich die Frage, wie die Ordnung und die Form der Erzählung hergestellt wird, wie Anonymität respektive Pseudonymität die Geschichtserzählungen in Wikipedia verändern . Vor allem stellt sich aber die Machtfrage: Wer darf überhaupt was erzählen, wer entscheidet darüber? Befunde der teilnehmenden Beobachtung

Angesichts der mittlerweile erreichten Größe der Wikipedia behandeln neu angelegte historische Artikel eher randständige Themen . In unseren Seminaren haben die Teilnehmer etwa neue Artikel zur Allgemeinen Preußischen Staatszeitung, zum Anarchismus in den USA, zum Olof-Palme-Friedensmarsch, zu Walther Bayrhoffer, Ministerialrat im Reichsfinanzministerium im Zweiten Weltkrieg, oder über das Abkommen von Paris (1973) zur Beendigung des Vietnamkrieges angelegt . Im zweiten Thema dominierten regionale Einträge wie über den Emigranten Hans Rosenfeld, Würzburgs Beitritt in den 1 . Rheinischen Städtebund, den Gandersheimer Streit zwischen dem Bistum Mainz und Hildesheim über die Jurisdiktion eines Kanonissenstiftes . Auch die Verarbeitung der antiken Welt bot noch Gelegenheit für Neueinträge . Die neu geschriebenen Artikel wurden durch die Wikipedia-Community zumeist schnell – innerhalb weniger Stunden – gesichtet und damit zugänglich, dies geschah aufgrund der Neueintragsliste schneller als Änderungen in etablierten Artikeln gesichtet werden . Eine Sichtung garantiert laut Wikipedia-Eigendarstellung freilich keine Gewähr für fachliche Richtigkeit, sondern nur für Vandalismusfreiheit und „Wikifizierung“, also Layoutanpassung und Verlinkung, die Errichtung und Wahrung der Hypertextstruktur . Es folgten (meist nur von einzelnen Nutzern der Community) orthografische Verbesserungen und mitunter die Ergänzung von Literatur und Links . Bei fehlender Textmasse wurden Artikel durch den Marker „Qualitätssicherung“ gekennzeichnet, seltener gelöscht . Die Administratoren gaben überwiegend nur allgemeine, seriell gepostete oder formale Hilfestellung . Die ‚Geschichtserzähler‘ meiner Seminare kritisierten daher unisono in ihren Portfolios die mangelnde Diskussion und fachliche Aufnahme ihrer Artikel in der Wikipedia-Community .

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Vgl . Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens, 2009 .

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Die Einstiegshürden für historisches Schreiben auf Wikipedia sind prima facie gering . Geschrieben werden kann ein Text zunächst auf dem gewohnten Textverarbeitungsprogramm, um dann in das Bearbeitungsfeld auf Wikipedia kopiert zu werden . Die niedrige Einstiegshürde betrifft aber nur die nicht populären Themen, bei denen die Autoren inhaltlich relativ frei sind und auch Fehler lange stehen bleiben . Diese Artikel sind in ihrer Qualität teilweise mangelhaft, berücksichtigen nicht alle relevanten Punkte16 und sind oft nicht auf dem neuesten Stand der Erkenntnis und kaum belegt, da sie nicht gegengelesen und kontrolliert wurden . Oft werden selbst neu eingestellte Artikel von der Community inhaltlich überhaupt nicht verändert, wie man an den Versionsgeschichten ablesen kann . So erging es sowohl einem im Seminar kollaborativ ausgebauten Artikel zur „Kommission zur Untersuchung der Wettbewerbsgleichheit von Presse, Funk/Fernsehen und Film“, der so genannten Michel-Kommission, wie auch dem Artikel zur „Günther-Kommission“, obwohl letzterer bewusst rudimentär angelegt und schwach belegt war . Die beiden Kommissionen der 1960er-Jahre waren damals von großer Wichtigkeit, sollten sie doch die Marktmacht des Fernsehens beziehungsweise Axel Springers untersuchen und Vorschläge für deren Beschränkung machen . Sie sind bereits in mediengeschichtlichen Studien untersucht worden .17 Entstanden diese Artikel tatsächlich in Gemeinschaftsarbeit im Seminar, so kann man in der Versionsgeschichte neuer Artikel im Allgemeinen beobachten, dass diese in ihrer Grundsubstanz durch einen Autor – dessen Profil auf der eigenen Benutzerseite ihn als distinkte, wenn auch möglicherweise (halb)fiktive Persönlichkeit ausweist – angelegt und dann nur noch leicht modifiziert werden . Das historiografische Prinzip ‚ein allwissender Autor, ein Text‘ wird hier also prinzipiell beibehalten, die auktoriale Erzählweise wird damit re-etabliert . Bei populären, viel bearbeiteten Artikeln führt der kollaborative, anonyme und iterative Bearbeitungsmodus dagegen zu sprunghaften ungeordneten Schreibweisen . Die Artikel wachsen dabei derart an, dass zahlreiche Aspekte in eigenständige Artikel ausgelagert werden, wie am Beispiel der Behandlung des Ersten Weltkrieges in Wikipedia zu beobachten ist . Dadurch entsteht dann die rhizomatische Struktur der Wikipedia und ein Aufbrechen der Linearität der historischen Narration . Die ausufernde Setzung von Hyperlinks innerhalb der Wikipedia wird dann hypertroph, wenn selbst Datumsbestandteile gesondert verlinkt werden . Die Einträge zu einzelnen Tagen, Monaten und Jahren weisen eine annalistische Struktur auf, auf eine zusammenhängende Erzählung wird verzichtet, sie wird durch die Untereinander-

So auch Ilja Kuschke: Ein produktorientierter Ansatz zum kritischen Umgang mit Wikipedia im Geschichtsunterricht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), S . 291–301 . 17 Florian Kain: Das Privatfernsehen, der Axel Springer Verlag und die deutsche Presse . Die medienpolitische Debatte in den sechziger Jahren, Münster 2003; Florian Melchert: Meinungsfreiheit in Gefahr? Die medienpolitische Debatte in der Bundesrepublik vom Fernsehstreit bis zur Anti-Springer-Kampagne (1961–1969), Bochum 2003 . 16

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schreibung allenfalls suggeriert .18 Annalen und ihre elaboriertere Form, die Chroniken, verfehlen aber das Genre der modernen Geschichtsschreibung, da sie über keinen Sinnhorizont, kein Narrativ verfügen . Sie haben kein zentrales Thema, keinen Anfang, Mittelteil und Schluss, keinen identifizierbaren Erzähler und die angegebenen Ereignisse sind nicht miteinander kohärent verknüpft .19 Rhizomatisch erzählen heißt gegenüber der herkömmlichen linearen oder enzyklopädischen Erzählweise, dass nicht zyklisch erzählt wird, sondern wuchernd, ohne einen übergeordneten Plan und ohne ein übergeordnetes Erkenntnisziel . Der Vorteil der Rhizomatik wird in der Wikipedia aber nicht nur durch annalistische und auktoriale Formen konterkariert, sondern auch wenig für eine crossmediale Narrativität genutzt: So werden Abbildungen fast ausschließlich als Illustrationen eingesetzt, noch weniger werden die Texte mit Audio- oder audiovisuellen Dateien integrativ verbunden . War hierfür gerade im deutschsprachigen Bereich zu Beginn der Wikipedia die Copyright-Problematik mitursächlich, so arbeiten mittlerweile verschiedene Anbieter und Sammler von Bilddatenbanken mit Wikipedia zusammen, etwa das Bundesarchiv, das über 80 .000 digitalisierte Fotografien frei zugänglich gemacht hat, oder die Staatsund Universitätsbibliothek Dresden, die 250 .000 Fotografien zur Verfügung gestellt hat .20 Die Mediensammlung Wikimedia Commons ist zwar verlinkt mit Wikipedia-Artikeln, die einzelnen Medien, vor allem Bilder, stehen dann aber isoliert in den Commons und sind oft nur unzureichend erläutert . Die Rhizomatik, das unaufhörliche Wuchern von Semantiken und Verknüpfungen, hat ferner ihre Grenzen . Bei gefestigten, auserzählten Artikeln wie dem Eintrag zu Karl Marx wird das aus der Wissenschaft bekannte Peer-Review-Verfahren bis auf die Ebene der Teilsätze heruntergebrochen .21 Sensible Artikel wie derjenige zur sogenannten Wehrmachtsausstellung22 sind trotz anfechtbarer Referenzen – besonders häufig wird auf die Macher und Verteidiger der Wehrmachtsausstellung und ihre Narrative verwiesen, ganz oben ist gleich eine Fotografie eines Neonaziaufmarsches gegen die Ausstellung abgebildet, was Kritik anscheinend entsprechend denunzieren soll – und Inhalte nur für angemeldete Nutzer und de facto auch für diese kaum änderbar .

Siehe beispielsweise URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=1836&oldid=152905752, Stand: 27 .3 .2016, oder URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=23 ._Februar&oldid=152394985, Stand: 11 .3 .2016 . Wikipedia-Einträge werden hier als ‚Permanente Links‘ zitiert, die auf eine stabile spezifische Version mit Datumsangabe der letzten Veränderung („Stand“) verweisen . 19 Vgl . White: Die Bedeutung der Form, 1990, S . 17 . 20 Vgl . Thomas Wozniak: Zehn Jahre Berührungsängste: Geschichtswissenschaft und Wikipedia . Eine Bestandsaufnahme, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012), S . 247–264 . 21 Vgl . die Versionsgeschichte, URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Karl_Marx&%20action =history, letzter Zugriff: 3 .3 .2016 . 22 Vgl . URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Wehrmachtsausstellung&oldid=152458410, Stand: 13 .3 .2016 . 18

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Die Diskussionsseiten und die Artikelseiten sind in der Wikipedia getrennte Welten, das heißt, der Artikel bleibt oft ungeachtet aller Argumente auf der Diskussionsseite fixiert . Dies liegt daran, dass sich neue Gärtner der Rhizome bemächtigen, hier nach eigenem Gutdünken jäten und stechen, also die Diskussion aggressiv dominieren, Edits sichten („freigeben“) und Einträge sofort sichtbar ändern beziehungsweise „rückgängig machen“ können . Über diese Rechte verfügen die aktiven Sichter; Löschen und Sperren von Benutzern ist dagegen nur den derzeit 242 gewählten Administratoren der deutschsprachigen Wikipedia erlaubt .23 Eine detaillierte Kriterienliste definiert die Anforderungen an die Arbeit von angemeldeten Benutzern, welche zur automatischen Erteilung des aktiven Sichterstatus führt .24 Ihren Status erhalten die aktiven Sichter nach quantitativen Aktivitätskriterien und Wohlverhaltensvorschriften: So dürfen nur maximal drei Prozent der Bearbeitungen eines Benutzers wieder rückgängig gemacht worden sein . Jeder Administrator kann zudem die Sichtungsrechte entziehen . Diese ‚Gärtnerdiplome‘ verhindern zwar einerseits tatsächlich Vandalismus, so wurden Einträge von Unsinn, Spaß und weit übertriebene Zahlenangaben, wie wir sie versuchsweise im Seminar testeten, binnen weniger Minuten rückgängig gemacht . Zugleich verleiht der Sichterstatus aber die Macht zur Errichtung von Artikelerbhöfen, das heißt Artikel sind gleichsam in Besitz von einzelnen Sichtern, die über deren Fortentwicklung bestimmen . Die Administratoren, die in „Streitfällen gleichzeitig Untersuchungsführer, Ankläger und Richter“25 sind, werden von den stimmberechtigten Benutzern gewählt . Auch die Stimmberechtigung zur Wahl – oder besser: Akklamation – ist an quantitative Aktivität gekoppelt . Nur angemeldete Benutzer, die mindestens 200 Bearbeitungen (Edits) vorgenommen haben, davon mindestens 50 in den letzten zwölf Monaten, sind stimmberechtigt .26 Die Möglichkeit einer Kandidatur richtet sich ebenfalls nach der Arbeitsstatistik in der Wikipedia . Macht wird in der Wikipedia also vorrangig nach Quantität der Arbeit und Konformität zu bestehenden Artikel- und Sichterpräferenzen verliehen . Das ist nicht nur deswegen problematisch, weil Wissen, Expertise und (wissenschaftliche) Redlichkeit bei dieser Machtallokation nicht die Hauptrolle spielen, sondern Sichter und Administratoren ihre Wikipedia-Rechte nicht nur zur geschichtspolitischen Artikelpflege nach eigenem Gusto, sondern auch zur Diskreditierung und zur Denunziation von Realpersonen der Offline-Welt nutzen . Deren Versuch

Die Liste der Administratoren findet man unter der URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title =Wikipedia:Liste_der_Administratoren&oldid=153071325, Stand: 1 .4 .2016 . 24 Siehe URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Wikipedia:Gesichtete_Versionen&oldid= 152200795, Stand: 5 .3 .2016 . 25 Thomas Urban, Wikipedia: Mehr als hundert Fehler, super!, in: Süddeutsche Zeitung, 16 .12 .2015, URL: http://www .sueddeutsche .de/digital/wikipedia-ueber-hundert-fehler-super-1 .2784114, letzter Zugriff: 19 .4 .2016 . 26 Siehe URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Wikipedia:Stimmberechtigung&oldid=15297 2595, Stand: 29 .3 .2016 . 23

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sich zu wehren, ist dann häufig ihr erster inhaltlicher Bearbeitungsschritt in der Wikipedia und kann wegen formaler Fehler, unglücklichen Argumentationsstrategien, aber auch fehlenden Rechten besonders leicht abgeblockt werden . Das Problem der fehlenden Sichterrechte, dass ein betroffener Autor also erst auf das Wohlwollen eines aktiven Sichters bei Edits etwa zu seinem eigenen Namenseintrag angewiesen ist, konnte sich mancher „Power-User“, der auf den vorliegenden Beitrag in der Wikipedia reagiert hat, offenbar gar nicht vorstellen: „Den Sichterstatus hingegen, der ganz bestimmt eine Machtasymmetrie bewirkt, besitzen alle hier Diskutierenden .“27 Aber diese sind eben nur eine kleine Minderheit im Vergleich zu den in der Wikipedia behandelten Personen, die über keine Sichterrechte verfügen . Die Sichterrechte zeigen zunächst einmal ein Machtgefälle zwischen neuen oder seltenen Bearbeitern und regelmäßigen Editoren . In dieser Gruppe entscheiden dann weitere Faktoren über die Machtstellung, die aber wiederum im Wesentlichen auf quantitativen Faktoren basieren: Reaktionsschnelligkeit, auf Erfahrung ruhende Beherrschung der Codes und erfolgreichen Begründungsmuster und technische Vertrautheit mit der Wikipedia . An dieser Stelle sollen nun wenige Beispiele für verschleiert wirkende Hierarchien in der Wikipedia und eine bestimmte Geschichtspolitik vorgestellt werden, die sich aber problemlos erweitern ließen . Natürlich sind die daraus abgeleiteten Thesen wie jede Wissenschaft der Möglichkeit der Falsifikation unterworfen, sofern eine signifikante Zahl relevanter Gegenbeispiele oder Argumentationsfehler angeführt werden können . Zunächst folgt die Analyse eines Beispiels für die Geschichtspolitik bei Sachartikeln, dann folgen Analysen zu Biografien von Historikern . Deren Einträge in der Wikipedia haben angesichts der Bedeutung des Portals und der leichten Erreichbarkeit eine besondere Bedeutung für die Rezeption ihrer „Geschichtserzählungen“ aus der Offline-Welt . Sachartikel als Erbhöfe

Ein besonders markanter Fall, wie offensichtlich Zeitzeugen als „Power-User“ sich aller Argumente auf der Diskussionsseite zum Trotz eines Artikels bemächtigen, der dem Forschungsstand eklatant zuwiderläuft, ist der sich hartnäckig in dieser Form haltende Artikel zum „Krefelder Appell“ von 1980 .28 Dieser forderte eine einseitige Abrüstung und den Stopp der Nachrüstung in der NATO und der Bundesrepublik Deutschland . Von den sowjetischen SS-20-Raketen, die den Grund der NATO-NachURL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Wikipedia_Diskussion:Kurier/Archiv/2015/11&ol did=149039602, Stand: 14 .12 .2015 . 28 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Krefelder_Appell&oldid=151511761, Stand: 14 .2 .2016 . Daraus auch die weiteren Zitate . 27

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rüstung bildeten, war nicht die Rede; im Artikel wird auf diese Nichterwähnung nur in einem rechtfertigenden Satz eingegangen . Die von zahlreichen Forschern herausgearbeitete Steuerung und Finanzierung der diesen Appell initiierenden Partei Deutsche Friedensunion (DFU) und der mit ihr verbundenen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) aus der DDR und der Sowjetunion,29 ein Sachverhalt, der auch vielfach in der Presse aufgegriffen wurde,30 kommt in dem Artikel nur negativ-apologetisch zur Sprache . So beginnt ein Absatz im Artikel zum „Krefelder Appell“ mit folgender Formulierung: „Dieser war nicht von der DKP und auch nicht nur von DFU-Mitgliedern initiiert worden .“ Ergebnisse des Historikers Michael Ploetz vom Institut für Zeitgeschichte werden wie folgt vorgestellt: „Da die DDR-Regierung die DKP und ihr nahestehende Organisationen auch finanziell unterstützte, behaupteten manche Gegner der Friedensbewegung auch einen direkten SED-Einfluss auf den Krefelder Appell .“ Hier werden Forschungsergebnisse als Behauptungen abgewertet und der entscheidende Einfluss der SED auf die DFU dadurch verschleiert, dass nur von „DKP und ihr nahestehende Organisationen“ gesprochen und dieser Sachverhalt durch ein „auch“ weiter relativiert wird . Zudem wird durch das Tempus suggeriert, dass es sich um die Stimme eines involvierten Zeitzeugen handelt . Differenziertere Ergebnisse der Forschung werden also nur implizit durch Verneinung, falsche Kontextualisierung und Übertreibung vorgestellt . Geändert wurde der Artikel trotz Anführung von Belegen auf der Diskussionsseite und einer dortigen negativen Mehrheitsmeinung bisher nicht, nicht einmal der Verweis auf den eigenen Wikipedia-Artikel zur DFU, in welchem deren Finanzierung durch die DDR bis 1989

Vgl . Udo Baron: Kalter Krieg und heißer Frieden . Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei ‚Die Grünen‘, Münster 2003; Michael Ploetz, Hans-Peter Müller: Ferngelenkte Friedensbewegung? DDR und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluss, Münster 2004; Helge Heidemeyer: NATO-Doppelbeschluss, westdeutsche Friedensbewegung und der Einfluss der DDR, in: Philipp Gassert, Tim Geiger, Hermann Wentker (Hrsg .): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung . Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011, S . 247–268; Rudolf van Hüllen: Der ‚Krefelder Appell‘, in: Jürgen Maruhn, Manfred Wilke (Hrsg .): Raketenpoker um Europa . Das sowjetische SS 20-Abenteuer und die Friedensbewegung, München 2001, S . 216–253; Jürgen Maruhn, Manfred Wilke (Hrsg .): Raketenpoker um Europa . Das sowjetische SS 20-Abenteuer und die Friedensbewegung, München 2001; Gerhard Wettig: Die Sowjetunion in der Auseinandersetzung über den NATO-Doppelbeschluss, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S . 217–259; Manfred Wilke, Hans-Peter Müller, Marion Brabant: Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) . Geschichte – Organisation – Politik, Köln 1990 . 30 Vgl . Jochen Staadt: Die Bedrohungslüge, in: FAZ, 7 .4 .2001, S . 11; vgl . auch Ders .: Die Finger der Stasi im Westen, in: FAZ, 8 .6 .2006, S . 4; Hubertus Knabe: Millionen von Honecker, in: FAZ, 9 .10 .2008, S . 10 . Der Zeithistoriker und Journalist Sven Felix Kellerhoff fasste die Ergebnisse des Historikers Gerhard Wettig wie folgt zusammen: „Ihr wichtigstes Dokument [der Friedensbewegung; P . H .], der ‚Krefelder Appell‘ vom 16 . November 1980, war weitgehend aus Moskau und Ost-Berlin vorgegeben .“, vgl . Die Welt, 6 .4 .2009, S . 23, URL: http://www .welt .de/welt_print/article3509386/Wie-Moskau-die-deutsche-Friedensbewegung-befeuerte . html, letzter Zugriff: 19 .4 .2016 . 29

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mit erheblichen Beträgen korrekt dargestellt wird,31 wurde als Beleg für einen entsprechenden Hinweis im Artikel zum „Krefelder Appell“ akzeptiert . Stattdessen stützt sich der Artikel überwiegend auf die Erinnerung eines parteiischen Zeitzeugen .32 Es geht an dieser Stelle nicht darum, wie man die Friedensbewegung historisch bewertet und einordnet, sondern darum, dass selbst grundlegende Fakten systematisch ausgeblendet und den gesicherten historischen Wissenstand verschleiernd Partei ergriffen wird – aller Neutral-Point-of-View-Rhetorik (NPOV) zum Trotz . Die Argumente auf der Diskussionsseite werden ignoriert und Änderungsvorschläge aggressiv abgewehrt . So deklamiert Sichter ‚Kopilot‘: „DFU war nicht ‚kommunistisch‘ und die Meinung, die FB [Friedensbewegung; P . H .] sei von der SED finanziert worden, ist POV [Point of View; P . H .] der Springerpresse, der CDU/CSU und Hans Apels, nicht ‚der Forschung‘“ .33 Die Belegstruktur und Argumentation des Artikels zeigt dagegen eindeutig, dass die historische Forschung nicht einmal ansatzweise zur Kenntnis genommen wurde . Ähnlich war die Lage lange Zeit bei der Wikipedia-Darstellung des Massakers von Katyn, die sogar als exzellent ausgewiesen war, aber über 130 sachliche Fehler aufwies . Versuche von Experten wie dem SZ-Journalisten Thomas Urban, die Fehler zu korrigieren, wurden beharrlich über drei Jahre abgeschmettert, mehrere Administratoren beteiligten sich an dieser Blockade .34 Diese oft nicht redlich eingesetzte Macht von Administratoren, Sichtern und „Power-Usern“ ist auf den ersten Blick nicht erkennbar . Der Instanzenzug (‚Dritte Meinung‘, Schiedsgericht) bringt zumindest für einfache Beiträger wenig . Selten tätig werdende Beiträger haben geringe Chancen zur Einstellung von Forschungsmeinungen, da eben immer ein Sichter die Änderungen und die Kritik annehmen muss beziehungsweise diese rückgängig machen kann . Aber auch Benutzer, die nicht einen Großteil ihrer Zeit in einen Wikipedia-Artikel investieren können, haben gegenüber den „Power-Usern“ das Nachsehen . Diese Hierarchisierung widerspricht den Prinzipien der Offenheit, Transparenz und Schwarmintelligenz . Nach der Untersuchung von Christian Stegbauer war das für viele Wikipedianer der ersten Stunde Grund zur Kritik und zum Ausstieg . Die Ideologie der Professionalisierung, die erfolgreiche Konkurrenzbildung

URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Deutsche_Friedens-Union&oldid=153101158, Stand: 2 .4 .2016 . 32 Gemeint ist: Christoph Strässer: Der Krefelder Appell, in: Hans A . Pestalozzi (Hrsg .): Frieden in Deutschland . Die Friedensbewegung, wie sie wurde, was sie ist, was sie werden kann, München 1982, S . 87–92 . 33 Siehe die URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Krefelder_Appell&dir=prev&offset= 20120620160520&limit=20&action=history, letzter Zugriff: 3 .4 .2016 . 34 Urban: Wikipedia, 16 .3 .2015, URL: http://www .sueddeutsche .de/digital/wikipedia-ueber-hundert-feh ler-super-1 .2784114, letzter Zugriff 19 .4 .2016 . Vgl . das nach Zeiträumen geordnete Archiv der WP-Diskussion unter der URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Diskussion:Massaker_von_Katyn&oldid= 152572439, Stand: 16 .3 .2016 . 31

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zu etablierten Enzyklopädien, hat die Aufklärungsideologie der offenen Enzyklopädie verdrängt .35 Hinter dieser Ideologie verstecken sich nun zunehmend parteiische Einzel- und Gruppeninteressen, was nun anhand biografischer Einträge gezeigt werden soll . Biografie-Politik

Neben den Sachartikeln bilden Biografien das Rückgrat der historischen Darstellungen innerhalb der Wikipedia . Da das große globale Angebot von Biografien auch lebender Personen in der Wikipedia in Bezug auf die Fakten zumeist zuverlässig und in ihrer Aktualität für jede andere Enzyklopädie unerreicht ist, ist die Form der Verletzung zweier Grundprinzipien der Wikipedia, Neutralität und das Verbot persönlicher Angriffe, hier besonders irritierend . Denn das NPOV-Prinzip und die Verarbeitung von Netz-Belegen können auch bei Biografien instrumentalisiert werden . Abwertende und denunziatorische Passagen werden bei Artikeln zu polarisierenden Persönlichkeiten als ‚Rezeption‘, ‚Kritik‘ oder ‚Kontroversen‘ ausgegeben und erhalten im Verhältnis zur Darstellung des Werkes privilegierten Status . Damit werden – häufig einseitige und negative – Lesarten und Rezeptionen vorgegeben . Bei den Einschätzungen und Wertungen von Personen werden Online-Meinungen gegenüber Printmedien, mag es sich dabei auch um Qualitätszeitungen oder Fachliteratur handeln, privilegiert, was zu zirkulären Belegstrukturen führt .36 Insbesondere bei als politisch nicht vollkommen korrekt empfundenen Personen wird dabei in der deutschsprachigen Wikipedia der Kritik bis hin zur Schmähkritik im Verhältnis zur Darstellung des Gesamtwerkes unverhältnismäßig viel Raum gewidmet . Das NPOV-Prinzip wird also selektiv mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verletzt . Hier können nur wenige biografische Artikel als Beispiele angeführt werden, wobei biografische Einträge zu professionellen ‚Geschichtserzählern‘, Historikern und historisch arbeitenden Politikwissenschaftlern der Offline-Welt, also den Konkurrenten der Wikipedia-Autoren, herangezogen werden sollen . Es geht dabei nicht um eine Rechtfertigung der betroffenen Personen, sondern um die Verdeutlichung der Mechanismen der Geschichtspolitik auf Wikipedia . Im Artikel zu einem der prägenden Historiker der bundesdeutschen Nachkriegszeit, Karl Dietrich Erdmann, gibt es nur ein Kapitel mit Fließtext (dazu Auflistungen Christian Stegbauer: Wikipedia . Das Rätsel der Kooperation, Wiesbaden 2009, S . 279 f . Das Argument, dass etwas ‚nur‘ als Print erschienen ist, wird auf den Diskussionsseiten verwandt, vgl . beispielsweise die Diskussionsseite zum Artikel über Jürgen Kaube: „Die Printausgabe einer Zeitung erscheint genau 1x, und zwar nur für den Käufer, und verstaubt danach allenfalls noch in den Archiven . Die Webversion ist dagegen nur einen Klick entfernt und das oft auch noch Jahre nach der Veröffentlichung .“ URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Diskussion:J%C3 %BCrgen_Kaube&oldid=150488482, Stand: 21 .1 .2016 . 35 36

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seiner Schriften, Literatur, Weblinks und Anmerkungen), betitelt mit „Leben“ .37 Erdmann hatte im „Dritten Reich“ ein Schulbuch mitverfasst, das allerdings nicht publiziert wurde, weil die Darstellung des Nationalsozialismus nicht positiv genug war . Erdmann stand unter Druck, weil seine Ehefrau zunächst keinen „Ariernachweis“ vorlegen konnte . Diese Episode ist in der Geschichtswissenschaft breit diskutiert worden . Der Artikel bringt aber im Anschluss an diesen Kenntnisstand umgehend einen im Vergleich zu den darstellenden Sätzen längeren Abschnitt: „Der Historiker Hans-Ulrich Wehler ließ das nicht gelten . Er vertrat die Ansicht, allein die Tatsache, dass Erdmann dieses Buch im nationalsozialistischen Sinne geschrieben habe, lasse Texte mit ‚nationalsozialistischer Geschichtsklitterung‘ vermuten . Erst nach Fertigstellung habe es die Kommission überprüft, die höhere nationalsozialistische Anforderungen stellte, als Erdmann vorgesehen hatte . Der Ariernachweis für die Ehefrau sei auch gekommen und Erdmann habe seine Beamtenstelle erhalten . Das Gehalt sei bis Kriegsende gezahlt worden .“

Hier wird also ein Kontrahent Erdmanns, der wissenschaftlich-methodisch, inhaltlich und politisch Gegenpositionen vertrat, zu Erdmanns Biografie aber offenkundig nicht geforscht hat, zur Diskreditierung der Biografie Erdmanns in den Lebenslauf eingeflochten . Beim Politikwissenschaftler und Marx-Kritiker Konrad Löw ist die Darstellung besonders unausgewogen .38 Von den 1244 Wörtern der Textdarstellung seiner Biografie entfallen mehr als die Hälfte auf Kritik, und auch der restliche Teil ist so konnotiert, dass man kaum von einer sachlichen enzyklopädischen Darstellung sprechen kann . Eine Darstellung der Kritik und Kontroversen, welche die strittigen historischen Thesen Löws auslösten, ist sicherlich gerechtfertigt, das Verhältnis widerspricht aber diametral der Richtlinie der Wikipedia: „Schwerpunkt eines biografischen Artikels sollte die Person sein, nicht ihre Kritiker .“39 Ähnlich verhält es sich beim Eintrag zu Eckhard Jesse . Zahlreiche Kritiken und Zitate von Journalisten, die Jesse offenkundig nicht mögen, werden auch in den darstellenden Text eingestreut, also nicht nur im Kapitel „Akademischer Disput und Kontroversen“ . Eine Montage aus einzelnen Zitaten von Jesse selbst und Kritiken besonders scharfer Gegner von Jesse zeigt jedenfalls eines: ein am NPOV-Prinzip orientierter enzyklopädischer Eintrag liegt nicht vor .40 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Karl_Dietrich_Erdmann&oldid=151620837, Stand: 18 .2 .2016 . 38 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Konrad_L%C3 %B6w&oldid=147743690, Stand: 15 .11 .2015 . 39 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Wikipedia:Artikel_%C3 %BCber_lebende_Personen&oldid=153164740, Stand: 4 .4 .2016 . 40 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Eckhard_Jesse&oldid=152447080, Stand: 13 .3 .2016 . 37

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Im Eintrag zur Biografie von Michael Stürmer gibt es neben „Leben“ ein zweites Textkapitel „Sonstiges“ . Dieses besteht ausschließlich aus dem Referat kritischer Passagen über Stürmers journalistischen Artikel aus einem einzigen Buch . Wer den Artikel liest, erfährt nichts über die wissenschaftlichen Thesen, Positionen und Darstellungen des Historikers, liest aber stattdessen, dass Stürmer „Techniken der Propaganda“ für ein verstärktes militärisches Engagement in der deutschen Außenpolitik einsetze .41 Im Eintrag zu Günther Gillessen dasselbe Bild: Sein umfangreiches Standardwerk zur Geschichte der Frankfurter Zeitung42 wird im Kapitel „Leben“ nur in einem Satz genannt . Ihm folgt dann direkt diese Passage: „Das Buch wurde von Martin Broszat, Esther-Beate Körber, Bernd Sösemann und Hermann Rudolph kritisch besprochen . Sösemann stellte mangelnde Quellenkritik, forcierte Rechtfertigungsbemühungen, thematisch-konzeptionelle Enge und fehlenden Nuancenreichtum fest, durch den die Debatte eher emotionalisiert und Sachverhalte eher verzeichnet als geklärt worden seien .“43

Der Leser erfährt also wiederum nichts über den Inhalt des zentralen Werkes des Biografierten, dafür wird aber in einer Objektivität insinuierenden Sprache „stellte … fest“ die Kritik ausgeführt . Grotesk wird es im Eintrag über den Potsdamer Militärhistoriker Sönke Neitzel . Dort wird darauf verweisen, dieser sei verheiratet mit Gundula Bavendamm, „Tochter des Historikers Dirk Bavendamm“ . Wer nun auf „Dirk Bavendamm“ weiterklickt, erfährt, dass dessen Buch über Franklin D . Roosevelt als „geschichtsrevisionistisch“ eingestuft werde .44 Soll hier eine bestimmte Assoziationskette hergestellt werden? Es geht dabei, wie gesagt, nicht darum, ob man diese Wissenschaftler mag, ob man ihre Positionen und Thesen teilt, sondern um das framing und priming45 dieser biografischen Artikel, welche geeignet sind, entsprechende Lesarten ihrer Geschichtserzählungen mehr oder weniger deutlich mit objektivem Anspruch vorzugeben .

URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Michael_St%C3 %BCrmer&oldid=151212386, Stand: 8 .2 .2016 . 42 Günther Gillessen: Auf verlorenem Posten . Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich, Berlin 1986 . 43 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=G%C3 %BCnther_Gillessen&oldid=153181762, Stand: 5 .4 .2016 . 44 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=S%C3 %B6nke_Neitzel&oldid=152481826, Stand: 14 .3 .2016; URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Dirk_Bavendamm&oldid=148638217, Stand: 1 .12 .2015 . 45 Unter Framing versteht man in der Kommunikationswissenschaft die Perspektivierung, Selektion, Akzentuierung und Attributtierung eines Themas, unter Priming die Beeinflussung der Bewertungsmaßstäbe und die Salienzsteigerung von Themen, vgl . Heinz Bonfadelli: Medieninhaltsforschung . Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Stuttgart 2002, S . 146–159; Ders ., Thomas N . Friemel: Medienwirkungsforschung, 5 . Aufl ., Konstanz 2015, S . 188 f ., 196–205; Christian Schemer: Priming, Framing, Stereotype, in: Wolfgang Schweiger, Andreas Fahr (Hrsg .): Handbuch Medienwirkungen, Wiesbaden 2013, S . 153–169 . 41

Geschichtsvermittlung und Geschichtspolitik in der Wikipedia

Die Wikipedia weist dabei auch eine signifikante Schlagseite auf . Während im Eintrag zu Lothar Höbelt ein eigenes Kapitel „Funktionen und Tätigkeiten im Umfeld der FPÖ“ und ein weiteres „Umstrittene Publikationen und Aussagen“ eingerichtet ist – beide zusammen übertreffen wieder deutlich die Darstellung des Werkes –, enthält sich der Eintrag über den Faschismusforscher Reinhard Kühnl jeden Verweises auf dessen DKP-Nähe und Kandidatur für die DKP- und DFU-dominierte Vereinigung ‚Die Friedensliste‘ 1984 bei der Europawahl .46 Nicht einmal ein Gliederungspunkt ‚Kontroversen‘ oder ‚Kritik‘ ist im Eintrag zu Kühnl vorhanden, nur ein Halbsatz zur Kritik an seinem bekanntesten Buch mit dem sprechenden Titel ‚Formen bürgerlicher Herrschaft: Liberalismus – Faschismus‘ .47 Im Artikel zu Hannes Heer wird zwar eher kryptisch erwähnt, dass Heer kommunistischen Organisationen nahe gestanden habe . Aber ein Kapitel ‚Kontroversen‘ oder ‚Kritik‘ im Eintrag zum Macher der vielfach kritisierten und dann zurückgezogenen ersten Wehrmachtsausstellung ist nicht eingerichtet . Die fachliche Kritik wird nur knapp erwähnt und sogleich durch den Verweis auf die vom Trägerinstitut der Ausstellung bestellte Überprüfungskommission relativiert .48 Im Eintrag zu Michael Fahlbusch fehlt die kritische Aufnahme seiner Thesen über die „völkischen Wissenschaften“ dann gleich ganz .49 Und im Artikel über die ehemalige RAF-Terroristin Inge Viett wird deren Biografie nahezu gänzlich aus ihrer Autobiografie konstruiert . Von 39 Anmerkungen verweisen 30 auf Vietts Memoiren, eine weitere auf einen Artikel von Viett .50 Geschichtspolitische Gesichtspunkte bestimmen also das framing und priming der biografischen Artikel, einen einheitlichen Standard gibt es ebenso wenig wie eine verlässliche Befolgung der Wikipedia-Richtlinien . In der Regel reagiert die Wikipedia-Community äußerst gereizt auf Kritik aus der Offline-Welt . Im Falle der Reaktion auf die beiden früheren Versionen des vorliegenDie Informationen zur Friedensliste finden sich allerdings im Wikipedia-Eintrag zu dieser freilich heute kaum mehr bekannten Vereinigung: URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Die_Frie densliste&oldid=146324469, Stand: 23 .9 .2015 . Kühnls bekannte DKP-Nähe wird dagegen in einer kurzen Notiz zu seinem Tode in der taz vom 11 .2 .2014 erwähnt, URL: http://www .taz .de/1/archiv/digitaz/arti kel/?ressort=in&dig=2014 %2F02 %2F11 %2Fa0049&cHash=4a1077c3ab690de4ce38566016d15268, letzter Zugriff: 19 .4 .2016 . 47 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Reinhard_K%C3 %BChnl&oldid=153215117, Stand: 6 .4 .2015 . 48 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Hannes_Heer&oldid=151759945, Stand: 21 .1 .2016 . Die Kritik an der Wehrmachtsausstellung zielte eben nicht nur auf falsche Zuordnungen von Fotografien, sondern auch auf die Pauschalität der Aussagen der Ausstellung, die fehlende Kontextualisierung und die Motiv-Unterstellung . 49 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Michael_Fahlbusch&oldid=149931130, Stand: 8 .1 .2016 . Siehe zur kritischen Auseinandersetzung mit Fahlbusch etwa die Rezension von Christoph Nonn, in: FAZ, 7 .3 .2011, S . 8 und Christian Tilitzki, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 47 (2001), S . 301–318 . 50 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Inge_Viett&oldid=152963827, Stand: 29 .3 .2016 . 46

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den Beitrages sind aber doch einige Veränderungen bei kritisierten Artikeln festzustellen, die eine partielle Lernfähigkeit zeigen . Nach der Publikation der ersten Versionen dieser Abhandlung wurde so der Beitrag zu Horst Möller, dem ehemaligen Direktor des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), geändert . Hatte zuvor der Streit um seine Laudatio auf Ernst Nolte im Jahre 2000 (in welcher Möller sich von den Kernthesen Noltes distanzierte) erheblich mehr Raum eingenommen als eine nicht einmal zweizeilige Vorstellung seiner Arbeitsschwerpunkte und war etwa die Leitung eines einschlägigen Forschungsprojektes, wie dem in seinen Ergebnissen sehr kritisch ausfallenden Wehrmachtsprojekt des IfZ, gar nicht erwähnt worden,51 so wurde jetzt neben dem Nolte-Kapitel ein weiteres Unterkapitel zu seiner IfZ-Zeit eingerichtet und die Kontroverse um die Laudatio ausgewogener formuliert .52 Auch der Wikipedia-Artikel über den Journalisten Jürgen Kaube, mittlerweile Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), wurde von einer Schmähkritik, die prominent das Kapitel „Rezeption“ einleitete, befreit . Gegen heftigen Widerstand wurde diese nun aus der Biografie in einen eigenen, weniger prominenten Artikel zu seinem Buch „Otto Normalabweicher“ verschoben . Sie lautet: „Der Journalist, Autor und Migrationsforscher Mark Terkessidis, Mitherausgeber des Buches ‚Mainstream der Minderheiten‘, charakterisierte Kaube anlässlich einer Rezension des Werkes Otto Normalabweicher: der Aufstieg der Minderheiten als einen ‚Kulturkämpfer‘ und ‚Verteidiger der alten Norm der einheimischen, heterosexuellen, bärtigen Männlichkeit‘ . Kaube habe Angst, ‚dass morgen Frauen, Homos, MigrantInnen, oder auch Topmodels und Superstars kommen und ihm etwas wegnehmen: die Deutungshoheit in erster Linie, aber bald vielleicht auch den Job‘ . Statt über die Gestaltung der Zukunft nachzudenken, wollten Leute wie er einfach ihre Privilegien behalten .“53

Jahrelang hatte diese Kritik ad personam das Rezeptionskapitel eingeleitet und alle Versuche von Benutzern, diese herabsetzende Kritik weniger ausführlich und direkt zu zitieren, waren von einem Benutzer mit dem Pseudonym ‚TrueBlue‘ apodiktisch abgeschmettert worden .54 Einzelne Artikelbearbeiter normieren jedoch nach wie vor mit ungleichen Methoden in hohem Maße, was wir über Personen des öffentlichen und wissenschaftlichen

URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?%20title=Horst_M%C3 %B6ller&oldid=112874324, Stand: 12 .1 .2013 . 52 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Horst_M%C3 %B6ller&oldid=152566479, Stand: 16 .3 .2016 . Möllers Kritiker Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka waren – für den Kontrahenten das Gegenteil implizierend – als Vertreter der „liberalen Geschichtswissenschaft“ bezeichnet worden . Diese Etikettierung fehlt nun . 53 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Otto_Normalabweicher ._Der_Aufstieg_der_Min derheiten&oldid=148849521, Stand: 7 .12 .2015 . 54 URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Diskussion:J%C3 %BCrgen_Kaube&oldid=150488 482, Stand: 21 .2 .2016 . 51

Geschichtsvermittlung und Geschichtspolitik in der Wikipedia

Lebens denken (sollen) . Ein zweites Problem kommt hinzu: In der Erzählweise folgen die biografischen Einträge sowohl zu Historikern wie auch zu geschichtlichen Persönlichkeiten einer traditionellen chronologischen Struktur unter Ignoranz der Gefahr des post hoc ergo propter hoc . Damit bilden sie die Linearität von gedruckten biografischen Lexika nach, sind aber noch stärker als diese von faktenorientierten Listen (Schriften, Funktionen, Ehrungen) und Daten geprägt und zudem von einer situativen Erzählweise bestimmt: Was gerade tagesaktuell war, rückt in den Vordergrund, länger zurück liegende Leistungen, Werke oder auch berufliche Stationen werden nachrangig behandelt . Die Verwissenschaftlichung biografischer und historischer Artikel in Wikipedia ist stecken geblieben, die digitale Public History bleibt damit Popular History . Zwar werden Zitate seit 2005/2006 nachgewiesen und inhaltliche Aussagen belegt . Die Qualität der Belege ist aber oft mangelhaft, zentrale Literatur bleibt ungenannt, Links zu unseriösen oder qualitativ nicht wissenschaftlichen Standards entsprechenden Seiten werden gemeinhin als Belege akzeptiert . Für die Geschichtsschreibung ist zudem problematisch, dass selten Primärquellen in der Wikipedia herangezogen werden . Dies erklärt sich aus dem Anspruch der Wikipedia, nur gesichertes und ohne größeren Aufwand nachprüfbares Wissen zu sammeln, dem „Verbot der Theoriefindung“ .55 Unter Verweis darauf werden aber mitunter selbst rasch nachprüfbare und verlinkbare Primärquellen zur Korrektur von falschen Darstellungen in Sekundärquellen über lange Zeiträume nicht zugelassen .56 Das Regelwerk von Institutionen ist nur so gut, wie es befolgt wird . Zweifellos gibt es zahlreiche redliche Administratoren, Sichter und Beiträger und solide historische Artikel in der Wikipedia, umso mehr fällt die unter dem Deckmantel des NPOV-Prinzips aufgezeigte Geschichtspolitik, das historische framing und priming auf . Um den beschriebenen Missständen in der Wikipedia entgegenzuwirken, wären eine Klarnamenpflicht, welche die polemischen und unsachlichen Einträge wegen der Zuschreibbarkeit dämpfen würde, und ein von Wissenschaftlern getragenes Peer-Review-Verfahren denkbar . Das würde aber den Charakter der Wikipedia stark verändern . Versuche in dieser Richtung von alternativen Enzyklopädien blieben jedoch ohne durchschlagenden Erfolg, wie das Beispiel des kleinen Wikipedia-Bruders Citizendium zeigt, der vom Mitgründer der Wikipedia und deren nunmehrigen erbitterten Kritiker Larry Sanger initiiert wurde .57

URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Wikipedia:Keine_Theoriefindung&oldid=1505947 64, Stand: 23 .1 .2016 . 56 Vgl . etwa diese Diskussion, URL: https://de .wikipedia .org/w/index .php?title=Diskussion:Konrad_ Adam&oldid=149409147, Stand: 25 .12 .2015 . 57 URL: http://en .citizendium .org/, letzter Zugriff: 19 .4 .2016 . 55

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Konsequenzen und Ausblick

Viele Prognosen für die Medienentwicklung aus der jüngsten Vergangenheit haben sich nicht bewahrheitet . Das gilt etwa für die Annahme des Endes der Schriftlichkeit oder eine zunehmende Passivität der Medienrezipienten .58 Vor allem für die erste Annahme ist Wikipedia ein Gegenbeispiel . Auch die Annahme, nationale oder regionale Identitäten würden sich im global village verlieren, durch transnationale Öffentlichkeiten oder eine Weltöffentlichkeit ersetzt werden, ist nur an der Oberfläche – und das gilt für Wikipedia im Wortsinne – bestätigt worden . Im selben Design setzen sich nationale Kulturen und Sprachen durch, ja selbst vom Aussterben bedrohte Sprachen oder Dialekte wie Plattdeutsch und Alemannisch verfügen über eigene Wikipedia-Portale . Die Wikipedia basiert einerseits auf globaler Kollaboration, ist andererseits ein Ort der Vereinzelung, die Nutzung findet individuell statt . Diskussionen werden eher bruchstückhaft und unsystematisch geführt . Dass Wikipedia eine demokratischere und offenere Form der Public History als etwa populärwissenschaftliche Literatur sei, erweist sich als suggestive Illusion . Gegenüber dem langwierigen Prozess des herkömmlichen Schreibens für eine Buchoder Aufsatzpublikation samt – in idealtypischer Abfolge – Begutachtung, Lektorat, Redaktion, Überarbeitung, Bekanntmachung und Rezensionen scheint der Einstieg zwar schneller zu gelingen . Viele historisch relevanten Artikel sind aber so vermachtet und fixiert, dass selbst für Fachleute mit erheblichem Wissen und Können kaum mehr Chancen für substanzielle Beiträge bestehen . Zudem zeigt sich zumindest in der deutschsprachigen Wikipedia ein erhebliches Maß an Politisierung und persönlichen Herabsetzungen von missliebigen Historiker-Konkurrenten aus der Offline-Welt . Die Leitwährung für Einfluss in Wikipedia ist die schlichte Quantität der Beiträge, welche die Chance auf erweiterte Rechte, symbolisches Kapital und Prestige erhöht, nicht die inhaltliche Solidität oder moralische Integrität . In Anlehnung an Pierre Bourdieus Theorie der Kapitalsorten59 kann man freilich feststellen, dass das symbolische Wikipedia-Kapital zwar im Wikipedia-System in Machtgewinn konvertierbar ist, aber nicht nach draußen, in die Welt außerhalb des Systems . Dem steht schon die Pseudonymität entgegen, welche Anerkennung und Status nicht in die reale Welt transferieren lässt, umgekehrt aber auch keine Sanktionen in Form von Reputationsverlust bei Machtmissbrauch befürchten lässt . War für McLuhan mit der Verbreitung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern das Konzept der Autorschaft verbunden,60 so vermeinen viele nun dessen Ablösung

Vgl . Frank Bösch: Mediengeschichte, Frankfurt am Main 2011, S . 227 . Vgl . Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn . Kritik der theoretischen Vernunft, übersetzt von Günter Seib, 2 . Aufl ., Frankfurt am Main 1997, S . 205–245 . 60 Vgl . McLuhan, Fiore: The Medium is the Massage, 1996, S . 122; McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, 1968, S . 180 f . 58 59

Geschichtsvermittlung und Geschichtspolitik in der Wikipedia

zu erleben . Autorenidentitäten werden aber auch bei Wikipedia in Form der mitunter ausufernden Profilseiten konstruiert . Sie werden aber eben als halbfiktive zweite Netzpersönlichkeiten angelegt, die auf eine echte Identität referieren, mit dieser aber nicht identisch sein müssen . In jedem Fall suggerieren die hier vorgestellten Artikel allein dadurch, dass sachliche Probleme selten explizit thematisiert werden, eine unfehlbare Erzählinstanz . Damit konterkarieren sie den rhizomorphen Charakter der Online-Enzyklopädie . Zudem sind annalistische und vor allem auktoriale Machtbehauptungen zu beobachten, welche im Vergleich zum Buch oder zur Zeitschrift stärker intransparent bleiben . Diese Formen der Narrativität in Wikipedia und im Netz insgesamt müssen weiter erforscht werden . In Anlehnung an Ute Daniel sollte dabei die Rolle von Metaphern wie „Entwicklung“ oder „Krise“, die Zeitvorstellungen, die Rolle großer Erzählungen im Sinne Lyotards und die Privilegierung von Erzählperspektiven (Personen, Parteien, Positionen) zum Thema gemacht werden .61 Der Verweis auf das Suggestionspotenzial und die Schwachstellen von Wikipedia sollte ferner zur Einübung einer digitalen Quellenkritik führen und eine Medienpädagogik befördern, welche die Benutzer auf einen kritischen Umgang mit einem „Web 2 .0 Projekt, das eine Enzyklopädie sein möchte“,62 vorbereitet und diese Quellenkritik zur Selbstverständlichkeit werden lässt . So empfiehlt Peter Haber Grundregeln für die Benutzung von Wikipedia: die Pflicht, die Diskussions- wie die Versionsseite eines jeden Artikels zu konsultieren, um die Produktionsbedingungen und Auseinandersetzungen eines Eintrages kennenzulernen, die meist mehr über den Artikel aussagen als dessen Text . Darüber hinaus sollte jeder Leser die Verweise auf andere Wikipedia-Artikel, auf Weblinks, Literatur und Anmerkungen studieren . Worauf wird Bezug genommen, welche Qualität haben die Links, die Belege und die zitierte Literatur? Im Falle des oben vorgestellten Artikels zum „Krefelder Appell“ würden allein diese wenig Zeit beanspruchenden Operationen unmittelbar verdeutlichen, dass dieser Artikel nicht solide ist . Viertens sollten andere Sprachversionen konsultiert werden .63 Dies ist ein großer Vorteil der Wikipedia, internationale Vergleiche können problemlos angestellt, Artikel überprüft und der anmaßend-auktoriale Gestus mancher Einträge relativiert werden . Diese Basisregeln sind auch im Hinblick auf andere Webangebote nützlich und schaffen darüber hinaus einen Mehrwert für den Umgang mit den ‚alten‘ Medien

Vgl . Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte . Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 4 . Auflage, Frankfurt am Main 2004, S . 440 f . 62 So der Untertitel von Peter Haber: Wikipedia . Ein Web 2 .0-Projekt, das eine Enzyklopädie sein möchte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), S . 261–270; Vgl . auch Ders .: Digital Past . Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, München 2011 . 63 Vgl . Haber: Wikipedia, 2012, S . 270 . 61

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(Buch, Film, Radio, Fernsehen) und etablierten auktorialen Erzählformen etwa in Schul- oder Lehrbüchern, die eben auch nicht unkritisch rezipiert werden sollten .64 Die Frage schließt sich an, ob Wikipedia auch die Geschichtserzählung in den ‚alten‘ Medien verändert hat . Zunächst einmal sind nun auch die alten Medien und ihre Urheber im Netz und in Wikipedia vertreten . Das Geheimnis eines Autors ist schnell gelüftet; zumeist mit Bild und formal strukturiertem Lebenslauf vorgestellt, wird einem Geschichtenerzähler rasch jeder Nimbus durch den Wikipedia-Eintrag genommen . Oder seine Validität wird durch Nichtexistenz in Wikipedia in Frage gestellt . Wikipedia dient dabei für die alten Medien vor allem als Primärorientierung und Evaluationsportal für Fakten, Ereignisse und Biografien . Der Ausbeutung von Wikipedia wird freilich nicht mit Zitation gedankt . In fast keiner wissenschaftlichen Publikation finden sich Verweise auf Wikipedia-Artikel, es sei denn, diese sind selbst Forschungsgegenstand . Hier ist eine deutliche Asymmetrie zwischen Nutzung und Nachweis zu beobachten, mithin eine Beeinträchtigung von wissenschaftlichen Standards . Die Frage wird sein, ob Wikipedia künftig als Referenz Eingang in die fachwissenschaftliche Kommunikation finden wird . Dagegen spricht neben den aufgezeigten Mängeln, dass Wikipedia nur gesichertes Wissen sammeln will, Innovationen, Forschungen finden hier also eher nicht statt . Und die Namensreferenz als Motivation für Zitationen entfällt . Dafür liefert Wikipedia Bausteine für Geschichtserzählungen in anderen Medien; meist sogar direkt via Copy-Paste und einer anschließenden Überarbeitung . Die einzelnen Artikelfragmente, die selbst wieder fragmentarisch und kollaborativ zusammengetragen wurden, werden in andere Erzählungen integriert und verändern so ihren Sinngehalt . Stärker als das Schreiben von Geschichte hat die digitale Geschichtserzählung das Lesen von Geschichte verändert . Die längere konzentrierte Textlektüre, so auch unsere Seminarerfahrungen, ist den Digital Natives, aber auch den Digital Migrants kaum mehr möglich . Die papierne Textlektüre wird selbst rhizomatisch, ständig unter- und gebrochen, durch paralleles Nachschlagen und Googeln von unbekannten Begriffen und Sachverhalten, die sich möglicherweise durch die fortschreitende Lektüre geklärt hätten oder gar nicht unbedingt geklärt werden müssen, durch Wikipedia möglicherweise auch simplifizierend und nur scheinbar eindeutig geklärt werden . So ist die Wikipedia durch die stete Veränderung der Artikel zwar dynamisch, die Leserschaft ist sich dieser Dynamik aber nur wenig bewusst . Ein Artikel wird aufgerufen – wie oft er verändert und wie diskutiert wurde, wird ebenso selten überprüft wie ein Abgleich mit anderen Quellen vorgenommen wird . Oft wird Wikipedia auch einfach nur als Abstract-Lieferant oder Bibliografie genutzt .

Gerade bei Schul- oder Lehrbüchern empfiehlt sich ein exemplarischer Vergleich unterschiedlicher Auflagen und Versionen oder ein Vergleich mit Vorläuferwerken, um die Texte als Produkte der jeweiligen (und eben gegebenenfalls auch unserer) Zeit zu verstehen und kritisieren zu können . 64

Geschichtsvermittlung und Geschichtspolitik in der Wikipedia

Klingt diese Bestandsaufnahme kulturpessimistisch, so muss man sich zum einen ihres topischen Charakters bewusst sein . Bei jedem neuen Medium, so auch beim Internet, fürchtete man eine Verflachung des Bildungsniveaus . Auf der anderen Seite dementiert der topische Argumentationscharakter alleine noch nicht die beachtlichen Folgen einer Medieninnovation, was hier tentativ am Beispiel der digitalen Geschichtserzählung der Wikipedia gezeigt wurde . Daher sollte dem Regime der „Gärtner der Rhizome“ in Wikipedia verstärkt kritische Aufmerksamkeit zuteilwerden .

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Levelaufstieg Impulse für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit digitalen Spielen zwischen Geschichtsbildern und Erinnerungskultur Nico Nolden

Zusammenfassung

Obwohl digitale Spiele historische Inszenierungen in die Gesellschaft tragen, öffnet sich ihnen die Geschichtswissenschaft nur zögerlich . Dadurch werden ihre Eigenschaften sowie ihre Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein und die Geschichtskultur nicht genügend verstanden . An zeithistorischen Beispielen zeigt dieser Artikel Forschungsdefizite und hebt vier Erkenntnisfelder hervor: Er erweitert den Begriff von Geschichtsbildern, bezieht zeithistorische Vorstellungen ein, plädiert für eine technikkulturelle Historiografie und betrachtet erinnerungskulturelle Wissenssysteme . Der Artikel bietet Vorschläge, um disparate Forschungsansätze zusammenzuführen, Diversität und Interdisziplinarität von Studien zu erhöhen und die Vielfalt historischer Inszenierungen zu überblicken . Abstract

Although digital games carry historical stagings into society, historical sciences are opening up to them only hesitantly . As a result, their properties are not sufficiently understood to indicate their significance for the historical consciousness of individuals and for the historical culture of societies . Using examples of contemporary history, this article discusses research deficits and highlights four areas of epistemological interest: It expands the concept of historical conceptions, includes perceptions of contemporary history, demands a technocultural historiography and regards knowledge systems for commemorative culture . This article provides suggestions for consolidating the disparate research approaches, increasing the diversity and interdisciplinarity of studies, and surveying the mass of historical stagings .

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NICO NOLDEN

Einsatz für L. A.

Als Cole Phelps steige ich aus meinem Dienstfahrzeug direkt in die vierziger Jahre von Los Angeles . Phelps, eben aus dem Pazifikkrieg zurückgekehrt, brilliert dank meiner Taten im Polizeidienst . Während unserer Karriere stoßen wir in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Metropole vor, die das Open-World-Spiel L. A. Noire um ein narratives Mosaik des ‚Film Noir‘-Genres herum modelliert .1 Geschichtswissenschaftlich interessanter als die Erzählungen ist ihre Einbettung in das Modell . Einwohner2 unterhalten sich über gesellschaftliche Themen, lebendig zeugt das Straßenbild von zeitgenössischer Kultur . Viele Karosserien kann man fahren, Landmarken und Gebäude begehen und viel Historisches nachlesen . Beeindruckender noch sind die Facetten der Nachkriegsgesellschaft, die man als Ermittler berührt . Die aufstrebende Filmindustrie lockt junge Frauen in die Stadt, nicht ohne Hoffnungen bitter zu enttäuschen . Frauen emanzipierten sich in Abwesenheit ihrer Männer, treffen nun aber auf die ihnen fremd gewordenen Heimkehrer aus dem Krieg, der sie Gewalt als Konfliktlösungsstrategie lehrte . Verwoben damit sind Konflikte aufgrund der Unterdrückung der farbigen Bevölkerungsschichten . Dieses soziokulturelle Modell der Stadt am Ende der 1940er-Jahre ist aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive am beeindruckendsten unter allen historischen Aspekten .3 Phelps – und damit der Spieler – ist nicht nur Beobachter, sondern in dieses Modell involviert .4 Auf der einen Seite enthält L. A. Noire geschichtswissenschaftlich auch aus anderen Kontexten bekannte Bestandteile wie Erzählungen und Nachschlagewerke, Strategien der Authentifizierung mithilfe von Zeitzeugen oder Rekonstruktionen von Objekten und Materialien . Historische Aspekte wie das oben genannte Modell, die in spezifischen medialen Eigenschaften digitaler Spiele fußen, bleiben weitgehend unbeachtet: zum Beispiel soziokulturelle Rechenmodelle, prozedural generiertes Alltagsleben und historische Soundumgebungen . Solchen neuartigen Umgängen mit Geschichte öffnet sich die Geschichtswissenschaft nur zögerlich .5

L . A . Noire, Team Bondi, Rockstar Games 2011 . Sprachlich präzise sind Genderfragen nicht gelöst . In die weibliche und männliche Form zu trennen, manifestiert die bipolare Norm der Gesellschaft und grenzt künstlich aus . Auch das Gender Gap verleitet zu diesem Missverständnis . Ich nutze das generische Maskulinum, um ausdrücklich alle Menschen einzubeziehen . 3 Jürgen Martschukat: Die Ordnung des Sozialen . Väter und Familien in der amerikanischen Geschichte seit 1770, Frankfurt a . M . 2013, hier S . 263–292 . 4 Nico Nolden: C . S . I . 1947, in: Keimling 11 .12 .2013, URL: bit .ly/1d7TyvF, letzter Zugriff: 8 .4 .2016 . 5 Angela Schwarz: Game Studies und Geschichtswissenschaft, in: Klaus Sachs-Hombach, Jan-Noël Thon (Hrsg .): Game Studies . Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung, Köln 2015, S . 398–447, hier S . 398– 400; Matthew W . Kapell, Andrew B . R . Elliott: Introduction: To Build a Past That Will „ Stand the Test of Time“, in: Dies . (Hrsg .): Playing With the Past . Digital Games and the Simulation of History, London 2013, S . 1–29, hier S . 2–5 . 1 2

Levelaufstieg

Verglichen mit anderen Disziplinen sind die analytischen Beiträge der Geschichtswissenschaft rar, setzen spät ein, greifen kaum auf Vorarbeiten anderer Fächer zurück und nutzen methodische Angebote wenig . Digitale Spiele sind jedoch gesellschaftlich relevant . Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung nutzen sie regelmäßig, tief bis in jede Schicht und Altersgruppe .6 Sie inszenieren zudem häufig historisch . Für den Zeitraum 1981–2011 finden Angela Schwarz und Jan Pasternak auf dem deutschen Markt 2 .009 Spiele mit „historischen Inhalten“ für den Personal Computer, 43 Prozent davon allein zwischen 2006–2011 .7 Historische Inszenierungen in digitalen Spielen haben eine bemerkenswerte Konjunktur . Als historisch bezeichnet sie Carl Heinze, wenn „eine funktional relevante Menge von Spielelementen ihre Bedeutung durch den historischen Diskurs erhält“ .8 Diesen Anspruch erfüllen 2002–2010 ein Fünftel der PC-Bestseller und ein Zehntel auf Spielkonsolen .9 Für den Zeitraum von 2006–2010 errechnen sich daraus 110 Bestseller beim PC und 63 bei Konsolen, die historisch inszenieren . Gemessen an Reichweite und Häufigkeit liegen zu wenige Erkenntnisse vor, wie die Spiele historisch inszenieren, medial funktionieren und welche Wirkmacht sie haben . Medial erzeugte Geschichtsbilder beeinflussen das Geschichtsbewusstsein, wodurch digitale Spiele die Erinnerungskultur mitprägen, was wiederum die Geschichtskultur verändert . Diverse Formen der Geschichtspräsentation wie Bücher, Gedenkfeiern oder TV-Dokumentation tragen geschichtswissenschaftliche, etwa zeitgeschichtliche Auffassungen in die Gesellschaft, deren Aussagen fixierbar sind . Digitale Spiele aber wirken in einer anderen Weise: Die technische Apparatur schließt Spielende in ein System ein, in dem sie rezipieren und zugleich massiv eingreifen .10 Zwar legen die Entwickler mit einem Wissensangebot und der Anlage des Systems eine gewisse Basis für Deutungen . Letztlich wählen die Spielenden jedoch durch ihr aktives Handeln, welche Bestandteile sie davon wahrnehmen und zu einer individuellen historischen Sinnbildung zusammenfügen . Da die historische Inszenierung so erst beim Spielen entsteht, sind geschichtliche Deutungen schwer von außen zu lenken . Über Spielende und Spielsysteme muss die Geschichtswissenschaft also mehr erfahren .

BIU: Marktzahlen 2013 . Spieler in Deutschland, 2014, URL: bit .ly/1RpL4Yv, letzter Zugriff: 18 .3 .2016; BIU: Marktzahlen 2014 . Nutzer digitaler Spiele in Deutschland, 2015, URL: bit .ly/1nnvSPa, letzter Zugriff: 18 .3 .2016 . 7 Angela Schwarz: Computerspiele . Ein Thema für die Geschichtswissenschaft?, in: Dies . (Hrsg .): „Wollten Sie auch immer schon einmal pestverseuchte Kühe auf Ihre Gegner werfen?“ . Eine fachwissenschaftliche Annährung an Geschichte im Computerspiel, 2 . erw . Aufl ., Münster 2012, S . 7–33, hier S . 12/13 . 8 Carl Heinze: Mittelalter Computer Spiele . Zur Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel, Bielefeld 2012, S . 107 . 9 Ebd ., S . 109 f . 10 Ebd ., S . 77–108 . 6

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NICO NOLDEN

Disziplinen, Desiderate und Destinationen

Historische Deutungen verhandelt eine Gesellschaft auch dann, wenn die Geschichtswissenschaft sich dem Diskurs enthält .11 Will sie deren Qualität bei digitalen Spielen verbessern, muss sie sich fachlich einbringen . Um verlässliche Aussagen machen zu können, wie bedeutend Geschichte für digitale Spiele ist, fehlen Rezeptionsanalysen, die erinnerungskulturelle Reflexionen unter Spielern klären .12 Unabhängig von digitalen Spielen funktioniert jedes Medium nach eigenen Regeln, weist also eine spezifische Medialität auf . Erkenntnisse über ihre Funktionsweisen helfen zu differenzieren und zu reflektieren, wie sie mit historischen Inszenierungen umgehen . Ein geschichtswissenschaftlicher Ansatz muss daher mithilfe eigener Methodik und Theorie sowie Vorarbeiten anderer Disziplinen den speziellen Charakter digitaler Spiele aus historischer Sicht herausstellen . Klaus Sachs-Hombach und Jan-Noël zeigen Wege dorthin interdisziplinär, Gundolf Freyermuth bietet künstlerisch-ästhetische Ansätze .13 Janet Murray arbeitete Qualitäten digitaler Netzwerke heraus, woran Jakob Krameritsch vielversprechend erste geschichtswissenschaftliche Konsequenzen bezüglich des Internet anknüpfte .14 Systematisch nähern sich Medienwissenschaften dem Gegenstand, wirtschaftswissenschaftliche Studien und Publikationen von Spieleentwicklern verdeutlichen die Bedingungen der Produktion .15 Soziologische, kultur- und politikwissenschaftliche Studien liefern der Geschichtswissenschaft weitere Denkanstöße .16 Unklar sind bislang die Ziele dieser geschichtswissenschaftlichen Forschung . Implizit positioniert sich auch zu digitalen Spielen, wer Sichtbares und Erzähltes beschreibt, richtige und falsche Darstellungen identifiziert und nach dem didaktischen Mehrwert fragt .17 Explizit aber muss die Fachdisziplin ein Selbstverständnis für ihren spezifischen Zugriff formulieren . Dafür sind mögliche Erkenntnisinteressen zu durchdenken und ein zeitgemäßes Verständnis von Medienstudien zu entwickeln . Während MedienNico Nolden: Bunkermentalitäten, in: Keimling 23 .4 .2014, URL: bit .ly/1mEj9Vt, letzter Zugriff: 20 .3 .2016 . 12 Steffen Bender: Virtuelles Erinnern . Kriege des 20 . Jahrhunderts in Computerspielen, Bielefeld 2012, S . 226 . 13 Klaus Sachs-Hombach, Jan-Noël Thon (Hrsg .): Game Studies . Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung, Köln 2015; Gundolf S . Freyermuth: Games, Game Design, Game Studies, Bielefeld 2015 . 14 Janet Murray: Hamlet on the Holodeck . The Future of Narrative in Cyberspace, Cambridge 1998; Jakob Krameritsch: Geschichte(n) im Netzwerk . Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung, Münster 2007 . 15 Katie Salen, Eric Zimmerman: Rules of Play . Game Design Fundamentals, Cambridge 2007; Britta Neitzel, Rolf F . Nohr (Hrsg .): Das Spiel mit dem Medium . Partizipation, Immersion, Interaktion, Marburg 2006; Peter Zackariasson, Timothy L . Wilson (Hrsg .): The Video Game Industry . Formation, Present State, and Future, New York 2012; Richard A . Bartle: Designing Virtual Worlds, Berkeley 2006 . 16 Thomas Lackner: Computerspiel und Lebenswelt . Kulturanthropologische Perspektiven, Bielefeld 2014; Tobias Bevc (Hrsg .): Computerspiele und Politik . Zur Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computerspielen, Berlin 2007 . 17 Schwarz: Game Studies, 2015 zwischen Geschichtswissenschaft und Fachdidaktik . 11

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wissenschaften vergangene und gegenwärtige Medienformen als Instrument für die Gegenwart studieren, ergründet nach Frank Bösch die historische Analyse, was diese Medienformen in ihrer Zeit für den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext bedeuteten .18 Für Hans-Werner Götz durchdringt die Geschichtswissenschaft Vergangenes, um es an heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedürfnissen zu spiegeln .19 Analysiert man also die historischen Bedingungen, in denen Medienformen entstanden, sowie die Bedürfnisse, welche sie befriedigten oder evozierten, und reflektiert diese an heutigen Verhältnissen, betreibt man explizit geschichtswissenschaftliche Medienstudien . Gegenwärtig gelingt es dem Fachdiskurs nicht, plausibel zu klären, welche Relevanz die medialen Eigenschaften digitaler Spiele bei den historischen Inszenierungen haben und was sie für die gesellschaftlichen Vorstellungen ihrer Zeit bedeuten . Das Untersuchungsfeld bleibt methodisch, inhaltlich und personell disparat . Begriffe werden unscharf verwendet, das „Historische“ ist nicht eingegrenzt . Viele Studien konzentrieren sich auf Sichtbares, Narrationen und den didaktischen Wert . Vier Ansätze für die Geschichtswissenschaft

Aus dem skizzierten medienhistorischen Selbstverständnis reflektiert dieser Artikel den Diskurs und umreißt einen geschichtswissenschaftlichen Zuständigkeitsbereich . Phänomenologisch überblickt er dafür die Eigenschaften digitaler Spiele und identifiziert Erkenntnisinteressen . Als Beispiele dienen zeitgeschichtlich relevante digitale Spiele, die erstens das Verständnis von Geschichtsbildern erweitern und zweitens zeithistorisch rückgekoppelte Geschichtsvorstellungen einbeziehen . Drittens erläutern sie technikkulturelle Kreisläufe, was viertens dazu überleitet, die Organisation historischen Wissens und die erinnerungskulturellen Wirkungen zu verbinden . Den Gegenstand einzuschränken, verringert die Zahl digitaler Spiele, hält den Beitrag übersichtlich und folgt den Schwerpunkten des Jahrbuchs, ist jedoch auch problematisch . Je nach der thematisierten historischen Epoche setzen digitale Spiele andere spielmechanische Schwerpunkte, dominieren verschiedene Genres und bieten unterschiedlich komplexe historische Inszenierungen . Das Bild vom Mittelalter etwa ist traditionell durch militärische und wirtschaftliche Strategiespiele geprägt, der Erste Weltkrieg ist simulationslastig und den Zweiten Weltkrieg dominieren militärische Gefechtsspiele .20 Jede dieser Aussagen entkräften jedoch spielekulturell und historisch

Frank Bösch: Mediengeschichte . Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt a . M . 2011, S . 20–23 . 19 Hans-Werner Goetz: Die Historische Fragestellung in ihrer Bedeutung für die Theorie und Methode der Geschichtswissenschaft, in: Rainer Hering, Rainer Nicolaysen (Hrsg .): Lebendige Sozialgeschichte, Wiesbaden 2003, S . 94–101, hier S . 98 . 20 Heinze: Mittelalter, S . 211–295; Bender: Virtuelles Erinnern, 2012, S . 25–57 . 18

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relevante Gegenbeispiele . Das Actionrollenspiel Kingdom Come: Deliverance thematisiert Konflikte zwischen den Söhnen Karls IV . in Böhmen im 15 . Jahrhundert, der Shooter Verdun 1914–1918 bietet teambasierte Schlachten und Hearts of Iron IV transportiert Staatswesen in ein Globalstrategiespiel zum Zweiten Weltkrieg .21 Der vorliegende Beitrag zielt darauf, mit den vier Erkenntnisfeldern Herangehensweisen für zukünftige Studien zu empfehlen . Um verallgemeinerbar die Qualität historischer Inszenierungen zu charakterisieren, wären mehr Einzelfälle zu beobachten, aufzuzeichnen, zu analysieren und zu vergleichen .22 Aus diesem Aufsatz allein können daher keine weitergehenden Thesen abgeleitet werden . Geschichtsbilder

Beiträge zur Analyse von Geschichtsbildern in digitalen Spielen rücken die Leistung von Entwicklern in den Mittelpunkt, historische Inszenierungen zu konstruieren . Sie konzentrieren sich auf Visuelles und Erzähltes, wie der im geschichtswissenschaftlichen Diskurs prominente Sammelband von Angela Schwarz ausweist .23 Untersucht wird auch, wie digitale Spiele Authentizität erzeugen und wie die Branche Geschichte im Marketing nutzt .24 Allerdings nimmt die historische Wissenschaft bislang nur einen geringen Teil der Bandbreite an Äußerungen zur Kenntnis, was Entwickler als geschichtliche Elemente ihrer Spiele betrachten .25 Wegweisend ist Steffen Benders Studie über Konflikte des 20 . Jahrhunderts, die ein breites Spektrum von Titeln analysiert .26 Systematisch schließt er historische Darstellungen mithilfe von medienwissenschaftlichen Konzepten an Inszenierungen zum Beispiel bei Filmen an . Nicht nur seine Publikation betont Kämpfe als zentrale Motive digitaler Spiele, tatsächlich bestimmen bewaffnete Konflikte viele Genres und Epochendarstellungen, selbst wenn aufgebaut, gewirtschaftet und kooperiert wird .27 Die Zäsur des Zweiten Weltkrieges sticht bei Shootern, Strategie, Action und Abenteuern ebenso heraus wie

Kingdom Come: Deliverance, Warhorse Studios 2018; Verdun 1914–1918, Black Mill 2015; Hearts of Iron IV, Paradox Development 2016 . 22 Simon Hassemer: Screening the Game – Screening the Play . Zur videografischen Analyse von Videospielen, in: Florian Kerschbaumer, Tobias Winnerling (Hrsg .): Frühe Neuzeit im Videospiel . Geschichtswissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2014, S . 55–70 . 23 Schwarz: fachwissenschaftliche Annährung, 2012 . 24 Tim Raupach: Authentizität als Darstellung interaktiver Simulationsbilder populärer Videospiele mit historischem Setting, in: Kerschbaumer, Winnerling: Frühe Neuzeit, 2014, S . 99–116; Benedikt Schüler, Christopher Schmitz, Karsten Lehmann: Geschichte als Marke . Historische Inhalte in Computerspielen aus der Sicht der Softwarebranche, in: Schwarz: fachwissenschaftliche Annährung, 2012, S . 245–62 . 25 Siehe zum Beispiel Daniel Vávra: AAA as an Indie . Kingdom Come: Deliverance, in: Making Games 3/2014, S . 12–17 . 26 Bender: Virtuelles Erinnern, 2012 . 27 Schwarz: Computerspiele, 2012, S . 15 f . 21

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unter Fachbeiträgen . Letztere widmen sich Shootern überproportional, was den Blick darauf verstellt, dass die Inszenierungen weit vielfältiger sind .28 So führt Company of Heroes 2 Strategen an die Ostfront, das Action-Abenteuer The Saboteur vertreibt die nationalsozialistischen Besatzer aus Paris und im Abenteuerspiel Operation Wintersonne infiltriert ein britischer Wissenschaftler das „Dritte Reich“ .29 Den Ersten Weltkrieg dominieren nach Ansicht der Fachliteratur Simulationen und Strategiespiele30 Valiant Hearts dagegen führt eine deutsch-französische Familie in einem Action-Platformer zusammen und übergreift multiperspektivisch die Fronten des Krieges .31 Obwohl der Große Krieg sich angeblich nicht für Shooter eignet, wagt es der Multiplayer-Titel Verdun 1914–18 .32 Weil Forschende vorschnell aus wenigen Beispielen allgemeine Aussagen ableiten, aber auch, weil sich Genres und ihre Beliebtheit ständig verlagern, verengen umfassendere Urteile zurzeit nur die Sicht . Zunächst sollten phänomenologische Analysen möglichst viele Aspekte differenzierter überblicken . Sogar kriegerische Schauplätze zeigen dann diverse Ansätze, mit der Zeitgeschichte umzugehen: Korea, Vietnam, der Kalte Krieg, Nahost und der Persische Golf, das von Warlords gebeutelte Somalia, der Einsatz in Afghanistan und die Konflikte, die sich in Asien anzubahnen scheinen .33 Auffällig wenig beachtet die Literatur Spielszenarien ohne den Kriegsfokus . Im Wirtschaftsaufbauspiel Tropico 5 etwa wird eine tropische Inseldiktatur durch histo-

Medal of Honor, Dreamworks Interactive 1999, Battlefield 1942, Digital Illusions 2002 und Call of Duty, Infinity Ward 2003 begründeten erfolgreiche Shooter-Reihen; Gunnar Sandkühler: Der Zweite Weltkrieg im Computerspiel . Ego-Shooter als Geschichtsdarstellung zwischen Remediation und Immersion, in: Erik Meyer (Hrsg .): Erinnerungskultur 2 .0 . Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt a . M . 2009, S . 55–65; Julian Köck: Geschichtsbilder im Weltkriegsshooter und ihre Rezeption beim Spieler, in: Zeitschrift für Digitale Geschichtswissenschaft 1/2012 . URL: bit .ly/1Qq JR11, letzter Zugriff: 29 .10 .2015; Steffen Bender: Erinnerung im virtuellen Weltkrieg . Computerspielgenres und die Konstruktion von Geschichtsbildern, in: Monika Heinemann et al . (Hrsg .): Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch . Konstruktionen historischer Erinnerungen, München 2011; S . 93–115 . 29 Company of Heroes 2, Relic Entertainment 2013; The Saboteur, Pandemic 2009; Undercover . Operation Wintersonne, Sproing Interactive 2006 . 30 Bender: Virtuelles Erinnern, 2012, S . 107–122; Angela Schwarz: Grenzenloser Krieg? Der Erste Weltkrieg in Computerspielen, in: Bärbel Kuhn, Astrid Windus (Hrsg .): Der Erste Weltkrieg im Geschichtsunterricht . Grenzen – Grenzüberschreitungen – Medialisierung von Grenzen, St . Ingbert 2014, S . 105–109 . 31 Valiant Hearts . The Great War, Ubisoft Montpellier 2014; Nico Nolden: Zersiebt, verlobt, verheiratet, in: Keimling 6 .10 .2014, URL: bit .ly/1n9V36w, letzter Zugriff: 29 .01 .2016; kontroverse Diskussion bei bei Monika Fenn: Kriegsspiel mit Herz? Computer Games zum Ersten Weltkrieg, in: Public History Weekly, Nr . 26, 2/2014, URL: bit .ly/1Sjlhg8, letzter Zugriff: 29 .03 .2016 . 32 Verdun 1914–1918, Black Mill 2015; Nico Nolden: Der vergessene Krieg, in: Keimling 30 .1 .2014, URL: bit .ly/1jNGpOZ, letzter Zugriff: 29 .03 .2016 . 33 Bender: Virtuelles Erinnern, 2012 arbeitet zwar vor, doch ist mehr zu entdecken: Korea: Forgotten Conflict, Plastic Reality Technologies 2003; Air Conflicts: Vietnam, Games Farm 2013; Global Conflicts: Palestine, Serious Games Interactive 2007; Wargame . European Escalation, Eugen Systems 2012; Conflict: Desert Storm, Pivotal Games 2002; JTF . Joint Task Force, Most Wanted Entertainment 2006; Battlefield 4, Digital Illusions 2013 . 28

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rische Phasen in die Gegenwart geführt .34 Politische wie gesellschaftliche Optionen und Zwänge verändern sich, angefangen als Kolonie über ihre Unabhängigkeit, in beiden Weltkriegen und durch die Blockkonfrontation des Kalten Krieges . Das Spiel zeigt, welchen Druck Volkes Wille, die wirtschaftliche Entwicklung und internationale Mächte zu unterschiedlichen Zeiten ausübten . In Cities in Motion oder Train Fever dagegen managen Spielende den infrastrukturellen Blutkreislauf von Städten durch die Technikgeschichte des 20 . Jahrhunderts .35 Ein Szenario des Klassikers SimCity griff den Wiederaufbau des 1944 zerstört daliegenden Hamburg auf .36 Offenbar können digitale Spiele historische Zusammenhänge abstrakt durch Modelle transportieren . Globalstrategiespiele zum Beispiel, in denen die Zeitgeschichte nur eine Etappe auf der Reise aus der Urzeit darstellt, entwerfen Modelle für die Zivilisationsgeschichte . Kritikwürdiges gibt es natürlich zu entdecken: strukturelle Vereinfachungen, spielmechanisch bedingte Einseitigkeit, teleologische Weltbilder, die auf einen Sieg am Ende ausgerichtet sind .37 Prinzipiell jedoch ist „eine differenzierte Darstellung geschichtlich relevanter Strukturen von Zivilisationen spieltechnisch möglich“ .38 Im Genre der Globalstrategiespiele transportieren etwa Rise of Nations und Civilization IV spielmechanisch raffiniert, wie kulturelle Strahlkraft und religiöse Diversität die Einflusssphären von Staaten prägen .39 Unter Geschichtsbildern darf man also nicht nur das sichtbare Historische verstehen . Der Politiksimulator Democracy 3 versetzt Spielende zwischen interdependente Faktoren demokratischer Politik und bringt so zeithistorische Problemfelder nahe .40 Solche abstrakten Modelle zeichnen historische Rahmenbedingungen, Strukturen und Prozesse nach und knüpfen an geschichtswissenschaftliche Forschungsgebiete an . Soziokulturelle Systeme und politische Prozessabläufe sind etwa systemtheoretisch beschreibbar . Abstraktion erfordert, der Wirkmacht visueller Eindrücke mithilfe der Visual History zu begegnen, grundsätzlich aber über Bildsprache, symbolhaftes Handeln und Zeichensysteme in ihrer Historizität nachzudenken .41 Spiele inszenieren

Tropico 5, Haemimont Games 2014 . Cities in Motion, Colossal Order 2011; Train Fever, Urban Games 2014 . Sim City, Maxis Software 1989 . Thomas Kubetzky: Computerspiele als Vermittlungsinstanzen von Geschichte? Geschichtsbilder in Aufbausimulationsspielen am Beispiel von Civilization III, in: Schwarz: fachwissenschaftliche Annährung, 2012, S . 75–106; Heiko Brendel: Historischer Determinismus und historische Tiefe – oder Spielspaß? Die Globalechtzeitstrategiespiele von Paradox Interactive, in: Schwarz: fachwissenschaftliche Annäherung, 2012, S . 107–135 . 38 Jan Pasternak: 500 .000 Jahre an einem Tag . Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Geschichte in epochenübergreifenden Echtzeitstrategiespielen, in: Schwarz: fachwissenschaftliche Annäherung, 2012, S . 35–73, hier S . 62 . 39 Rise of Nations, Big Huge Games 2003; Civilization IV, Firaxis Games 2005 . 40 Democracy 3, Positech Games 2013 . 41 Zeithistorische Forschungen (ZZF): Visual History . Online-Nachschlagewerk für die historische Bildforschung, URL: www .visual-history .de, letzter Zugriff: 30 .03 .2016 . 34 35 36 37

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historische Umgebungen zudem lautmalerisch . Geräusche, Sprache und Musik kombinieren Soundscapes, akustische Landschaften .42 Derartige Geschichtsrepräsentationen stoßen weitere Fragen an – zur Atmosphäre, etwa durch Lichtstimmungen, zu Emotionalität und Mentalität . Dass Geschichte sinnvoll nur narrativ in linearen, progressiven Spielprinzipien inszenierbar wäre, nicht aber mithilfe von Modellen, ist daher auszuschließen .43 Das traditionelle narrative Dogma, das Geschichte als erzählte Kommunikation von Erinnertem begreift, wurde zwar für Netzwerke aus narrativen Fragmenten modernisiert .44 Um Geschichtsbilder digitaler Spiele adäquat zu begreifen, ist die Methodik aber noch erheblich zu erweitern . Zeithistorische Rückkopplung

Nutzer rezipieren Spielwelten nicht nur, sondern bestimmen durch aktives Handeln maßgeblich die Spielerfahrung . Einen Film können Zuschauer zwar unterschiedlich wahrnehmen, er selbst aber ändert sich nicht . Erfahrungen in digitalen Spielen hängen hingegen von Prädispositionen der Spielenden ab, ob sie akribisch narrative Bruchstücke auflesen, ob sie Kämpfe interessieren oder wirtschaftlicher Aufbau reizt . Dadurch verfolgen sie individuelle Pfade und konstruieren eine einzigartige Inszenierung . Diese Prozesse, individuelle Handlungen und deren Effekte können mithilfe des Konzeptes der Performanz erschlossen werden . Ihre Methoden helfen der Geschichtswissenschaft, sich dem fluiden Konstrukt zwischen Spielenden, Spielerfahrung und historischer Spielwelt anzunähern und das Verhältnis zwischen Nutzern und Avataren, ihren Verkörperungen im Spiel, zu verstehen .45 Zeithistorische Vorstellungen, die mit in die Erfahrungswelt eingehen, können nur gerahmt, nicht aber direkt gesteuert werden . Ihr Verständnis wird umso wichtiger, will

Uta C . Schmidt: Tagungsbericht . Work with Sounds, 19 .–21 .8 .2015, in: H-Soz-Kult 23 .10 .2015, URL: bit . ly/1OlJHn7, letzter Zugriff: 15 .3 .2016; R . Murray Schafer: The Soundscape . Our Sonic Environment and the Tuning of the World . Nachdr . d . Aufl . v . 1977, Rochester 1994 . 43 Heinze: Mittelalter, 2012, S . 304, rezensiert bei Nico Nolden: Aus Scherben einer Karaffe eine Vase bauen, in: Keimling 31 .8 .2014, URL: bit .ly/1sTdaLL, letzter Zugriff: 20 .03 .2016 . 44 Angela Schwarz: Narration und Narrativ . Geschichte erzählen in Videospielen, in: Kerschbaumer, Winnerling: Frühe Neuzeit, 2014, S . 27–52; Jörn Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens, in: Reinhard Koselleck (Hrsg .): Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, S . 514–606, hier S . 514 f . bzw . 592–604; Krameritsch: Geschichte(n), 2007 . 45 Mark Butler: Zur Performativität des Computerspielens . Erfahrende Beobachtung beim digitalen Nervenkitzel, in: Christian Holtorf, Claus Pias (Hrsg .): Escape! Computerspiele als Kulturtechnik, Köln 2007, S . 65–84; Sybille Krämer (Hrsg .): Performativität und Medialität, München 2004; Erika Fischer-Lichte (Hrsg .): Performing The Future . Die Zukunft der Performativitätsforschung, Paderborn 2013; Felix Schröter, Jan-Noël Thon: Video Game Characters . Theory and Analysis, in: DIEGESIS, 1/2014, S . 40–77, URL: bit .ly/1Paguwo, letzter Zugriff: 31 .3 .2016 . 42

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man einer historischen Erinnerungskultur auf die Spur kommen . Von bewusst angelegten Inszenierungen sind zeitgeschichtliche Rückkopplungen zu trennen, weil sie historische Vorstellungen aus dem zeitgenössischen Kontext unbewusst reproduzieren . Die Entwickler der Spiele sind davon nicht ausgenommen, wenn sie ein historisches Szenario konzipieren . Zu ermitteln wäre ihre Geschichtsphilosophie, welche gesellschaftlichen Vorstellungen sie implementieren, wo sie sich politisch verorten und welchem Kulturkreis sie entstammen .46 Empirische Erhebungen dazu wären essentiell, sinnvoll aber nur im Verbund mit Psychologen, Soziologen und Didaktikern auszuarbeiten . Alternativgeschichtliche Gedankenspiele wie im Strategiespiel World in Conflict zeigen daher nicht nur, was hätte geschehen können, wenn der Mauerfall nicht friedlich abgelaufen wäre .47 Historisch relevant wäre auch die Frage, was die Entwickler 2007 zu diesem Inhalt motivierte und ihr Augenmerk auf die Zwänge lenkte, die aus den Weltbildern der Blöcke erwuchsen . Das dystopische Chicago in Watch_Dogs kommentierte realitätsnah die Überwachungsorgien amerikanischer Geheimdienste .48 Preisgekrönt verbindet This War of Mine das Grauen der Belagerung von Sarajewo mit dem heutigen Elend von Zivilisten im Syrienkrieg .49 Der Reboot von Sim City führte die Städtesimulation erstmals in eine globalisierte, regional arbeitsteilige Welt .50 Diese Beispiele belegen zeithistorische Vorstellungen ihrer Entstehungsphasen . Digitale Spiele entwerfen aber auch geschichtstheoretische Konstrukte wie das Animus-Gerät der Assassin’s Creed-Reihe .51 Mit dessen Hilfe tauchen die Protagonisten in Erinnerungswelten ihrer Vorfahren ein, was erklärt, warum die Inszenierung technisch limitiert ist, der Tod einer Spielfigur wieder zu einem Rücksetzpunkt führt und warum ein Interface das Sichtfeld überlagert . Technokulturelle Geschichte

Auf ein weiteres unbehandeltes Feld verweist Assassin’s Creed IV: Black Flag .52 In dessen zeitgeschichtlicher Spielebene erforscht ein Entwicklerstudio historische Erinnerungen für ein digitales Spiel, wobei historische Texte für eine Datenbank verfasst werden .

Anton Zwischenberger: Epochengrenzen in Videospielen . Age of Empires III und Europa Universalis III, in: Kerschbaumer, Winnerling: Frühe Neuzeit, 2014, S . 257–67, hier S . 266 . 47 World in Conflict . Complete Edition, Massive Entertainment 2009 . 48 Watch_Dogs, Ubisoft Montreal 2014 . 49 This War of Mine, 11bit studios 2014; Nico Nolden: Nimm es ruhig persönlich, in: Keimling 12 .7 .2015, URL: bit .ly/1eTTma3, letzter Zugriff: 31 .3 .2016 . 50 Sim City [5], Maxis Software 2013; Nico Nolden: Sim Region, in: Keimling 18 .1 .2016, URL: bit . ly/1SYE58o, letzter Zugriff: 29 .1 .2016 . 51 Durchgängig seit Assassin’s Creed, Ubisoft Montreal 2007 . 52 Assassin’s Creed IV . Black Flag, Ubisoft Montreal 2013 . 46

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Kommentare der fiktiven Entwickler offenbaren Streitigkeiten um die Ausrichtung des Spieles und zeigen so, in welchen Spannungsfeldern sich die realen Entwickler bei historischen Inszenierungen befinden . Was dort zu Rekonstruktionen oder der Alltagswelt steht, ist Ausdruck einer technokulturellen Geschichte digitaler Spiele . Gemeint ist eine ständige Wechselwirkung, in der sich Technologien entwickeln und soziokulturell verhandelt werden, wodurch gesellschaftliche Bedürfnisse erwachsen, die auf weitere Technologien hinwirken .53 Überfällig ist daher ein Arbeitsmodell für eine kritische Gesamtgeschichte digitaler Spiele, die nostalgische Chroniken mit Faktencheck hinter sich lässt und theoretisch fundierte, wissenschaftlich-historische Reflexionen entwickelt .54 Die Eigenlogik von Plattformen, der Wandel bei Technologien und die kulturellen Traditionen von Regionen in einer globalgeschichtlichen Perspektive sind zu berücksichtigen, um digitale Spiele adäquat in die soziokulturelle Bedeutung ihrer Zeit einzuordnen .55 Der Preis einer Enthaltung der Geschichtswissenschaft ist hoch: Geräte und Programme bleiben nach dem wirtschaftlichen Lebenszyklus nicht lange erhalten . Aufgrund technischer Hindernisse verfallen sie magnetisch, chemisch und mechanisch, was nicht einmal eine objektgerechte Lagerung aufhält – selbst wenn die Emulation digitaler Spiele Auswege verspricht, ist dafür wiederum die rechtliche Lage schwierig .56 Die Geschichtswissenschaft kollaboriert aber nicht für Richtlinien, welche digitalen Spiele als historisch bewahrenswert gelten, ja, ihr scheint nicht einmal bewusst zu sein, wie rasant sie diese Quellenbasis verliert . Dabei offenbaren digitale Spiele Methoden, um archivische Lösungen für alle digitalen Quellenformen zu entwickeln .57 Eine zeitgemäße Historiografie hilft zudem, Entwicklungslinien zu verstehen . Die ‚Ubisoft-Formel‘ hat sich beispielsweise stabil als spielmechanischer Schlüssel für viele Open-World-Actionspiele etabliert .58 Viele jüngere Spielkonzepte hätten ohne Crowd-Funding nicht den Markt erblickt, was jedoch auch neue Probleme verursacht .59 Solche veränderlichen Produktionsbedingungen beeinflussen unmittelbar die Martina Heßler: Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt a . M . 2012, S . 18 f . Raiford Guins: Game After . A Cultural Study of Video Game Afterlife, Cambridge 2014, S . 21, 3, 16–18, 20–26 . Eine Kritik unter anderen an Steven L . Kent: The Ultimate History of Video Games, Roseville 2001 . 55 Winnie Forster: Spielkonsolen und Heimcomputer 1972–2015, 4 . überarb . u . erw . Aufl ., Utting 2015; Mark J . P . Wolf (Hrsg .): Video Games Around the World, Cambridge 2015; einen Anfang setzen wollen Raiford Guins, Henry Lowood (Hrsg .): Debugging Game History . A Critical Lexicon, Cambridge 2016 . 56 Vanessa Zainzinger: Saving the Game . Why Preserving Video Games Is Illegal, in: The Next Web . Insider 22 .4 .2012, URL: tnw .to/1E7zq, letzter Zugriff: 31 .3 .2016 . Winfried Bergmeyer: Computerspiele . Die Herausforderung des Sammelns und Bewahrens eines neuen Mediums, in: Ann-Marie Letourneur, Michael Mosel, Tim Raupach (Hrsg .): Retro-Games und Retro-Gaming . Nostalgie als Phänomen einer performativen Ästhetik von Computer- und Videospielkulturen, Glückstadt 2015, S . 143–164, hier S . 149 . 57 Andreas Lange: Pacman im Archiv . Computerspiele als digitales Kulturgut, in: Zeithistorische Forschungen 9/2012, S . 326–133, hier S . 327–329, URL: bit .ly/1Lohxgm, letzter Zugriff: 15 .03 .2016 . 58 Michael Obermeier: Die Ubisoft-Formel, in: Gamestar 11/2014, S . 22–26 . 59 Nico Nolden: Indie Fresse, Crowd!, in: Keimling 24 .5 .2015 . URL: bit .ly/1bBaPTD, letzter Zugriff: 31 .3 .2016 . 53 54

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Spielinhalte, und somit auch historische Inszenierungen . Noch fehlen Studien zur Geschichte von Unternehmen und Leitfiguren der Branche aber fast vollständig .60 Einige Entwickler wählten bereits das ihnen naheliegendste Mittel, um die Geschichte der Branche zu transportieren: In der Wirtschaftssimulation GameDev Tycoon manövrieren Spieler ein Unternehmen durch die Umbrüche der Branche .61 Hintergründiger führt The Stanley Parable durch Spielgenres, Perspektiven und das Geflecht zwischen Entwicklern, Spielern und Erzählweisen, wofür es spielmechanische Mittel instrumentalisiert .62 Geschichte kann vielfältig inszeniert sein, versteht man die Eigenschaften des Mediums . Eine technikkulturell verwobene Historiografie trägt dazu bei . Erinnerungskulturelle Wissenssysteme

Digitale Spiele sind veränderliche, diffuse Gebilde, die kaum abschließend beschreibbar sind . Viele Titel können durch die Spielenden teilweise oder gar substantiell modifiziert werden (Modding) . Hersteller pflegen Software durch Patches, erweitern Inhalte oder ergänzen Spielmechaniken . Online-Spiele ähneln mehr kontinuierlichen Dienstleistungen als fertigen Produkten . Alle bestehenden Möglichkeiten lassen sich kaum überblicken, weshalb auch historische Inszenierungen nicht vollständig und eindeutig zu fassen sind . Wenn man sich aber den spielmechanischen Prinzipien, ablaufenden Prozessen und vorgegebenen Strukturen des medialen Artefaktes zuwendet, sind stabile Regeln identifizierbar, die ein System konstituieren . Eine Software legt nicht alle möglichen Zustände fest, sondern definiert Regeln und Prozeduren, nach denen Prozesse den einen Zustand in einen anderen überführen . Im Spielverlauf tragen sich Inhalte in Enzyklopädien ein, erweitern sich Handlungsoptionen spielmechanisch oder werden Gebiete und narrative Elemente bespielbar . Aus den angelegten Inhalten und diesem System entsteht ein Wissenssystem . Spielende verändern durch ihre Handlungen ständig den Zustand des Systems und seine Entwicklungsrichtung . So scheinen Rezipientenstudien in Massively-Multiplayer Online-Spielen (MMOs) bei tausenden gleichzeitigen Spielern schier unmöglich . Sie treffen aufeinander, kommunizieren, organisieren sich in vereinsähnlichen ‚Gilden‘ oder ‚Clans‘ und pflegen soziale Kontakte, gemeinsam kämpfen sie und folgen narrativen Elementen . Die Grenzen des Spieles zur Spielkultur verschwimmen, weil die Spielenden über Inhalte innerhalb wie außerhalb auf verschiedenen Kanälen kommunizie-

Guins: Game After, 2014, S . 21 . Game Dev Tycoon, Greenheart Games 2013; Nico Nolden: Alles Gute zum Dreißigsten, in: Keimling 18 .11 .2013 . URL: bit .ly/1aMQSR4, letzter Zugriff: 31 .3 .2016 . 62 The Stanley Parable, Galactic Cafe 2013; Nico Nolden: Subtext, Stanley, Subtext!, in: Keimling 15 .11 .2013, URL: bit .ly/18f8xUY, letzter Zugriff: 31 .03 .2016 . 60 61

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ren . Manche nutzen als Chronisten ihres Clans einen Blog oder berichten bei Twitter aus der Perspektive ihres Spielcharakters . Sie diskutieren historische Spielinhalte in Foren oder unterhalten sich an ‚digitalen Lagerfeuern‘ im Spiel über Erlebnisse . Im Weltenbrand Cataclysm zum Beispiel wälzte das Online-Rollenspiel World of Warcraft radikal Spielwelten, Mechaniken und Erzählungen um .63 Neueren Spielern, für welche die deaktivierte Welt buchstäblich Vergangenheit ist, erzählen Altgediente von ihren Erlebnissen vor der Zäsur . Sie tradieren ihre spielweltlichen Geschichtserfahrungen als Oral History . Zudem finden sich Formen des Gedenkens und Rituale wie Hochzeiten in MMOs .64 Trauerzüge ehren verstorbene Spieler oder Avatare, deren Spieler dauerhaft ein Spiel verlassen .65 Solche Phänomene sind Indizien für eine Erinnerungskultur . In MMOs liegt quasi ein Laborsystem vor, das Wissenssysteme bereits innerhalb der Spielsphäre mit der Erinnerungskultur verschmilzt, sodass Konzepte aus der Literatur im Modell überprüfbar werden .66 Ein herausragendes Beispiel ist das in der Gegenwart angesiedelte Online-Rollenspiel The Secret World, in dem sich historische Überlieferungen, Mythen und Legenden manifestieren .67 Meine Dissertation entwickelt daran ein methodisches Arbeitsmodell für die Geschichtswissenschaft, um MMOs mit historischen Inszenierungen und großen Spielerschaften als ‚Erinnerungskulturelle Wissenssysteme‘ beschreiben zu können .68 Die Studie strukturierte ein breites Spektrum solcher historischen Multiplayer-Inszenierungen . Das Fallbeispiel bot eine beeindruckende Vielfalt historischer Wissensbestandteile . Formen der historischen Sinnbildung ließen sich entlang von Nutzervorlieben herausarbeiten . Zudem konnte eine lebendige historische Erinnerungskultur über den Zeitraum eines Jahrzehntes nachgewiesen werden . Fazit und Ausblick

Die Defizite des geschichtswissenschaftlichen Forschungsstandes zeigten sich in vier Erkenntnisfeldern, die zugleich konkrete Ansätze bieten, digitale Spiele zu erforschen und zu verstehen . Weil sich das Medium schnelllebig verändert, ist nicht nur die His-

World of Warcraft, Blizzard 2004/5ff; World of Warcraft . Cataclysm, Blizzard 2010 . World of Warcraft – Hochzeit von Delphina & Thortoise, in: Kanal Kokoro44WoW via Youtube 11 .6 .2012, URL: youtu .be/Nh2OzS0k7ws, letzter Zugriff: 01 .04 .2016; 65 Toxiklore memorial, in: Kanal iamsuperdude29 via Youtube 6 .1 .2007, URL: youtu .be/i1FD00TzYhQ, letzter Zugriff: 1 .4 .2016 . 66 Einführend Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen . Eine Einführung . 2 . akt . u . erw . Aufl ., Stuttgart 2011 . 67 The Secret World, FunCom 2012 ff .; Nico Nolden: Da wohnt doch was im Schrank, in: Keimling 5 .10 .2012, URL: bit .ly/PeBhFT, letzter Zugriff: 1 .4 .2016 . 68 Nico Nolden: Geschichte und Erinnerung in Computerspielen . Erinnerungskulturelle Wissenssysteme, Berlin 2019 . 63 64

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torizität der vier Felder mitzudenken, sondern Eile geboten, denn die fragilen Spiele sind schwierig zu bewahren . Mitverantwortlich dafür sind rechtliche Probleme, für welche die Geschichtswissenschaft nur vereint Aufmerksamkeit wecken kann . Zurzeit bemüht sie sich nicht, digitale Spiele in Forschung und Lehre einzubeziehen, wie das Rechtsgutachten zu audiovisuellen Quellen des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) belegt .69 Sind schon die aktuellen Probleme ungelöst, drängen mit Virtueller Realität (VR) bereits neuartige historische Spielerfahrungen in den Markt, an deren Einsatz auch Museen, Aussteller und Rekonstrukteure arbeiten .70 Methodische Antworten sind auch hierzu nicht erarbeitet . Noch ist es daher zu früh, eine bewusste Geschichtspolitik zu konzipieren, die digitale Spiele begleitet . Die dafür notwendigen Erkenntnisse setzen differenzierte Analysen voraus . Um das geschichtswissenschaftliche Verständnis zu verbessern, führt der Arbeitskreis „Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele“ (AKGWDS), in dem ich mitwirke, seit 2016 die disparaten Forschungsansätze zusammen .71 Das Netzwerk vereint Studierende und Forschende, die sich mit Geschichte in und um digitale Spiele befassen . Sie rücken als Ansprechpartner für Spezialgebiete zusammen und entwickeln wissenschaftliche Arbeitsempfehlungen . Ihre Perspektiven auszutauschen, bewirkt eine größere Diversität von Studien . Modelle werden stärker in Geschichtsbilder einbezogen und das zeithistorische Umfeld, in dem digitale Spiele entstehen, wird beleuchtet . Zeitgemäß aufzuarbeiten ist deren Geschichte nur technikkulturell . Vor schwierige Aufgaben stellen die veränderlichen Systeme, die historische Inszenierungen mit der Erinnerungskultur bei Spielern verknüpfen, wobei sich Online-Rollenspiele als Hybride beider Sphären für Studien anbieten . Da MMOs soziale Gemeinschaften benötigen, erforscht der AKGWDS sie kollaborativ, auch um neue methodische Ideen zu erproben .72 In dieser Weise durchgeführte Analysen stellen den Überblick vor ein Urteil; betrachtete Einzelfälle können später zusammengeführt, vereinheitlicht und verglichen werden . Die Geschichtswissenschaft muss sich dem Gegenstand interdisziplinär nähern . Rezeptionsanalysen sind im Verbund mit anderen Disziplinen durchzuführen, methodische, theoretische und inhaltliche Denkanstöße von dort aufzunehmen . Forschende müssen technologische Partner, Entwickler und anwendungsorientierte Hochschulen

Paul Klimpel, Eva-Marie König: Urheberrechtliche Aspekte beim Umgang mit audiovisuellen Materialien in Forschung und Lehre, Berlin 2015, URL: bit .ly/1HYo4wF, letzter Zugriff: 11 .12 .2015 . 70 Odyssey VR Studio: Arnswalde VR . Rekonstrukcja historyczna, 2015, URL: bit .ly/1RVoxTK, letzter Zugriff: 01 .02 .2016 . 71 AKGWDS: gespielt . Blog des Arbeitskreises, 2016 ff ., URL: gespielt .hypotheses .org, letzter Zugriff: 29 .1 .2016 . 72 Ein Pilotprojekt wurde beispielsweise zum Mittelalter-MMO Life is Feudal: Your Own, Bitbox 2015 ff . durchgeführt . 69

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in Cluster einbeziehen . Diese Grundsätze verfolge ich mit der Ringvorlesung Games, der AG Games sowie dem GameLab in der Public History der Universität Hamburg .73 Die Strategien führen disparate Forschungsansätze in vier Erkenntnisfeldern zusammen, erhöhen die Diversität von Studien, helfen die Masse der historischen Inszenierungen zu überblicken und schaffen eine interdisziplinäre Basis für zukünftige Forschungen . Damit besteht die Chance, dass die Geschichtswissenschaft die Hauptprobleme des Arbeitsfeldes beheben kann und digitale Spiele adäquat würdigt . Reflektiert sie andere medialen Produkte daran, erweitert sie ihre Fähigkeiten zur Quellenkritik, weil historische Repräsentationen verschiedener Medienformen im Spiegel ihrer jeweiligen Eigenschaften bewertbar werden . Digitale Spiele vermögen so, die Geschichtswissenschaft zu modernisieren und den Bedürfnissen einer veränderten Gesellschaft anzupassen .

Nico Nolden: Virtuelle Erinnerungskultur [=Video], in: Ringvorlesung „Subkulturen des Spieles“ 5 .5 .2015, URL: www .elbe-studios .de/?VID=192, letzter Zugriff: 3 .4 .2016; Nico Nolden: GameBox Advance, in: Keimling 10 .08 .2014, URL: bit .ly/1mAj5BI, letzter Zugriff: 8 .4 .2016 . 73

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Atelier & Galerie

Stolpersteine Eine empirische Annäherung an die alltägliche Rezeption1 Julia Gilowsky / Horst-Alfred Heinrich

Zusammenfassung

Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Eindruck, den die Stolpersteine, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, vermitteln . Zwei Pilotstudien untersuchen, ob und wie dieses Denkmal beurteilt wird, welches Wissen darüber vorliegt und wie sich Passanten ihm gegenüber verhalten . Die Interviews zeigen, dass das Denkmal Zustimmung erfährt und die Befragten Kenntnisse darüber haben . Aus einer Beobachtung ergibt sich, dass die meisten Passanten die Stolpersteine zwar nicht bemerken, somit aber auch kein despektierliches Verhalten an den Tag legen . Wird das beobachtete Verhalten auf die große Anzahl an insgesamt verlegten Stolpersteinen hochgerechnet, wird deutlich, dass das Denkmal in beachtlichem Umfang Aufmerksamkeit erregt . Abstract

The paper is interested in the extent by which the Stolpersteine are noticed by the people passing the small monuments . Two pilot-studies examine whether and how the monument is recognized, what kind of knowledge do the people have about it and in which way do they behave when confronted with it . The interviews demonstrate that the interviewees acknowledge the monument and that they know about it . The results of an observation show that most of passers-by do not realize the Stolpersteine . Consequently, one cannot

Wir danken Frau Sophie Hajek, die im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit die Hamburger Befragungsdaten erhob . 1

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observe disrespectful behavior either . If the observed behavior is projected to the large amount of all Stolpersteine, it will be clear that the monument is noticed in a considerable way .

Seit über 25 Jahren gibt es in Europa eine besondere Form der Erinnerung an Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung . Im Dezember 1992 verlegte der Künstler Gunter Demnig erstmalig in Köln einen Stolperstein in Erinnerung an den 50 . Jahrestag des Auschwitz-Erlasses von Heinrich Himmler zur Deportation der Roma und Sinti . Es handelte sich um eine in das Straßenpflaster verlegte Messingplatte, die mit einem das Gedenken ansprechenden Text versehen ist .2 Daraus entwickelte sich im Weiteren das Projekt Stolpersteine . In den letzten anderthalb Jahrzehnten lässt der Künstler beinahe täglich kleine Messingplatten, versehen mit Namen, Geburts- und – falls bekannt – Sterbedaten sowie einem kurzen Hinweis auf das individuelle Schicksal der Deportierten und Ermordeten, jeweils im Bürgersteig vor jenem Haus ein, in dem die in der Mehrzahl jüdischen Opfer ihren letzten freigewählten Wohnsitz hatten . Auf diese Weise wurden mittlerweile mehr als 70 .000 solcher Stolpersteine in das Ortsbild von fast 2 .000 Gemeinden eingefügt .3 Unzweifelhaft sind die Stolpersteine kein Gedenkort im herkömmlichen Sinne . Traditionell wird unter Denkmal ein auf repräsentativen Plätzen in der Öffentlichkeit errichtetes Kunstwerk verstanden, das dem gesellschaftlichen Andenken für wichtig erachteter Persönlichkeiten oder Ereignisse gewidmet ist und häufig ein Abbild dieser Personen zeigt .4 Die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig lassen sich hingegen als Denk-Mal klassifizieren, eine Form des Gedenkens, die auf der Mikroebene Anstoß erregen soll .5 Sie entzieht sich der auf der Makroebene zu lokalisierenden Inszenierung und der zeremoniellen Kommunikation6 weitgehend . Demnig geht es nicht allein darum, dem Vergessen der Shoah etwas entgegenzusetzen und die Namen der Opfer zu erinnern . Seine Aktion zielt darauf ab, das Ausmaß der damals begangenen Gräueltaten ins Alltagsbewusstsein der Gesellschaftsmitglieder zu heben . Wer diese Denk-Mäler sieht, ist mit der Erkenntnis konfrontiert, dass die Verbrechen nicht nur weit weg in fernen Ostgebieten verübt wurden, sondern in der eigenen Nachbarschaft geschahen . Damit reiht sich diese Darstellungsform in die neuere Gedenkkultur ein,

Vgl . Hans Hesse: Stolpersteine . Idee, Künstler, Geschichte, Wirkung, Essen 2017, S . 134 ff . Vgl . http://www .stolpersteine .eu/schritte/, letzter Zugriff: 13 .8 .2019 . Die Angaben beziehen sich auf den August 2018 . 4 Ekkehard Mai, Gisela Schmirber: Mo(nu)ment mal: Denkmal?, in: Dies . (Hrsg .): Denkmal – Zeichen – Monument . Skulptur und öffentlicher Raum heute . München 1989, S . 7–12, hier: S . 9 . 5 Demnig in: Annette Wagner: Menschen unter uns . Die Gedenksteine des Gunter Demnig . Feature des SWR RP, 2014, URL: https://www .youtube .com/watch?v=NsOr-jpdRd4, letzter Zugriff: 13 .8 .2019 . 6 Siehe Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis . Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S . 56 . 2 3

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der es nicht um Affirmation, sondern um einen nichtidentifikatorischen und reflektierenden Bezug auf eine Geschichte geht, die negativ bewertet wird .7 Das Konzept des Künstlers ist allerdings umstritten . Immer wieder wird ein profanes Argument einzelner Hausbesitzer vorgebracht . Sie begreifen sich beziehungsweise ihre Vorfahren durch den hergestellten Zusammenhang zwischen der Tat und ihrem Haus als angeklagt . Sie sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, ökonomische Nutznießer an der Enteignung des Hauses (gewesen) zu sein .8 Ein anderes, in den Medien aufgenommenes und breit diskutiertes Argument ist Ausgangspunkt für den vorliegenden Beitrag . Es wird insbesondere von Charlotte Knobloch, der früheren Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, vertreten . Für sie trägt die Konzeption des Denkmals dazu bei, dass die Opfer im Nachhinein nochmals mit Füßen getreten werden .9 Von dieser Einstellung geleitet, machte sie sich auf kommunaler Ebene in München dafür stark, dass in der drittgrößten Stadt Deutschlands keine Stolpersteine verlegt werden .10 Aus erinnerungspolitischer Perspektive ist diese Kontroverse von Interesse, weil hier von Normen geprägte Vorstellungen eines würdigen Gedenkens verhandelt werden, die beide Seiten mit ungesicherten empirischen Annahmen stützen . Für den normativen Gehalt der Positionen gibt es zweifellos für beide Seiten gute, sich wechselseitig ausschließende Gründe, denen zugestimmt oder mit Ablehnung begegnet werden kann . Die in die Argumente einfließenden Verhaltensannahmen sollten aber hinterfragt werden . Zudem ist es möglich, sie empirisch zu prüfen, was die Sozialwissenschaft bislang nicht getan hat . Von dieser Warte aus stellen sich folgende Fragen: Wie bekannt ist dieses Denkmal in der Bevölkerung? Bemerken Passanten die Stolpersteine im Alltag überhaupt? Welche Einstellungen haben die Menschen zu dieser Form des Gedenkens? Wie wahrscheinlich ist es, dass Passanten auf einen Stolperstein aufgrund der geringen Größe tatsächlich treten?

Zur Diskussion um solche „Gegendenkmäler“ als jüngster Entwicklung innerhalb der westlichen Erinnerungskultur siehe Corinna Tomberger: Das Gegendenkmal . Avantgardekunst, Geschichtspolitik und Geschlecht in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, Bielefeld 2007; James E . Young: At memory’s edge . After-images of the Holocaust in contemporary art and architecture . New Haven 2000 . 8 Vgl . Hans-Gerd Schwandt: Begrüßung und Einleitung, in: Ders ., Katholische Akademie Hamburg (Hrsg .): Stolpersteine – Irritationen der Erinnerung . Beiträge zur Tagung vom 9 . bis 10 . September 2011 in Hamburg, 2011, URL: http://www .akademie-nordkirche .de/assets/Akademie/Jahresordner-2014/ PDFs-Erinnerungskultur/Stolpersteine-Irritationen-der-Erinnerung .pdf, letzter Zugriff: 13 .8 .2019; vgl . auch Wagner: Menschen, 2014 . 9 Siehe Harald Schmid: Stolpersteine und Erinnerungskultur – Eine Zwischenbilanz, in: Schwandt, Katholische Akademie Hamburg (Hrsg .) : Stolpersteine, 2011, S . 8–10; ausführlich dazu: Hans Hesse: Stolpersteine . Idee, Künstler, Geschichte, Wirkung, Essen 2017, S . 319–330 . 10 Vgl . Arno Widmann: München verbietet Stolpersteine, in: Frankfurter Rundschau vom 29 .7 .2015, URL: https://www .fr .de/politik/keine-stolpersteine-muenchen-11075330 .html, letzter Zugriff: 13 .8 .2019 . 7

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Wie häufig ist solches Verhalten, das etwa von Knobloch als entwürdigend begriffen wird?11 Und wie erfolgreich ist das Gesamtkunstwerk Demnigs? Zur Beantwortung dieser Fragen wird nachfolgend ein Bogen von den theoretischen Überlegungen über das methodische Prozedere zweier hierzu durchgeführter explorativer Pilotstudien bis hin zur Präsentation der Ergebnisse geschlagen . Denkmalrezeption – allein eine Frage der Top-Down-Perspektive?

Die Stolpersteine entsprechen nicht dem, was landläufig unter Denkmal verstanden wird . Zwar bezieht sich der öffentliche Diskurs mittlerweile weitgehend auf die deshalb als neu bezeichneten Denk- und Mahnmale, weil aus einer demokratietheoretischen Perspektive ein allein affirmativer Bezug auf die Geschichte als problematisch angesehen wird . Stattdessen zielt die Erinnerungskultur heute auf einen reflexiven Umgang mit der Vergangenheit .12 Empirisch muss jedoch offenbleiben, inwieweit diese Vorstellung in breiten Bevölkerungsschichten verbreitet ist, oder ob es sich hier um einen Intellektuellendiskurs handelt . Unabhängig von dieser Auseinandersetzung zwischen alt und neu fallen die Stolpersteine aus dem gängigen Interpretationsraster von Denkmälern heraus . Dafür fehlt ihnen schon auf gestalterischer Ebene die Monumentalität . Weder dominieren sie die Orte, an denen sie verlegt sind, durch ihre physische Größe, noch strahlen sie eine einschüchternde Erhabenheit auf die Betrachtenden aus . Beides sind zentrale Eigenschaften, wie sie traditionellen Denkmälern zugesprochen werden, aber in Teilen eben auch für die neuere Erinnerungskultur gelten .13 Somit stellen die Stolpersteine auch im Vergleich zu Denkmälern, die kritische Fragen an die Geschichte richten, eine Besonderheit dar . Sie besteht in der Dezentralität der mittlerweile fast 70 .000 europaweit verlegten Gedenksteine .14 In dieser Größenordnung zeigt sich, dass sie öffentlich einen Anstoß in Richtung eines gewandelten Denkmalverständnisses geben wollen und können . Dem Künstler geht es nicht darum, in Stein gemeißelt beziehungsweise in Bronze gegossen eine durch in der Regel staatliche Institutionen vorgegebene, verbindliche Interpretation der Geschichte auszustellen und damit appellativ ein Iden-

Hier und im Folgenden geht es nicht um Vandalismus oder bewusstes, als politisch interpretiertes Handeln wie das Herausreißen der Stolpersteine (vgl . Hesse: Stolpersteine, 2017, S . 346 ff .; Wagner: Menschen, 2014), weil solche Fälle in dem hier thematisierten Diskurs eine nur geringe Rolle spielen . 12 Vgl . dazu Tomberger: Gegendenkmal, 2007; Young: Memory’s edge, 2000 . 13 Siehe Christoph Heinrich: Strategien des Erinnerns . Der veränderte Denkmalbegriff in der Kunst der achtziger Jahre, München 1993, S . 12 . 14 Vgl . URL: http://www .stolpersteine .eu/schritte/, letzter Zugriff: 13 .8 .2019 . 11

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tifikationsangebot zu machen .15 Stattdessen zielt dieser Typ von Denkmal darauf, in der demokratischen Gesellschaft eine Auseinandersetzung über die Geschichte des Kollektivs herbeizuführen .16 Ungeachtet des in den 1980er-Jahren erfolgten Wandels im Denkmalverständnis17 und der großen Vielfalt an Typen von Denkmälern18 kann nach wie vor die von Sol LeWitt aufgestellte Grundformel „Ort + Zeichen + Widmung = Denkmal“19 als treffende Definition angesehen werden . Denkmäler werden als Kunstwerke üblicherweise an repräsentativer Stelle auf öffentlichem Grund errichtet und sind in ihrer visuellen wie textuellen Aussage dem Andenken von Personen oder Ereignissen gewidmet, denen zumindest von den dominanten Gruppen innerhalb einer Gesellschaft Bedeutung für das Bestehen und die Zukunft des Kollektivs zugesprochen wird .20 Die Relevanz von erinnerten Individuen oder kommemoriertem Ereignis wird üblicherweise auf respektive neben dem Denkmal durch einen Schriftzug oder eine -tafel deutlich gemacht . Diese Basisdefinition hat bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren . Ungeachtet dessen erlauben die seit den 1980er-Jahren im Westen Deutschlands errichteten Mahnmale21 – hauptsächlich zum Gedenken an die Opfer von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg – eine größere Vielfalt an Rezeptionsmöglichkeiten im Vergleich zu herkömmlichen Denkmälern . Dokumentieren letztere Versuche, verbindliche Geschichtsbilder für einzelne Kollektive jeweils festzuschreiben, die zu bestimmten Anlässen und Jahrestagen in offiziellen Zeremonien beschworen und bestätigt werden, sollen die neugeschaffenen Mahnmale „zum Nachdenken anregen, (…) historisches Geschehen dokumentieren, Menschen ins Gespräch bringen, aktiv den urbanen Raum verändern, provozieren und schockieren“ .22 Einzelne Denkmalsformen stellen sich als Monument selbst in Frage .23 Statt eine historische Interpretation vorzugeben, werden sie zum „eigentlichen Ort der Erinnerung“24, indem ein solches Mahnmal die Betrachtenden, sofern sie sich darauf einlassen, zu einer Stellungnahme zwingt . Peter Springer: Denkmal und Gegendenkmal, in: Mai, Schmirber (Hrsg .): Denkmal – Zeichen – Monument, 1989, S . 92–102, hier: S . 92, 99 . 16 Vgl . Schmid: Stolpersteine, 2011, S . 12 . 17 Zur Geschichte des Denkmals siehe Marion Klein: Schülerinnen und Schüler am Denkmal für die ermordeten Juden Europas . Eine empirisch-rekonstruktive Studie, Wiesbaden 2012, S . 20–25 . 18 Vgl . Albrecht Graf Egloffstein: Das Denkmal – Versuch einer Begriffsbestimmung, in: Mai, Schmirber (Hrsg .): Denkmal – Zeichen – Monument, 1989, S . 38–41 . 19 Zit . n . Heinrich: Strategien, 1993, S . 24 . 20 Zur Definition siehe auch Dinah Wijsenbeek: Denkmal und Gegendenkmal . Über den kritischen Umgang mit der Vergangenheit auf dem Gebiet der bildenden Kunst, München 2010, S . 23–29 . 21 Zur Denkmalpraxis in der DDR siehe Alexander Fleischauer: „Die Enkel fechten’s besser aus“ . Thomas Müntzer und die Frühbürgerliche Revolution – Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der DDR, Münster 2010 . 22 Heinrich: Strategien, 1993, S . 163 . 23 Vgl . Klein: Schülerinnen, 2012, S . 21 . 24 Ebd ., S . 24 . 15

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Von einer solchen Konzeption ausgehend, verschiebt sich die Einordnung von Denkmälern innerhalb der Theorie kollektiver Erinnerung . Insofern der klassische Denkmaltyp einer „Gedächtnis-Batterie (…), die das Erinnern speist“,25 entspricht, ist er Teil des kulturellen Gedächtnisses . Diese gesellschaftliche Institution wird über Medien wirksam, die die Individuen an jene historischen Ereignisse erinnern, die seitens der Gesellschaft für wichtig erachtet werden .26 Vergleichbar Gedenktagen, Museen oder Schulbüchern kommt Denkmälern die Funktion zu, ein Kollektiv oder auch Subkollektive in seinem beziehungsweise ihrem Zusammenhalt zu stabilisieren .27 Diese Aufgabe erfüllen sie, weil das fundierende Ereignis, an das das Denkmal erinnert, durch sich wiederholende Gedenkzeremonien und -rituale den jeweiligen Kollektivmitgliedern immer wieder aufs Neue ins Gedächtnis gerufen wird . Im Gegensatz dazu kann das Mahnmal, sofern es dem neuen Typus des Denkmals entspricht, nicht dem kulturellen Gedächtnis zugeordnet werden, weil es sich nicht auf die Funktion beschränkt, eine bestimmte Botschaft an die Gesellschaftsmitglieder vorzugeben (top-down) . Indem es von den Betrachtenden aktive Erinnerungsarbeit verlangt, um die Leerstellen in der kollektiven Erinnerung zu füllen,28 müssen die Betrachtenden die Erinnerungsleistung vollbringen .29 Aufgrund dessen ist das Mahnmal weniger Erinnerungsort mit festgelegter Bedeutung, die angenommen, negiert oder auch ignoriert werden kann, sondern Medium und gehört dementsprechend zur Mesoebene .30 Dadurch ist es Teil des kommunikativen Gedächtnisses, innerhalb dessen Geschichtsinterpretationen verhandelt werden . Indem diese Prozesse in den Fokus der Analyse rücken, spielen hinsichtlich der Wirkung des Denkmals nicht nur die Vorstellungen eine Rolle, die Auftraggeber und Künstler oder auch sogenannte Meinungsmacher mit ihm verknüpfen . Zwar mögen sie an die Rezipienten die Erwar-

Michael Diers: Mo(nu)mente . Formen und Funktionen ephemerer Denkmäler, Berlin 1993, S . 8 . Vgl . Klein: Schülerinnen, 2012, S . 71; Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders ., Tonio Hölscher (Hrsg .): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S . 9–19, hier S . 12 . 27 Auch wenn ein negativ konnotiertes Ereignis wie die Shoah es den Individuen unmöglich macht, auf einer solchen Geschichte eine soziale Identität aufzubauen, ist davon auszugehen, dass die Reflexion der Nachgeborenen über ihre Zugehörigkeit zu einem Kollektiv mit einer mörderischen Vergangenheit zu einer neuen sozialen Identität führt, die sich dann auf die Fähigkeit zur Aufarbeitung bezieht . Vgl . Horst-Alfred Heinrich: Die kollektiven Erinnerungen an die Shoah als Störfaktor nationaler Identität . in: Wolfgang Bergem (Hrsg .): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen 2003, S . 59–79 . Zum Zusammenhang zwischen kollektiver Erinnerung und der Identifikation mit diesem Kollektiv siehe auch Manja Coopmans; Tanja van der Lippe und Marcel Lubbers: What is ‚needed‘ to keep remembering? War-specific communication, parental exemplar behaviour and participation in national commemoration . in: Nations and Nationalism 2017, URL: https://onlinelibrary .wiley .com/doi/pdf/10 .1111/nana .12300, letzter Zugriff: 13 .8 .2019 . 28 Vgl . Klein: Schülerinnen, 2012, S . 23 . 29 Vgl . James Edward Young: Formen des Erinnerns . Gedenkstätten des Holocaust, Wien 1997, S . 82 . 30 Zur Mikro-Meso-Makro-Zuordnung bei der kollektiven Erinnerung siehe Horst-Alfred Heinrich, Verena Weyland: Communicative and cultural memory as a micro-meso-macro relation, in: International Journal of Media & Cultural Politics 12 (2016) 1, S . 25–39 . 25 26

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tung haben, „das eigene Selbstbild zu hinterfragen und zu verwandeln“ .31 Doch diesen bleibt die weitgehende Freiheit der Interpretation, die als Handlungskonsequenz auch Vandalismus zur Folge haben kann .32 Ist die Prämisse gültig, dass das gesellschaftliche Gedächtnis Ergebnis von Aushandlung ist, ist es für die Analyse notwendig, über die intendierten Ziele und die Funktion eines Denkmals hinaus auch danach zu schauen, wie das Denkmal rezipiert wird, wie die Gesellschaftsmitglieder das Denkangebot interpretieren . Das Holocaust-Mahnmal in Berlin kann hierfür als exemplarisch gelten . Es überlässt den Besucherinnen und Besuchern die Erinnerungsarbeit .33 Dadurch ist das kommunikative Gedächtnis bei der Rezeption entweder auf das schon vorhandene kulturelle Wissen angewiesen oder das Denkmal muss die Betrachtenden zur weiteren Erinnerungsarbeit veranlassen . Daneben gilt es aber, eine weitere wichtige Vorannahme nicht aus dem Blick zu verlieren . So wurde dem traditionellen Denkmal mit der Unterstellung, es werde im Lebensalltag von den Individuen gar nicht gesehen, Wirkungslosigkeit bescheinigt .34 Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in Bezug auf Gegen-Denkmäler und Mahnmale . Wer die sporadischen Aussagen in der Literatur zur Mahnmalsrezeption heranzieht, kommt jedenfalls im Gegensatz zu den euphorisch anmutenden Erwartungen mancher Kunstschaffender zu einem ernüchternden Urteil . Schülern, Touristen wie auch Staatsbürgern wird generell nachgesagt, sie würden zur Auseinandersetzung mit Denkmälern genötigt und reagierten gelangweilt .35 Das Stuttgarter Stammheim-Denkmal werde totgeschwiegen .36 Und die Stolpersteine sieht Hermann Sturm als gut gemeinte Geste, die aber nichts bewirke . „Passanten gehen achtlos – so scheint es – auf den schmutzigen grauen Steinplatten des Gehwegs darüber hinweg .“37 Alle diese Aussagen gründen auf ungeprüften Einstellungen . Möglicherweise werden hier lediglich Handlungsrahmen (Frames) unreflektiert repetiert . Allgemein ist es ihr Zweck, uns Orientierung zu verschaffen . Ein möglicher Frame im Falle der Denkmäler wäre, sie als Teil der Stadtmöblierung einzuordnen . Einer solchen Kategorisierung folgend stünden Denkmäler dann für etwas, das mit Geschichte zu tun hat, aber Franz Schwarzbauer: „[…] dass immer irgend jemand an sie denkt .“ in: Stadt Ravensburg (Hrsg .): Das Denkmal der Grauen Busse . Erinnerungskultur in Bewegung, Zwiefalten 2012, S . 30–36, hier S . 30 . 32 Vgl . Young: Formen, 1997, S . 62 . 33 Der verantwortliche Architekt für das Mahnmal, Peter Eisenmann, bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt: „You get, what you see“, zit . n . Klein: Schülerinnen, 2012, S . 12 . 34 Vgl . Robert Musil: Denkmale, in: Ders .: Gesammelte Werke in Einzelausgaben . Bd . 3: Prosa, Dramen, späte Briefe, Hamburg 1957 (Orig . 1936), S . 480–483, hier S . 480 . Diese Zuspitzung verkennt allerdings die Funktion des Denkmals, die sich in erster Linie bei entsprechenden Gedenkanlässen während der dabei vollzogenen Zeremonien erfüllt . 35 Vgl . Berthold Hinz: Denkmäler . Vom dreifachen Fall ihrer „Aufhebung“ . in: Diers (Hrsg .): Mo(nu) mente, 1993, S . 299–312, hier S . 299 . 36 Vgl . Heinrich: Strategien, 1993, S . 156 . 37 Hermann Sturm: Denkmal & Nachbild . Zur Kultur des Erinnerns, Essen 2009, S . 39 . 31

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weder Bedeutung noch Handlungskonsequenz haben muss . Im Lebensalltag ist ein solches Urteil sicherlich dienlich, weil es kognitive Energien einspart und hilft, Aufmerksamkeit zu fokussieren . Es verkennt allerdings die Freiheitsgrade, die uns Menschen bei der Nutzung von Wissensangeboten immer bleiben und eben auch Kreativität im Erkenntnisprozess ermöglichen . Die Vorstellung, Denkmäler seien per se eine undemokratische Institution, weil ihnen eine Einwegkommunikation zwischen Denkmalschaffenden und Rezipienten zugrunde liege, und sie uns Werte und Vorbilder vorführten, denen wir zu folgen hätten,38 blendet aus, dass eine solche Top-Down-Perspektive gerade durch die Gegen-Denkmäler ausgehebelt werden soll . Was die Stolpersteine betrifft, sollten sie dann auch den Anspruch der Sichtbarkeit erfüllen . Vor diesem Hintergrund ist der in der Einleitung skizzierte Konflikt zwischen dem Künstler Gunter Demnig zusammen mit den Stolperstein-Initiativen und Charlotte Knobloch zu beurteilen . Um eine Aussage über das konkrete Verhalten in der Begegnung mit einem Denk- oder Mahnmal treffen zu können, bedarf es einer empirischen Untersuchung . Nur mit ihr lassen sich die oben wiedergegebenen Annahmen überprüfen . Konkret wird es hier darum gehen, zu erforschen, ob die Stolpersteine bekannt sind und mit welchen Inhalten diese Idee verknüpft ist, ob sie im Pflaster gesehen werden, und wie dann auf sie reagiert wird .39 Methodik des empirischen Vorgehens

Die oben formulierten Fragen zielen im Kern auf zwei unterschiedliche Sachverhalte: Wissen einerseits und Verhalten andererseits . Aufgrund der Differenz zwischen beidem ist es notwendig, die Daten dafür mit einem je spezifischen Forschungsdesign zu erheben . Wissen und Einstellungen lassen sich mittels Interviews abfragen . Zur Erfassung von Verhalten bietet sich hingegen eine Beobachtung an .40 Da für den konkreten Fall der Stolpersteine zur Zeit der Datenerhebung nur eine ähnliche Studie bekannt war41 und zudem nur limitierte Ressourcen vorhanden waren, lag es nahe, zwei exVgl . Heinrich: Strategien, 1993, S . 162 . Fraglos sind in dem skizzierten Konflikt normative Fragen von Bedeutung, die sich aber nicht empirisch klären lassen . 40 Grundsätzlich wären auch in diesen Fällen Interviews möglich, doch kann dann nur die Verhaltensabsicht erfragt werden . 41 2011 wies Harald Schmid darauf hin, wie wenig sich die Wissenschaft bis zu jenem Zeitpunkt mit den Stolpersteinen befasst hatte (Schmid: Stolpersteine, 2011) . 2014 erschien eine sozialgeografische Studie, deren Forschungsteam qualitative Interviews während mehrerer Einweihungszeremonien mit Teilnehmenden sowie den Assistenten des Künstlers durchführte, vgl . Matthew Cook, Micheline van Riemsdijk: Agents of memorialization: Gunter Demnig’s Stolpersteine and the individual (re-)creation of a Holocaust landscape in Berlin, in: Journal of Historical Geography 43 (2014), S . 138–147 . Bei Erhebung der Daten war der Buchbeitrag von Danielle Drozdzewski gerade erschienen . Vgl . Danielle Drozdzewski: Encountering memory in the everyday city, in: Dies ., Sarah de Nardi, Emma Waterton (Hrsg .): Memory, place and identi38 39

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plorative Untersuchungen mit dem Ziel durchzuführen, mittels eines eingeschränkten methodischen Vorgehens zu ersten grundlegenden Erkenntnissen zu kommen . Befragung in zwei Hamburger Stadtteilen

Um Wissen über und Einstellungen zu den Stolpersteinen in Erfahrung zu bringen, wurde in den Hamburger Stadtteilen Blankenese und Eimsbüttel eine Straßenbefragung durchgeführt . Beschränkter zeitlicher wie auch finanzieller Ressourcen wegen wurde auf die Ziehung einer repräsentativen Stichprobe verzichtet – repräsentativ für eine wie auch immer definierte Grundgesamtheit . Stattdessen entstammen die Daten einer willkürlichen Stichprobe .42 Da in Hamburg zum Zeitpunkt der Befragung mit 5042 Stolpersteinen eine beträchtliche Menge verlegt worden waren,43 darf die Bekanntheit des Denkmals unterstellt werden, was neben der Erreichbarkeit Grundlage für die Auswahl der Stadt war . Mit beiden Stadtteilen wurden sozialstrukturell, insbesondere in Bezug auf Einkommen, unterschiedliche Viertel ausgesucht . In beiden sind Stolpersteine vorzufinden . Bei der Straßenbefragung wurde darauf geachtet, keine Kinder oder Jugendlichen zu interviewen . Ein Querschnitt durch die Bevölkerung wurde insoweit erreicht, als die Befragung, die sich über den Zeitraum von 25 . August 2015 bis 20 . September 2015 erstreckte, sowohl an unterschiedlichen Wochentagen, als auch zu wechselnden Tageszeiten durchgeführt wurde . Die insgesamt 63 realisierten Interviews verteilen sich im Verhältnis 34 (Blankenese) zu 29 (Eimsbüttel) auf die beiden Stadtteile . Von allen Interviews entfallen 65 Prozent auf Frauen und 35 Prozent auf Männer .44 Im arithmetischen Mittel beträgt das Alter aller Befragten 40,7 Jahre . Die älteste Person ist 1942, die jüngste 1998 geboren . Alle Interviewten kommen aus Hamburg, und 35 Prozent von ihnen verfügen über die Hochschulzugangsreife . Nicht auszuschließen ist, dass das Umfrageergebnis in hafennahen Stadtvierteln aufgrund des dort zu erwartenden niedrigeren Bildungsniveaus bei den Interviewten anders als hier ausfiele . Der Fragebogen setzt sich insgesamt aus vier inhaltlichen Blöcken zusammen .45 Im ersten Teil geht es um Denkmäler allgemein sowie solche in Hamburg . Die Interviewten

ty: Commemoration and remembrance of war and conflict . London 2016, S . 19–37 . Neben der Beobachtung des Verhaltens von Passanten in Bezug auf die Stolpersteine führte die Autorin im Gegensatz zur vorliegenden Studie offene Interviews durch . 42 Dieser Umstand ist in Bezug auf die inhaltlichen Schlussfolgerungen legitim, weil diese Pilotstudie einem Theorietest entspricht und keine Aussagen über die Gesamtbevölkerung weder der Bundesrepublik noch Hamburgs beabsichtigt sind . Sollten sich die Vorannahmen im Theorietest nicht bestätigen, ist ungeachtet jedweder Repräsentativität zu diskutieren, warum es zu diesem Resultat kommt . 43 Vgl . Stolpersteine Hamburg, URL: http://www .stolpersteine-hamburg .de/, letzter Zugriff: 9 .6 .2016 . 44 Das Ungleichgewicht dürfte auf die Geschlechtszugehörigkeit der Interviewerin zurückzuführen sein . 45 Das Messinstrument ist dokumentiert in Sophie Hajek: Rezeption und Wirkung von öffentlicher Erinnerungskultur – Analyse am Beispiel der Stolpersteine in Hamburg . unveröff . Manuskript, Passau 2015 .

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gaben Auskunft darüber, ob und unter welchen Umständen sie welche Denkmäler aufgesucht haben . Abgefragt wurde auch die Wichtigkeit, die Denkmälern beimessen wird . Der zweite und größte Block von Items befasst sich mit den Stolpersteinen . Hier ging es um das Wissen um sie und den Künstler . Weiterhin gehörten dazu Fragen danach, wie viele Steine damals verlegt waren, deren Bewertung, eine Einschätzung ihrer Funktion sowie das Verhalten der Befragten, wenn sie mit diesem Denkmal konfrontiert waren . Im dritten Block geht es um Informationsquellen, aufgrund derer die Interviewten um das Projekt der Stolpersteine wissen . Am Ende wurden noch demografische Daten erhoben . Beobachtung in Konstanz

Um zu erfassen, wie Bürgerinnen und Bürger auf die Stolpersteine reagieren, ist die verdeckte teilnehmende Beobachtung die adäquate Methode .46 Im Rahmen ihrer Anwendung wird das sichtbare Verhalten der Menschen notiert . In der verdeckten Variante wissen die Passanten nicht um die Observation, weshalb ihr Verhalten nicht durch die Methode ausgelöst sein sollte . Dementsprechend ist es möglich, unbeeinflusstes Alltagsverhalten zu studieren .47 Aus forschungspraktischen Gründen, der leichten Erreichbarkeit wegen, wurde Konstanz ausgewählt, eine Stadt in der zum damaligen Zeitpunkt 196 Stolpersteine verlegt waren .48 Als konkrete Beobachtungspunkte wurden mit den Gedenksteinen in der Wessenberg- und der Sigismundstraße zwei in ihrem je spezifischen Charakter unterschiedliche Orte in der Konstanzer Altstadt bestimmt . Im ersten Fall handelt es sich um eine belebte Einkaufsstraße mit entsprechendem Publikumsverkehr . Der einzeln verlegte Stolperstein hebt sich hier kaum vom Kopfsteinpflaster ab . Am zweiten, durch Wohnhäuser, Büros, ein Hotel sowie kleinere Restaurants gekennzeichneten Ort sind vier Steine ins Kopfsteinpflaster eingelassen, die farblich deutlich hervorstechen . Der Differenzen im jeweiligen Charakter beider Straßen wegen ist anzunehmen, dass sich in ihnen in der Tendenz Personen mit je anderen Merkmalen erfassen lassen .49 Zu dieser Methode und ihren Vor- und Nachteilen siehe Kathleen DeWalt, Billie DeWalt: Participant observation, in: H . Russell Bernard (Hrsg .): Handbook of methods in cultural anthropology, Walnut Creek 1998, S . 259–300; Helmar Schöne: Die teilnehmende Beobachtung als Datenerhebungsmethode in der Politikwissenschaft . Methodologische Reflexion und Werkstattbericht, in: Historical Social Research 30 (2005), S .168–199 . 47 Wie im Ergebnisteil noch gezeigt werden wird, haben einige Beobachtete auf die Beobachterin reagiert, was dann erweiterte Erkenntnisse ermöglichte . Solche Ereignisse wurden in einem zusätzlich angefertigten Feldprotokoll festgehalten . 48 Stolpersteine Konstanz – Ein Projekt, das die Erinnerung an Opfer des Nazi-Terrors in Konstanz lebendig erhalten, ihnen Namen und Gesicht geben soll, URL: http://www .stolpersteine-konstanz .de/index . html?aktuell .htm, letzter Zugriff: 9 .6 .2016; aktuelle Adresse: http://www .stolpersteine-konstanz .de/index . html, letzter Zugriff: 13 .8 .2019 . 49 Nach ähnlichem Muster ist auch Drozdzewski (Encountering memory, 2016) vorgegangen . 46

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Um ein möglichst breites Spektrum an Beobachtungen zu erhalten, wurden zwei Untersuchungszeiträume festgelegt, von denen der eine den Sommer (1 . bis 15 . August 2015), der andere den Herbst (28 . November bis 6 . Dezember 2015) abdeckte . Durch diese Vorgabe war es möglich, Verhalten unter verschiedenen Witterungsbedingungen zu notieren, wie auch davon auszugehen war, je spezifische Gruppen zu erfassen, vermehrt Touristen in der warmen, hauptsächlich Einheimische in der kalten Jahreszeit . In einer zweiten Gliederungsebene wurde für beide Zeiträume jeweils eine künstliche Beobachtungswoche konstruiert . Die Beobachtungsintervalle pro Tag wurden so festgelegt, dass sich die Observierung auf einen kompletten Werktag sowie einen ganzen Samstag und Sonntag erstreckt . Die Beobachtungszeit begann im Sommer frühestens um 6:00 Uhr und endete spätestens um 22:00 Uhr . Für das Wochenende lag der Beginn bei 8:00 Uhr (samstags) respektive 9:30 Uhr (sonntags), weil an diesen Tagen der Publikumsverkehr erst entsprechend spät einsetzt . Mit dieser Planung wurden Arbeits- und Schulbeginn, Öffnung der Läden, Gottesdienstzeiten wie auch Ankünfte der Bodenseeschiffe berücksichtigt . Im Herbst wurde das Intervall auf die Zeiten zwischen 7:30 Uhr und 17:00 Uhr verkürzt, da, wie sich bei der Augusterhebung gezeigt hatte, den Stolpersteinen in der Dunkelheit keine Beachtung geschenkt wurde .50 Im Beobachtungsprotokoll wurden einem vorab festgelegten Raster folgend alle observierbaren Verhaltensweisen der Passanten festgehalten, die im Beobachtungszeitraum an den Stolpersteinen vorbeiliefen .51 Die Auswahl der insgesamt acht Inhaltskategorien des Protokolls orientierte sich an Reaktionen, welche vorab mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten waren . Neben den Identifikationsvariablen für Datum, Ort und Uhrzeit wurde dokumentiert: – Person passiert die Stolpersteine seitlich und nimmt sie nicht wahr;52 – Person tritt auf die Stolpersteine, nimmt sie aber nicht wahr;53 – Person bemerkt die Stolpersteine und tritt auf sie; – Person bemerkt die Stolpersteine und umgeht sie; Zwar kommt es immer wieder auch zu Vandalismus an den Stolpersteinen (vgl . Stolpersteine Stuttgart: Vandalismus – Erneute Schändung der Opfer . Zehn Stolpersteine mit Farbe besprüht – Lokale Initiativen setzen Belohnung aus, zit . n . Stuttgarter Nachrichten vom 7 . August 2007, URL: http://www .stolpersteine-stuttgart .de/index .php?docid=345, letzter Zugriff: 13 .8 .2019), doch ist es unwahrscheinlich, mit solchen geplanten Aktionen im Rahmen einer empirischen Erhebung konfrontiert zu sein, wenn die beobachtende Person vor Ort ist . 51 Das Beobachtungsprotokoll ist dokumentiert in Julia Gilowsky: Stolpersteine im Diskurs – Beobachtungsstudie zum Verhalten beim Passieren von Stolpersteinen . Passau 2016, URL: https://opus4 .kobv .de/ opus4-uni-passau/frontdoor/index/index/docId/482, letzter Zugriff: 13 .8 .2019 . 52 In den Kategoriendefinitionen wird aus forschungspraktischen Gründen der Wahrnehmungsbegriff benutzt, wohlwissend, dass es sich bei den beobachteten Vorgängen im psychologischen Sinn nicht um die Messung von Wahrnehmung handelt . 53 Im Beobachtungsbogen (vgl . Gilowsky: Stolpersteine, 2016, S . 38) ist die Kategorie mit „Nicht-Wahrnehmung und darüber laufen“ verbalisiert . Faktisch protokolliert wurde aber das unbeabsichtigte Treten auf den Gedenkstein, die Person also nicht nach unten schaute . Entsprechendes gilt für die Kategorie „Bemerken und darüber laufen“, die Person schaute also nach unten . 50

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– – – –

Person bemerkt im Laufen die Stolpersteine und wirft einen flüchtigen Blick darauf; Person bemerkt die Stolpersteine und bleibt dafür stehen; Person ist in Begleitung, bemerkt die Stolpersteine und spricht darüber; sowie weitere Reaktionen .

Von dieser Kategorisierung war die Erfassung eines breiten Verhaltensspektrums zu erwarten, das von der Nichtwahrnehmung über Achtlosigkeit bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Denkmal reicht . Die letzte Kategorie diente als Platzhalter für unwahrscheinliche Reaktionen wie das Fotografieren oder auch das Putzen der Steine,54 die unter dieser Rubrik festgehalten werden konnten . Bei der Durchführung der Datenerhebung wurde weiterhin darauf geachtet, nur die Reaktion jener Passanten zu notieren, die eine realistische Chance hatten, die Stolpersteine auch zu sehen . Wer auf der anderen Straßenseite lief, blieb für die Studie außen vor . Zudem wurde jede Person nur einfach und mit ihrer – falls gezeigt – ersten Reaktion auf das Denkmal erfasst .55 Obwohl es sich um ein verdecktes Vorgehen handelte, wurde die Beobachterin einige Male wahrgenommen und angesprochen . Auf diese Reaktionen wird unten noch detailliert eingegangen . Reliabilität und Validität der Messinstrumente

Da hier ein Pilotprojekt durchgeführt wurde, ist ein Urteil über Zuverlässigkeit und Gültigkeit des bei der Befragung genutzten Messinstruments nur eingeschränkt möglich . Bevor die Feldphase für die standardisierte Befragung begann, wurde ein Pretest durchgeführt, bei dem sich keine Auffälligkeiten zeigten . Die statistischen Zusammenhänge bei ausgesuchten numerischen Variablen fallen wie erwartet aus, weshalb sich Validität unterstellen lässt . Die Reliabilität der Items muss sich hingegen erst in Folgestudien erweisen . Für die Verhaltensbeobachtungen gilt Vergleichbares . Auf Parallelen und Abweichungen in den Ergebnissen der Beobachtungsstudie von Danielle Drozdzewski wird nachfolgend explizit hingewiesen .56 Ganz generell ist eine intersubjektive Nachprüfbarkeit von Observationen nur schwer erreichbar .57 Der Einsatz von mehreren Beobachtern war im vorgegebenen Rahmen nicht möglich . Hinsichtlich der Validität ist die Sozialforschung mit der Herausforderung konfrontiert, dass die Bedeutungsinterpretation der Handelnden nicht zwingend mit derjenigen der Beobachtenden überein-

Siehe hierzu die Bemerkung von Schmid: Stolpersteine, 2011, S . 6 . Mehrfachzählungen über die verschiedenen Tage sind allerdings nicht ausgeschlossen . Siehe Drozdzewski: Encountering memory, 2016 . Vgl . Helmut Kromrey: Empirische Sozialforschung . Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung, 12 ., überarb . und erg . Auflage . Stuttgart 2009, S . 348 . 54 55 56 57

Stolpersteine

stimmen muss,58 was an kulturellen oder schichtspezifischen Differenzen liegen kann . Eine Möglichkeit, dieser Schwierigkeit auszuweichen und Unterschiede sichtbar zu machen, bestünde in einer Befragung, die sich an die Beobachtung anschlösse . Ein solches Vorgehen ist zukünftiger Forschung vorbehalten . Wissen über die und Bewertung der Stolpersteine

Umfang wie auch Zusammensetzung der erhobenen Stichprobe erlauben erste Hypothesen zu Einstellungen über die Stolpersteine . Aufgrund des im Durchschnitt höheren Bildungsniveaus der Befragten zeigt sich bei ihnen eine beträchtliche Affinität zu Kunst und Kultur . Die schlägt sich auch in den Einstellungen zu Denkmälern nieder .59 Folglich verwundert es nicht, dass bis auf eine Person alle schon mal ein Denkmal aufgesucht haben . Darüber hinaus teilten 70 Prozent mit, in der Vergangenheit bewusst zu einem Denkmal in Hamburg gegangen zu sein . Als Hauptgründe für die Motivation gaben sie an, es aus historischem Interesse und in touristischer Absicht getan zu haben . Einige der Jüngeren nannten zudem als Beweggrund, über die Schule zu einem Besuch veranlasst worden zu sein . Was die Beurteilung von Denkmälern im Allgemeinen betrifft, sieht sie der Durchschnitt als eher wichtig an .60 Diese Einschätzung ist aber zu differenzieren . Insgesamt gaben fast zwei Drittel an, vom Projekt der Stolpersteine schon einmal gehört zu haben . Werden diese beiden Gruppen hinsichtlich ihres Urteils zur Wichtigkeit miteinander verglichen, zeigt sich ein deutlicher und über den Zufall hinausweisender Unterschied . Jenen, die über die Stolpersteine gehört haben, sind Denkmäler deutlich wichtiger als jenen, die nichts mit dem Begriff anfangen können .61 Eine Kritik des Befragungsresultats könnte hier ansetzen und monieren: Ist wirklich von einer Kenntnis auszugehen, wenn man etwas nur vom Hörensagen kennt? Um dem zu begegnen, wurden weitere, teils offene Fragen zum Wissen über die Stolpersteine gestellt . Wer sagt, mit diesem Begriff etwas anfangen zu können, weiß in der Regel zwar nicht den Namen des Künstlers,62 doch ist ein Basiswissen allemal vorhanden . So gaben 30 von den 40 Befragten an, es handele sich um Gedenksteine für Opfer des Na-

Vgl . Ebd ., 2009, S . 346 f . Diese Annahme ist insoweit mit Vorsicht zu behandeln, als der Mittelwertvergleich über die Einschätzung der Wichtigkeit des Projekts der Stolpersteine bei jenen, die sie kennen, und jenen, die nichts von ihnen wissen, lediglich auf dem 10-Prozent-Niveau signifikant ist: t=-1 .96 bei df=38 und p= .057 bei Varianzgleichheit . 60 Der Mittelwert beträgt 4,3 auf einer Antwortskala von 1 (=überhaupt nicht wichtig) bis 7 (=sehr wichtig) . 61 Die Mittelwerte liegen bei 4,8 (von Stolpersteinen gehört) und bei 3,7 (nichts davon gehört) . Das Testergebnis dazu lautet: t=-3 .49 bei df=59 und p= .001 bei Varianzgleichheit . 62 Nur drei Personen konnten ihn nennen . 58 59

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tionalsozialismus . Drei wurden sehr konkret und teilten mit, diese befänden sich vor den Häusern, in denen die Opfer zuletzt unter freigewählten Bedingungen lebten . Was den Umfang betrifft, in dem bislang Steine verlegt wurden, halten sich die meisten der 40 Interviewten mit einer Aussage zurück . Nur 22 von ihnen nannten überhaupt eine Zahl . Ihre Vorstellungen liegen im Bereich zwischen 50 und einer Million und zeugen von keinem profunden Wissen . Lediglich vier Personen näherten sich dem tatsächlichen Wert mit Aussagen zwischen 15 .000 und 45 .000 an . Eine ähnliche Bandbreite weisen die Nennungen zur Anzahl der in Hamburg verlegten Gedenksteine auf . Die generelle Bewertung des Denkmalprojektes fällt eindeutig aus . Von den 40 Befragten, denen es bekannt ist, lehnt es nur eine dezidiert ab, während ihm über 70 Prozent voll zustimmen . Dieses Resultat stimmt mit den Aussagen der Berliner Passanten überein, die von Drozdzewski interviewt wurden .63 Bemerkenswert ist allerdings, dass die Hamburger Befragten die Stolpersteine nur teilweise als Denkmal ansehen . Dreizehn Personen von denen, die von dem Projekt gehört hatten, geben zu Protokoll, für ein Denkmal seien die Steine zu klein, zu vereinzelt und fielen nicht auf . Einige nennen auch explizit das Mahnmal in Berlin, das offensichtlich in ihren Augen aufgrund seiner Größe die Bedingungen für ein Gedenkmonument erfüllt . Beachtlich ist schließlich noch, dass zwei Drittel von den 40 Personen, die den Begriff der Stolpersteine einordnen können, den Wunsch nach zusätzlicher Information bejahen . Sie zeigen sich daran interessiert, mehr über das Projekt zu erfahren . In diesem Zusammenhang ist die Rolle der Medien nicht zu unterschätzen . 25 Interviewte sind in der Lage anzugeben, woher ihre Kenntnis über die Stolpersteine stammt . Fast die Hälfte von ihnen bezieht ihr Wissen aus den Printmedien beziehungsweise von deren Online-Auftritt . Fünf geben an, in Schule oder an der Universität davon erfahren zu haben . Auch wenn keine Repräsentativität der Stichprobe vorliegt und die Prozentwerte daher nur für diese Befragten gelten, darf als erste allgemeine Einschätzung von der Bekanntheit des Projekts der Stolpersteine in einer Großstadt wie Hamburg ausgegangen werden . Zudem dürfen wir auch annehmen, dass die Menschen in der Lage sind, es konkret dem Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus zuzuordnen . Die Daten lassen aber auch den Schluss zu, dass keine detaillierten Kenntnisse über das Projekt vorhanden sind . Beachtlich ist weiterhin die Interpretation seitens eines beträchtlichen Teils der Befragten, die Stolpersteine seien kein Denkmal . Dieser Umstand kann als Bestätigung der jüngeren Diskussion um die Denkmalkultur und um Funktion und Stellenwert von Denkmälern interpretiert werden .

63

Vgl . Drozdzewski: Encountering memory, 2016, S . 25 f .

Stolpersteine

Verhaltensreaktionen auf die Stolpersteine

Im Gegensatz zur Befragung in Hamburg basieren die Ergebnisse der Beobachtung in Konstanz auf einem großen Pool von Datenmaterial . Zwar sind auch hier aufgrund der Beschränkung auf zwei unterschiedliche Straßenabschnitte innerhalb einer Stadt keine generalisierenden Aussagen etwa für Deutschland möglich . Doch erlaubt das Resultat Rückschlüsse auf die Größenordnung, innerhalb derer das Denkmal bemerkt wird . Dies gilt umso mehr, als Drozdzewski zu ähnlichen Ergebnissen kommt .64 An den insgesamt 17 Beobachtungstagen während des Sommers und Herbstes 2015 passierten 12 .507 Personen das Denkmal . Aufgrund ihrer Distanz zu den Stolpersteinen hatten sie eine realistische Chance, die Gedenksteine zu registrieren . Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, haben lediglich 78 von ihnen und damit etwas mehr als 6 Promille die Steine wahrgenommen . Tab. 1 Registrierte Verhaltensweisen beim Passieren der Stolpersteine in Konstanz (N=12.507 Beobachtungen) Verhaltenskategorie

abs. Beobachtungen

rel. Beobachtungen

Nicht-Wahrnehmung und vorbeilaufen

10.717

85,7 %

Nicht-Wahrnehmung und darauf treten

1.712

13,7 %

Bemerken und darauf treten

7

0,1 %

Bemerken und umgehen

3

0,0 %

Bemerken und flüchtiger Blick

41

0,3 %

Bemerken und stehenbleiben

25

0,2 %

Bemerken und mit jemandem darüber sprechen

2

0,0 %

Summe

12.507

100,0 %

Wie die Tabelle weiterhin zeigt, ist es prinzipiell sinnvoll, hinsichtlich der Nicht-Wahrnehmung zu differenzieren, ob die Beobachteten vorbeigehen und keinerlei Reaktion zeigen, oder ob sie auf die Steine treten . Immerhin berührte etwa ein Siebtel aller Personen das Denkmal mit den Füßen . Da in diesen Fällen eine Veränderung weder im Blickverhalten noch in der Schrittfolge beobachtet wurde, wird diese Handlungsweise ebenfalls als Nicht-Wahrnehmung eingestuft, ein Vorsatz aber ausgeschlossen . Somit liefert uns dieses Resultat zusammen mit dem aus Berlin eine erste Schätzung dafür, wie häufig auf die Stolpersteine getreten wird .65 Vgl . Ebd ., S . 25 . Für Berlin liegt dieser Wert bei knapp 3 Prozent . Allerdings wurde dort nur über einen Gesamtzeitraum von 10,5 Stunden observiert . Vgl . Ebd . 64 65

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In Bezug auf alle für die Studie registrierten Fälle ist der Anteil derjenigen ohne Zweifel gering, die die Stolpersteine bemerken . Dennoch ist eine detaillierte Analyse nach der Art der Reaktion auf das Denkmal aufgrund der hohen Gesamtzahl an Beobachtungen sinnvoll und ermöglicht eine differenzierte Einschätzung dessen, was der Künstler und die ihn vor Ort unterstützenden Gruppen mit dem Denkmal erreichen . Die Tatsache, dass während der Beobachtung so wenige Menschen auf das Mahnmal reagieren, relativiert sich, wenn ein Bezug zum Gesamtprojekt aller Stolpersteine hergestellt wird . Angesichts dessen, dass zum Untersuchungszeitpunkt mehr als 55 .000 Steine verlegt worden waren,66 darf aufgrund der hier präsentierten Erhebungsdaten davon ausgegangen werden, dass diese Art des Denkmals alltäglich eine beträchtliche Anzahl von Menschen mit dem Wissen um die Opfer des Nationalsozialismus konfrontiert . So gab es im gesamten Beobachtungszeitraum keinen Tag, an dem die observierten Steine nicht von wenigstens einer Person bemerkt wurden . Es konnte immer mindestens ein Ereignis festgehalten werden, das unter wenigstens eine der beiden Kategorien des flüchtigen Blicks beziehungsweise des Stehenbleibens fiel . Werden das Gesamtkunstwerk und die Vielzahl aller Steine betrachtet, lässt sich hochrechnen, dass doch eine erhebliche Anzahl an Menschen täglich auf das Denkmal im Sinne des Künstlers reagiert . Die Beobachtung bestätigt auch, dass es wenige Fälle gibt, in denen Personen die Steine bemerken und dennoch darauf treten . Die Zahl dieser Ereignisse allein ist jedoch nicht hinreichend für eine Beurteilung . Die in Tabelle 1 aufgelisteten Ereignisse sind durch die Information zu ergänzen, dass es sich bei diesen sieben Personen ausschließlich um Kinder handelte, was im separaten Feldprotokoll vermerkt wurde . Zumindest in den hier dokumentierten Fällen darf ein bewusstes politisches Handeln ausgeschlossen werden . Erwähnenswert sind zudem einzelne Interventionswirkungen, die durch die Studie ausgelöst wurden . Da es in beiden Straßenzügen nicht möglich war, die Observierung von einem Versteck aus durchzuführen, blieb die Anwesenheit der Forscherin nicht immer unbemerkt . Einige Passanten sprachen sie nicht nur an und fragten nach dem Zweck ihres Tuns, sondern begannen nach der wahrheitsgemäßen Auskunft ein Gespräch mit ihr . Der Gedankenaustausch bewirkte einen Prozess der Erinnerung an die Shoah und an den lokalen Ausgangspunkt der damals begangenen Verbrechen . In den Konversationen stellte sich heraus, dass die meisten Gesprächspartner von Stolpersteinen schon gehört, die an diesem Ort verlegten aber nicht wahrgenommen hatten . Um eine Intervention handelte es sich bei diesen Gesprächen, weil alle diese Passanten,

Vgl . Ekkehard Müller-Jentsch: Weitere Niederlage für Befürworter der Stolpersteine, in: Süddeutsche Zeitung vom 31 .5 .2016, URL: https://www .sueddeutsche .de/muenchen/verwaltungsgericht-weitere-nieder lage-fuer-befuerworter-der-stolpersteine-1 .3013857, letzter Zugriff: 13 .8 .2019 . 66

Stolpersteine

von denen vorher keiner das Denkmal registriert hatte, nach der Unterhaltung zu den Stolpersteinen gingen und die Inschrift lasen .67 Wird das Ergebnis der Beobachtung auf einen Nenner gebracht, bestätigt diese Studie nur teilweise die in der Literatur immer wieder zu findende Einschätzung, die Stolpersteine fänden keine Beachtung . Auf den ersten Blick zeigt sich zwar, dass nur ein minimaler Anteil derjenigen, die während der Beobachtung an den Steinen vorbeigelaufen sind, sie auch bemerkten . Wird hingegen die Perspektive verändert und die Häufigkeit der Beachtung in Bezug auf alle verlegten Steine und über die gesamte Zeit der Existenz des Gesamtkunstwerkes betrachtet, relativiert sich der erste Eindruck . Bei den Stolpersteinen handelt es sich offensichtlich um ein Denkmal, auf das pro Tag mindestens eine Person mehr oder weniger intensiv schaut . Wird die hier ermittelte Beachtensrate bezogen auf alle verlegten Stolpersteine hochgerechnet, ist zu konstatieren, dass das Gesamtkunstwerk von einer beträchtlichen Anzahl von Menschen registriert wird . Dieses Ziel des Künstlers Gunter Demnig darf daher als erreicht gelten . Auch in einer anderen Hinsicht liefert die Beobachtung eine aufschlussreiche Erkenntnis . Einerseits wurde, auch hier analog zur Berliner Studie,68 in der gesamten Feldzeit kein einziges Mal ein despektierliches Verhalten im Sinne eines absichtsvollen Tretens auf den Stein registriert . Andererseits wird sich ein Teil der Gegner dieses Denkmals, wie etwa auch Knobloch, bestätigt fühlen, da die Steine von einer nicht unerheblichen Anzahl von Menschen tagtäglich unbeabsichtigt mit den Füßen berührt werden . Wer dies als erneute Entwürdigung der Opfer interpretiert, kann auf die hier ermittelten Zahlen verweisen . Weiterführende Überlegungen

Die innerhalb dieser Pilotstudie durchgeführte Befragung und Beobachtung kann, auch wenn die Ergebnisse in ihrer Reichweite beschränkt sind, erste grundlegende Einsichten vermitteln . Zwar ist es empirisch unmöglich, normative Argumente, wie sie im öffentlichen Diskurs erörtert werden, zu stützen oder zu widerlegen . Die Untersuchung vermag es aber, dem Streit um die Verlegung von Stolpersteinen ein empirisches Fundament zu geben . Das Projekt des Künstlers Gunter Demnig darf als bekannt gelten, und es wird tendenziell als positiv bewertet . Sein Konzept eines dezentralen Denkmals, das aus vielen tausend kleinen Pflastersteinen besteht, darf auch deshalb als erfolgreich gelten, weil eine erhebliche Anzahl von Menschen ihrer alltäglich gewahr wird . Ein weitergehender Anspruch wäre sicher unrealistisch, da die vielen Tätigkeiten und Aufgaben im Alltag, mit denen wir üblicherweise befasst sind, von uns eine Diese nach den Gesprächen erfolgten Reaktionen spiegeln sich nicht im quantitativen Resultat, da regelkonform jede Person nur einmal erfasst wurde . 68 Vgl . Drozdzewski: Encountering memory, 2016, S . 25 . 67

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hohe Aufmerksamkeit erfordern . Notwendigerweise verfügen wir nur über begrenzte Wahrnehmungskapazitäten, die uns daran hindern, relativ unscheinbare Stolpersteine im Pflaster oder im Bürgersteig zu erkennen . Auch wenn die Befragten nur über vage Kenntnisse zu den Stolpersteinen verfügen, ist dieser Punkt deshalb bemerkenswert, weil es sich bei diesem Denkmal um ein Monument handelt, das sich uns im Alltag aufdrängt .69 Es setzt kein Interesse voraus, kann uns aber dennoch mit einer unangenehm empfundenen Vergangenheit konfrontieren, ohne vorab eine Aktivität von den Menschen zu verlangen . Ihrer Verbreitung wegen dürften die Stolpersteine eine große und breite Zielgruppe erreichen . Jedoch ist nur mit Vergleichsstudien ein Urteil darüber möglich, ob traditionelle Denkmäler ähnlich häufig wie oder öfter frequentiert und beachtet werden als die Stolpersteine oder nicht . Als weitere Zukunftsaufgabe bleibt, die tatsächlich erfolgte Rezeption zu erfassen . Selbstverständlich ist es nicht möglich, vom „flüchtigen Blick im Laufen“ auf die korrekte Identifizierung des Gesehenen und noch weniger auf eine wie auch immer angemessene Verarbeitung zu schließen . Die Interviewdaten geben in Bezug auf die Beobachtungen lediglich einen Hinweis auf eine durch die Stolpersteine ausgelöste individuelle Auseinandersetzung . Im Falle des Holocaust-Mahnmals in Berlin liegt mittlerweile mit der Publikation von Marion Klein ein fundierter empirischer Beitrag zur Rezeption des Denkmals vor .70 Doch sind auch in dieser Studie die Folgerungen aus den Gruppendiskussionen beschränkt . Die in einer Gruppe getätigten Äußerungen lassen nur begrenzt Rückschlüsse auf die individuellen Einstellungen zu . Im Falle der Stolpersteine folgt daraus, dass wir ein komplexeres Forschungsdesign benötigen verglichen mit dem, das hier zur Anwendung kam . Denkbar ist etwa die Befragung der Personen, die beim Passieren des Denkmals ein bestimmtes Verhalten zeigten . Zusammenfassung

Im Gefolge der verstärkten und vor allem lokal geführten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den 1980er-Jahren kam es zu einer alternativen Denkmalbewegung . Galt der traditionelle Typ des Denkmals ab den 1960er-Jahren als obsolet, weil er sich als undemokratisch und zugleich durch den Nationalsozialismus als entwertet erwiesen hatte,71 forderten mehr und mehr Bürgerinitiativen ein öffentliches Gedenken der Opfer der Gewaltherrschaft in ihren Orten ein . Da durch diese Bewegung herkömmliche Denkmäler grundsätzlich in Frage gestellt wurden, entwickelten sich aus politischen Überlegungen heraus wie auch aufgrund künstlerischer

69 70 71

Vgl . Wagner: Menschen, 2014 . Vgl . Klein: Schülerinnen, 2012 . Vgl . Heinrich: Strategien, 1993, S . 162 .

Stolpersteine

Reflexion neue Formen des öffentlichen Gedenkens und Mahnens .72 Die seit Mitte der 1990er-Jahre in immer größer werdenden Umfang verlegten Stolpersteine zur Erinnerung an den letzten frei gewählten Wohnort jener Personen, die zumeist in der Zeit des Zweiten Weltkrieges deportiert und ermordet wurden, gehören zu dieser Art des neuen Denkmals . Auch wenn sie den Betrachtenden rudimentäre Informationen zu den Opfern des nationalsozialistischen Mordprogramms liefern, geben sie keine Geschichtsinterpretation vor . Die Rezipienten bleiben aufgefordert, sich selber ein Bild zu machen und Stellung zu beziehen . Weil diese Mahnmale Wissen wie auch Reflexionsfähigkeit voraussetzen, ist es auffällig, dass sich die Sozialwissenschaften bislang weitgehend auf den öffentlichen Diskurs konzentrierten, um die Stolpersteine in ihrer Verortung im kulturellen Gedächtnis der Deutschen zu bestimmen .73 So verdienstvoll eine solche Analyse ist, bleibt unklar, inwieweit die beabsichtigte Wirkung dieses Denkmals tatsächlich erreicht wird . Erst recht haben wir keine Vorstellung davon, ob die im öffentlichen Streit74 geäußerten normativen Annahmen über Wissen und Verhalten der Adressaten, an die sich die Gedenksteine wenden, tatsächlich der empirischen Wirklichkeit entsprechen . Diese Überlegungen wurden zum Ausgangspunkt der hier durchgeführten Pilotstudie, in der mittels Befragung und Beobachtung das Wissen um die Stolpersteine bei Hamburger Bürgerinnen und Bürgern sowie das Verhalten von Passanten in der Konstanzer Altstadt in Bezug auf diese Steine erfasst wurden . Auch wenn die erhobenen Daten nicht repräsentativ für eine festgelegte Gruppe sind, erlauben die Befunde doch erste vorläufige Rückschlüsse . So darf die Hypothese formuliert werden, dass das Wissen um die Stolpersteine unter Deutschen mit hoher Bildung weit verbreitet ist, auch wenn die Kenntnisse nur vage sind . Die Bewertung des Denkmalprojektes durch diesen Personenkreis ist als unmissverständlich zu betrachten . Die meisten Befragten sehen es als positiv an . Was das konkrete Verhalten den Stolpersteinen gegenüber angeht, zeigt sich bei der Beobachtung einerseits, dass die Unebenheit im Straßenpflaster im Lebensalltag nur selten wahrgenommen wird . Die meisten Passanten bemerken die Steine nicht . Das Untersuchungsergebnis liefert zugleich aber auch einen Beleg für die Wichtigkeit dieses Denkmals im kulturellen Gedächtnis . Keiner der hier unter Beobachtung stehenden Steine wurde nicht wenigstens einmal an jedem Untersuchungstag von einer Person genauer angeschaut . Wird dieser Befund unter Berücksichtigung der verschiedenen Unsicherheiten auf alle bislang verlegten Stolpersteine hochgerechnet, ist

Vgl . Wijsenbeek: Denkmal, 2010 . S . 26 f . Vgl . Brinda Sommer: Gesellschaftliches Erinnern an den Nationalsozialismus . Stolpersteine wider das Vergessen . (=Mitteilungen und Berichte aus dem Institut für Museumskunde, Nr . 41) Berlin 2007, URL: http://www .smb .museum/fileadmin/website/Institute/Institut_fuer_Museumsforschung/Publikationen/ Mitteilungen/MIT041 .pdf, letzter Zugriff: 13 .8 .2019 . 74 Vgl . Schmid: Stolpersteine, 2011 . 72 73

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eine Wirkung anzunehmen, die nicht unterschätzt werden sollte . Das Ergebnis widerspricht jedenfalls der immer wieder geäußerten Annahme, Denkmäler hätten für uns in der Regel keine Bedeutung .75 Dennoch kann diese Pilotstudie nur ein erster Schritt zu weiterer Erkenntnis sein . Zukünftig sollte es darum gehen, die Reflexionsprozesse von Rezipienten unter Alltagsbedingungen zu untersuchen . Die Frage, was das Wissen um die Namen und das Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus, die auf den Stolpersteinen festgehalten sind, bewirkt, sollte sich an einer Erkenntnis orientieren, die Adolf Hitlers letzte Sekretärin, Traudl Junge, in einem Interview erst im fortgeschrittenen Alter hatte und dann auch formulierte . Sie, die sich ihr Leben lang als unpolitisch begriffen und ihre damalige Rolle entsprechend attribuiert hatte, begriff beim Lesen der am Universitätsgebäude in München angebrachten Gedenktafel für Sophie Scholl, dass diese nur ein Jahr jünger als sie selber gewesen war, aber einen anderen Lebensweg eingeschlagen hatte .76 Mit dieser Überlegung war es Traudl Junge nicht mehr möglich, weiterhin die Lebenslüge zu vertreten, eine Unpolitische gewesen zu sein . Wird diese Aussage auf das Beispiel der Stolpersteine übertragen, ist festzuhalten, dass, ungeachtet der Perspektive, die deren Rezipienten einnehmen, Freiheitsgrade in der Interpretation bleiben . Es bleibt zukünftig zu analysieren, zu welchen Reflexionen die Stolpersteine anregen .

Vgl . exemplarisch Thomas Zaunschirm: Die Rolle der Bevölkerung . Vom Denkmal zum Denkwerk, in: Götz Pochat, Brigitte Wagner (Hrsg .): Erzählte Zeit und Gedächtnis . Narrative Strukturen und das Problem der Sinnstiftung im Denkmal, Graz 2005, S . 231–238, hier: S . 231 . Siehe auch Musil: Denkmale, 1957 . 76 Vgl . Traudl Junge unter Mitarbeit von Melissa Müller: Bis zur letzten Stunde . Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben, Berlin 2002, hier: S . 261 . 75

Entrümpelung postnazistischer Geschichtspolitik Das Wiener Heldendenkmal und seine Transformation 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges1 Magnus Koch / Peter Pirker

Zusammenfassung

Der Beitrag behandelt die vielfältigen geschichtspolitischen Deutungs- und Umdeutungsprozesse rund um das zentrale österreichische Kriegerdenkmal im Zentrum Wiens . Am „Österreichischen Heldendenkmal“ werden seit dem 19 . Jahrhundert zentrale Fragen der nationalen Identitätsbildung verhandelt: soldatischer Gehorsam und Pflichterfüllung – gegenüber höchst unterschiedlichen politischen Regimen . Reflektierte der Ort über Jahrzehnte hinweg das zwiespältige Verhältnis Österreichs zu seiner Rolle im Nationalsozialismus, stand es zuletzt als „Relikt aus vorrepublikanischen Zeiten“ ( Jörg Echternkamp) oder als „Ort staatlicher Peinlichkeit“ (Die Grünen) in der Kritik . Ein 2012 angestoßener Transformationsprozess blieb bislang unvollendet . Zuletzt diente das Kriegerdenkmal provisorisch als Stätte temporärer Ausstellungen über NS-Gewalt und Holocaust . Abstract

The article focuses on the manifold transformation processes in the politics of history that shaped the central war memorial in Vienna . At the „Heroes Memorial“ (Heldendenkmal) Austria negotiates central issues of national identity formation since the 19th century: mili-

Der Beitrag ist ein Ergebnis des vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds (WWTF) und dem Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus geförderten Forschungsprojektes „Politics of Remembrance and the Transition of Public Spaces . A Political and Social Analysis of Vienna, 1995–2015“ (Leitung: Walter Manoschek und Peter Pirker, siehe URL: http://porem .univie .ac .at) . Die Autoren danken den Herausgebern und dem/r anonymen Gutachter/in für wertvolle Hinweise und Anregungen . 1

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MAGNUS KOCH / PETER PIRKER

tary obedience and fulfillment of duty – vis-a-vis a set of highly different political regimes . For decades the memorial reflected Austria’s ambivalent attitude towards National Socialism; during the last years it was criticized as a „relic of pre-republican times“ ( Jörg Echternkamp) or a „place of national embarrassment“ (the Green Party) . A transformation process initiated in 2012 has so far remained unfinished . Recently, the memorial served as a site for temporary exhibitions about Nazi-violence and the Holocaust .

Am 29 . Oktober 2015 fand in der Krypta des Österreichischen Heldendenkmales im Neuen (oder auch: Äußeren) Burgtor am Heldenplatz in Wien ein von der Öffentlichkeit unbemerkter Bruch mit der österreichischen Erinnerungskultur zu soldatischem Dienst und Sterben im 20 . Jahrhundert statt . „Im kleinsten Rahmen“ profanierte der Militärbischof für Österreich, Werner Freistetter, den sakralen Raum, der seit 1934 über alle politischen Systemwechsel hinweg der zentrale staatliche Gedenkort für gefallene Soldaten und im Dienst umgekommene Exekutivbeamte gewesen war .2 Ebenso leise zog sich das Bundesheer aus der Nutzung des Heldendenkmals zurück, das es mit seiner Gründung im Jahr 1955 als zentralen Gedenkort übernommen hatte .3 Die jährlichen traditionellen Kranzniederlegungen von Verteidigungsminister, Bundespräsident und Bundesregierung am Allerseelentag und am Nationalfeiertag (26 . Oktober) fanden erstmals nicht mehr in der Krypta statt, sondern wurden vor die Krypta verlegt, wo eine bisher im Inneren befindliche Gedenktafel für die im Dienst umgekommenen Soldaten und Exekutivbeamte der Zweiten Republik neu angebracht wurde . Damit veränderte die sozialdemokratisch-konservative Koalitionsregierung aus SPÖ und ÖVP mit geringem Aufwand eine Tradition militärisch-staatlichen Gedenkens, an der seit Anfang der 2010er-Jahre heftige Kritik geübt wurde . Die Maßnahmen markierten den vorläufigen Schlusspunkt einer rasch durchgeführten Transformation der Gedenkstätte, die eine vom Verteidigungsministerium im Jahr 2012 eingesetzte internationale ExpertInnenkommission empfohlen hatte . Weitere Vorschläge, etwa eine Musealisierung und dauerhafte Umwandlung in eine „Lern- und Vermittlungsstätte“ verschwanden allerdings bald wieder von der politischen Agenda . Rituale öffentlicher Erinnerung können mit Jay Winter in drei Phasen eingeteilt werden: Die Etablierung der Gedenkform, ihre Überführung in Routine und schließlich ihre Transformation beziehungsweise ihr Verschwinden .4 Beim Neuen Burgtor ist die Sache etwas komplizierter, weist es doch eine Geschichte auf, die bis zu seiner

Der einzige Hinweis in Medien dazu findet sich in der Zeitung der Erzdiözese Wien: Der Sonntag, URL: https://www .erzdioezese-wien .at/site/nachrichtenmagazin/magazin/kleineskirchenlexikon/article/46480 . html, letzter Zugriff: 26 .4 .2016 . 3 Großprojekt Heldenplatz, in: Der Standard, 26 .11 .2015, S . 24 . 4 Jay Winter: Sites of Memory and the Shadow of War, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg .): A Companion to Cultural Memory Studies, Berlin et al . 2010, S . 61–74, S . 70 f . 2

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Errichtung im Jahr 1824 zurückreicht und der k . u . k . Monarchie, dem austrofaschistischen Regime, der NS-Herrschaft und der Zweiten Republik als Gedenkort diente und eine Reihe von geschichtspolitisch intendierten Neugestaltungen, Adaptierungen und Überschreibungen erfuhr, aber auch Kontinuitäten über Systembrüche hinweg beinhaltete . Das Äußere Burgtor wurde nicht nur einmal etabliert, sondern mehrfach wiederentdeckt, nachdem es aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden war . Im Jahr 1965 wurde im linken Flügel des Bauwerks ein „Weiheraum“ für die „Opfer im Kampfe für Österreichs Freiheit“ installiert . Rituale wurden adaptiert und mit politischen Systemwechseln in neue Routinen überführt . Gelegen am Übergang vom Heldenplatz zur Ringstraße im politischen Zentrum Wiens, diente das klassizistische Bauwerk Staatsorganen, Armeeführungen und gesellschaftlichen Akteuren gleichermaßen als Ort der öffentlichen Symbolisierung von Deutungen vorangegangener politischer Systeme als auch der Selbstrepräsentation, somit als Instrument der Bildung kollektiver Identität . Die jüngeren Transformationen sind nicht anders zu bewerten . Sie markieren einen Bruch mit der Vergangenheitspolitik der Zweiten Republik, die wir als den „politischen, justiziellen und kulturellen Umgang einer demokratischen Gesellschaft mit ihrer diktatorischen Vergangenheit“5 verstehen . Über die Veränderung in der Memorialisierung von Wehrmachtssoldaten und Widerstandskämpfern hinaus stellt die Transformation des Heldendenkmals aber auch die Historisierung einer seit der Wiedererlangung der vollen staatlichen Souveränität im Jahr 1955 vor allem im militärischen Bereich eingeübten Geschichtspolitik dar, die über den Bezug auf vorangegangene diktatorische Regime hinausgeht6 und personelle, strukturelle und mnemonische Kontinuitäten zwischen k . u . k . Monarchie, Erster Republik, dem Austrofaschismus, der NS-Herrschaft und der Zweiten Republik transportiert hat . Zugrunde lag ihr eine universelle Würdigung soldatischer „Pflichterfüllung“ . Das Heldendenkmal war und ist somit ein wesentlicher Schauplatz konkreter erinnerungspolitischer Aktivitäten staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, worunter wir die Praxis der dauerhaften Memorialisierung von Personen und Ereignissen in Form von Denkmälern, Gedenktafeln und anderer Erinnerungszeichen im öffentlichen und teilöffentlichen Raum verstehen . Außenstehende Beobachter mag es überraschen, dass das Heldendenkmal als staatlicher Gedenkort inmitten Wiens erst jetzt einer grundlegenden Transformation unterworfen wird, also die intensiven gesellschaftlichen Debatten um das Verhältnis Österreichs und der ÖsterreicherInnen zum Nationalsozialismus seit der Waldheim-Debatte des Jahres 1986 so lange unberührt ‚überstanden‘ hat . Damals begann eine neue Generation von HistorikerInnen und zivilgesellschaftlichen AkteurInGünther Sandner: Hegemonie und Erinnerung: Zur Konzeption von Geschichts- und Vergangenheitspolitik, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 30 (2001) 1, S . 5–17, S . 7 . 6 Mithilfe der geschichtspolitischen Analyse werden Praktiken der Vergangenheitspolitik selbst thematisiert und reflektiert . Siehe ebd . 5

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nen die Opferthese, die offizielle Selbstdarstellung Österreichs, schuldloses Opfer NS-Deutschlands geworden zu sein, als Opfermythos zu entlarven . Ihr Ausgangspunkt war eine Kritik an Waldheims Diktum, er habe „im Krieg nichts anderes getan als Hunderttausende andere Österreicher, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt“ .7 Der Opfermythos habe nicht nur die aktive Mitwirkung von ÖsterreicherInnen an den Verbrechen des NS-Regimes ausgeblendet, sondern auch „mit der kollektiven Erfahrung des überwiegenden Teils der österreichischen Bevölkerung nur sehr partiell (übereingestimmt)“ .8 Letzteres betraf, wie Waldheim paradigmatisch zum Ausdruck gebracht hatte, vor allem die Selbstwahrnehmung der Generation der ehemaligen Wehrmachtssoldaten . Ihre gesellschaftliche und politische Integration wurde nach der kurzen Phase der Entnazifizierung und der Würdigung des antinazistischen Widerstands zu einem zentralen Tätigkeitsfeld staatlicher Vergangenheitspolitik, insbesondere mit dem Ende der alliierten Besatzung . Die frühe pauschale Viktimisierung Österreichs und der ÖsterreicherInnen erfüllte zwar die Funktion einer negativen nationalen Abgrenzung gegenüber Deutschland . Wie aus der Nationsforschung bekannt, ist damit allein aber keine Nation zu machen . Sie entsteht – bezogen auf die Vergangenheit – erst in der geteilten Anerkennung der „Opfer, die man erbracht hat“,9 oder in Anlehnung an Benedict Anderson, durch die Vorstellung, dass auch die Wehrmachtssoldaten „weniger getötet haben als bereitwillig gestorben sind“ .10 Die Beobachtung von Heidemarie Uhl, dass der Widerspruch zwischen Opferthese und Würdigung der Pflichterfüllung „bis 1986 kaum aufgefallen war“,11 kann daher als Indiz dafür gewertet werden, dass es eine Form der politischen Vermittlung von Opferthese und Pflichterfüllung gab, die in der Gesellschaft breiten Konsens gefunden hat und in der Waldheim-Debatte aufgebrochen ist . Warum fand der viel zitierte Übergang vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese, dem Bekenntnis der Mitwirkung von ÖsterreicherInnen an den Verbrechen des NS-Regimes in den 1990er-Jahren,12 aber gerade am staatlichen Heldendenkmal Zit . nach Cornelius Lehnguth: Waldheim und die Folgen . Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich, Wien 2013, S . 111 . 8 Walter Manoschek: Verschmähte Erbschaft . Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus 1945 bis 1955, in: Reinhard Sieder, Heinz Steinert, Emmerich Tálos (Hrsg .): Österreich 1945–1995 . Gesellschaft, Politik, Kultur, Wien 1995, S . 94–106 . Vgl . Heidemarie Uhl: Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese . NS-Herrschaft, Krieg und Holocaust im „österreichischen Gedächtnis“, in: Christian Gerbel et al . (Hrsg .): Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung . Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik, Wien 2005, S . 50–85, hier S . 56 . 9 Ernest Renan: Was ist eine Nation? Vortrag an der Sorbonne, gehalten am 11 . März 1882, in: Ders .: Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, Wien 1995, S . 57 . 10 Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation, Frankfurt am Main 1988, S . 17 . 11 Heidemarie Uhl: Auf dem Weg zu einer neuen militärischen Gedenkkultur . Die Militärhistorische Denkmalkommission (MHDK) im Kontext der Transformation des österreichischen Gedächtnisses, in: Dieter A . Binder, Heidemarie Uhl (Hrsg .): 20 Jahre MHDK 1994–2014 . Eine Bilanz, Wien 2014, S . 45–52, hier S . 47 . 12 Vgl . exemplarisch Uhl: Vom Opfermythos, 2005, S . 74 f .; Lehnguth: Waldheim, 2013, S . 205 . 7

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nicht statt? Ausgerechnet hier konnte die in der Waldheim-Debatte in Verruf gekommene „Pflichterfüllung“ österreichischer Wehrmachtssoldaten bis vor wenigen Jahren weiter positiv erinnert werden . Davon abgesehen mag es merkwürdig erscheinen, dass auch die jüngste Transformation des Heldendenkmals kaum öffentliche Kontroversen ausgelöst hat . Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, beide Phänomene zu erklären: die Herausbildung, Stabilität und Resilienz einer nationalen Geschichtspolitik, die im Heldendenkmal ihre architektonische Abbildung fand, und seine leise und unvollendete Transformation in den vergangenen Jahren . Im ersten Teil untersuchen wir die Geschichte des Heldendenkmals seit seiner Etablierung im Jahr 1934 und konzentrieren uns dabei auf die Etablierung, Gestaltung und Veränderung sowie auf deren Legitimierungen durch die wesentlichen staatlichen und gesellschaftlichen Akteure in den 1950er- und 1960er-Jahren . Uns interessiert die Frage, wie der skizzierte, unvereinbar erscheinende Widerspruch politisch bearbeitet wurde, als in den ersten Jahren der vollen Souveränität Österreichs zunehmend und zum Teil massive erinnerungspolitische Konflikte auftraten . Als Ergebnis skizzieren wir eine versäulte staatliche Geschichtspolitik, deren Ziel die Pazifizierung vorangegangener Konflikte innerhalb staatlicher Institutionen und der Zivilgesellschaft war . Im zweiten Teil unseres Aufsatzes untersuchen wir den politischen Prozess zur jüngsten Transformation des Heldendenkmals und konzentrieren uns dabei auf die Analyse der treibenden Kräfte der Veränderung und den staatlichen Umgang mit dieser Herausforderung . Unsere These ist, dass die jüngsten Transformationen aus durchaus ähnlichen Konflikten wie in den späten 1950er- und 1960er-Jahren resultierten . Im völlig veränderten Kontext der seit Mitte der 1990er-Jahre entstandenen europäischen Erinnerungskultur mit dem Holocaust als zentralem negativen Bezugspunkt bot es jedoch keinen Ansatzpunkt mehr für das Austarieren gegenläufiger Geschichtsinterpretationen zum Zweiten Weltkrieg . Erkannt als „Ort staatlicher Peinlichkeit“13 (Die Grünen), als „Relikt aus vorrepublikanischen Zeiten“14 ( Jörg Echternkamp), blieb nur mehr eine rasche Entrümpelung, die ein Provisorium für temporäre Ausstellungen zur NS-Gewalt und zum Holocaust ermöglichte .

Stenographisches Protokoll der 155 . Parlamentssitzung, 14 .5 .2012, abrufbar unter URL: www .parlament . gv .at . 14 Jörg Echternkamp: Der Wiener Heldenplatz als Erinnerungslandschaft . Das „Heldendenkmal“ im Wandel des staatspolitischen Gefallenengedenkens der Zweiten Republik, in: Juliane Alton et al . (Hrsg .): „Verliehen für die Flucht vor den Fahnen“ . Das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz in Wien, Göttingen 2016, S . 84–103, hier S . 91 . 13

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Das Österreichische Heldendenkmal: Von der damnatio memoriae zum verordneten Vergessen

Das Heldendenkmal ist eine Hinterlassenschaft des austrofaschistischen Regimes .15 Erst nach dem Staatsstreich von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im März 1933 konnte die Vereinigung zur Errichtung eines Österreichischen Heldendenkmals unter der Führung hochrangiger Militärs und Veteranen der kaiserlichen Armee und dem Ehrenschutz der Bundesregierung, der Landeshauptleute, dem hohen katholischen Klerus zur Umsetzung schreiten . Die Entmachtung der Sozialdemokratie bedeutete für die Denkmalsetzer zugleich die Überwindung jener „unglückliche(n) Einstellung mancher Teile der Bevölkerung zu den großen Ideen der früheren Zeit“,16 die das Denkmal bislang verhindert hatte . Nach einem Wettbewerb erhielt der Architekt Rudolf Wondracek im Februar 1934 den Zuschlag der Jury . Er baute in das Burgtor zwei Gedenkorte ein: eine nach oben offene Ehrenhalle oberhalb der Durchfahrt, gewidmet den Gefallenen der kaiserlichen Armee bis 1914, und eine katholische Krypta mit Altar zu Ehren der Gefallenen des Ersten Weltkrieges im rechten Seitenflügel, dominiert von einer mächtigen, liegenden Soldatenfigur aus rotem Marmor . Die Skulptur des toten Soldaten schuf der Bildhauer Wilhelm Frass . Links davon in einem durch Säulen getrennten Nebenraum kamen „Totenbücher“ zur Ausstellung, welche die Namen aller Weltkriegsgefallenen enthielten . Im anderen, linken Flügel des Burgtors wurde ein kleiner „allgemeiner Kultraum“ für nicht-katholische Bekenntnisse eingerichtet – im Ehrenkomitee des Heldendenkmals waren Repräsentanten der Evangelischen Kirche und der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) vertreten .17 Etabliert am Übergang vom Heldenplatz, dem Schauplatz imperialer und Die älteren Darstellungen konzentrieren sich hauptsächlich auf die Vorgeschichte und Frühgeschichte des Heldendenkmals: Ingeborg Pabst: Das österreichische Heldendenkmal im äußeren Burgtor in Wien, in: Michael Hütt (Hrsg .): Unglücklich das Land, das Helden nötig hat: Leiden und Sterben in den Kriegerdenkmälern des 1 . und 2 . Weltkrieges, Marburg 1990, S . 11–27; Barbara Feller: Ein Ort patriotischen Gedenkens . Das österreichische Heldendenkmal im Burgtor in Wien, in: Jan Tabor (Hrsg .): Kunst und Diktatur . Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922–1956, Baden 1994, S . 142–147; Joachim Giller et al .: Wo sind sie geblieben? Kriegerdenkmäler und Gefallenenehrung in Österreich, Wien 1992, S . 82 f .; Friedrich Grassegger: Denkmäler des autoritären Ständestaates . Repräsentationen staatlicher und nationaler Identität Österreichs 1934–1938, in: Stefan Riesenfellner (Hrsg .): Steinernes Bewusstsein I . Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österrreichs in seinen Denkmälern, Wien et al . 1998, S . 495–547 . Heidemarie Uhl hat Einzelaspekte der Veränderungen im Heldendenkmal mehrfach in ihren Überblicksdarstellungen zu den Transformationen des österreichischen Gedächtnisses seit 1945 analysiert . Neben der bereits zitierten Literatur: Heidemarie Uhl: Denkmäler als Medien gesellschaftlicher Erinnerung . Die Denkmallandschaft der Zweiten Republik und die Transformationen des österreichischen Gedächtnisses, in: Regina Fritz, Carola Sachse, Edgar Wolfrum (Hrsg .): Nationen und ihre Selbstbilder . Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008, S . 62–89 . 16 Vereinigung zur Errichtung eines österreichischen Heldendenkmals: Österreichisches Heldendenkmal . Gedenkschrift anlässlich der Weihe des österreichischen Heldendenkmals am 9 . September 1934, Wien 1934, Umschlag . 17 Ebd ., S . 51 . Ob dieser Raum je genutzt wurde, konnte bislang nicht eruiert werden . 15

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christlich-sozialer Paraden, Versammlungen und Veranstaltungen, und der Ringstraße sowie in der Nähe des Rathausplatzes, beides Orte sozialdemokratischer Massenkundgebungen18, verstanden die Initiatoren die Platzierung des Denkmals im Burgtor unverhohlen als ein triumphales Symbol der Auslöschung des „Roten Wien“ und generell der Sozialdemokratie . Der Protektor des Denkmalkomitees Generaloberst Viktor Dankl von Krásnik sprach den Kampf um die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in seiner Festrede direkt an . Mit dem Ehrenmal sei nun der Tag gekommen, an dem die kaiserliche Armee wieder stolz erhobenen Hauptes vor die Welt treten könne . Und weiter: „Die Feinde des Heeres aber, die nicht nur seinen Untergang herbeiführen, sondern ihm auch mit den niedrigsten und verwerflichsten Mitteln das Stigma der Schande aufdrücken wollten, sind verschwunden, ein schwarzer Schleier hat sich über sie gesenkt wie über das Bild des Marin Faliero im Dogenpalast zu Venedig“ .19 Wenige Monate nach der Hinrichtung von aufständischen Sozialdemokraten und der Verhüllung des 1928 an der Ringstraße neben dem Parlament von der sozialdemokratischen Wiener Stadtregierung errichteten Republikdenkmals ausgesprochen, ist die Referenz auf Marin Faliero,20 dem 1354 wegen eines Komplotts gegen die Patrizier hingerichteten Dogen der Republik von Venedig, aufschlussreich . Die Denkmalsetzung war nicht nur im Sinne einer „Ehrenrettung“ des Militärs gedacht, sondern im Sinne einer damnatio memoriae, als Auslöschung der Erinnerung an „Verräter“ und nach gescheiterten Aufständen zu „Staatsfeinden“ erklärten Politikern, wie sie die Verhüllung des Porträts Falieros in der Dogengalerie paradigmatisch ausdrückt .21 Das Heldendenkmal symbolisierte damit den historischen Bruch mit der Demokratisierung seit der Revolution von 1918/19, die ganz wesentlich eine von der Sozialdemokratie und Soldatenräten betriebene Demokratisierung der Armee beinhaltet hatte . Als zweites politisches Signal symbolisierte das Heldendenkmal die Selbstbehauptung des austrofaschistischen Regimes gegenüber NS-Deutschland . Dieser Anspruch war tatsächlich bereits 1934 unterminiert . Im Dezember 1938 offenbarte Frass dem Völkischen Beobachter, dass er in das Fundament des „Toten Soldaten“ eine Kapsel mit einer nationalsozialistischen Botschaft gelegt hatte, welche die Vereinigung mit NS-Deutschland herbeisehnte .22 Seine Figur versperrte sich den Nationalsozialisten weder ästhetisch noch von der Sinngebung her . Frass hatte sie als „Symbol des Urgedankens des Soldaten“, „letzter Pflichterfüllung“ und innersten Gehorsams gedacht .23

Ernst Hanisch: Wien: Heldenplatz, in: Transit . Europäische Revue 15 (1998), S . 122–140 . Vereinigung zur Errichtung eines österreichischen Heldendenkmals: Österreichs Heldenfeier 9 . September 1934, Wien 1934, S . 13 . 20 Richard Cavendish: Execution of Marin Falier, doge of Venice: April 18th, 1355, in: History Today 55 (2005), S . 53 . 21 Vgl . zur damnatio memoriae: Paul Connerton: Seven types of forgetting, in: Memory Studies 1 (2008), S . 59–71, hier S . 60 f . Zur Verhüllung des Republikdenkmals siehe Grassegger: Denkmäler, 1998, S . 499 . 22 Vgl . Völkischer Beobachter, 25 ./26 .12 .1938, S . 6 . 23 Vereinigung zur Errichtung eines österreichischen Heldendenkmals, Gedenkschrift, 1934, S . 17 . 18 19

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Hitler erinnerte zusätzlich daran, dass die toten „österreichischen Helden des Weltkrieges (…) ihr Leben für die Gemeinsache Gesamtdeutschlands gelassen“ hätten .24 Auch was die Praxis des Bundesheeres betraf, hatte Hitler keinen Grund zur Klage . Es leistete im März 1938 keinen Widerstand gegen den Einmarsch deutscher Truppen und folgte damit dem Auftrag von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, die Verteidigung des Staates hinter ein höheres Gemeinsames zu stellen, also kein „deutsches Blut“ zu vergießen . Bereits in den Tagen des „Anschlusses“ führte das NS-Regime Gedenkveranstaltungen am Heldendenkmal durch, ohne Veränderungen im symbolischen Haushalt vornehmen zu müssen . Während des Krieges veranstalteten Wehrmacht und NS-Verbände am „Heldensonntag“ (16 . März) in der Krypta Feiern für die Gefallenen beider Kriege unter Einbeziehung der Hinterbliebenen, von Verwundeten und Kriegsversehrten .25 Nach der Wiedergründung der Republik am 27 . April 1945 blieb das Heldendenkmal für einige Jahre verwaist . Die Alliierten nutzten den Heldenplatz für Militärparaden und das Ritual der monatlichen Wachablöse des jeweiligen Hochkommissars .26 In der österreichischen Innenpolitik stand im Bereich der symbolischen Vergangenheitspolitik zunächst das Gedenken an die politischen Opfer der NS-Verfolgung im Vordergrund, spielte sich in Wien aber nicht im Zentrum, sondern am Zentralfriedhof an der Stadtperipherie und in den Arbeiterbezirken an Betriebsstandorten ab . Die Etablierung eines Denkmals für die Opfer des Nationalsozialismus scheiterte 1946 an parteipolitischen Differenzen innerhalb der großen Koalition aus ÖVP und SPÖ um die Interpretation der politischen Repression während des Austrofaschismus .27 In der Zivilgesellschaft spaltete sich die Erinnerungspolitik in den 1950er-Jahren zunehmend auf: Das Gedenken an die Opfer der politischen Verfolgung wurde von einem immer massiver werdenden Gefallenengedenken verdrängt . Dieser Prozess manifestierte sich nicht nur in den Bundesländern, sondern auch in Wien und hier vor allem am Heldendenkmal . Ab 1950 nahm die Katholische Kirche die Krypta für regelmäßige Gedenkgottesdienste in Anspruch . Ein Jahr später gesellten sich Verbände von Wehrmachtsveteranen hinzu .28 Als 1954 ehemalige Widerstandskämpfer am Heldendenkmal auch der ermordeten WiderstandskämpferInnen gedenken wollten, stieß das Ansinnen auf

Vgl . Josef Dvorak: Von Krucken-, Haken- und anderen Kreuzen, in: Forum, März/April 1988, S . 22–29, hier S . 26 . 25 Siehe etwa: Imposante Gedenkfeier auf dem Heldenplatz, in: Wiener Montagblatt, 16 .3 .1942, S . 2 . 26 Herbert Haupt: Der Heldenplatz . Ein Stück europäischer Geschichte im Herzen von Wien, in: Alisa Douer (Hrsg .): Wien Heldenplatz . Mythen und Massen 1848–1998, Wien 2000, S . 13–22, hier S . 21 . 27 Vgl . Peter Pirker: Vom Kopf auf die Füße . Das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz in der Erinnerungslandschaft Wien, in: Juliane Alton et al . (Hrsg .): Das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz in Wien, Göttingen 2016, S . 126–159 . 28 URL: https://www .oeaw .ac .at/fileadmin/Institute/IKT/PDF/Folder_Heldendenkmal .pdf, letzter Zugriff: 12 .2 .2018 . 24

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antikommunistisch motivierte Ablehnung sowohl bei ÖVP als auch bei SPÖ .29 Zugleich untersagte das Innenministerium aber auf Betreiben von SPÖ und KPÖ eine geplante Kundgebung der im Österreichischen Kameradschaftsbund (ÖKB) zusammengeschlossenen Veteranenverbände vor dem Heldendenkmal aus Anlass des 20 . Jahrestages seiner Errichtung .30 Erst mit der vollen Souveränität Österreichs 1955, dem Abzug der Alliierten und der Wiederaufstellung des Bundesheeres im selben Jahr, begannen staatlicherseits Bemühungen, dem Heldendenkmal den Charakter eines „Nationaldenkmals aller Österreicher“31 zu geben . Die Initiative dafür ging vom ÖKB aus, der für den Sonntag nach dem Allerseelentag, am 6 . November 1955, zur ersten großen „Gedächtnis-Feier für die Toten und die Opfer des ersten und zweiten Weltkrieges“ auf dem Heldenplatz mit einer Feldmesse, zelebriert vom Militärbrigadepfarrer und einer Kranzniederlegung in der Krypta aufrief .32 Staatlicherseits aufgenommen wurde die Initiative von der ÖVP, die mit Staatssekretär Ferdinand Graf die politische Verantwortung für das Bundesheer trug . Um welche Würdigung es dem ÖKB ging, ist dem Aufrufplakat zu entnehmen: Dem ÖKB zufolge waren es die gefallenen Soldaten, die „wohl das größte Opfer gebracht“ haben, um die „Freiheit von Heimat und Vaterland“ zu erringen . Diese Art der „Gedächtnis-Feier“ für k . u . k .- und Wehrmachtssoldaten stieß noch auf beträchtliche Vorbehalte in der Sozialdemokratie .33 In der SPÖ gab es nach 1945 nicht nur eine innerparteiliche Opposition gegen die Wiederbewaffnung, sondern auch unter Bundesheerbefürwortern Stimmen, die einen Traditionsbezug der neuen Armee zu den Armeen vor 1945 vehement ablehnten .34 An der ersten Gefallenen-Gedenkfeier von ÖKB und Bundesheer, dessen Führungskader starke personelle Kontinuitäten zur Wehrmacht aufwies,35 nahmen daher ausschließlich ÖVP-Regierungsmitglieder teil, obwohl auch die Militärattachés der ehemaligen Besatzungsmächte anwesend waren, die damit signalisierten, keine Probleme mit der Positionierung des nationalen Gefallenengedenkens im Heldendenkmal zu haben .36 In seiner Gedenkrede konstruierte Vgl . Richard Hufschmied: Der 20 . Juli 1944 in Wien und Fallbeispiele der Widerstandsrezeption in der Zweiten Republik, in: Heeresgeschichtliches Museum Wien (Hrsg .): Zeitenwende 1944, Wien 2015, S . 213–236, hier S . 228 f . 30 Eine Kundgebung beim Heldendenkmal verboten, in: Arbeiter-Zeitung, 3 .11 .1954, S . 3 . 31 APA, 6 .11 .1955 . 32 Das Plakat mit dem Aufruf ist im Haus der Geschichte Österreichs ausgestellt . 33 Dem Andenken der Toten, in: Arbeiter-Zeitung, 3 .11 .1955, S . 2 . Die Arbeiter-Zeitung berichtete über die Gedenkfeiern am Zentralfriedhof, verlor zugleich aber kein Wort über die Gedenkfeier in der Krypta . 34 Vgl . Peter Pirker: Subversion deutscher Herrschaft . Der britische Kriegsgeheimdienst SOE und Österreich, Göttingen 2012, S . 464f; Christian Neissl: Die Wehrpolitik der Sozialdemokratie im Spiegel ihrer Parteiprogramme von 1945 bis zum Ende des Kalten Krieges, Diplomarbeit, Universität Wien, 2008, S . 44 . 35 Hubertus Trauttenberg: Die Rezeption des militärischen Widerstandes im Bundesheer der Zweiten Republik, in: Manfried Rauchensteiner (Hrsg .): Tyrannenmord . Der 20 . Juli 1944 in Österreich . Begleitband zur Sonderausstellung im Heeresgeschichtlichen Museum, Wien 2004, S . 72–93, hier S . 81 . 36 APA, 2 .11 .1955 . Das Gefallenengedenken der Kameradschaftsverbände war von den Alliierten bereits in den Jahren zuvor toleriert worden . Sie drängten die österreichischen Behörden vor allem zur Einhaltung 29

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Staatssekretär Ferdinand Graf, der politischer Häftling im Konzentrationslager Dachau und später Unteroffizier der Wehrmacht in einem Bewährungsbataillon gewesen war, eine Gemeinschaft aus den Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkrieges, den seit 1945 im Dienst umgekommenen Beamten von Gendarmerie, Zollwache, Polizei, den Bundesheersoldaten und den Kameradschaftsverbänden . Über alle staatlichen Formen und politischen Regime hinweg betonte er die Pflichterfüllung als einigendes Band, welche die Exekutivbeamten der Zweiten Republik „genauso ernst genommen haben wie der Soldat an der Front“ .37 Als zweiten Zusammenhang konstruierte er eine historische Kontinuität Österreichs, indem er alle erwähnten Gruppen als Angehörige eines „kleinen, aber mutigen Volkes“ (nicht eines Staates) würdigte, „die für Österreich ihr Leben ließen“ . Die Kameradschaftsbünde adressierte er als wichtige Träger des patriotischen Wehrgedankens in der Gesellschaft .38 Die positive Bewertung von soldatischer Pflichterfüllung und Aufopferung für den Staat über alle politischen Regime hinweg stand in einem Spannungsverhältnis zur Staatsdoktrin der inklusiven Opferthese, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung formuliert worden war . Darin figurierten die österreichischen Wehrmachtssoldaten nicht als Pflichterfüller, sondern als widerwillige und gezwungene Soldaten .39 Dieser Widerspruch bestand aber nicht zwischen staatsoffizieller Opferthese und inoffizieller wehrmachtsfreundlicher Erinnerungskultur von Veteranenverbänden,40 sondern war auf Regierungsebene präsent . Das ÖVP-geführte Wirtschaftsministerium als Eigentümer überließ 1955 dem ebenfalls ÖVP-geführten Verteidigungsministerium die Krypta, das den Symbolhaushalt um Totenbücher für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges und um die Inschrift „1938–1945“ in der Apsis hinter dem liegenden Soldaten und dem Altar ergänzte . Wie 1934 wurde die Krypta – nun unter demokratischen Vorzeichen – damit von einer Koalition aus konservativer Regierungspartei, Bundesheer, Kirche und Veteranenverbänden den bereits bestehenden Kriegerdenkmälern nachgebildet . Diese Koalition, an der sich vor allem auf Landesebene zunehmend SPÖ-Politiker beteiligten, bildete sehr rasch ein mächtiges erinnerungspolitisches Netzwerk, bei dem es erstens um die gesellschaftliche Integration der Wehrmachtssoldaten ging, zweitens der gebotenen Trennung von deutschen Kameradschaftsverbänden und des Verbots, Abzeichen mit NS-Insignien zu tragen . Siehe dazu: Mathew Paul Berg: Challenging Political Culture in Postwar Austria: Veterans‘ Associations, Identity and the Problem of Postwar History, in: Central European History 30 (1997), S . 514–544, hier S . 533 f . 37 APA, 6 .11 .1955 . 38 Das Führungspersonal des ÖKB hatte bereits beim Aufbau des Bundesheeres unter Beobachtung der Westalliierten eine bedeutende Funktion gespielt, siehe dazu Pirker, Subversion deutscher Herrschaft, S . 465 f . 39 Siehe zu einer jüngeren Diskussion der Entstehung der Opferthese: Peter Pirker: British Subversive Politics towards Austria and Partisan Resistance in the Austrian-Slovene Borderland, 1938–1945, in: Journal of Contemporary History 52 (2017) 2, S . 319–351 . 40 Thomas Grischany: Der Ostmark treue Alpensöhne . Die Integration der Österreicher in die großdeutsche Wehrmacht 1938–1945, Göttingen 2015, S . 278 .

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um die Pflege eines großen Wählerpotenzials und drittens auch um das Ausloten eines von Deutschland getrennten Wehrmachtsgedenkens, das sich in eine patriotische politische Kultur einfügen ließ . Letzteres betraf die heikle Frage, wie sich eine positive Bewertung des Wehrmachtsdienstes, die unter Wehrmachtsveteranen vorherrschend war und vom ÖKB kultiviert wurde, mit dem Bekenntnis zur österreichischen Nation vereinbaren ließ . Die Bearbeitung dieses Widerspruches war im Kontext der staatspolitischen Herausforderung, eine positive Österreich-Identität in Abgrenzung zu Deutschland aufzubauen, eine Aufgabe, die sich insbesondere den politischen Eliten von ÖVP und SPÖ stellte . Auf der Ebene der Parteienkonkurrenz bildete die deutschnationale Orientierung der FPÖ, die ebenfalls stark mit den Kameradschaftsverbänden verbunden war, einen nicht zu unterschätzenden Gegenpol .41 Ein Modus der Bearbeitung des historischen Widerspruchs war die Deutung des Wehrmachtsdienstes als Pflichterfüllung zur „Verteidigung der Heimat und des Vaterlandes“ .42 Diese Deutung des Wehrmachtsdienstes erwies sich als integrativ, gerade weil sie viel Interpretationsspielraum offen ließ . Bei ehemaligen Widerstandskämpfern stieß sie auf heftige Kritik .43 Diese richtete sich aber nicht gegen das Soldatengedenken, sondern war vor allem darum bemüht, es in den Opferdiskurs einzugemeinden und dem ÖKB das Monopol auf die Bestimmung des Soldatengedenkens streitig zu machen .44 Ein integratives Gedenken an NS-Opfer, Widerstandskämpfer und Wehrmachtssoldaten war im Opfergedenken möglich, allerdings nur wenn letztere ihre Kriegsteilnahme als erzwungen im Sinne der Unabhängigkeitserklärung auffassten . Im Pflichterfüllungsgedenken kam der Widerstand hingegen nur als negative Folie vor . Für die Bundesregierung wurde angesichts zunehmender erinnerungspolitischer Konflikte die Befriedung dieser konfliktträchtigen Konstellation zu einem staatspolitischen Ziel . Als Widerstandskämpfer aller politischen Lager 1958 – die „Besetzung“ Österreichs jährte sich zum 20 . Mal – das Fehlen eines Erinnerungszeichens der Republik für die Widerstandskämpfer kritisierten, beschloss der Ministerrat, an der linken Seite des Burgtores eine entsprechende Tafel anzubringen .45 Verbände ehemaliger Widerstandskämpfer und KZ-Opfer begrüßten diese Entscheidung als Würdigung der tatsächlichen „Helden“ Österreichs .46 Dass sich innerhalb der Regierungskoalition Vgl . Berg: Challenging Political Culture, 1997, S . 518; Biljana Menkovic: Politische Gedenkkultur . Denkmäler – Die Visualisierung politischer Macht im öffentlichen Raum, Wien 1999, S . 119–123 . 42 Vgl . Walter Manoschek: Österreichische Opfer der NS-Militärjustiz: Auf dem langen Weg zur Rehabilitierung, in: Thomas Geldmacher et al . (Hrsg .): „Da machen wir nicht mehr mit …“ Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010, S . 31–49, hier S . 36 . 43 Walter Hacker: Sollen Österreicher Hitlers Sieg über Norwegen feiern?, in: Neues Österreich, 28 .6 .1960, abgedruckt in: Walter Hacker (Hrsg .): Warnung an Österreich . Neonazismus: Die Vergangenheit bedroht die Zukunft, Wien 1966, S . 85–89 . 44 Broschüre der Österreichischen Widerstandsbewegung, o . J ., [Wien 1963], S . 3, Archiv Verein für die Geschichte der Arbeiterbewegung, Nachlass Walter Hacker, Karton 38C . 45 Vgl . die Rekonstruktion der Entstehung der Gedenktafel bei Uhl: Denkmäler, 2008, S . 76–78 . 46 Gedenktafel für Österreichs Helden, in: Der Neue Mahnruf 11 (1958) 3, S . 1 . 41

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gegenüber 1946 an den disparaten Einschätzungen der Vergangenheit – und hier insbesondere wiederum hinsichtlich der österreichischen Diktatur – wenig geändert hatte, zeigte der Text der Tafel, als sie 1959 enthüllt wurde: „Im Gedenken an die Opfer im Kampf für Österreichs Freiheit – die österreichische Bundesregierung“ . Verändert hat sich aber der Umgang mit den Differenzen . Was 1955 unter dem integrativen Begriff der „Pflichterfüllung“ für Wehrmachtssoldaten geschehen war, wurde nun unter dem Begriff des „Opfers“ für Freiheitskämpfer nachgeholt . Ohne spezifische Jahreszahlen, Bezeichnungen der Regime zwischen 1933 und 1945 oder Namen zu nennen, wurden alle Differenzen eingeebnet und unter einem gegenwartsbezogenen patriotischen Motiv versöhnt, dem „Glaube(n) an Österreich“ .47 Mit der Entscheidung, das Opfergedenken in das Heldendenkmal zu integrieren, wurde das Burgtor Ende der 1950er-Jahre tatsächlich zu einer Baustelle eines nationalen Erinnerungsortes, an dem gegenläufige historische Erfahrungen und aktuell differierende Erinnerungskulturen politischer Lager und sozialer Gruppen zumindest nebeneinander repräsentiert werden sollten . Die Krypta wurde in dieser Phase interessanterweise nicht zum Gegenstand von Beschwerden der Widerstands- und Opferverbände . Die einzige – im damaligen Kontext – radikale Kritik entsprang der konfrontativen und deshalb gesellschaftlich randständigen Subkultur des Wiener Aktionismus . Der junge Tiefenpsychologe Josef Dvorak sprach 1962 in der Zeitschrift Die Blutorgel erstmals das Tabu der subkutanen nationalsozialistischen Codierung der Soldatenskulptur in der Krypta aus, indem er Frass’ Offenbarung aus dem Völkischen Beobachter zitierte .48 Dvoraks Tabubruch blieb unbeachtet . Andererseits wurde Ende der 1950er-Jahre auch der ÖVP klar, dass die Erinnerungskultur der Veteranenverbände stärker kontrolliert werden musste . Die beiden Regierungsparteien beschlossen 1960 ein Abzeichengesetz, das einen für die politische Kultur bezeichnenden Kompromiss beinhaltete . Verboten wurde das Tragen von Symbolen nationalsozialistischer Organisationen, nicht jedoch von Orden der Wehrmacht .49 Gegen weitergehende Einschränkungen wehrte sich der ÖKB erfolgreich . 1963 verbat SPÖ-Innenminister Franz Olah, ehemaliger KZ-Häftling, dem ÖKB „Aufmärsche und Defilierungen in militärischer Formation“, nachdem ein Kameradschaftsverein in Niederösterreich die Einbeziehung von KZ-Opfern in eine Gedenkstätte für Gefallene kategorisch ausgeschlossen hatte . Olah musste das Verbot sehr rasch zurückziehen, nachdem SPÖ-Politiker, die zugleich Funktionäre des ÖKB waren, scharf protestierten und 30 .000 ÖKB-Mitglieder mit SPÖ-Parteibuch dagegen aufbegehrten .50 Der ÖKB führte der Regierung seine gesellschaftspolitische Macht damit drastisch vor Augen und wehrte sich weiter-

Dies kam insbesondere in der Rede von Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP) zum Ausdruck . Siehe: Österreich ehrt seine treuesten Söhne, in: Arbeiter-Zeitung, 17 .7 .1959, S . 1 . 48 Josef Dvorak in: Die Blutorgel . Wiener illustrierte politische Zweimonatsschrift 3 (1962/63), S . 2 . 49 Berg, Challenging Political Culture, 1997, S . 540 . 50 Großes Kreuz, in: Der Spiegel, 23 .10 .1963, S . 104 f . 47

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hin gegen die Gleichstellung von Widerstandskämpfern („Mörder“) mit Wehrmachtssoldaten („ihre Opfer“) .51 Eine erste Nagelprobe für den Abgleich von Opfer- und Pflichterfüllungserinnerung war das Jahr 1965, als die Zweite Republik im Kontext eines Wahljahres ihr erstes großes „Gedenkjahr“ beging: 20 Jahre Unabhängigkeitserklärung (27 . April), 10 Jahre Unterzeichnung des Staatsvertrages (15 . Mai) und 10 Jahre Neutralitätsgesetz (26 . Oktober) . Geprägt waren die ersten Monate des Jahres 1965 von der bislang wohl heftigsten geschichts- und vergangenheitspolitischen Kontroverse der Zweiten Republik – der sogenannten „Borodajkewycz-Affäre“ . Der Professor an der Hochschule für Welthandel Taras Borodajkewycz fiel seit Ende der 1950er-Jahre durch antisemitische, revisionistische und offen deutschnationale Bemerkungen auf . So hatte Borodajkewycz, der vor 1938 der Vaterländischen Front und dem katholischen Cartellverband angehört hatte und schließlich der NSDAP beigetreten war, die antifaschistische Erinnerungskultur ähnlich dem Duktus des ÖKB als verwerfliche moralische und geistige Haltung bezeichnet, „die den bisherigen Ehrenkodex der Menschheit umstülpte und Feigheit, Fahnenflucht und Verrat als die wahren Tugenden des österreichischen Mannes pries“ .52 Lange hielt die ÖVP ihre schützende Hand über Borodajkewycz und auch innerhalb der SPÖ-Führung gab es wenig Interesse an einem geschichtspolitischen Konflikt . Als am 31 . März der Nationalrat über Borodajkewycz diskutierte, standen sich auf der Straße Kundgebungen pro und contra Borodajkewycz gegenüber – bei den folgenden gewaltsamen Zusammenstößen schlug ein rechtsextremer Aktivist den ehemaligen kommunistischen Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger nieder . Kirchweger starb wenige Tage später an seinen Verletzungen . Die Borodajkewycz-Affäre hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Gestaltung der Republiksfeier zum 20 . Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung . Nach dem Beginn des Konfliktes kündigte die Bundesregierung eine Umgestaltung des Heldendenkmals an, die eine Aufwertung des Gedenkens an den Freiheitskampf vorsah .53 Anstelle der 1959 angebrachten Gedenktafel wurde der Kultraum für nichtkatholische Bekenntnisse im linken Flügel des Burgtors, in dem sich zuletzt eine Polizeiwachstube befunden hatte, in einen „Weiheraum für die Opfer im Kampf für Österreichs Freiheit“ umgewandelt .54 Damit versuchte die Regierung eine Art symbolische Parität zwischen Opfer- und Gefallenengedenken herzustellen . Auch die räumliche und zeitliche Dramaturgie der Republiksfeier wiederspiegelte die nachholende Integration des Opfergedenkens in das Heldendenkmal . Nach der bislang größten Parade des Bundesheeres auf der Ringstraße mit deutlichen altösterreichischen Reminiszenzen folgte am Abend am Heldenplatz eine Gedenkfeier für die Opfer der NS-Verfolgung mit anschließen51 52 53 54

Vgl . Hacker, Warnung, 1966, S . 176 . Zit . nach Rafael Kropuinigg: Eine österreichische Affäre . Der Fall Borodajkewicz, Wien 2015, S . 41 . APA, 3 .2 .1965 . Vgl . Uhl, Denkmäler, 2008, S . 79 . Eine Integration nichtchristlicher Bekenntnisse in die Krypta blieb bis zuletzt aus .

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der Eröffnung des Weiheraums .55 Für die SPÖ sprach Verkehrsminister Otto Probst, politischer Häftling vor 1938, Überlebender des KZ Buchenwald und einer Strafkompanie der Wehrmacht; für die ÖVP ergriff Handelsminister Fritz Bock das Wort . Er war während des Austrofaschismus bei der Vaterländischen Front für antinazistische Propaganda zuständig und im KZ Dachau inhaftiert gewesen . Die beiden Redner waren bemüht, eine möglichst weite und inklusive österreichische Opfergemeinschaft zu konstruieren . Für Probst gehörten hierzu die politischen Häftlinge des Austrofaschismus, die hingerichteten politischen Gegner des NS-Regimes, die Opfer der Konzentrationslager, Gestapo-Gefängnisse und Kerker in den besetzten Ländern, die in den Gaskammern ermordeten Juden und schließlich die „380 .000 Österreicher, die vom erzwungenen Kriegsdienst für Hitler nicht zurückkehrten“, sowie die Opfer des Bombenkrieges . Bock bezog ferner die Opfer der Exekutive während der Februarkämpfe und des NS-Putschversuches im Juli 1934 mit ein, und neben den gefallenen Soldaten, die „ungefragt (…) ihren Dienst tun mussten“ auch jene Österreicher, die freiwillig auf Seiten der Alliierten für die Befreiung Österreichs gekämpft hatten . Zugleich lehnten beide eine gegenwartsbezogene Politisierung des Gedenkens ab und mahnten stattdessen patriotische Haltungen an . Symptomatisch für die staatlicherseits anvisierte Entpolitisierung und Befriedung der Erinnerungskonflikte, zogen weder die Borodajkewycz-Affäre noch die Eröffnung des Weiheraums eine tiefergehende Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit nach sich . Es wurde vielmehr die begonnene staatlich-autoritäre Moderation und Einhegung der beiden Erinnerungskulturen rund um die inklusive Opferthese und um die wehrmachtsfreundliche Pflichterfüllung befestigt . Beim ersten dramatischen Aufbrechen eines vergangenheitspolitischen Skandals kreiert, kann der Weiheraum als Versuch der symbolischen Repräsentation der Einen gelten, um das Übergewicht der Anderen zumindest ansatzweise auszutarieren und die konfliktreiche Fragmentierung heterogener Erinnerungskulturen zu begrenzen . Betrachtet man die folgende Gedenkpraxis an den beiden Orten wird eine weiterhin bestehende Schieflage zugunsten des Soldatengedenkens deutlich . Die Einrichtung des räumlich viel kleineren Weiheraumes erforderte zunächst eine Anpassung der Staatsrituale zu den staatspolitisch als historisch bedeutend markierten Daten 12 . März, 27 . April, 26 . Oktober, der ab 1965 als Staatsfeiertag begangen wurde, sowie am Allerseelentag . Bis 1968 fanden noch jährliche Kranzniederlegungen am Jahrestag des „Anschlusses“ im Weiheraum statt, laut Chronik der Austria Presse-Agentur (APA) folgte darauf jedoch eine Pause bis 1988 . Jährliche Kranzniederlegungen in beiden Räumen sind für den Staatsfeiertag und den Allerseelentag verzeichnet . Schwierig nachvollziehbar ist die Praxis für den 27 . April, an dem offenbar unregelmäßig, jedenfalls aber an manchen runden Jahrestagen bei-

Renée Winter: Geschichtspolitiken und Fernsehen . Repräsentationen des Nationalsozialismus im frühen österreichischen TV (1955–1970), Bielefeld 2014, S . 116 . 55

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de Kranzniederlegungen erfolgten . Zum Staatsprotokoll gehörten außerdem beide Kranzniederlegungen an den Tagen der Vereidigung der neu gewählten Bundespräsidenten . Bei Besuchen ausländischer Verteidigungsminister und Gästen des Bundesheeres waren offenbar – verzeichnet sind nur ganz wenige Ausnahmen – Kranzniederlegungen exklusiv in der Krypta vorgesehen . Jenseits der Staatsrituale wurden die beiden Räume von den Repräsentanten der partikularen Erinnerungskulturen unterschiedlich genutzt . Die Widerstands- und NS-Opferverbände schufen sich in den Jahren nach 1965 neue Gedenk- und Erinnerungsorte, etwa im Hinrichtungsraum des Wiener Landesgerichtes, im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW), am Standort der ehemaligen Gestapoleitstelle . Den Weiheraum bezogen die Widerstandsverbände in ihre Erinnerungstopografie und Erinnerungspraxis mit Ausnahme der Teilnahme kleiner Delegationen an staatlich vorgegebenen Ritualen nur am Rande ein . Außerdem war der Weiheraum für alltägliche BesucherInnen nicht offen zugänglich . Etwas anders verhielt es sich bei der Krypta: Sie war für Publikumsverkehr geöffnet, wurde aber weiterhin unter der Zuständigkeit des Militärvikariats hauptsächlich vom Cluster aus Bundesheer, Verteidigungsministerium und Kameradschaftsverbänden für soldatische Gedenkfeiern im kleinen Rahmen genutzt, erfuhr über diese elitäre Erinnerungsgemeinschaft hinaus aber kaum breitere Öffentlichkeit . Für das Totengedenken der Kameradschaftsverbände blieben große, in den 1950er- und 1960er-Jahren errichtete Kriegerdenkmäler wie am Kärntner Ulrichsberg, auf der steirischen Riegersburg oder im niederösterreichischen Maria Taferl die bedeutenderen Gedächtnisorte . Die integrale nationale Erinnerungsarchitektur des Heldendenkmals mit seinen beiden Säulen des Widerstands- und des Pflichterfüllungsgedenkens stand somit im Schatten der jeweiligen Gedenkorte, an denen die partikularen Erinnerungsgemeinschaften paritätisch politisch integriert wurden . ÖVP-Bundeskanzler Josef Klaus eröffnete 1967 beispielsweise den von den Widerstandsverbänden initiierten Gedächtnisraum in der Hinrichtungsstätte am Wiener Landesgericht und trat als Hauptredner beim Kameradschaftstreffen am Ulrichsberg auf . In den 1970er- und 1980er-Jahren erstarrte das Heldendenkmal zum Symbol eines fragilen erinnerungspolitischen Proporzes, der nicht angetastet werden durfte . Das Heldendenkmal: Symbol nationalen Vergessens

Die staatliche Integration zweier separater Säulen der Erinnerung – des Opfer- und Widerstandsgedenkens und des Pflichterfüllungsgedenkens – zu ermöglichen, erforderte die Durchsetzung spezifischer Formen des Vergessens: – Als Erstes ist die Bearbeitung innerer Widersprüche zu nennen . In der Widerstandsund Opfersäule wurde von oben herab begonnen, die bestehenden partei- und nationspolitischen Differenzen zu 1934 und 1938 zu begraben, um die gegenwärtige

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Anforderung gemeinsamen Regierens zu erleichtern .56 In der Wehrmachtssäule blendeten Verteidigungsministerium und Bundesheer die Tatsache aus, dass die Pflichterfüllung 1938 im Sinne einer Verteidigung Österreichs ausblieb und deklarierten den Wehrmachtsdienst als Pflichterfüllung für das österreichische Volk beziehungsweise das Vaterland . – Zweitens wurde am Heldendenkmal auf das Hervorheben von Personen, an denen sich Konflikte entzünden könnten, ebenso verzichtet wie auf das Benennen politischer Regime . – Drittens verdrängten beide Säulen – in unterschiedlichem Ausmaß – politische Gewalt gegen soziale Gruppen, die positive Selbstbewertungen untergraben konnten . Das betraf vor allem die Diskriminierung und Verfolgung der Juden und Jüdinnen und anderer Opfer der NS-Rassenpolitik . Die Israelitische Kultusgemeinde war bezeichnenderweise nicht Bestandteil der „neuen“ Erinnerungspolitik . – Viertens erforderte die Konstruktion ein starkes Moment der (Selbst-)Disziplinierung der jeweiligen Erinnerungssubkulturen, die jeweils andere Säule nicht offen beziehungsweise öffentlich zu delegitimieren . Hier gab es das größte Konfliktpotenzial, das regierungspolitisch bearbeitet werden musste . Zunächst erforderte die Befriedung eine Anerkennung der beiden Erinnerungskulturen . Die Widerstandssäule erfuhr in den 1960er- und 1970er-Jahren Förderung durch die Regierungen, wurde zugleich aber auf historische Forschung eingehegt . Gegenwartsbezogene Fragen, etwa das Wirken ehemaliger NS-Richter in der Zweiten Republik oder die mangelnde juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, wurden unterdrückt .57 Paradigmatisch zum Ausdruck kam dieses verordnete Vergessen durch Regierungspolitiker58 in der 1965 getätigten Aussage von SPÖ-Justizminister Christian Broda, selbst ehemaliger Widerstandskämpfer, die Republik habe den Schlussstrich gezogen . Ganz ähnlich agierte Bruno Kreisky während seiner Kanzlerschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren .59 Während der ehemalige Exilant das DÖW förderte, sendete er starke politische Signale der Integration und Anerkennung an das Lager ehemaliger Nationalsozialisten und Wehrmachtssoldaten .60

1964 legten die Regierungsspitzen erstmals gemeinsam Kränze an den Gräbern der Toten der Februarkämpfe 1934 nieder . Zur Überbrückung von Differenzen innerhalb der Widerstandsverbände siehe: Brigitte Bailer et al .: Herbert Steiner und die Gründung des DÖW, in: DÖW (Hrsg .): Opferschicksale . Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus, Wien 2013, S . 43–62, hier S . 55 . 57 Vgl . Wolfgang Neugebauer: Der österreichische Widerstand 1938–1945, Wien 2008, S . 15 . 58 Vgl . Connerton: Seven Types, 2008, S . 61 . 59 Maria Wirth: Christian Broda . Eine politische Biographie, Göttingen 2011, S . 301 . 60 So berief er fünf ehemalige Nationalsozialisten als Minister in Regierungsämter und wehrte Kritik daran vehement ab . Siehe zu vergangenheitspolitischen „Skandalen“ der Kreisky-Ära: Walter Manoschek, Thomas Geldmacher: Vergangenheitspolitik, in: Herbert Dachs et al . (Hrsg .): Politik in Österreich . Das Handbuch, Wien 2006, S . 448–464, hier S . 453–455 . 56

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– Fünftens war sowohl das antinazistische Erinnern als auch das soldatische Erinnern von starken Exkulpationen und Externalisierungen von Mitverantwortung geprägt .61 Machte der Antinazismus gerne die westlichen Demokratien für die frühe Machtexpansion NS-Deutschlands verantwortlich, betonten die Wehrmachtssoldaten „anständig“ und „sauber“ geblieben zu sein . Sowohl SPÖ als auch ÖVP „vergaßen“ personelle und ideologische historische Schnittstellen zur NSDAP als auch die Nachkriegskonkurrenz um die parteipolitische Integration ehemaliger NS-Funktionäre . Heidemarie Uhl schloss aus ihrer Analyse des Heldendenkmals, dass Weiheraum und Krypta als „Symbole für den geschichtspolitischen Kompromiss gesehen werden [können], der sich in den Konflikten der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten herausgebildet hatte: die Koexistenz von Opferthese, in der Österreich als Opfer des Nationalsozialismus gilt, und die Antithese, dem Gefallenengedenken, in dem die ÖsterreicherInnen als Opfer des Krieges gegen den Nationalsozialismus gesehen werden“ .62 Präzisiert werden kann dies zum einen dahingehend, dass der Kompromiss nicht bloß eine Koexistenz von These und Antithese war, sondern eine durch Regierungspolitik verhandelte und durchgesetzte nationale Einrahmung ursprünglich gegensätzlicher Positionen . Zum anderen bezog sich – wie insbesondere unsere Darstellung der Wiederaneignung der Krypta als zentraler staatlicher militärischer Gedenkort im Jahr 1955 durch das Bundesheer gezeigt hat – das staatliche Soldatengedenken weniger auf eine passive Opfereigenschaft der Soldaten, sondern dezidiert auf die Würdigung von Pflichterfüllung, auch in der Wehrmacht . Als kleinster gemeinsamer Nenner des nationalen Erinnerungsregimes kann die Würdigung der Aufopferung sowohl der Widerstandskämpfer als auch der Wehrmachtssoldaten identifiziert werden . Im Zuge der Waldheim-Affäre 1986 wurde diese Vermittlung von Opfer- und Pflichterfüllungsgedenken durch Kritik von außen und durch neue zivilgesellschaftliche Akteure im Inneren massiv in Frage gestellt .63 Die eingangs zitierte Selbstverteidigung Waldheims spiegelte die zur Selbstverständlichkeit gewordene Hegemonie des nationalen Arrangements wider . Ein zentrales Kennzeichen der Waldheim-Debatte war denn auch, dass ÖVP und auch SPÖ einen Widerspruch zwischen Pflichterfüllungs- und Opferthese bestritten beziehungsweise kein Interesse daran hatten, deren rituell eingeschliffene und politisch gepflegte Koexistenz zu problematisieren . Das galt

Vgl . Heidemarie Uhl: Vom „ersten Opfer“ zum Land der unbewältigten Vergangenheit: Österreich im Kontext der Transformation des europäischen Gedächtnisses, in: Volkhard Knigge et al . (Hrsg .): Arbeit am europäischen Gedächtnis: Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung, Köln 2011, S . 27–45, hier S . 42; Lehnguth: Waldheim, 2013, S . 89 f . 62 Uhl: Vom „ersten Opfer“, 2011, S . 42 . 63 Siehe zur Waldheim-Debatte: Lehnguth: Waldheim, 2013 . 61

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auch für Vertreter von Widerstandsverbänden, die Waldheim zum Teil zwar kritisierten, die Opferthese aber vehement verteidigten .64 1994 erneuerte der Architekturkritiker Jan Tabor im Kontext der von ihm gestalteten Ausstellung „Kunst und Diktatur“ die Forderung nach der Hebung der Soldatenfigur . Tabor regte erstmals auch eine „Entweihung“ des Monuments an . Der damalige Sprecher von Bundeskanzler Franz Vranitzky, Andreas Mailath-Pokorny, später Wiener Kulturstadtrat, signalisierte Unterstützung, als er im Vorfeld des Gedenkjahres 1995 meinte, mit dem geplanten Fixthema Gedenkstätten ließe sich auch das Problem des Burgtor-Kriegers „aus der Welt schaffen“ .65 Doch gerade die gesellschaftliche Polarisierung und politische Instrumentalisierung der Diskussionen rund um die Ausstellung „Vernichtungskrieg . Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“ durch die FPÖ ab 1995 sowie der Konflikt um die Aufstellung eines Denkmals für die österreichischen Wehrmachtssoldaten in Stalingrad dürfte das Interesse der Regierungsparteien SPÖ und ÖVP am Aufbrechen eines weiteren geschichtspolitischen Konflikts auf null gedrückt haben . Der 8. Mai und das Heldendenkmal: Auflösung des verordneten Vergessens

Seit 1995 beging das Bundesheer den Nationalfeiertag mit einer volksfestartigen Leistungsschau und Angelobungen am Heldenplatz . In diesem Rahmen erlebte die Krypta eine gewisse Renaissance als Erinnerungsort . Jahr für Jahr schleuste das Militärvikariat an diesem Tag Tausende BesucherInnen durch den Saal . Das Publikum interessierte sich vor allem für die Totenbücher des Zweiten Weltkrieges, in denen ortsbezogen nach Verwandten gesucht werden konnte . In diesem Kontext sind auch die ersten Veränderungen in der Krypta seit 1965 zu verorten, die im Jahr 2002, während der ersten Mitte-Rechts-Koalition aus ÖVP und FPÖ und unter Verteidigungsminister Herbert Scheibner (FPÖ), realisiert wurden . Die Renovierung oblag dem für die Traditionspflege im Verteidigungsministerium zuständigen Referenten Oberst Hubert Zeinar und dem Militärvikariat . Der Tradition des universellen soldatischen Pflichterfüllungsgedenkens verbunden, brachten sie rechts von Frass‘ Soldatenfigur eine Gedenktafel des Bundesheeres für seine „im Dienst und Einsatz verunglückten, verstorbenen und gefallenen Soldaten“ an . Um die Einheit des Gedenkens an k . u . k .-Soldaten, Wehrmachtssoldaten und Bundesheersoldaten zu betonen, ließen sie in das Eingangsportal der Krypta die monumentale Inschrift „In Erfüllung ihres Auftrags ließen sie ihr

Widerstandskämpfer, Nazi- und Kriegsopfer überreichen Vranitzky gemeinsame Erklärung, in: Der Neue Mahnruf, 41 (1988) 3–4, S . 3; Lehnguth: Waldheim, 2013, S . 124 . 65 Andy Kaltenbrunner: Held überm Hakenkreuz, in: profil, 2 .4 .1994, S . 31 . 64

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Leben“ eingravieren . Das Verteidigungsministerium schrieb damit die Tradition des universellen Soldatengedenkens in der Krypta fort . Zugleich begann im Jahr 2002 ein heftiger vergangenheitspolitischer Konflikt, der sich an der Gedenkpraxis am Heldendenkmal und der Deutung des 8 . Mai entzündete . Ausgangspunkt war wie Anfang der 1960er-Jahre die Universität Wien . Dort begingen seit 1952 deutschnationale schlagende Burschenschaften, zusammengeschlossen im Wiener Korporationsring (WKR), Gefallenenehrungen am sogenannten Siegfriedskopf, einem 1923 in der Aula der Universität Wien errichteten „Heldendenkmal“ für im Ersten Weltkrieg gefallene Studierende . Nach heftigen Kontroversen zwischen Burschenschaften, antifaschistischen Gruppen und der Österreichischen HochschülerInnenschaft (ÖH) untersagte die Universitätsleitung 1996 diese Gedenkfeiern .66 Der WKR verlegte das Totengedenken vor die Krypta und datierte die Trauerfeier auf den 8 . Mai, dem Tag der Kapitulation der Wehrmacht .67 Damit besetzten die Burschenschaften ein historisches Datum, das in Österreich bislang im Schatten des 27 . April, des 15 . Mai (Unterzeichnung des Staatsvertrages) und des 26 . Oktober gestanden war . Der WKR dürfte hiermit – in Fortsetzung des universitären Konfliktes – auf eine erste Befreiungsfeier reagiert haben, die 1995 von einem antifaschistischen Aktionskomitee „Gegen das Vergessen“ beim Heldendenkmal der Roten Armee am Schwarzenbergplatz veranstaltet worden war . Proteste antifaschistischer Gruppen gegen das neue Gefallenengedenken der Burschenschaften am 8 . Mai blieben in den folgenden Jahren auf die Universität beschränkt . Erst als im April 2002 die neue Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht . Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944“ in Wien gezeigt wurde, spitzte sich die Auseinandersetzung um den 8 . Mai zu . Am 13 . April 2002 hielten einige Dutzend Neonazis am Heldenplatz eine legale Kundgebung gegen die Ausstellung ab, gegen die antifaschistische Gruppierungen jenseits des Burgtores protestierten . Für den folgenden 8 . Mai kündigte der WKR wiederum eine Gedenkfeier vor der Krypta an, die auch Politiker der mitregierenden FPÖ unterstützten, die in den deutschnationalen Burschenschaften verankert waren . In der gesamten Innenstadt fanden zeitgleich Gegenveranstaltungen statt . So rief die Wiener SPÖ gemeinsam mit den Grünen, der IKG und der ÖH in unmittelbarer Nähe zum Heldenplatz, der von der Polizei für weitere Kundgebungen gesperrt worden war, zu einem „Fest der Demokratie“ auf, während antifaschistische Gruppierungen mehrere Kundgebungen und Demonstrationen rund um den Heldenplatz abhielten . Interessant ist die Haltung des Verteidigungsministeriums und des Bundesheeres . Der Militärkommandant von Wien, Karl Semlitsch, zog wenige Tage vor dem 8 . Mai 2002 eine ursprüngliche Erlaubnis für die Burschenschaften, vor der Soldatenfigur in der Krypta einen Kranz niederzulegen, mit dem Argument zurück, es Bernhard Weidinger: „Im Abwehrkampf der Grenzlanddeutschen“ . Akademische Burschenschaften und Politik in Österreich nach 1945, Wien 2015, S . 373 . 67 „Rechtes Totengedenken auf dem Wiener Heldenplatz am 8 . Mai“, in: Die Presse, 3 .5 .2002, S . 3 . 66

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handle sich um eine politische Veranstaltung .68 FPÖ-Verteidigungsminister Herbert Scheibner revidierte diesen Beschluss umgehend . Die ÖVP versuchte sich von dem Konflikt fernzuhalten . Bundeskanzler Wolfgang Schüssel verwies lediglich darauf, dass der 8 . Mai verglichen mit dem 27 . April für die Zweite Republik von untergeordneter Bedeutung sei . So standen sich drei Positionen gegenüber: Eine von Burschenschaftern und Politikern der FPÖ getragene Position, die sich auf die Ehrung der Wehrmachtssoldaten bezog und bei der Krypta den richtigen Ort für deren Inszenierung fand; ein Gegendiskurs der Wiener SPÖ, der Grünen, der IKG und antifaschistischer Gruppen, der die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus ins Zentrum stellte und die NS-Verbrechen, die Beteiligung der Wehrmacht und von Österreichern daran betonte; schließlich eine dritte Position, getragen von der Regierungspartei ÖVP, welche die Bedeutung des 8 . Mai relativierte und den Konflikt zu kalmieren versuchte . Die in den 1960er-Jahren praktizierte erinnerungspolitische Konstruktion eines amnesischen Nebeneinanders von Opfer- und Widerstandsgedenken auf der einen Seite und Pflichterfüllungsgedenken auf der anderen Seite zerfiel unter der ÖVP-FPÖ-Koalition Mitte der 2000er-Jahre endgültig . Auch innerhalb des Bundesheeres geriet zu dieser Zeit einiges in Bewegung, sichtbar vor allem an einem Prozess der Neubewertung des antinazistischen Widerstandes und seiner Würdigung .69 Doch das Heldendenkmal blieb davon unberührt . Trotz einschneidender vergangenheitspolitischer Maßnahmen, die Verteidigungsminister Norbert Darabos (SPÖ) seit seiner Amtseinführung 2007 setzte, etwa den Rückzug des Bundesheeres vom Kameradschaftstreffen am Ulrichsberg oder die Unterstützung für ein Denkmal für die Opfer der NS-Militärjustiz, überlebte im Bundesheer zugleich die in den frühen 1960er-Jahren begründete Tradition der amnesischen Vermittlung von Opfer- und Pflichterfüllungsgedenken, die in den Staatsritualen weiterhin praktiziert wurde . Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis die Kritik an den burschenschaftlichen Gedenkritualen vor dem Heldendenkmal in eine neue Kritik der staatlichen Gedenkpraxis im Heldendenkmal umschlug .

Christian Thonke: Herr Tod wartet schon, in: Kurier, 7 .5 .2002, S . 3 . Semlitsch hatte 1983 als Offizier des Büros für Wehrpolitik im Verteidigungsministerium erste Initiativen für die politische Bildung zum Thema Nationalsozialismus gesetzt, etwa die Angelobung von Grundwehrdienern im KZ Mauthausen im Jahr 1983, die allerdings „nicht die ganze Breite und Tiefe des Bundesheeres erfasst“ hat . Vgl . Karl Semlitsch: „… einen selbstständigen Kämpfer für die Demokratie formen“, in: Peter Pirker: 30 Jahre Milizverband Österreich . Beiträge zu einem Kulturwandel in der Landesverteidigung, Linz 2011, S . 145–159, hier S . 159 . 69 Vgl . Rauchensteiner (Hrsg .): Tyrannenmord, 2004; Dieter A . Binder: Die Militärhistorische Denkmalkommission . Zur Arbeit der Kommission, in: Binder, Uhl (Hrsg .): 20 Jahre MHDK, 2014, S . 18–44, hier S . 19–21 . 68

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Von der Kritik zur vorläufigen Transformation des Heldendenkmals

Am 2 . März 2012 besuchten der grüne Nationalratsabgeordnete Harald Walser und der renommierte Journalist Andreas Koller das Äußere Burgtor . Im Zentrum des Interesses standen für Walser die in der Krypta ausliegenden Totenbücher der Gefallenen des Zweiten Weltkrieges . Walser verfolgte die Idee, darin den Namen eines bekannten Kriegsverbrechers, des SS-Scharführers Josef Vallaster aufzuspüren – was ihm gelang . In parlamentarischen Anfragen kritisierten Walser und der grüne Justizsprecher Albert Steinhauser dieses Gedenken in scharfer Form . Mit Vallaster hatte die Republik eines Akteurs gedacht, der nicht etwa als Frontsoldat „gefallen“, sondern 1943 von KZ-Häftlingen anlässlich eines Aufstandes im NS-Vernichtungslager Sobibor erschlagen worden war .70 Daran knüpfen sich zwei weitergehende Fragen: Zum einen, wie viele Namen anderer NS-Verbrecher sich in den Totenbüchern befinden, zum anderen, inwiefern die in der Krypta seit über 60 Jahren unkritisch praktizierte Würdigung der „Gefallenen“ mit den Forschungserkenntnissen über den verbrecherischen Charakter des Zweiten Weltkrieges überhaupt noch vereinbar ist . Problembewusstsein zeigte im Frühsommer 2012 Verteidigungsminister Darabos . Er stellte unmittelbar nach Bekanntwerden der Funde eine Überprüfung der Gedenkpraxis in der Krypta in Aussicht . Darabos reagierte damit konstruktiv auf die öffentlich formulierte Kritik der Grünen, die vor dem Hintergrund der Debatte um den 8 . Mai und die Gedenkpraxis der Burschenschaften breite und positive mediale Resonanz gefunden hatte . Indes waren wesentliche Elemente der Kritik innerhalb des Verteidigungsministeriums, der Militärhistorischen Denkmalkommission (MHDK), der Bundespräsidentschaftskanzlei und dem Bundeskanzleramt bereits seit Herbst 2010 bekannt . Der Politikwissenschaftler Peter Pirker (Mit-Autor dieses Textes), Mitglied der MHDK, schilderte seine Eindrücke der geschichtspolitischen Nutzung des Heldendenkmals durch das Bundesheer am 26 . Oktober 2010 den genannten Institutionen . Darin verwies er auf die „problematische Tradition der Krypta“, konzentrierte seine Kritik aber auf „das ganz falsche und fatale Signal“, das von der unterschiedlichen Begehbarkeit beider Gedenkstätten ausgehe . Der Adjutant des Bundespräsidenten Generalmajor Gregor Keller erklärte daraufhin, dass der Weiheraum aus zwei Gründen nicht für die Öffentlichkeit begehbar gemacht werden könne: Es fehlten Überwachungskameras und auch für eine Treppe im Inneren des Raumes die Handläufe . Offenbar hatte dies seit Einrichtung des Weiheraums niemanden gestört .71

Offiziell wird diese Praxis nicht gerechtfertigt, in inoffiziellen Aussagen vertraten Angehörige von Bundesheer beziehungsweise der Katholischen Militärseelsorge dazu die Ansicht, dass angesichts des Todes nicht unterschieden werden solle zwischen Kriegsverbrechern und unbescholtenen Soldaten, vgl . Interview Magnus Koch mit Militärerzdekan Harald Tripp, 11 .2 .2015 . 71 Vgl . die Schreiben Kellers vom 23 . und 26 .11 .2010 im Besitz von Peter Pirker . 70

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In einem internen Informationsschreiben an den Verteidigungsminister stellte Generalstabschef Edmund Entacher fest, dass in der Angelegenheit „erhöhter Handlungsbedarf “ bestehe . Der ranghöchste Offizier des Bundesheeres begründete dies damit, dass der Vorsitzende der MHDK, der Grazer Historiker Dieter Binder, den von Pirker festgehaltenen Missstand bereits vor 20 Jahren erkannt habe . Warum er daraus nicht seinerseits zumindest „Handlungsbedarf “ festgestellt hatte, muss ebenso offenbleiben wie der Grund für die Position Entachers, der in demselben Schreiben feststellte, in der Krypta werde den österreichischen Wehrmachtssoldaten überhaupt nicht huldigend gedacht, sondern den Soldaten der k . u . k .-Zeit sowie denjenigen der Ersten und Zweiten Republik . Nur ein paar Sätze später folgte dann allerdings die Erkenntnis, das Gedenken in der Krypta gelte tatsächlich „alle[n] im Dienste und Einsatz verstorbenen, verunglückten oder gefallenen Soldaten aller Zeiten“ .72 Deutlicher konnte die Konfusion über die Bedeutungsbestimmung der Krypta und die Unsicherheit in Fragen des Umgangs mit dem Erbe der Wehrmacht innerhalb des Bundesheeres nicht zu Tage treten .73 Immerhin wurden in den folgenden Monaten konstruktive Maßnahmen diskutiert, um künftig die Begehbarkeit des Weiheraums zu gewährleisten . Die MHDK empfahl, dass eine „allfällige Umgestaltung des Weiheraums und eine öffentliche Zugänglichkeitsmachung auf hoher politischer Ebene zu geschehen hat, um eine entsprechende Bedeutung auch in der Außenwirkung für die Bevölkerung sichtbar zu machen“ .74 Angeregt wurde ferner, eine Broschüre über die Gedenkräume in adaptierter Version neu aufzulegen . Doch weder kam ein politischer Prozess in Gang, noch wurde die angesprochene Broschüre inhaltlich überarbeitet . In dem vom Militärvikariat redigierten und vom Verteidigungsministerium 2011 neu aufgelegten Informationsblatt Das Österreichische Heldendenkmal konnte man vielmehr die zentralen Elemente der „Versöhnung“ von offenkundigen Widersprüchen der österreichischen Geschichte im 20 . Jahrhundert, der Integration von Opfer- und Pflichterfüllungsgedenken unter eine die politische Gewalt verdrängende patriotische Klammer noch einmal nachlesen . Mit Krypta und Weiheraum sei „aller Bürger gedacht, die ihr Leben für Österreich hingegeben haben“, hieß es dort .75 Auch am Nationalfeiertag 2011 blieb der Weiheraum für die Öffentlichkeit geschlossen . Aufgrund mangelnder Bewegung in der Sache wählte Pirker im Frühjahr 2012 den Weg über die Öffentlichkeit und stellte in einem Zeitungskommentar fest, im gegenwärtigen Zustand der Krypta dürften sich „die Spitze der Republik, das Bundesheer, die Kameradschaftsverbände, die deutschnationalen Burschenschafter bis hin zu

Schreiben S92000/512-GStb/2010, 22 .11 .2010, Kopie im Besitz von Peter Pirker, Hervorhebung im Original . 73 Vgl . Hubertus Trauttenberg, Gerhard Vogl: Traditionspflege im Spannungsfeld der Zeitgeschichte . In: Österreichische Militärische Zeitschrift 4 (2007), S . 407–418 . 74 Ergebnisprotokoll der sechzehnten Sitzung der MHDK, 26 .01 .2011 . 75 BMLVS (Hrsg .): Das Österreichische Heldendenkmal, Wien 2011, o . S . 72

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Neonazis (…) gleichermaßen aufgehoben fühlen“ .76 Im selben Tenor forderten auch die Grünen eine Umgestaltung der Krypta77 und die Einsetzung einer international besetzten ExpertInnenkommission zum Thema . Zeitgleich, also Anfang 2012, begann noch eine andere öffentliche Debatte, die sich alsbald mit derjenigen über die Zukunft des Äußeren Burgtors überschneiden sollte: die Frage des künftigen Standortes des von der rot-grünen Wiener Stadtregierung beschlossenen Denkmals für die Verfolgten der Wehrmachtgerichte .78 Parallel dazu verdichtete sich das Bild der erinnerungspolitischen Polarisierung noch einmal unmittelbar am Heldendenkmal . Am 27 . Januar, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag, eignete sich das Bündnis „Jetzt Zeichen setzen“ den Weiheraum neu an, um zugleich gegen den sogenannten Akademikerball zu protestieren, den der WKR just an diesem Tag in den Räumlichkeiten der gegenüberliegenden Hofburg abhielt . Das Bündnis, ein neuer Zusammenschluss von antifaschistischen und Menschenrechtsgruppen, der IKG, Katholischer Aktion, Opferverbänden, grünen und sozialdemokratischen Organisationen, wiederholte am 8 . Mai diese Praxis konfrontativen Gedenkens . Damit standen sich ein erneuertes Opfer- und Widerstandsgedenken auf der einen Seite des Burgtors und eine auf den organisierten Deutschnationalismus zusammengeschrumpftes Pflichterfüllungsgedenken auf der anderen Seite gegenüber . Die inhärenten Widersprüche wurden nun nicht mehr durch patriotische Appelle und paritätische Gedenkrituale überbrückt, sondern offen am Gegenstand der Gestaltung und Nutzung der Krypta thematisiert .79 Verteidigungsminister Darabos reagierte Anfang Juni 2012 auf den äußeren Druck und verfügte nicht nur die Räumung der Krypta von den Totenbüchern, Kränzen und anderem Inventar . Er strich auch in einem öffentlichkeitswirksam inszenierten Akt den Namen Vallaster aus dem Totenbuch . Die MHDK begrüßte diesen Schritt . In einem Zeitungskommentar sprach sich deren stellvertretende Vorsitzende Heidemarie Uhl grundsätzlich für den Erhalt der Krypta aus (wenn auch in anderer Form), da diese als Stein des Anstoßes eine dringend erforderliche Auseinandersetzung mit

Vgl . Peter Pirker: In Erfüllung ihres Auftrages ließen sie ihr Leben, in: Der Standard, 3 .2 .2012; in ähnlichem Tenor: Anna Giuila Fink, Dominik Sinnreich: Truppentherapie, in: Datum 3 (2012), S . 14–20 . 77 Vgl . Stenographisches Protokoll der 155 . Parlamentssitzung, 14 .5 .2012, abrufbar unter URL: www .parla ment .gv .at . Vgl . außerdem die zum Teil sehr ausführlichen Anfragen der Grünen vom 2 .3 .2012, 14 .6 .2012, 7 .11 .2012, 7 .5 .2013, 9 .7 .2014 (BMLVS), 16 .7 .2012, 7 .11 .2012, 7 .5 .2013, (Bundeskanzleramt), 7 .11 .2012, 4 .11 .2014 (Bundesministerium für Wirtschaft, zuständig für die baulichen Fragen) . 78 Vgl . Alton et al . (Hrsg .): „Verliehen für die Flucht vor den Fahnen“, 2016 . Hinsichtlich des inhaltlichen Zusammenhangs zwischen dem (damals noch in Planung befindlichen) Denkmals für die Verfolgten der NS-Militärjustiz und den Gedenkstätten im Äußeren Burgtor vgl . Magnus Koch, Deserteure vor dem Kanzleramt, in: Gedenkdienst 1 (2013), S . 1 f . 79 Vgl . Aufruftext des Netzwerkes „Jetzt Zeichen setzen“ für die Kundgebung zum „8 . Mai – Tag der Befreiung“ im Jahr 2012, URL: http://www .ikg-wien .at/wp-content/uploads/2012/04/aufruf_08052012 .pdf, letzter Zugriff: 3 .3 .2018 . 76

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dem militärischen und zivilen Gefallenengedenken zu initiieren vermöge .80 Für den Weiheraum empfahl der Vorsitzende der MHDK, Dieter Binder, dem Verteidigungsminister eine Neugestaltung in Kooperation mit dem DÖW . Im Zuge seiner Inspektion der Krypta hatte Darabos auch die Hebung der Soldatenfigur angeordnet, um den Gerüchten über die verborgene Nazi-Botschaft auf den Grund zu gehen . Diese wurde am 18 . Juli tatsächlich gefunden . Nach den Zeremonien der Burschenschaften und der Entdeckung Vallasters in den Totenbüchern bedeutete die Bergung von Frass‘ Botschaft die endgültige Entwertung der Krypta als Ort staatlicher Gedenkrituale . Darabos ordnete die – vorübergehende – Schließung der Krypta an und beauftragte die Erstellung einer historischen Studie zum Heldendenkmal und die Bildung einer interministeriellen Projektgruppe mit dem Ziel einer Umgestaltung .81 Im Mai 2013 bestellte Darabos einen internationalen wissenschaftlichen Beirat, der Empfehlungen für den künftigen Umgang mit dem Heldendenkmal erarbeiten sollte . Im September des Jahres wurden die ersten Ergebnisse präsentiert . Das „Heldendenkmal“ müsse musealisiert werden, das Inventar solle „als Gedächtnisort mit den Zeitmarken 1934 (Krypta und Ehrenhalle) und 1965 (Weiheraum für den österreichischen Widerstand) zum Sprechen gebracht werden und die Bruchlinien der österreichischen Geschichte“82 sichtbar gemacht werden . Die einschneidenden Ereignisse vom Frühsommer 2012 wirkten sich in der Rückschau betrachtet erheblich auf die Gedenkpraxis an der Krypta aus: Am Nationalfeiertag 2012 legten die Repräsentanten des Staates erstmals nicht mehr unmittelbar an der Soldatenskulptur, sondern an der 2002 zu Ehren der toten Soldaten der Zweiten Republik angebrachten Tafel in der Krypta Kränze nieder .83 Anlässlich des Jahrestages des „Anschlusses“ folgten seit März 2013 Kranzniederlegungen durch Bundesregierung, Verteidigungsminister und Bundespräsident im Weiheraum84 und am 1 . September

Vgl . Heidemarie Uhl: Die denkwürdige Leere der Krypta, in: Der Standard, 22 .6 .2012, sowie APA-Bericht nach Interview mit Heidemarie Uhl, „‚Heldendenkmal‘: Umgestaltung ist ‚starker symbolischer Akt‘“, 3 .7 .2012 . 81 Das Forschungsprojekt unter der Leitung von Dieter Binder und Heidemarie Uhl und Projektbearbeitung von Richard Hufschmied „Krypta und Weiheraum . Die Gedenkstätten des Österreichischen Heldendenkmals im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg . Dokumentation und Analyse staatlicher Gedenkkultur“ ist mittlerweile abgeschlossen . Eine Publikation war für Winter 2017/2018 angekündigt . Siehe dazu: URL: https://www .oeaw .ac .at/ikt/forschung/gedaechtnis/heldendenkmal/, letzter Zugriff: 13 .2 .2018 . 82 Vgl . Protokoll der Workshops vom 10 ./11 .7 . bzw . 4 ./5 .9 .2014 . Die Vorgaben für diese Arbeit waren laut Protokoll zwei Maßnahmen . 1 . die zwingende Umgestaltung von Krypta, Weiheraum und Ehrenhalle, und 2 . die Errichtung eines Gedenkortes der Republik Österreich . Zur Zusammensetzung des Gremiums vgl . URL: http://www .oeaw .ac .at/ikt/fileadmin/mediapool/archiv/projekte/OEHDM_Ergebnisprotokoll_ wissenschaftlicher_Beirat .pdf, letzter Zugriff: 3 .5 .2016 . 83 Vgl . Bericht „Nationalfeiertag: Neuer Platz für Gedenken in der Krypta gefunden“, in: Der Standard, 11 .10 .2012, S . 12 . 84 In Verlautbarungen des BMLVS finden sich die Hinweise, dass dies 2013 erstmals geschehen sei, was sich anhand von APA-Meldungen widerlegen lässt, vgl . entsprechende Veranstaltungshinweise aus den Jahren 1967 und 1968 . 80

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(Antikriegstag) 2014 an gleicher Stelle ebenfalls durch Bundespräsident und Verteidigungsminister . Und eine weitere wichtige Neuerung im Protokoll ließ sich erst 2015 feststellen: Am Tag der Wiedererrichtung der Republik, dem 27 . April, legten die höchsten Vertreter der Republik einen Kranz erstmals am 1966 errichteten Staatsgründungsdenkmal im Schweizergarten im dritten Wiener Gemeindebezirk nieder, das bislang von Staatsritualen völlig unberührt geblieben war .85 Der eingeleitete Transformationsprozess zum Heldendenkmal wurde 2012 zu einer Baustelle der geschichtspolitischen Neucodierung des Heldenplatzes insgesamt . Einer der bedeutendsten Politikwissenschaftler des Landes, Anton Pelinka, forderte eine grundlegende Neugestaltung des Heldenplatzes, den er als „Disneyland österreichischer Geschichte“ bezeichnete .86 Unter dem Eindruck der konfrontativen Situation am 8 . Mai 2012 vereinbarten maßgebliche Akteure von „Jetzt Zeichen setzen“, der Wiener Stadtregierung und der Bundesregierung den 8 . Mai in einer Art „Public-private-Partnership“ völlig neu zu besetzen, die Burschenschaften vom Heldenplatz zu verdrängen und den Erinnerungskonflikt in Erinnerungskultur zu transformieren .87 Für den 8 . Mai ordnete Darabos 2013 erstmals eine ganztägige „Ehrenwache“ am Äußeren Burgtor an . Unter der Federführung des Mauthausen Komitees Österreich (MKÖ) und mit starker Unterstützung von Stadt- und Bundesregierung fand 2013 auf dem Heldenplatz erstmals das „Fest der Freude“ mit einem Konzert der Wiener Symphoniker statt, das bereits im ersten Jahr mehr als zehntausend BesucherInnen anzog . Parallel dazu beging die SPÖ-ÖVP-Bundesregierung den 8 . Mai erstmals seit 1946 explizit als „Tag der Befreiung“, der damit in den offiziellen politischen Kalender aufgenommen wurde . Diese Praxis wurde auch nach der Bildung der ÖVP-FPÖ-Koalitionsregierung im Dezember 2017 beibehalten, mit dem gravierenden Unterschied, dass beim „Fest der Freude“ keine Regierungspolitiker mehr auftraten, weil mit dem MKÖ und der IKG zwei maßgebliche zivilgesellschaftliche Akteure in Folge einer Reihe von antisemitischen und rechtsextremen Äußerungen von FPÖ-Politikern gemeinsame Veranstaltungen mit dieser Partei ablehnen .88 Im Winter 2014/15 nahm ein anderes, bereits mehrfach an parteipolitischer Konkurrenz gescheitertes vergangenheitspolitisches Projekt neue Fahrt auf – die Errichtung Siehe dazu: Alfred J . Noll, Manfried Welan: Die Abgelegene . Einige kursorischen Anmerkungen zur Österreichischen Unabhängigkeitserklärung 1945, Wien 2010, S . 9–13 . 86 Vgl . APA-Meldung „Heldendenkmal“ – Grüne: Neugestaltung soll Chefsache werden“, 12 .10 .2012 . Mit seinen frühen Studien zu Kriegerdenkmälern und Veteranenkult als staatlich geförderte „plebiszitäre Geschichtsschreibung“ hatte Pelinka in den 1980er-Jahren wichtige Grundlagen für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema geliefert, vgl . Anton Pelinka: Vom Umgang mit der Geschichte . Denkmäler und historische Erinnerung in der Zweiten Republik, in: Bundesministerium für Unterricht und Kunst (Hrsg .): Denkmal und Erinnerung, Wien 1993, S . 14–17 . 87 Interview mit Willi Mernyi und Christa Bauer (MKÖ), 14 .1 .2016 . 88 Mauthausen Komitee Österreich: Die FPÖ und der Rechtsextremismus . Lauter Einzelfälle? Wien 2017, sowie Mauthausen Komitee Österreich: Die FPÖ und der Rechtsextremismus . Einzelfälle und Serientäter, Wien 2018 . 85

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eines Hauses der Geschichte Österreich . Der seit Mai 2016 im Zuge einer Regierungsumbildung wieder abgesetzte Kulturminister Josef Ostermayer kündigte sein mittlerweile Gesetz gewordenes Vorhaben an, das Museum in Räumlichkeiten der Neuen Burg und unter der Obhut der Österreichischen Nationalbibliothek bis Herbst 2018 – dem 100 . Jubiläum der Republikgründung – realisieren zu wollen . Die Vorbereitung des Projektes legte Ostermayer in die Hände des Historikers Oliver Rathkolb, der das Haus der Geschichte ebenfalls als Element der Neucodierung des Heldenplatzes versteht .89 Das Museum wurde im November 2018 eröffnet . Unterdessen häuften sich die Anzeichen dafür, dass sich die anvisierte Umgestaltung des Heldendenkmals in einem Schwebezustand befand . Das Verteidigungsministerium hatte bereits deutliche Signale ausgesendet, die Zuständigkeit für die Krypta abgeben zu wollen . Nach der Vorlage des Berichts des Internationalen Beirats lagen die weiteren Kompetenzen beim Bundeskanzleramt, Wirtschafts- und Finanzministerium .90 Zum Jahreswechsel 2014/15 kritisierte der Vorsitzende der MHDK, Dieter Binder, den politischen Stillstand .91 Kurzerhand wurde das ursprünglich geplante eigenständige Projekt im März 2015 in das Projekt Haus der Geschichte integriert,92 was das ursprüngliche Ziel eines Abschlusses der Umgestaltung im Oktober 2015 hinfällig machte . Sehr bald wurde das Heldendenkmal jedoch wieder aus dem seinerseits stark reduzierten Projekt Haus der Geschichte ausgeklammert und befindet sich seither auf der ‚langen Bank‘, was Heidemarie Uhl bereits im Oktober 2016 zur Feststellung veranlasste: „Keiner fühlt sich mehr dafür zuständig – und damit scheint das jetzt einzuschlafen“ .93 Was blieb, waren zwei von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte Ad-hoc-Maßnahmen, welche die 60-jährige Nutzung der Krypta durch das Bundesheer beendeten: Die eingangs erwähnte Profanierung und die Verlegung der Gedenktafel für die im Dienst der Zweiten Republik gefallenen Soldaten aus dem Innenraum der Krypta an die Außenfassade .94

Thomas Trenkler: „Eine unglaubliche Chance“, in: Kurier, 14 .6 .2015 . Ergebnisprotokoll der 22 . Sitzung der MHDK, 19 .11 .2014 . Vgl . URL: http://wien .orf .at/m/news/stories/2686212/, letzter Zugriff: 20 .5 .2016 . Bundeskanzleramt Österreich, Projekte Neue Hofburg/Heldenplatz, Vortrag an den Ministerrat, 24 .3 .2015 . 93 „Haus der Geschichte“: Ein Provisorium fürs Republiksjubiläum, in: Der Standard, 25 .10 .2016, S . 2 . 94 Schreiben S9200/28-S IV/2015, Beilage zur Tagesordnung der 24 . Arbeitssitzung der MHDK, 25 .11 .2015 . Als Ersatzstandort für militärgeistliche Zeremonien ist künftig die Stiftskirche vorgesehen im nahegelegenen 7 . Wiener Gemeindebezirk . Fallweise wurde die Krypta jedoch weiterhin als militärischer Gedenkort genutzt, so von der Gardekameradschaft, was auf gewisse Widerstände innerhalb des Bundesheeres bezüglich der Neuausrichtung militärischen Gedenkens schließen lässt . Ehrengestell der 1 . Gdkp zur Kranzniederlegung Krypta Heldenplatz, 31 .5 .2016, URL: http://www .diegarde .at/bilder/bilder-2016/, letzter Zugriff: 3 .3 .2018 . 89 90 91 92

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Möglichkeiten einer neuen Nutzung wurden seither in Form der beiden temporären Ausstellungen „41 Tage . Kriegsende 1945 – Verdichtung der Gewalt“95 (2015) sowie „Letzte Orte der Deportation“96 (2016/17) angedeutet, die im Umfeld des Heldendenkmals und in der Krypta gezeigt wurden . Dabei kamen an diesem Ort bisher verschwiegene Aspekte der politischen Gewalt zur Anschauung, Endphasenverbrechen und die Konzentration der Wiener jüdischen Bevölkerung in innerstädtischen Sammellagern zur Deportation in die Vernichtungslager . Schluss

Die Opferthese war für die staatliche Erinnerungspolitik nur bedingt brauchbar, da sich die ehemaligen Wehrmachtssoldaten gegen eine Viktimisierung stellten . Sie erstrebten vielmehr die staatliche Würdigung ihres Dienstes als Aufopferung „für die Freiheit von Heimat und Vaterland“, die sie im Zuge der Wiederaufstellung des Bundesheeres und der Wiederaneignung des Heldendenkmales durch das Verteidigungsministerium 1955 offiziell erhielten . Deshalb greift es zu kurz, vom Gefallenengedächtnis als einem populären Gegengedächtnis zur offiziellen Opferthese zu sprechen: Das staatliche Gefallenengedenken würdigte die Pflichterfüllung und war daher nicht weniger offiziell als die Opferthese . Das Heldendenkmal bildet die beiden Säulen der nationalen Erinnerungskultur, wie sie in den 1960er-Jahren von der Bundesregierung durchgesetzt wurde, ab . Für eine Umsetzung der von der internationalen ExpertInnenrunde empfohlenen Musealisierung des Äußeren Burgtores gab es während der im Dezember 2017 gebildeten und im Mai 2019 vorzeitig aufgelösten neuerlichen schwarz-blauen Regierungskoalition, in der die FPÖ das Verteidigungsministerium führte, keinerlei in der Öffentlichkeit sichtbaren Anzeichen . Unabhängig von der weiteren Entwicklung des geschichtspolitischen Kurses der Wiener Politik können für die letzten Jahre einige Entwicklungen beschrieben werden . Das zunehmende Interesse an einer Dokumentation gerade der schuldbeladenen eigenen Geschichte wurde auch am Heldendenkmal sichtbar . Es fiel in eine Phase des Abschieds von der Zeitzeugenschaft . Hier ist vor allem die Tatsache zu nennen, dass keiner der Täter mehr am Leben ist, jedenfalls niemand mehr, der in höherer Position für die Verbrechen Verantwortung trug und auch die Nachfolgegeneration aus Entscheidungspositionen geschieden ist .97 HeideDie Projektleitung oblag Dieter Binder und Heidemarie Uhl . Siehe URL: http://www .oeaw .ac .at/ver anstaltungen-kommunikation/veranstaltungen/websites/2015/41tage/41-tage/, letzter Zugriff 24 .5 .2016 . 96 Die Projektleitung oblag Monika Sommer und Heidemarie Uhl . Siehe URL: https://www .oeaw .ac .at/ ausstellung-letzte-orte/, letzter Zugriff: 13 .02 .2018 . 97 Vgl . Malte Thießen: Das kollektive als lokales Gedächtnis . Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik, in: Janina Fuge, Rainer Hering, Harald Schmid (Hrsg .): Das Gedächtnis von Stadt und Region . Geschichtsbilder in Norddeutschland, München 2010, S . 159–180, hier S . 179 . 95

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marie Uhl hat zudem eine zunehmende Sensibilität „gegenüber Verharmlosungen der NS-Vergangenheit in allen Gesellschaftsbereichen“ festgestellt . Gleichzeitig bewertete sie das seit 2012 rund um den Heldenplatz deutlich gewordene zivilgesellschaftliche Engagement als ersten Schritt Österreichs in eine europäische Erinnerungspolitik . Anzumerken wäre hier, dass Problemwahrnehmung und Kritik aus der Zivilgesellschaft viel früher einsetzte, sich die etablierte Politik (nicht nur in der Zeit unter schwarz-blauen Regierungen) diesen Initiativen gegenüber jedoch im Sinne des Ideals einer amnesisch-harmonischen Erinnerungspolitik, die an sich gegenläufige und konfliktträchtige partielle Erinnerungskulturen staatlicherseits zu befrieden sucht, lange verschloss . Erst in den 2000er-Jahren verlor das Pflichterfüllungsgedenken die entscheidende Komponente der sozialen und insbesondere familiären Verankerung, die für seine breite Wirksamkeit und politische Berücksichtigung von eminenter Bedeutung gewesen war . Schließlich benötigte es die öffentliche Mobilisierung im Kontext des Konfliktes um den 8 . Mai und eine öffentlichkeitswirksame Skandalisierung des Inventars der Krypta, um das Thema auf die politische Agenda des Verteidigungsministers zu setzen . Dass dieser die Option der Veränderung wahrnahm, verweist wiederum auf den generationellen Faktor: Darabos war der bisher erste und einzige Zivildienstleistende in diesem Amt . Wie bereits 2009, als er die Schirmherrschaft für die Wanderausstellung „Was damals Recht war – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“ in Wien übernahm, schien sein entschiedenes Handeln auch von persönlichen Einstellungen motiviert gewesen zu sein, für die man in Teilen des Bundesheeres nach wie vor wenig Sympathie voraussetzen darf . Das Ziel einer breiten öffentlichen Diskussion zur Neugestaltung des Äußeren Burgtors wurde jedenfalls verfehlt . Die Beteiligung am vergangenheitspolitischen Prozess im engeren Sinne beschränkte sich bis zum Abbruch des Prozesses durch die Integration in das Projekt Haus der Geschichte im Wesentlichen auf BeamtInnen verschiedener Ministerien, der Präsidentschaftskanzlei, des Parlaments und eine Handvoll ExpertInnen (vorwiegend HistorikerInnen), also eine kleine epistemic community . Langjährige Stakeholder des Soldatengedenkens wie der ÖKB, das Schwarze Kreuz, das Militärvikariat blieben außen vor, ebenso die Stakeholder des Widerstands- und Opfergedenkens, obwohl deren Belange in hohem Maße berührt waren . Bezeichnend für die fehlende demokratische Deliberation war außerdem, dass es im Parlament zu keiner Debatte über die Transformation des staatlichen Heldendenkmals kam . Die Ergebnisse sowohl der „Projektgruppe“ wie auch der internationalen Kommission wiesen letztlich in die Richtung einer Abkehr von Heroismus bei gleichzeitiger Zuwendung zu einem historisch reflexiven und kontextualisierenden Umgang mit der Gewaltgeschichte des 20 . Jahrhunderts . Gleichwohl deutet das skizzierte Prozedere auf eine Vermeidungshaltung gegenüber einer von Heidemarie Uhl im Sommer 2012 angemahnten, dringend erforderlichen offenen Debatte insbesondere über die Zukunft des Umgangs mit militärischem Gedenken der Zweiten Republik . Wie diese ausgehen würde, ist jedenfalls weit weniger berechenbar als das, was geladene ExpertInnen für

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sinnvoll halten . Ein „transparenter Bürgerbeteiligungsprozess“, so hoffte beispielsweise der pensionierte Generaltruppeninspektor des Bundesheeres, Karl Majcen, in einem Leserbrief, könnte dazu führen, „dass die Idee des Österreichischen Heldendenkmals nicht einer ‚neuen Erinnerungskultur‘ Platz machen muss“ .98 Angesichts des Trends zu einer Renationalisierung der Geschichtspolitik in Zentral- und Osteuropa ist eine solche Revision bei einer Neuauflage eines rechtskonservativen Regierungsbündnisses jedenfalls nicht auszuschließen .

Entscheidung ohne Bürgerbeteiligung . Leserbrief von Gen . i . R . Karl Majcen, in: Die Presse, 27 .11 .2015, S . 34 . 98

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Aktuelles Forum

Reformation als Gedenkort im Jahr 2017 Überlegungen zum erinnerungskulturellen Ertrag des Reformationsjubiläums Benjamin Hasselhorn

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag untersucht die erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Dimension des Reformationsjubiläums 2017 . Dazu analysiert er öffentliche Stellungnahmen der verschiedenen (staatlichen, kirchlichen, akademischen) Akteure, die Präsenz des Jubiläums auf dem Buchmarkt sowie das Veranstaltungsprogramm und zieht eine erste erinnerungskulturelle Bilanz: Konstatiert wird zum einen ein Spannungsverhältnis zwischen historisch-wissenschaftlicher Reformationsforschung und öffentlicher Jubiläumskultur, zum anderen eine nur teilweise Erreichung der selbstgesetzten Ziele der Akteure: Während die Krise der evangelischen Kirche in Deutschland durch das Jubiläum eher noch manifestiert wurde, ist es gelungen, das historische Erbe der Reformation sowie die Person Martin Luther als positiven Bezugspunkt kultureller Identität im öffentlichen Bewusstsein zu verankern . Abstract

This paper examines the reformation jubilee 2017, focussing on culture and politics of memory . It analyses the (political, ecclesiastical, academic) actors’ strategic objectives as well as the jubilees’ main publications and events and draws a provisional conclusion: There seems to be a tension between a scientific approach to reformation history and „public jubilee history“ . Furthermore, the objectives have been achieved only partially: The jubilee did not solve, but manifest the protestant churches’ crisis in Germany, whereas on the other hand Martin Luther and the Reformation have proven to be positive elements of cultural identity .

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Es könnte sein, dass das Reformationsjubiläum 2017 als das größte historische Jubiläum der wiedervereinigten Bundesrepublik in die Geschichte eingehen wird . In jedem Fall ist es das erste Jubiläum, dem eine vorbereitende Dekade voranging, mit neun Themenjahren, einem breiten Veranstaltungsprogramm und einer umfangreichen Bau- und Sanierungstätigkeit . Weit über 1 .000 Einrichtungen haben sich bundesweit mit eigenen Projekten am Reformationsjubiläum beteiligt . Rund 700 Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt hat es gegeben . Über 100 Ausstellungen zur Reformation sind 2017 im deutschsprachigen Raum gezeigt worden, darunter drei „Nationale Sonderausstellungen“ – eine eigens für das Jubiläum neugeschaffene Ausstellungsgattung –, die von insgesamt 665 .000 Besuchern gesehen wurden . 6 Millionen Menschen waren Gäste der aus Bundesmitteln geförderten Jubiläumsprojekte . Die mitteldeutschen Länder verzeichneten – wie Deutschland insgesamt – hohe touristische Wachstumsraten . Auch jenseits der historischen Reformationsstätten erwies sich das Jubiläum, vor allem Martin Luther, als Einnahmequelle – vom Luther-Bier über Luther als Quietscheentchen bis zu „Luther“ als mit 1,6 Millionen Exemplaren meistverkaufte Playmobilfigur aller Zeiten . Ein besonderes historisches Jubiläum war das Reformationsjubiläum 2017 auch deshalb, weil neben den staatlichen Institutionen die evangelische Kirche ihr Hauptträger war und sich in der gemeinsamen Vorbereitung und Durchführung des Jubiläums das Verhältnis von Staat und Kirche im Deutschland des 21 . Jahrhunderts widerspiegelte – das seinerseits ein historisches Langzeitergebnis der Reformation ist . In Lutherdekade wie Reformationsjubiläum versuchten Staat und Kirche, einen Weg jenseits der Tradition des landesherrlichen Kirchenregiments beziehungsweise von „Thron und Altar“, jenseits aber auch von einer strikt laizistischen Trennung zu beschreiten . Partnerschaftlich sollte das Verhältnis vielmehr sein, die organisatorische Vorbereitung in gegenseitigem Austausch, aber auch in gemeinsamer Planung erfolgen, sodass die übergeordneten koordinierenden Gremien mit staatlichen wie kirchlichen Vertretern besetzt wurden . Außerdem gelang es, eine gemeinsame Dachmarke („Luther 2017 . 500 Jahre Reformation“) für alle Jubiläumsveranstaltungen zu schaffen . Kritik an diesem Kooperationsmodell, vor allem hinsichtlich einer letztlich doch unangemessen engen Kooperation, blieb dennoch nicht aus1, zumal auch viele Inhalte gemeinsam geplant und Veranstaltungen gemeinsam finanziert wurden . Die Staat-Kirche-Beziehung ist nur ein Aspekt der geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Dimension des Reformationsjubiläums, die im Folgenden genauer

Vgl . beispielsweise: Giordano-Bruno-Stiftung kritisiert Feiern zum Reformationsjubiläum, in: epd . de, URL: https://www .epd .de/zentralredaktion/epd-zentralredaktion/giordano-bruno-stiftung-kritisiert -feiern-zum-reformationsjubi, letzter Zugriff: 12 .08 .2018 . Vgl . außerdem die Kritik Dorothea Wendebourgs in: Matthias Kamann: Martin Luther macht die EKD ratlos – und streitlustig, in: welt .de, 03 .03 .2017, URL: https://www .welt .de/politik/deutschland/article162541249/Martin-Luther-macht-die-EKD-ratlos-undstreitlustig .html, letzter Zugriff: 12 .08 .2018 . 1

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in den Blick genommen wird . Dazu wird zuerst nach den Zielsetzungen der Hauptakteure gefragt, wie sie in den vorbereitenden Gremien, deren Publikationen sowie in öffentlichen Debatten zum Ausdruck kamen . Dann werden zwei wesentliche geschichtspolitische Aktionsfelder des Jubiläums beleuchtet, nämlich erstens der Buchmarkt und zweitens das Veranstaltungsprogramm . Schließlich wird versucht, ein erstes Fazit zu ziehen und die Frage zu beantworten, welchen Beitrag das Reformationsjubiläum für die Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland, aber auch für das Selbstverständnis und die öffentliche Präsenz von Kirche, Theologie und Geschichtswissenschaft geleistet hat . Zielsetzungen und vorbereitende Debatten

Das Kuratorium zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums, dem der damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, vorstand, beschloss am 2 . April 2008, eine „Lutherdekade“ durchzuführen, die von 2008 bis zum Jubiläumsjahr 2017 andauern sollte . Die Idee einer Dekade kam allerdings nicht von der Kirche und auch nicht von der Bundesregierung, sondern hatte einen kommunalen Ursprung: Das Wittenberger Lutherforum, das aus kirchlichen, kulturellen und städtischen Institutionen Wittenbergs bestand, schlug schon im Oktober 2005 eine „Reformationsdekade“ vor .2 In dem Hin und Her zwischen „Lutherdekade“ und „Reformationsdekade“, aber auch in der Konkurrenz zwischen der Wortbildmarke „Luther 2017 . 500 Jahre Reformation“, die sich als Jubiläumslogo aller Projekte in Deutschland etablierte, und der Stiftung „Refo 500“, die zu einem internationalen Netzwerk für wissenschaftliche wie touristische Aktivitäten des Reformationsjubiläums wurde, sowie in zahlreichen Diskussionsbeiträgen wird deutlich, dass eine zentrale Streitfrage von Anfang an darin bestand, wie sehr man sich 2017 auf die Person Martin Luthers konzentrieren solle beziehungsweise ob nicht die Reformation statt des Reformators im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen müsse . Während ein weitgehender Konsens darin bestand, dass das Reformationsjubiläum 2017 international und ökumenisch ausgerichtet sein solle und zudem keinesfalls nur ein „Lutherjubiläum“ werden dürfe, zeigte sich in der Vorbereitung und schließlich in der Durchführung des Jubiläums, dass die Frage, ob und wie sehr Martin Luther der inhaltliche Mittelpunkt der Jubiläumsaktivitäten werden dürfe, unterschiedlich beantwortet wurde . So agierten etwa die staatlichen Institutionen deutlich Luther-affiner als die kirchlichen .

Vgl . hierfür und für das Folgende: Stefan Rhein: Innenansichten . Aus dem Maschinenraum des Reformationsjubiläums, in: Johann Hinrich Claussen, Stefan Rhein (Hrsg .): Reformation 2017 . Eine Bilanz, Leipzig 2017, S . 144–149 . 2

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Dies hatte eine Ursache in den letztlich doch unterschiedlichen erinnerungspolitischen Zielsetzungen . Der Deutsche Bundestag beschloss am 18 . Juni 2009, das Reformationsjubiläum sei ein „welthistorisches Ereignis“, und führte weiter aus: „Die Reformation als ein zentrales Ereignis in der Geschichte des christlich geprägten Europas hat die Entwicklung eines Menschenbildes gefördert, das von einem neuen christlichen Freiheitsbegriff maßgeblich beeinflusst wurde . Sie war wichtig für die Ausbildung von Eigenverantwortlichkeit und die Gewissensentscheidung des Einzelnen . Damit konnten sich die Aufklärung, die Herausbildung der Menschenrechte und die Demokratie entwickeln . Durch die Reformation wird bis heute das religiöse Leben und die kulturelle Entwicklung in Musik, Kunst und Literatur entscheidend mitgeprägt . Die Übersetzung der Bibel durch Martin Luther war zum Beispiel für die Entwicklung und Verbreitung der deutschen Sprache von wesentlicher Bedeutung .“3

Zu dieser Betonung der christlichen (und reformatorischen) Fundierung des Staates kam als Ziel der Bundesregierung hinzu, Deutschland auf internationaler Bühne als Kulturnation zu präsentieren . Das Bemühen der staatlichen Repräsentanten, die geschichtskulturelle Bedeutung Luthers und der Reformation differenziert, aber zugleich als grundsätzlich positiv darzustellen, wird besonders deutlich in der Rede, die die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters, bei der Eröffnungsfeier des Jubiläumsjahres am 31 . Oktober 2016 in Berlin hielt: „Fest steht: Martin Luther irritiert, provoziert und fordert uns heraus – bis heute . Man kann ihn bewundern als Wegbereiter einer einheitlichen und einigenden deutschen Schriftsprache, als – wenn auch unfreiwilligen – Geburtshelfer des mündigen Bürgers und der pluralistischen Gesellschaft . Man kann ihn verabscheuen wegen seiner Tiraden gegen Andersdenkende und Andersglaubende und wegen seiner abstoßenden antijüdischen Äußerungen . Ignorieren jedoch kann man ihn nicht . Man kommt nicht an ihm vorbei, wenn man die Entwicklung unserer bürgerlichen Ideale und demokratischen Werte verstehen will . Mit seinem streitbaren Vermächtnis widersetzt er sich der Musealisierung ebenso wie der politischen Vereinnahmung . Er nötigt uns, Licht und Schatten der Reformationsgeschichte zu erkunden und dem reformatorischen Geist der Veränderung durch die Jahrhunderte bis heute nachzuspüren .“4

Die EKD setzte dagegen andere Akzente . In den ersten Jahren der Lutherdekade versuchte sie, theologische Impulse zu geben, vor allem mit dem 2014 erschienenen

Reformationsjubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdigen . Antrag, Deutscher Bundestag, 16 . Wahlperiode, Drucksache 16/9830, 26 .06 .2008, in: dipbt .bundestag .de, URL: http://dipbt .bundestag .de/ dip21/btd/16/098/1609830 .pdf, letzter Zugriff: 12 .08 .2018 . 4 Rede von Staatsministerin Grütters zur Eröffnung des Reformationsjubiläums, in: bundesregierung .de, 31 .10 .2016, URL: https://www .bundesregierung .de/Content/DE/Rede/2016/11/2016-11-01-gruetters-festakt -reformationsjubilaeum .html, letzter Zugriff: 12 .08 .2018 . 3

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Grundlagentext „Rechtfertigung und Freiheit“, in dem die Rechtfertigungslehre als das wesentliche evangelische Identitätsmerkmal benannt und mit Hilfe der sogenannten protestantischen Exklusivpartikel (solus Christus, sola gratia, sola fide, solo verbo, sola scriptura) entfaltet wurde .5 Je näher das Jubiläumsjahr 2017 rückte, desto stärker trat dieser theologische Impuls in den Zielsetzungen der EKD zurück und machte aktuellen gesellschaftspolitischen Anliegen Platz, zu denen man aus der Perspektive des Protestantismus der Gegenwart konstruktive Beiträge leisten wollte . Damit ging aber auch einher, dass dem vergegenwärtigenden Blick in die Geschichte keine herausgehobene Bedeutung zukam, ja dass dieser bei dem Versuch einer Selbstvergewisserung der Gegenwart eher zu stören schien . Am stärksten kam diese ahistorische und gesellschaftspolitische Zielperspektive in den kirchlichen Großveranstaltungen 2017 zum Ausdruck, die schon in ihrer Öffentlichkeitsarbeit ganz auf geschichtliche oder auch nur traditionell christliche Bezüge verzichteten .6 Wo es um Luther und die Reformation ging, war man kirchlicherseits mindestens so sehr um ein differenziertes Urteil bemüht wie die staatlichen Akteure . In der öffentlichen Wahrnehmung führte dies zu einer besonders starken Betonung der sogenannten „Schattenseiten“ Luthers, besonders seines Verhältnisses zum Judentum . Im November 2015 veröffentlichte die Synode der EKD dazu eine Stellungnahme, in der sie sich ausdrücklich von Luthers Antijudaismus distanzierte: „Luthers Sicht des Judentums und seine Schmähungen gegen Juden stehen nach unserem heutigen Verständnis im Widerspruch zum Glauben an den einen Gott, der sich in dem Juden Jesus offenbart hat .“7 Mit dem Wissenschaftlichen Beirat für das Reformationsjubiläum war auch die akademische Reformationsforschung in den Vorbereitungs- und Durchführungsprozess des Jubiläums involviert . Wenn dennoch der Eindruck entstand, dass die Geschichtswissenschaft mit dem Jubiläum „fremdelte“8, von der Theologie „wenig zu hören“9 gewesen sei und die Kirchengeschichte eine „grummelige Meckerstimmung“10 gegenüber den Jubiläumsaktivitäten an den Tag gelegt habe, so hängt dies zum einen Rechtfertigung und Freiheit . 500 Jahre Reformation 2017 . Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014 . 6 Vgl . r2017 . Dokumentation der Projekte des Vereins Reformationsjubiläum 2017, Berlin 2018, S . 27–30 und S . 50–51 . 7 Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum . Kundgebung der 12 . Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 2 . Tagung, 11 .11 .2015, in: dietrich-bonhoeffer-verein .de, URL: http://www .dietrich-bonhoeffer-verein .de/site-dbv/assets/files/1730/2015-11-11_ kundgebung_12synode_zur_judenfrage_luthers .pdf, letzter Zugriff: 12 .08 .2018 . 8 Matthias Pohlig: Vom Fremdeln mit dem Reformationsjubiläum 2017 . Über die Rolle der Geschichtswissenschaft bei den Aktivitäten zum Luther-Gedenken, o . D ., in: uni-muenster .de, URL: https://www .uni-mu enster .de/imperia/md/content/religion_und_politik/aktuelles/2014/10_2014/ansichtssache_reformati onsjubilaeum_matthias_pohlig .pdf, letzter Zugriff: 12 .08 .2018 . 9 Clemens W . Bethge: Reformation neu denken . Ein theologisches Dilemma?, in: Johann Hinrich Claussen, Stefan Rhein (Hrsg .): Reformation 2017 . Eine Bilanz, Leipzig 2017, S . 62–66, hier S . 64 . 10 Thies Gundlach: Perspektiven vermisst . Die akademische Theologie verstolpert das Reformationsjubiläum, in: zeitzeichen 3 (2017), S . 47–49, hier S . 48 . 5

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mit einer von Fachvertretern selbst diagnostizierten Skepsis11 gegenüber Public History zusammen, die im Verdacht steht, Geschichte im „Twitterformat“ zu banalisieren und die „monumentalische Geschichtsbetrachtung“12 des 19 . Jahrhunderts reaktivieren zu wollen; zum anderen mit dem Vorherrschen des Fremdheitsparadigmas in der Reformationsforschung, das sich als unvereinbar mit den erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Zielsetzungen der wesentlichen Akteure des Reformationsjubiläums erwies . Weder die Rechtfertigungslehre, so kann man die Stellungnahmen führender Theologen und Reformationshistoriker während der Lutherdekade zusammenfassen, noch die geistige, soziale und politische Situation der Reformationszeit böten noch einen Anknüpfungspunkt an heutige Lebensumstände, weder suche der Mensch des 21 . Jahrhunderts nach dem gnädigen Gott, noch sei es zulässig, die Entwicklung von Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten auf die Reformation zurückzuführen: „Es ist an der Zeit, diesen Gedenkkult zu durchbrechen und Martin Luther, sein Denken und Handeln wie dasjenige seiner Zeitgenossen als das darzustellen, was sie für den heutigen Menschen zuerst und vor allem sind, nämlich Zeugen ‚einer Welt, die wir verloren haben‘, oder besser gesagt, die nicht mehr die unsere ist und uns somit mit dem Fremden und ganz Anderen konfrontiert .“13

Der vermeintliche Gegensatz zwischen dem wissenschaftlichen Anliegen einer Historisierung der Reformation und dem erinnerungskulturellen Anliegen einer Aktualisierung brach Ende 2016 insbesondere anhand der Plakatkampagne für die drei Nationalen Sonderausstellungen zum Reformationsjubiläum auf . Das Plakatmotiv zeigte einen stilisierten Hammer auf knallbuntem Hintergrund, dazu der Spruch: „Die volle Wucht der Reformation“ . Diese Kampagne löste eine heftige Kontroverse im Wissenschaftlichen Beirat für das Reformationsjubiläum aus, die zum Teil auch öffentlich ausgetragen wurde .14 Neben Grundsatzkritik und Unverständnis über besucher- statt

Pohlig, Vom Fremdeln, o . D, unpag .; Christoph Markschies: Aufbruch oder Katerstimmung? Zur Lage nach dem Reformationsjubiläum, Hamburg 2017, S . 92 . 12 Thomas Kaufmann, Martin Laube: So nicht! Die EKD hat die Reformation theologisch entkernt, in: zeitzeichen 4 (2017), S . 20–22, Zitate S . 20 und S . 22 . 13 Heinz Schilling: Martin Luther . Rebell in einer Zeit des Umbruchs, 3 ., durchgesehene Aufl . 2014, S . 15 . Vgl . außerdem Volker Leppin: Die fremde Reformation . Luthers mystische Wurzeln, München 2016, S . 9–10; Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte . Eine Geschichte der Reformation, München 2016, S . 17; Thomas Kaufmann, Heinz Schilling: Die EKD hat ein ideologisches Luther-Bild, in: welt .de, 24 .05 .2014, URL: https://www .welt .de/debatte/kommentare/article128354577/Die-EKD-hat-ein-ideolo gisches-Luther-Bild .html, letzter Zugriff: 13 .08 .2018 . 14 Thomas Kaufmann: Druckerpresse statt Hammer, in: faz .net, 16 .11 .2016, URL: http://www .faz .net/ aktuell/politik/die-gegenwart/reformationstag-druckerpresse-statt-hammer-14504788 .html?printPage dArticle=true#pageIndex_0, letzter Zugriff: 13 .08 .2018; Aleida Assmann: Was ist so schlimm an einem Hammer?, in: rotary .de, 01 .01 .2017, URL: https://rotary .de/gesellschaft/was-ist-so-schlimm-an-einemhammer-a-10106 .html, letzter Zugriff: 13 .08 .2018 . 11

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forscherorientierter Werbung kam in dieser Debatte auch zur Geltung, dass gerade in der Hinwendung zur Kultur-, Ideen- und Symbolgeschichte der letzten Jahrzehnte ein Potenzial liegt, von wissenschaftlicher Seite aus neues Verständnis für den nichtwissenschaftlichen Umgang mit Geschichte zu gewinnen . Ganz zutreffend hat in anderem Zusammenhang Jan Assmann darauf hingewiesen, dass das Interesse an Geschichte „bis in verhältnismäßig späte Zeit hinein (…) kein spezifisch ‚historisches‘ Interesse war, sondern ein zugleich umfassenderes und konkreteres Interesse an Legitimation, Rechtfertigung, Versöhnung, Veränderung usw ., und in jenen Funktionsrahmen gehört, den wir mit den Begriffen Erinnerung, Überlieferung und Identität abstecken .“15 Wer den „Hammer“ verteidigte, verwies ganz in diesem Sinne auf die Legitimität des Anliegens, „wirkmächtige Bilder“16 als didaktische Anknüpfungspunkte zu nutzen, sowie darauf, dass das Fremdheitsparadigma nicht in der Lage sei, Interesse am historisch-kulturellen Erbe zu wecken und aufrechtzuerhalten .17 Wer ein solches Anliegen ganz und gar ablehne, der betreibe damit faktisch den „Abschied der Wissenschaft aus der Jubiläumskultur“18 . Das Jubiläum auf dem Buchmarkt

Wenn es auch Spannungen zwischen Reformationsforschung und Jubiläumskultur gab, so war die historische Forschung doch sehr stark präsent auf dem Buchmarkt . Das liegt zunächst an den zahlreichen Ausstellungen und Tagungen anlässlich der Lutherdekade, die entsprechend zahlreiche Ausstellungskataloge und Tagungsbände hervorbrachten . Wissenschaftliche Monografien sind dagegen eher wenige erschienen . In einigen Fällen gelang es aber, langjährige, zum Teil jahrzehntelange Arbeiten abzuschließen, etwa zur Rechtsgeschichte der Reformation19 oder zur Gesamtdarstellung der Theologie Luthers in ihrem historischen Zusammenhang20 . Die inhaltlichen Tendenzen und Akzentverschiebungen der Reformationsforschung werden wohl am stärksten repräsentiert durch die kleine Abhandlung des Kirchenhistorikers Berndt

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis . Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S . 67 . 16 Assmann, Was ist so schlimm, 2017 . 17 Benjamin Hasselhorn: Dritter Weg . Richtiges Erinnern changiert zwischen Historisierung und Aktualisierung, in: zeitzeichen 5 (2017), S . 25–27; Benjamin Hasselhorn (Hrsg .): Luther vermitteln . Reformationsgeschichte zwischen Historisierung und Aktualisierung, Leipzig 2016 . 18 Rhein, Innenansichten, 2017, S . 147–148 . 19 Martin Heckel: Martin Luthers Reformation und das Recht . Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“, Tübingen 2016 . 20 Reinhard Schwarz: Martin Luther . Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 22016 . 15

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Hamm über das Verhältnis von Ablass und Reformation .21 Hatte in der älteren Forschung der kirchliche Ablasshandel vor allem als Negativfolie für die reformatorischen Gegenbestrebungen gedient, so ist seit einiger Zeit das Bemühen erkennbar, den Ablass theologisch ernstzunehmen und zum Teil zu rehabilitieren . Bei dieser Neudeutung steht weniger der finanzielle als der seelsorgerliche Aspekt des spätmittelalterlichen Ablasshandels im Vordergrund, und die Ablasskampagnen mit ihren immer umfassender gewährten Ablässen werden verstanden als kirchliches Angebot, mit der grassierenden Furcht der Menschen vor Hölle und Fegefeuer umzugehen . Hamm plädiert ganz in diesem Sinne dafür, spätmittelalterliche Ablass- und reformatorische Gnadenfrömmigkeit nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern als einander sehr verwandte Versuche, die Frage nach dem Heil zu beantworten . Er zeigt, dass vor der Reformation der kirchliche Ablass eine Tendenz zur Entgrenzung gehabt habe, das heißt zu einer möglichst umfassenden Heilssicherheit durch den Erwerb des Ablasses, einer vollständigen Entleerung des Fegefeuers gewissermaßen, die zudem von einer Heilsnotwendigkeit der guten Werke immer weiter weggeführt habe . Luthers reformatorische Rechtfertigungslehre habe letztlich in einer Kontinuität zu dieser Tendenz gestanden, indem er die Heilsnotwendigkeit der guten Werke gänzlich bestritt und im Grunde den vollständigsten Ablass überhaupt verkündete . Damit widerspricht Hamm der klassischen protestantischen Reformationsforschung, nach der Luthers Gnadenlehre eine fundamentale Abkehr von der Ablasslogik bedeutete . Die Ablasskampagnen machten die gewährten Gnaden immer größer und senkten die an die Gläubigen gestellten Anforderungen immer weiter ab . Luther, so die klassische Sicht, habe demgegenüber gerade den Ernst der Bußforderung betont und habe den Ablassverkäufern vorgeworfen, dass sie zu moralischer Laxheit aufriefen . Hamm hält dem entgegen, dass derselbe Vorwurf von römischer Seite an Luthers Rechtfertigungslehre ergangen sei . Tatsächlich seien Luther und die Ablasstheologen in ihrem seelsorgerlichen Bemühen vereint, den Menschen von seiner ständigen Sorge um das eigene Heil zu befreien und ihn gerade dadurch zu guten Werken anzuhalten . Der reformatorische Systembruch sei lediglich dadurch zu erklären, dass Luther die von den Menschen geforderte Mitwirkung am Heil von einem Minimum, wie die Ablasstheologen es vertraten, zum Nichts reduzierte – und damit das ganze System des Ablasses zerbrach . Stärker als die genuin fachwissenschaftlichen Publikationen wirkten auf geschichtspolitischem Feld die für ein breiteres Publikum verfassten Werke renommierter Fachhistoriker . Zu nennen sind hier vor allem die von Heinz Schilling vorgelegte Weltgeschichte des Jahres 1517, Thomas Kaufmanns Gesamtdarstellung der Reformation, Volker Leppins Arbeit über Luthers „mystische Wurzeln“ sowie Volker Reinhardts Berndt Hamm: Ablass und Reformation . Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016 . Siehe dazu auch Hartmut Kühne, Enno Bünz, Peter Wiegand (Hrsg .): Johann Tetzel und der Ablass . Begleitband zur Ausstellung »Tetzel – Ablass – Fegefeuer« in Mönchenkloster und Nikolaikirche Jüterbog vom 8 . September bis 26 . November 2017, Berlin 2017 . 21

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Darstellung des „Lutherstreits“ aus der Perspektive Roms .22 Interessant sind diese Bücher erstens, weil sie in der öffentlichen Wahrnehmung andere vergleichbare Publikationen in den Schatten stellten, und zweitens, weil hier mit Schilling, Kaufmann und Leppin drei Autoren versammelt sind, die in der einen oder anderen Weise das Fremdheitsparadigma in Bezug auf die Reformation vertreten . Volker Leppin unternimmt den Versuch, Luthers „Fremdheit“ als ökumenische Chance zu deuten: Anders als es die klassische protestantische Erzählung behaupte, sei die Reformation keineswegs einfach als Beginn der aufgeklärten Moderne und als Bruch mit dem Mittelalter zu verstehen, sondern die Reformation sei nur adäquat interpretierbar als ein Transformationsprozess, der die sich bildende evangelische Konfession ebenso betroffen habe wie die sich bildende katholische . Gerade Luther sei so sehr in mittelalterlichen Traditionen verhaftet gewesen, dass man im Streit zwischen Luther und seinen papsttreuen Gegnern kaum sauber zwischen „Neuem“ und „Altem“ trennen könne . Vielmehr habe sich Luther der einen mittelalterlichen Tradition – der Mystik – bedient, um gegen die andere – die Scholastik – zu streiten . Dies zeige, dass die Kirchenspaltung nicht allein seinetwegen erfolgt sei, sondern aufgrund eines Auseinandergehens verschiedener Traditionen des Mittelalters . Von einer prinzipiellen Unvereinbarkeit evangelischer und katholischer Lehrinhalte könne daher keine Rede sein, was im Blick auf die Ökumene hoffnungsvoll stimme . Leppin belässt es also nicht bei einer strikten Historisierung der „fremden Reformation“, sondern aktualisiert diese auf ein kirchenpolitisches Ziel hin . Heinz Schilling und Thomas Kaufmann haben demgegenüber keine erkennbare kirchenpolitische Agenda, sondern arbeiten sich eher an der säkularen Variante der klassischen Erzählung von der Reformation als Beginn der Moderne und ihrer „Freiheitsgeschichte“23 ab . Kaufmann ist dabei ausdrücklich bestrebt, „dem langen Schatten des 19 . Jahrhunderts“24 zu entrinnen, womit er neben der Behauptung der Epochengrenze Reformation vor allem deren Monumentalisierung und Nationalisierung meint . Das Bild der Reformationsepoche, das Kaufmann entwirft, ist allerdings kein Gegenentwurf zu klassischen Reformationsdeutungen – zumal auch beispielsweise Leopold von Ranke von einer nationalen Verengung des Reformationsgeschehens weit entfernt war –, sondern eher eine moderate Korrektur: Kaufmann entwirft ein Bild vom 16 . Jahrhundert als einer Zeit des beschleunigten Wandels, geprägt durch die Medienrevolution des Buchdrucks, und deutet die Reformation zwar nicht als Auslöser, aber doch als Katalysator der europäischen Moderne .

Heinz Schilling: 1517 . Weltgeschichte eines Jahres, München 2017; Kaufmann: Erlöste und Verdammte, 2016; Leppin: Die fremde Reformation, 2016; Volker Reinhardt: Luther, der Ketzer . Rom und die Reformation, München 2016 . 23 Rechtfertigung und Freiheit, 2014, S . 13 . 24 Kaufmann: Erlöste und Verdammte, 2016, S . 12 .

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Schillings Bild der Reformation unterscheidet sich davon kaum . Dass er die Reformationszeit als „Zeit des Umbruchs“25 versteht, wurde schon in seiner erstmals 2012 erschienenen Lutherbiographie deutlich . In „1517“ arbeitet Schilling noch stärker den „weltgeschichtlichen Schwebezustand um 1517“26 heraus und gesteht der Reformation zu, einen wichtigen Schub in Richtung Freiheit und säkulare Humanität gebracht zu haben . Schilling schließt, ähnlich wie Leppin, mit einem nicht mehr wissenschaftlichen, sondern aktualisierend-politischen Plädoyer, nämlich, dass die in der Reformation errungenen Freiheitswerte längst keine genuin reformatorischen oder auch nur christlichen Werte mehr seien, sondern universale . Während für Schilling und Kaufmann die Herausstellung der „Europäizität“27 der Reformation ein Kernanliegen ist, geht Volker Reinhardt den umgekehrten Weg und rehabilitiert die ältere Deutung der Reformation als (auch) nationalen Konflikt zwischen Deutschen und Italienern . Der habe schon vor der Reformation bestanden, und Luther, der sich spätestens seit seinem Auftritt auf dem Wormser Reichstag 1521 als „Prophet der Deutschen“ inszeniert habe, habe sich diesen „clash of cultures“28 zu Nutze gemacht . Es ist genau dieser nationale Kulturkampf, in dem Reinhardt so etwas wie die Aktualität der Reformation ausmacht: Während Luthers theologische Auffassungen längst faktisch erledigt seien (!), sei der Nationalismus des 15 . und 16 . Jahrhunderts ein Erbe, das heute wieder an Brisanz gewinne . Neben diesen „populären“ Werken von Fachhistorikern war der Buchmarkt zum Reformationsjubiläum von Lutherbiografien dominiert . Es zeigt sich an dieser Tatsache, dass der Wunsch nach einem Reformations- in bewusster Abgrenzung zu einem Lutherjubiläum erinnerungspolitisch gescheitert ist . Dasselbe wird man von der Betonung der kritischen Perspektive auf Luther sagen dürfen; in der öffentlichen Wahrnehmung jedenfalls dominierten jene Lutherbiographien, die ein grundsätzlich positives, verständnisvolles Bild des Reformators zeichneten – ohne dabei allerdings die sperrigen, polemischen oder sonstwie „fremden“ Aspekte Luthers zu unterschlagen . Dies gilt etwa für die Lutherbiografien Joachim Köhlers, Heimo Schwilks und Klaus-Rüdiger Mais, die sowohl die bleibende Relevanz von Luthers existenzieller, die individuelle Gottesbeziehung ins Zentrum rückender Religiosität betonen als auch das produktive Irritationspotenzial, das den erwähnten „fremden“ Zügen Luthers innewohnt .29

Schilling: Martin Luther, 2014 . Schilling: 1517, 2017, S . 96 . Kaufmann: Erlöste und Verdammte, 2016, S . 10 . Reinhardt: Luther, der Ketzer, 2016, S . 325 . Joachim Köhler: Luther! Biographie eines Befreiten, Leipzig 2016; Heimo Schwilk: Luther . Der Zorn Gottes, München 2017; Klaus-Rüdiger Mai: Martin Luther . Prophet der Freiheit . Romanbiographie, Freiburg i . Br . 2014 . 25 26 27 28 29

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Unter den Lutherbiografien sticht diejenige Lyndal Ropers aufgrund ihres großen Erfolgs noch einmal besonders heraus .30 Sie unternimmt eine psychohistorische Betrachtung Luthers und versucht, dessen innere Entwicklung nachzuzeichnen und plausibel zu machen . Es ist dabei aber weniger das existenzielle – gewöhnlich unter dem Stichwort „Heilsgewissheit“ zusammengefasste – Anliegen Luthers, das in Ropers Darstellung im Vordergrund steht, sondern eher dessen charakterliche im Zusammenhang mit der theologischen Entwicklung . Gemäß der Linie ihrer 2012 erschienenen Studie über Luthers Körper31 betrachtet sie Luthers Körperlichkeit als einen Schlüssel zum Verständnis seines Lebens wie seiner Theologie . Zwei Grundgedanken sind es, die durch diesen Fokus besonders stark hervortreten: das neue, nämlich viel stärker bejahende Verhältnis zur Welt, welches Luthers Reformation bewirkte, sowie die Ergänzung von Luthers theologischem Kerngedanken, der Gnadenlehre, um die Lehre von der Realpräsenz Christi im Abendmahl als ebenso zentralen Bestandteil der reformatorischen Botschaft . Im Grunde bestätigt sich im Bucherfolg Ropers jener Rat, den das deutsche Feuilleton den Akteuren des Reformationsjubiläums vorab gegeben hat, nämlich trotz aller Bedenken Luther in den Mittelpunkt der Aktivitäten zu stellen und sich dabei besonders auf den Menschen Luther zu konzentrieren: „Deutsche, lasst euch euren Luther nicht nehmen! So möchte man im Stil der Flugschriftenpublizistik des sechzehnten Jahrhunderts ausrufen, wenn man sieht, was derzeit mit dem ‚Propheten der Deutschen‘ (Luther über Luther) geschieht . Ja, schützt Luther vor denen, die heute vorgeben, ihn vor sich selbst schützen zu wollen! Vor denen, die sich eher für Luther entschuldigen möchten, als sich für sein Genie zu interessieren .“32

Debattenbücher, die kritische Bilanzen und Denkanstöße liefern wollten33, spielten dagegen 2017 eine untergeordnete Rolle . Ob das wirklich daran liegt, „dass dieses Reformationsjubiläum keine lohnenden Streitschriften hervorgebracht hat“34 oder eher daran, dass die evangelische Kirche, an die sich die Mehrzahl der kritischen Anstöße richtete, die Auseinandersetzung nicht aufnahm, sei dahingestellt . Möglicherweise werden auch erst die nächsten Jahre zeigen, welche Anstöße fruchtbar wirken; 2017

Lyndal Roper: Der Mensch Martin Luther . Die Biographie, Frankfurt a . M . 2016 . Das Buch wurde breit rezensiert, war in den Buchhandlungen präsent und wurde 2016 mit dem Gerda Henkel Preis ausgezeichnet . 31 Lyndal Roper: Der feiste Doktor . Luther, sein Körper und seine Biographen, Göttingen 2012 . 32 Christian Geyer: Martin Luther – Freiheitskämpfer oder Volksverhetzer?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19 .11 .2014 . 33 Zu nennen sind hier u . a . Norbert Bolz: Zurück zu Luther, Paderborn 2016; Klaus-Rüdiger Mai: Gehört Luther zu Deutschland?, Freiburg i . Br . 2016; Benjamin Hasselhorn: Das Ende des Luthertums?, Leipzig 2017; Siegfried Eckert: 2017 . Zweitausendsiebzehn . Reformation statt Reförmchen, Gütersloh 2014 . 34 Johann Hinrich Claussen: Das Jubiläum auf dem Buchmarkt feiern . Ein Blick auf die publizistische Ernte des Reformationsjubiläums, in: Johann Hinrich Claussen, Stefan Rhein (Hrsg .): Reformation 2017 . Eine Bilanz, Leipzig 2017, S . 55–61, hier S . 59 . 30

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ging es der EKD jedenfalls nicht um eine kritische Bilanz, sondern um positive Selbstvergewisserung . Als das Buch des Reformationsjubiläums dürfte sich nicht zuletzt deshalb die Revision der Lutherbibel erweisen, die sich nicht nur sehr gut verkauft, sondern die in ihrem Versuch, den Sprachgebrauch Luthers vorsichtig zu rehabilitieren, auch überwiegend Zustimmung erfahren hat . Ausstellungen und Veranstaltungen

Aus der Fülle der Veranstaltungen und Projekte zum Reformationsjubiläum werden im Folgenden drei Typen herausgegriffen, in denen sich Erinnerungskultur und Geschichtspolitik des Jubiläums am stärksten bündeln: die offiziellen Feiern und zentralen Festveranstaltungen, die kirchlichen Großprojekte sowie die meist staatlich geförderten kulturhistorischen Ausstellungen . Die großen Festveranstaltungen des Jubiläumsjahres 2017 hatten ihren wesentlichen Schwerpunkt in der ökumenischen Frage . Dies gilt sowohl für die Feiern zur Eröffnung des Jubiläums am 31 . Oktober 2016 als auch für den Versöhnungsgottesdienst am 11 . März 2017 in Hildesheim und den Festgottesdienst am Reformationstag 2017 in Wittenberg . Die Eröffnung des Reformationsjubiläums fand sowohl international wie national statt: Bei einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung in der Kathedrale von Lund (Schweden) unterzeichneten Papst Franziskus und der Präsident des Lutherischen Weltbundes (LWB), Bischof Munib Younan, eine ökumenische Erklärung, die die kirchliche Einheit als gemeinsames Ziel benannte .35 Beim gleichzeitig stattfindenden nationalen Eröffnungsgottesdienst in der Berliner Marienkirche wurde die Martin-Luther-Medaille an den emeritierten Bischof von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, verliehen . Die anschließende weltliche Eröffnungsfeier setzte mit ihrem aus klassischer, christlicher, jüdischer und muslimischer Musik bestehenden musikalischen Programm darüber hinaus ein Zeichen für ein überchristlich-ökumenisches Anliegen des Reformationsjubiläums . Die weiteren Großfeste konzentrierten sich allerdings auf die protestantisch-katholische Versöhnungsarbeit . Das gilt für den als ökumenisches „Christusfest“36 inszenierten Hildesheimer Versöhnungsgottesdienst ebenso wie für den Wittenberger Festgottesdienst am 31 . Oktober 2017, in dessen Rahmen der EKD-Ratspräsident Heinrich Bedford-Strohm und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Reinhard Kardinal Marx dem Bundespräsidenten das für den Hildesheimer Gottesdienst geschaffene Versöhnungskreuz überreichten .

Stefanie Stahlhofen: Gemeinsam unterwegs in Sachen Ökumene, in: katholisch .de, 01 .11 .2016, URL: http://www .katholisch .de/aktuelles/aktuelle-artikel/gemeinsam-unterwegs-in-sachen-okumene, letzter Zugriff: 15 .08 .2018 . 36 Deutsche Bischofskonferenz, Evangelische Kirche in Deutschland: Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen . Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017, Hannover 2016, S . 6 . 35

Reformation als Gedenkort im Jahr 2017

War also die Ökumene das zentrale Thema der rahmenden Feste, so spielte in den kirchlichen Großveranstaltungen 2017 Anderes die Hauptrolle . Sowohl der Kirchentag in Berlin und Wittenberg als auch die „Kirchentage auf dem Weg“ in acht mitteldeutschen Städten und die im Sommer 2017 in Wittenberg präsentierte „Weltausstellung Reformation“ legten ihren Fokus auf aktuelle gesellschaftspolitische Fragen, letztere bereits mit ihrer eigenen Werbekampagne: „Reformation heißt, die Welt zu hinterfragen“ .37 Diese Entscheidung rief zum Teil massive öffentliche Kritik hervor . Angesichts der zahlreichen Politikerauftritte auf dem Kirchentag, wie dem Gespräch zwischen Angela Merkel und Barack Obama vier Monate vor der Bundestagswahl stellte die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Frage, wo eigentlich die Grenze verlaufe „zwischen Kirchentag und Wahlwerbung“38 . In der Wochenzeitung Die Zeit wurde davor gewarnt, dass eine vornehmlich politisch agierende Kirche in der Gefahr stehe, „ihre religiöse Botschaft zu verlieren und sich selber zu säkularisieren“39 . Prominente und Politiker wie Wolfgang Schäuble, Sibylle Lewitscharoff und Volker Beck kritisierten die evangelische Kirche als zu politisch, zu weichgespült, mit zu wenig Mut zur Theologie .40 Dass die Besucherzahlen dieser Veranstaltungen deutlich hinter den vorab geäußerten Erwartungen zurückblieben, nahmen viele zum Anlass, sich nicht nur in ihrer konkreten Kritik bestätigt zu sehen, sondern das ganze Jubiläum pauschal als „Pleite des Jahres“41 zu bezeichnen . Dabei wurden die Jubiläumsprojekte jenseits der genannten kirchlichen Großveranstaltungen über die Erwartungen hinaus gut angenommen . Das gilt sowohl für die in den Gemeinden organisierten kirchlichen als auch die zahlreichen kulturellen Veranstaltungen . Es gilt aber auch für die zentralen kulturhistorischen Ausstellungen, allen voran die drei Nationalen Sonderausstellungen in Berlin, Eisenach und Wittenberg .42 Vgl . dazu r2017 . Dokumentation der Projekte des Vereins Reformationsjubiläum 2017, Berlin 2018, sowie Margot Käßmann (Hrsg .): Die Welt hinterfragen . Dokumente eines Aufbruchs, Leipzig 2017 . 38 Justus Bender, Reinhard Bingener: Sanftmut in Berlin, in: faz .net, 26 .05 .2017, URL: http://www .faz .net/ aktuell/politik/inland/evangelischer-kirchentag-beliebt-beim-nachwuchs-kritik-von-der-politik-15034095 . html, letzter Zugriff: 15 .08 .2018 . 39 Wolfgang Thielmann: Wie viel Politik ist gut für den Kirchentag?, in: zeit .de, 22 .05 .2017, URL: https:// www .zeit .de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017–05/kirchentag-barack-obama-angela-merkel-berlin-witten berg, letzter Zugriff: 15 .08 .2018 . 40 Wolfgang Schäuble: Das Reformationsjubiläum 2017 und die Politik in Deutschland und Europa, in: Pastoraltheologie 105 (2016), S . 44–53; Schriftstellerin kritisiert weichgespülte Sprache in Gottesdiensten, in: pro-medienmagazin .de, 27 .02 .2014, URL: https://www .pro-medienmagazin .de/gesellschaft/ kirche/2014/02/27/schriftstellerin-kritisiert-weichgespuelte-sprache-in-gottesdiensten/, letzter Zugriff: 15 .08 .2018; Volker Beck wünscht der Kirche „mehr Mut zur Theologie“, in: idea .de, 24 .03 .2017, URL: https:// www .idea .de/frei-kirchen/detail/volker-beck-wuenscht-der-kirche-mehr-mut-zur-theologie-100375 .html, letzter Zugriff: 15 .08 .2018 . 41 Ralph Bollmann: Luther – die Pleite des Jahres, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09 .07 .2017 . 42 Vgl . die Ausstellungskataloge: Deutsches Historisches Museum (Hrsg .): Der Luthereffekt . 500 Jahre Protestantismus in der Welt, München 2017; Wartburg-Stiftung Eisenach (Hrsg .): Luther und die Deutschen, Petersberg 2017; Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt (Hrsg .): Luther! 95 Schätze – 95 Menschen, München 2017 . 37

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An ihnen wie an zahlreichen weiteren Ausstellungen des Reformationsjubiläums zeigt sich, dass Ausstellungen zu einem herausragenden Medium des Reformationsjubiläums 2017 wurden – und damit möglicherweise auch für die Zukunft zu einem zentralen Medium historischer und kultureller Bildung . Aufgrund der großen inhaltlichen Spannbreite und Heterogenität der Ausstellungen wird man diesen Sachverhalt kaum auf bestimmte inhaltliche Schwerpunkte zurückführen können . Eine Gemeinsamkeit der Ausstellungsprojekte ist aber mit Sicherheit der historische (statt des aktuell-gesellschaftspolitischen) Zugriff auf die Reformation . Dass gerade hierin ein Erfolgsgeheimnis lag, wird daran deutlich, dass die historischen Reformationsstätten 2017 ausnahmslos hohe Besucherzuwächse verzeichneten . Hier spielte auch die Stärkung kultureller Identität durch den Bezug auf das eigene (regionale, religiöse, nationale) Erbe eine Rolle sowie die Bereitschaft vieler musealer Geschichtsvermittler, zu personalisieren und sich auf das Publikumszugpferd Martin Luther einzulassen . Resümierende Schlussbemerkungen

Die geschichts- und erinnerungspolitische Deutungshoheit über das Reformationsjubiläum wird seit dem 31 . Oktober 2017 von den Akteuren selbst beansprucht . Sowohl seitens der staatlichen wie der kirchlichen Institutionen und auch von Wissenschaftlern sind bereits bilanzierende Publikationen erschienen .43 So unterschiedlich die Resümees auch ausfallen, so besteht doch eine gewisse Einigkeit in folgenden Punkten: 1) Historisch-wissenschaftliche Forschung und öffentliche Jubiläumskultur stehen in einem Spannungsverhältnis, das 2017 ungleich stärker zum Ausdruck gekommen ist als etwa noch 1983, einem Jubiläum, das mindestens in der Bundesrepublik maßgeblich von Wissenschaftlern gestaltet wurde .44 2) Der evangelischen Kirche in Deutschland ist es nicht gelungen, einen Weg aus ihrer geistlichen und institutionellen Krise zu finden . Im Jubiläumsjahr 2017 sind mehr Menschen aus der evangelischen Kirche ausgetreten als in den Jahren davor . Taufund Sterbezahlen stehen inzwischen in einem Verhältnis von 1 zu 2, Eintritts- und Austrittszahlen in einem Verhältnis von 1 zu 8 . Der Hoffnung auf eine neue „Gene-

Johann Hinrich Claussen, Stefan Rhein (Hrsg .): Reformation 2017 . Eine Bilanz, Leipzig 2017; r2017, 2018; Käßmann: Die Welt hinterfragen, 2017; Momente 2017 . Ein Bildband zum Reformationsjubiläum, Leipzig 2017; Christoph Markschies: Aufbruch oder Katerstimmung? Zur Lage nach dem Reformationsjubiläum, Hamburg 2017; Annette Seemann, Thomas A . Seidel, Thomas Wurzel (Hrsg .): Die Reformationsdekade „Luther 2017“ in Thüringen . Dokumentation, Reflexion, Perspektive, Leipzig 2018; Staatliche Geschäftsstelle „Luther 2017“, Geschäftsstelle der EKD „Luther 2017–500 Jahre Reformation“ (Hrsg .): Reformationsjubiläum 2017 . Rückblicke, Leipzig 2018 . 44 Vgl . Benjamin Hasselhorn: Lutherdeutung zwischen Mythos und Wissenschaft, in: ders . (Hrsg): Luther vermitteln . Reformationsgeschichte zwischen Historisierung und Aktualisierung, Leipzig 2016, S . 15– 33; Rhein: Innenansichten, 2017, S . 147–148 . 43

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ration 2017“45 steht die Befürchtung entgegen, man habe 2017 „die letzte große Party des deutschen Gremienprotestantismus“46 erlebt . Die Konzentration der Kirche auf gesellschaftspolitische Fragen ruft immer stärkere Kritik hervor . Dasselbe gilt für den bewussten Bruch mit Traditionen, der auch von Kirchenvertretern diagnostiziert wird .47 3) Das historische Erbe der Reformation erfährt als positiver Faktor kultureller Identität wieder öffentliche Aufmerksamkeit . Dazu gehört nicht zuletzt die weniger von kirchlichen als von staatlichen Funktionsträgern betonte christliche Fundierung der deutschen und europäischen Kultur . Zu diesem Befund passt sowohl die Beobachtung, dass das kulturelle Interesse am Christentum wächst, als auch, dass es vor allem Politiker sind, die dieses Interesse im weitesten Sinne geschichtspolitisch zu nutzen versuchen . 4) Martin Luther bleibt als historisch-kulturelle Bezugs- und Identifikationsfigur aktuell . Die differenzierte, ambivalente Beurteilung Luthers ist vielfach gelungen, bleibt aber ein erinnerungspolitisches Risiko . Die Ausbildung einer kulturellen Identität formiert sich vornehmlich nicht durch den Bruch, sondern durch die Kontinuität mit der Vergangenheit .

Heinrich Bedford-Strohm: Ärmel hoch – der Neubau wächst, in: chrismon .evangelisch .de, 26 .07 .2017, URL: https://chrismon .evangelisch .de/evangelische-jugend, letzter Zugriff: 16 .08 .2018 . 46 Reinhard Bingener: Ein Bild von Kirche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31 .08 .2017 . 47 Abendmahl für alle . Interview mit Heinrich Bedford-Strohm, in: Christ und Welt, 10 .11 .2017 .

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(Re-)Kapitulation Der 20. Juni als Opfergedenktag und erinnerungskulturelles Instrument David Zolldan

Zusammenfassung

Seit dem Jahr 2015 wird in Deutschland „unter besonderer Betonung von Flucht und Vertreibung der Deutschen“ den Opfern von Zwangsmigrationen am Weltflüchtlingstag gedacht . Die mit dem 20 . Juni fortgesetzte Rekontextualisierung des Topos ‚Flucht und Vertreibung‘ entkoppelt ihn kausal weiter vom nationalsozialistischen Krieg und seinen Folgen . Dabei führt die mit dem neuen Gedenktag vollzogene Einbettung in die Migrationsgeschichte und -gegenwart auch bei den Vertriebenenverbänden und ihrer politischen Lobby zu Polarisierungen . Die Koppelung an aktuelle, gesellschaftlich stark polarisierte Haltungen zu Migrationspolitik und Geflüchteten wird als Lackmustest der verbandlichen Modernisierung dargestellt . Abstract

On World Refugee Day Germany remembers the victims of forced migration with a specific focus on ‚flight and expulsion of Germans‘ since 2015 . With the focus on June 20 the recontextualization of ‚flight and expulsion‘ continues to decouple the topos further from its causality to the nationalsocialist war and its consequences . The embedding of the the topos of ‚flight and expulsion‘ into the history and presence of migration lead to polarizations within the Federation of Expellees and their political lobby groups . The paring of the history to present attitudes on migration politics and refugees is presented as litmus test of the modernization of the federation .

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Im Jahr 2015 veröffentlichte die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung eine von ihr in Auftrag gegebene Studie zu Haltungen zum Topos ‚Flucht und Vertreibung‘ in Deutschland, Polen und Tschechien . Aktuelle Flüchtlingsdebatten beschäftigten demnach über 80 Prozent der Deutschen . ‚Flucht und Vertreibung‘ der Deutschen im Nachgang zum Zweiten Weltkrieg dagegen bewegten im Gefolge der Auswirkungen gegenwärtiger Migrationsprozesse in Deutschland 54 Prozent . Laut der Studie begrüßten 53 Prozent der Befragten einen neu eingeführten Gedenktag am 20 . Juni, 31 Prozent hielten diesen für unnötig . Der 20 . Juni soll unter „besonderer Betonung der Heimatvertriebenen“ (Deutschen) die Erinnerung an vergangene und gegenwärtige Opfer von ‚Flucht und Vertreibung‘ am UN-Weltflüchtlingstag fördern . Der als „Anschlussgefecht“ (Rainer Ohliger) bezeichnete Gedenktag für deutsche Zwangsmigrierte fußt auf den Debatten um ein Zentrum gegen Vertreibung(en) und die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung . Diese deutsche Variante des Flüchtlingsgedenkens ist als versuchter erinnerungskultureller und politisch-integrativer Brückenschlag zu verstehen . Der 20 . Juni ist letztlich die politische Kompromissformel zur Befriedung der Ziele der beteiligten Akteure . Er soll einerseits helfen, das Andenken an deutsche Vertriebene stärker in der Gesellschaft zu verankern, und andererseits politisch-regressive, ethnozentrische Haltungen im Vertriebenenspektrum weiter aufzuweichen . „Ich wünschte, die Erinnerung an die geflüchteten und vertriebenen Menschen von damals könnte unser Verständnis für geflüchtete und vertriebene Menschen von heute vertiefen . Und umgekehrt: Die Auseinandersetzung mit den Entwurzelten von heute könnte unsere Empathie mit den Entwurzelten von damals fördern“ ( Joachim Gauck) .

Eine entsprechende empathietheoretische Untersuchung steht noch aus, derweil ist die Bestimmung der Wechselwirkung zwischen historischer und aktueller Flucht und des Verhältnisses dazu Teil der aktuellen politischen Auseinandersetzung . Diese spiegelt sich exemplarisch in der Vorgeschichte der Implementierung und der bisherigen Praxis des 20 . Juni . Bislang veröffentlichte Beiträge fokussierten vor allem auf den Implementierungsprozess und auf das Integrationspotenzial des Gedenktags (Scholz, Ohliger, Dräger) . So fragte Rainer Ohliger beispielsweise nach den Möglichkeiten einer schulischen Belebung des doppelten Gedenktags . Bisher fehlen dem 20 . Juni politische sowie vor allem schulische Anknüpfungspunkte . Eine basale Verankerung des Gedenktags „in der pädagogischen Praxis und im alltagskulturellen und historischen Erleben“ (Ohliger) ist bisher nicht in Sicht, obwohl bereits ungezählte Materialien aktuelle und vergangene (Zwangs-)Migrationen – darunter auch ‚Flucht und Vertreibung‘ – thematisieren und häufig auch analogisieren . Ohliger ist es auch, der die Polarisierung im Akteursfeld beschreibt: einerseits ein seit der Jahrtausendwende gebildetes Bündnis aus dem Bund der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach und CDU/ CSU, auf der Gegenseite linksliberal oder sozialdemokratisch orientierte Wissenschaftler, die politisch auf Unterstützung aus dem rot-grünen Lager hätten zählen kön-

(Re-)Kapitulation

nen . Dass diese vage Konstellation ein Echo viel älterer Konfliktlagerungen ist (Beer), erscheint weniger erstaunlich als die sich langsam eingestellte realpolitische Überlagerung beziehungsweise schleichende Erosion dieser Konflikte . So ist vielmehr eine Interessenkongruenz in der grundsätzlichen Erinnerungsfigur der Vertriebenen als Kollektivopfer absehbar . Denn die grundsätzliche Frage nach der erinnerungskulturellen Hervorhebung des Themas ‚Flucht und Vertreibung‘ war weniger strittig als etwa das Datum des Opfergedenktags . Dabei stellt die spezifische Form des Gedenkens nicht weniger zur Debatte als das gegenwärtige nationale Selbstverständnis Deutschlands . Der 20 . Juni provoziert die Frage nach dem Bewusstseinsgrad der ‚Täteropfer‘-Ambivalenz der deutschen Zwangsmigrierten, weil er der kausalen Entkoppelung von ‚Flucht und Vertreibung‘ und Nationalsozialismus Vorschub leistet . Gleichzeitig drängt er die Frage nach den Mechanismen und Reichweiten ethnozentrischer Solidarität auf . (Re-)Kontextualisierung

Längst ist für die Thematisierung von ‚Flucht und Vertreibung‘ nicht mehr die Rekonstruktion der konkreten historischen Ereignisse entscheidend, sondern es sind erinnerungskulturelle Fragen im Allgemeinen sowie nach der Kontextualisierung, Bewertung und nach den methodischen und ethischen Grundlagen des Vergleichs mit anderen Zwangsmigrationen im Speziellen . Die Einbettung des Topos in den Weltflüchtlingstag vollzieht eine nicht nur räumliche, sondern durch Gegenwartsbezug auch zeitliche Rekontextualisierung . Die qualitative Neuerung besteht jedoch neben der Aktualisierung des sozialen Handlungsfeldes Migration in der alleinigen Zuschreibung als Opfergedenktag . Durch „Schicksalsvergleiche“ (Scholz), die beispielhaft in Ausstellungen wie ‚Erzwungene Wege – Flucht und Vertreibung im Europa des 20 . Jahrhunderts‘ (2006) zum Ausdruck kamen, und durch die menschenrechtlich-universalistische Konfiguration des diskursiven Rahmens seit Ende der 1990er-Jahre konnten sich die Vertriebenen nicht nur als Opfer des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der alliierten Politik in deren Nachgang betrachten, sondern auch als Opfer einer Art anthropologischen Konstante ethnisch-motivierter Vertreibungen, in diesem Fall vor allem im 20 . Jahrhundert . So wurden in den letzten Jahren unterschiedliche historische Ereigniskomplexe mit der eigenen Erfahrung parallelisiert: etwa die Vertreibungen der Krimtataren, Karelier und Armenier, die nationalsozialistische Siedlungs- und Ausrottungspolitik, der türkisch-griechische „Bevölkerungsaustausch“ bis zu den jugoslawischen Zerfallskriegen . Aufgehend in einer Haltung, nach der alle Opfer waren, wird durch Ohnmachtszuschreibung, Monumentalisierung des Geschehens und Individualisierung der Erzählungen – wesentlichen Merkmalen des neuen Opferdiskurses – die ‚Täteropfer‘-Ambivalenz gerade der deutschen „Heimatvertriebenen“ im Rahmen einer politischen Kultur der Viktimisierung verschleiert . So erscheinen auch

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die deutschen Vertriebenen als Kollektivopfer eines katastrophischen Geschehens, als „persönlich schuldlos“ (Steinbach) . Dabei gab es keine unschuldige nationalsozialistische Zivilgesellschaft (Welzer) . Auch die von ‚Flucht und Vertreibung‘ Betroffenen waren Leidtragende, jedoch noch weniger als andere ambivalenzfreie Kollektivopfer . Die Rekontextualisierung von ‚Flucht und Vertreibung‘ in Deutschland wurde gerade durch die Universalisierung der Holocaust-Erinnerung – die von historischen Rahmenbedingungen, spezifischen Ursachen und ambivalenten Rollen abstrahiert – mit ermöglicht (Lange) . Indem ‚Flucht und Vertreibung‘ ebenso wie der Holocaust als Etappen eines ‚europäischen Irrwegs‘ gedeutet werden, kann ‚Flucht und Vertreibung‘ aus dem unmittelbaren Kontext des NS-Rasse- und Vernichtungskrieges herausgelöst werden . Beide Phänomene können mit dem abstrakten Fokus auf Diskriminierung und Verfolgung sowie als verschiedene Ergebnisse des gleichen negativen Potenzials des Nationalismus und der Moderne angesehen werden . Wohin eine solche Entkoppelung von ‚Flucht und Vertreibung‘ und Nationalsozialismus führen kann, zeigte die Ausstellung „Schlaglichter auf die neue Dauerausstellung“ der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Sie ordnete während des Nationalsozialismus ghettoisierte Juden unterschiedslos etwa dem Topos ‚Flucht und Vertreibung‘ als Konsequenz ethnisch-motivierter Vertreibungen zu . Mit dem in vielen Beiträgen beschriebenen sogenannten neuen Opferdiskurs und der mit diesem verknüpften Einfühlung in die Deutschen als Opfer – eines Genozids beziehungsweise einer ‚ethnischen Säuberung‘, wie es oft hieß – einher ging die universelle Menschenrechtsrhetorik durch Vertriebenenvertreter und der zur Entkoppelung von Nationalsozialismus und Vertreibung beitragende allgemeine Bedeutungsverlust von historischen Kausalitäten . Diese Aspekte können als „Fundament“ (Scholz) für den mit dem 20 . Juni vollzogenen aktualisierenden Vergleich mit gegenwärtigen Geflüchteten angesehen werden . Stephan Scholz ist zuzustimmen, wenn er diese Modifizierung des Vergleichrahmens als tendenziell progressive Entkoppelung der Erinnerung an ‚Flucht und Vertreibung‘ aus dem Kontext eines „Jahrhunderts ethnischer Säuberungen“ beschreibt, in dessen Rahmen das Geschehen nicht selten als „genozidales Verbrechen“ vergegenwärtigt wird . Anstelle des 5 . August wurde der 20 . Juni zum offiziellen Gedenktag bestimmt . In der dadurch eingetretenen Beruhigung geht jedoch unter, dass auch die universal-historische Rekontextualisierung durch Einbettung in die Migrationsgeschichte und -gegenwart für die kausale Koppelung an den Nationalsozialismus und ein Bewusstsein für die ‚Täteropfer‘-Ambivalenz hochproblematisch bleibt . Die von Aleida Assmann analysierte Trennung eines über Jahrzehnte vor allem im privaten Rahmen wirksamen „Leidgedächtnisses“ und eines vom Staat getragenen „Schuldgedächtnisses“ ist in dieser Dualität spätestens seit den 1990er-Jahren immer weiter angeglichen worden . Denn seither ist in der ‚Berliner Republik‘ eine schleichende, Schuld und Leid synthetisierende gesellschaftliche Normalisierung zu beobachten . Ein staatlicher Gedenktag, der die ‚Heimatvertriebenen‘ allein als Kollektivopfer inszeniert und ihn in ein globales Fluchtgeschehen eingebettet kausal weiter vom Nationalsozialismus ent-

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koppelt, ist ein in dieser geschichtspolitischen Entwicklung zunächst neuer, doch konsistenter Schritt . Ein Prüfstein

Während der Bundestagsdebatten zum 60 . Jahrestag der Charta der deutschen Heimatvertriebenen in den Jahren 2010 und 2011 sowie zum 60 . Jahrestag des Bundesvertriebenengesetzes im Jahr 2013 zeigte sich die parteipolitische Fraktionierung exemplarisch . Vor allem Unionsparteien und FDP unterstützten den BdV-Vorschlag, den mit der Charta der deutschen Heimatvertriebenen und dem Tag der Heimat verknüpften und damit allein deutsche Heimatvertriebene fokussierenden 5 . August zum Gedenktag zu bestimmen . Neben Wissenschaftlern und Journalisten kritisierten auch Grüne, Linke und Teile der SPD diesen Vorschlag, da er „die Dimensionen der Opfererfahrungen (…) auf nicht hinnehmbare Weise“ (Lukrezia Jochimsen, Die Linke, Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/90 S . 9054) verkehre . Letztere sprachen sich daher für eine ebenfalls gegenwartsbezogene Betrachtung von Vertreibungen vor allem im europäischen Kontext aus . Dabei ging es auch darum, Vertriebenenvertretern und -unterstützern unterstellte ethnozentrische Haltungen offenlegen zu können sowie das Thema universell und durch Blick auf seine europäische Dimension zu erweitern . Gleichwohl bezogen sich auch die Verfechter des 5 . August rhetorisch auf universelle Menschenrechte sowie auf historische und gegenwärtige Zwangsmigrationen . Allen – gerade auch den deutschen Opfern von ‚Flucht und Vertreibung‘ – sollte daher die ausgemachte jahrzehntelang verwehrte Anerkennung ihres Leids gewährt werden . Wenn die Antragssteller der schwarz-gelben Regierungskoalition und der BdV glaubhaft sein wollten, „dann müssen Sie“, so Volker Beck (B’90/Grüne) damals, „beim Thema ‚Roma aus dem Kosovo‘ flüchtlingspolitisch tatsächlich die Konsequenzen ziehen; ansonsten ist das alles (…) bestenfalls Heuchelei“ . Die Politik gegenüber Roma und Sinti könne zum Prüfstein der Authentizität der im Antrag „so großspurig“ postulierten „besonderen Sensibilität“ gegenüber NS-Opfern sowie gegenwärtigen Vertreibungen werden . Die Aufnahme weiterer Flüchtlinge, sowie ein Überdenken der sogenannten Dublin-II-Verordnung, welche Flüchtlinge zum „Dahinvegetieren“ in Mittelmeeranrainerstaaten zwinge, sollten laut Rüdiger Veit (SPD) handlungsleitend werden . In einer Zwischenfrage bemängelte Reinhard Grindel für die Unions-Fraktion, Veit würde das Thema der Debatte verfehlen, wenn er „nicht über Vertriebene, sondern über Ausländer, über Flüchtlinge, über andere Themen“ spreche . Auch Serkan Tören hielt für die FDP-Fraktion fest, Veit habe mit seiner Betonung des Lackmustests der gegenwärtigen Politik gegenüber Flüchtlingen „am Thema vorbei gesprochen und Dinge miteinander verglichen, die in keiner Weise zu vergleichen sind“ . Diesen selektiven Umgang mit dem selbst proklamierten universellen Anspruch der Antragssteller fasste Ulla Jelpke (Die Linke) zusammen: „( ) ganz offenbar passt es den Ver-

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triebenenfunktionären nicht, sich gemein zu machen mit dem Somali, der vor Gewalt und Hunger flieht, oder der Kurdin, die vor Staatsterror und Unterdrückung flieht . Sie wollen einen deutschen Gedenktag für deutsche Kriegsopfer .“ An dieser Auseinandersetzung zeigen sich beispielhaft der unterschiedliche thematische Zugang sowie die Aufladung des Themas . Zwar bezogen sich die Antragssteller der Regierungskoalition explizit auf den 20 . Juni als Weltflüchtlingstag, auf aktuelle UN-Flüchtlingsreporte und die gegenwärtig Dutzenden Millionen von Flüchtlingen weltweit, doch hielten sie an einer ausschließenden Gegenüberstellung fest: auf der einen Seite deutsche Vertriebene, auf die es sich zu beziehen gelte, auf der anderen Seite Ausländer und Flüchtlinge, sprich Nicht-Zugehörige . Während der Gedenktagsdebatten entlarvte sich die vermeintlich universalistische Menschenrechtsrhetorik bei einigen Beteiligten also als Doppelstandard und selektiver Deckmantel, sobald neben dem Leid von Deutschen und historischen Vergleichen zu anderen Vertriebenengruppen nur konsequent auch gegenwärtige Flüchtlings- und Migrationsdebatten angemahnt wurden . Insofern stieß die vermeintlich universelle Proklamation von Menschenrechten immer wieder an ihre ethnozentrischen sowie ökonomisch-funktionalen Grenzen . Polarisierung in Verbänden

Der Vermutung von Stephan Scholz ist zuzustimmen: Mittelfristig wird der 20 . Juni den Tag der Heimat als zentralen Ort vertriebenenpolitischer Appelle ablösen und den Topos ‚Flucht und Vertreibung‘ zumindest formal der Erinnerung an den Nationalsozialismus angleichen, da mit ihm die einzige Gruppe neben den mit dem 27 . Januar Erinnerten aus dem Volkstrauertag herausgehoben wird . Für den Bund der Vertriebenen und ihre parteipolitischen Vertretungen bleibt der 20 . Juni jedoch eine Gratwanderung, weil man mit dem 5 . August die längste Zeit der Implementierungsphase ein anderes, mit dem Tag der Heimat und der Charta der deutschen Heimatvertriebenen verknüpftes, deutlich ethnozentrisches Datum favorisiert hatte . Mit der Koppelung an gegenwärtige Migrationsphänomene versuchten der BdV und seine Unterstützer an den zunächst unverdächtigen Opferstatus von Geflüchteten weltweit anzuknüpfen . Doch war die Befürchtung um die Gefährdung der etablierten Argumentation von der quantitativ und qualitativ einzigartigen Monumentalität von ‚Flucht und Vertreibung‘ von Millionen von Deutschen im Zuge des Zweiten Weltkriegs durch den Bezug auch auf andere hierzu zu zählende Ereignisse unter dem Primat des individuell erfahrenden Leids stets vorhanden . So steht die Äußerung der Hessischen Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler Margarete Ziegler-Raschdorf (CDU) „Das Leid ist das gleiche, auch wenn die Ursachen und die Umstände anders sind“ stellvertretend für diesen Spagat . Zwar konnten sich die Vertriebenenvertreter anfangs erhoffen, von der Aktualisierung und dem zunächst un-

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verdächtigen moralischen Opferstatus gegenwärtiger Zwangsmigrierter zu profitieren . Deshalb konnten sich Verbandsvertreter freuen, dass sich zentrale Positionen im Gedenktagsdatum 20 . Juni wiederfinden: So etwa der anderen Vertreibungen gleichwertige, völkerrechtswidrige Charakter der Vertreibung der Deutschen und der ohnehin fokussierte Menschenrechtsbezug (Deutscher Ostdienst 4/2014, S . 9) . Doch war man in den Verbänden teilweise „sehr ärgerlich ( ), wie der 5 . August als Gedenktag sangund klanglos aufgegeben wurde“ (Brandenburger Rundschau) . Daneben affizierte vor allem die zunehmende extreme gesellschaftliche Polarisierung zur Flüchtlingspolitik die Akzeptanz des aktualisierenden Vergleichs durch den Gedenktag . Beim BdV und den Unionsparteien waren bereits im Zuge der Kompromissfindung zum Gedenktagsdatum warnende Stimmen zu hören, obwohl man grundsätzlich auf den Vorteil hoffte, „dass das Flüchtlingsthema auch das Interesse an der Geschichte der deutschen Vertriebenen befördert und ihnen neue Anerkennung verschafft“ (Scholz) . Stimmen, die Differenz konstruieren und betonen, nehmen seitdem sowohl auf Bundes- als auch auf lokaler Ebene ungleich mehr Raum ein . So hob die ehemalige BdV-Präsidentin Erika Steinbach auch am 20 . Juni den partikularistischen Diskurs zu deutschen ‚Heimatvertriebenen‘ hervor – ‚Flucht und Vertreibung‘ seien ein qualitativ anderes Thema als Migration . Sie war es dann auch, die sich bereits 2003 gegen die von ihr empfundene Vereinnahmung des Themas wehrte: Auf die Frage, ob der Topos nicht auch in einem Migrationsmuseum repräsentiert werden könnte, meinte sie am 17 . Dezember 2003, „Vertreibung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung .“ Migration hingegen sei „etwas sehr Freiwilliges . Es ist aus wirtschaftlichen Gründen bedingt“, während Vertreibung „unter Gewalt, unter Druck, unter Bedrohung des Lebens“ erfolge . Neben der damit differenzierten freiwilligen und erzwungenen Migration fallen in der Argumentation weitere, immer wieder verwendete Unterscheidungsfiguren auf . So werden Betroffene ethnischer Säuberungen und ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ unterschieden, mitunter wird auch die eigene Integrationsleistung aufgrund kultureller Gemeinsamkeit einer partiellen Integrationsunfähigkeit infolge kultureller Differenz gegenübergestellt . Die Umsetzung. Der 20. Juni in Deutschland

Inhaltliche Diskussionen um die mit der Datumswahl verknüpften Implikationen sind – verglichen etwa mit der Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibung(en)“ beziehungsweise ein Dokumentationszentrum – kaum geführt worden . Mit der erstmaligen Ausrichtung des Gedenktags am 20 . Juni 2015 entbrannte dann eine Kontroverse um das Verhältnis und die grundsätzliche Vergleichbarkeit von vergangenen und gegenwärtigen Phänomenen . Bernd Fabritius, als Reformer geltender Nachfolger von Erika Steinbach als BdV-Präsident, kritisierte im Verbandsorgan Deutscher Ostdienst aufgrund des von ihm behaupteten medialen Fokus auf aktuelle Fluchtphänomene sodann auch gleich einen „selektiven Journalismus“ . Tatsächlich fiel die erstmalige

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Ausrichtung des neuen staatlichen Gedenktags im Sommer 2015 in eine Zeit, in der die mediale Berichterstattung ebenso wie die politische Debatte ungleich und kaum vorhersehbar von Migrationsthemen dominiert waren . Die außerordentliche Polarisierung in der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex spiegelte sich in rassistischen Kampagnen, unzähligen und insbesondere mit den sächsischen Orten Heidenau und Freital verbundenen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte in der gesamten Bundesrepublik, in asylgesetzlichen Grundsatzdebatten um Aufnahmequoten, Integrationsstandards und Infrastrukturprobleme bei der Bewältigung der Aufnahme sowie nicht zuletzt in der Berichterstattung beispielsweise um sexuelle Belästigungen von Frauen in Köln in der Neujahrsnacht 2016, genauso wie in ungezählten Willkommensinitiativen inklusive einer massiven Spendenbereitschaft und ehrenamtlichem Engagement . Meist kaum beachtet und vielen wohl weithin schlicht unbekannt, wurde der 20 . Juni global als UN-Weltflüchtlingstag oder partikular als neuer Gedenktag für deutsche Betroffene von Zwangsmigration von einigen Initiativen und Organisationen mit entsprechenden Aktionen begleitet . Dazu zählte 2015 unter anderem die Kampagne „Die Toten kommen“ des polarisierenden Zentrums für politische Schönheit, in dessen Zuge Gräber für die auf ihrem Fluchtweg Umkommenden auf der Wiese vor dem Deutschen Bundestag ausgehoben wurden . Teil dieser organisationsspezifischen Gestaltung des neuen Gedenktags war auch das Läuten von 230 Kirchenglocken durch das Erzbistum Köln für im Mittelmeer ertrunkene Geflüchtete . Eine Idee, welche Formen die beschriebene Rekontextualisierung von ‚Flucht und Vertreibung‘ und die damit einhergehende Entkontexualisierung vom Nationalsozialismus annehmen können, vermittelte eine Phoenix-Sondersendereihe am 20 . Juni 2015 . Diese portraitierte parallelisierend die Schicksale einer vor dem Krieg in Syrien und einer aus dem am Ende des Zweiten Weltkriegs zerbombten Danzig fliehenden Familie . Die aufeinanderfolgenden Dokumentationen thematisierten dazu jüdische, vor den Nazis in die Schweiz fliehende Kinder, den Untergang des 1945 auch zur Evakuierung von Flüchtlingen genutzten ehemaligen Kraft-durch-Freude-Schiffs „Wilhelm Gustloff “, „spektakuläre Mauerfluchten“ bis zu „Wolfskindern“ . Die Gedenkfeier am 20 . Juni 2015 im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums in Berlin eröffnete das deutsch-polnische Jugendorchester ausgerechnet mit dem Titelthema aus Schindlers Liste, dem Filmklassiker zur Rettung von jüdischen Zwangsarbeitern durch einen ehemaligen Agenten der Wehrmacht . Den anfänglichen NS-Bezug durch ein Zitat von Jean Améry („Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben .“) oder die exkulpierende Denkfigur, wonach „[j]enes andere Deutschland“ für millionenfache Zwangsarbeit und Raub, Germanisierungspolitik und Massenmord an Jüdinnen und Juden und Sinti und Roma verantwortlich war, löste Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede sogleich wieder auf, indem er Vertreibung als altbekannten historischen „Konflikt“ beschrieb: „Ausgegrenzt, verfolgt, vertrieben wurden Menschen seit Urzeiten . Aus der Geschichte kennen wir die

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Konflikte zwischen Sesshaften und Nomaden, zwischen Einheimischen und Zugewanderten .“ Gauck nutzte seine Rede für einen mehr als sieben Jahrzehnte umfassenden erinnerungskulturellen Rundumschlag . Das integrative Potenzial betonend versuchte er dem 20 . Juni ein auch funktionales Gesicht zu geben – als Bearbeitung des Traumas des vermeintlichen Beschweigens in der Vergangenheit (vgl . Röger, u . a . S . 69) und als gesellschaftlicher Kitt zu den polarisierenden Themen ‚Flucht und Vertreibung‘ sowie ‚Geflüchtete‘ heute: „Ich wünschte, die Erinnerung an die geflüchteten und vertriebenen Menschen von damals könnte unser Verständnis für geflüchtete und vertriebene Menschen von heute vertiefen . Und umgekehrt: Die Auseinandersetzung mit den Verwurzelten von heute könnte unsere Empathie mit den Entwurzelten von damals fördern .“

So bezeichnete Gauck heutige Flüchtlinge als „Nachfahren der Vertriebenen bei Kriegsende“ und betonte, dass „die Schicksale von damals und die Schicksale von heute“ auf eine „ganz existenzielle Weise“ zusammengehörten . Fabritius wiederum klassifizierte in seiner Rede ‚Flucht und Vertreibung‘ als „ethnische Säuberungen“ und gebrauchte die umstrittenen Zahlen von zwei Millionen Toten und 15 Millionen deutschen Vertriebenen . Die Rede von Fabritius lieferte auch Beispiele dafür, wie gerade mit Hilfe eines formelhaft bleibenden Bekenntnisses zur Kausalität zwischen Nationalsozialismus und ‚Flucht und Vertreibung‘ mit der Eigenzuschreibung als NS-Opfer zumindest gespielt werden kann: „Im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg steht die deutsche Schuld außer Frage: Dieser Krieg hat über ganz Europa unermessliches Leid, Tod und Elend gebracht, über alle Völker . Flucht und Vertreibung waren ein Teil davon .“ War zuletzt auch eine Gewichtung zugunsten deutscher Zwangsmigrierter durch den Präsidenten eines entsprechenden Interessenverbandes durchaus erwartbar, war doch auffällig, dass die von Gauck gleichwertig mitverhandelten und anderen Rednerinnen und Rednern zumindest explizit gestreiften aktuellen Fluchtdebatten bei Fabritius Randnotiz blieben . Gaucks Formel folgend sprachen mit der Somalierin Asma Abubaker Ali, vorgestellt als „Flüchtling aus Nordafrika“, und Edith Kiesewetter-Giese, vorgestellt als „Vertriebene aus dem Sudetenland“, stellvertretend zwei Zeitzeuginnen von vergangener und gegenwärtiger Vertreibung . 2016 sah die Dramaturgie ähnlich aus: Bundesinnenminister Thomas de Maizière trat als Mahner für eine an der Dominanzgesellschaft orientierte Anpassung als Integrationspraxis auf und stellte den später sprechenden syrischen, beim THW-engagierten Geflüchteten Mohammad Hechyar als Beispiel für eine „gelungene Integration“ vor, Bundestagspräsident Norbert Lammert plädierte für die Aufnahme von Geflüchteten als „europäische Gemeinschaftsaufgabe“ und BdV-Präsident Fabritius sprach erneut über das Unrecht der Vertreibung der Deutschen als ethnische Säuberung . In seiner Rede zum 20 . Juni 2017 widmete sich Fabritius erstmalig explizit der Reichweite des Vergleichs von gestern und heute . So sprach er vom Unrechtscharakter als

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Erfahrung, die deutsche Zwangsmigrierte und heutige Geflüchtete vereine und betonte gleichzeitig im Gegensatz zur Gegenwart, dass damals „Millionen unserer eigenen Landsleute vertrieben und gejagt“ wurden . In seiner Rede zum BdV-Jahresempfang im April 2016 hatte Fabritius die ‚Heimatvertriebenen‘ bereits aufgerufen, „sich einer Empathie für das Leid der heutigen Vertriebenen und Flüchtlinge nicht zu verschließen“ . Und wahrlich scheint vor allem die Durchdringung der BdV-Strukturen bis in die lokale Basis ein gewichtiger Indikator für die Reichweite dieser Haltung zu sein . Gerade auf lokaler Ebene gilt der Vergleich des Leids „der Vertriebenen mit dem der heutigen Flüchtlinge“ jedoch nicht selten als „unzulässig“ (Westfalen-Blatt) . Grundlage hierfür ist ein seit Jahrzehnten gepflegtes Narrativ, das sich neben dem bisherigen, vom BdV zelebrierten Tag der Heimat auch auf Vertriebenendenkmäler stützen kann, die auf lokaler Ebene oft als Versammlungsort für Gedenkfeiern am 5 . August oder seit neuestem am 20 . Juni genutzt werden . Dazu zählt auch, dass weniger als ein Prozent der Vertriebenendenkmäler den Zweiten Weltkrieg oder gar den Nationalsozialismus als ursächlichen Kontext für ‚Flucht und Vertreibung‘ erwähnen (vgl . Scholz) . Dem historischen Bewusstsein für kausale Zusammenhänge dienlich ist dies nicht . Eine Aufweichung jener Traditionsbestände bräuchte auch Impulse des BdV-Bundesverbandes an die lokalen Strukturen . So lange wird der 20 . Juni auf Regional- und Lokalebene eher wie zuvor der Tag der Heimat der klassischen deutschen Selbstthematisierung als Opfer der Geschichte dienen . In den offiziellen Feiern der Gedenktage 2015 und 2016 wurde die Vorgeschichte von ‚Flucht und Vertreibung‘ selten aufgerufen, denn ihre Bewusstmachung hat das Potenzial, die meist als Kollektivopfer gedeuteten deutschen Zwangsmigrierten als Täteropfer begreifen zu können . Ein tragfähiger Kompromiss?

Mit Blick auf die geschichtspolitische Funktionalisierung der Vertreibungserinnerung ist die Interessenkongruenz zwischen einzelnen Verbänden und großen Teilen der Öffentlichkeit als Erfolg für den BdV zu werten . So herrschte letztlich ein weitgehender Konsens über die Einführung eines Opfergedenktags in Erinnerung an die deutschen Vertriebenen . Aus Verbandssicht ambivalent bleibt jedoch die von Bundespräsident Gauck 2015 prototypisch vorgetragene Perspektive einer gegenseitigen Empathie für Geflüchtete gestern und heute – obwohl die entschärfte Konfliktstellung zum Thema ‚Flucht und Vertreibung‘ über vormalige politische Schranken hinweg sowie die Zementierung des Opferstatus durch weitere Aufweichung der eigenen ‚Täteropfer‘-Ambivalenz fortschreiten und durch den Gedenktag auf ein weiteres, tagespolitisches Fundament gestellt werden konnten . Wie tragfähig der 20 . Juni als Kompromiss für alle Beteiligten sein kann, wird sich jedoch auch mit der weiteren Entwicklung der Haltungen zur gegenwärtigen Flücht-

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lingspolitik sowie rassistischen Ressentiments entscheiden . Die Akzeptanz des Vergleichs wird wesentlich von Zuschreibungen an gegenwärtige Geflüchtete beeinflusst . Aus historisch-vermittelnder Perspektive ergibt sich eine ambivalente Situation . Eine Einbettung in die allgemeine Migrationsgeschichte, aber auch in die Migrationsgegenwart durch die Gedenktagspraxis am 20 . Juni ist einerseits die realpolitische Chance, ‚Flucht und Vertreibung‘ aus der nationalstaatlich fixierten und verengenden Opferbefindlichkeit zu lösen . Dabei lassen sich ebenso Fragen der Zugehörigkeit als Deutsche, des Nationalstaatskonzepts und der Staatsangehörigkeit thematisieren . Andererseits wird auch die rekontextualisierende Einbettung der Erinnerung an ‚Flucht und Vertreibung‘ in Migrationsgeschichte und -gegenwart den Prozess der Auflösung der Koppelung des Topos an den NS noch weiter durch eine abstrahierende Erinnerung befördern . Wird der Topos bei seiner gegenwärtigen Bedeutung als Teil einer großen Migrationsgeschichte präsentiert, könnte er den Mythos von den unschuldigen Deutschen verstärken und somit die Nuancen der Mittäterschaft im sozialen Gefüge der „Volksgemeinschaft“ verdecken . Mit dem 20 . Juni setzt sich die Tendenz fort, die ‚Heimatvertriebenen‘ durch die Zuweisung des Opferstatus vor dem Verdacht zu schützen, Profiteure oder gar Akteure des NS-Systems gewesen zu sein . Durch eine simplifizierend-verdeckende Erinnerung an ‚Heimat‘ und ‚Verlust‘ sowie die Verknüpfung mit gegenwärtigen Migrationsphänomenen und die Angleichung von ‚Heimatvertriebenen‘ mit zunächst vorrangig unverdächtigen Opfern widriger Bedingungen wie syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen droht der 20 . Juni mittels Mitleid und Empathie über die ‚Täteropfer‘-Ambivalenz der deutschen Vertriebenen hinwegsehen lassen . Denn: Inhärent ist der universalisierenden Einbettung eben auch die potenzielle Entkonkretisierung und Entkoppelung vom Nationalsozialismus . Deshalb werden ‚Flucht und Vertreibung‘ als ‚ethnische Säuberung‘ meist als europäisches oder globales und überzeitliches Phänomen kategorisiert und so als Folge des Zweiten Weltkrieges immer seltener Thema werden . Im Eingedenken der kausalen Koppelung mit dem Nationalsozialismus bewusstseinsschärfend zu unterstreichen wäre dagegen balancierend der von Wolfgang Thierse ursprünglich in Bezug auf den Datumsvorschlag 5 . August vorgetragene Appell: „Sensibilität für die Leiden und Opfer von Vertreibung und Flucht resultiert nicht nur und nicht zuerst daraus, dass Deutsche selbst Opfer gewesen sind, sondern daraus, dass Deutsche andere zu Opfern gemacht haben .“ Gerade eine universalisierte Erinnerung an ‚Flucht und Vertreibung‘ wäre immer wieder auch an das für die Vertreibung kausale ‚Täterbewusstsein‘ rückzukoppeln – was jedoch nicht mit einem Plädoyer für eine monokausale, einzig auf den Nationalsozialismus fixierte Ursachenforschung zu verwechseln ist . Mit der Schuld und Leid ansatzweise balancierenden Kausalitäts-Betonung wäre auch an der Gewichtung der Erinnerung an den Nationalsozialismus gegenüber ‚Flucht und Vertreibung‘ festzuhalten, da gerade im nationalen Rahmen die „Hierar-

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chisierung“ der Erinnerungen dazu dienen kann, der Dekontextualisierung vorzubeugen (Assmann, Brocke) . Zusätzlich erscheinen Gegenwartsbezüge und die Empathie für aktuelle Flüchtlingsprozesse entwicklungsfähig . Dies könnte beispielhaft durch die Thematisierung der Flucht-, Exil- und Verfolgungserfahrung während des Nationalsozialismus als Negativfolie für die ursprüngliche Einführung des Asylrechts in Deutschland nach Artikel 16 des Grundgesetzes geschehen . Davon ausgehend könnte dieses fundamentale Recht in seinen heutigen Einschränkungen Thema werden und auch auf die Unterschiede und Vielfältigkeiten von Flucht- und Vertreibungserfahrungen, der Motive der ‚Vertreiber‘ sowie der historischen Spezifika hingewiesen werden . Um der kollektiven Opferstilisierung der Deutschen zu entgehen, dürfte Migrationsgeschichte also nicht als festschreibende Opfergeschichte – beispielsweise von ‚armen ausgebeuteten Gastarbeitern‘ oder einzig von heimatlosen, in ihrer Menschenwürde verletzten Flüchtlingen und Vertriebenen – erzählt, sondern in ihrer Vielfalt und Komplexität dargestellt und analysiert werden . So ließen sich gegenüber Emotionalisierung und Entpolitisierung auch Handlungsräume und Ambivalenzen aufzeigen . Die Einhegung und Entpolitisierung von Konflikten durch eine politische Kultur der Viktimisierung arbeitet der vielbeschworenen „Aussöhnung mit der eigenen Vergangenheit“ zu . Ihr wäre pädagogisch und wissenschaftlich diskursiv zu begegnen . Beispielsweise indem der 20 . Juni auch der Erinnerung an deutsche Täterschaft, an die Opfer der deutschen kontinentalen Kolonisationspolitik, an die politische Funktion der deutschen Minderheiten vor dem Krieg als staatszersetzendes NS-Werkzeug und nicht nur der deutschen Kollektivopferstilisierung oder dem national-selbstbestätigenden Applaudieren für heroische ‚Aufbauleistungen‘ dient . Auch mag sich der 20 . Juni zur Dekonstruktion der deutschen Integrationsdebatten in Vergangenheit und Gegenwart eignen, sodass sich im „Spiegel des Historischen (…) die normative Aufladung, die Kontextualität und auch die Kontingenz des Begriffs [Integration; D . Z .] und des Konzepts besser analysieren und verstehen“ (Ohliger) lässt . Weiterhin wird daran gearbeitet werden müssen, dass die globale Vertreibungskatastrophe, an die der UN-Tag mahnen soll, und der Skandal des europäischen Umgangs mit dieser hierzulande nicht von selbst-viktimisierender Geschichtsbetrachtung verdrängt werden . Damit wäre der 20 . Juni nur losgelöst von den Prämissen, unter denen er eingeführt wurde – nämlich als Gedenktag für die deutschen Opfer von Zwangsmigration – und ergänzt durch Impulse aus Wissenschaft und kritischer Öffentlichkeit tragbar und womöglich bereichernd .

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Literatur

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Fundstück

Das Bismarck-Denkmal von Adolf Brütt (2010). Foto: Jens Rönnau

Erinnerungskultur der besonderen Art Adolf Brütts Bismarck-Denkmal auf dem Aschberg Jens Rönnau

Im Herzen Schleswig-Holsteins zwischen Rendsburg, Eckernförde und Schleswig findet sich in den Hüttener Bergen bei Ascheffel eine monumentale Bismarck-Figur auf dem Aschberg . Mit Pickelhaube und hohen Schaftstiefeln steht er da in Kürassieruniform und dem Mantel des Schwarzen Adlerordens . Seine rechte Hand hält ein vor sich aufgestelltes Schwert, die Linke ruht an der Kaiserkrone des Deutschen Reiches, an dessen Einigung er hohen Anteil hatte . Als konservativer Politiker und erster deutscher Reichskanzler hatte Fürst Otto von Bismarck (1815–1898) sich einen Namen von internationaler Ausstrahlung gemacht . Obwohl ihn viele Zeitgenossen kritisch bewerteten, erfreute er sich im Bürgertum größter Beliebtheit . Bereits 1867 wurden ihm erste Denkmale gewidmet, nach seiner Entlassung als Reichskanzler 1890 kam es zu einer wahren Flut von Bismarck-Denkmalen im In- und Ausland . Allein 240 Türme wurden ihm zu Ehren in Europa, Russland, Afrika und Südamerika errichtet, von denen noch heute 174 stehen sollen . Darüber hinaus gibt es Brunnenanlagen, Bronzebüsten und viele Standbilder . In der Regel wird Bismarck in militärischer Uniform dargestellt . Im Alten Elbpark im Bezirk Hamburg-Mitte steht mit fast 15 Metern Höhe die größte Figur aus Stein, eingebettet in eine architektonische Anlage von über 34 Metern Höhe . Die Kupferplastik auf dem Aschberg misst immerhin fast sieben Meter, hinzu kommt der als Grotte errichtete Feldsteinsockel, der in seiner Art der Ausführung daran erinnert, dass dieses Denkmal einst in eine wesentlich größere Anlage integriert war, die in ihrer Gesamtgröße noch das Hamburger Denkmal um zehn Meter überragte: Es stand im Zentrum des legendären Knivsberg-Denkmals beim dänischen Apenrade, das seinerzeit zum Deutschen Reich gehörte . Von Apenrade aus eröffnet sich das Feld einer Erinnerungskultur der besonderen Art: Stehen schon die Kriege für das Unvermögen der Menschheit zur friedlichen Ko-

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existenz, so spitzt sich dieses Problem im Umgang mit den Denkmalen noch zu und erhält seine peinlich-künstlerisch gestaltete Verfestigung . In Nordeuropa ist das wohl nur noch mit der Wander-Geschichte des Idstedt-Löwen vergleichbar . Denn in beiden Fällen ging es um Macht- und Gebietsansprüche, die in den vergangenen Jahrhunderten mit List und viel Blut ausgetragen wurden . Und in beiden Fällen entwickelten sich die politisch aufgeladenen Kunstwerke zu symbolischen Kultobjekten, die sogar über die Landesgrenzen verschoben wurden . Hintergrund war stets die deutsch-dänische Schleswig-Holstein-Frage, die 1850 in der Schlacht bei Idstedt zugunsten der dänischen Krone endete und 14 Jahre später bei Düppel zugunsten des durch Preußen und Österreich geeinten Schleswig-Holsteins . Posttraumatische (national-)politische Auswirkungen scheinen indes bis heute nicht wirklich überwunden zu sein . Das zeigt sich auch an der Geschichte des Knivsberg-Denkmals . 1901 wurde jene trutzburgartige Anlage im Auftrag des Deutschen Vereins für das nördliche Schleswig-Holstein nach modifizierten Plänen des Architekten Friedrich Möller (1864–1904) eingeweiht, während die Bismarck-Bronzefigur nach Plänen des Bildhauers Adolf Brütt (1855–1939) von dem Berliner Metallbildhauer Gustav Lind aus Kupferblech getrieben worden war . Brütt, 1855 in Husum geboren, war einer der bedeutendsten Denkmalsgestalter im deutschen Kaiserreich . Er absolvierte zunächst eine Steinbildhauerlehre in Kiel, dann ermöglichte ihm ein Stipendium der Kieler Spar- und Leihkasse ein Studium an der Berliner Kunstakademie bei Leopold Rau . Brütt arbeitete in Berlin und München, begründete die Weimarer Bildhauerschule . Seit 1910 lebte er wieder in Berlin und starb 1939 in Bad Berka bei Weimar . Figuren wie Eva oder die Schwerttänzerin, für die er 1900 eine Goldmedaille auf der Pariser Weltausstellung erhielt, machten ihn international berühmt . Zu seinen Werken zählen auch mehrere Reiterstandbilder des Kaisers . Auf dem Knivsberg bildete seine Bismarck-Figur das heiligenschrein-ähnliche Zentrum der Anlage . Das Denkmal wurde durch eine groß angelegte Spendenaktion des Vereins ermöglicht . Zuvor war 1894 im Rahmen eines Volksfestes ein Versammlungsort auf dem Knivsberg eingeweiht worden . Ein Jahr später beschloss der Deutsche Verein für das nördliche Schleswig dort die Errichtung eines Bismarckturms als Nationaldenkmal . Am 4 . August 1901 wurde es durch 7 .000 Menschen mit einer Rede des Scherrebeker Pastors J . Jacobsen feierlich eingeweiht . Unterhalb der Statue fanden sich die Worte „Up ewig ungedeelt“, das zentrale Schlagwort der „Schleswig-Holsteiner“, über ihr der auf allen Turmseiten umlaufende markige Spruch: „WIR DEUTSCHE FÜRCHTEN GOTT SONST NICHTS AUF DER WELT“ . Nachdem noch 1909 Aufrufe gegen das „unversöhnliche Großdänentum“ erfolgten, war zehn Jahre später Schluss mit solchen Tönen, denn als Nordschleswig nach dem Ersten Weltkrieg wieder an Dänemark abgetreten werden musste, demontierte man 1919 die in einer Turmnische stehende Statue . Sie gelangte auf eine Odyssee: von einem Schuppen in Apenrade in die Rendsburger Viehmarkthalle, wo sie ein Feuer überstand, dann nach Kiel, von dort zum Scheersberg, wo sie aufgestellt werden soll-

Erinnerungskultur der besonderen Art

te – und schließlich 1930 nach langem Streit verschiedener Heimatverbände an den schon bald nach seiner Demontage vorgesehenen Ort auf den 98 Meter hohen Aschberg, weil dieser in Höhe und landschaftlicher Lage dem Knivsberg recht ähnlich ist . Hier blickt der Bismarck nun bis heute trutzig nach Norden, als solle er sein altes Reich bewachen . Das um seine Figur beraubte Knivsberg-Denkmal diente der deutschen Minderheit noch lange zur Austragung von „Knivsbergfesten“, die 1935 immerhin 14 .000 Besucher verzeichnen konnten . 1945 wurde das Bauwerk allerdings von dänischen Widerstandskämpfern gesprengt . Nach der Festschreibung der deutschen und dänischen Minderheitenrechte 1955 wurden die Trümmer beseitigt und aus den Steinen eine Gedenkmauer errichtet, auf der unter anderem eine Reliefabbildung der einstigen Bismarckwarte angebracht wurde . 1962 wurde dort zusätzlich eine Gedenkstätte für die Toten des Zweiten Weltkriegs eingeweiht . Seit 1970 befindet sich eine Jugendbegegnungsstätte der deutschen Minderheit auf dem Gelände . Unter dem Bismarck auf dem Aschberg wurde indes seit 1921 jahrzehntelang im August das „Aschbergfest“ gefeiert . Es knüpfte an die Tradition der Knivsbergfeste an, zwischenzeitlich soll es dort starke nationalsozialistische Töne gegeben haben . Heute gibt es die Feste nicht mehr, und um den bronzenen Bismarck herum hat sich einiges getan . 2012 wurde das neben ihm gelegene Traditionsrestaurant, die „Aschberg-Stuben“, abgerissen und ein Hotel nebst Aussichts- und Kletterturm errichtet . Jener Turm stellt den alten Bismarck seitdem etwas in den Schatten, denn er überragt ihn um dreizehn Meter . Aber auch ein solcher Turm hat Geschichte auf dem Aschberg: Bis etwa 1918 hatte dort ein hölzerner „Kaiser-Wilhelm-Turm“ gestanden . In gewisser Weise wird hier so nun vereint, was 1890 getrennt wurde, als der Kaiser seinen Kanzler entließ . Bleibt die Frage, ob die größere Höhe des Turmes nun wohl auch wieder symbolisch zu werten ist . Denn obgleich durch die politisch weisen Minderheitenregelungen der alte Streit um die Zugehörigkeit der Herzogtümer Schleswig und Holstein beigelegt ist, so sollte es doch nachdenklich stimmen, dass die Aschbergfeste noch 1951 rund 10 .000 Besucher zählten und die verlorene Schlacht bei Düppel in Dänemark noch heute offenbar auf Widerhall in der Bevölkerung trifft: Davon künden martialische Darstellungen und echter Kanonendonner im Museumsdorf Düppel ebenso wie der Umstand, dass das 2015 erschienene Buch „Schlachtbank Düppel“ des Historikers Tom Buk-Swienty als die bestverkaufte historische Abhandlung Dänemarks gilt . Erinnerungskultur manifestiert sich jedenfalls auch in diesen Umständen – selbst wenn die Denkmale heute nicht mehr hin- und hergetragen werden .

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Forschungsbericht

„Erinnerung kann nicht überleben an einem toten Ort“ Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus in Gedenkstätten Harald Schmid

Ausgangspunkte: Bergen-Belsen und Buchenwald

Als Bundespräsident Theodor Heuss am 30 . November 1952 in Bergen-Belsen im Rahmen eines Staatsaktes die erste große Stätte des Gedenkens für die Opfer des nationalsozialistischen Terrors – ein Obelisk und eine 50 Meter lange Inschriftenwand – auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eröffnete,1 bekannte er rückblickend: „Wir haben von den Dingen gewusst .“ Er sprach von „meinem Katalog des Schreckens und der Scham“, erwähnte „Dachau, Buchenwald bei Weimar, Oranienburg, Ortsnamen bisher heiterer Erinnerungen, über die jetzt eine schmutzig-braune Farbe geschmiert war“ . Von Auschwitz und Bergen-Belsen hingegen habe er erst nach Kriegsende erfahren . Er sprach – live übertragen vom Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) – nicht nur von den in allen Völkern zu findenden „moralisch Anspruchslosen“, die eigene Verbrechen mit denen anderer aufrechneten, auch davon, dass manche die Sorge hätten, „daß dieser Obelisk ein Stachel sein könne, der Wunden, die der Zeiten Lauf heilen solle, das Ziel der Genesung zu erreichen nicht gestatte“ . Er gab auch zu bedenken, ob Albert Schweitzers kulturethische Lehre von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ an solch einem Ort nicht einer Ergänzung bedürfe: „Ehrfurcht vor dem Tod“ . Mit Blick auf das Mahnmal und die Gedenkwand schloss er seine Ansprache mit den

Zuvor waren in Westdeutschland bereits kleinere Gedenkstätten eingeweiht worden: beispielsweise der Gedächtnisplatz Neue Bremm in Saarbrücken am 11 . November 1947, am 24 . Oktober 1950 die KZ-Gedenkund Begegnungsstätte Ladelund oder am 14 . September 1952 die Gedenkstätte Plötzensee in West-Berlin . 1

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Worten: „Da steht der Obelisk, da steht die Wand mit den vielsprachigen Inschriften . Sie sind Stein, kalter Stein . Saxa loquuntur, Steine können sprechen . Es kommt auf den einzelnen, es kommt auf dich an, daß du ihre Sprache, daß du diese ihre besondere Sprache verstehst, um deinetwillen, um unser aller willen!“2 Knapp sechs Jahre später eröffnete der andere deutsche Staat seine erste große Gedenkstätte: Am 14 . September 1958 zelebrierte die DDR ihren bis dato größten Staatsakt, mit dem die „Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald“ auf dem Ettersberg bei Weimar eingeweiht wurde: vor etwa 50 .000, meist handverlesenen Personen, illuminiert von einem Feuerwerk, das die Fahnen von 21 Nationen aus platzenden Raketen herunterschweben ließ, untermalt von Marschmusik und rhythmischem Klatschen der Jungen Pioniere . Ministerpräsident Otto Grotewohl sagte in seiner Rede: „Wir wollen damit den durch den Hitlerfaschismus geschändeten Namen Deutschlands vor der Welt wieder rein waschen .“ Er beschwor die „unabänderliche Entschlossenheit, das Vermächtnis der toten Helden zu erfüllen“, verbunden sowohl mit Spuren gesamtdeutscher Rhetorik als auch mit politischen Angriffen auf die in Bonn angeblich wieder zur Macht gelangten „Militaristen und Faschisten“ .3 Zwei große ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager, nun auf dem Gebiet jeweils von einem der beiden Teilstaaten des gespaltenen Deutschlands gelegen, in der Bundesrepublik vom ranghöchsten Repräsentanten, in der DDR vom Kabinettschef als Gedenkstätte eröffnet, die eine auf Anordnung der britischen Besatzungsmacht entstanden und dann als stiller Gedenkort in der Verantwortung des Bundeslandes Niedersachsen ohne jegliche historisch-politische Bildungsangebote konzipiert, die andere als geschichtspolitisch agitierendes Instrument der SED mit entsprechender Ausstellung, Personal und Informationsangebot . So, ließe sich verkürzt sagen, begann die staatliche Gedenkstättenpolitik in West-und Ostdeutschland in den 1950er-Jahren . Die mehr als sechs Jahrzehnte, die uns davon trennen, umfassen nicht nur zwei Generationen, sondern auch die im Zuge der deutschen Vereinigung nach 1990 erfolgte Zusammenführung beider „Gedenkstättenlandschaften“, zudem zwei dialektisch miteinander verbundene Elemente, die heute in diesem Kontext als essentiell gelten, in den 1950er-Jahren freilich noch kaum vorhanden waren –das zivilgesellschaftliche Engagement für die Orte des vormaligen NS-Terrors und deren systematische staatliche Förderung . Denn die Aneignung der in den 1980er-Jahren dann als „vergessenen Orte“ durch Bürgerinitiativen wiederentdeckten Stätten des Nationalso-

Rede von Bundespräsident Theodor Heuss am 30 . November 1952 bei der Eröffnungsveranstaltung der Gedenkstätte Bergen-Belsen, aus der NWDR-Radioreportage zur Einweihungsfeier vom selben Tag, CD-ROM-Beilage zum Katalog: Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Gedenkstätte Bergen-Belsen (Hrsg .): Bergen-Belsen . Geschichte der Gedenkstätte / History of the Memorial, Celle 2012 . 3 Zitate Grotewohls nach Harald Schmid: Antifaschismus und Judenverfolgung . Die „Reichskristallnacht“ als politischer Gedenktag in der DDR, Dresden 2004, S . 47, dort auch die Einzelbelege . 2

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zialismus wurde in deren „zweiter Geschichte“ zu einem charakteristischen Kennzeichen demokratischer Erinnerungskultur und Geschichtspolitik . Fast 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Zerschlagung europaweiter nationalsozialistischer Herrschaft inklusive deren integraler, über 40 .000 Lager umfassenden Terrorstätten und der Befreiung der überlebenden Verfolgten des „Dritten Reiches“ ist nicht nur der Blick zurück auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 in mancher Hinsicht ein anderer als in den 1950er-Jahren: Er ist heute wissenschaftlich weitaus breiter fundiert und überdies geprägt von einer umfassenden (inter-)nationalen erinnerungskulturellen Infrastruktur, besonders auch von massenmedial aufbereiteten und mithin popularisierenden Produkten; auch ist die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gleichsam flächendeckend als Bestandteil jeder Sozialisation institutionalisiert; schließlich ist der gesellschaftliche Fokus gekennzeichnet von einer spezifischen, nicht zuletzt generationell geprägten Deutungsgeschichte . Vielmehr ist auch der Umgang mit den Leidensorten der NS-Opfer von einem charakteristischen Ineinander bürgerschaftlicher und staatlicher Gedenkstättenpolitik bestimmt, so sehr, dass selbst herausragende staatliche Akteure diese Verbindung zu den Grundfesten von Gesellschaft und Staat deklarieren .4 Das Handlungsfeld Gedenkstätten wird erforscht im Rahmen üblicher zeitgeschichtlicher Ansätze, ferner im Kontext von Untersuchungen zur „zweiten Geschichte“ des Nationalsozialismus sowie international und interdisziplinär unter dem Rubrum Memory Studies . Je nach Zugriff geht es dabei mehr um Geschichtspolitik, Erinnerungskultur, Erinnerungsorte,5 kollektives Gedächtnis oder um historisch-politische Bildung . Dabei ist die Herausbildung der „Gedenkstättenlandschaft“ bislang primär von Akteuren derselben erforscht und dargestellt worden . Inzwischen bahnt sich hier ein Generationenwechsel an, sodass auch erste Grundlagenstudien von jüngeren externen Wissenschaftler/innen erarbeitet werden . Eine Sichtung jüngerer Themen und Befunde geschichts- und sozialwissenschaftlicher Studien und Beiträge zur Entwicklung der auf den Nationalsozialismus bezogenen Gedenkstätten und Erinnerungskultur sollte sich also einordnen in die zunächst in den groben Zügen skizzierte Genese und Fortentwicklung dieser besonderen kulturellen und politischen Einrichtungen . Daran schließt sich ein Überblick zu Publikationen über aktuelle Fragestel-

Beispielsweise Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 30 . Januar 2019: „Aus der deutschen Schuld erwächst unsere Verantwortung, nicht vergessen zu dürfen . Um die Menschen zu ehren, die ihr Leben verloren haben, um ihnen ihre Würde zurückzugeben . Um unserer selbst willen . Erinnerungskultur ist deshalb auch nicht allein Sache der Zivilgesellschaft, sondern sie gehört mit zu den staatlichen Aufgaben . Und wer daran rütteln wollte, legt Hand an die Grundfesten dieser Republik .“ URL, https://www .bundestag .de/parlament/praesidium/re den/2019/003–590098 5 Vgl . etwa Stefan Berger, Joana Seiffert (Hrsg .): Erinnerungsorte . Chancen, Grenzen und Perspektiven eines Erfolgskonzeptes in den Kulturwissenschaften, Essen 2014 . 4

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lungen und Problemkontexte des erinnerungskulturellen, geschichtspolitischen und -pädagogischen Handlungsfelds Gedenkstätten an . „Von der Peripherie in das Zentrum der Geschichtskultur“6 – so hat Detlef Garbe, Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und einer der prägenden deutschen Akteure der vergangenen drei Jahrzehnte, die Entwicklung der (west)deutschen Gedenkstätten treffend beschrieben . Bernhard Schoßig hat diese Entwicklung folgendermaßen präzisiert: „Wenngleich jede Gedenkstätte ihre eigene Entstehungsgeschichte hat, lassen sich in vielen Fällen Desinteresse und Ablehnung durch die lokale Bevölkerung, Behörden und politische Entscheidungsträger ausmachen . In diesen Entstehungsgeschichten spiegelt sich der Umgang der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit der Nazivergangenheit, der bei genauerer Betrachtung zwar nicht auf den schlichten Gegensatz von Verdrängung oder Aufarbeitung reduziert werden kann, aber doch auf der Ebene der Erinnerungspolitik durch einen defensiven Pragmatismus und auf der Ebene der kollektiven Einstellungen überwiegend durch Ignoranz und Selbstviktimisierung gekennzeichnet war . Die Entwicklung des Opfergedenkens und die Etablierung von Gedenkstätten in der (alten) Bundesrepublik wird aus heutiger Sicht vielfach als ‚Erfolgsgeschichte‘ gedeutet . Für das erste Vierteljahrhundert nach der Befreiung dürfte jedoch in dieser Hinsicht eine Beschreibung als ‚Konfliktgeschichte‘ eher angemessen sein .“7 Der Deutungstopos Peripherie/Zentrum verweist auf die Entstehung und den Ausbau der hiesigen Gedenkstättenlandschaft, indirekt auch die aktuellen Konfliktlagen und Herausforderungen dieser Entwicklung . Sie wird im Folgenden auf vier Ebenen näher betrachtet: einer akteursbezogenen Ebene; einer eher intrinsischen Ebene, bei der das Spannungsverhältnis zwischen Selbstverständnis und politischem Kontext im Mittelpunkt steht; einer fachlichen Ebene, die die Entwicklung der „Gedenkstättenpädagogik“ in den Blick nimmt; ferner die Frage des Umgangs mit Massentourismus und Dark Tourism an diesen Orten .

Detlef Garbe: Von der Peripherie in das Zentrum der Geschichtskultur . Tendenzen der Gedenkstättenentwicklung (2005), in: Ders .: Neuengamme im System der Konzentrationslager . Studien zur Ereignis- und Rezeptionsgeschichte, Berlin 2015, S . 447–474 . 7 Bernhard Schoßig: Die Entstehung von Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus – ein Rückblick auf das erste Vierteljahrhundert nach der Befreiung, in: Einsichten und Perspektiven . Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, 2/2017, S . 50–57, hier S . 56 f ., URL: http://www .blz .bayern .de/me dien/blz_links/datei/86_web_ep_217 .pdf, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 6

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Von der Antithese zur Synthese: Gedenkstätten zwischen Zivilgesellschaft und Staat

Grob lassen sich drei Phasen institutioneller Herausbildung unterscheiden: die Besatzungszeit bis 1949, die vier Jahrzehnte des geteilten Deutschlands und die inzwischen fast drei Dekaden des vereinten Deutschlands .8 Zu dieser Zeitspanne von über siebzig Jahren liegt nun eine Monografie von Jenny Wüstenberg vor, Politikwissenschaftlerin an der Universität Toronto . Sie entfaltet in ihrer Studie Civil Society and Memory in Postwar Germany ein Panorama zivilgesellschaftlicher Akteure in Deutschland, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte einsetzten .9 Im Mittelpunkt steht dabei der Umgang mit der NS-Zeit und – der zeitliche Rahmen der Untersuchung reicht bis in die jüngste Vergangenheit – der DDR- und SED-Geschichte . Im Vorwort weist sie auf ihre familiengeschichtlichen Motivationen für ihr Interesse am Erinnerungsthema und letztlich für diese Studie hin . Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung stehen Erinnerungsaktivisten, von denen sie 101 Personen zwischen 2005 und 2016 im Rahmen von Forschungsreisen nach Deutschland interviewt hat: insbesondere Wissenschaftler/innen, Gedenkstättenaktivisten, Politiker/ innen, Ministerialbeamte, Journalist/innen, Vereins- und Institutionenpersonal und Künstler/innen . Wüstenberg schreibt hierzu: „The question that I try to answer is not necessarily `Who is right´? When there are contradictory accounts, but what sorts of

Vgl . etwa die aktuelle Übersicht von Thomas Lutz, mit Marie Schulze: Gedenkstätten für die Opfer nationalsozialistischer Gewalt in Deutschland . Eine Übersicht, in: Gedenkstätten-Rundbrief, Nr . 187, 9/2017, S . 3–17 . Die umfangreichste und breiteste, wenngleich längst nicht mehr aktuelle Übersicht bieten: Ulrike Puvogel / Martin Stankowski, unter Mitarbeit von Ursula Graf, Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus . Eine Dokumentation, Bd . 1, 2 ., überarb . u . erw . Aufl ., Bonn 1995; Stefanie Endlich u . a ., Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus . Eine Dokumentation, Bd . 2, Bonn 1999; beide Bände sind vergriffen, aber online verfügbar: https://www .bpb .de/shop/buecher/einzelpublikationen/33973/ge denkstaetten-fuer-die-opfer-des-nationalsozialismus-band-i, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . Umfassende monografische Darstellungen fehlen bislang, vgl . etwa Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung . Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München 1995, S . 127–172; Habbo Knoch: Gedenkstätten, Version: 1 .0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11 .09 .2018 http://docupedia .de/zg/knoch_gedenksta etten_v1_de_2018, letzter Zugriff: 30 .6 .2019; Stefanie Endlich, Orte des Erinnerns – Mahnmale und Gedenkstätten, in: Peter Reichel / Harald Schmid / Peter Steinbach (Hrsg .), Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte . Überwindung – Deutung – Erinnerung, München 2009, S . 350–377; Harald Schmid: Mehr als „renovierte Überbleibsel alter Schrecken“? Geschichte und Bedeutung der Gedenkstätten zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen, in: Katja Köhr, Hauke Petersen, Karl Heinrich Pohl (Hrsg .), Gedenkstätten und Erinnerungskulturen in Schleswig-Holstein . Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Berlin 2011, S . 25–53; für die Zeit ab den 80er-Jahren vgl . Thomas Lutz: Zwischen Vermittlungsanspruch und emotionaler Wahrnehmung . Die Gestaltung neuer Dauerausstellungen in Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland und deren Bildungsanspruch, Diss . TU Berlin 2009, S . 102 ff ., URL: https://de positonce .tu-berlin .de/bitstream/11303/2625/1/Dokument_40 .pdf, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 9 Jenny Wüstenberg: Civil Society and Memory in Postwar Germany, Cambridge 2017 . Vgl . dazu auch meine Sammelrezension Memory Studies, in: Sehepunkte 19 (2019) 5, URL: http://www .sehepunkte . de/2019/05/31059 .html, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 8

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politics result from these different understandings and how they impact what memory means to democratic practice .“ Die Darstellung beginnt mit einer emblematischen Protestaktion (die auch auf dem Cover des Bandes abgebildet ist): dem symbolischen Grabungsbeginn von Akteuren des „Aktiven Museums Berlin“ am 5 . Mai 1985 auf dem Gelände des vormaligen Reichssicherheitshauptamtes, der Terrorzentrale des NS-Staates . Wüstenberg deutet diesen hier öffentlichkeitswirksam aufscheinenden „civil society-led activism that has transformed the memorial culture in germany“ (2) . Als charakteristisch für diesen prägenden Einfluss zivilgesellschaftlicher Erinnerungsakteure sieht sie die Genese und Etablierung der dann hier später langsam und kontrovers entstandenen Berliner „Topographie des Terrors“ . Es gelang ihnen, aus einer gesellschaftskritischen Idee seit den frühen 1980er-Jahren letztlich einen der herausragenden Orte nicht nur der Hauptstadt des vereinten Deutschlands, sondern der gesamten Berliner Republik zu formen . Die Autorin zeichnet die verschiedenen Etappen nicht-staatlichen Engagements nach 1945 nach: die anfangs bedeutende Rolle von Überlebenden des NS-Terrors und wenig später von deren Interessenorganisationen bei der Initiierung von Denk- und Mahnmalen, die wichtige normative Brücke der gesellschaftlichen Umbrüche seit den 1960er-Jahren (die freilich erst mit Verzögerung sich auch im Feld der materiellen Erinnerungskultur niederschlug) und die seit den 1980er-Jahren beobachtbare Herausbildung dessen, was die Akteure selbst „Gedenkstättenbewegung“ nannten und nennen, und schließlich nach 1989/90 die Herausbildung einer weiteren Erinnerungsbewegung, die sich der Aufarbeitung und Lokalisierung des Erinnerns an die SED-Diktatur verschrieben hatte . Gerade der letztgenannte Punkt differenzierte und verkomplizierte den deutschen Gedächtnisdiskurs noch weiter, wie Wüstenberg mit Hinweis auf die einschlägigen Konflikte um den Vergleich beider Diktaturgeschichten konstatiert . Sie widmet sich besonders der westdeutschen „Gedenkstättenbewegung“ und der sich oft als Geschichtswerkstätten niederschlagenden „Geschichtsbewegung“, beides der 1980er-Jahre . Sie bindet zwei konkrete Fallstudien in ihre Darstellung ein: zum einen die Entstehung der „Topographie des Terrors“ und die Rolle des „Aktiven Museums Berlin“ als maßgeblicher zivilgesellschaftlicher Akteur, zum anderen die Debatte um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße in Potsdam . Sie rekonstruiert grundlegende Prinzipien der Erinnerungsbewegungen der 80er-Jahre: die dezentrale Lokalisierung, die Konzentration auf „Authentizität“ der ästhetischen Gestaltung sowie die antimonumental-selbstreflexive Grundhaltung (182 ff .) . Wüstenberg betont dabei die spezifische Verflechtung („intertwined“, „intermeshing“, 265) staatlicher und bürgerschaftlicher Akteure nach 1945 und nach 1990 – erst dadurch wurde die landesweite dezentrale Erinnerungslandschaft möglich .10 WüstenDass es vereinzelt auch andere Muster der Etablierung als Top-Down-Projekte ohne zivilgesellschaftliche Initiative gibt, zeigt sich an einer mehrjährigen Kampagne in Schleswig-Holstein, vgl . Harald Schmid: „Problemfall hinterm Deich“ . Der „Historische Lernort Neulandhalle“ – ein schleswig-holsteinisches Er10

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berg sieht die Basisaktivisten in einer entscheidenden Rolle bei der von ihr konstatierten Doppelentwicklung eines normativen Wandels und eines institutionellen Umbruchs im Kontext der NS-Aufarbeitung (2) . Sie spricht explizit von den „victories of the Memorial Site and the History Movement“ (265) . Folge dieser Entwicklung sei die Entstehung hybrider Institutionen gewesen, da vormalige Aktivisten der NS- und SED-Aufarbeitung nun oftmals in leitender Funktion in Gedenkstätten oder Stiftungen tätig wurden . In diesem Prozess veränderten sich die Akteure beider Seiten – und dadurch transformierten sie auch die deutsche Demokratie . Zu den nichtintendierten Konsequenzen dieses Erfolgs zählt sie den Verlust von Einfluss und kritischem Potenzial auf Seiten der zivilgesellschaftlichen Erinnerungsakteure – ein zentraler Aspekt jüngerer Selbstverständigungsdiskurse der Gedenkstätten . Sie zeigt, „how the normative regime of memory – those practices and narratives about the past are considered acceptable by the public and by state institutions – changes over time through civic action“ (5 f .), betont dabei aber auch, dass es sich um einen Balanceakt handelt zwischen repräsentativen und normativen Teilen demokratischer Erinnerung sowie zwischen Erinnerungsarbeit und Erinnerungsprotest (6) . Und, dass bürgerliches Erinnerungsengagement nicht per se gut ist, sondern von seinen institutionellen und intentionalen Kontexten abhängig ist (10) . Ihre Studie zur deutschen „politics of memorialization“ (11) erbringt diverse wichtige neue Perspektiven in die Debatte um Geschichte und Gegenwart der deutschen Erinnerungskultur . Hier wäre als erstes die Historisierung des Themenfeldes durch die Längsschnittmethode zu nennen, wodurch eine merkliche und erfreuliche Distanz zur politisch-moralischen Aufladung desselben eintritt; ferner die Fokussierung auf das dialektisch verbundene Viereck öffentlicher Erinnerung, zivilgesellschaftlicher Akteure, staatlicher Institutionen und erinnerungskultureller und politischer Normen; hierzu zählt auch die sonst nur selten praktizierte Analyse der Erinnerungsinitiativen als eine soziale Bewegung; zudem die demokratietheoretisch motivierte Frage nach dem Beitrag der Akteure zu einer vertieften Demokratisierung durch erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Praktiken; schließlich die Grundierung ihrer Untersuchung durch eine große Zahl von Interviews mit einschlägigen Akteurinnen und Akteuren des Handlungsfeldes . In gewisser Hinsicht ist dies in einem Satz greifbar: „Memorials evoke the contention and power relationships that brought about their construction“ (11) . Eine gute Ergänzung zu Wüstenbergs Untersuchung bietet der Band Verhandelte Erinnerungen .11 Die Erinnerungskultur einer Gesellschaft, so die von den Herausgebern

innerungsprojekt zur ‚Volksgemeinschafts‘-Ideologie, in: Detlef Schmiechen-Ackermann u . a . (Hrsg .): Der Ort der ‚Volksgemeinschaft‘ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018, S . 459–485 . 11 Matthias Frese, Marcus Weidner (Hrsg .): Verhandelte Erinnerungen . Der Umgang mit Ehrungen, Denkmälern und Gedenkorten nach 1945, Paderborn 2018 . Siehe zur deutsch-europäischen Perspektive: Corine Defrance, Ulrich Pfeil (Hrsg .): Verständigung und Versöhnung nach dem „Zivilisationsbruch“?

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formulierte Prämisse, stelle „das – wandelbare – Ergebnis der zumeist öffentlich ausgehandelten Bemühungen staatlicher und zivilgesellschaftlicher AkteurInnen dar, auf das aber auch die häufig gegenläufigen, erfahrungsbasierten, individuellen Erinnerungen von ZeitzeugInnen und die privaten, familiär tradierten Erinnerungen Einfluss nehmen“ (S . 8) . Vor diesem Hintergrund umkreisen die Beiträge der Publikation die Frage, wie sich in Erinnerungskonflikten um Ehrungen, Denkmäler und Gedenkorte letztlich Normen der politischen Kultur herausbilden . Sind doch Ehrungen, auch im Feld des Erinnerns, „Steuerungsversuche über positive Sanktionen“ (Ludgera Vogt) . Das von Dietmar von Reeken und Malte Thießen geprägte Konzept des „Ehrregimes“ ist dabei grundlegend . Unterteilt in die drei Sektionen „Denkmäler und Gedenkstätten“, „Personen in der öffentlichen Ehrung“ und „Revision von Straßennamen“ sowie einer „künstlerischen Intervention“ zeigen die Autorinnen und Autoren 15 Fallbeispiele primär der westfälischen Auseinandersetzung über Gedenkstätten, personelle Nobilitierungen, Stolpersteine und Straßen(um)benennungen, wie sehr das Geflecht von Akteuren, Interessen, Generationen und symbolischen Repräsentationsbedürfnissen sich in Gedächtniskämpfen um konkrete Projekte artikuliert, wie sehr diese Prozesse konstitutiver Teil einer pluralen und diversen Kultur des Erinnerns sind . Hierzu passt der abschließende Beitrag des Aktionskünstlers Wolfram P . Kastner, der mit Beispielen seiner „ästhetischen Interventionen“ seit den 1990er-Jahren illustriert, wie (hierin Paul Klee folgend) „Kunst etwas sichtbar“ machen und manchmal „die Wirklichkeit ent-stellen (kann) bis zur Kenntlichkeit“ (361) . Auch der Band Gedenkstätten und Geschichtspolitik gehört in diese Forschungsperspektive .12 Darin gehen Gedenkstätten-Akteure und Wissenschaftler/innen insbesondere der Frage nach, wie sich das geschichtspolitische Umfeld der Gedenkstätten und deren gesellschaftliche Vernetzung vor allem seit den 1990er-Jahren gewandelt hat: Insa Eschebach und Oliver von Wrochem werfen hierzu im Editorial die zentrale Frage auf, „inwieweit das gesellschaftskritische Potenzial der Gedenkstätten durch ihre staatliche Verankerung eine Domestizierung erfahren hat“ (10) . Man könnte die Frage auch so formulieren: Welche Folgen hat der „Ortswechsel“ der Gedenkstätten für diese selbst und für die Gesellschaft – weg von vormaligen Einrichtungen der staatskritischen Gegenkultur hin zu Institutionen der Mainstreamkultur? Die in dem Band versammelten acht Aufsätze umkreisen diesen Fokus aus unterschiedlichen Richtungen . Thomas Lutz verweist auf eine besondere „Dialektik der Geschichtsdiskurse“, die sich im Spannungsfeld zwischen der deutschen Aufarbeitung der NS-Verbrechen und internationalen Akteuren entwickelt und auch die Gedenkstätten maßgeblich geprägt habe . Cornelia Siebeck deutet die inzwischen staatlich Deutschland in Europa nach 1945, Bonn 2016; ferner: Bogusław Dybaś, Irmgard Nöbauer, Ljiljana Radonić (Hrsg .): Auschwitz im Kontext . Die ehemaligen Konzentrationslager im gegenwärtigen europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main 2017 . 12 KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg .): Gedenkstätten und Geschichtspolitik, Bremen 2015 .

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breit finanzierten Gedenkstätten als Teil einer nach 1990 sich etablierenden „Läuterungserzählung ex negativo“ (29), zurückgehend auf das von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8 . Mai 1985 popularisierte Interpretament, wonach das Geheimnis der Erlösung in der Erinnerung bestehe . In Verbindung mit der Institutionalisierung der Gedenkstätten gefährde diese besondere historische Sinnbildung die bürgerschaftlich fundierte „Widerborstigkeit“ der Einrichtungen . In eine ähnliche Richtung argumentiert Fabian Schwanzar, er relativiert jedoch die unter Gedenkstättenakteuren verbreitete (Selbst-)Deutung im Modus eines Gegensatzes zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren . Forschungsgeschichtlich sei hier sein Hinweis auf die „Tendenz zur Selbsthistorisierung“ der Akteure hervorgehoben, denn „die Historiografie zu den Gedenkstätten (ist) weiterhin beeinflusst von den Deutungskontexten und Sinnzuschreibungen“ (42) . Den auch für die Gedenkstätten bedeutsamen Debatten um die „doppelte“ Vergangenheit und Aufarbeitung widmen sich Carola S . Rudnick und Caroline Pearce . Erstere setzt sich mit der für die nachfolgende bundestaatliche Gedenkstättenförderung gar nicht zu überschätzenden Bundestags-Enquetekommissionen zur Aufarbeitung der SBZ-, DDR- und SED-Vergangenheit auseinander . Letztere untersucht den konkreten Umgang mit dieser doppelten Vergangenheit in deutschen Gedenkstätten nach 1990 am Beispiel von Torgau und Sachsenhausen und schlägt am Ende vor, die Asymmetrie im Gedenken der beiden Vergangenheiten von nationalsozialistischer und SED-Herrschaft zu akzeptieren . Zeitdiagnostisch schärfer wird Detlef Garbe in seinem Beitrag „Gedenkstätten in der Bundesrepublik“, die er – so der Untertitel – als „geschichtspolitische Erfolgsgeschichte im Gegenwind“ sieht . Diesen Gegenwind beschreibt er in fünf „Gefahren“: des „Aufarbeitungsstolzes“, der fehlenden Lobby, der Relativierung und eines neuen, scheinbar aufgeklärten Geschichtsrevisionismus, der Stilisierung der Bundesrepublik zum geschichtspolitischen Erfolgsmodell sowie einer neuen ahistorischen europäischen Meistererzählung . Den Themenschwerpunkt des Bandes schließen zwei Beiträge ab, die spezielle Perspektiven in den Blick nehmen . So fragt Verena Haug nach der „kommunikativen Herstellung des ‚authentischen Ortes‘“ in der Gedenkstättenpädagogik . Hintergrund ihres Ansatzes ist der spätestens seit den 1990er-Jahren in den Mittelpunkt gerückte Begriff der Authentizität, sowohl in politisch-legitimatorischen Diskursen als auch im Selbstverständnis der Gedenkstätten . Der historische Ort muss in der Vermittlungsarbeit dechiffriert werden, „weil er eben nicht mehr authentisch ist, sondern überformt, symbolisiert, appellierend oder sachlich-karg“ .13 Haug versucht an zwei empirischen

Iris Groschek: Zwischen Partizipation und Kompetenzorientierung . Wohin entwickelt sich Vermittlungsarbeit mit jungen Menschen?, in: Frank Schroeder; Laurent Moyse (Hrsg .): Questions sur l’avenir du travail de mémoire / Fragen zur Zukunft der Gedenk- und Erinnerungsarbeit, Luxemburg 2017, S . 110–122, hier S . 114, URL: https://dial .uclouvain .be/pr/boreal/object/boreal%3A188713/datastream/PDF_01/ view, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 13

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Beispielen aus der Praxis der Gedenkstättenpädagogik zu zeigen, wie die „Produktion von Wirkungserwartungen an den Gedenkstättenbesuch ebenso wie deren Reproduktion in situ (…) kommunikativ vollzogen werden“ (92) . Wie sehr dabei die Autorität der historischen Orte durch deren „Authentizität“ geprägt wird, hat die Autorin in ihrer Dissertation eingehend untersucht .14 Corinna Tomberger illustriert schließlich die von ihr konstatierte Doppelrolle als symbolpolitische Orte und geschichtspolitische Institutionen anhand zweier Beispiele: der Auseinandersetzung um eine Gedenktafel für lesbische KZ-Häftlinge und der Debatte um das Berliner Homosexuellen-Denkmal . Sie plädiert für eine größere Reflexivität seitens der Gedenkstätten für dieses Spannungsverhältnis, auch, um geschichtspolitisch transparenter zu agieren: „Denn weder der Bezug auf Betroffenenverbände noch der Rückgriff auf anerkannte Verfolgungskategorien enthebt sie der Notwendigkeit, kritisch zu reflektieren, welche Identitätszuschreibungen, welche Macht- und Sichtbarkeitsverhältnisse sie durch ihre Entscheidungen letztlich befördern“ (108) . Gedenkstätten heute: „Erinnerungsorte in Bewegung“

Nach der breiten institutionellen Etablierung der Gedenkstätten und der Durchsetzung eines damit korrespondierenden politischen Handlungsfeldes haben sich die Anstrengungen der Akteure zunehmend verlagert auf zwei Kernfelder: zum einen auf „Professionalisierung“, die Frage der Qualität und Quantität der vor Ort geleisteten historisch-politischen Bildungsarbeit, zum anderen auf die Frage des Selbstverständnisses in einer gewandelten gesellschaftlichen Umwelt . Die seit den 1990er-, vor allem aber seit den 2000er-Jahren auf allen Ebenen von Bund, Ländern, Landkreisen und Kommunen immer weiter ausgebaute staatliche Förderung hatte rasch zur Folge, dass Wissenschaftlichkeit, Qualität der Vermittlungsangebote im Besonderen und Professionalität der Gedenkstättenarbeit im Allgemeinen zu leitenden Stichworten der Debatte wurde . Parallel dazu setzte eine intensive Diskussion um die Frage ein, wie sich die Einrichtungen positionieren sollten, sei es im Verhältnis zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, sei es mit Blick auf die neue Nähe zum Staat . Der laufende Generationenwechsel gab diesen Auseinandersetzungen eine zusätzliche Dynamik . Dieser Umbruch steht in engem Zusammenhang mit der Historisierung von NS-Diktatur, Zweitem Weltkrieg und Völkermord, mit der sich auch das politisch-kulturelle Näheverhältnis verändert und ein Übergang von generationell und kulturell „heißer“ zu „kalter“ Erinnerung zu beobachten ist, wie sich ein Konsens von zeithistorischer und Gedächtnisforschung umschreiben lässt . Verena Haug: Am „authentischen“ Ort . Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik, Diss . Universität Frankfurt 2013, Berlin 2015; vgl . auch Martin Sabrow, Achim Saupe (Hrsg .): Historische Authentizität, Göttingen 2016 . 14

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Landauf, landab haben sich funktional multiple und offene zeitgeschichtliche Bildungseinrichtungen am historischen Ort entwickelt: von der großen Gedenkstätte mit mehreren hunderttausend Besuchern pro Jahr über mittelgroße Einrichtungen mit mehreren Zehntausenden bis hin zu kleinen Erinnerungsorten mit wenigen tausend Besuchern .15 Dabei stellen sich die im Folgenden diskutierten Problemfelder je nach Größe der Institution durchaus unterschiedlich, beispielsweise das Problem des Massentourismus ist primär auf die großen und international bekannten Orte vormaliger Konzentrationslager beschränkt, während Fragen des Umgangs mit gesellschaftlichen Megatrends, die direkt oder indirekt die Gedenkstättenarbeit berühren wie Nationalismus, Migration oder Digitalisierung, sich überall stellen . So verläuft der jüngere Gedenkstätten-Diskurs über drei Achsen, die gewissermaßen den Motor für eine Selbstverständigungsdebatte bilden: – Den Rahmen bildet der große Zeitabstand zu den historischen Ereignissen und die darin gründenden Umbrüche: Historisierung des Nationalsozialismus, Musealisierung, Institutionalisierung, Professionalisierung, Verlust der Zeitzeugen und Überlebenden . Dieser Strukturwandel ist Anlass für Überlegungen zu einer gewandelten Vermittlungsarbeit, die die Verschiebung des handlungsleitenden Fokus vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis reflektiert . So wird die Vermittlungsebene stetig wichtiger, werden die authentischen Orte als Teil der materiellen Erinnerungskultur begriffen und zeitgemäße Ausstellungen, Bildungsangebote und digitale Formen der Vernetzung und Vermittlung gewinnen immer mehr an Bedeutung .16 – Dabei geht es besonders um die sich wandelnden Funktionen der historischen Orte und ihrer Bildungsarbeit; hier stehen die Einrichtungen in verschiedenen Spannungsfeldern der Interessen von Wissens- und Erlebnisgesellschaft, aber auch zwischen Wissenschaft und Zeitzeugen17 und zwischen „authentischem“ Ort und dem Bedürfnis nach politischer Aktualisierung .18 Insbesondere der europaweite

Dabei werden die historischen Orte des NS-Massenmordes in Osteuropa und die dortigen Stätten des Gedenkens häufig nachrangig wahrgenommen, vgl . dazu jetzt Martin Langebach, Hanna Liever (Hrsg .): Im Schatten von Auschwitz . Spurensuche in Polen, Belarus und der Ukraine, Bonn 2017 . 16 Vgl . etwa: Virtuelle Erinnerungsstätten . Themenschwerpunkt in: Mittelweg 36, 24 (2015) 3, URL: https://www .berlinercolloquien .de/data/user/colloquien/2014/16BBB/Beilage_Mittelweg_36_Brues sel_Beutelsbach_Butowo .pdf, letzter Zugriff: 30 .6 .2019; Shaun Hermel: Gedenkstätten im digitalen Zeitalter, in: Detlef Schmiechen-Ackermann u . a . (Hrsg .): Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018, S . 486–496 . 17 Wolfgang Benz: Geschichtspolitik versus historische Aufklärung . Probleme zweifacher Vergangenheit in der Gedenkstätten-Realität, in: Detlef Garbe, Günter Morsch (Hrsg .): Kriegsendverbrechen zwischen Untergangschaos und Vernichtungsprogramm, Berlin 2015, S . 143–162 . 18 So lautet beispielsweise die programmatische Unterzeile der Webpräsenz einer nordrhein-westfälischen Einrichtung „Geschichte darf nicht nur Vergangenheit bedeuten“ (Gladbacher Haus der Erinnerung, https://ghe-mg .de) . Vgl . auch Holger Thünemann: Auschwitz unbekannt? Überlegungen und Thesen zum Umgang mit NS-Vergangenheit und Holocaust in Gedenkstätten, in: Geschichte für heute 11 (2018) 15

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Aufstieg autoritär-nationalistischer Parteien und Bewegungen sowie transnationale Diskussion um „neuen Antisemitismus“ bescherten den Gedenkstätten zusätzliche Aufmerksamkeit als Orte historischer Rück- und Selbstversicherung ebenso wie der Gegenwehr zu solchen Entwicklungen . Die Pluralisierung der den Orten zugeschriebenen Aufgaben zeigt sich etwa bei neueren Einrichtungen am Aufbrechen des vormals dominierenden Begriffs Gedenkstätte . Neuere Bezeichnungen fächern diese Funktionserweiterung auf, beispielsweise als Gedenk- und Bildungsstätte, Denkstätte, Denkort, Lern- und Gedenkort, Historischer Lernort, Erinnerungsort, Erinnerungs- und Forschungsstätte, Begegnungsstätte oder NS-Dokumentationszentrum . – Zudem geht es um die Folgen des veränderten Verhältnisses zu staatlichen Institutionen . Wo vormals Bilder einer politischen Antithese zum Staat dominierten, drängt die inzwischen zu konstatierende gemeinsame gesellschaftliche Bedeutungszumessung für die Gedenkstätten eher zu einer relativen Synthese des Akteursverhältnisses . Die weitreichende Modernisierung durch staatliche Mittel inklusive der damit verbundenen Entstehung eines entsprechenden Stellenmarktes insbesondere für Gedenkstättenleiter und -pädagogen, wissenschaftliche Mitarbeiter und Kuratoren hat die früheren Selbstbilder verflüssigt . Ein wichtiger Ausgangspunkt der jüngeren Debatten ist dabei der breit rezipierte Essay von Dana Giesecke und Harald Welzer zur „Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“ .19 Einerseits unterziehen sie den Status quo der Erinnerungskultur im Allgemeinen und diverser Praxisfelder wie die Gedenkstätten im Besonderen einer scharfen Kritik, andererseits entwerfen sie einen alternativen Ansatz zur Neuausrichtung beider Ebenen . Sie konstatieren zunächst – eingestandenermaßen mitunter polemisch – eine „bis zur Erstarrung stabile Gedenk- und Erinnerungslandschaft“ (7) . Deshalb lautet die zentrale Hypothese: „Das Haus der historischen und politischen Bildung gehört entrümpelt“ (11) . Die beiden Autoren kritisieren eine „Diktatur der Vergangenheit: Vieles an der geschichts- und erinnerungskulturellen Praxis ist schal geworden, petrifiziert, inhaltsleer – und zwar exakt wegen ihrer Vergangenheitsfixierung“ (19 f .) . Ihre Kritik gilt sowohl der generellen Struktur als auch einzelnen Elementen inklusive der „Agenten der Erinnerungskultur in den Schulen, Gedenkstätten, Volkshochschulen etc .“ (38) . Dabei gerät auch eine oft unreflektierte Begrifflichkeit im Kontext gängiger sinnstiftender Topoi in den Fokus: „Nicht vergessen zu sollen ist ein sinnloser Appell,

2, S . 26–34; Elke Gryglewski Gedenkstättenarbeit zwischen Universalisierung und Historisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 3–4/2016, S . 23–28 . 19 Dana Giesecke, Harald Welzer: Das Menschenmögliche . Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012 .

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wenn niemand vergessen will“ (9) . An anderer Stelle heißt es, „man weiß nicht recht, wogegen eigentlich anerinnert wird, wo doch alle für das Erinnern und Gedenken sind“ (23) . Dem halten sie entgegen, „dass der Bezugspunkt des historischen Bewusstseins und der historischen Bildung nicht die Vergangenheit ist, sondern die Zukunft“ (14) . Eine Wendung Volkhard Knigges aufnehmend, diagnostizieren sie deshalb eine verbreitete, aber zukunftsuntaugliche „historisch entkernte Frömmigkeit“ (22) . Unter Verweis auf demoskopische Befunde, wonach circa 40 Prozent der befragten Jugendlichen – trotz großem eigenen Interessen an der Geschichte von Nationalsozialismus und Genozid – sich eingeschränkt fühlen in der historisch-politischen Bildung, plädieren sie für eine „Renovierung der historischen Vermittlungspraxis“ (22) . „(M)it dem Verschwinden der Zeitzeugen wird die Geschichte auch wieder frei, zu einer lebendigen Betrachtung nämlich, zum Gebrauch“ (49), schreiben Giesecke und Welzer . Sie erkennen hierin „die Chance, einen neuen Gebrauch von Geschichte und Erinnerung zu erproben – also einen neuen Gebrauchszusammenhang des Historischen zu etablieren (75) . Diesen alternativen Fokus entwickeln Giesecke und Welzer mit dem in Umrissen skizzierten „Haus der menschlichen Möglichkeiten“ . Da Zukunft systematisch zur Erinnerung gehöre, formulieren sie ihre leitende Idee für eine in dem Haus aufzubereitende „Zivilgeschichte der Zukunft“ (Knigge) folgendermaßen: „Wenn Lernen am historischen Gegenstand einen Sinn haben kann, dann doch nur den, ein Sensorium für die Potenziale zum Guten oder Schlechten entwickeln zu können, die in Gegenwartskonstellationen schlummern und sich ein wirksames Unterscheidungsvermögen dafür zuzulegen, welche Option unter gegebenen Bedingungen humanen und welche gegenmenschlichen Entwicklungen dient“ (25) . Eine solche Zivilgeschichte der Zukunft dürfe „sich nicht um eine negative Geschichte zentrieren, sondern um die Möglichkeiten gelingenden und glücklichen Zusammenlebens“ (25) und damit „um Themen wie Würde, Selbstachtung, Teilhabe, Aus- und Eingrenzung, Vertrauen, Liebe und Gewalt, Vernichtung, Gegenmenschlichkeit“ (77) . Sie empfehlen, die „Geschichtskultur und -pädagogik sollte sich also von der Hypostasierung des scheinbar erratischen Großgeschehens Holocaust abwenden und ihren Blick auf die Potenziale richten, die ihn ermöglichten . Und sie sollte endlich auch diejenigen einschließen, die sich auch unter den Bedingungen der NS-Gesellschaft abweichend verhalten haben . Hier liegt ja ein erstaunlich ungenutztes Lernpotenzial . Aus unserer Sicht ist eine der rätselhaftesten Eigentümlichkeiten des ‚Erinnerungswesens‘, dass es vor allem den Schrecken erinnert, nicht aber diejenigen, die etwas getan haben, um ihn zu verhindern oder wenigstens abzumildern“ (54) . Das Ziel einer Prävention von Gewalt und Ausgrenzung müsse deshalb auf die Stärkung der Bereitschaft zu abweichendem Verhalten zielen (79) . Jetzt komme es darauf an, „sich den Potenzialen, Handlungen und Orientierungen zu widmen, die Ausgrenzungsgesellschaften entstehen und Genozide möglich werden lassen . Genau in diesem Sinn ist Erinnerungskultur eine zivilgesellschaftliche Angele-

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genheit, deren Bezugspunkt die Zukunft und nicht die Vergangenheit ist“ (97 f .) . Programmatisch schreiben sie: „Von welchem Entwicklungspfad der Moderne war denn der Nationalsozialismus eine radikale Abweichung, zu welchen gesellschaftlichen Leitvorstellungen bildet er denn die Antithese? Und: Wie lässt sich das heute erreichte zivilisatorische Niveau gegen künftige Gefährdungen sichern, wie lässt es sich auch unter Bedingungen von Ressourcenknappheit und nachhaltigem Wirtschaften kultivieren? Nur vor dem Hintergrund solcher Leitfragen und nur ohne Einschüchterung durch Geschichte wird eine Erziehung zur Mündigkeit erfolgreich sein können“ (26) . Retrospektiv gehe es um die Aufklärung über die „Etablierung einer Ausgrenzungsgesellschaft“ (39), prospektiv um Prozesse des normativen Umcodierens und um das Begreifen, „dass unter bestimmten Bedingungen sich nicht nur die bösen Menschen zu gegenmenschlichem Verhalten entscheiden, sondern auch die guten . Das ist das Problem“ (39) . So plädieren Giesecke und Welzer „für eine Transformation der traditionellen, verbrechensbezogenen Strategien der historisch-politischen Bildung und der zugehörigen Lernorte in bürgerschaftliche Strategien und Lernorte eines neuen Typs – eines Typs, der positive Erfahrungen vor dem Hintergrund historischen Lernens eröffnet“ (99) . Sie stellen drei „storylines“ eines solchen „Hauses der menschlichen Möglichkeiten“ vor . Dabei orientieren sie sich am Best-Practice-Beispiel des innovativ-experimentellen „Klimahauses“ in Bremerhaven . Am Ende des Buches ist zu lesen: „Wir glauben, dass diese Abwendung vom enthistorisierten absoluten Grauen und die Hinwendung zu – positiven wie negativen – menschlichen Möglichkeiten mehr aufklärerisches und emanzipatives Potenzial enthält, als die Erinnerungskultur und ihre Institutionen zurzeit anbieten“ (179) . Eine starke Intervention – mit ähnlich starken Reaktionen aus der angesprochenen Gedenkstättenszene .20 Diese Debatte kann hier nicht en detail wiedergegeben werden, vielmehr soll mit dem Hinweis auf Gieseckes und Welzers Denkanstoß die komplexe Lage der Gedenkstättenentwicklung in den 2010er-Jahren illustriert werden: Einerseits sind vielerorts Wachstumsprobleme infolge der staatlichen Anerkennung zu erkennen (massive Förderausweitung, Stellenaufwuchs, Professionalisierung, Modernisierung der Infrastrukturen und Angebote, breite gesellschaftliche Nachfrage in fast allen Gedenkstätten und Massentourismus in den großen Einrichtungen), andererseits haben Giesecke und Welzer mit ihrem „Renovierungs“-Vorstoß eine weitere „Baustelle“ eröffnet, die die bisherige Konzeption der „Gedenkstätten“ prinzipiell infrage stellt . Jenseits von Schärfen und Polemiken dieser Auseinandersetzung: Der Impuls traf in eine

Vgl . Harald Welzer: Für eine Modernisierung der Erinnerungs- und Gedenkkultur, in: Gedenkstätten-Rundbrief, 162/2011, S . 3–9; Habbo Knoch: Mehr Wissen und mehr Recht: Koordinaten einer zukünftigen Erinnerungskultur . Eine Replik auf Harald Welzer, in: Ebd ., 163/2011, S . 3–11; Ulrike Schrader, Norbert Reichling: Modernisierung oder „Neuformatiserung“? Was Gedenkstätten für ihre reflexive Weiterentwicklung (nicht) brauchen, in: Ebd ., 164/2011, S . 3–8 . 20

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Diskurslandschaft, in der zum einen das „neue Unbehagen an der Erinnerungskultur“21 debattiert wird . Dazu zählt auch die Frage nach der „demokratischen Leerstelle“ (Martin Sabrow), also einem positiven Demokratiegedächtnis jenseits des vorherrschenden negativen, auf die deutsche Diktaturgeschichte fokussierten Gedächtnisses . Diese Kontroverse erhielt sowohl mit politischen Denkmalprojekten für Freiheit und Einheit in Berlin und Leipzig als auch durch wissenschaftliche Beiträge Impulse .22 Zum anderen geht es um die bereits zuvor in Gang gekommene Auseinandersetzung um die konzeptionelle Öffnung von Selbstverständnis und Bildungsarbeit hin zur Gegenwart und Zukunft . Die Renovierungsforderung war so Teil von aktualitätsbezogenen Debatten im Zeichen von Migration, Rechtspopulismus, Verlust und Wiedergewinnung eines politischen Mandats der Gedenkstätten, Digitalisierung und Globalisierung – in diesem Prozess die Notwendigkeit konzeptionell öffnender Weiterentwicklungen ins Spiel zu bringen, ist die Leistung des Buches . Auf diesen vielschichtigen Umbruch reagiert der gehaltvolle Sammelband Erinnerungsorte in Bewegung .23 Ausgangspunkt ist die Prämisse, dass die erwähnte Transformation zu einer nachhaltigen Bedeutungssteigerung der ‚authentischen‘ Orte nationalsozialistischer Verbrechen in der Geschichtsvermittlung führe . Denn, so schreiben die Herausgeber/innen einleitend, diese Erinnerungsorte „firmieren immer mehr als imaginative Hauptreferenz des Geschehens“ (8) . Deshalb werde die „materielle Kultur zur Leitebene des Erinnerns“ (8), was die Gestaltung der historischen Orte zu einer zentralen Aufgabe aktueller Erinnerungskultur mache – und „die Praxis des Erinnerns auch als eine Praxis von Politik zu begreifen“ (10) sei . Dabei betonen sie die Rückwirkung zeithistorischer Forschungen auf die Wahrnehmung der Gedenkstätten: Die „verstärkte Zuwendung zur Systemgestalt des Verbrechens, die anstelle einzelner Täter/innen ein komplexes Netzwerk an Institutionen, Beteiligungen und Profitinteressen ins Blickfeld rückt“ (7), verschiebe auch die Wahrnehmung der „Orte der ErVgl . Ulrike Jureit, Christian Schneider: Gefühlte Opfer . Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010; Margrit Frölich, Ulrike Jureit, Christian Schneider (Hrsg .): Das Unbehagen an der Erinnerungskultur Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt am Main 2012; Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, München 2013; Günter Morsch: Das „neue Unbehagen an der Erinnerungskultur“ und die Politik mit der Erinnerung: zwei Seiten der gleichen Medaille, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015) 10 S . 829–848 . 22 Vgl . etwa Thomas Hertfelder, Ulrich Lappenküper, Jürgen Lillteicher (Hrsg .): Erinnern an Demokratie in Deutschland . Demokratiegeschichte in Museen und Erinnerungsstätten in Deutschland, Göttingen 2016; Thomas Hertfelder: Opfer, Täter, Demokraten . Über das Unbehagen an der Erinnerungskultur und die neue Meistererzählung der Demokratie in Deutschland, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), S . 365–393; s . dazu auch die Tagungsdokumentation: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg .): Gespaltene Erinnerung? Diktatur und Demokratie an Gedenkorten und Museen in Baden-Württemberg – Dokumentation eines Austauschs, Stuttgart 2019, URL: https://www . lpb-bw .de/fileadmin/lpb_hauptportal/pdf/publikationen/doku_gespaltene_erinnerung_2018 .pdf, letzter Aufruf: 30 .6 .2019 . 23 Daniela Allmeier et . al . (Hrsg .): Erinnerungsorte in Bewegung . Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen, Bielefeld 2016 . 21

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innerung“ in einen breiteren Horizont und lasse sich nicht mehr auf einen einzelnen Schauplatz beschränken . „Verbindungen“, „Zugänge“, „(Un-)Sichtbarkeiten“, „Grenzen“ und „Bewegungen“ – strukturiert durch diese fünf leitenden und das Thema aufschließenden Begriffe entfaltet der Band mit 17 Beiträgen breite Perspektiven . Dabei bewegen sich die Aufsätze nahezu durchgängig auf allgemein und konkret argumentierender Ebene . Empirisch stehen vor allem zwei österreichische (Mauthausen, Gusen) und diverse deutsche Gedenkstätten (unter anderem Flossenbürg und Bergen-Belsen) im Zentrum des Nachdenkens . Die Herausgeber/innen betonen den Konsens der interdisziplinär zusammengesetzten Autorenschaft (ergänzt von Beiträgen aus der Praxis etwa von Ausstellungsbüros): „die Erkenntnis, dass über eine dem 21 . Jahrhundert gerecht werdende Gedenkpraxis nur dann ernsthaft nachgedacht werden kann, wenn wir zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit der heutigen Praxis von Politik an sich in die Reflexion miteinbeziehen“ (27) . Diese analytische Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart ist einer der Vorzüge dieses theoretisch reflektierten und empirisch informierten, zudem erfreulich kritischen Bandes . Einige der Beiträge seien hervorgehoben . Bertrand Perz fragt nach dem Umgang mit den materiellen Überresten in Mauthausen und deren Bedeutung für die Gestaltung der Gedenkstätte . „Gedenkstätten sind heute nicht Ergebnis einer autonomen künstlerischen Produktion, sondern von Gemeinschaftsaufgaben, für die große Netzwerke zusammenarbeiten“ (56), unterstreicht der Landschaftsarchitekt A . W . Faust vom Berliner Ausstellungsbüro „sinai“ in dem Band . Dass diese Aufgaben nicht immer konsensuell bearbeitet werden können, ist bei Nora Sternfeld nachzulesen . Sie verweist in ihrem Aufsatz auf den Umstand, dass die Gedenkstätten und die in ihnen dokumentierte Geschichte größtenteils erstritten werden mussten . Sie plädiert für die „Anerkennung der Umkämpftheit von Erinnerung“ und versteht „Gedenkstätten als Kontaktzonen (…), in denen unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Erinnerungen aufeinandertreffen“ (79) .24 Für die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg zeigt Jörg Skriebeleit die schwierige Auseinandersetzung mit den Spuren und Schichten des Ortes im Zuge der jüngeren Neugestaltung . Während Ulrich Schwarz die Bedeutung des Raumes als Erkenntnisbedingung näher betrachtet, stellen Klaus Gruber und Katharina Struber die geplante Gestaltung eines weitgehend unbekannten, memorial gänzlich unmarkierten Erinnerungsraumes vor: das ehemalige Vernichtungslager Maly Trostinec (Ukraine) . Wie verändern sich im Laufe der Jahrzehnte die in den Gedenkstätten verwendeten Beschriftungssysteme? Dieser Frage geht Brigitta Busch nach, wogegen Claudia

Vgl . auch ihre Dissertation: Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung . Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft, Wien 2013 . 24

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Theune auf die Bedeutung archäologischer Forschung für diese Orte verweist, um in veränderter erinnerungskultureller Lage „ehemals Unsichtbares wieder sichtbar und fassbar zu machen“ (216) .25 Um Unsichtbares geht es auch im Beitrag von Suzan Milevska, die Grenzbereiche des Rassismus in der visuellen Kultur einer Analyse unterzieht . Mit den Machtverhältnissen von Gedächtnisorten sowie der „Genese einer Expert/innen-Hegemonie“ an den großen deutschen KZ-Gedenkstätten beschäftigt sich Cornelia Siebeck, die „grundlegende Ambivalenzen der Musealisierung und Professionalisierung“ (270) dieser Orte auslotet . Wie Impulse für eine „Bewusstseinsregion“ an Orten früherer Lager durch ein Beteiligungsprojekt gegeben werden können, zeigt Brigitte Halbmayr auf . Abschließend plädiert auch Wolfgang Schmutz für eine „zivilgesellschaftliche Öffnung“ (359) von Gedenkstätten im Kontext ihrer Funktion als historisch-politische Lernorte . So könnten sie als „Konfliktzone(n) unterschiedlicher Narrative transparent (…) und die auf problematische Weise und problematischerweise angestrebte Hegemonie von erzählter Geschichte aufgebrochen“ (361) werden . Dieser Verweis auf die Bedeutung der Zivilgesellschaft ist grundlegend: „Erinnerung kann nicht überleben an einem toten Ort“ (75), schreibt A . W . Faust . Über den Stand der Debatte um die belebende Gestaltung der Erinnerungsorte informiert der Sammelband eingehend . Fausts Diktum, diese Orte böten die Chance, „unbequeme gesellschaftliche Auseinandersetzung und Selbstvergewisserung zu vereinen“ (57), markiert dabei das unausweichliche Spannungsfeld . Der Band beeindruckt mit reflektierten Beiträge zum heutigen Umgang mit Gedenkstätten in Zeiten des erinnerungskulturellen Umbruchs . Gedenkstättenpädagogik zwischen Generationenwechsel, Gegenwartsrelevanz und Globalisierung

„Was kann man da lernen?“, fragte Christian Graf von Krockow 1994 im Vorwort zu dem Fotoband totenstill mit Blick auf KZ-Gedenkstätten . „Sehr wenig, muß man vermuten . Geduld und Genauigkeit wären eigentlich gefordert, dazu ein Alleinsein mit sich und den eigenen Eindrücken, damit die Bilder zu wirken vermögen und die Stille zu sprechen beginnt .“26 Das, was sich seit den späten 1980er-Jahren langsam als Gedenkstättenpädagogik zu formieren begann, kann sich heute mit einer so sympathisch einfachen Antwort nicht (mehr) begnügen . Jan Philipp Reemtsma hat in seinem weit rezipierten Aufsatz „Wozu Gedenkstätten?“ so geantwortet: „Es geht nicht um Erinnerung, es geht um das Bewusstsein einer Gefährdung, von der man weiß, seit man weiß, Vgl . hierzu jetzt Reinhard Bernbeck: Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors . Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte, Bielefeld 2017 . 26 Christian Graf von Krockow: Vorwort, in: Dirk Reinartz, Christian Graf von Krockow: totenstill . Bilder aus den ehemaligen deutschen Konzentrationslagern, Göttingen 1994, S . 7 . 25

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dass es eine Illusion war, zu meinen, der Zivilisationsprozess sei unumkehrbar, von der man also weiß, dass sie immer aktuell bleiben wird . Und es geht um etwas, das ich eine bis in die anthropologische Substanz gehende Scham nennen möchte . Eine Scham, die, abgelöst von der Schuldfrage, jeden ergreift, der sich ergreifen lässt . Bewusstsein und Scham – dafür, dass beides geweckt und geübt werde, sind die Gedenkstätten da . Nicht nur sie, aber insbesondere sie .“27 Karl Heinrich Pohl hat die Frage inhaltlich gewendet und dafür plädiert, den Fokus vom Ende der NS-Herrschaft auf deren Beginn zu verschieben .28 Beides sind freilich noch keine Antworten auf das „Wie“ der Gedenkstättenpädagogik . In den ersten drei Dekaden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren Hitler, die NS-Diktatur und Auschwitz noch kaum Gegenstand systematischer bildungspolitischer Bemühungen . Markante öffentliche Ereignisse wie das (als Buch, Film und Theaterstück dargebotene) Tagebuch der Anne Frank lösten zwar erste Impulse aus, blieben jedoch – blickt man auf Lehrpläne, Rahmenrichtlinien, Schulbücher und -praxis – weitgehend randständig . Dass diese Auseinandersetzung ein „Generationenproblem“ ist und besonders auch Jugendliche im Brennpunkt der Bemühungen stehen sollten, war zwar schon früh erkannt worden, führte allerdings nicht zu einer breiteren politischen oder pädagogischen Rezeption .29 Zu entscheidenden Wendepunkten wurden zwei öffentlich intensiv rezipierte Ereignisse: die „antisemitische Schmierwelle“ 1959/60 und die Ausstrahlung des vierteiligen US-Spielfilms Holocaust 1979 . Erinnerungskulturell bilden beide Ereignisse Etappen des politisch-pädagogischen Diskurses in Deutschland und einer breitere öffentlichen Auseinandersetzung . Da es in jenen Jahrzehnten in der Bundesrepublik noch keine Gedenkstätten mit aktiver Vermittlungsarbeit gab,30 spielten in diesen Diskussionen die historischen Orte des NS-Terrors auch noch keine besondere Rolle, anders als ab den 1990er-Jahren . Die Pädagogisierung der Themen Nationalsozialismus und Völkermord begann in den späten 1970er-Jahren, national und international .31 Die Folge waren bildungs-

Jan Philipp Reemtsma: Wozu Gedenkstätten?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25–26/2010, S . 3–9, hier S . 9 . 28 Karl Heinrich Pohl: Wozu brauchen wir noch Gedenkstätten und Historische Museen?, in: Ders . (Hrsg .): Historische Museen und Gedenkstätten in Norddeutschland, Husum 2016, S . 11–26, hier S . 22 . 29 Vgl . etwa Richard Hommerding: Die nationalsozialistische Diktatur in der politischen Bildungsarbeit, o . O . (Mainz) 1961, hier S . 13 . 30 Die älteste Gedenkstätte der Bundesrepublik mit einer Dauerausstellung – freilich nicht an einem ehemaligen KZ oder sonstigem authentischen historischen Ort des NS-Terrors – ist die 1962 eingeweihte, den Opfern des Nationalsozialismus gewidmete Gedenkhalle Schloss Oberhausen . In den Folgejahren waren dann auch in Dachau (1965), Flossenbürg (1966) und in Bergen-Belsen (1966) Dauerausstellungen eröffnet worden . Alle genannten Gedenkstätten betrieben freilich keine aktive begleitende Bildungsarbeit . Ein erster Schritt in diese Richtung war dann die Eröffnung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand mit Dauerausstellung und Bildungsprogramm im Jahr 1968 . 31 Vgl . etwa Peter Meyers, Dieter Riesenberger (Hrsg .): Der Nationalsozialismus in der historisch-politischen Bildung, Göttingen 1979; Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg .): Der Nationalsozialismus 27

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politische sowie pädagogische und didaktische Konzepte, mit denen besondere „Zielgruppen“ – ein inzwischen etablierter, aus Marketing und Sozialer Arbeit importierter terminus technicus – erreicht werden sollten, insbesondere Schülerinnen und Schüler, die akademische Institutionalisierung setzte deutlich später ein .32 In den folgenden Jahren begann in Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen wie den Gedenkstätten (bald „außerschulische Lernorte“ genannt) die Diskussion um eine adäquate Pädagogik . In Deutschland zählt in diesem Zusammenhang Adornos Diktum von der „Erziehung nach Auschwitz“ zu den wirkmächtigsten Topoi . Es bildet auch die Brücke der kritischen Wende der Erziehungswissenschaft, die sich seit den 1970er-Jahren institutionell niederschlug und auch die Kultur des Erinnerns und später auch die „Gedenkstättenpädagogik“ prägte .33 „Die vergessenen KZs?“34 Mit dieser rhetorischen Frage meldete sich in den 1980er-Jahren in der Bundesrepublik die „Gedenkstättenbewegung“ zu Wort . Nach und nach formierte sie sich an vielen Orten ignorierter, verdrängter oder vergessener nationalsozialistischer Lager . Anfangs meist noch ganz mit der politischen Durchsetzung und dem Aufbau der Einrichtungen beschäftigt, war zunächst kaum die Rede von „Gedenkstättenpädagogik“, vielmehr eher von „Geschichtsdidaktik“ oder „didaktischer Arbeit“ . Ein entsprechendes Berufsbild war noch nicht Gegenstand des Nachdenkens .35 Der Ausdruck „Gedenkstättenpädagogik“ wurde dann im Zuge eines ersten Reflexions- und Professionalisierungsschubs im Laufe der 1990er-Jahre immer mehr zum Fokus der fachlichen Selbstverständigungsdiskurse unter Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Gedenkstätten .36 So bildete sich konzeptionell und diskursiv lang-

als didaktisches Problem . Beiträge zur Behandlung des NS-Systems und des deutschen Widerstands im Unterricht, Bonn 1980 . 32 So wurde 1990 an der Universität Amsterdam die erste Professur für „Holocaust Education“ in Europa eingerichtet . Jenseits der Professuren für die Geschichte und Wirkung des NS-Völkermords gibt es in Deutschland bislang keine auf die pädagogische Seite der Erinnerungskultur spezialisierte Professur, von einer Professur für Gedenkstättenpädagogik ganz zu schweigen . 33 Vgl . Wolfgang Meseth: Aus der Geschichte lernen . Über die Rolle der Erziehung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, Frankfurt am Main 2005 . 34 Detlef Garbe (Hrsg .): Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten 1983 . 35 Siehe etwa: Perspektiven historischer Aufklärung . Schulklassen und Jugendgruppen in der Begegnung mit KZ-Gedenkstätten (vier Aufsätze), in: Internationale Schulbuchforschung 6 (1984) 2, S . 157–185; Frank Dingel: Gedenkstätten – Denkstätten . Rezeptives Lernen oder aktive Aneignung?, in: Materialien zur politischen Bildung 1/1985, S . 64–69; Wulff E . Brebeck, Angela Genger, Dietfrid Krause-Vilmar (Hrsg .): Zur Arbeit in den Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus . Ein internationaler Überblick, Berlin 1988; KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Aktion Sühnezeichen, Friedensdienste e . V ., Thomas Lutz (Hrsg .): „Gedenkstätten – Verklärung oder Aufklärung“ . Überlegungen zu den Besonderheiten der Gedenkstättenpädagogik . Protokoll des bundesweiten Gedenkstättenseminars vom 26 .–29 . Mai 1988, Berlin 1989; Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg .): Didaktische Arbeit in KZ-Gedenkstätten . Erfahrungen und Perspektiven, München 1993 . 36 Dieser Prozess mündete im Jahr 2000 in die Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Gedenkstättenpädagogik“, siehe Thomas Lutz: Arbeitsgemeinschaft der Gedenkstättenpädagogen gegründet, 15 .2 .2001, URL:

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sam ein Kompetenzprofil aus, inzwischen liegt hierzu eine ganze Reihe einschlägiger Beiträge vor .37 2015 publizierten Akteurinnen und Akteure derselben eine umfassende Zwischenbilanz dieser Herausbildung einer eigenen Fachlichkeit (s . u .) . Inzwischen wird versucht, das Themenfeld auch zu weiteren Fachkontexten wie der Sozialen Arbeit38 und der Kulturellen Bildung39 zu öffnen . Seit den 1980er- und 1990er-Jahren ist in der Gedenkstättenpädagogik und auch in der Gedenkstättenpolitik viel geschehen – eine hohe interne Selbstreflexivität korrespondiert mit gewachsener externer Anerkennung, ließe sich verkürzt pointieren . Auch in aktuellen Schulbüchern ist das Thema „angekommen“ .40 Heute drückt der Begriff „Gedenkstättenpädagogik“ die besondere Fachlichkeit aus, die der historisch-politischen Bildungsarbeit ihr Profil gibt, wie sie an und in den als „authentisch“ auratisierten Orten des Gedenkens und Aufklärens über die Herrschaft, Verbrechen und Opfer des NS-Systems praktiziert wird . „Gedenkstättenpädagogik“ markiert den spezifisch deutschen Zugang zum Thema, der nicht identisch ist mit dem international gebräuchlichen, stark vom US-amerikanischen Diskurs geprägten „Holocaust Education“ .

https://www .gedenkstaettenforum .de/nc/aktuelles/einzelansicht/news/arbeitsgemeinschaft_der_ge denkstaettenpaedagogen_gegruendet/, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 37 Vgl . Annegret Ehmann u . a . (Hrsg .): Praxis der Gedenkstättenpädagogik: Erfahrungen und Perspektiven, Opladen 1995; Ido Abram, Matthias Heyl: Thema Holocaust . Ein Buch für die Schule, Reinbek 1995; Museumspädagogisches Zentrum München, Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen (Hrsg .): Gedenkstättenpädagogik . Handbuch für Unterricht und Exkursion, München 1997; Werner Nickolai, Micha Brumlik (Hrsg .): Erinnern, Lernen, Gedenken .: Perspektiven der Gedenkstättenpädagogik, Freiburg im Breisgau 2007; Barbara Thimm, Gottfried Kößler, Susanne Ulrich (Hrsg .): Verunsichernde Orte . Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt am Main 2010 (2 . Aufl ., 2015); Elke Gryglewski et al . (Hrsg .): Gedenkstättenpädagogik . Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin 2015; inzwischen liegen auch diverse akademische Qualifizierungsarbeiten zum Thema vor, vgl . etwa Steffen Widmann: Möglichkeiten und Grenzen der Gedenkstättenpädagogik, Bachelorarbeit Evangelische Hochschule Ludwigsburg, 2012, URL: http://www .lernortgeschichte . de/cms/media/c1/65/5945,Bachelorthesis%20Steffen%20Widmann%20Gedenkstättenpädagogik-0 .pdf, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 38 Vgl . Werner Nickolai, Wilhelm Schwendemann (Hrsg .): Gedenkstättenpädagogik und Soziale Arbeit, Berlin 2013; siehe auch Adrian Stöter: Welchen Nutzen hat Gedenkstättenpädagogik für die Soziale Arbeit? Grenzen und Möglichkeiten am Beispiel des Konzentrationslagers Drütte in Salzgitter, Hildesheim, Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit, Bachelor-Arbeit, 2015; Beke Jana Küsener: Kooperationen von Gedenkstätten und Schulen unter Betrachtung der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in beiden Institutionen, Bachelorarbeit, Hochschule Neubrandenburg 2017, URL: http://digibib . hs-nb .de/file/dbhsnb_derivate_0000002443/Bachelorarbeit-Kuesener-2017 .pdf, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 39 Vgl . Birgit Dorner: Gedenkstätten als kulturelle Lernorte – Gedenkstättenpädagogik mit ästhetisch-künstlerischen Mitteln, in: Kulturelle Bildung Online, 2012/13, URL: https://www .kubi-online .de/ artikel/gedenkstaetten-kulturelle-lernorte-gedenkstaettenpaedagogik-aesthetisch-kuenstlerischen, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 40 Vgl . Michael Sauer (Hrsg .): Geschichte und Geschehen, Oberstufe . Themenheft Geschichts- und Erinnerungskultur: Nationale Gedenk- und Feiertage in verschiedenen Ländern . Mythen, Stuttgart, Leipzig 2012, S . 64–73 .

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Ein Ausdruck dieses besonderen konzeptionellen Weges ist beispielsweise das Weiterbildungsprogramm „Verunsichernde Orte“, das seit etwa einer Dekade für pädagogisch tätige Gedenkstättenmitarbeiter/innen angeboten wird und ein differenziertes, von der Perspektive der Professionalisierung geprägtes „Berufsbild Gedenkstättenpädagogik“ entwirft .41 Die in den letzten Jahrzehnten zurückgelegte Wegstrecke – von historisch-politischer Emphase zu pädagogischer Ernüchterung – wird anhand der darin formulierten folgenden Position deutlich: „Heute ist klar, dass die Vergegenwärtigung der Schrecken des nationalsozialistischen Regimes an den Orten der Verbrechen allein nicht verhindern kann, dass durch Rassismus und Antisemitismus motivierte Gewalt ausgeübt wird . Daraus aber die Konsequenz zu ziehen, sich ganz auf die Vermittlung historischer Kenntnisse zu beschränken und das Ziel politischer Bildung aufzugeben, entspräche weder den Erwartungen der Öffentlichkeit an die Gedenkstätten noch dem Selbstverständnis der meisten ihrer Mitarbeiter(innen) .“42 Tatsächlich hat sich die gedenkstättenpädagogische Szenerie inzwischen beträchtlich gewandelt, insbesondere aufgrund einer geschichtspolitischen Wende, die die grundsätzliche Akzeptanz dieser Einrichtungen mit sich brachte und einer kontinuierlichen Professionalisierung, die versuchte, mit den gewachsenen gesellschaftlichen Ansprüchen Schritt zu halten . Dies mündete in den breiten erinnerungskulturellen Konsens, der auch Voraussetzung für das zentrale bundesweite Förderinstrument war, die 1999 erstmals verabschiedete und 2008 weiterentwickelte „Gedenkstättenkonzeption des Bundes“ .43 Die großen Gedenk- und Dokumentationsstätten, insbesondere Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Mittelbau-Dora, Neuengamme, Ravensbrück, Sachsenhausen und Topographie des Terrors (Berlin), wurden ausgebaut, modernisiert und konnten sich mit einem größeren Personalbestand professionalisieren . Vielerorts gründeten Initiativen neue Gedenkstätten, denen es teilweise gelang, mit Projektmitteln vom Bund, vom jeweiligen Bundesland oder der betreffenden Kommunen Grundlagen aufzubauen . Auf diese Weise ist innerhalb weniger Jahre eine so breite wie vielfältige Gedenkstättenlandschaft entstanden, in denen fachliche Fragen seit längerem eine herausragende Bedeutung haben .

Siehe neben der bereits erwähnten Publikation (Thimm, Kößler, Ulrich [Hrsg .]: Verunsichernde Orte, 2010) auch die Website zur Weiterbildung, URL: http://www .verunsichernde-orte .de . 42 Wolf Kaiser: Gedenkstättenpädagogik heute . Qualifizierung von Fachkräften in der historisch-politischen Bildung an Gedenkstätten und anderen Orten der Geschichte des Nationalsozialismus, in: Thimm, Kößler, Ulrich (Hrsg .): Verunsichernde Orte, 2010, S . 19–24, hier S . 22 . 43 Vgl . Detlef Garbe: Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes . Förderinstrument im geschichtspolitischen Spannungsfeld, in: Gedenkstätten-Rundbrief, 182/2016, S . 3–17; Frank König, Die Gestaltung der Vergangenheit . Zeithistorische Orte und Geschichtspolitik im vereinten Deutschland, Marburg 2007, S . 59 ff .; David Marquard: „Die Wende“ in der Gedenkstättenpolitik . Die Entwicklung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes und ihre Auswirkungen auf KZ-Gedenkstätten, in: Werner Nickolai, Wilhelm Schwendemann (Hrsg .): Gedenkstättenpädagogik und Soziale Arbeit . Erinnern und Lernen, Münster, Berlin 2012, S . 223–281 . 41

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Dabei geht es stets um Einheit und Vielfalt der gedenkstättenpädagogischen Arbeit: um Gemeinsamkeiten im Blick auf die NS-Geschichte, auch hinsichtlich eines besonderen Selbstbewusstseins der Akteure, und um Unterschiede in der Bildungsarbeit . Diese beiden Pole der praktischen Gedenkstättenarbeit stehen im Fokus in der jüngsten Bestandsaufnahme zur Gedenkstättenpädagogik .44 Die Herausgeberinnen und Herausgeber verstehen das Buch als „Bindeglied zwischen Theorie und Praxis“ . Tatsächlich dokumentieren die Beiträge des Bandes einen Grad von Selbstreflexivität, der sich mit etablierter Museumsdidaktik messen kann . Knapp 30 Autorinnen und Autoren leuchten die Bandbreite aktueller Gedenkstättenpädagogik aus . Sie repräsentieren gewissermaßen auch die zweite Generation der Gedenkstättenarbeit, die bis auf wenige Ausnahmen 1960er- und 1970er-Geburtsjahrgängen angehören und noch zur Schule gingen oder studierten, als die Vorgängergeneration Gedenkstätten vor Ort oft gegen heftige Widerstände erstritten . Diese zweite Generation steht in der pädagogischen Arbeit etwa vor der ständigen Herausforderung, die große zeitliche Distanz zum Nationalsozialismus nicht auch zur emotionalen Distanz werden zu lassen .45 Durch das „Verstummen der Zeitzeugen“ (Wolfgang Benz) verlieren die Gedenkstätten nicht nur ihre wichtigsten moralischen Unterstützer, vielmehr wird auch ihre vormalige Rolle als „Anwälte der Überlebenden“ fragil . Verena Haug hält dem entgegen: „Die Institutionalisierung der Gedenkstätten kann auch als Versuch gedeutet werden, zu der moralischen Instanz zu werden, die die Zeitzeugen nicht mehr sein können“ (15) . Die hier angesprochene Institutionalisierung ist auch Ausdruck einer veränderten Konstellation zwischen Staat und Zivilgesellschaft: „Die Gedenkstätten sind mehr und mehr zu staatstragenden Einrichtungen geworden“, betont Christa Schikorra, „und dadurch hat eine Vereinheitlichung stattgefunden“ (S . 12) . Das beunruhigt manche, die den Verlust vormals kritischer Funktion von Gedenkstätten befürchten . Die Beiträger/innen des Bandes reflektieren das breit gefächerte, vielfältige und professionalisierte Handlungsfeld der pädagogischen Arbeit in Gedenkstätten . Zum Beispiel kontextualisiert Cornelia Siebeck die aktuelle Situation und fragt, wie es nach der Entwicklung „vom gegenkulturellen Projekt zur staatlichen Gedenkstättenkonzeption“ weitergehen kann und soll, wobei sie die Frage des Zurückgewinnens „gesellschaftspolitischer Widerborstigkeit“ (43) aufwirft . Robert Sigel erörtert die Bedeutung schulischer Bildung für die Gedenkstättenpädagogik, die strategische Relevanz besitze . Gottfried Kößler setzt sich mit dem Verhältnis von Gedenkstätte und Museum auseinander . Wolf Kaiser und Kuno Rinke greifen die Frage des Verhältnisses

Gryglewski et al . (Hrsg .): Gedenkstättenpädagogik, 2015 . Vgl . Oliver von Wrochem: Die zeitliche Distanz zu den NS-Verbrechen als Herausforderung für die Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, in: Gedenkstätten-Rundbrief 179/2015, S . 3–14, URL: https:// www .gedenkstaettenforum .de/fileadmin/forum/Rundbriefe/2017/179/GedRund179-3-14 .pdf, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 44 45

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von historischer und politischer Bildung neu auf . Elke Gryglewski erörtert das Thema „Gedenkstättenarbeit in der heterogenen Gesellschaft“ und Oliver von Wrochem widmet sich der Menschenrechtsbildung in Gedenkstätten . In dem Kapitel „Zugänge und Methodik“ sind Beiträge versammelt, die sich etwa mit „Zeugenschaft in der Bildungsarbeit“ beschäftigen (Constanze Jaiser), das Thema „Führungen“ aufgreifen ( Julius Scharnetzky) oder auch „künstlerische Zugänge“ ( Juliane Heise) näher betrachten . Beiträge zu dieser Debatte bietet auch der Sammelband Erinnerungskulturen .46 Im Mittelpunkt der 13 Aufsätze und Essays stehen die strukturellen Umbrüche in den Kulturen des Erinnerns an die NS-Verbrechen im Allgemeinen und in den Gedenkstätten im Besonderen: Wie geht es weiter ohne die Zeugen von Diktatur, Verfolgung, Weltkrieg und Vernichtung? Was folgt aus dem großen zeitlichen Abstand zur Epoche des Nationalsozialismus und der Historisierung von Auschwitz? Wie müssen Erinnerungskulturen den Herausforderungen einer Migrationsgesellschaft begegnen? Am Anfang des Buches stehen drei Essays von Forschern der Jahrgänge 1942, 1947 und 1949 . Der Hinweis auf die Geburtsjahrgänge ist hier deshalb angebracht, weil sie einen kategorischen, von den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der 1960er– bis Ende der 1990er-Jahre geprägten Ton anschlagen, wie er in der zeitgeschichtlichen Publizistik zum Umgang mit der NS-Zeit zunehmend randständig zu werden scheint . Den Auftakt macht Joachim Perels mit einer Art Vergewisserung, indem er aus der Perspektive von Benjamins und Adornos „Eingedenken“ in wenigen Strichen auf die lange Verdrängungsgeschichte verweist: „Das Vergessen, das den Ermordeten die Erinnerung verweigert, war mit Gründung der Bundesrepublik lange Jahre die Signatur der Öffentlichkeit“ (12) . Als einzig positives Strukturelement erwähnt er das Grundgesetz, „eine in Rechtskategorien gefasste Negation der NS-Herrschaft“ . Die ersten beiden Grundrechtsartikel verwehrten dem Staat, „was zuvor sein Herrschaftsprinzip war: die schrankenlose Verfügung über die Existenz der Individuen“ und bewahrten „die Erinnerung an dessen systematische Beseitigung in der Shoah“ (16 f .) . Unter dem Titel „Hologramm und Holocaust“ reflektiert Micha Brumlik, welche Entwicklungen in der Vermittlungsarbeit sich nach der Epoche der Zeitzeugen des Völkermords abzeichnen . Er streift hierbei, kontextualisiert in die Debatte um Globalisierung des Erinnerns, drei Richtungen: Videoarchive mit Interviews von Überlebenden, Vermittlung in der weiteren Generationenfolge der Zeugen sowie – sozusagen als letzter Schrei der technischen Entwicklung – Hologramme, also dreidimensionale digitale Projektionen von (scheinbar) interaktiven Zeitzeugenbefragungen . Letzteres deklariert er als „gespenstische Holographisierung von Überlebenden“ (28) . Ihm entgeht dabei, was Bill Niven so pointiert hat: dass hier das kulturelle Gedächtnis das kommunikative

Meike Sophie Baader, Tatjana Freytag (Hrsg .): Erinnerungskulturen: Eine pädagogische und bildungspolitische Herausforderung, Köln et al . 2015 . 46

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zu imitieren versucht .47 Moshe Zuckermann erörtert die „Instrumentalisierung der Vergangenheit“, was er – mit essentialistisch aufgeladenen Begriffen wie „das Wesen des zu Erinnernden“ (32) oder „authentische Erinnerung“ (37) arbeitend – auf allgemeiner Ebene sowie mit Blick auf Israel und Deutschland diskutiert: Er konstatiert die Unmöglichkeit, die Vergangenheit nicht zu instrumentalisieren, da dies stets aus der Gegenwart und ihren Interessen und Zwecken heraus geschieht . Am israelischen und deutschen Beispiel zeigt er die ideologische Be- und Gefangenheit beider Seiten, landet jedoch am Ende bei einer Selbstverständlichkeit („fortwährende kritische Reflexion der Andenkenspraxis und der ihr zugrunde liegenden Gedenkmatrix“, 37) und einer an diese, als „sisyphische Unternehmung“ verstandene Aufgabe anschließende, utopische Perspektive, indem er eine Gesellschaft andeutet, in der „fremdbestimmte Instrumentalisierung der Vergangenheit sich erübrigt haben wird“ (37) . Erfreulicherweise pflegen die Autorinnen und Autoren der weiteren Beiträge einen weniger kategorischen, stärker auf konkrete Problematisierungen und empirische Beispiele bezogenen Stil . Margit Reiter etwa plädiert in ihrem Beitrag über das Familiengedächtnis dafür, die zeitliche und emotionale Distanz zum Geschehen auch als Chance zu betrachten, denn dadurch könne eine sachlichere und differenziertere Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte möglich werden . Meike Sophia Baader und Tatjana Freytag prüfen „Erinnerungskultur als pädagogische und bildungspolitische Herausforderung“ . Phil C . Langer plädiert im Kontext der Debatte um Globalisierung der Erinnerung an den NS-Völkermord für postkoloniale Perspektiven, während Viola B . Georgi über die „Aneignung, Verhandlung und Konstruktion von Geschichtsbildern in der deutschen Migrationsgesellschaft“ schreibt und für eine „demokratische und interkulturelle Öffnung von Geschichtslernen und Erinnerungskulturen“ (105) votiert .48 Im längsten Aufsatz des Bandes „durchforsten“ (109) Yehuda Judd Ne’emann und Nerit Grossmann fünf israelische Filme über die Shoah aus den 2010er-Jahren . Die abschließenden fünf Beiträge umkreisen das Themenfeld Gedenkstätten und Erinnerungsorte . Matthais Heyl setzt sich mit gedenkstättenpädagogischen „Herausforderungen ortsgebundener Vermittlung“ auseinander . Er geht von dem Deutungsmuster der „verunsichernden Orte“ aus, weist darauf hin, dass diese Spezialpädagogik

Bill Niven: Das Ende der Schuld? Die öffentliche Erinnerung an die zwei Weltkriege und die Befreiung der Konzentrationslager in Deutschland, in: Insa Eschebach u . a . (Hrsg .): Repatriierung in Europa 1945, Berlin 2016, S . 137–152, hier S . 151 . 48 Vgl . hierzu Franziska Ehricht: Die Einbindung bildungsbenachteiligter Jugendlicher muslimischer Herkunft in die historisch-politische Bildungsarbeit zu Nationalsozialismus und Holocaust . Eine Fallstudie, Diss ., Technische Universität Berlin 2017, URL: https://depositonce .tu-berlin .de/bitstre am/11303/6320/2/ehricht_franziska .pdf, letzter Zugriff: 30 .6 .2019; Astrid Messerschmidt: Geschichtsbewusstsein ohne Identitätsbesetzungen . Kritische Gedenkstättenpädagogik in der Migrationsgesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 3–4/2016, S . 16–22; Dies .: Gedenkstätten und Erinnerungsorte, in: Ingrid Gogolin u . a . (Hrsg .): Handbuch Interkulturelle Pädagogik, Bad Heilbrunn 2018, S . 425–428 . 47

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sich historisch und anthropologisch „gleichsam am Abgrund“ (143) bewege und dass es „meist eine Kurzzeitpädagogik (ist), die den steten Krieg gegen die Uhr regelmäßig verliert“ (153) . Er betont, wie wichtig es ist, den Ort als historische Quelle ernst zu nehmen, und grenzt ihn in seiner Funktionalität ab: „Gedenkstättenpädagogische Kernkompetenz ist (…) nicht, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ins rechte Verhältnis zu rücken .“ Ehemalige KZs und Vernichtungslager seien „nicht notwendigerweise der beste Ort für die dafür anschlussfähigen Pädagogiken, sei es Demokratie-, Friedens- und Menschenrechtspädagogik“ (153) . Auch Verena Haug widmet sich dem Thema der ortsgebundenen Vermittlung . Sie betont, das Besondere der Gedenkstättenpädagogik sei primär „das spezielle, detaillierte ortbezogene und pädagogische Verfahren“, weshalb sie die didaktische Spezifik „weniger im Ort selbst als in der Qualität der pädagogischen Ideen, mit den materiellen Überresten der Ortsgeschichte umzugehen“ (166), ansiedelt . Ergänzt wird dies durch Angelika Meyers Plädoyer für eine Etablierung der „Kategorie Gender als pädagogisches Instrument an Gedenkstätten“ (178) . Ferner durch Cornelia Geißlers anregende Betrachtung von „Pädagogik und Politik im Medium Gedenkstättenausstellungen“, in der sie davor warnt, in den gegenwartsnahen Teilen der Ausstellungen zu unkritisch aktuelle Politik zu thematisieren oder zu beschweigen . Sie plädiert dafür, das auch in den Gedenkstätten allseits übernommene Narrativ eines Erfolgs der NS-Aufarbeitung in den letzten Jahrzehnten aufzubrechen und formuliert in diesem Sinne: „Pädagogik, die aufhört, politisch zu sein, affirmiert zwangsläufig die Staatsraison des Gedenkens“ (197) .49 Am Ende des Bandes steht ein Werkstattbericht von fünf Studentinnen zu niedersächsischen Orten der Erinnerung . Ein deutsch-israelisches Studienprojekt ist Gegenstand des Bandes Erinnerungspraxis zwischen gestern und morgen .50 Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Wandel der Kulturen des Erinnerns an Shoah und Nationalsozialismus in den beiden Ländern und den heutigen Aneignungsformen dieser Geschichte . Eingeleitet von zwei instruktiven Beiträgen der Projektleiter und Herausgeber Thomas Thiemeyer und Jackie Feldman versammelt der aufschlussreiche und nah an den aktuellen Umbrüchen angesiedelte Band Aufsätze aus dem binationalen Projekt forschenden Lernens . Neben Texten zu Filmen und Kunstprojekten geht es etwa um die Frage des Generationenwandels an ehrenamtlich geleiteten KZ-Gedenkstätten, um die Ansätze digitaler Präsentation der NS-Geschichte an Gedenkorten mit Apps oder in Sozialen Netzwerken . Ein Beitrag setzt sich mit der Bedeutung von Gästebüchern in Gedenkstätten als „Emotionsträger und Kommunikationshilfen“ auseinander, weitere diskutieren neue Vermittlungsansätze .

Vgl . Cornelia Geißler: Individuum und Masse . Zur Vermittlung des Holocaust in deutschen Gedenkstättenausstellungen, Diss . Freie Universität Berlin 2013, Bielefeld 2015 . 50 Thomas Thiemeyer, Jackie Feldman, Tanja Seider (Hg .) Erinnerungspraxis zwischen gestern und morgen . Wie wir uns heute an NS-Zeit und Shoah erinnern . Ein deutsch-israelisches Studienprojekt, Tübingen 2018 . 49

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Beispielsweise Hannah Gröner resümiert ihre Studie zu „Jugendguides“ in baden-württembergischen Gedenkstätten auf diese Weise: „Die Jugendguideprogramme sind gekennzeichnet vom Ideal der freien, selbstgesteuerten Aneignung von Geschichte und der Idee, dass persönliche Zugänge dies besonders authentisch machen . Da Jugendliche hier in ihrer Sprache und mit ihren Ansätzen von der NS-Geschichte erzählen, so die Hoffnung, erreichen sie ihre Altersgruppe besser als andere Personen (…) . Hierin spiegelt sich die Angst vor dem vermeintlichen Desinteresse einer dritten oder vierten Generation wider, die man glaubt, anders als bisher ansprechen zu müssen . So gesehen sagt das Programm der Jugendguides weniger etwas darüber aus, wie Jugendliche sich tatsächlich erinnern wollen, als vielmehr darüber, wie sie in den bestehenden Strukturen und Logiken von Bildungs- und Kultureinrichtungen mit Gedenkstätten in Berührung kommen (sollen)“ (203) . In einem anderen Text diskutiert Oksana Hinak „Gedenkstättenfotos in Sozialen Netzwerken“ . Ausgehend von dem 2017 aufsehenerregenden Projekt Yolocaust .de des deutsch-israelischen Künstlers und Satirikers Shahak Shapira, „welches unsere Erinnerungskultur durch die Kombination von Selfies am Holocaust-Mahnmal in Berlin mit Bildmaterial aus Vernichtungslagern hinterfragte“, wie er rückblickend auf seiner Website formuliert,51 fragt die Autorin nach der Bedeutung von Fotopraktiken in Gedenkstätten, die sich durch die Verbreitung von Smartphones revolutioniert habe . Zwar reproduzierten die mit Smartphones erstellten Aufnahmen bekannte Bildmotive wie Gleise und Lagertore, doch anders als früher „verschwinden (sie) nicht mehr in privaten Fotoalben, sondern sind öffentlich einsehbar“ in Sozialen Netzwerken und können so „neue Rückschlüsse auf die heutige Aneignungsweise von Gedenkorten“ (144) ermöglichen . Allerdings weist sie auch darauf hin, dass „der sensationslüsterne Umgang mit Fotoapparaten“ (so die Kritik eines Mannes nach seinem Besuch in Dachau 1980) kein Phänomen aus digitalen Zeiten darstellt . Eine spezifische Herausforderung aktueller Bildungsarbeit an historischen Orten des NS-Terrors untersucht Bünyamin Werker in seiner Bochumer erziehungswissenschaftlichen Dissertation Gedenkstättenpädagogik im Zeitalter der Globalisierung . Er rückt darin Gedenkstätten für NS-Opfer, Kriegsgräberstätten und Täterorte in den Mittelpunkt und befragt deren pädagogische Angebote darauf hin, ob und wie sich die Globalisierungsthematik – hier verstanden als Indikator für eine „Universalisierung des Holocaust“ – in den Vermittlungsangeboten der Einrichtungen niedergeschlagen hat . Werker versichert sich hierzu gängigen theoretischen Bezügen von Halbwachs über Assmann bis zu Levy/Sznaider und Novick und verknüpft diese mit den Entwicklungen auf nationaler und internationaler Ebene der letzten Jahrzehnte . Wenngleich die Relation von Aufwand und Ertrag der Studie problematisch ist, kann der Autor zeigen, wie sich „interkulturelle Multiperspektivität“ und menschenrechtlich

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URL: https://yolocaust .de, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 .

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orientierte Bildungsangebote recht breit etablieren konnten . Zusammenfassend heißt es bei ihm: „In Bezug auf die kulturellen, politischen und sozialen Globalisierungsprozesse der Universalisierung, Europäisierung und Pluralisierung der Holocaust-Erinnerung ist als zentrales Ergebnis zu formulieren, dass die Gedenkstättenpädagogik in Deutschland die Prozesse globalisierter Erinnerung für die pädagogische Arbeit in den NS-Gedenkstätten adaptiert bzw . die Globalisierungsthematik aufnimmt und in typischer Weise an ihre jeweiligen lokalen Gedächtnisrahmen anpasst“ (281) . Der zwischen Überkomplexität und Banalität oszillierende Satz verdeutlicht das Problem der Studie, die trotz ausführlicher Darstellung, der Verbindung internationaler und nationaler Bezüge sowie qualitativer Inhaltsanalyse der pädagogischen Angebote von 14 Einrichtungen am Ende wenig Neues und wenig Weiterführendes – und viel Erwartbares erbringt . Je größer die Akzeptanz der Gedenkstätten und ihrer historisch-politischen Vermittlungsarbeit in den letzten drei Jahrzehnten nach und nach wurde, desto intensiver und differenzierender wurde auch die Frage nach unterschiedlichen „Zielgruppen“ gestellt – ein Begriff, der inzwischen auch für den Wandel zentraler Intentionen der Gedenkstättenarbeit und der gesellschaftlichen Ausrichtung derselben steht . Im Zuge dieser Entwicklung rückten zunehmend junge und immer jüngere Menschen in den Mittelpunkt spezifischer Bildungsangebote; der Buchmarkt hatte hier mit spezieller Literatur zum Nationalsozialismus für Kinder und Jugendliche das Terrain in gewisser Hinsicht bereits weitaus früher bereitet . Schon seit längerem sind so auch Grundschulkinder zum Gegenstand von Gedenkstättenarbeit geworden . Anfangs teilweise heftig umstritten, hat sich dieser Sektor der Bildungsarbeit an den „authentischen“ Orten des NS-Terrors mittlerweile von der Grundsatzfrage, ob es pädagogisch und ethisch überhaupt verantwortbar ist, Kinder mit den unausweichlich bedrängenden und bedrückenden Themen zu konfrontieren, wegbewegt hin zum Ansatz altersadäquater Angebote . Wenngleich sich Gedenkstätten mitunter mit dieser besonderen sozialen Gruppe schwertun, gibt es inzwischen ein wachsendes Angebot für Grundschulkinder und für Lehrkräfte . Der von Regine Gabriel herausgegebene Band zum Frühen Geschichtslernen an NS-Gedenkstätten versammelt vier Beiträge, die hier ansetzen und von der Erfahrung verschiedener Gedenkstätten berichten: dem NS-Dokumentationszentrum Köln, der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, der Gedenkstätte KZ-Osthofen und der „Euthanasie“-Gedenkstätte Hadamar .52 Eingeleitet wird die Publikation von einem fachdidaktischen Beitrag aus der Feder von Rita Rohrbach zu „Nationalsozialismus, Verfolgung und Widerstand als Thema in der Grundschule“ . Sie betont die schulische Erfahrung der letzten beiden Dekaden: „dass man Grundschulkinder mit diesem schwierigen Thema

Regine Gabriel (Hrsg .): „Es war sehr schön und auch sehr traurig“ . Frühes Geschichtslernen an NS-Gedenkstätten für Kinder von 8–12 Jahren . Beispiele und Erfahrungen, Frankfurt am Main 2018 . 52

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nicht überfordert“ (9 f .) . Rohrbach erläutert verschiedene Prinzipien der Gedenkstättenarbeit mit Kindern, etwa das Aufnehmen vorhandener Fragen und der Abbau von Ängsten, das Vermeiden von Überforderungen, die unbedingte Orientierung an der regionalen Erfahrungswelt, die gründliche schulische Vor- und Nachbereitung, zudem sollten Gedenkstättenbesuche nicht den Einstieg in das Thema Nationalsozialismus darstellen . Gleichwohl steckt das Thema im doppelten Sinne in den Kinderschuhen: „Heute stehen wir am Anfang unserer Erfahrungen mit jüngeren Kindern in Gedenkstätten, sodass es noch viel zu diskutieren, eventuell zu verwerfen und neu zu organisieren gibt“ (17) . Die sechs Autorinnen beschreiben die Genese ihrer lokalen Erfahrungen mit Kindern am historischen Ort und berichten von verschiedenen Ansätzen und Methoden, mitunter auch selbstkritisch . „Behutsamkeit“ ist dabei ein mehrfach wiederkehrender Leitbegriff für den Umgang mit den acht- bis zwölfjährigen Kindern . Eine nach dem Besuch der Gedenkstätte Hadamar erstellte, nicht repräsentative Befragung von 109 acht- bis zehnjährigen Kindern vier verschiedener Grundschulklassen ergab unter anderem, dass circa zwei Drittel von ihnen keine Angst vor dem Besuch der Gedenkstätte hatte und etwa 80 Prozent nach dem Besuch gut schliefen (114) . Gewiss, Gedenkstättenpädagogik konnte sich mittlerweile zum festen Bestandteil außerschulischer Lernaktivitäten etablieren .53 In der Literatur zur Gedenkstättenpädagogik fällt freilich eine Lücke ins Auge – empirische Forschung findet selten statt . „Es gehört zum Elend notorisch unterfinanzierter Gedenkstätten, dass ihnen eine sozialwissenschaftlich valide, konsistente und vergleichbare Besucher/innen- und Wirkungsforschung kaum möglich ist .“ Was Matthias Heyl 2012 beschrieb, kann nach wie vor Gültigkeit beanspruchen .54 Das Problem wurde zwar bereits vor 25 Jahren erkannt und benannt,55 doch die seither in unterschiedliche Richtungen unternommenen Versuche haben nur begrenzte Fortschritte erbracht, um diese für pädagogische Erkenntnisse ebenso wie für die geschichtspolitische Argumentation schmerzliche Desiderat – Verena Haug spricht von einer „black box“ – zu kompensieren .56 Vgl . etwa die Beiträge in: Hanns-Fred Rathenow, Birgit Wenzel, Norbert H . Weber (Hrsg .): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust . Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung, Schwalbach am Taunus 2013, S . 367–417 . 54 Matthias Heyl: Mit Überwältigendem überwältigen? Emotionalität und Kontroversität in der der Gedenkstättenpädagogik als Teil historisch-politischer Bildung, Vortrag, 2012, S . 7, URL: http://lernen -aus-der-geschichte .de/sites/default/files/attach/10658/heyl-mit-ueberwaeltigendem-ueberwaeltigen . pdf, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 55 Ingo Dammer, Cornelia vom Stein: Zur Notwendigkeit der Wirkungsforschung, in: Ehmann et al . (Hrsg .): Praxis der Gedenkstättenpädagogik, 1995, S . 323–334; siehe auch die frühe Studie von Renata Barlog–Scholz: Historisches Wissen über die nationalsozialistischen Konzentrationslager bei deutschen Jugendlichen . Empirische Grundlagen einer Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt am Main et al . 1994 . 56 Haug: Am „authentischen“ Ort, 2015, hier S . 17; vgl . etwa Bert Pampel: Nivellierendes Erinnern . Besucherreaktionen an historischen Orten aufeinanderfolgenden nationalsozialistischen und kommunistischen Unrechts, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S . 119–138; Ders . (Hrsg .): Erschrecken – Mitgefühl – Distanz . Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Ausstellungen, Leipzig 2011; Ders .: „Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist“ . Zur Wir53

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Die Namen zu nennen – seien es jene der Opfer des NS-Terrors oder der Urheber desselben – war und ist für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stets ein zentrales Interesse, auch in den Ausstellungen und in der Vermittlungsarbeit der Gedenkstätten: Einerseits sollen Täter und ihre Schuld aufgeklärt werden, andererseits soll den Leidtragenden wenigstens post mortem ihre Würde wiedergegeben werden, nachdem sie vom Nationalsozialismus auf verschiedenste Weisen entwürdigt, ja zur bloßen Nummer degradiert worden waren . Für das Erzählen persönlicher Lebensgeschichten, wie es fester Bestandteil erinnerungskultureller Praktiken in Gedenkstätten und Ausstellungen ist, ist dies unerlässlich . Daran knüpften die seit den 1960er-Jahren erarbeiteten Toten- und Gedenkbücher ebenso an wie die seit den 1990er-Jahren praktizierten Gedenk-Namenlesungen an („Jeder Mensch hat einen Namen“), nicht zuletzt auch die europaweit verbreiteten über 70 .000 „Stolpersteine“ des Kölner Künstlers Gunter Demnig . Kurzum, anonymisiert kann Vergangenheit nicht wirksam erhellt werden . Welche soziale, politische und juristische Bedeutung die öffentliche Kenntnis und Nennung des Namens haben kann, wussten insbesondere jene Schwerbelasteten, die sich nach 1945 eine neue Identität zulegten – der 1995 aufgedeckte Fall Schneider/ Schwerte steht hier nur stellvertretend für zehntausende weitere Namenwechsel von NS-Tätern .57 Doch auch auf der Opferseite ist die Veröffentlichung von Namen mitunter heikel, wenn beispielsweise Nachkommen von seinerzeit als „Erbkranke“, „Berufsverbrecher“ oder „Asoziale“ Diffamierten und Verfolgten sich dagegen wehren, dass die Identität ihrer Familienmitglieder bekannt wird . Dass freilich der Status eines (Shoah-) Opfers eine kulturell außerordentlich hohe Relevanz angenommen hat, illustrierten diverse Fälle von fantasierten respektive gefälschten Opferidentitäten, am bekanntesten der Fall Binjamin Wilkomirski alias Bruno Dössekker alias Bruno Grosjean .58 „Im Kern geht es um die Frage, ob Namen und weitere Daten von Opfern des Nationalsozialismus zugänglich gemacht und veröffentlicht werden dürfen und sollen – und wenn ja, wie und in welchem Umfang .“ Mit dieser Leitfrage eröffnete die deutsche kung von Gedenkstätten auf ihre Besucher, Frankfurt am Main et al . 2007; Arne Pannen: Lernwiderstände von Erwachsenen in Gedenkstätten und an Lernorten zum Nationalsozialismus am Beispiel des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schönweide, Masterarbeit Humboldt-Universität Berlin 2013; Karin Huber: Bildungschancen und Bildungsgrenzen eines schulischen KZ-Gedenkstättenbesuchs, Diplomarbeit Universität Wien, 2010, URL: http://othes .univie .ac .at/12288/1/2010-10-24_0501718 .pdf, letzter Zugriff: 30 .6 .2019; Christian Gudehus: Dem Gedächtnis zuhören .: Erzählungen über NS-Verbrechen und ihre Repräsentation in deutschen Gedenkstätten, Essen 2006; Ders .: Methodische Überlegungen zu einer Wirkungsforschung in Gedenkstätten, in: Ralph Gabriel et al . (Hrsg .) . Lagersystem und Repräsentation . Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Tübingen 2004, S . 206–219; Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg .): Gedenkstätten und Besucherforschung, Bonn 2004 . Zur Motivationsforschung vgl . Doreen Cerny: „… jüdische Grabsteine putzen?“ Zu Biographien und Beweggründen freiwillig Engagierter an KZ-Gedenkstätten, Opladen 2010 . 57 Vgl . Claus Leggewie: Von Schneider zu Schwerte . Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte, München 2002 . 58 Vgl . Irene Diekmann und Julius H . Schoeps (Hrsg .): Das Wilkomirski-Syndrom . Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich 2002 .

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Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters im Jahre 2016 die von ihrer Behörde initiierte und finanzierte Tagung „Den Opfern einen Namen geben – Gedenken und Datenschutz im Zusammenhang mit der öffentlichen Nennung der Namen von NS-Opfern in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken“ . Dass eine solche Konferenz seitens der Bundesregierung finanziert wird, ist heute nicht mehr besonders hervorzuheben, illustriert jedoch den geschichtspolitischen Paradigmenwechsel, der sich Schritt für Schritt durchgesetzt hat . Die Beiträge des Tagungsbandes machen deutlich, dass Gedenken sich auch mit individuellen, sozialen, ethischen und rechtlichen Vorbehalten konfrontiert sieht – sensibles Vorgehen ist dabei Pflicht, um nicht schutzwürdige Interessen von Opfern und deren Angehörigen zu übergehen . Insbesondere der Umgang mit Namen von „Euthanasie“-Opfern hat immer wieder Debatten ausgelöst, hier kam es regelmäßig zu Konflikten mit der ärztlichen Schweigepflicht . Erhart Körting erläutert den Stand der Rechtslage, wonach die öffentliche Nennung der Namen zulässig ist (insofern eine Gleichstellung von Shoah- und „Euthanasie“-Opfern möglich und sinnvoll ist), keinesfalls aber die Veröffentlichung nicht anonymisierter Krankenakten . Weitere Texte beziehen aus archivarischer Sicht Stellung, überdies kommen je ein Vertreter zweier bürgerschaftlich aktiver Arbeits- und Interessengruppen im Kontext von „Euthanasie“-Opfern zu Wort (einer votiert für eine Freigabe der Namensnennung, der andere plädiert dafür, außerhalb der Thematisierung in Gedenkstätten die Angehörigen um Erlaubnis zu fragen) . Georg Lilienthal, vormals Leiter der Gedenkstätte Hadamar, gibt zu bedenken, dass sich inzwischen eher Archivare statt Angehörige von Opfern einer Veröffentlichung der Namen verweigerten . Die Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau Gabriele Hammermann verweist auf die lange Tradition des namentlichen Gedenkens an den historischen Orten und in den Gedenkstätten, oft mittels in den Ausstellungen ausgelegter Gedenkbücher: „Sie kehren den von der SS befohlenen entwürdigenden Prozess der Entmenschlichung durch die Vergabe der Häftlingsnummer um, stellen den Namen als Ausdruck von Identität und Persönlichkeit in den Fokus und fungieren gewissermaßen als symbolische Grabsteine“ (108), schreibt sie mit Blick auf das Theresienstädter Gedenkbuch . Sie plädiert für den Vorrang der Würdigung von NS-Opfern, im Einzelfall müsste jedoch auch anders entschieden werden . Abschließend berichten Michael Wunder und Harald Jenner über das Ende 2017 als Print- und Webversion veröffentlichte Hamburger Gedenkbuch Euthanasie, für das ein weitergehender Kompromiss mit dem Hamburger Datenschutzbeauftragten gefunden wurde .59

Vgl . Harald Jenner, Michael Wunder: Hamburger Gedenkbuch Euthanasie . Die Toten 1939–1945, hrsg . von der Senatskanzlei Hamburg, der Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen und der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg, Berlin 2017, URL: http://www .hamburger-eutha nasie-opfer .de, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 59

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Andreas Nachama und Uwe Neumärker, die Herausgeber des Bandes, betonen, „dass die Bereitschaft, alle Opfernamen öffentlich, zum Zwecke des Gedenkens, vollständig zu nennen, in den letzten Jahren zugenommen hat“ . Die Gedenkstätten böten einen „geschützten und würdigen Raum für die Nennung von Namen der NS-Opfer“ (15) . Den Konsens der Tagungsteilnehmer/innen fassen sie in diesen Punkten zusammen: Der juristische Leitsatz „Erinnerung ist ein Menschenrecht“ solle für alle NS-Opfer umgesetzt werden, ein Ausschluss einzelner Gruppen könne auch eine fortgesetzte Diskriminierung bedeuten; Archive benötigten eindeutige juristische Rahmenbedingungen; zudem sollte die Praxis der Archive auf Bundes- und Länderebene möglichst vereinheitlicht und eine internationale Kooperation angestrebt werden; bereits im Internet veröffentlichte Datenbanken sollten akzeptiert und wissenschaftlich begleitet werden; Beratungsangebote für Opfer der NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“ sollten entwickelt und die Gleichstellung der Opfer in der Entschädigungspraxis umgesetzt werden . Nachama und Neumärker sehen dabei besonders die Gedenkstätten vor der Aufgabe, über historische und fortgesetzte Stigmatisierungen von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen aufzuklären . Insofern ist der Band ein wichtiges Stück zur vertieften Reflexion erinnerungskulturellen Handelns in einer komplexen und diversen Gesellschaft . „The Value of Being There“: Zwischen Peripherie, Massentourismus und Dark Tourism

Die Frage nach Besucherinnen und Besuchern ist auch die Frage nach Geschichtspraktiken, ihrer Genese, Rezeption und Wirkung, nach Interessen, Akteuren und Aneignungsformen auf dem Markt öffentlicher Geschichte . Insbesondere Reenactment und das weite Feld des Geschichtstourismus („HisTourismus“) haben in den letzten Jahren auch für wissenschaftliche Aufmerksamkeit gesorgt, beispielsweise mit dem Ansatz Doing History, mit dem diskursive und performative Prozesse im Feld von Public History und Geschichtskultur untersucht werden .60 Gedenkstätten und Erinnerungsorte zur Zeit des Nationalsozialismus kommen hier eine bedeutende Rolle zu, sowohl hinsichtlich der Besucherströme als auch mit Blick auf ihre – von der Politik zugewiesene oder eigenständig ausgeübte – Funktion in der Konstruktion historisch-politischer Identität . Dabei hat der von Werker in seinem oben skizzierten Beitrag näher betrachtete Prozess der Globalisierung weitrei-

Sarah Willner, Georg Koch, Stefanie Samida (Hrsg .): Doing history . Performative Praktiken in der Geschichtskultur, Münster 2016; darin u . a . der Beitrag von Juliane Brauer: „Heiße Geschichte? Emotionen und historisches Lernen in Museen und Gedenkstätten, S . 29–44; vgl . auch die kulturgeografische Dissertation von Gunnar Maus: Erinnerungslandschaften . Praktiken ortsbezogenen Erinnerns am Beispiel des Kalten Krieges, Kiel 2015 . 60

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chende Folgen auch für (noch) primär national geprägte Erinnerungskulturen . Nicht nur die theoretischen Implikationen – Umbruch der sozialen Rahmung kollektiver Gedächtnisse – sind dabei angesprochen, sondern auch die Frage, welche Folgen die stetig zunehmenden internationalen Reiseströme beispielsweise für und zu den Orten des Dark Tourism zeitigen . Geschichtsreisen sind längst ein „Massenmedium der Vermittlung von Geschichte“61 und somit sind auch Gedenkstätten Teil eines vielgestaltigen „Geschichtsmarketings“62 geworden . Diese speziellen Erinnerungsorte sind hierbei nicht die unbedeutendsten Zielorte, haben freilich mit charakteristischen Spannungen zu tun . „Die Mehrzahl der Besucher“, schreibt Insa Eschebach, die Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, „kommt mit Authentizitätserwartungen: Sie wollen Stätten expliziten Schreckens besuchen und wünschen sich Erlebnisse . Sie rechnen mit dem Besuch eines Konzentrationslagers und finden doch nur eine Gedenkstätte vor . Die Arbeit der Gedenkstätten besteht unter anderem darin, der Erwartungshaltung des Dark Tourism und der Heritage-Industrie mit Angeboten historischer Bildung entgegenzutreten .“63 Dabei gehören Gedenkstätten auch zu jenem Retroland, das Valentin Groebner bereist hat und in seinem gleichnamigen Essay zum Geschichtstourismus näher beleuchtet .64 Wenngleich er sich diesen besonderen „düsteren“ Erinnerungsorten zum Nationalsozialismus nicht eigens widmet, lässt sich sein originelles Buch gleichsam als Propädeutik für eine Analyse des Feldes „Gedenkstätten und (Massen)Tourismus“ lesen – und als kluger, geschichtstheoretisch informierter Kommentar zur Authentizitätsdebatte . „Vom Tourismus wollte die Erinnerungsgeschichte lange nichts wissen“, stellt Groebner fest . „Auch in den kritischen Analysen nationaler Vergangenheitskonstruktionen kam der Fremdenverkehr nicht vor“ (25) . Der Autor verweist auf die extremen Entwicklungen in diesem drittgrößten globalen Dienstleistungsfeld: Von 1950 bis 2016 hat sich die Zahl der weltweit erfassten „tourist arrivals“ von 25,3 Millionen auf 1,235 Milliarden fast verfünfzigfacht . Laut Angaben der Welttourismus-Organisation UNWTO, einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen, waren es 2018 bereits 1,4 Milliarden „arrivals“ .65 Horst Kuss: Rezension (Bernd Mütter: HisTourismus . Geschichte in der Erwachsenenbildung und auf reisen, Oldenburg 2008), in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 10 (2011), S . 197–199, hier S . 197 . 62 Christoph Kühberger: Geschichtsmarketing als Teil der Public History . Einführende Sondierungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, in: Ders ., Andreas Pudlat (Hrsg .): Vergangenheitsbewirtschaftung . Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, Innsbruck 2012, S . 14–53 . 63 Insa Eschebach: Einführung, in: Enrico Heitzer u . a . (Hrsg .): Von Mahnstätten über zeithistorische Museen zu Orten des Massentourismus? Gedenkstätten an Orten von Verbrechen in Polen und Deutschland, Berlin 2016, S . 25–27, hier S . 27 . 64 Valentin Groebner: Retroland . Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen, Frankfurt am Main 2018 . 65 Groebner: Retroland, 2018, S . 14; International Tourist Arrivals Reach 1 .4 billion Two Years Ahead of Forecasts, in: World Tourism Organization, 21 .1 .2019, URL: http://www2 .unwto .org/press-release/2019-01-21/in ternational-tourist-arrivals-reach-14-billion-two-years-ahead-forecasts, letzter Zugriff: 30 .6 .2019 . 61

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Vor diesem Hintergrund versteht man Groebners Deutung besser: „Die Reste der Vergangenheit, die am Beginn des 21 . Jahrhunderts als Touristenziele dienen, sind mehr als Wahrzeichen des Authentischen und Ursprünglichen . Ihre Anbieter verstehen sich als Gefühlsdienstleister für die Besucher . Überreste der Vergangenheit werden dabei ebenso als Ort eines Ereignisses in der Vergangenheit präsentiert – ‚Hier war es!‘ – wie auch als ihre eigene (und streng optimierte) Wiederholung und Visualisierung – ‚So war es!‘ . Vermittelt wird so die Fiktion, der Besucher befinde sich gleichzeitig in mehreren Zeitebenen: Denn erst diese Fiktion ist es, die ihm das ‚Erlebnis‘ des Historischen ermöglicht“ (29 f .) . Man ist an dieser Stelle versucht, auf die Unterschiede von Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors zu verweisen, aber angesichts der oben zitierten quantitativen Dimension des internationalen Tourismus und des Wissens, dass die großen Gedenkstätten längst mit den Auswirkungen globaler Fernreiseströme ringen, sollte man vorsichtiger sein . Vielleicht ist ja die Frage wichtiger, in welchem Verhältnis beide Seiten zueinander stehen und aufeinander reagieren: einerseits kritische Informations- und Bildungsangebote an den historischen Stätten, andererseits der massenhafte Andrang von Interessierten und Touristen an diese Orten . Der unübersehbare politische und kulturelle Megatrend Geschichts- und Erinnerungstourismus ist jedenfalls ein wichtiger, sowohl geschichts- als auch kulturpolitischer Faktor der künftigen Entwicklung der Gedenkstätten . „Düstere Orte, die uns die Schrecken der Geschichte lehren – zollen Sie den Opfern Respekt und beten Sie, dass solche Gräuel nie wieder geschehen“, heißt es in einem Reiseführer unter der Überschrift „Dunkle Kapitel des 20 . Jahrhunderts“ .66 „Dark Tourism“ hat sich inzwischen etabliert zur Bezeichnung jenes thematisch weiten und global wirksamen Kultur- und Wirtschaftsfeldes des Bereisens von historischen Orten, Attraktionen oder Ausstellungen mit „düsterer“ Ereignisgeschichte . Mal ist die Rede von „Katastrophentourismus“, dann von „Orten des Schreckens“, „Thanatourismus“ oder „atrocity tourism“ – stets geht es um die damit gemeinte Ausprägung des Geschichtstourismus, die frühere Kriegsschauplätze, Gefängnisse, Friedhöfe oder eben vormalige Terror-Lager in den Fokus nimmt . Das Thema ist in der Populärkultur ebenso wie in der Wissenschaft angekommen: So wurde beispielsweise 2012 das Institute for Dark Tourism Research an der englischen University of Central Lancashire gegründet, und 2018 hat der Online-Streamingdienst Netflix die Dokumentation „Dark Tourist“ ausgestrahlt . Der von Glenn Hooper und John J . Lennon herausgegebene gleichnamige Band seziert dieses Phänomen facettenreich .67 Lennon hatte 1996 zusammen mit seinem Kollegen Malcolm Foley den Begriff Dark Tourism geprägt . Hooper betont einleitend, es

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Piers Pickard (Hrsg .): Lonely Planets 1000 einmalige Reisen, Ostfildern 2014, S . 230 . Glenn Hooper, John J . Lennon (Hrsg .): Dark Tourism . Practice and Interpretation, London et al . 2017 .

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habe düsteren oder dunklen Tourismus schon immer in der einen oder anderen Form gegeben, neu sei hingegen, dass es dafür ein Begriff gebe, ein zunehmendes touristisches Marketing sowie wissenschaftliche Forschung dazu . In 14 Beiträgen wird diese Reise-, Urlaubs- und Bildungsform untersucht: von der Frage, ob nicht aller Tourismus düster sei über „marketing Dachau“ und „Death Camp tourism“ über „Prison tourism“ und „Dracula tourism in Romania“ bis zu „Genocide tourism in Rwanda“ und zur „favela tour“ in Rio de Janeiro . Dieser Seitenarm der Forschung kann hier nicht detailliert verfolgt werden, aber ein besonderer Aspekt bedarf dabei noch der näheren Betrachtung, die Frage nach dem Massentourismus an früheren Konzentrationslagern . Mit der Ambivalenz hoher, in den letzten Jahren teilweise stark angestiegener Besucherzahlen (inklusive hohem Anteil ausländischer Touristen, beispielsweise in der KZ-Gedenkstätte Dachau über 50 Prozent) leben die großen deutschen Einrichtungen seit längerem: Während die mehr als 300 deutschen Gedenk- und Dokumentationsstätten zur NS-Zeit etwa von 5 Millionen Menschen jährlich besucht werden, ziehen die wenigen großen, national und international bekannten Einrichtungen das Gros der Interessierten an . Das Eine ist die Freude und Genugtuung über den Zuspruch, das Andere die damit einhergehenden Veränderungen, die man neutral als Pluralisierung bisheriger Besucherstrukturen beschreiben kann . Tatsächlich geht es um das Management von Folgen des massenhaften internationalen Kulturtourismus . Das Problembewusstsein wächst zwar, aber eine wissenschaftliche Thematisierung findet hierzulande kaum statt . Ein aktueller Sammelband, der ausweislich des Titels auch Massentourismus in Gedenkstätten reflektieren möchte, wird dem jedoch nicht einmal in Ansätzen gerecht .68 Anders die jüngst erschienene Studie Postcards from Auschwitz von Daniel P . Reynolds .69 Einleitend berichtet er vom Umbruch in der Gedenkstätte des früheren Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz in den letzten 20 Jahren infolge der dramatisch angestiegenen Besucherzahlen auf über 2 Millionen pro Jahr: „Accomodating such numbers oresents enormous logistical challenges für crowd control, for scheduling, and fort he provision of personally guided tours in seventeen different languages each day . In the face of such massive demand, how does the memorial provide its visitors with an meaningful experience that amounts to more than macabre voyeurism or crass consumerism?“ (1) Mit dieser Frage beginnt Reynolds seine Untersuchung zum Holocaust-Tourismus und schließt die rhetorische Frage nach „controlled madness“ an . Er zweifelt allerdings, ob es einen Zusammenhang zwischen dem globalen Anstieg dieses Tourismus und möglicher Verhinderung ähnlicher Ereignisse gibt: „The recurrence of

Heitzer u . a . (Hrsg .): Von Mahnstätten über zeithistorische Museen zu Orten des Massentourismus, 2016 . 69 Daniel P . Reynolds: Postcards from Auschwitz . Holocaust tourism and the meaning of remembrance, New York 2018 . 68

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genocide around the world should make us skeptical that such tourism has done anything to prevent the kind of insanity and violence that (…) murdered six million European Jews“ (3) . Reynolds konstatiert eine Asymmetrie zwischen den akademisch randständigen Forschungen zum Tourismus und den kaum überschaubaren zum NS-Genozid, eine Verknüpfung beider Felder habe erst vor wenigen Jahren stattgefunden . Die Studie ist in zwei große Kapitel unterteilt . Im ersten Teil setzt sich Reynolds mit den Erfahrungen auseinander, die Touristen bei der Begegnung mit dem Erinnerungsraum der Gedenkstätten machen, inklusive der Frage, welche Bedeutung dabei dem Fotografieren zukommt – hier geht es also um den Erfahrungsraum zwischen Vergangenheit und Gegenwart . In Teil zwei untersucht er vier zentrale städtische Orte der Erinnerung an die Shoah in den nationalen Hauptstädten Warschau, Berlin, Jerusalem und Washington . Er plädiert für einen weniger stereotypen Blick auf den Tourismus zu vormaligen Vernichtungsorten, Museen und Mahnmalen . In diesem Kontext fordert er, die so selbstgerechte wie ritualisierte Unterscheidung einerseits zwischen legitimen Reisenden und Besuchern wie Schülern, Studierenden und Pilgern und andererseits und gewöhnlichen Touristen zu reflektieren . Denn in Wirklichkeit gingen beide Rollen, Motivationen und Verhaltensweisen ineinander über, sodass diese Dichotomie nicht angemessen sei . „The separation of visitors to Auschwitz into tourists versus pilgrims, tourists versus diginataries, tourists versus scholars (…) is a well-rehearsed strategy for assigning legitimacy to some forms of travel by denying it to others . (…) But solemnity and frivolity, abstinence and indulgence, frugality and consumerism often travel as pairs“ (51, vgl . 32 f .) . Holocaust-Tourismus sei ein Teil populärer Formen der Vergegenwärtigung dieses historischen Komplexes und deshalb nicht hermetisch getrennt von Kinofilmen oder Literatur . Er weist auf frühe Formen und Orte dieser Tourismussparte hin, etwa das Anne-Frank-Haus in Amsterdam oder den nach Steven Spielbergs internationalem Filmerfolg Schindler’s List einsetzenden „Schindler-Tourismus“ nach Krakau . Reynolds betont sowohl die Prozessualität des Tourismus in Auschwitz – zuerst unter den restriktiven Bedingungen des Kalten Krieges, seit den späten 1980er-Jahren dann rasch und stark zunehmend – als auch der memorialen Gestaltung des historischen Ortes . Der Autor argumentiert: „Tourism bears witness in a general sense to the memory of the Holocaust and, more specifically, to itself and its participants as stewards of that memory . While not all visitors may embody this realization, the tour to Auschwitz imposes an ethical imperative on visitors to remember, to acknowledge the crimes of the past and also the obligations that the past hands down to the future“ (70) . Dabei sieht er in den titelgebenden Postkarten aus Auschwitz einen wichtigen Indikator, auch für den technologisch-kulturellen Wandel vom eher autoritativ vorgegebenen Bildmotiv hin zum subjektiv gewählten Selfie . Reynolds betont den Aneignungscharakter, den das Fotografieren für Touristen hat, auch in Auschwitz; es erschöpfe sich nicht in der Reproduktion von ikonischen Motiven, vielmehr müsse auch der Verwendungszusammenhang der Aufnahmen berücksichtigt werden .

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Der Tourismus, so sein Resümee, habe sich zu einem dynamischen Faktor der kollektiven Erinnerung an die Shoah entwickelt . „The Value of Being There“ überschreibt er eines seiner letzten Unterkapitel . Tourismus ermögliche Denkanstöße, aber garantiere diese nicht – so sei auch dem Holocaust-Tourismus Neugier und kritische Reflexion inhärent . Deren Akteure seien Augenzeugen der Erinnerung an den Genozid, so Reynolds auch mit Verweis auf die Funktion von Postkarten und Selfies . So wendet er sich abschließend gegen die häufigen Verweise auf die unangenehmsten Auswüchse des (Holocaust-)Tourismus und die Verdächtigung dieser Reisenden . Vielmehr gehe es darum, die Chancen desselben zu erkennen: „tourism remains an vital forum for contesting and defining the nature of Holocaust remembrance, whose future does not end when the last survivor has passed away“ (236) . Rezensierte und weitere verwendete Literatur

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„Erinnerung kann nicht überleben an einem toten Ort“

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Michele Barricelli, Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte und Public History an der Ludwig-Maximilians-Universität München . Ausgewählte Publikationen: Diversität und Historisches Lernen . Eine besondere Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 38–39/2018, S . 48–54; „Schlimmer als die beste Schilderung“ – Die Erinnerung an NS-Zwangsarbeit als gesellschaftliche Aufgabe, in: Winfried Nerdinger, NS-Dokumentationszentrum München (Hrsg .): Zwangsarbeit in München . Das Lager der Reichsbahn in Neuaubing, Berlin, München 2018, S . 74–95 . Dr. Katrin Biebighäuser, Juniorprofessorin für Deutsch als Fremdsprache an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg . Ausgewählte Publikationen: Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten . Empirische Untersuchung eines Begegnungsprojekts zum interkulturellen Lernen, Tübingen 2014; Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten . Aufgabengestaltung in komplexen multimodalen Lernumgebungen, in: Fremdsprachen lehren und lernen 42 (2013) 2, S . 55–70; Aufgaben 2 .0 – Konzepte, Materialien und Methoden für das Fremdsprachenlehren und -lernen mit digitalen Medien, Tübingen 2012 (Hrsg . mit Marja Zibelius und Torben Schmidt); Cultural Historical Learning in Virtual Worlds, in: GFL journal 2/2010, S . 21–38, URL: http://gfl-journal . de/2–2010/GFL_2_2010_Biebighaeuser .pdf . Dr. Claudia Fröhlich, Freiberufliche Politikwissenschaftlerin . Ausgewählte Publikationen: Der halbierte Rechtsstaat . Demokratie und Recht in der frühen Bundesrepublik und die Integration von NS-Funktionseliten . Baden-Baden 2015 (Hrsg . mit Sonja Begalke und Stephan Glienke); Geschichtspolitische und erinnerungskulturelle ZeitRäume . Vom Reiz einer analytischen Kategorie, in: Janina Fuge, Rainer Hering, Harald Schmid (Hrsg .): Gedächtnisräume . Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland, Göttingen 2014, S . 43–54; Rückkehr zur Demokratie – Wandel der politischen Kultur in der Bundesrepublik, in: Peter Reichel, Harald Schmid, Peter Steinbach (Hrsg .): Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte . Überwindung, Deutung, Erinnerung, München 2009, S . 105–126; „Wider die Tabuisierung des Unge-

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Autorinnen und Autoren

horsams“ . Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Frankfurt am Main, New York 2006 . Julia Gilowsky, M . Sc . Business Administration, Universität Passau . Ausgewählte Publikation: Wie wird kommunikatives zur kulturellem Gedächtnis? Aushandlungsprozesse auf den Wikipedia-Diskussionsseiten am Beispiel der Weißen Rose, in: Gerd Sebald, Marie-Kristin Döbler (Hrsg .): (Digitale) Medien und soziale Gedächtnisse, Wiesbaden 2018, S . 143–167 (mit Horst-Alfred Heinrich) . Prof. Dr. Markus Gloe, Leiter der Lehreinheit Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde an der Ludwig-Maximilians-Universität München . Ausgewählte Publikationen: Demokratische Schule als Beruf . 6 . Jahrbuch Demokratiepädagogik, Schwalbach/ Ts . 2019 (Hrsg . mit Helmolt Rademacher); Benjamin Barber (1939–2017): Barbers Starke Demokratie – Konsequenzen für die politische Bildung?, in: Markus Gloe, Tonio Oeftering (Hrsg .): Politische Bildung meets Politische Theorie, Baden-Baden 2018, S . 261–284; Philosophieren mit Kindern als Beitrag zum Demokratielernen, in: Markus Gloe, Tonio Oeftering (Hrsg .): Vom sozialwissenschaftlichen Sachunterricht bis zur Politiklehrerausbildung . Festschrift für Hans-Werner Kuhn, Baden-Baden 2017, S . 39–53 . Dr. Dr. Benjamin Hasselhorn, Akademischer Rat am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Kurator der Nationalen Sonderausstellung „Luther! 95 Schätze – 95 Menschen“ . Ausgewählte Publikationen: Königstod . 1918 und das Ende der Monarchie in Deutschland, Leipzig 2018; Tatsache! Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag, Leipzig 2018 (gemeinsam mit Mirko Gutjahr); Das Ende des Luthertums? Leipzig 2017 . Prof. Dr. Horst-Alfred Heinrich, Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung, Universität Passau . Ausgewählte Publikationen: Causal relationship or not? Nationalism, patriotism, and anti-immigration attitudes in Germany, in: Sociology of Race and Ethnicity, 2018, URL: https://doi .org/10 .1177/2332649218788583; Wie wird kommunikatives zur kulturellem Gedächtnis? Aushandlungsprozesse auf den Wikipedia-Diskussionsseiten am Beispiel der Weißen Rose, in: Gerd Sebald, Marie-Kristin Döbler (Hrsg .): (Digitale) Medien und soziale Gedächtnisse, Wiesbaden 2018, S . 143– 167 (mit Julia Gilowsky); Pictorial stereotypes and images in the Euro debt crisis, in: National Identities 19 (2017), S . 109–127 (mit Bernhard Stahl); Communicative and cultural memory as a micro-meso-macro relation, in: International Journal for Media and Cultural Politics 12 (2016), S . 27–41 (mit Verena Weyland) . Prof. Dr. Peter Hoeres, Zeithistoriker, ordentlicher Professor für Neueste Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg . Ausgewählte Publikationen: Zei-

Autorinnen und Autoren

tung für Deutschland . Die Geschichte der FAZ, Salzburg, München 2019; Außenpolitik und Öffentlichkeit . Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutsch-amerikanischen Beziehungen 1963–1974, München 2013; Die Kultur von Weimar . Durchbruch der Moderne, Berlin 2008; Krieg der Philosophen . Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn u . a . 2004 . Prof. Dr. Habbo Knoch, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität zu Köln, von 2008 bis 2014 Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen . Ausgewählte Publikationen: Geschichte in Gedenkstätten . Theorie – Praxis – Berufsfelder, Tübingen 2019 (i . E .); Gedenkstätten, Version: 1 .0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11 .9 .2018, URL: http:// docupedia .de/zg/Knoch_gedenkstaetten_v1_de_2018; Witnessing Unbound . Holocaust Representation and the Origins of Memory, Wayne UP 2017 (Hrsg . mit Henri Lustiger-Thaler); Bergen-Belsen . Neue Forschungen, Göttingen 2014 (Hrsg . mit Thomas Rahe) . Dr. Magnus Koch, Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung, Hamburg, bis 2016 als freier Historiker und Kurator tätig u . a . für die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas sowie für das Forschungsprojekt „Politics of remembrance and the transition of public spaces . A political and social analysis of Vienna, 1995–2015“ an der Universität Wien . Ausgewählte Publikationen: „Verliehen für die Flucht von den Fahnen“ . Das Wiener Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz, Wien 2016 (mit Juliane Alton, Thomas Geldmacher und Hannes Metzler); „Was damals Recht war …“ . Soldaten und Zivilisten vor den Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008 (mit Ulrich Baumann) . Nico Nolden, M . A ., Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Public History, Fachbereich Geschichte, Universität Hamburg . Ausgewählte Publikationen: Hamburgs Gedächtnis – die Threse des Hamburger Rates . Die Regesten der Urkunden im Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, Bd . 1: 1350–1399, Hamburg 2014 (Hrsg . mit Jeanine Marquard und Jürgen Sarnowsky); Verspielt? Konsequenzen eines konstruktivistischen Weltbildes für die (digitale) Editorik, in: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften 1/2012, URL: http://universaar .uni-saarland .de/journals/ index .php/zdg/article/view/297/376; Keimling . Innovationen in Digitalen Spielen und im Digital Game-Based Learning, 2009ff, URL: https://keimling .niconolden .de . Dr. Peter Pirker, Historiker und Politikwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Staatswissenschaft, Universität Wien . Ausgewählte Publikationen: Codename Brooklyn . Jüdische Agenten im Feindesland – Die Operation Greenup, Innsbruck 2019; Contested Heroes, Contested Places: Conflicting Visions of War at Heldenplatz/Ballhausplatz in Vienna, in: Jörg Echternkamp, Stephan Jaeger (Hrsg .):

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Autorinnen und Autoren

Views of Violence . Representing the Second World War in German and European Museums and Memorials, New York 2019, S . 174–214 (mit Magnus Koch und Johannes Kramer); Digitale Karte „Explore Vienna’s Culture of Remembrance 1945–2015“, URL: www .porem .wien; From Traitors to Role Models? Rehabilitation and Memorialization of Wehrmacht Deserters in Austria, in: Eleonora Narvselius, Gelinada Grinchenko (Hrsg .): Formulas for Betrayal: Traitors, Collaborators and Deserters in Contemporary European Politics of Memory, Basingstoke 2018, S . 59–85 (mit Johannes Kramer) . Dr. Jens Rönnau, Kunsthistoriker, Museumspädagoge, Projektentwickler, Begründer und Vorstandsvorsitzender des Vereins Mahnmal Kilian/Flandernbunker in Kiel, Beiratsvorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein . Ausgewählte Publikationen: Gedenkstätten und Mahnmale in Kiel . Die Entwicklung von einem Streit über den Erhalt um die Ruine eines U-Bootbunkers zu einer umfassenden Konzeptidee des Umgangs mit dem Nationalsozialismus in Kiel, in: Gedenkstätten-Rundbrief 183/2016, S . 15–28; Wertewandel im Werk von Raffael Rheinsberg . Die Herausbildung seiner Arbeitsweise in Kiel und ausgesuchte Werke der folgenden 30 Jahre, Kiel 2013; Open-Air-Galerie Kiel . Kunst und Denkmäler in Kiel und Umgebung, Neumünster 2011; Stolperstein der Geschichte . Die Ruine des Kieler U-Bootbunkers als Mahnmal und Herausforderung – Kunst, Geschichte, Meinungsstreit, Kiel 1997 (Hrsg .) . Dr. Harald Schmid, Politikwissenschaftler und Zeithistoriker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten . Ausgewählte Publikationen: „Problemfall hinterm Deich“ . Der „Historische Lernort Neulandhalle“ – ein schleswig-holsteinisches Erinnerungsprojekt zur ‚Volksgemeinschafts‘-Ideologie, in: Detlef Schmiechen-Ackermann et al . (Hrsg .): Der Ort der ‚Volksgemeinschaft‘ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018, S . 459–485; Ein „kaltes Gedächtnis“? Erinnern an Demokraten in Deutschland, in: Thomas Hertfelder, Ulrich Lappenküper, Jürgen Lillteicher (Hrsg .): Erinnern an Demokratie in Deutschland . Demokratiegeschichte in Museen und Erinnerungsstätten der Bundesrepublik, Göttingen 2016, S . 247–264; Beglaubigungsversuche . Frühe Ausstellungen zu den nationalsozialistischen Verbrechen, in: Regina Fritz, Éva Kovács, Béla Rásky (Hrsg .): Als der Holocaust noch keinen Namen hatte . Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an Jüdinnen und Juden / Before the Holocaust had its name . Early Confrontations of the Nazi Mass Murder of the Jews, Wien 2016, S . 241–261; Gedächtnisräume . Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland, Göttingen 2014 (Hrsg . mit Janina Fuge und Rainer Hering) . David Zolldan, M . A . (Holocaust Communication), Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Curator of Outreach) . Ausgewählte Publikationen: „In Bezug auf das Asylrecht sei ein Sättigungsgrad erreicht

Autorinnen und Autoren

worden…“: internationale Reaktionen auf die jüdische Fluchtbewegung 1933 bis 1939, in: Elke Gryglewski und Cornelia Siebeck (Hrsg .): Passagen Brüche Perspektiven . Flucht historisch denken – eine Dokumentensammlung, Berlin 2018; Ausgeblendet: der Umgang mit NS-Täterorten in West-Berlin, Berlin 2017 (Hrsg . u . a . mit Christine Fischer-Defoy, Gerd Kühling und Kaspar Nürnberg); Die Topographie des Terrors . Der ‚Ort der Täter‘ als geschichtspolitische Wegmarke der Berliner Republik, Berlin/ Warschau 2014, URL: http://cultureofremembrance .pl/wp-content/uploads/2017/ 12/die-topographie-des-terrors .pdf

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„Virtuelle Erinnerungskulturen“ bilden den Schwerpunkt dieser Ausgabe des Jahrbuchs für Politik und Geschichte. Dazu zählt die Erinnerung an den NS-Völkermord im Zeitalter der Digitalität ebenso wie Potenziale historischen Lernens im virtuellen Raum und die Geschichtsvermittlung in der Wikipedia und in digitalen Spielen. Die Aufsätze in der Rubrik Atelier & Galerie thematisieren mit den „Stolpersteinen“ und ISBN 978-3-515-12502-4

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7835 1 5 1 25024

dem Wiener Heldendenkmal gewissermaßen Stein gewordene Erinnerung. Die Beiträge im Aktuellen Forum fragen darüber hinaus nach dem erinnerungskulturellen Ertrag des Reformationsjubiläums und diskutieren die Bedeutung des Gedenktags 20. Juni. Als Fundstück präsentiert diese Ausgabe des Jahrbuchs ein Beispiel aus der Bismarck-Erinnerungskultur. Ein Forschungsbericht zu Gedenkstätten schließt den Band ab.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag