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German Pages 360 Year 2019
Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V.
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Helmut Bley
Afrika: Geschichte und Politik Ausgewählte Beiträge 1967-1992
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Zusammengestellt von Katja Füllberg-Stolberg, Axel Harneit-Sievers, Clemens Dillmann, Claus Füllberg-Stolberg, Inga Rost und Frank Schubert
Studieh 5
I Q I Verlag Das Arabische Buch
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bley, Helmut: Afrika: Geschichte und Politik: ausgewählte Beiträge 1967-1992 / Helmut Bley. Zentrum Moderner Orient, Geisteswissenschaftliche Zentrem Berlin e.V. Zsgest. von Katja Füllberg-Stolberg... - Berlin : Verl. Das Arab. Buch, 1996 (Studien / Zentrum Modemer Orient, Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V. ; 5) ISBN 3-86093-122-9 NE: Zentrum Moderner Orient < Berlin > : Studien
Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V. Gründungsdirektor: Prof. Dr. Peter Heine Prenzlauer Promenade 149-152 13189 Berlin Tel. 030 / 4797366 ISBN 3-86093-122-9 STUDIEN Bestellungen: Das Arabische Buch Horstweg 2 14059 Berlin Tel. 030 / 3228523 Redaktion und Satz: Margret Liepach Titelbild: Adire-Batik, Yoruba, Südwest-Nigeria Druck: Druckerei Weinert, Berlin Printed in Germany 1996 Gedruckt mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Berlin
Inhalt
Vorwort 1 Social Discord in South West Africa, 1894-1904
7 11
aus: Prasser Gifford/W. Roger Louis (Hg.): Britain and Germany in Africa. Imperial Rivalry and Colonial Rule, New Haven 1967, S. 607-630. ® Yale University Press, London
2 German South West Africa after the Conquest 1904-1914
31
aus: South West Africa: Travesty of Tnist. The expert papers and findings of the International Conference on South West Africa, Oxford 23-26 March 1966, ed. by Ronald Segal and Ruth First, London (Andre Deutsch Ltd.) 1967, S. 35-53.
3 Politische Probleme Tanzanias nach der Sozialisierung des modernen Wirtschaftssektors
47
aus: Verfassung und Recht in Übersee, 6 (1973) 3, S. 311-325
4 Möglichkeiten einer UN-Politik für die Bundesrepublik Deutschland
65
Aus: Politik und Zeitgeschichte, 23 (1973) 38, 22.9.1973
5 Zusammenhänge zwischen Industrialisierung und Revolution erläutert am Beispiel der Entwicklung in Japan und China
75
aus: Rainer Tamchina/Imanuel Geiss (Hg.): Ansichten einer künftigen Geschichtswissenschaft. Bd. 2, München 1974, S. 150-175. ® Carl Hanser Verlag, München-Wien
6 Schwerpunkte in der Afrikageschichtsschreibung
97
aus: Britta Benzing/Reinhard Bolz (Hg.): Methoden der afrikanistischen Forschung und Lehre in der BRD. Eine kritische Bilanz. 5. Jahrestagung der Vereinigung von Afrikanisten in Deutschland (VAD) 1973, Hamburg 1976, S. 41-58 ( = Schriften der VAD, Bd. 8). ® Helmut Buske Verlag, Hamburg
7 Hobsons Prognosen zur Entwicklung des Imperialismus in Südafrika und China - Prognosenanalyse als Beitrag zur Theoriediskussion
109
aus: Joachim Radkau/Imanuel Geiss (Hg.): Imperialismus im 20. Jahrhundert. Gedenkschrift für George W.F. Hallgarten, München 1976, S. 43-69. 6 C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München
8 Politische Probleme um Namibia seit Ablaufen des SicherheitsratsUltimatums vom 31. August 1976 aus: Afrika Spektrum, 11 (1976) 3, S. 255-272
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9 T h e History o f European Expansion: A R e v i e w on German L a n g u a g e Writing since World War II aus: P.C. Emmer/H.L. Wesseling (Hg.): Reappraisals in Overseas History, Leiden (Leiden Academic Press) 1979, S. 140-160 10 K o n f l i k t e vorprogrammiert: Geschichte Ugandas aus: Journal für Geschichte, 1 (1979) 2, S. 19-23 11 A u s w i r k u n g e n der Kolonialherrschaft auf politische S y s t e m e in Afrika aus: Historische Identität und Entwicklungspolitik. Zur Rolle der Geschichtswissenschaft in der Politikberatung. Loccumer Protokolle 11, 1981, S. 92-117 12 N a m i b i a , d i e Bundesrepublik und der Westen: 15 Jahre Krisenverschärfung aus: Hilfe + Handel = Frieden? Die Bundesrepublik in der Dritten Welt, Frankfurt/M. (Suhrkamp Verlag) 1982, S. 109-138 ( = Friedensanalysen 15, Hg. Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung) 13 Gewerkschaften in Südafrika: Geschichtliche Vorbelastungen aus: Eugen Loderer (Hg.): Metallgewerkschaften in Südafrika, Bayreuth 1983, S. 27-58 ( = Schriftenreihe der Otto Brenner Stiftung, 34) 14 D i e koloniale Dauerkrise in Westafrika: D a s Beispiel N i g e r i a aus: Dietmar Rothermund (Hg.): Die Peripherie in der Weltwirtschaftskrise: Afrika, Asien und Lateinamerika 1929-1939, Paderborn 1983, S. 37-58. ° Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 15 Tribalismus oder d i e Verzerrung der afrikanischen Geschichte aus: Sozialwissenschaftliche Informationen: SOWI, 15 (1986) 4, S. 5-10 16 N a m i b i a nach z w e i Jahrzehnten Krieg aus: Vereinte Nationen, 37 (1989) 2, S. 47 17 P r o b l e m e afrikanischer Staatenbildung im 19. Jahrhundert aus: Helmut Christmann (Hg.): Kolonisation und Dekolonisation. Referate des internationalen Kolonialgeschichtlichen Symposiums '89 an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Schwäbisch Gmünd 1989, S. VIII-XXV ( = Gmünder Hochschulreihe, Bd. 8) 18 Widerstand in Südafrika: Befreiung unter Bedingungen v o n Repression und militärischer Gewalt, zur destruktiven R o l l e westlicher Systemstabilisierung aus: Hans-Jürgen Häßler/Christian von Heusinger (Hg.): Kultur gegen Krieg Wissenschaft für den Frieden, Würzburg 1989, S. 75-79. ® Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg
19 Unerledigte deutsche Kolonialgeschichte
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aus: Entwicklungspolitische Korrespondenz (Hg.): Deutscher Kolonialismus. Ein Lesebuch zur Kolonialgeschichte. Zusammengestellt von Ekkehard Launer und Werner Ustorf. 2. erw. Aufl., Hamburg 1991, S. 11-18 (EPK-Drucksache Nr. 1)
20 Afrika seit der Dekolonisierung: Waren die Großmächte ein Faktor der Destabilisierung?
325
aus: Klaus J. Bade/Dieter Brötel (Hg.): Europa und die Dritte Welt. Kolonialismus, Gegenwartsprobleme, Zukunftsperspektiven, Hannover (Metzler-Schulbuchverlag) 1992, S. 138-163.
21 Sklaverei in Südafrika Koautorin: Uta Lehmann-Grube aus: Helmut Bley/Clemens Dillmann u.a. (Hg.), Sklaverei in Afrika, Pfaffenweiler 1991, S. 137-152 ( = Bibliothek der historischen Forschung 2). e Centaurus Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler
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Vorwort Diese Sammlung umfaßt eine Auswahl kürzerer Arbeiten Helmut Bleys aus den Jahren 1967 bis 1992. Sie enthält historische Untersuchungen im engeren Sinne, vorrangig zur afrikanischen Geschichte, dazu Analysen zu aktuellen politischen Problemen Afrikas sowie einige Beiträge eher populärwissenschaftlicher Natur. Damit werden Arbeitsgebiete eines Wissenschaftlers vorgestellt, der die (westdeutsche Afrika-Forschung und ihre Institutionen in den letzten Jahrzehnten maßgeblich mitgestaltet hat. Einige biographische Details: Helmut Bley wurde am 26. Februar 1935 in Hamburg geboren, studierte ab 1954 Geschichte, Pädagogik und Völkerrecht in Hamburg, arbeitete nach einem Intermezzo in der Experimentalschule Hermannstal (1961) bis zum Abschluß seiner Dissertation 1965 als Assistent und dann bis 1969 als Dozent am Historischen Seminar der Universität Hamburg. 1970 bis 1972 war er Gastprofessor am History Department der Universität Dar es Salaam, Tanzania. Nach weiteren Jahren als Universitätsdozent in Hamburg wurde er 1976 auf den Lehrstuhl für Neue und Außereuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hannover berufen, den er bis heute innehat. Über die universitäre Lehr- und Forschungstätigkeit hinaus engagierte sich Helmut Bley immer stark im afrika- und entwicklungspolitischen Bereich. Er ist seit 1973 Kuratoriumsmitglied des Instituts für Afrika-Kunde, Hamburg; er war von 1983 bis 1986 Vorsitzender der Vereinigung von Afrikanisten in Deutschland e.V. (VAD), und er ist seit 1987 Kuratoriumsmitglied der Deutschen Stiftung für Internationale Entwicklung, Berlin. Seit der Wiedervereinigung hat Helmut Bley auch am institutionellen Ausbau der Afrikawissenschaften in Deutschland mitgewirkt. Er war Mitglied der Struktur- und Berufungskommission des Fachbereichs Asien- und Afrikawissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität. Parallel dazu gehörte er dem Beirat des Forschungsschwerpunkts Moderner Orient, Berlin, an. Dieser Forschungsschwerpunkt war nach der Evaluierung durch den Wissenschaftsrat aus der Abteilung für Allgemeine Geschichte der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR gebildet worden und umfaßte Wissenschaftliche Mitarbeiter mit regionalen Schwerpunkten in Schwarzafrika, dem Nahen Osten und Südasien. Er wurde zu Beginn des Jahres 1996 als Geisteswissenschaftliches Zentrum Moderner Orient neu gegründet, um längerfristig eine Basis für außeruniversitäre Grundlagenforschung in diesem Bereich zu schaffen. Das Zentrum Moderner Orient möchte mit der Übernahme der Herausgeberschaft des vorliegenden Bandes Helmut Bleys Beitrag für Zustandekommen und Ausgestaltung der Einrichtung würdigen. Die Idee zu diesem Band entstand im Vorfeld des 60. Geburtstags von Helmut Bley. Sein einflußreichstes Buch, das aus seiner Dissertation hervorgegangene "Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika, 1894-1914" (Hamburg 1968, in Englisch erschienen mit dem Titel "German South-West Africa under Colonial Rule, 1894-1914", London 1971), ist seit vielen Jahren vergriffen. Trotz entsprechender Vorankündigungen in den vergangenen Jahren konnte es bis heute nicht wieder aufgelegt werden. Der vorliegende Band enthält daher auch zwei
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Afrika: Geschichte und Politik
Beiträge zum Thema der Dissertation. Viele andere kleinere Schriften wurden verstreut publiziert und sind inzwischen schwer zugänglich geworden. Eine zusammenfassende Neuausgabe bot sich daher an - thematisch "zu einem Strauß gebunden", um eine der Lieblingsformulierungen des Autors zu verwenden. Die vorliegende Sammlung steckt die wichtigsten Arbeitsgebiete von Helmut Bley ab. Den Anfang machen, wie bereits erwähnt, zwei Beiträge aus dem Umfeld seiner Untersuchung zur deutschen Kolonialgeschichte des heutigen Namibia [1,2]. Auf die Gewaltsamkeit dieser Kolonialgeschichte und ihre langfristigen Folgen für die politische Kultur der Weimarer Republik und bis in die Afrikapolitik der Bundesrepublik hinein ist Helmut Bley auch später wieder eingegangen [20]. Angeregt durch Hannah Ahrendt entwickelte er die These von der Vorbereitung nationalsozialistischer Herrschafts- und Gewaltformen durch den deutschen Kolonialismus, die er anhand der Siedlergesellschaft und speziell am Krieg gegen die Herero und Nama (1904-1908) demonstrierte. Thesen und Denkanstöße aus diesem Buch beeinflussen nicht nur die Namibia-Geschichtsschreibung bis heute. Der unerledigte Dekolonisationsfall Namibia und die außerordentlich komplexen Wege der internationalen Politik, die daraus resultierten, haben Helmut Bley über Jahrzehnte hinweg in Analysen und Kommentaren zur aktuellen Politik beschäftigt [8, 12, 16]. Mit dem Namibia-Problem untrennbar verbunden war sein Interesse an aktuellen Fragen Südafrikas [18], speziell an den Gewerkschaften, deren Veränderungspotential (und politische Allianzfahigkeit) er Anfang der achtziger Jahre im Auftrag der IG Metall untersuchte [13]. Die Ausrichtung der deutschen Afrikapolitik auf kurzfristige Wirtschaftsinteressen (die lange zur Unterstützung der Apartheid-Regierung in Pretoria führte, auch wenn man sich andere Türen immer offenzuhalten versuchte) hat er mehrfach analysiert und kritisiert [20, vgl. auch Helmut Bley/Rainer Tetzlaff (Hg.), Afrika und Bonn. Versäumnisse und Zwänge deutscher Afrikapolitik, Reinbek 1978], Auch Interventionen in andere tagespolitische Ereignisse waren bei ihm von afrikapolitischen Erwägungen geprägt, wie die Vorschläge zur westdeutschen Rolle in den Vereinten Nationen deutlich machten, die er 1973 als Vorsitzender des Hamburger Landesverband der "Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen" formulierte. Aktuelle Länderanalysen zu Tanzania gingen aus seiner Dozententätigkeit in Tanzania zu Beginn der siebziger Jahre hervor [3] - ein Aufenthalt, der ihn enorm beeinflußte, war doch Dar es Salaam in jenen Jahren das vielleicht aktivste Zentrum neuer afrikanischer Geschichtsschreibung und Eldorado der Afrika-Historiker aus aller Welt. Neben historiographischen Arbeiten zur Geschichtsschreibung über Afrika und die europäische Expansion [6, 9] spielte die Kolonialgeschichte in den Arbeiten Helmut Bleys eine zentrale Rolle [10, 11], Oft waren seine Beiträge in größere Projektzusammenhänge eingebunden oder bereiteten diese vor, etwa eine Ausstellung über Sklaverei innerhalb Afrikas [21] oder ein Forschungsprojekt zu den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise [14]. Seit Mitte der achtziger Jahre hat ihn die Frage der Entstehung und "Konstruktion" von Ethnizität besonders interessiert
Vorwort
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- in der Kolonialzeit, aber vor allem auch im 19. Jahrhundert, das er als Periode fundamentaler Unsicherheit und Destabilisierung interpretiert [15, 17]. Über den afrikanischen Kontinent hinaus reichen Helmut Bleys Arbeiten zu Fragen langfristiger gesellschaftlicher Entwicklung in weltweiter Perspektive zwei Aufsätze in dieser Sammlung [5, 7] dokumentieren dies ebenso wie sein Engagement für das Kolloquium "Peripherie und Zentrum". Nicht unerwähnt bleiben sollte in dieser Vorbemerkung schließlich auch eines von Helmut Bleys Arbeitsgebieten, das in dieser Sammlung überhaupt nicht vertreten ist, obwohl es in seiner Lehrtätigkeit immer wieder eine Rolle spielte: seine Arbeiten zur politischen (Vor)Geschichte des Ersten Weltkriegs. In diese Kategorie gehörten die ersten Veröffentlichungen, an denen er überhaupt beteiligt war - und zwar als Hochschulassistent, der nach damaligem Verständnis keine Forschungsergebnisse eigenständig publizieren konnte: Der ausdrückliche Dank des Hamburger Doktorvaters Egmont Zechlin in der ersten Fußnote mußte genügen. Es handelt sich um zwei Aufsätze, die unter Zechlins Namen 1962 bzw. 1964 veröffentlicht wurden. Der erste von ihnen, "Die 'Zentralorganisation für einen dauernden Frieden' und die Mittelmächte" (Jahrbuch für Internationales Recht 11 (1962), S. 451-515), dokumentiert das frühe Interesse am Thema eines internationalen Friedensregimes. Er behandelte eine Friedensinitiative während des Ersten Weltkriegs, die Aspekte des späteren Völkerbunds und der UN vorwegnahm, und ihre Verflechtungen mit (und letztlich Abhängigkeit vom Wohlwollen) der offiziellen deutschen und österreichischen Politik. Der zweite Aufsatz - vom Umfang her bereits fast eine Monographie - unter dem Titel "Deutschland zwischen Kabinettskrieg und Wirtschaftskrieg" (Historische Zeitschrift 199 (1964) 2, S. 347-458) stand ganz im Zeichen der Auseinandersetzungen über Fritz Fischers Arbeiten zur Kriegsschuldfrage und zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg. Die sogenannte Fischer-Kontroverse verunsicherte zu Beginn der sechziger Jahre die Selbst- und Nationalgewißheit der deutschen Historikerzunft. Egmont Zechlin war am selben Institut wie Fischer tätig; zugleich war er einer seiner profiliertesten akademischen Gegenspieler. Egmont Zechlin und Helmut Bley versuchten hier, Entscheidungswege und politische Optionen, wie sie im Herbst 1914 bestanden, vor allem aus Perspektive des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg nachzuzeichnen. Der Aufsatz repräsentiert ein Musterbeispiel politikhistorischer Detailuntersuchung, wie sie vor allem auch Helmut Bleys spätere Arbeiten zur Analyse aktueller Afrikapolitik kennzeichnet. Die Wendung zu einer stärker an Großstrukturen orientierten Sozial- und Wirtschaftsgeschichte - längerfristig das vielleicht wichtigste Ergebnis der FischerKontroverse für das Fach - wurde hier aber noch nicht vollzogen. Rund zehn Jahre später näherte Helmut Bley sich mit seiner Monographie "August Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung" (Göttingen 1975, mit einem Vorwort von Gustav Heinemann) der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs auf eine
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Afrika: Geschichte und Politik
ganz andere Weise an. Der Band dokumentierte und analysierte vertrauliche Gespräche, die der Grand Old Man der deutschen Sozialdemokratie mit dem britischen Konsul in Zürich führte, um der britischen Regierung Einschätzungen zur deutschen Politik zukommen zu lassen und sie vor ihrer wachsenden Aggressivität zu warnen. Im damaligen westdeutschen politischen Kontext begründete das Buch nicht zuletzt auch Elemente historischer Legitimation für die sozialliberale Koalition und ihre Ost- und Friedenspolitik. Helmut Bley hat diese Arbeiten zur politischen (Vor-)Geschichte des Ersten Weltkriegs nicht zu kleineren Publikationen verdichtet - deshalb muß dieser Aspekt leider in der vorliegenden Sammlung fehlen. Ebenfalls fehlen Anmerkungen zu seiner Tätigkeit als Hochschullehrer, die auf seine "Schülerinnen und Schüler" (er dürfte diesen Ausdruck mit einer Mischung aus Befremdung und Freude zur Kenntnis nehmen) einen tiefen Eindruck gemacht hat. Seinem globalen Verständnis der Dinge entsprechend erstreckt sich seine Lehrund Forschungstätigkeit und " Doktorvaterschaft" über Themen Nordeuropas bis nach Australien. Den eigenen thematischen Schwerpunkt, Afrika, brachte er vielen seiner Studenten vor allem durch seine Inspiration und tatkräftige Unterstützung bei Studienaufenthalten und langfristigen Forschungsprojekten so nahe, daß sie den Kontinent zu ihrer Herzensangelegenheit gemacht haben. Die Herausgeberinnen und Herausgeber danken allen Verlagen, die die Rechte an den in diesem Band enthaltenen Beträgen besitzen, für ihre freundliche Genehmigung der Wiederveröffentlichung. Ihr besonderer Dank geht an Frau Margret Liepach vom Zentrum Moderner Orient, Berlin, ohne deren Einsatz für Redaktion und Technik dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Katja Füllberg-Stolberg, Zentrum Moderner Orient, Berlin Axel Harneit-Sievers, Zentrum Moderner Orient, Berlin Clemens Dillmann, Universität Hannover Claus Füllberg-Stolberg, Universität Hannover Inga Rost, Universität Hannover Frank Schubert, Universität Hannover
1 Social Discord in South West Africa, 1894-1904 aus: Prosser Gifford/W. Roger Louis (Hg.): Britain and Germany in Africa. Imperial Rivalry and Colonial Rule, New Haven 1967, S. 607-630. ® Yale University Press, London
Any study of the causes of the great uprisings of 1904-07 in South West Africa must take into account a number of fundamental characteristics of European expansion that arise from conceptions of the social and economic structure current in Europe at the beginning of the twentieth century. The first concern of such a study must be the Europeans; for a description of the structure of African tribal society we should rely on the results of socioanthropological investigations in the region. Inquiries into the views held by the local German administration - on which this essay concentrates - lead quickly to the realization that the study should be directed not so much to the specific practices of colonial administration as to the underlying general concepts of the state, society, and politics. 1 We do not propose to undertake a general abstract intellectual analysis. We intend, rather, to use as a case history Theodor Leutwein's system, a system that cannot be understood without an analysis of his political and social thinking. In the eleven years from 1894-1905, during which he was first Landeshauptmann (1894-1998) and then Gouverneur (1898-1905), he systematically organized South West Africa along European lines, never losing sight of his goal. Leutwein's political concepts and his actual practices were determined by two radically divergent ideas: he was, of course, determined to create in South West Africa a modern European territorial state, a German province; for this purpose he analyzed the process of European state development from what seemed to him medieval tribal and social origins similar to those of African societies, and then sought to use that historical development as a working model. His second idea derived from reflecting upon the particular colonial situation in South West Africa: he came repeatedly to the conclusion that modern colonial policy must almost inevitably result in a catastrophe for the tribal society, especially in view of the acceleration of all processes in a technological age. The importation of European social structures into African territories thus seemed to him at once inexorable, and yet overwhelming in its probable effect on the African tribes. The subject of this chapter is the development of practical policy under the pressure of these two divergent ideas; starting from an analysis of conscious motives it proceeds to a systematic study of the German understanding of historical development, and then, against the background of the African tribal structure, to an examination of political and social development in South West Africa. The most important questions facing Landeshauptmann Leutwein were: 1. How can alien power, such as that represented by the advance of German colonial policy in South West Africa, be transformed into recognized and legitimate authority?
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Afrika: Geschichte und Politik
2. Could the basic decision to turn South West Africa into a modern state - with all the social consequences this would entail for the tribes, resulting from the thoroughly streamlined political, social, and economic order - be implemented by gradual phases in such a way that there would still be time for an adaptation process, despite the subordination that this would involve? To these questions we must add: What methods did the administration under Leutwein adopt when a critical situation did in fact develop? Above all, what is the significance of the fact that, despite Leutwein's constant reflection on the dubious basis of his own policy, the Germans were totally unprepared for the rising, so much so that Leutwein was forced to send a telegram to Berlin exclaiming: "I am confronted with a riddle"? One methodological consideration must be borne in mind in this study: it treats South West Africa as an isolated territory in which the Landeshauptmann and the chiefs were, for all practical purposes, the supreme authorities. During the period under discussion South West Africa actually functioned as a largely isolated entity, since both for budgetary and political reasons, and because rapid communication was impossible, this impoverished steppe country was left by the Kolonialabteilung in Berlin and by the German Reichstag in the hands of its Landeshauptmann. In these years South West Africa was of no interest to the German political economy or to large-scale German private investors. At the same time, however, the geographical conditions determined that South West Africa could be organized extremely rapidly and effectively into a modern territory: as an arid steppe region it could absorb only a small population, with the result that European advances were felt immediately throughout the entire country; this was especially true because South West Africa's subtropical highlands are climatically suitable for European settlement. In addition, all conflicts were arbitrated and quickly brought to an end, even at the outset of the modernization process, since the tribes living in South West Africa were armed with modern weapons and, as a result of fifty years of missionary activity by the Rheinische Missionsgesellschaft and the proximity of the Cape Colony, they were familiar with the fundamentals of European politics. Thus, they were able to offer effective resistance. What was the tribal situation as the Germans found it in South West Africa? The northern part, the Amboland, was inhabited by the Ovambos, speaking dialects of one of the southwestern Bantu languages, and comprising several large tribes. Even today this section lies outside the policy zone of European territory. During a long period of southwestward migration, Bantu-speaking Hereros settled in the main grazing regions as pastoral tribes. During the course of these migrations there appear to have been changes in social structures: in particular, the kinship system contained significant matrilineal as well as patrilineal elements. The movement into South West Africa of a third group, the Hottentots (Nama), resulted from conflict
Social Discord in South West Africa
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with the Europeans in South Africa. Other elements of the population were groups of Bushmen and negro Bergdama, who had very loose tribal connections or were slaves in major tribes. The Landeshauptmann estimated that in 1904, on the eve of the uprisings, the Hereros and the Hottentots - the most important tribes from the German point of view - numbered 60.000 to 80.000 and 15.000 to 20.000 respectively. 2 With the exception of the Ovambos, the African tribes were stripped of their political power and driven from their land. Their tribal structure was destroyed. They were integrated into the European economic system as laborers. They had no political rights and were accorded inferior social standing. The decisive confrontations were the Herero rising of 1905-07 and the Hottentot rising of 1904-07. These rebellions, which took the colonial authorities and settlers, even the missionaries, completely by surprise, started with a successful rampage of killing and plunder by the Hereros. The result of this lengthy and costly war (it took the lives of more than 2.000 Germans - including death by typhus - and costed 380 million marks for military operations alone) was catastrophic for the Hereros and Hottentots. Over two-thirds of the Hereros died as a result of General von Trotha's "extermination strategy". Their cattle were lost. The land of both tribes was expropriated by the Ordinance of 1907. Tribal organization was dissolved and tribal insignia could no longer be worn. Captive chiefs were executed. Some Hereros fled to British Bechuanaland, while 25 percent of the two tribal groups were resettled several hundred miles from their native territory. Some of the Witbooi Hottentots were deported to the Cameroons. Long years of imprisonment in huge work camps at Liideritz Bay and Swakopmund caused tremendous loss of life. Cattle raising was forbidden until the prohibition was modified in 1912-13. Pass regulations were introduced to limit the freedom of movement. Hereros, Hottentots, even Bergdamas who had nothing to do with the risings, and Ovambos as migrant workers, were put to work as farm hands, construction workers, as miners in the copper mines of Otavi, and after 1908 in the diamond fields at Liideritz Bay. The radical nature of German policy following the uprising, and the almost unrestricted pouring in of troops and funds, may be taken as retrospective evidence that the Germans were operating on the theory that as far as possible no special autonomous social and economic structures should be permitted in South West Africa after it had finally become "German territory", that is, when it was more a province than a colony. 3 From 1884 to 1894 Germany showed little interest in South West Africa. However, not even the economic bankruptcy of the Liideritz enterprises and the utter passivity of the companies that followed could change the fact that a decision had been made and that South West Africa was German territory. The climax of the chaotic state of affairs prevailing during the first decade came with the policies of the Landeshauptmann Curt von François, who in 1893 attacked
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the Witbooi Hottentots with a band of mercenaries. His purpose was to force the recognition of German authority through military power. It led, however, to a guerrilla war for which he was not prepared. Chancellor Caprivi and the German Reichstag did not approve of such a policy, and the former outlined the basic concepts of his own policy toward South West Africa by saying, "We do not want war, we want to tighten our control over the country and to establish our authority without bloodshed ... It is a fact that this territory is ours, it is now German territory and must be maintained as German territory. " 4 For the Landeshauptmann this program meant two things: he knew that in case of emergency the German Empire would defend the protectorate "under all conditions" 5 . This applied to any kind of crisis, and especially to general uprisings. He knew also, however, that the practical world of politics required that the extension of German authority be accomplished "without bloodshed", and so the budget was kept small. Even the government in Berlin realized that because of the great distance between the Landeshauptmann and the capital, and because of the poor means of communication, he had to make ultimate decisions himself. Therefore, it was up to him to determine whether he should rely on Berlin's prestige and permit his policies to drift toward war with the tribes, or whether he should attempt to arrive at a peaceful settlement with the tribes in order to "accustom" them to German colonial rule gradually.6 Major Theodor Leutwein7 landed in South West Africa on January 1, 1894 to make this decision. Leutwein decided in favor of establishing German authority "without bloodshed". First, he ended the guerrilla war with the Witbooi Hottentots. He made this aspect of the Chancellor's instructions a guiding principle of his policies. The basic question then became: was it possible to reconcile traditional tribal structure with the German concept of the state? The next problem was to decide what the Landeshauptmann and his officials of the Bezirke and Distrikte - almost all of whom were army officers and at the same time commanded protectorate troops (Schutztruppe) - meant by the term "authority" (Herrschaft). It was said that South West Africa was "German territory"; this, despite the fact that the reference was to a wholly undeveloped African colony, inhabited by African tribes armed with modern breechloading rifles. The protectorate proclaimed by the German Reich meant, in the first place, that the German Kaiser and his representatives in South West Africa claimed sovereignty in terms of international law over the entire territory. Sovereignty in terms of public law was to be established over the tribes; that is to say, in the last analysis, German rule was to be recognized as "legitimate". Thus the decision over war and peace rested with the German administration. The right to use force was henceforth confined to the Schutztruppe. Leutwein's first demand as Landeshauptmann was that "territorial peace" must be maintained. From now on, supreme authority derived from him, the representative of the German Kaiser. Only the German
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Reichstag could establish binding legislation, only the Kaiser and the Landeshauptmann could issue binding decrees. Conflicts of interest among the tribes or with the Germans could no longer be settled by force or by the jurisdiction of the tribal chiefs. Some of these rights had been yielded in treaties of protection (Schutzvertrügen). Even when there were no such treaties already in existence, however, they were claimed by the Germans as crucial to their rule; the last treaty of protection was not signed until 1908. Step by step the tribes were brought to recognize German decrees as prevailing law. The only decisions remaining for the chiefs were those concerning internal tribal affairs relating to family law, rules of inheritance, and local jurisdiction over their own people. All other matters could be handled by them, if at all, only by commission of the Landeshauptmann. During the course of several decades,8 it was intended that the chiefs would lose their legal positions entirely. Through a gradual process of change they were to become "private" and "prominent" "natives". The most that could be hoped for was that by means of a salary they would become officials of some sort for the Kaiser; in this capacity they were to ensure peace and order throughout the tribal territory.9 Leutwein hoped that if the chiefs were "well treated" and their property protected they would not object so much to the loss of their positions as chiefs. In this consideration no account was taken of the vast difference between the sacred dignity of a chief and the dependent and subordinate position of a "prominent native" in a colonial territory ruled by Europeans.10 Leutwein's economic goal was to lift South West Africa "to a cattle-raising country able to compete on the world market"". This goal required efficient commercial management. According to German thinking of that time, businesses that were geared to a market and that required large capital investments could only be run by "enterprising whites". It was regarded as inevitable and natural that in the long run large farming enterprises would gain control of the greater part of the pasturelands and of the breeding cattle, and would consequently command the predominant economic position. This economic reorganization was to be accomplished by free competition. For this reason Leutwein's administration tried to encourage only those settlers who could build up modern European enterprises. Unprofitable small farms belonging to "ordinary soldiers" discharged from the protectorate troops, providing only an individual livelihood and not geared to the open market, were frowned upon. The Boers were discouraged from settling because their cattle-raising methods were considered old-fashioned and backward.12 The only skill for which the Boers were recognized was their ability to show the German farm owners how best to adapt themselves to the arid climate of the steppe. The South West African administration also made a distinction between economically "useful" and "useless" elements of the European population. Those forces in the administration that wanted to establish "peasants" and small landholders for sociopolitical reasons could not prevail, in spite of popular support from contemporary ideology on settlement.
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If the tribes would not change over to an efficient method of cattle raising in their legally recognized tribal areas, or do without European products, they were expected, as the economically weakest element in the society, to obtain the money they needed by working regularly for the government, for farmers, and later for industry and in construction. Since the administration was following the course of "no bloodshed" it was not possible to force well-armed tribesmen to work, nor was this attempted.13 The expectation was that the "ordinary" natives, who did not control the tribal cattle and pastureland, would be most readily assimilated into the working system, whether by pressure from the chiefs or by the gradual dissolution of the tribal bonds. It was thought that the more important members of the tribes would continue to make their living independently from the pasturelands, portions of which had been sold and thus reduced in size; even the administration took the view that the "pride" of the Hereros would hardly permit them to work for the white men and that such employment could only be expected as the result of an acute emergency. Thus a core element of the tribal system was to be maintained to which the Africans could retreat from time to time. Leutwein did not feel that individual African holdings without tribal connection and as a part of the European social system would be possible for a long time. He observed that the Africans seldom succeeded in integrating into the European way of life. Leutwein believed that this socioeconomic reorganization could be accomplished peacefully, for he started out from the European economic assumption that the Hereros had more land and cattle than they needed. Therefore, according to this view, a reduction in their economic potential did not mean endangering their livelihood. In fact, however, the cattle herds played a vital role in Herero social and cultural life. They were not measured merely by the Hereros' economic requirements. Most of the oxen were consecrated to the cult of ancestor worship. A chiefs position rested primarily on the fact that he owned a large number of cattle, a number that not only served economic purposes but was regarded also as a symbol. The Germans were aware of the significance of the cattle herds for the Hereros, and Leutwein hoped to change this uneconomical situation by means of education and economic pressure. At a conference held in December 1894 at the residence of the supreme tribal chief in Okahandja, the Herero chiefs were treated to a typical lecture on European economic efficiency. Leutwein put forward "two lessons" in correct economic polity: 1. In the interest of developing the protectorate, he called for a revision in the concept of landed property. The Hereros should not hand over land to the Europeans for life tenure only, but should sell it to them outright. For without guaranteed property and inheritance rights, the Europeans would not develop any economic initiative.
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2. In order to adapt the tribes to modern conditions, and in order to achieve a regulated cattle-marketing system, the Landeshauptmann called upon the leading Hereros to give up the uneconomical "accumulation of ox herds". They too should go over to the principle of property for "profit". "An ox that dies of old age," he said, "has failed in its purpose ... Such a beast is of value only if it is harnessed, used for food, or sold." To the Kolonialabteilung in Berlin he explained further that it would "to be sure, take a long time for the Hereros to understand this lesson . . . I shall not cease my admonitions, however, and may certainly anticipate that civilization, as it advances in the protectorate, will confirm my efforts" 14 . The development of a modern agrarian economy, organized according to European principles, was held to be inevitable. Even in 1905 in his memoirs, Leutwein wrote: "Let the native who does not care to work, and yet who does not want to do without the fruits of this earth, go to ruin in the end; meanwhile, the hardworking white man will prosper." 15 In the interest of the territorial economy, the government assisted in this development. In reprisal for risings or attempted risings, as well as for grazing on European farms by Herero herds, cattle and land were usually seized; sometimes financial compensation was made. These were political opportunities, as the Landeshauptmann said, for "relieving" the Hereros "in an objective fashion" {sachgemtiss) of their cattle and land which seemed uneconomically extensive.16 This was not meant to sound cynical nor was it meant to conceal German intentions. The term sachgemass expressed rational European thinking that could not tolerate unused economic potential. In the case of South West Africa, however, the critical question arose of who should decide what constituted a sachgemQsse economy. The administration claimed to have the right to make this decision. It felt that it could, on its own and from a European point of view, determine the further economic development of the protectorate. In this, Leutwein proceeded from the concept of the state as a guardian. In the capacity of a "responsible" authority, he felt he could replace the "irrational" tribal leadership and decide at what point the reorganization in South West Africa, toward which they were working, would endanger the existence of the Africans. In all this thinking there was no idea that the "tribe," as a social structure, should be preserved. The chiefs and leading men thereupon came to the conclusion, at a much earlier time than the German colonial administration and the European population in South West Africa, that their existence was definitely threatened. The state was not succeeding in controlling the changes in the social structure in South West Africa. In addition, the Landeshauptmann and his officials, who overestimated the influence of the state, had to accept the fact that in a modern "well-organized system of government," 17 by which they hoped to establish the "advantage of the protectorate," 18 private citizens must be permitted to develop as they pleased within the legal framework. The administration was bound by its commitment. It had to aid in the development of already established farms by building roads and
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irrigation structures, by establishing an extensive legal system, and ultimately by providing schools and health services. In general, the administration could interfere in the economic relations between Africans and Europeans only in the case of obvious wrongdoing. Even if the government aimed at the protection of the natives, it could not constantly infringe rights under the legal system pertaining to a private enterprise economy, since this was also the system prevailing in Germany. In this respect public opinion in the well organized South West African press was extremely alert. The administration could be sued in court. Lawsuits were threatened. This was an economic system that existed even in Germany, but at that time it was without the social limitations of the welfare state. It helped the strong and left the weak without protection. Moreover, the constant pressure of "civilization" on the social structure of the tribes was considered desirable. The administration stepped in only when it could prove that there was danger of an uprising that threatened the peace of the land. In such instances Leutwein exerted his authority as "responsible" Landeshauptmann with all the power at his command, and succeeded in repressing the bellicose tendencies of the settlers. From the outset, even before any economic conflict had arisen, the South West African tribes refused to accept the legitimacy of German rule and opposed every move to institutionalize sovereign power. Either they openly refused to make "treaties of protection", as was the case with a number of the Hottentot tribes, or they disregarded the inferences derived from them, as was the case with the Hereros. In spite of the fact that the tribes had formally renounced the use of force, their readiness to fight remained a matter of course. For this reason, Leutwein's policy toward the tribes was initially restricted to the forms taken by foreign diplomacy and the making of alliances. From the beginning his constant aim was to change the Africans' tactical respect for military force into an internal power relationship. Military power was to be transformed into legitimate sovereign authority. During the first decade, from 1884 to 1894, for all practical purposes even those treaties that had already been concluded lost their effectiveness, since the Germans were unable to give protection in times of tribal conflict. This was true for the Hereros. In the case of the Witbooi Hottentots, the Germans, however, experienced basic opposition to all forms of European rule. Both Witbooi chiefs, the elder Moses and the son Hendrik, refused to accept treaties of protection. When the missionary of the Rheinische Missionsgesellschaft dared to present these German demands, his mission church was promptly close d . " Like other Hottentot tribes before them, the Witbooi Hottentots had for a long time been striving toward a kind of hegemony in South West Africa, a region regarded even by the Africans as a geographic and historical unit.20 For this reason they rejected any sort of subordination. In 1890 Hendrik Witbooi had even written a letter of protest to the paramount chief of the Hereros because the latter had signed a protectorate treaty. This letter shows that the younger Witbooi chief 21 foresaw quite clearly what European rule meant for the African tribes. He
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wrote that he understood fully that it was now for the Germans "to give orders and instructions concerning our way of life and concerning the war that has been waged between us since time immemorial. You amaze me and I resent these things very much". Further, he stated that in South West Africa, "Damaraland" belongs to the Hereros and "Namaland" to the Hottentots. Both are "independent kingdoms ... just as is said of the countries of the white men like Germany, England, etc., and whatever all the countries are called that lie across the sea". Using terms from Christian and European theories of state, which he had acquired from his knowledge of the Bible and Afrikaans, the chief proclaimed his "sovereignty" as granted by the grace of God: "Every supreme ruler on this earth is merely the representative of our almighty God and owes responsibility to God alone, to Him the king of kings. " For this reason he accused the paramount chief of the Hereros of having subordinated himself to a "human government", and he questioned whether he should still be called paramount chief.22 In a similarly explicit manner, he explained to the German Landeshauptmann von François on June 2, 1892, during a discussion: "According to color and way of life we belong together, and in general this Africa is the country of the red captains. The fact that we possess different kingdoms and regions signifies only a non-essential division of Africa." 23 (It is difficult to determine what is meant by Africa; in any case, all of South West Africa.) François' initial response to this claim to sovereignty and demand for an autonomous social order was the argument of power. He answered that the Europeans had a monopoly of arms. It would be possible to overwhelm the Africans with bullets while the Witbooi Hottentots would ultimately "grab their guns by the wrong end", that is, they would only be able to use them as clubs. It was only as a second consideration that François demanded peace in the land so that "work and trade" might be possible.24 On the basis of the attitude taken by the chief, François decided on a secret preventive attack. As a result the chief refused even more haughtily all further demands for subordination: "Who is more worthy of making peace, you or I?" 25 When the new Landeshauptmann, Leutwein, arrived, the chief complained to him about this breach of the peace. He had not expected this of a European, "all the more so since the white man is the most understanding and most educated and had taught us truth and justice" 26 . In other words, the chief affirmed the ties with Europe. But he judged the Europeans by the standards of morality which their own missionaries had taught, standards which the Europeans in Africa simply did not meet. Hendrik Witbooi also rejected Leutwein's admonition to submit. The chief exclaimed that it was "not a sin nor a crime that I wish to remain the independent chief of my country and people". "However", as he complained of European policy, "you say that might makes right and you treat me in accordance with your words because you are mighty in arms and comforts, and so I agree with you that you are truly mighty
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and I nothing in comparison to you." 27 Leutwein, therefore, did not even base his argument on moral claims to European rule. He proceeded from the idea that South West Africa was a unity according to international law, and in this vein he wrote to Hendrik Witbooi: "The fact that you do not want to subjugate yourself to the German Reich is not a sin and a crime, but it is dangerous for the existence of the German protectorate." 28 The war was waged under threat of extermination, and it continued until the enemy was subjugated. From these discussions and exchanges, however, there had developed a mutual and chivalrous respect. There were formal declarations of war, cease fires were agreed upon, and the appeal for the humane conduct of war was respected. 29 Leutwein was always ready to enter into negotiations. From his point of view this was the only way to avoid a long drawn-out guerrilla campaign. By conducting himself in a disciplined manner he hoped to reconcile the chief to the new situation following his subjugation.30 He tried to satisfy the c h i e f s "unbounded ambition" and to ease the tribe's economic adjustment after the war, during which it had lived by hunting and raiding and had had little chance to accumulate and breed cattle. With the help of a close personal relationship based on trust and vassalage, together with military treaty obligations, this attempt actually seemed to succeed; and Leutwein regarded his relationship with the Hottentot chief as an experience that would serve as a guide for the future. He seemed to have found a way to transform military might and subjugation into a legitimate, that is to say accepted, basis of authority. The conclusion of peace did not reverse the process of land appropriation, but the position of the chief appeared to remain unchanged. Above all, the Witbooi Hottentots were not disarmed. Hendrik Witbooi realized that this represented unusual self-restraint on the part of a victor. He knew that the Landeshauptmann had to face opposition from his fellow Germans, who criticized him for not having taken advantage of his so-called brilliant military success at Naukluft by killing the chief and disarming the natives. For this reason the chief was determined that for his part "everything would be done" to "preserve" the peace. Even in this situation, however, he recognized, perhaps better than Leutwein himself, that a personal relationship accepted on his own part would not eliminate the conflicts emanating from a colonial social order. Thus he explained to the missionaries of the Rheinische Missionsgesellschaft, with whom he discussed his tribe's new situation, that he feared for the future in spite of all the willingness to maintain the peace. He feared: "... on the one hand, for my tribe's existence for I have nothing absolutely nothing, to live on; and, on the other hand, for my relationship with the German government. There are some considerate people among the Germans who make allowance for our particular tribal - Nama - characteristics and know enough to treat us accordingly; but there are a great number of incon-
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siderate people who know only how to give orders and of them I am afraid. They will take vengeance on us and will seduce our women, without regard for us."31 Five years later he complained: "... what will happen to me? My people are poor, for after all like a herd of animals we were chased to Gibeon (the tribal seat)." 32 He feared the conquerors' social claim to rule and interference in his peoples' "way of life" even more than he feared the economic threat to their immediate existence. This was the great stumbling block in his personal willingness to maintain peace. For he saw himself in the position of chief as a part of the social order of his tribe and thus under pressure to make decisions. Leutwein, too, saw this dilemma. He tried to reconcile the economic guarantees for the livelihood of the tribes with the spread of the European economy under the guiding principle of state "guardianship." 33 Social discipline among the Germans was to be promoted especially through the example set by responsible officials in the government and through governmental protection of the Africans against "caprice". Autonomy for the chiefs in "internal matters" served the same purpose. 34 There were still plenty of problems for Leutwein. He depended on the chief to help in the critical transitional period before a thoroughly organized European state system could be set up: he described him as "precisely that type of man who faces situations as they are" 35 . He also thought it possible that in the long run the Africans might be a lower class in a European society, exactly like the hierarchy of the propertied and propertyless in Europe. Leutwein took this experience with the Hottentot chief Hendrik Witbooi as the prototype for his confrontation with the large Herero tribes. There the question of European rule raised far greater problems. The social and economic reorganization of a pastoral tribe brought more than just political opposition, as was primarily the case with the Hottentots, whose social structure was very loose and was not bound to a rigid socioeconomic foundation. Among the Herero peoples, interaction of ritual cattle breeding, ancestor worship, and the position of the chief made every introduction of a new cultural element a political problem. Innovation was also made difficult by the tribes' use of every bit of pastureland to maintain the greatest possible number of cattle. The present essay cannot discuss in full the course by which the Landeshauptmann attempted to make good the German claim to authority without resorting to a general war. It was a complicated balancing act with only minimal forces (numbering 300 soldiers at the outset) as opposed to an African population of almost 100.000 people (excluding the Ovambos) bound together by tribal associations. He established an "administrative network" of regions, districts, and small protectorate troop stations. An efficient economy on the part of the settlers became possible (in 1896 there were 2.025 Europeans, in 1903 there were 4.682).
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The following stages might be listed as the most significant: As early as April 1894 the Landeshauptmann had the chief of the Khauas Hottentots executed for a clearly attested act of theft and murder; the execution took place without military opposition from the tribe. As may be demonstrated by individual cases, the chiefs of the country understood that under certain circumstances the Landeshauptmann could question the chiefs position. This proved to be a far-reaching event. A conflict concerning the succession of a chief, which had lasted for many years in Okahandja, the seat of the paramount chief of the Hereros, gave Leutwein a chance to act as arbitrator in this highly important problem concerning the tribal structure. His tactic, followed also in the hope of fulfilling his ultimate goal, was to try to transform arbitration of this kind into acts of sovereign power, so that even with such matters the highest authority would rest in the hands of the Kaiser's representative in South West Africa, and all power would emanate from him. To be sure, the choice of a chief continued to be a hereditary matter for the tribes. Rival chiefs and pretenders, however, could succeed now only by following the tactical course of remaining loyal and recognizing the legality of German claims to power. In this regard the paramount chief of the Hereros had an advantage since he was most likely to be recognized as the "legitimate" Herero government through which the jurisdictional unity of the country as well as the tribal region would most easily be established. Within one year of taking office, Leutwein realized that in spite of all his original hopes, the Herero chiefs had essentially recognized the danger to their tribal structure and their own positions. Every move to strengthen German rule became entangled in problems of hierarchy among the chiefs and aroused opposition, since the conflict surrounding the succession of chiefs had badly shaken this weak institution and endangered its supporters. In the event the Germans had no chance gradually to transform their alliance policy into a recognized state power. This was primarily due to the fact that the paramount chief of the Hereros, Samuel Maherero, whose position was in such dispute, adopted in the conflict over the succession a tactic of professed loyalty to the German regime which forced his rivals into the position of rebels. He constantly tried to brand them as unruly "subjects" and to commit the Landeshauptmann to asserting the principles of German supremacy. His tactics were deeply influenced by the example of the execution of the Khauas Hottentot chief. In the long run Leutwein was unable to escape the consequences of these tactics although he himself would have preferred to see the breakdown of the Hereros into rival tribal factions. The policies of the paramount chief were aided by the fact that the Germans were interested in consistency of policy and even more in seeing their decrees unquestioningly obeyed as supreme orders; thus their authority would not be undermined. In this connection the boundary agreements, later the rights of way, the building and water regulations, as well as the licensing of arms, became of special importance. In particular the boundary agreements between Windhoek and Okahandja
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were the object of sabotage by rivals who, on this issue, repudiated the position of the paramount chief. In these conflicts the chiefs opponents could appeal to the Hereros' conservative emotions while the paramount himself, who had been accustomed since his youth to dealing with Europeans and had even become a Christian, was affiliated with the modern era through his association with the Landeshauptmann. In fact, European rules of succession had played a role in his choice. 36 Because of the conflict among the chiefs, the German claim to power became manifest much earlier and more forcefully than had been envisaged in the concept of gradual change which Leutwein advocated. This, then, was the situation before the effects were felt of the social and economic conflicts between the small European settlements and the tribes in the region near the boundary of the Windhoek highlands. Leutwein interpreted the chiefs' opposition as political opposition. Using concepts of state prevalent in his day, he reported to the Colonial Department in Berlin that the Hereros "are secretly arming for revolt, having correctly sensed that they are threatened by us with the loss of their free state"37. The problem "in the last analysis is no more and no less than a question of their existence and it will prove to be no easy matter to settle it all without a clash of swords" 38 . Following the rising in early 1896 of the Mbandjerus, a subtribe of the Hereros, led by the most important rivals of the paramount chief, Leutwein summarized this political situation anew: "Kindling for such outbreaks is always and abundantly available in the colonies. The natives feel that our entire colonial policy is ultimately aimed at limiting their rights and they do not wish to submit willingly." 39 According to Leutwein it was not abuses that made the people ready to revolt but rather the general subjugation to German "laws". Leutwein recognized that the attitude taken by the chiefs was political. He regarded political leadership as an aspect of personality, and in consequence took no account of the social basis of the c h i e f s authority. One of the most perceptive of the Herero chiefs of the time, Manasse of Omaruru, commented to this effect on the German way of government during a court proceeding; he said that while it was true that the trial was just and impartial, nevertheless "they could not tolerate justice practiced with such vehemence" 40 . As a result of this attitude on the part of the Herero ruling class, Leutwein observed that "every state system is anathema to them"41 but he admitted that Manasse of Omaruru among others had "political astuteness" for the chief recognized "that the whites, despite all their outward display of friendship, were bound to bring their people to their political doom and were therefore the deadly enemies of the Hereros" 42 . During the boundary and succession disputes Leutwein discussed with the Kolonialabteilung the problems of foreign rule over the "natives" by a new ruling class. The Mbandjeru uprising loomed threateningly in the future. There was fear of a general Herero uprising, and it was hoped that this might be prevented. On the German side, too, settlers from Windhoek, representatives from the colonial
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companies, and even officials and officers of the government called for a preventive war of subjugation in order to dissolve the Hereros political and military power. Leutwein used all his energy to uphold the idea of peaceful compromise and asked the director of the Colonial Department, Richthofen, as well as the Chancellor of the Reich himself, for protection against this pressure. Thereupon he was again instructed as he had hoped to be, "to take all measures with the view" that the "Herero problem be settled without recourse to war" 45 . This reaffirmed the dilemma of German policy. How could a peaceful settlement be possible if, according to the Landeshauptmann, individual chiefs were aware "that present personal friendship in conjunction with well-meaning administration by German governmental powers will in no way compensate" the Herero when they face "at some later date the struggle for survival [Kampf urns DaseinY*! While some chiefs looked to the future, Leutwein believed that the paramount chief o f the Hereros had not as yet come to this realization, since the latter was only concerned with the "present". He "suits us much better for this reason" 44 . Leutwein feared this "struggle for survival"; he categorically rejected a Darwinian justification for a preventive war and forceful subjugation. Wanting to see a modern state and economic order realized even in South West Africa, he nonetheless wanted it to be accomplished without war. Leutwein knew, however, that this could be done only at the expense of the Africans, and he understood their attachment to their outmoded political and social structures. For this reason, after two years at his post, the German Landeshauptmann came to the conclusion that: "Any way you look at it, colonial policy is an inhumane affair. In the last analysis it can, after all, result only in the restriction of the right of the native population in favor of the newcomers." Later he reflected: "Whoever disagrees with this must be basically opposed to all colonial policy, a viewpoint that is at least logical." Speaking from his position as a practical colonialist, he decided: "One cannot, on the one hand take away the land from the natives on the basis of dubious treaties and, with this purpose in mind, gamble with the lives and the health of one's fellow [German) citizens while, on the other hand ... professing great love of humanity."45 Leutwein made two very different points: Colonial policy is of necessity inhumane. But, since he presumed European colonial policy to be a fact, he demanded the best protection for his "countrymen" in case the colonial structure necessitated war. National solidarity had higher priority than the claim to justice. Theoretically Leutwein even conceded that in order to protect these countrymen, captured rebel Africans could be put to death in violation of the Geneva Convention. The Landeshauptmann, however, did not act in accordance with this alternative which he himself explained so carefully. He reaffirmed colonial policy and continued to
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function in his position of responsibility although he knew that he acted in opposition to humanity. This unresolved contradiction also lies at the root of the instructions given, that colonial rule should be carried out peacefully until complete reorganization had taken place. Leutwein hoped to avoid bloodshed by means of a well-disciplined policy. He believed that if he could protect the Africans against the caprice of the whites and guarantee them a minimum existence, then he could prevent the dangerous decision to revolt and succeed in arriving at a gradual compromise. To this end he demanded a "responsible" colonial policy and the "humane treatment under all circumstances" of "peaceful natives"46. Through guarantees of protection and aid for the "single individual" he hoped to avoid the dilemma he himself had analyzed. Close governmental regulation of social change was to prevent the structural transformation from becoming a catastrophe. In this way he hoped to make foreign rule acceptable. In this course of action he hoped to be able to curb European impatience and the rational approach of his times by suggesting the "unforeseeable" consequences of a general Herero war. Leutwein and some of the settlers pointed out that it would be impossible to protect the Europeans who were scattered throughout the country; thus an undisciplined policy was "irresponsible". Damage to the protectorate and the German economy would be dangerously extensive. Furthermore, Leutwein was certain that the increased pressure of "civilization" would reduce the eagerness to revolt and would eventually lead to the dissolution of the tribes. He based everything on the notion that, in an area thoroughly organized along European lines where some day there would be railroads and a growing European population - the longer and the more extensively the power relationships so clearly developed in favor of the Europeans, the more the traditional elites of the tribes would recognize the senselessness of any sort of rebellion and would adapt themselves to the situation. To encourage this line of thought, the Germans frequently gave demonstrations of their military power by exhibitions of arms and parades. In this way they expected to bridge the critical transitional period. Leutwein reckoned with sufficient "time" for the transformation; he thought in terms of "decades"47. He assumed that the European working world would assimilate the "lower class" ("einfache") Hereros in a way that would involve simply changing from one hierarchial order into another. He assumed that under German rule they would merely be better treated. He overlooked the balanced cultural and social system of the tribes which, however difficult daily life might be, provided the individual with the security of his own social order. For reasons of state, he felt that the economic and social tensions between Africans and Europeans could be controlled. He put great faith in the effectiveness of the proviso by which he himself had to grant permission for any sale of land; in practical terms this confidence turned out to be ill founded.
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During the first years, the social relationships between the Germans and the Africans in their closed tribal organizations had given Leutwein reason to believe that his requests for discipline on the part of the Europeans could be realized. While this was not true of the closed German settlements such as Windhoek and Swakopmund, these did not lie in tribal territory. In the bush, despite all the arrogance of the Europeans there did exist quite a disciplined relationship between the individual settlers who lived scattered throughout the tribal territory - farmers, traders, administrators, officers, and missionaries - on the one side and African leaders - the local chief and his retinue - on the other. Real social contact existed only with the African upper class, emphasizing its importance. Thus during such a confrontation one might hear: "... for we are of a good family, we are noble and just as refined as your German Kaiser Wilhelm." 48 Or, as a chiefs son said to a noble farmer's wife: "I gladly extend my hand to you, for it is plain to see that you are of a good family. " 49 Of great importance was the fact that in significant respects the working relationship between Europeans and Africans was socially upgraded; chiefs frequently offered young people from among their followers for certain select positions such as walking and hunting guides, or as cooks and laundresses on German farms. There they were to learn German, and in turn to teach the Herero tongue to the Germans. It was in this social stratum that the Landeshauptmann found important support. For instance, in 1896 it backed him when the people of Windhoek urged a preventive war. The assumptions made in Leutwein's policies appeared to hold good until 1902-03. The succession conflict among the Hereros was settled as a result of a rising by the rivals of the paramount chief: for, contrary to Leutwein's intentions, the chief, Samuel Maherero, carried out the execution of his rivals Nikodemus and Kahimema. Thus the continuous threat of war came to an end. The Hereros' hitherto constant thirst for fighting was quenched. From now on individual grievances no longer caused an immediate clash, but rather accumulated as fuel for a larger conflagration. In 1897 a devastating rinderpest epidemic broke out with a death rate for uninoculated stock of some 90 percent, followed by malaria epidemics. The Hereros lost a large portion of their cattle. In rebuilding the herds, European agricultural superiority was more widely accepted, because for the first time European cattle breeders found a large enough market. If it was true that the Hereros' large cattle herds had previously acted as a sufficient counterbalance to European industriousness ("Betriebsamkeit"), then it was now true that every European thrust forward - for instance in the sphere of trade on credit - threatened the economic base of the tribes. The government and the settlers were aware of this situation. Even more important, however, was the fact that the rinderpest epidemic, along with the influence of German political and economic organization, shook the whole religious and social foundations of the tribes. The Germans observed a widespread cultural crisis that led in the first instance to social uncertainty, apathy, and a
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decline in the spirit of resistance among the Hereros. This situation was intensified as one after another of the old important chiefs died; their authority and experience in dealing with the German administration was doubly missed in a crisis of this sort. Apparently, with their deaths some of the awareness of the overwhelming strength of the Germans was also lost. The result was an unusual concentration of power in the hands of the undisciplined and pleasure-seeking paramount chief who found opposition among the conservative leadership of the tribe. For the Europeans in South West Africa also the rinderpest epidemic was an economic turning point. The result was an economic upswing. In 1902 the narrowgauge railway of the State-Railway System between Swakopmund and Windhoek was built. New immigrants settled in the tribal territory with their trade and cattleraising enterprises, sometimes against the will of the Hereros and frequently with dubious rights to the use of the land or to its ownership. As the Africans' apathy grew and economic progress advanced, so the Europeans' self-discipline diminished. Social defamation became a political problem. In particular the new arrivals had no notion of the spirit of resistance and fighting strength once shown by the tribes. It was almost impossible for Leutwein to interfere - although he noted this development with great concern - for the European constitutional state guarantees economic and social freedom within a subdued territory. The influence of white aldermen (Beisitzer) as magistrates in the courts led to biased judicial decisions, with the result that the Africans, who did not comprehend the system, lost faith in justice and offers of protection. After 1902 Leutwein (who had become governor in 1898) felt that his political ideas were in serious danger. He no longer believed that structural transformation of the colony could be accomplished peacefully, maintaining the concepts hitherto followed. Since his "belief in the possibility that the two races might live closely together in peace was shattered," 50 he reexamined his basic ideas. It was "now necessary to change the legal situation and to separate the white and black races as quickly as possible, this last insofar as it did not affect the native servants of whites." Leutwein succumbed to the urging of the Rheinische Missionsgesellschaft and drew up plans for a reservation. He did this reluctantly; he did not wish to encroach upon the economic development of South West Africa, since it was not yet possible to see where the strong economic centers of the country would be, especially after completion of the railway. In 1901-02 he therefore gave priority to European economic interests. He now believed, however, that his idea of dividing the races was the ultimate solution for avoiding general bloodshed. For him this represented an admission of failure for a "generous colonial policy ... in the sense of the terms humanity and Christianity" as well as "in the personal interest of the colonizing power" 51 . But even he left the basic question of racial separation open because, while he did not want to see the "races separated as soon as possible", he also did not want to
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prevent the Africans from being integrated into the European working world. After the Herero uprising he remarked bitterly of the failure of his policies: "... such a policy required patience on our part and, as was shown by subsequent events, the white race does not possess this characteristic." The end of his attempt to turn an "inhumane affair" into something humane through generosity and patience led the governor to criticize European culture in very broad terms. The very fact that a general uprising took place is undoubtedly proof enough that the influential leaders of the tribal society felt that, as a result of the structural transformations described above, the time had come for extreme measures. In place of isolated instances of rebellion, a more or less clearly articulated decision to reestablish the old order at some propitious moment spread through the land. It is no longer possible to determine the exact course of the opinion-making process that took place in the secret gatherings of the chiefs. How these Africans could undertake the risks of an uprising, considered too great by the Europeans, can only be conjectured, for we have but general knowledge of traditional African thought and of chiliastic movements in this region. An apparently favorable strategic situation certainly played an important role, because the Schutztruppe, under the governor's command, was occupied in dealing with a local rising by the Bondelzwart Hottentots in the extreme south of the colony. The Germans, including the missionaries, were completely surprised by the rising. The leading role played by the paramount chief was totally unexpected. Although he probably did not take the initiative, his word as chief certainly did determine that the uprising should take place.52 The German population depended too heavily on personal relationships with individual Africans; the government overestimated its influence on the chiefs. It was expected that the Africans would capitulate in the face of obvious and overwhelming odds. Since the cultural crisis that had followed the rinderpest epidemic, the whites had reassured themselves by noting the Africans' apathy. It was not known that even those natives who worked as domestic servants in European homes had maintained their tribal ties. The decision to revolt and kill remained hidden behind a wall of unbroken silence. The attempt to develop South West Africa into a disciplined and peaceful part of the German state had failed. The result of the confusion caused by the lengthy war was a "colonial policy based on the sword" 53 , the strict subjugation of the Africans within a social structure dominated by the Europeans, and the virtual dissolution of traditional African tribal society.
Social Discord in South West Africa
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This chapter contains several ideas from two parts of my dissertation of the same title for the University of Hamburg (publication forthcoming). The dissertation covers the entire period of German administration between 1894 and 1914. The citations given here refer only to a portion of the references actually used. See O. Raum, Stand der völkerkundlichen Forschung in SWA. In: Festschrift Heinrich Vedder, Windhoek 1962. The statistics are found in Theodor Leutwein, Elf Jahre Gouverneur in Deutsch-Südtwestafrika, Berlin 1906, p. 11. The term "Hottentot", which was universal in contemporary European writing, has been kept throughout this chapter in preference to "Nama". See Part III of the dissertation, "Krieg, Neuordnung and soziale Desintegration 1904-1914". Stenographische Berichte fiber die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, 128, Reichskanzler von Caprivi on March 1, 1893. Instruction to Leutwein, November 20, 1893, printed in Leutwein, Elf Jahre..., loc. cit., p. 17. Friedrich von Lindequist (deputy to Leutwein) to Kolonialabteilung (Kolabt. hereafter), July 24, 1894. In: Das deutsche Kolonialblatt (DKB hereafter), 1894, p. 488. Leutwein was born in 1849, the son of a minister. He received his Abitur, studied law for a short time, and became a professional army officer (Data from the Hamburgisches Weltwirtschaftsarchiv [Personenarchiv]). See the important instruction, Leutwein to Bezirksamtmann Golinelli, November 7, 1898, Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (BArchP), Reichskolonialamt (RKolA) 2083, Allgemeine Angelegenheiten von Deutsch-Südwestafrika. There are many documents on this point. Summarized in Leutwein to Kolabt., September 1904, RKolA 2116, Aufstand der Herero. In reference to this see, among others, Wilhelm Lehmann, Die Häuptlingserbfolgeordnung der Herero. In: Zeitschrift für Ethnologie, 76 (1951). Leutwein, Elf Jahre..., loc. cit., p. 410. Of great significance is the influence of the agricultural expert Dr. Hindorf on Leutwein; see his report in the supplement to DKB, Beilage zum Jahresbericht 1893-1894, and Leutwein, Elf Jahre..., loc. cit., p. 410. BArchP, RKolA 1277, Arbeiterfrage in SWA. Leutwein to Kolabt., December 1894, DKB 1895, p. 79f. Leutwein, Elf Jahre..., loc. cit., p. 372. Leutwein to Kolabt., June 8, 1896. In: DKB, p. 492. Leutwein, Elf Jahre..., loc. cit., p. 543. Ibid., p. 396; also DKB 1899, p. 278. See H. Vedder, Das alte Südwestafrika, 1934, p. 639. See the more recent Marxist viewpoint in Heinrich Loth, Die christlichen Missionen in Südwestafrika, 1842-1843, (East) Berlin 1963. Loth speaks of the process of "Staatwerdung" ("state development"). For a good biography see K. Schlosser, Propheten in Afrika, Braunschweig 1949. Hendrik Witbooi to Maharero, May 31, 1890 in: Die Dagboek van Hendrik Witbooi, Kaptein van die Witbooi Hottentotten, Cape Town, The van Riebeck Society 1929, No. 26. Ibid., No. 59. Ibid.
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Hendrik Witbooi to Leutwein, May 4, 1894, reprinted in: Leutwein, Elf Jahre..., loc. cit., p. 32. Ibid. Hendrik Witbooi to Leutwein, August 18, 1894, DKB 1894, p. 482. Leutwein to Hendrik Witbooi, August 21, 1894, ibid. Leutwein to Hendrik Witbooi, April 15, 1894, and Leutwein to Hendrik Witbooi, August 21, 1894, ibid. BArchP, RKoIA 2126, Allgemeine Angelegenheiten der Namaque von Gibeon, Witbooi, 1, 1895, Missionary Fenchel to Rheinische Missionsgesellschaft, January 25, 1895 in: Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft (BRM hereafter), 1895, p. 108f. Windhuker Nachrichten, March 8, 1906, speech by Missionary Wandres. Leutwein in Jahresbericht 1896, Beilage zum Deutsches Kolonialblatt, 1897. Leutwein to Kolabt., September 1904, loc. cit. Leutwein to Kolabt., May 12, 1895, RKoIA 2126. See Wilhelm Lehmann, Die Häuptlingserbfolgeordnung..., loc. cit. Leutwein to Kolabt., January 29, 1896, RKoIA 2101. Leutwein to Kolabt., December 25, 1895, ibid. Leutwein to Kolabt., July 4, 1896, RKoIA 1489, Einschreiten der Schutztruppe. Report by Missionary Bemsmann, December 10, 1894, 8RflM 1895, pp. 73-85. Leutwein to Kolabt., November 12, 1895, DKB 1896, p. 14. Leutwein to Kolabt., November 7, 1896, RKoIA 2083. Erlass by the Reichskanzler to Leutwein, December 29, 1895, and Weisung (direction) by the Kolonialdirektor, March 13, 1896, RKoIA 1489. Leutwein to Kolabt., November 7, 1896. Leutwein to Kolabt., July 4, 1896, RKoIA 1489. Ibid.; cf. Leutwein to Kolabt., December 25, 1895, and Leutwein to Kolabt., February 10, 1896, RKoIA 2101. See BArchP, RKoIA 2083, Allgemeine Angelegenheiten... M. von Eckenbrecher, Was Afrika mir gab und nahm, 1906, p. 103. Ibid., p. 198. Leutwein's important justificatory report to Kolabt., dated September 1904, entitled "Die historische Entwicklung des Schutzgebietes und deren Zusammenhang mit dem Hereroaufstande" (BArchP, RKoIA 2116); what follows is also from that report. Leutwein, Elf Jahre..., loc. cit., foreword. Cf. Samuel Maharero's will reported by H. Vedder in: Zum Tode Samuel Maharero's, BRM 1923, pp. 117-22; cf. Samuel Maharero to Leutwein, March 6, 1904, justifying the decision to revolt, printed in Paul Rohrbach, Kolonialwirtschaft, Halle 1 (1907), p. 333. Formulation by the General Staff in: Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika, 1906, p. 4.
2 German South West Africa after the Conquest 1904-1914 aus: South West Africa: Travesty of Trust. The expert papers and findings of the International Conference on South West Africa, Oxford 23-26 March 1966, ed. by Ronald Segal and Ruth First, London (Andre Deutsch Ltd.) 1967, S. 35-53
The events and consequences of the war (1904-1907) waged by the Herero and the Nama against the Germans during the period of German sovereignty in South West Africa were destined to have far-reaching repercussions on the social structure of the territory. Since the purpose of this report is to provide a sketch of the historical background to this period it would seem advisable to concentrate above all on the social and psychological consequences of this war, for these throw far more light on the history of the territory than do the details of the German Administration, which came to an end in 1914.1 The first question we must ask ourselves is why this war and the reorganisation of the territory that followed it should have had such radical consequences. But let us first examine these consequences.
The consequences of the war of 1904-1907 The war began in the early days of January 1904. Whilst the greater part of the German Colonial Force was tied down by a local riot in the South, the Herero rose and engaged in a course of general pillage and killing in which over 100 settlers and soldiers lost their lives. The Germans retaliated by mounting a full-scale war, in which over 70 per cent of the Herero and probably an even greater percentage of the Nama, who joined the rising in October 1904, were annihilated. (Of the original Herero population, estimated at 60.000, some 16.000 survived the war.) A small number of the Herero under the leadership of their chief, Samuel Maharero, succeeded in escaping to Bechuanaland.2 Virtually all of the Herero cattle perished. Up to 1908 several thousand Africans were detained in prison camps. The mortality rate in these camps was high, especially in those situated on the Atlantic coast, where the damp climate took a heavy toll of life. 3 Twenty-five per cent of the Herero and Nama were deported to parts of the country lying outside their own tribal territory. 4 The sexual exploitation of the women in the camps reached catastrophic proportions. Syphilis was so widespread that the birthrate virtually came to a standstill.5 The change of diet from milk-based foods to corn produced nutritive problems. Infant mortality was high. Between 1906 and 1907 the system of native decrees was introduced. Its chief architect was Governor von Lindequist.6 The tribes who had taken part in the uprising were dispossessed of all their land, which was confiscated by the state and subsequently sold to settlers. The territories held by the Basters of Rehoboth, parts of the territory of the Bondelswart Nama,
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parts of the territory of the Bergdama of Okombahe and the territory of the Ovambo, which was not yet under German control, remained unaffected by these decrees. 7 Other tribal organisations were dissolved. All forms of chieftainship were proscribed and a number of headmen were executed on the grounds that they were responsible for the uprising. The holy fires remained extinguished. The wearing of tribal insignia was forbidden. 8 Herero and Nama were no longer permitted to rear cattle.' The integration of the individual members of the African tribes into the European labour market, a policy that was consciously pursued by the German authorities, was successfully carried out. Ninety per cent of all African men became the hired workers of European masters. By 1912 only 200 men of the Herero and Nama tribes were without paid employment.10 The law of the territory differentiated at every level between native and nonnative citizens. Mixed marriages were forbidden and this provision applied to civil and church ceremonies alike." The disintegration of the Herero and Nama was absolute. The social anthropologist Wagner has shown that following this catastrophe the social structure of the Herero tribe was shattered and their traditional customs and standards were rendered largely inoperative. What had once been a people was now no more than a collection of scattered and unrelated persons, all deeply insecure and disoriented, who would only very gradually come to seek a new centre of integration. The overall picture is one of itinerant workers moving from farm to farm, off into the bush, to the building sites and the mass settlements of the townships. Although the natives had been integrated into the European labour market, they were not socially integrated under the new system. But had the Germans intended right from the outset to bring about such a state of affairs? German objectives in South West Africa before 190412 It may be stated quite categorically that neither the German authorities in South West Africa nor the settlers had intended to wage such a total war. The war simply burst its banks and found its own level. Governor Leutwein, who held office from 1894 to 1905 had warned his own people time and again that in their relations with the natives they were not to let matters come to a head, because he wished to avoid the economic and social consequences of a war between the Germans and the Herero. The policy pursued by the Colonial Department and by the Governor was a policy of "bloodless conquest". They calculated that the industry displayed by the white settlers and the new consumer habits which they had introduced into the territory would in themselves have such a corrupting effect that both the economic and the political function of the tribal structure would be undermined and that
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consequently individual 'simple natives' would drift away from their tribes and become hired workers. The headmen and chiefs were expected to accept the new situation and to withdraw with the remainder of their tribe into a smaller tribal territory. It was always intended that some form of autonomous African social structure should be preserved, to which the individual African worker could return. This is evident from the plans developed in 1903 for the setting up of reserves, in which it was stipulated that a certain nucleus of each tribal territory was to be excluded from any land transactions. From time to time both the settlers in the larger townships of South West Africa and the Colonial Department in Berlin had expressed themselves to the effect that the tribes who were equipped with modern rifles should be forcibly disarmed. To break the military power of the tribes and in order to protect individual settlers living in tribal territory the Governor had always effectively opposed plans of this kind. Just twelve weeks before the outbreak of war in 1904 the settlers were by and large of the opinion that it would be possible to bring about a change in the "Black-White relationship" without a large scale military engagement, provided they proceeded "without false sentimentality" and with "all due rigour".13 But the strongest proof that the Germans did not envisage a large scale conflict is to be found in the fact that both the settlers in the tribal territory and the Governor himself were taken completely unaware by the Herero decision to revolt. Until then it had been considered that the Herero would never take the initiative in the field. The Germans had come to this conclusion because the Herero, whom they had been observing since 1896, had appeared to be quite lethargic. But this lethargy, which the Germans had taken for an intrinsic quality was in fact a recent phenomenon. Various things had happened. The right of succession to the chieftainship of the tribe had been decided by force of arms, the greater part of the Herero cattle had been destroyed by rinderpest, the Germans had advanced into Herero territory. These factors had combined to produce a cultural crisis in the tribe that had revealed signs of lethargy and resignation. Because more and more individual Africans were entering into the farming and building industries and because relations between the top German officials and the chiefs and head-men of the tribes had always been entirely friendly, the Germans failed to realise the strength of the social bonds which existed even in such looseknit tribal structures as those of the Herero and the Nama. It is an established fact that no African divulged the plans for the uprising. But the German settlers found this so incredible that they bitterly accused the Rhenish missionaries of having had knowledge of the plans and hated them from that day on. Until then, although the tribal structure had certainly been taken seriously in terms of its fighting potential, its social function had been a closed book. And so when the war was over the settlers were quite helpless in the face of the social chaos which had been created, for they neither wished to renew the tribe nor were they able to replace it. But
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before we go on to discuss this problem we must first briefly state the reasons which prompted the Herero to take a military initiative.
The cause of the uprising in 1904 As far as it is possible to ascertain from the few available sources of information, the underlying causes of the uprising would seem to have been extremely complex. It is highly probable, however, that the chief factor was the fear that the loss of native land to the Europeans, which was precipitated by the pernicious innovation of credit trading, was approaching the critical limit when the survival of the cattle herd would be endangered. It could no doubt be argued that, if the natives had employed the rational farming methods evolved by European cattle breeders, there would have been no shortage of native land at that juncture. But the fact remains that from the native point of view the number of cattle owned by the tribe constituted the basis of the ancestor cult and consequently of the whole system of chieftainship. The implications of the threat to the ritual and social function of the head men of the tribe, a function which had already been undermined by the actions of the German authorities, were not understood by the younger generation. They lacked the political realism of their elders. The immediate causes underlying the uprising were: social discrimination, which had become particularly evident since the building of the railway; the lack of impartiality in the courts, where, according to Governor Leutwein, "racial justice" was administered by the white assessors; abuses in the system of credit trading, and finally, the removal of the Colonial Force to the distant Bondelswart territory. Taken generally the uprising represented an attempt on the part of the headmen and the chiefs of the tribe to reassert their authority. The strategy of extermination pursued by the military'4 When it became apparent in the course of the war that the chiefs constituted the real nucleus of resistance and when, to everyone's surprise, Samuel Maherero who until then had been a dependent and self indulgent figure, came to play a leading part in the struggle, the settlers were determined to dissolve the tribe by force of arms. When Governor Leutwein tried to negotiate a settlement with the chiefs, the settlers retaliated by successfully intervening in Berlin. Kaiser Wilhelm withdrew the Governor's authority to conduct peace negotiations. And so it was that in the spring of 1904 the settlers and the Colonial Department lost control over the course of the war in South West Africa. Wilhelm II and the German General Staff under Graf von Schlieffen regarded the "uprising" as the first "war" since 1871 and dealt with it as a purely military
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matter. General von Trotha, who had the backing of the General Staff, was appointed Commander-in-Chief of the Colonial Force and set up a military dictatorship in South West Africa.15 Von Trotha had already suppressed the Wahehe uprising and had been involved with the Boxer rising as General Officer in Command of a Brigade. Not only did he conduct the campaign against the Herero in accordance with the strategic principles of a war of extermination, he also subscribed to the view that what was happening in South West Africa was the first stage of a great racial war. He introduced his "colonial policy of the sword" and with his "strategy of extermination", which was to acquire a certain sad notoriety, he set about the systematic extinction of the whole of the Herero tribe, an undertaking which proved 70 per cent successful. In the last phase of this campaign the Colonial Force drove the remaining Herero into the Omaheke desert, and waited for them to die of thirst. Von Trotha wrote to von Schlieffen to explain his methods: "I believe that this nation must be destroyed as a nation ... This uprising is no less than the first stage of a racial war ..."
Von Schlieffen, the Head of the German General Staff, agreed with him: "He wants to exterminate the whole nation or drive it out of the territory. In this we can only agree with him. After what has happened it will be very difficult for Blacks and Whites to live together, unless the former are kept in a condition of forced labour, i.e. in some sort of slavery. Once racial war has broken out, it can only finish with the annihilation of one of the parties
Although it happened almost too late for the Herero, Reichskanzler von Biilow, under the influence of the Rhenish Mission, the German Reichstag and public opinion both at home and abroad, opposed this policy of extermination. Von Biilow won the Kaiser over, forced von Schlieffen to change his line and relieved von Trotha of his Command in November 1905. The Reichskanzler declared that the General's proclamations "violated every principle of Christian and human conduct ..." "To exterminate the whole of the Herero race according to an organised plan of campaign" would be "a punishment far in excess of all that is reasonable"17.
The war and the social aims of the settlers All along the settlers had found themselves in a dilemma that was to influence their social attitudes. First there had been the strategy of extermination pursued by von Trotha. Then there had been the assurances of protection from the Reichskanzler, who had accepted the good offices of the Rhenish Mission to negotiate the Herero surrender and who had also authorised the Mission to supervise the setting up and
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running of central camps. Although they sympathised with von Trotha's radical outlook and entirely agreed with von Schlieffen that co-existence between Black and White might well have been put beyond the pale, the settlers were obliged to rationalise their attitudes both towards the war and towards the Africans. The great majority of the settlers' farms had also been destroyed and in the fighting areas they too had lost their livestock. In virtually every part of the territory normal agricultural life had been disrupted for a considerable period of time. As a result the German farmers found themselves threatened by economic crisis throughout the entire course of the war. And if the agricultural economy was to be built up again, then the guerrilla warfare had to stop. Von Trotha's strategy destroyed both the agricultural workers and the livestock. The Germans in South West Africa were investing considerable capital in order to build up large farms for intensive stockbreeding. But it was not only for economic reasons that they wished to "master" the Africans. Social reasons also played their part. The German farmers were not prepared to run all-white farms, i.e. farms on which no Africans would be employed. This would scarcely have been feasible in any case in view of the extensive nature of German stock-breeding. But in this respect it is interesting to note that the German settlers tended to refer to South West Africa not so much as the "white man's land" but as the "white masters' land". For the above reasons they were opposed to von Trotha's military dictatorship. But although their opposition was based on the purely practical consideration of ensuring their future supply of African labour they could not prevent themselves from being lumped together with those who demanded protection from the natives on Christian and humanitarian grounds. The settlers interpreted the policy pursued by the Reichskanzler, the Reichstag and the Mission as the first stage of a development that might well lead to the establishment of an independent African social structure. This they passionately opposed. In the period between 1905 and 1907, when all these matters were being threshed out and the native decrees were in course of preparation, the settlers' true motive, the motive which had prompted them to go to South West Africa in the first place, was clearly revealed as an absolute desire for social supremacy. 18 Although there was a majority in the German Reichstag in favour of ¿lowing the Herero their own tribal territory and their own herds of cattle and although the Mission was prepared to back such a move by using the land given to it by the chiefs in order to set up mission farms for Africans, Governor von Lindequist and Golinelli, the official in the German Colonial Office with special responsibility for South West Africa, thwarted these attempts by raising legal objections." It is quite evident from the proceedings of the Government Committees of 1906 and 1908 that the native decrees were supported by both the Government and the settlers. The missions were forced to yield. They were not allowed to concentrate the Africans in missionary stations and instead were obliged to pursue their missionary work on an itinerant basis. The President of the Rhenish Mission in South
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West Africa capitulated by conceding that the decrees were a "strict but a good regimen".
The dilemma posed by social chaos It is all the more striking and, in terms of social attitudes, all the more revealing when we find that despite this clear-cut political decision the settlers still found it necessary to go on justifying both the native decrees and the consequences to which they gave rise. In the particular form taken by the process of self-justification, what happened was that the settlers constantly reasserted their desire for social supremacy. This was also partly due to the fact that the social chaos in which the Africans now lived (instead of living on their separate tribal territories, they now intermingled in all parts of the Colony) had posed problems of authority with which the settlers had been unable to cope. They had fondly believed that once African political and military strength had been broken, a new colonial structure would automatically appear. This proved not to be the case. There was no new social structure and the settlers found that the subjugation of their African workers was virtually one of their daily tasks which they were obliged to carry out in the midst of social unrest. Their decision to subjugate the African was of course only strengthened by the talk of "protection" and "humanity" and "Christianity" which was current immediately after the war and which even have been heard during the war. The settlers became more radical. They embarked on a political crusade. First they opposed the influence brought to bear by the missionaries, of whom farmer Erdmann said that "with their undigested and confused notions of equality and human dignity, ... they were ... a source of constant danger to the people who lived in their midst" 20 . The only thing that mattered, he said, was "to keep black society under control". In a written reply to one of the Rhenish missionaries, farmer Schlettwein spelt out the settlers' claim to a position of social supremacy: "No, Herr Irle, what we insist upon is that the Herero should adapt to the ideas put forward by the dominant party in this territory and that he should construct an attitude of mind for himself from those ideas."21 Paul Rohrbach, the well-known publisher, was a Colonial Settlement Commissioner and subsequently a War Da-mage Commissioner in South West Africa, where he became a representative for the whole community of settlers. In 1907 he wrote that the task with which they were confronted was to ensure that "as far as was possible (the Herero) should be stripped of his national identity and his national characteristics and gradually amalgamated with the other natives into a single coloured working class ..." 2 2
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The continuity of this kind of attitude is indicated by the fact that in 1911 farmer Konrad Rust was making the same sort of statement in a lecture: "As I have already said, the legal measures must reflect the prevailing conditions, the cultural disposition, the ideas and the degree of loyalty (of the natives) and in so far as all this is realised and comes to have a beneficial effect on our colonial venture, time will also come for our natives when it will be possible for us to allow them to order their own affairs as a working class." 25
In the experience of this farmer it is quite clearly a very difficult matter indeed to transform military subjugation into social adaptation. The difficulty of the farmer's own position is also apparent. For if the farmer says that the native must construct a new attitude of mind, whilst at the same time refusing to allow him to control his own affairs, and if the farmer also wants to know what the native is thinking and whether he is loyal to his white master, then it is, I think, legitimate to say that the farmer is attempting totalitarian control over every facet of the native's being. And, of course, the farmer will also know that this attempt is bound to fail. It is these aspects of the relationship between Blacks and Whites that so poisoned the atmosphere in South West Africa. How to integrate the Africans into the pattern of work in the territory without the use of force was a problem which concerned the farmers more than any other section of the white community, a problem, moreover, which left them virtually helpless. Because of the widespread shortage of labour the Africans were able to wander at will throughout the entire territory. They would leave their farm and wander off into the bush where they might perhaps be picked up by a military patrol, whereupon they would accept temporary work in one of the townships and then, evading the pass laws and perhaps changing their name, they would find a new job on some other farm. Many set out to find their families and relations and some took a chance and tried to flee the country, heading for the South African gold mines where Samuel Maharero, the chief of the Herero tribe, was at one time a recruiting officer for African workers. This fluctuation in the African labour force was paralleled by a similar fluctuation in the economic affairs of the European employers. Farms were abandoned, tenancies changed hands. With the building of the railways and the discovery of diamonds the centres of economic power shifted. Because of this dual fluctuation the white settlers were unable to assert their absolute authority over the native population and so the social stability which they had hoped to establish by this means was not in fact achieved.
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The fear of a separate African social structure The Germans were coming more and more to the conclusion that they would never succeed in creating an unorganised African "working class" unless it had its own social centre. From 1909 onwards it had become increasingly apparent that the Africans were not living in their "white masters' land". They were still living in the Herero and Nama territories. It is perfectly true that their farms and townships were occupied by Europeans and that these Europeans took good care to ensure that no African organisation came into being. But for all that, the Germans were well aware that the members of the dispersed African tribes, and especially the Herero, were secretly coming together again. A German official stated at the time that the Herero were leaving both the Nama areas in the South and the coastal areas returning to the "old Herero territory"24. And an economist said that the farms situated on the old tribal areas possessed a "virtual monopoly of the available labour force" 25 , although it was not generally known that the relatives of the former headmen were living together on these farms. The Germans already knew by then that an African nation might yet emerge from these tribal remnants. From 1909 onwards, if not earlier, they indicated that the baptisms, which had been regarded more or less as the "fashionable thing" in the immediate post-war period, were not to be considered in the light of Christian conversions but rather to be condemned as signs of incipient nationalism.26 It was at this time that Hendrik Witbooi's grandson was refused permission to work as a preacher. The view held even then was that "if the people come together on a Sunday in the house of God in such numbers that there is scarcely room to move and if they then sing and pray in their own language" it is "quite clear that their national consciousness" will have been aroused.27 In trying to explain the significance of the events in South West Africa to their compatriots at home the Germans tended to write in the heroic style of the old Germanic sagas. The war of 1904 was presented as a war of national independence. The chief object of all this was to stress the unbridgeable gap that separated them from the Africans. This insistence on a completely separate social status is revealed in the following description of an African tribesman by a farmer's wife: "To this day I can still see the way that old Herero came to life when he spoke of his friends, the famous chiefs ... and if I try to feel my way into his black soul I can even find it within me to sympathise with his deadly hatred..." 2 8
If we study the records of the public discussion which took place in South West Africa in the Council, in the newspaper articles, in readers' letters, in the lectures given to local societies and even in the criminal courts, then the dilemma in which the settlers found themselves becomes only too apparent. They acknowledged the principle of social segregation and they conceived the social structure of the
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territory in terms of two antagonistic nations, both living in the one country. And on this basis of segregation they sought to establish a stable social order.
The defence of social "distance" In co-operation with their Governors in the territory, the German authorities at home were constantly trying to find some means of creating a social structure that would be free from hatred and fear without sacrificing the general nature of the native decrees. It was felt that South West Africa must now return to a normal way of life. The German government wished to retain control of the social organisation of the Colony in order to prevent any abuses. At the same time the settlers wished to free themselves from the moral responsibility which had been the unavoidable concomitant of the subjugation of the African. The formula put forward by Governor von Lindequist in the hope of establishing a compromise solution of this kind was to the effect that the Africans were to be treated "with severity but with justice". The degree of severity to be meted out to the Africans was to be decided by the State. The native decrees remained the "legal" basis of the social structure of the territory. But in their personal exchanges with the Africans the settlers were exhorted, in the popular parlance of the day, not to behave like "boors" or like "black sheep". The settlers interpreted this formula according to their own lights: "All our actions should be informed by a healthy and a legitimate national egoism..., but in our dealings with individual natives we should above all follow the dictates of humanity and justice." The settlers insisted that "the government should act energetically and ruthlessly," although it would be "wrong to interpret the government's policy, which was necessitated by circumstances, in a personal sense by assuming that with the pacification of the territory every coloured person was automatically obliged to obey every white person like a slave..."29 Nontheless, it was the position of direct authority in which they found themselves that gave the settlers the idea that they were the masters. And it was the settlers" insistence that they be treated as masters that were to bring them into constant and violent conflict with the officials of the colonial administration who claimed this right for themselves alone.
The fiction of "patriarchal rule" The slogan of "patriarchal rule" had a dual implication. On the one hand it applied to the struggle which the settlers waged against the administration in order to assert
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their rights to a position of personal power over the Africans, whilst on the other hand it represented an attempt on the part of the settlers to ameliorate the African's social position by introducing a personal element into his relations with his employer. But the social tensions proved too great for this attempt and it remained a fiction. These "patriarchal tendencies" were most prevalent between 1911 and 1914, when discontent over the social disintegration of the colony was growing and when the farmers" newspaper, the Siidwestbote (South West Messenger), wrote on 28. January 1911 that "far from improving with the passing of the years, native conditions were in fact deteriorating". The views held by the settlers on this subject are illustrated by a lecture which farmer Rust held in 1912 before an audience of fellow-farmers on the theme of "Protection for the farmer". 30 Rust also took the fluctuation in the native labour force as his starting point and asked how they could best "control this kind of farm property and direct it into a more organised way of life ..." In dealing with the social disintegration of the Africans, Rust said: "Gentlemen, as you know, the communal life led by the natives before the uprising was chiefly centred on community settlements. These traditional settlements made it easy for them to live a community life, for this was what they had always been used to."
But now that the Africans were faced with the destruction of their tribal society, Rust argued, they would have to find a new centre of integration. And here he suggested the farm. On his farm the farmer should set himself up as the central figure in a new social structure, thus making it easier for the African to adapt. At the same time Rust also argued that the farmer would not be able to fulfil this function on his own and would have to appoint African elders as well. He even accepted the fact that an independent African social structure was to some extent unavoidable. In one and the same breath, however, he warned his audience of the political consequences that might well result from the institution of a system of African elders. Give them an inch and they might well take a yard! For Rust the concept of an independent African authority was evidently tantamount to a revolutionary threat. And in enlarging on the dangers that the Africans represented, Rust completely contradicted his own conception of the farmer as father to his people. He went on to say that it was only in his official dealings with his people that the farmer would expect to be treated with "respect and dignity". "Behind his back he will be no more and no less than despised and in the majority of cases detested." Given this assessment of the African, Rust was obliged to build into his vision of patriarchal rule the concept of governmental coercion. In order to ensure continuity of farm labour he demanded that the Africans should be legally required to give proper notice, that more severe penalties should be imposed on those who tried to run away and that when natives did run away the police should help the farmers to track them down.
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If we consider the economical organisation of the farms it is difficult to see how the farmers could in any case have hoped to play a patriarchal role. A review of the economy of the farms in the Central Herero territory carried out in 1912 revealed that, in return for his labour, the native did not even receive sufficient food to support himself and his family. On 31 of the 43 farms investigated the albumen and calorie content of the food issued to native workers fell below the minimum level prescribed by contemporary dieticians. Food gathered or hunted in the bush, stolen or poisoned cattle and the offal of slaughtered animals constituted an important supplement to the African's diet. When taxed with the inadequacy of the native diet, the farmers defended themselves on two grounds: their dairy products had to go to market and they had no capital resources with which to buy more nutritious foods.31 But the farmers also used the widespread fear of the natives as an additional argument: they were feeding their workers badly, lest they should get too "highspirited". On the other hand there were some farmers who allowed the Herero to rear their own herds of goats. But this was no solution to the social problem either, for in South West Africa the rearing of goats was a symbol of slavery.
The crisis of human relations, 1911-1913" Most of the settlers' statements that we have quoted reveal the hatred that, however much it was covered up, lay at the heart of the relations between Blacks and Whites. Between 1911 and 1913 human relations in the territory were so bad that the Administration tried to intervene. The "patriarchal" settlers had claimed the right to "punish their children" themselves, which meant that many farms were run by the law of the whip. Although corporal punishment was officially recognised in South West Africa and was prescribed by the judiciary, the administration nonetheless opposed its practice by the farmers since there had been known cases of maltreatment resulting in death and intentional acts of manslaughter. The authorities tried to curb this development by prosecuting in a number of cases where the proofs were conclusive. The evidence presented in the criminal court just reveals how extensive the breakdown of human relations between farmers and native workers really was, a fact that was borne out by the farmers' own newspaper when it sought to exonerate the accused on the grounds that whipping was such a widespread practice. The farmers spoke of their right to administer their own justice and declared that they were living in a state of constant emergency. Certainly conditions of panic and anxiety were prevalent, many farmers suffered from persecution mania and went in fear of being poisoned by their own workers. Leather whips, many of them with strips of iron woven into the thong, formed part of the inventory of most farms. Only too often, farmers would use these whips as a last resource in order to counteract the insecur-
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ity instilled in them by the loneliness of their lives in the midst of an enormous country, although in cases of suspected cattle stealing they might well have recourse to their rifles instead. In extreme cases young boys, girls and even pregnant women were not spared. The press reports, the speeches of the accused and of their Counsel and the scale of the punishments fixed by the assessors in the various courts give a clear indication of the extent to which the whole settler community had identified with this state of affairs. The men who had presented the case for the prosecution in these trials were branded as "negrophiles" and boycotted. Attempts at reform undertaken by the administration, 191333 The colonial authorities successfully enforced their policy in respect of corporal punishment and in the two years immediately preceding the outbreak of the Great War the administration in South West Africa began to face the requirements of social integration. This was partly due to the general attitude towards colonial affairs of the Secretary of State in the German Colonial Office, Solf, and partly to the change that had taken place in the economic structure of South West Africa. A more systematic labour policy had been developed in respect of the growing demand for native labour in the copper and diamond industries. Once it was apparent that workers could not be imported from other colonies (Annual Report 1913) it became all the more important to persuade the Ovambo, who still lived within a firm tribal structure in the North of the German territory, to leave their settlements and become itinerant workers. At the same time measures were taken to combat the stagnant birth-rate in the Herero tribe. A recruiting system was also evolved, native commissioners on the English pattern were appointed, the shortage of food in the industrial areas, especially in the diamond area, was alleviated and the trails which the itinerant workers would follow were made safe. Out of consideration for the Ovambo the authorities also tried to curb the more flagrant abuses of African rights. But the administration had in any case by now come to realise that some form of independent African social structure was the only way of ensuring the physical and social regeneration of the Herero and the Nama on a permanent basis. The first beginnings of native reserves were set up on government farms and exceptions were made to the law proscribing native stock-breeding. However, these measures were not intended as the first step in the creation of an independent African economy. Their objective was the preservation of the labour force. The German government did not want to change the basic structure of the territory. This is quite evident from the fact that the decision taken in 1913 to authorise the South West African Council to decide all questions relating to native affairs was not considered problematical at the time. The subjugation of the Afri-
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cans as a labouring class remained the basis of German policy in South West Africa. Its primary objective was to enable the German settlers to consolidate their position. This policy was determined by the agrarian structure of the colonial territory and remained unchanged even when the income from the diamond and copper industries covered the whole of the budget and only the 2.000 men of the Colonial Force continued to be financed by a direct grant from the German treasury. 34 The act of self government, 35 the educational policy and the land policy were all subordinated to the primary objective of consolidating the German settlers. After the Herero war the settlers never really overcame the insecurity which had arisen as a result of the undermining of the old social structure and this despite the radical subjugation of the natives which the war had made possible, despite the economic boom of the post-war period and despite the growth of the European population from 4.000 to 15.000. Disputes over the fundamental issues occurred at regular and frequent intervals. In these disputes the settlers' desire for social supremacy made itself felt sometimes as cynicism, sometimes as irrational panic and often as compromise formulae that served to cover up the deeper grounds of discord. It was the settlers' constant insistence on keeping themselves "at a distance"36 from the natives, which more than anything else obliged the authorities to fall back on the system of social, economic and political controls. By 1914 the normalisation towards the traditional European way of life that the settlers hoped to established, had not yet taken place.
Notes 1 2 3 4 5
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The paper is based on: Helmut Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in DeutschSüdwest-Afrika 1894-1914, part III, Dissertation, Hamburg 1968. Kathesa Schlosser, Die Herero in British Betchuanaland-Protektorat und ein Besuch einer ihrer Siedlungen Ncwe-le-tau. In: Zeitschrift für Ethnologie, (1955) 80, p. 200-258. Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (BArchP), Reichskolonialamt (RKoIA) 1496, Reisen des Staatssekretärs Solf. Denkschrift vom 27.5.1912. Ibid. Archiv der Rheinischen Missionsgesellschaft, Mischehen, Missionsinspektor Spieker an Bökenkamp, 15.6.1908, und Hartmann an Spieker, 9.4.1910; cf. BArchP, RKoIA 1496, Reisen des Staatssekretärs... BArchP, RKolA2173-2174, Verhandlungen des Gouvernementsrates in Windhuk, December 1906 and May 1908. Cf. Karte 3 in Oelhafen von Schoellenbach, Die Besiedelung Deutsch-Südwestafrikas bis zum Weltkrieg, Berlin 1920. See Günter Wagner, Aspects of conservatism and adaption in the economic life of the Herero. In: Sociologus, Neue Folge, 2 (1952); and Heinrich Vedder, Zum Tode Samuel Mahareros, Berichte der Rheinischen Mission 1923.
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BArchP, RKolA 2097, Großviehhaltung 1912-1914, and ibid., 11220, Einziehung von Vermögen Eingeborener in südwestafrikanischen Schutzgebiet 1905-1914. BArchP, RKolA 1496, Reisen des Staatssekretärs Solf. Denkschrift vom 27.5.1912. BArchP, RKolA 2057-2059, Die Kommunal- und Selbstverwaltung in SWA; Archiv der Rheinischen Mission, Mischehen. Cf. Bley, Kolonialherrschaft..., loc. cit. Deutsch Südwestafrikanische Zeitung, 13.10.1903. BArchP, RKolA 211-2116, Aufstand der Herero 1904. BArchK, Nachlaß Seitz No. 5, p. 42; see also BArchP, RKolA 2089, Differenzen zwischen Generalleutnant v. Trotha und Gouverneur Leutwein bzgl. der Aufstände in Deutsch Südwestafrika im Jahr 1904; and Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika. Vol. I: Der Feldzug gegen die Herero, Berlin 1906; Conrad Rust, Krieg und Frieden im Hererolande, Berlin 1905. BArchP, RKolA 2089, v. Trotha an Schlieffen, 4.10.1904, and Schlieffen an Reichskanzler Bülow, 12.12.1904. Ibid., Bülow an Wilhelm II., 22.11.1904. Cf. BArchP, RkolA 2173-2174, Verhandlungen des Gouvernementsrates... BArchP, RKolA 1220, Einziehung von Vermögen Eingeborener. Deutsch Südwestafrikanische Zeitung, 8.6.1905 and 2.8.1905. Windhuker Nachrichten, 5.4.1906. Paul Rohrbach, Kolonialwirtschaft. Bd. I, Berlin 1907, p. 21. Südwestbote, 29.11.1911. Cf. BArchP, RKolA 1496, Reisen des Staatssekretärs... Johannes Gad, Die Betriebsverhältnisse der Farmen des mittleren Hererolandes, 1915, p. 109. Deutsch Südwestafrikanische Zeitung, 21.8.1907. Missionar Dannert, Berichte der Rheinischen Mission 1910, p. 243f. Ada Cramer, Weiss oder Schwarz, Berlin 1913, p. 79. Deutschsüdwestafrikanische Zeitung, 21.8.1907. Cf. Südwestbote, 29.11.1911. Gad, loc. cit., p. 109. Cf. Südwestbote and Deutschsüdwestafrikanische Zeitung, 1911-1913. BArchP, RKolA, Die deutschen Schutzgebiete 1912/13, Jahresberichte. Ibid., p. 169. Cf. BArchP, RKolA 2057-2059, Die Kommunal- und Selbstverwaltung in SWA; Archiv der Rheinischen Mission, Mischehen. Südwestbote, 3.1.1912 (Ohlsen Fall).
D Politische Probleme Tanzanias nach der Sozialisierung des modernen Wirtschaftssektors aus: Verfassung und Recht in Übersee, 6 (1973) 3, S. 311-325
Um über die politische Entwicklung Tanzanias seit der Arusha-Deklaration (1967) und die sich anschließende Sozialisierungspolitik mit der notwendigen historischen Dimension berichten zu können, scheint es zweckmäßig, zunächst der Frage nachzugehen, welche Koalition von sozialen Kräften die Unabhängigkeit 1961 durchgesetzt hat. Fünf wichtige Gruppen sind zu nennen: Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlebten die Vermarktungsgenossenschaften der Kaffee-, Baumwoll-, Mais- und Reisproduzenten einen Aufschwung, der ein neues Element in die ökonomische und politische Entwicklung Tanganyikas brachte. Durch den enormen Anstieg der Weltrohstoffpreise während des Koreakrieges wurde damit die Position jener Bauern gestärkt, die für den Weltmarkt und die städtischen Zentren produzierten. 1 Die im Kolonialdienst angestellten Afrikaner, also die berühmte "educated elite" der Lehrer und Sekretäre, hatte durch ihre Angestelltenclubs ein organisatorisches Netz geschaffen, das 1954 der Tanganyika National Union (TANU) zur Verfügung stehen sollte.2 Eine Massenbasis ergab sich durch die Verbindungen zu der Vielzahl der lokalen Protestbewegungen gegen die Auswirkungen der Kolonialherrschaft. Insbesondere organisierten sich diese Protestbewegungen gegen Maßnahmen der kolonialen Agrarpolitik in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, sofern diese repressiven Charakter annahmen: Hierzu zählen insbesondere der Kampf der "Freemen of Meru" gegen weiße Landnahme (1950)3, die Steuerstreiks der Pare (1947) 4 , die Proteste gegen den Zwang bei der Terrassierung der Felder als Maßnahme gegen die Bodenerosion in den Uluguru-Bergen (1952)5 sowie die Organisation des Auswiegens der Baumwolle durch die afrikanischen Bauern im Sukumaland gegen Manipulationen des indischen Zwischenhandels. Der Generalstreik der Arbeiter (1947) mit Schwerpunkt in der Hafenstadt Dar es Salaam schuf eine wesentliche Voraussetzung für die Politisierung all dieser oppositionellen Aktivitäten.6 Schließlich versuchte ein Teil der Häuptlinge und Großleute, sich diesen Bewegungen anzuschließen, um der Erosion der Häuptlingsautorität durch den Mißbrauch im Interesse der Kolonial Verwaltung zu entgehen. Sie sahen eine Chance zum politischen Überleben darin, ihre traditionelle Autorität in moderne politische Führungsautorität umzuwandeln, und versuchten, sich deshalb entweder an die Spitze der ländlichen Protestbewegungen zu stellen oder aber - ohnehin mit dem Erziehungsprivileg durch Sonderschulen ausgestattet - Teil der neuen Führungselite zu werden. 7 Generell hatten sie außerdem die Chance, über den besonderen Zugang zur Landverteilung und zu Staats- und Genossenschaftskrediten Teil der Gruppe der größeren Genossenschaftsbauern zu werden.
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Versuchte man, die Machtverhältnisse in dieser Koalition zu analysieren, so ergab sich theoretisch eine übermächtige Koalition von Genossenschaftsbauern, die sich auf dem Wege zum "Kulakentum" befanden, wie Marxisten in Tanzania zu sagen pflegen, mit jenen Vertretern der modernisierten Häuptlingsgewalt. Beides wurde durch die Kolonialmacht England gefördert, die mit dem Konzept der "indirect rule" die Häuptlingsschicht zu stützen versuchte und zugleich im Interesse der ökonomischen Nutzung der Kolonie an rationell wirtschaftenden weltmarktorientierten Großbauern interessiert war.8 Außerdem ist ein großer Teil der "educated elite" als die Urbane Sektion dieser privatwirtschaftlich orientierten Entwicklung auf dem Lande zu sehen, jeweils mit eigener Basis in den ländlichen Gebieten, vor allem aber mit eigenen Investitionschancen sowohl im Urbanen wie im ländlichen Bereich. Die exzeptionelle Stellung Tanzanias in Afrika beruht darauf, daß diese Koalition sich wider Erwarten bisher als der große Verlierer nach der Unabhängigkeit erwiesen hat. Sieger wurden offensichtlich jene Teile der modernen Elite unter der Führung Nyereres, die nach einem bekannten Wort des kenyanischen Politologen Mazrui "Verräter an ihrer Klasse" wurden, d.h. eine Sozialisierungsstrategie entwickelten und in den Grenzen, die noch zu erörtern sein werden, auch durchsetzten; dies, obwohl sie die Chance hatten, selbst als Teil einer neuen Nationalbourgeoisie zu investieren. Die Frage nach ihren Koalitionspartnern und nach der Basis ihrer Stärke ist schwer zu beantworten. Sie läßt sich mit der Gegenfrage einleiten, warum es zu keinem erfolgreichen Militärputsch, getragen von der Genossenschaftsbauernschaft und ihren Repräsentanten, in den Staatsorganen kam. Ein Ansatz zur Antwort ergibt sich aus der Betrachtung der noch nicht analysierten Partner der Koalition für die Unabhängigkeit. Zweifellos war und ist die Mehrheit der tanzanischen Bauern Kleinbauern, die höchstens über den lokalen Markt an die Marktwirtschaft angeschlossen sind. Es ist dies aber auch der unartikulierteste Teil der Bevölkerung. Zu ihnen gehören die Frauen, die, um einen Eimer Wasser aus dem Flußbett zu graben, im Extremfall über 20 km zu gehen haben, im Normalfall immer noch 2 bis 3 km, die Feuerholz über große Strecken heranschleppen müssen, wenn Holzkohle für sie unerschwinglich ist, deren nächstes kleines Krankenhaus über 100 km entfernt sein kann. Es ist die Kleinbauernschaft, die mit der Unsicherheit des Regenfalls rechnen, den Busch roden und die kleinen Äcker gegen Unkraut, Wildschweine, Affen und Vögel, das Vieh gegen Löwen verteidigen muß. Diese Bevölkerung lebt je nach Region überwiegend nur von Mais oder Kassava, Reis oder Bananen. Sie leidet dementsprechend unter ständigem Eiweißmangel und damit unter Fehlernährung. 9 Es ist jene Bevölkerung, bei der die Kindersterblichkeit um 14 Prozent, in speziellen Regionen um 25 Prozent liegt, die Lebenserwartung im Durchschnitt um 43 Jahre (in den Extremen um 61 bzw. 28 Jahre (1967).10
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Wenn man das Ende der Kolonialherrschaft in den fünfziger Jahren - abgesehen von dem weltpolitischen Rahmen - erklären will, dann ist es wesentlich die Unfähigkeit der Kolonialregierung gewesen, diese Massen zur Produktivitätssteigerung im Interesse der Exportwirtschaft zu mobilisieren und Hoffnung auf Befriedigung der Grundbedürfnisse zu vermitteln. Demgegenüber solidarisierte sich die Nationalbewegung mit jeder Protestbewegung und erhielt damit eine Massenbasis, die zugleich die der traditionellen Häuptlinge erodierte. Dies ermöglichte schließlich eine Sozialisierungspolitik, weil sich die ländliche Bevölkerung - und die städtischen Massen - jedenfalls in wichtigen Perioden gegen eine neue ökonomische und politische Elite mobilisieren ließen.11 Vermittelt wurden die Interessen der ländlichen Bevölkerung auf zwei Wegen: - durch die Vertretung der lokalen Parteiführer im Zentralkomitee der TANU (NEC) 12 , - durch die Tatsache, daß sich eine Koalition von regionalen Parteiführern der unterentwickelten Regionen gegen die "Cash-Crop"-Regionen bildete, also gegen die Kaffeegebiete des Kilimanjaro und Bukoba und die Baumwollgebiete am Viktoriasee.13 Eine solche Koalition war aus drei Gründen möglich: 1. Die moderne Geschichte afrikanischer Länder begann mit ihrem Anschluß an den Weltmarkt. Dies führte zu starker interner Differenzierung. Es entstanden Regionen, die für den Weltmarkt produzierten oder Nahrung für die Cash-CropProduzenten und die Städte anbauten, und jene Regionen, für die sich keine CashCrops fanden, die sich selbst überlassen blieben oder von der Rekrutierung der Wanderarbeiter für die Plantagengebiete und in Südosten Tanganyikas für die Bergwerke des südlichen Afrikas betroffen wurden. Dieser Prozeß der Differenzierung begann in Tanganyika ab 1850 mit dem Aufbau des Handelsimperiums des Sultanats von Zanzibar. 14 2. Während der Kolonialherrschaft mit ihrer systematischen Pflege von exportfähigen Produkten verschärfte sich diese Differenzierung. Dabei kam es in Deutschostafrika bis 1914 und im britischen Mandatsgebiet Tanganyika bis 1961 zu einem historisch bedeutsamen Kompromiß in der wirtschaftlichen Machtverteilung. Es gelang weißen Siedlern nicht, die Exportwirtschaft zu monopolisieren. Der Widerstand der afrikanischen Bauernproduzenten im Maji-Maji-Aufstand 1904-1906 (mit insgesamt geschätzten 250 000 Opfern wegen der nachfolgenden Hungersnot) veranlaßte die deutsche Kolonialverwaltung in Dar es Salaam unter Gouverneur Rechenberg und das Reichskolonialamt in Berlin unter Staatssekretär Dernburg, Bauemproduktion als geeignete Wirtschaftsform anzuerkennen. Rechenberg, 1905 Generalkonsul in Warschau, war von der Bauernbewegung in der Ersten Russischen Revolution beeindruckt und wollte einen andauernden Bauernkrieg in der Kolonie vermeiden. Der Gegenschlag der deutschen Siedler unter Führung des Großlandwirtes v. Lindequist als Staatssekretär (1910 Entlassung Rechenbergs)
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wurde durch die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg gestoppt. Der Kernpunkt der Mandatslösung des Völkerbundes war, die selbständige Bauernwirtschaft in Tanganyika zu ermöglichen. 3. Ein wesentlicher Faktor für die Koalitionsbildungen ergab sich aus der ethnischen und sprachlichen Struktur Tanganyikas. In keiner dieser moderneren Wirtschaftsregionen lebten Völker, die einen entscheidenden Bevölkerungsanteil ausmachten. Die z.Z. ca. 14 Millionen Tanzanier (vergleichbar mit Rumänien, Südafrika) teilen sich in über 120 ethnische Gruppen auf, allerdings 90 Prozent davon auf der Basis nah verwandter Bantu-Sprachen. Keines der größeren Völker hatte die Möglichkeit, in Tanzania zu dominieren. Das größte Volk, die Wasukuma, zählte nach dem Zensus von 1967 ca. 1,5 Millionen, das zweitgrößte, die Chagga, 0,5 Millionen Menschen.15 Wegen der frühen Verflechtung mit dem Weltmarkt hat sich aus Kisuaheli als lingua franca eine Nationalsprache entwickelt, die vor Englisch die Grundlage der politischen Kultur des Landes geworden ist.16 Damit waren Koalitionsmöglichkeiten eröffnet, die weder Sprachen- noch Hegemonialprobleme in gravierender Weise aufwarfen. Die beiden Wege, die in dieser Frage für Tanganyika nach der Unabhängigkeit offen schienen, lassen sich an den beiden Politikern exemplifizieren, die den Anspruch auf Unabhängigkeit vor den Vereinten Nationen in den fünfziger Jahren artikulierten. Der eine war König Marealle17, Oberhäuptling der Chagga, der Kaffeepflanzer am Kilimanjaro. Dieses Volk hatte seit 1928 das am wirksamsten organisierte Genossenschaftswesen, wies die höchste Alphabetisierungsrate auf und ist in Spitzenpositionen in Armee, Bürokratie und Universität aufgrund dieses Erziehungsvorsprungs überrepräsentiert. Demgegenüber ist Präsident Nyerere Sohn eines Häuptlings des kleinen Völkchens der Wazanaki am Viktoriasee18, ein auch heute noch isolierter Landesteil. Marealle verlor noch vor der Unabhängigkeit Amt und Einfluß19, bis schließlich 1963 die Häuptlinge durch Gesetz abgeschafft wurden. Nyerere stieg zu präsidialer Machtfülle auf in Koalition mit den Vertretern des unterentwickelten Südens und des Zentrums des Landes, repräsentiert durch den aus der Gewerkschaftsbewegung und der islamischen Küstenkultur hervorgegangenen Ministerpräsidenten Kawawa.
Die Entstehung der Sozialisierungsstrategie Die Machtergreifung der TANU unter der Führung Nyereres sowie die Ausschaltung der traditionellen Führungsschicht, zumindest auf der nationalen Ebene, sagte noch nichts über die Möglichkeit eines sozialistischen Weges aus, noch weniger über dessen Erfolgschancen. Man kann davon ausgehen, daß es in den ersten Jahren der Unabhängigkeit keine Sozialisierungsstrategie gegeben hat. Aber es scheint, daß es eine wesentliche Voraussetzung für eine derartige Entwicklung von vornherein durch die starke ländliche Basis der TANU, vor allem aber durch die
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prinzipiellen politischen Überlegungen Nyereres gegeben hat. Denn eines erscheint deutlich: Von vornherein kam entgegen den "normalen" Tendenzen der sozialen Differenzierung und damit der klassenmäßigen Aufspaltung der tanzanischen Gesellschaft unter dem Druck der Weltmarktverflechtung auch das egalitäre Prinzip zur Geltung. Dies ist ohne Julius Nyerere schwer denkbar. Durch ihn kam Konsistenz in die tanzanische Politik in Richtung auf Egalität. Bereits Jahre vor Erringung der Unabhängigkeit und lange vor einer Chance, seine Politik auch durchsetzen zu können, hat er gegen eine privatwirtschaftlich orientierte Strukturpolitik in der Landfrage entschieden Front gemacht. Die Strategie der englischen Kolonialverwaltung war, wie in allen Kolonien so auch in Tanganyika, die Schaffung des afrikanischen kommerzialisierten Landwirtes, sofern nicht Europäersiedlung sich durchsetzte. So formulierte der zuständige britische Landwirtschaftssekretär für Tanganyika 1952: "Ich wünsche mir, daß aus unserer bisher undifferenzierten afrikanischen Gesellschaft eine substantielle Anzahl von reichen Leuten heranwachsen kann. Sie sollen reich genug sein, um ihre Söhne in Europa erziehen lassen zu können, sie müssen sich Autos leisten können, gute Häuser usw."
Sein Ziel war eine "relativ wohlhabende Schicht" als stabilisierender Faktor auch gegen die nationale Unruhe. 20 Ein solches Konzept entsprach auch den Interessen dieser Schicht. Die Nguu-Kaffee-Pflanzer-Genossenschaft stellte ihrer Genossenschaftssatzung folgende Präambel voran: "Wir gehen davon aus, daß das Ziel der Genossenschaft ist, ihren Mitgliedern zu ermöglichen, daß sie Farmen besitzen, ohne auf ihnen arbeiten zu müssen." 21 Diese Satzung wurde 1954 festgelegt, eine Woche vor Gründung der TANU. Nyerere hat gegen die auf dieses Konzept abgestellte Landpolitik der englischen Kolonialverwaltung protestiert. 1958 erklärte er zur Einführung der Verkäuflichkeit von Land: "Wenn wir zulassen, daß man Land wie einen Umhang verkaufen darf, dann bedeutet dies, daß nach nur kurzer Zeit nur einige wenige Afrikaner Land in Tanganyika besitzen werden, und alle anderen wären Pächter. Wir werden dann mit einem Problem zu tun haben, das Antagonismen geschaffen hat unter den Völkern und das zu Blutvergießen in vielen Ländern der Welt geführt hat." 22
Eine wesentliche Voraussetzung, die eine sozialistische Strategie in Tanzania möglich machte, war somit, daß Sozialisierung weit mehr Verhinderung von großem Eigentum bedeutete als Umverteilung von Eigentum. Indessen, abgesehen von der Nationalisierung ungenutzten Landes und der staatlichen Landkontrolle, änderte sich an diesem internen agrarischen Differenzierungsprozeß nach der Unabhängigkeit wenig.23 Die Entscheidung fiel zunächst im modernen Sektor der Volkswirtschaft.
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In diesem Sektor ließ sich auch umverteilen, zunächst zu Lasten der Europäer, später zu Lasten der Inder. Schließlich setzte die TANU zum entscheidenden Zugriff auf die Investitionschancen afrikanischer Unternehmer und der Staatsfunktionäre an. Dennoch war diese Umverteilung und damit eine echte Sozialisierungsstrategie, die die Machtfragen einschloß, lange Zeit nicht der Zentralpunkt der Politik. Tanzanische Politik entwickelte sich nicht in eindeutigen Richtungen, sondern das, was jetzt als Sozialisierungspolitik erscheint, war möglicherweise gar nicht so langfristig angelegt. Sie ist wesentlich auch Ausfluß der bitteren Notwendigkeit, die neue staatliche Unabhängigkeit auch in eine ökonomische Unabhängigkeit zu verwandeln. Einige ökonomische Grundtatsachen bestimmten die Situation in den Jahren nach der Unabhängigkeit. Tanzania verkaufte den Sisal, den Kaffee und die übrigen Exportprodukte auch 1969 noch zu 89 Prozent auf dem westlichen Weltmarkt, nur 5 Prozent im Rahmen der Ostafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, 6 Prozent in die sozialistischen Länder. 24 Prozent des Exportes ging nach Großbritannien, 27 Prozent in die restlichen Sterlingländer, 12 Prozent in die EG. An dieser Situation hat sich trotz der Einschränkung des Handels mit Großbritannien und der Ausweitung des Handels mit China nichts Ausschlaggebendes geändert. Bis 1971 ist das Importbild ähnlich.24 Tanzania ist nach wie vor Teil des westlichen Weltwährungssystems, was auch in den parallelen Abwertungen 1972 zur Geltung kam. Diese ökonomische Grundtatsache ist die Basis der Wirtschaftspolitik, wenn auch in der Annahme von Kapitalund Entwicklungshilfe durch eine planmäßige Streuung der Engagements und durch weitgehende Ausklammerung der Großmächte USA, Sowjetunion und England ein relativer Freiraum geschaffen wurde. Das ausländische Kapital, vermittelt durch die englischen Großbanken, kam nicht wie erwartet, weil Tanzania als eines der ärmsten Länder der Welt, ohne bekannte Mineralbasis nicht attraktiv war, um Kapital in einem Umfang anzuziehen, der eine wesentliche Beschleunigung der Entwicklung im Lande hätte stimulieren können. Hinzu kam, daß Kapitalhilfe die neugewonnene Unabhängigkeit gefährdete. Insbesondere die Haltung der Bundesrepublik Deutschland, die in strikter Anwendung der Hallsteindoktrin politische Bedingungen an die Kapitalund Militärhilfe knüpfte, als das DDR-Konsulat von Zanzibar nach Dar es Salaam als Konsequenz der Union zwischen Tanganyika und Zanzibar übersiedelte, führte zu einer außenpolitischen Grundsatzentscheidung. Tanzania brach trotz der Beeinträchtigung des ersten Fünfjahresplanes die Annahme jeder Hilfe aus der BRD ab, um vor der Welt zu demonstrieren, daß jegliche Verknüpfung von Hilfe mit politischen Bedingungen auch bei hohem Risiko abgelehnt werden würde. 25 Ergebnis dieser Entwicklungen war das Konzept der "Seif Reliance". Die eigenen Ressourcen sollten soweit wie möglich zur Basis der Entwicklung gemacht werden. Doppelte Konsequenz war, daß sich die tanzanische Regierung langfristig darauf einstellte, Entwicklung auf der Basis der Ressourcen einer Agrargesellschaft
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zu betreiben, kurzfristig, daß alle modernen Ressourcen des Landes in die Hand der Regierung gehörten. Die Kontrolle der Außenwirtschaftsbeziehungen war die Konsequenz dieses Konzeptes. Es fielen nach der Arusha-Deklaration die Entscheidungen über die Verstaatlichung der Banken, die Durchsetzung des Prinzips der Verstaatlichung der meisten Plantagen sowie in gewissem Abstand (1970) die Verstaatlichung des Außenhandels sowie damit verbunden eine sich stets verschärfende Devisenkontrolle. Der ökonomische Sinn dieser Maßnahmen ergab sich aus der Ungleichgewichtigkeit der internationalen Machtverhältnisse auf dem Welt- und Geldmarkt. Die Kontrolle aller Ressourcen gegenüber der Außenwelt war an sich auch noch keine sozialistische Strategie. Wenn sie dies dennoch wurde - wenn der ökonomische Nationalismus nicht die einzige Zielsetzung blieb, sondern mit Hilfe der Kontrolle der Außenwirtschaft und der Industriepolitik auch das egalitäre Prinzip umgesetzt wurde, so war dies eine neue politische Entscheidung. Als Hebel wurde angesetzt, daß sich die Außenwirtschaftspolitik und die Verstaatlichung des modernen Sektors in ein Kampfinstrument auch gegen die Investitions- und Konsuminteressen der neuen Elite umschmieden ließ26; oder genauer, die Elite wurde mit der Hinwendung zum ökonomischen Nationalismus, die auch ihren Interessen entsprach, in das neue Stadium hinübergedrängt, fest eingespannt in das Korsett des Einparteiensystems mit Elementen einer präsidialen Diktatur. Opposition in diesen Fragen nahm den Charakter eines "silent class struggles" an, wie es die von der Macht ausgeschlossenen leninistischen und maoistischen Theoretiker der TANU Youth League und der in- und ausländischen Universitäts-Intelligenz zu analysieren pflegen 27 , d.h. Opposition innerhalb des Systems. Die Voraussetzung dafür war die Ausbildung des Einparteienstaates. Wahlsiege von 90 Prozent für die TANU als Anerkennung für den Sieg im Kampf um die Unabhängigkeit lassen die Ausbildung des Einparteiensystems fast unvermeidlich erscheinen. Die Ausbalancierung von Zentralismus im Parteiapparat - das Werk Oskar Kambonas - und die Öffnung nach unten durch die Vertretung der Regionen im NEC und durch ein Wahlrecht, das die Konkurrenz von zwei Kandidaten der TANU in einem Wahlkreis zur Pflicht machte, versetzte sowohl die Führungsspitze in die Lage, zentralistisch Strategien durchzusetzen, ließ aber auch den Druck der Landgebiete wirksam werden. Minister und Staatssekretäre hatten und haben das Risiko zu tragen, bei Vernachlässigung ihres Wahlkreises nicht wiedergewählt zu werden. Mit Beginn einer deklarierten sozialistischen Politik verfestigte sich dieses System. Nicht nur war verfassungsrechtlich Politik außerhalb der TANU untersagt, sondern je länger die denkbare Alternative bei einem Machtwechsel zwischen sozialistischem und privatwirtschaftlichem System wurde, blieb der Machtwechsel nur noch als Putsch oder Revolution denkbar. Soziale Systeme lassen sich nicht im Rhythmus der Wahlen auswechseln.
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Mit Erklärung der Sozialisierungsstrategie wurde das Verbot für Funktionäre in Partei und Staat verknüpft, privatwirtschaftlich tätig zu sein. Der Anspruch wurde erhoben, daß Leader nicht mehr als ein Haus besitzen sollten, die Anstellung von Lohnabhängigen wurde untersagt, demonstrativer Konsum wurde angeprangert. Devisen- und Importkontrolle haben im Laufe der Jahre diesen Zwang zum Konsumverzicht insbesondere ab 1971 auf die gesamte Nation, praktisch auf die schmale Schicht derer mit ausreichendem Geldeinkommen, ausgeweitet.
Tanzania nach der Sozialisierung des modernen Sektors Um die Situation in Tanzania nach Durchsetzen der Sozialisierungsmaßnahmen zu verstehen, ist es zweckmäßig, die Frage nach der Machtverteilung und den nunmehr vorhandenen Koalitionen erneut zu stellen.28 Die Machtblöcke, die sich auch im innerparteilichen Proporz der Schlüsselpositionen widerspiegelten, stellten sich seit 1970 wie folgt dar: Der bäuerliche Genossenschaftsflügel igelte sich ein, um die Umformung von Marktgenossenschaften in Produktionsgenossenschaften und damit das Übergreifen der Sozialisierungsstrategie auf das Land einzugrenzen. Dies richtete sich vor allem gegen die noch zu erörternde Ujamaabewegung, deren ideologische Begründung zum Hauptinhalt der politischen Aussage der TANU zu werden schien. Dabei versuchte die Genossenschaftsbewegung den Freiraum zu nutzen, daß sich der Genossenschaftsgedanke systemkonform mit quasi-sozialistischem Gehalt auffüllen ließ. Die Bürokratie des Staatsapparates hatte in dieser Phase zwei Optionen. Sie konnte entweder die neue Entwicklung unterstützen, weil ihr damit die Verwaltung des sozialistischen Sektors zufiel, den sie auch im Interesse des ökonomischen Nationalismus bejahen konnte, oder sie konnte ihre Querverbindungen zur mittleren Bauernschaft in den Vordergrund rücken sowie ihre Konsum- und Investitionsinteressen zur Geltung bringen und im Extremfall Staatsstreichplänen nachgehen. Beide Wege sind von Teilgruppen beschritten worden. Als dritte Gruppe, mit der Staatsbürokratie eng verflochten, etablierte sich das große Management aus dem Finanzsektor, der halbstaatlichen Industrie und des Groß- und Außenhandels, also das Management der Bank of Tanzania, der National Bank of Commerce, der National Insurance Company, der State Trading Corporation, der National Development Corporation (Industrie), der Staatsplan tagen und der National Housing Corporation sowie der Transportinstitutionen, soweit sie nicht von der Ostafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft verwaltet wurden. Dieses Management stand und steht vor der schwierigen Option, daß es die Aufrechterhaltung des modernen Exportsektors, die Sicherung der Wachstumsrate und die Initiierung eines Industrialisierungsprozesses entweder mit Methoden durchzusetzen versucht, die die Hauptlast dieser Entwicklung auf die tanzanischen
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Kleinbauern legt, oder aber den viel schwierigeren Weg der sofortigen Entlastung der großen Mehrheit der Bevölkerung mit diesem Prozeß zu verbinden sucht. Entgegen der üblichen Annahme, daß die organisierte Arbeiterschaft Träger einer Sozialisierungsstrategie sein würde, findet sich in Tanzania seit 1965 die Gewerkschaftsbewegung durch den Staat gleichgeschaltet. Mit dem offiziellen Streikverbot werden nicht nur staatliche Interessen an der Produktionssteigerung durchgesetzt, sondern es geht vorrangig darum, die Industriearbeiterschaft der städtischen Zentren daran zu hindern, ihre privilegierte Position - gemessen an den Einkommensverhältnissen der Kleinbauern - durch eine offensive Lohnpolitik auszunutzen. Die Politik des Vorranges der ländlichen Entwicklung führt zu Interessenkollisionen mit der Arbeiterschaft. Ein in seiner Gewichtung schwer zu beurteilender Faktor sind die Kirchen Tanzanias. Die Katholische Kirche, die Protestantischen Kirchen und der Islam werden zweifellos durch eine im wesentlichen antisozialistische Führungsschicht repräsentiert, um so mehr, als insbesondere die christlichen Gemeinden auf der Finanzkraft des mittleren Bauerntums beruhen, sofern nicht die europäische Kirchenhilfe eingreift. Diese Kirchen versuchen in diesem tiefreligiösen Land zu verhindern, daß der sozialistische Weg in eine marxistisch orientierte und die Kirchengemeinden bedrohende areligiöse Gesellschaft führt. Pluralismus im Familienrecht und in der Kulturpolitik sind wesentliche Ziele, wie die stille Opposition gegen das kirchenlose Ujamaadorf. Auf dem Lande prägt sich der Konflikt in der Rivalität zwischen den alten Dorfeliten mit starker christlicher bzw. islamischer Basis und den jungen Kadern des Staates in Verwaltung, Partei, Schule und Krankenhaus aus. 29 Die Dynamik der tanzanischen Entwicklung während der letzten drei Jahre läßt sich am Verhalten zweier dieser Machtblöcke und der Kontroll- und Handlungsmöglichkeiten des politischen Systems exemplifizieren. Die zwei Hauptfragen der tanzanischen Politik waren: Würde sich das neue Management des staatswirtschaftlichen Sektors in die Politik des Vorranges der ländlichen Entwicklung einbinden lassen oder nach den ökonomischen Maßstäben des modernen Sektors handeln? Wie würden sich der Genossenschaftsflügel und die an der Schwelle zu rentabler Marktproduktion stehenden Kleinbauern gegenüber den kollektivistischen Anforderungen der Ujamaabewegung verhalten? Beide Komplexe bedingen sich auf das engste. Die Krise der Sozialisierungspolitik, die 1971 aufbrach, kristallisierte sich zunächst an der Managementkrise der State Trading Corporation (STC) und floß spätestens am Jahresende 1971 mit den Entwicklungen auf dem Lande zusammen. Das neue Management sah sich vor vielfältige Sachzwänge gestellt. In dem Klima eines militanten ökonomischen Nationalismus mit sozialistisch antiwestlicher Tendenz in der Propaganda mußte es im Interesse der Finanzierung der Entwicklungspolitik die Exportwirtschaft nach Westeuropa und in die USA nicht nur am Leben erhalten, sondern umstrukturieren, um die Abhängigkeit von den Monokul-
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turen zu mildern. Dies galt insbesondere für die Jahre 1964-1972, als der Weltmarktpreis für Sisal verfiel. Die Politik der Importsubstitution unterlag auch für Manager, die sich an der Agrarstruktur und dem Entwicklungsstand Tanzanias zu orientieren versuchten, dem Zwang, daß auf dem Weltmarkt nur die hochentwikkelten Produktionsmittel der Industriestaaten zu haben waren. Dies hatte volkswirtschaftlich häufig wenig sinnvolle Auswirkungen nicht nur auf Betriebsgrößen und Produktionskosten, sondern vor allem auf die betriebswirtschaftlichen Faktoren wie die Arbeitsproduktivität, Organisation der Produktion und Wartung der Produktionsmittel auf der mittleren und unteren Ebene. Diese Tendenzen einer Nichtanpassung der ökonomischen Organisation an die Situation des Landes wurde durch Verhaltensnormen des Managements verschärft. Auch sein Maßstab für Effizienz ist in Oxford, am MIT und der TH Aachen entwickelt worden. Kritische Distanz gegenüber dem dort Gelernten wird erschwert durch das verständliche, aber problematische nationale Gefühl, daß das Beste gerade gut genug für die eigene Nation sei. Da auch dieses "Beste" zugleich das organisatorisch Größere ist, kamen Karriere-Interessen an der Größe des von diesen Managern kontrollierten Apparates hinzu, sei dies nun eine überzentralisierte Behörde oder ein aufwendiges Großkrankenhaus. Diese Tendenzen werden gesteigert durch den Zwang, daß wegen des Fehlens eines technisch-administrativen Mittelbaus sowie wegen der Vielzahl der neuen Aufgaben die unmittelbare Verwaltung der Produktion ausländischen Experten überlassen bleiben muß. Diese bringen nicht nur ähnliche Interessen, sondern die Verkaufsinteressen der europäischen Produktionsmittelhersteller zur Geltung. Probleme der Planimplementierung bei getrennten Informationskreisen der tanzanischen Führung, der ausländischen Produktionsverwaltung und der tanzanischen Produktionsdurchführung verschärfen das Effizienzproblem. Standortvorteile für die Industrie in der Hafenstadt Dar es Salaam, der Zwang für das Management, enge Fühlung mit der politischen Führung zu halten, von der es selbst ein Teil ist, sowie die Konsuminteressen erleichtern eine unerwünschte Bevorzugung der städtischen Zentren. Objektiv entstehen Gegentendenzen zur offiziellen Politik, da die Abhängigkeit vom Ausland eher gesteigert als abgebaut wird, das innerbetriebliche Verhalten vom Effizienzdruck und nicht von sozialistischen Formen der Kooperation geprägt wird und das Sozialprodukt insbesondere durch Fehlplanungen leichter der Stadt zufließt und dem Lande entzogen wird. Zudem hatte das Tempo der Sozialisierung zwar mobilisierend gewirkt, jedoch die relativ kleine Spitzengruppe im Management überfordert. Diese Aussage gilt auch dann, wenn mit Bewunderung die Qualität der tanzanischen Spitzenmanager konstatiert werden kann. Positionen in den Finanzinstituten sind mit Managern wie
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Jamal, Mtei, Msuya und Nsekela besetzt, die sicherlich zur internationalen Spitzengruppe gehören. Politisch relevant wurden diese Fragen, als sich die hohen Erwartungen, die mit der Nationalisierung des Außen- und Großhandels verknüpft waren, nicht erfüllten. Überzentralisierung, Branchenunkenntnis, falsche Vorratspolitik und Schwächen im Verteilungssystem verursachten Versorgungskrisen, die die Bevölkerung in Stadt und Land gegen das politische System aufzubringen drohten. Daß diese Managementkrise sich zur Systemkrise auszuweiten drohte, ergab sich daraus, daß die Versorgungskrise auch das Land traf, und zwar zu einem Zeitpunkt, als sich die marktorientierte Bauernschaft durch die Offensive in der Ujamaapolitik, die in einigen Gebieten Elemente der Zwangskollektivierung annahm, besonders bedroht fühlte. Hinzu kam, daß der Elan der Ujamaabewegung selbst durch Ausbleiben ausreichender Produktionserfolge abbröckelte und Enttäuschte schuf. Unmut an der Gesamtentwicklung und an der Versorgungskrise begannen zusammenzufließen, ohne daß Gegenkräfte auf dem Lande bereit waren. Zur Darstellung dieser Krise ist es notwendig, die Grundzüge der oft falsch eingeschätzten oder überschätzten Ujamaapolitik und die Lage auf dem Lande zu skizzieren. Es war schon das ungelöste Problem der Kolonialverwaltung gewesen, die Masse der Kleinbauern für effizientere Produktionsformen zu mobilisieren. 30 Auf Anraten der Weltbank hatte die tanzanische Regierung nach der Unabhängigkeit ein Konzept der "settlement schemes", d.h. der Dorfbildung, betrieben, um ein erhöhtes Angebot von sozialen Diensten zu ermöglichen und Ansatzpunkte für verbesserte Agrarmethoden zu finden. Wie fast alle Projekte von Zentraldorfbildung, scheiterte auch das "settlement scheme" an zu hohen Investitionskosten für die einzelnen Bauern, an unzureichenden Vermarktungsmöglichkeiten und an den von den Bauern häufig mit Recht für den sicheren Ernteertrag auch in schlechten Jahren als zu risikoreich abgelehnten neuen Anbaumethoden. Insbesondere gelang die angestrebte Ausstrahlung auf das Umland nicht. Viele Siedlungen blieben, wenn sie existenzfähig waren, Entwicklungsinseln. Die Arusha-Deklaration von 1967, die eine Politik der "Seif Reliance" formulierte, drückte auch das Eingeständnis des Scheiterns der Siedlungspolitik aus. Nicht nur die Industrialisierungsstrategie Tanzanias mußte davon ausgehen, daß nicht genügend Auslandskapital zur Verfügung stehen würde, so daß kapitalintensive Modernisierungsmethoden, auch solche weit unter der Schwelle der Motorisierung, nicht gelingen würden. Die Ujamaa-Politik der TANU31 ging einerseits davon aus, daß die Wohlstandserwartungen der Bevölkerung nicht in den Städten, sondern nur auf dem Lande selbst erfüllt werden könnten, andererseits, daß kollektive Produktionsformen mit geringerem Kapitalaufwand die notwendige Produktivitätssteigerung auf dem Lande würden erreichen können. Die Nähe zur traditionellen kommunalen Kooperation, so nahm Nyerere an, könnte die Masse der nur marginal für den
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Markt produzierenden Kleinbauern zur Verbesserung der Produktionsmethoden veranlassen. Elemente der Siedlungspolitik blieben erhalten. Die ländliche Bevölkerung der unterentwickelten Regionen sollte eine unmittelbare Verbesserung der Lebensbedingungen erfahren. Schwerpunkte lagen in der Trinkwasser-, der Schulund Gesundheitsversorgung. Der ältere Gedanke der Produktivitätssteigerung floß mit dem Agrarprogramm Nyereres zusammen, den sozialen Differenzierungsprozeß nach Großbauern, Landarbeitern und Pächtern abzuriegeln. Das Element des Angebotes sozialer Dienstleistungen erhielt praktisch Vorrang. Die entwickelten Produktionsgebiete und damit große Teile der Genossen schaftsbauernschaft wurden aus politischen und ökonomischen Gründen umgangen. Ujamaapolitik wurde wesentlich zu einer staatlichen Sozialpolitik auf dem Lande und in gewisser Hinsicht "Arme-Leute-Politik". Ujamaa geriet damit in eine Krise. Da die besten Produktionsgebiete ausgeklammert blieben, gelang schon wegen der ungünstigen ökologischen Umstände die Produktionssteigerung in der Regel nicht. Da aber die Ujamaabewegung zur zentralen politischen Leitidee der TANU wurde, was zur Bevorzugung der Ujamaagründungen bei der Vergabe der staatlichen Mittel führte, siedelten sich unter dem Namen sehr unterschiedliche Dorfformen an. Es finden sich staatlich besonders beachtete Musterdörfer, von mittleren Bauern und ländlichen Händlern organisierte Zentraldörfer, vollkollektivierte Dörfer mit erfolgreicher Vermarktung und erster Verarbeitung, Dörfer mit Teilkollektivierung, bei denen die privaten Felder ungleich besser bewirtschaftet sind als das kommunale Land, Dörfer, die durch Umschließung mittelbäuerlichen Besitzes Landerwerb anstreben. 32 Die Heterogenität der Dörfer ließ vieles zur Fiktion werden. Staatliche Sozialpolitik weckte eher Erwartungen als Motivationen zur Selbsthilfe, jedenfalls, wenn die Erwartungen in Vermarktungschancen oder die Überlegenheit der neuen Produktionsform enttäuscht wurden. Wegen der ideologischen Schlüsselstellung des Ujamaakonzepts schlug bei TANU und Regierung die um sich greifende Enttäuschung über die Wirksamkeit in eine Offensivhaltung um. Einerseits wurden Forderungen nach Einbeziehung entwickelter Produktionsgebiete lautstark formuliert - in der Regel wurde das Zögern der Chagga angegriffen, andererseits große Kampagnen zur Umsiedlung in den unterentwickeltsten Regionen in die Wege geleitet. Weitgehend durchgeführt wurde die "Operation Dodoma", von der ca. 300 000 Menschen in einem der trockensten Gebiete erfaßt wurden - mit unvermeidlichen Mängeln in der Planung und Durchführung eines so komplexen Projektes, zudem unter ökologisch ungünstigen Umständen. Politisch entscheidend für das Ujamaakonzept wurde die Offensive unter der Führung des Regional Commissioners Dr. Klerru in Iringa. Zum ersten Mal wurde ein marktorientiertes produktives Anbaugebiet Ziel der Bewegung. Im Ismani-Tal bei Iringa hatten 1949 Lastwagenfahrer, Ladenbesitzer und Mechaniker aus Iringa,
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angeregt durch hohe Maispreise, Land in größerem Stil aufgekauft und mit Lohnarbeitern urbar gemacht sowie durch abgeleitete Gebirgsbäche bewässert. Betriebe von mehreren hundert Hektar Größe waren entstanden. Klerru griff diesen Großgrundbesitz in zweifacher Weise an: erstens durch Landverteilung an die Landarbeiter, schließlich durch Enteignung der großen Betriebe, die auf wenige Hektar Größe reduziert wurden. Die Antwort auf diesen Angriff, der zudem von Zwangsmaßnahmen für die kommunale Arbeit in den Ujamaadörfern begleitet war und nach Berichten aus der Umgegend auch Züge intellektueller Arroganz und Ungeduld gegenüber der ländlichen Bevölkerung zeigte, war die Erschießung Klerrus am 25. Dezember 1971. Der Täter fuhr die Leiche des Regional-Commissioner mit dem Kraftwagen zur Polizeistation und bekannte sich damit demonstrativ zu diesem politischen Mord. Wie das Verhalten der tanzanischen Führung erkennen ließ, war die Signal Wirkung, die von dieser Widerstandsmaßnahme ausging, von großer Bedeutung. In ihr kulminierte die ländliche Unruhe, die von der Ujamaabewegung und der Versorgungskrise ausgelöst war. Methoden und Richtung der Gegenmaßnahmen der tanzanischen Regierung und der TANU sind kennzeichnend für die Machtverhältnisse und den politischen Stil nach der Sozialisierung. Während des ganzen Jahres 1971, d.h. vor der Erschiessung Klerrus, wurde die ländliche Unruhe offensiv bekämpft. Einerseits wurde, wie skizziert, die Ujamaabewegung beschleunigt vorangetrieben, andererseits der Schwerpunkt in der Korrektur der Politik auf die intensive öffentliche Diskussion um die SJTC-Krise und die Stellung des neuen Managements gelenkt. Wichtiger Anstoß zu einer militant sozialistischen Offensive wurde ein außenpolitisches Ereignis. Mit dem Militärputsch Amins in Uganda gegen das Regime Obote schien, so läßt sich interpretieren, nach dem Urteil entscheidender Kräfte im NEC unter der Führung Großbritanniens und Israels die ökonomische und militärische Isolierung und Einkreisung des sozialistischen Unruheherdes im Januar 1971 der Vollendung entgegenzugehen. Auf dem Höhepunkt der Versorgungskrise ging die staats- und planwirtschaftliche Mehrheit der weniger entwickelten Staaten Uganda und Tanzania gegen Kenya innerhalb der ostafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft durch Umkehrung der Allianzen verloren. Der erste Grenzkonflikt zwang die TANU zur Reaktion. Die überraschende Antwort auf eine außenpolitische Bedrohung und einen Grenzkrieg war eine Wendung nach innen. Anscheinend mit beeinflußt von den 1970 in Hochverratsprozessen aufgedeckten irrealen Staatsstreichplänen Oskar Kambonas, die dieser im Londoner Exil vorbereitet hatte33, erfolgte ein Vorstoß zur Massenmobilisierung innerhalb der TANU, der auf Erschütterung der Hierarchien in Staats- und Wirtschaftsverwaltung angelegt war, die Frage des Primats der Partei gegenüber den staatswirtschaftlichen Betrieben in den Vordergrund stellte und das Recht der Basis zu spontaner Mitbestimmung in allen Institutionen verlangte.
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In einer tolerierten öffentlichen Debatte in Staats- und Parteipresse und im Staatsrundfunk wurde die Kritik an der Versorgungskrise unter egalitärem Vorzeichen gegen die Technokraten in Staat und Wirtschaft umgeleitet. Parallel dazu ging die Kampagne zum Konsumverzicht, die, obwohl mitbestimmt durch die Devisenlücke, den Leadership Code der Arusha-Deklaration nicht nur rigoroser durchsetzte, sondern durch das Instrument der Devisenkontrolle auf alle am Konsum ausländischer Waren Beteiligten ausweitete. Das Autoimportverbot für Privatwagen wurde ausgesprochen, die Gründung von Konsumläden als Konkurrenz gegen den indischen Kleinhandel eingesetzt, Schlachtereien wurden verstaatlicht, und die Hausenteignung für Häuser im Wert von über 100 000 Shillingen wurde ausgesprochen, eine Maßnahme, die zunächst den städtischen Hausbesitz der indischen Minderheit traf und dementsprechend Rückhalt in Tanzania fand. Im zweiten Durchgriff erfaßte sie aber auch Doppelbesitz und Miethäuser von Afrikanern. Schließlich wurde die STC dezentralisiert, Spitzenmanager und Minister aus dem Bereich der Industrialisierungs- und Entwicklungspolitik ausgewechselt. "Mongozo", die neuen Parteirichtlinien, führten zu spontanen Initiativen vor allem in den Städten, zu Streiks der Arbeiter gegen mißliebiges Management in den Betrieben, zu Tätlichkeiten gegen nachlässige und unhöfliche Busfahrer im überlasteten Stadtverkehr Dar es Salaams. Die Studentenschaft der Universität provozierte den Konflikt mit dem autoritären Regiment des ehemaligen Parteisekretärs Msekwa als Vizekanzler. Der Armee wurde eine Volksmiliz vor allem in den Betrieben entgegengesetzt, wenn auch bei formal positiver Kooperation, da der Armee die Ausbildung der Miliz überlassen blieb. Zwar wurde bald ein großer Teil der propagierten Spontanität mit dem Verweis auf die "official Channels" wieder eingeschränkt, es gelang aber dennoch die Mobilisierung der Massen und der Partei gegen mächtige Institutionen der Staatswirtschaft. Die Kampagne gibt sicher ein Lehrstück für die Dynamisierung in einem Einparteiensystem mit einer Zentralverwaltungswirtschaft. Sowohl Dezentralisierung der STC wie auch die von amerikanischen Unternehmensberatern empfohlene Dezentralisierung der Entwicklungspolitik milderten die ländliche Unruhe, beseitigten sie jedoch nicht. Die Ermordung Klerrus zeigte nach einem Jahr sozialistischer Offensive an, daß die Zeichen auf dem Lande weiter auf Sturm standen. Die TANU mußte sich zu der Bedrohung äußern, die Kleinbauern, Genossenschaftsbewegung und Mittel- und Großbauern in der Ujamaabewegung und in der auch finanziellen Diskriminierung der privatwirtschaftlichen bäuerlichen Produktionsform sahen. Demonstrativ tagte das NEC in Iringa Anfang April 1972.34 Es wurden neue Leitlinien zur Landwirtschaftspolitik verkündet, die als Iringa-Deklaration in die offizielle Terminologie eingingen. In ihr gab Nyerere vor der Nation zu, daß in den zehn Jahren seit der Unabhängigkeit die Produktivität in der Land-
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Wirtschaft nicht gestiegen sei, sondern es nur gelungen sei, die Anbaufläche zu vergrößern. Dementsprechend rückte die Effizienz in der Landwirtschaft in den Vordergrund. Das NEC sprach dem bäuerlichen Kleinproduzenten neue Würde zu. Die Familienwirtschaft sei nicht bedroht. Dem Genossenschaftswesen wie auch den Familienbetrieben wurde wieder normaler Zugang zu den Kreditmöglichkeiten und Berücksichtigung bei der Infrastrukturpolitik zugesagt. In seiner Budgetrede am 14. Juni 1973 wies Finanzminister Msuya auf die ersten Erfolge dieser neuen Landpolitik der Iringa-Deklaration hin, seitdem die Agricultural Development Bank in allen Bereichen der Landwirtschaft Finanzierungshilfe gewähre. 35 Damit wurde, wie es scheint, zunächst der Angriff auf das privatwirtschaftliche Klein- und Mittelbauerntum in und außerhalb der Genossenschaftsbewegung durch ländlichen Widerstand gestoppt. Ujamaa blieb indessen als Ideologie und Programm erhalten: als Ideologie, die den Vorrang der ländlichen Entwicklung betonte und als Programm für die unterentwickelten Regionen. Ebenso blieb die Absage an Großgrundbesitz und an Landwirtschaft auf der Grundlage von Landarbeiterrekrutierung erhalten. Gerade in dieser Krise des tanzanischen Systems in den Jahren 1971/1972 zeigten sich wesentliche Kennzeichen für die politischen Grundlagen in Tanzania. Die Erhaltung der einheitlichen Nationalbewegung blieb aus innen- wie außenpolitischen Gründen eine wesentliche Voraussetzung. Um dieser Einheit willen nahm die Führung einen Interessenpluralismus hin und war in kritischen Momenten zur Rücknahme wichtiger politischer Nahziele bereit. Dem entsprach die wiederholte Absage Nyereres bereits während des Wahlkampfes 1970 an eine leninistische Kaderpartei. Statt dessen zielte seine Politik auf die Erhaltung der bäuerlichen Massenpartei mit einer Art sozialistischem Zentrum. Die Sicherung einer schrittweisen Verbesserung der sozialen Dienste und der Industrialisierung setzten die Fortsetzung einer behutsamen Sicherung der Außenwirtschaftsbeziehungen und die Schonung des produktivsten Teils der Landwirtschaft voraus, dem wiederum wesentliche Zugeständnisse gemacht wurden, ohne diesen Bereich indessen in den Stand zu setzen, ein systemgefährdendes Eigenleben führen zu können. Schließlich blieb das Instrument, breite Bevölkerungsschichten gegen die Eliten als Mittel der Kontrolle einzusetzen, auch in der Phase nach der Sozialisierung erhalten, nun aber gegen Machtfaktoren innerhalb des staatswirtschaftlichen Systems. Aufrechterhalten blieb im übrigen das System der Machtbalance innerhalb von Partei und Staatsbürokratie, bei deutlichem Übergewicht des NEC.
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Einen knappen, aber hervorragenden Überblick zur Agrarentwicklung in Tanzania gibt John Iliffe, Agricultural Change in Modern Tanganyika, Historical Association of Tanzania Paper No. 10, Dar es Salaam 1971. Für die Geschichte der TANU, insbesondere der Tanganyika African Association, vgl. J. Lonsdale, Some Origins of Nationalism in East Africa. In: Journal of African History, 9 (1968), S. 131-136; im Überblick: John Iliffe, The Age of Improvement and Differentiation. In: I. Kimambo/A. Temu (Hg.), A History of Tanzania, Nairobi 1969. Hierzu K. Japhet/E. Seaton, The Meru Land Case, Nairobi 1967. I. Kimambo, Mbiru, Popular protest in colonial Tanzania, Historical Association of Tanzania Paper No. 9, Dar es Salaam 1971. L. Cliffe, Nationalism and the Reaction to enforced agricultural Change during the Colonial Period, wieder abgedruckt in: L. Cliffe/J. Saul (Hg.), Socialism in Tanzania. Vol. 1, Dar es Salaam 1972, S. 17f. Hierfür die ausgezeichnete Studie von J. Iliffe, A History of the Dockworkers of Dar es Salaam. In: Tanzania Notes and Records, (1971) 71, Sonderheft: Dar es Salaam, City, Port and Region, S. 119-148. Eine gute Studie am Beispiel der Wanyamwezi: N. Miller, The Political Survival of Traditional Leadership. In: Journal of Modem African Studies 6 (1968) 2, S. 183-198. Für Konzept und relatives Scheitern der Politik der "indirect rule" in Tanganyika vgl. R. Austen, Northwest Tanzania under German and British Rule, New Haven 1968. Eindrucksvolle Daten selbst für landwirtschaftlich entwickelte Regionen vgl. National Nutrition Survey, abgedruckt in Auszügen in: Food and Nutrition. In: E. J. Temu/K. v. Freyhold, Agriculture in Secondary Schools, Dar es Salaam 1972, S. 116 (Ms.). J.D. Thomas, Infant Mortality in Tanzania, Research paper, Dar es Salaam 1972, Seminar des Economic Research Bureaus (vervielfältigt). Am überzeugendsten J. Iliffe, Agricultural Change..., a.a.O., und Age of improvement..., a.a.O. Eine der gründlichsten Studien zur inneren Struktur der TANU mit weiterführenden Literaturhinweisen: G.A. Maguire, Toward Uhuru in Tanzania, Cambridge 1969; außerdem: H. Bienen, Party Transformation and Economic Development, Princeton 1967. Vgl. Kabinettslisten im Tanzania Directory 1961ff. Akzentuiert wurde diese Entwicklung durch den Aufstieg von Ministerpräsident Kawawa als Repräsentant des Südens und das Herausdrängen von Bomani als Vertreter der Genossenschaftsbewegung im Sukumaland. Bester Überblick für das folgende: Iliffe, Agricultural Change..., a.a.O. Für die Rückwirkungen des Zanzibar-Handels auf afrikanische Initiativen auf dem Festland: N. Bennett, Mirambo of Tanzania 1840-1884, Oxford 1971. Vgl. Andrew Roberts, The Nyamwezi. In: Tanzania before 1900, Dar es Salaam 1968, S. 117ff. Zensus von 1967, zusammengefaßt nach Distrikten in: Atlas of Tanzania, ed. from Ministry of Lands, Settlement and Water, Dar es Salaam, Beiblatt zu S. 13. Zusammenfassung mit weiterführender Literatur: M.H. Abdulaziz, Tanzania, National Language Policy and the Rise of Swahili Political Culture, wieder abgedruckt in: Cliffe/ Saul, Socialism in Tanzania, a.a.O., S. 1SS. Zum Aufstieg und Sturz Marealles 1950-1960 vgl. A.J. Temu, The Rise and Triumph of Nationalism. In: I. Kimambo/A.J. Temu, A History of Tanzania, Dar es Salaam 1969, S. 197.
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Biographische Notiz zu Nyerere in: J. Nyerere, Freedom and Unity, Dar es Salaam 1966. Marealle verlor seine politische Position durch eine Wahlniederlage gegen Eliufoo 1960. Die Abschaffung der Häuptlinge erfolgte durch Gesetz mit Wirkung vom 1.1.1963. Vgl. N. Miller, The Political Survival..., a.a.O., S. 197. D.W. Malcolm (Principal Assistant Secretary), Minute, 29.7.1952. In: Iliffe, Agricultural Change..., a.a.O., S. 37, Anm. 43. Ebenda, S. 39. Ebenda, S. 38. Wiederabdruck dieses Pamphlets Mali ya Taifa von 1958 in: J. Nyerere, Freedom and Unity, Dar es Salaam 1966, S. 55: mit Stoßrichtung sowohl gegen "wealthy immigrants" als auch gegen "rich and clever Tanganyikans". Für den aktuellen Stand des Landrechtes vgl. H.J. Jacobsohn, Afrikanischer Sozialismus und Bodenrecht - das Beispiel Tanzania. In: Verfassung und Recht in Ubersee 1973, S. 173ff. The United Republic of Tanzania, The Economic Survey and Annual Plan 1970/71, Dar es Salaam 1970. Schaubild neben S. 5 mit Vergleichsangaben für 1962 und 1969. Nyerere zu dieser Frage in: Principles and Development, memorandum for the June 1966 meeting of the National Executive Committee of TANU. In: J. Nyerere, Freedom and Socialism, Dar es Salaam 1968, S. 190f.: "And in fact this lesson has not been altogether lost on other states which have dealings with us; there is no longer any misapprehension about our sincerity when we say we want aid without strings to our political or economic policies." Das ist die zentrale Funktion des Leadership Codes der Arusha Declaration, so unvollständig er zunächst auch durchgesetzt wurde. Vgl. L. Cliffe, Personal or Class Interests: Tanzanias Leadership Conditions. In: Cliffe, Socialism..., a.a.O., S. 241f. Für diese außerordentlich kontroverse Debatte vgl. G. Shivji, Tanzania - The silent class struggle, zunächst veröffentlicht in "Cheeche" (Übersetzung von "Iskra"), dann als paper der Universities of East Africa Social Science Conference, Dez. 1970. Kommentar von T. Szentes (Ungarn): Status quo and Socialism, comments on Shivji's Paper, Tanzania - The silent class struggle. In: Maji Maji, (1971) 1. "Maji Maji" ist das Nachfolgeorgan von Cheche, nachdem wegen Propagierung der leninistischen Kaderpartei durch die USARF, einer außerhalb der TANU stehenden studentischen Vereinigung, Organ und Gruppe verboten wurden und die TANU YOUTH LEAGUE, University Branch, "Maji Maji" herausgab. Von tanzanisch na-tionalistischer Position: J.F. Rweymamu, The Silent Class Struggle in Retrospect, Paper 1972, vervielfältigt 1972, Department of Political Science, University Dar es Salaam. Die folgende Analyse der Jahre 1971/72 ist verständlicherweise noch nicht durch wissenschaftliche Literatur abgedeckt. Die Materialbasis für diese politische Interpretation beruht auf Einzelnachrichten aus der Tagespresse sowie für die Zeit der Krise auf Informationsgesprächen. Der Verfasser hielt sich z.Z. der NEC-Tagung in und bei Iringa auf. Mit Ausnahme der Hinweise auf die Schlüsseldokumente lassen sich Einzelnachweise ohne Aufführung der Beispiele nicht in diesem Rahmen einarbeiten. In dieser Betrachtung fehlt eine Analyse des Militärs. Aufgrund der Materiallage ist die Situation im Militär für Außenseiter undurchschaubar. Frühzeitig aufgedeckte Putschpläne von einzelnen Gruppen weisen auf eine uneinheitliche Orientierung hin. Vgl. L. Cliffe, Nationalism and the Reaction..., a.a.O. Grundlegend für das Konzept Nyereres: Socialism and Rural Development, Sept. 1967, abgedruckt in: ders., Freedom and Socialism, a.a.O., S. 337ff. Eine hervorragende Detailstudie hierzu: M. v. Freyhold u.a., The Potential for Ujamaa in Handeni, Seminarpaper des Department of Sociology, University of Dar es Salaam 1972. Weitere Literaturhinweise zum Ujamaaproblem: T. Möller, Tanzania: Ujamaa und Entwick-
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lungsplanung - ausgewählte und neuere Literatur. In: Dokumentationsdienst Afrika, Hamburg 4 (1972). Prozesse gegen Tibi und andere vgl. Tanzania Standard während des gesamten Jahres 1970. Abgedruckt in Daily News, 6.4.1972. Abgedruckt in Daily News, 15.6.1973.
4 Möglichkeiten einer UN-Politik für die Bundesrepublik Deutschland Aus: Politik und Zeitgeschichte, 23 (1973) 38, 22.9.1973
Die Diskussion um die Konsequenzen des UN-Beitritts für die Bundesrepublik Deutschland begann mit einer bedenklichen Verspätung, hat aber mit wachsender Beschleunigung in den letzten Monaten mehrere Phasen durchlaufen: 1. Zunächst trat mit der Verabschiedung des Aufnahmeantrags, nach dem das Bundesverfassungsgericht den Terminvorstellungen der Bundesregierung gefolgt war, Erleichterung darüber ein, die wesentlichen Stationen der Ost- und Deutschlandpolitik durchlaufen zu haben. In den Zusammenhang der Entspannungsund Normalisierungsbemühungen gehörte auch das Ende des unnormalen Zustandes, kein ordentliches Mitglied in der Weltorganisation zu sein, obwohl es seit Jahren eine aktive westdeutsche Mitwirkung in den Unterorganisationen gab. Lediglich die Frage des Wettbewerbs mit der DDR, ihres vermuteten Vorsprungs bei der Aufnahme in den Weltsicherheitsrat, bildete politisches Unbehagen. Zu diesem Gefühl der Problemlosigkeit des deutschen UN-Eintritts trug maßgeblich bei, daß mit dem Ende des militärischen US-Engagements in Vietnam eine schwierige Option vermieden werden konnte. Damit entfiel ein Konflikt, von dessen Brisanz die innenpolitische Auseinandersetzung um das offizielle Schweigen Brandts zu der amerikanischen Bombardierung von Kambodscha einen Vorgeschmack gegeben hatte. Der bundesdeutsche Beitrag zur Welthandelspolitik und zur Strategie in der zweiten Entwicklungsdekade sowie die entwicklungspolitische Aktivität im Rahmen der Assoziierungsverhandlungen der erweiterten EG vor allem mit den afrikanischen Staaten trug ebenfalls zu der Erwartung einer problemlosen UN-Rolle der Bundesrepublik bei. Vorbildlichkeit der Grundpositionen der deutschen Entwicklungspolitik und das damit verbundene internationale Renommee Epplers sowie das Prestige, daß von der deutschen Ostpolitik und dem Nobelpreisträger Brandt ausging, waren die Grundlagen dieser optimistischen Einschätzung. Bereits im Januar 1973 war indessen zu erkennen, daß zumindest aus dem Bereich der Afrikapolitik ein Zwang zum Überprüfen der deutschen Positionen ausgehen könnte. Damals hatten die Führer der Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika, die FRELIMO für Mocambique, die MPLA für Angola und die PAIGC für Guinea-Bissau, Mitgliedern des Parteivorstandes und der Bundestagsfraktion der SPD angekündigt, sie würden über die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) darauf hinwirken, daß in der UN-Aufnahmedebatte die Frage nach der deutschen Portugal- und Südafrikapolitik aufgeworfen werden würde, wenn nicht die indirekte Unterstützung Portugals im Rahmen der NATO beendet würde. Es ließ sich auch bereits erkennen, daß das "Nichf'-Verhältnis zu Guinea in der Frage der UN-Aufnahme relevant werden könnte. Bereits im Januar wiesen FRELIMO und MPLA kategorisch jede Annahme deutscher direkter oder indirekter Hilfe für
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ihre Organisationen ab, solange dieser Kurswechsel in der deutschen Afrikapolitik nicht glaubwürdig vollzogen sei. Insofern bedeutete die deutliche Absage der FRELIMO nach den jüngsten Gesprächen Wischnewskis nichts Neues. Der wiederholte Versuch, die FRELIMO ohne diese Korrektur zur Annahme von Hilfe zu verleiten, hat die Beziehungen eher verschlechtert als verbessert; denn gerade eine Befreiungsbewegung ist auf moralische Integrität angewiesen und kann keine Politik des doppelten Standards zulassen. Die deutsche Haltung in der Grenzkrise zwischen Zambia und Rhodesien signalisierte jedoch eine Bereitschaft zum Engagement, die auf Umorientierungsfahigkeit schließen ließ. Die Bundesregierung gewährte unkonventionelle Finanzhilfe für Zambia, um die Lasten der Grenz- und Transportprobleme zu mildern, und sie machte allem Anschein nach ihren Einfluß in Pretoria geltend, daß jedes Spielen mit Interventionsabsichten gegenüber Zambia zur grundsätzlichen Überprüfung deutscher Positionen führen müsse. Aber dies alles war mehr Geheimdiplomatie und der Versuch, die Mehrgleisigkeit der deutschen Politik unter Ausnutzung des Umstandes aufrechtzuerhalten, daß nicht öffentlich, nämlich vor dem Forum der Vereinten Nationen, eine verbindliche Festlegung notwendig war. 2. Parallel und nur teilweise ausgelöst durch diese Vorgänge lief die amtliche Vorbereitung auf den UN-Beitritt an. Als ihr erstes Ergebnis hat Außenminister Scheel in einer Grundsatzrede über die "Möglichkeiten der Mitarbeit in den Vereinten Nationen" (30. Mai 1973) vor der Deutschen Gesellschaft der Vereinten Nationen die Positionen des Auswärtigen Amtes vorgezeichnet.' Diese Rede signalisierte das Bewußtsein, daß mit dem UN-Beitritt der Bundesrepublik ein großer Erwartungsdruck in Hinblick auf internationale Initiativen insbesondere in Richtung auf mehr Solidarität unseres reichen Industriestaates mit der Dritten Welt ausgelöst werden könnte, dem rechtzeitig entgegenzuwirken wichtig sei. Scheel geht davon aus, daß kein Zwang zur Neuorientierung der deutschen Außenpolitik in Hinblick auf die Zweidrittel-Mehrheit des Südens in den UN bestehe, und begründet dies mit zwei Überlegungen: Er warnt einmal vor einer Überschätzung der UN. Die UN hätten als politisches Organ zur Regelung der eigentlichen politischen Konflikte weniger Kraft aufgebracht, als in der Gründungsphase erhofft worden sei. Alle wesentlichen militärischen und sicherheitspolitischen Entwicklungen seien an den UN vorbeigegangen: der Vietnamkrieg, der Nahostkonflikt, der Dialog der Weltmächte über die strategischen Waffen, die deutsche Ostpolitik und die europäische Sicherheitskonferenz. Das ist zweifellos richtig; daraus darf allerdings nicht die Folgerung gezogen werden, daß Vollversammlung und Sicherheitsrat wegen ihres geringen Durchsetzungsvermögens für das politische Generalklima in der Welt relativ unbedeutend sind. Die zweite Überlegung ging von der Tatsache aus, daß die Bundesrepublik schon in den anstelle des Sicherheitsrates und der Vollversammlung immer wichti-
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ger werdenden Unterorganisationen vertreten sei, also jenen Organisationen, die im wesentlichen der Milderung des Nord-Südkonfliktes dienen. Die Bundesrepublik sei in den UN also "kein unbeschriebenes Blatt" mehr. Insofern sei der bundesdeutsche UN-Beitritt keine besonders einschneidende Zäsur. Dennoch setzte sich Scheel dezidiert mit den Grundsätzen des deutschen Abstimmungsverhaltens auseinander, anerkannte eine Zäsur insofern, als auf den neuen Zwang zur öffentlichen verbindlichen Festlegung in vielen Konflikten reagiert werden muß. Und hier lese ich eine starke Tendenz heraus, diesem Druck nach Abstimmungseindeutigkeit auszuweichen bzw. sich darauf vorzubereiten, daß die deutsche UN-Haltung auf internationalen und auch auf innenpolitischen Widerstand stoßen werde. Das deutsche Abstimmungsverhalten werde auf dreierlei Weise bestimmt werden: - Die Bundesrepublik habe ihre Interessen als Industriestaat durchzusetzen und gerate zwangsläufig in Gegensatz zur Zweidrittel-Mehrheit des Südens. - Die Bundesrepublik werde geschlossen mit der EG abstimmen, nachdem in der UN-Gruppe der Neun ein Kompromiß in der Abstimmungsfrage gefunden sei, dies allerdings, ohne daß über die Bereitschaft zur Bündniskonformität hinaus Kriterien sichtbar würden, nach denen die Bundesrepublik auf die EG einwirken wird. - Die Bundesrepublik werde sich durch das Abstimmungsverhalten nicht zu ihren wichtigsten Verbündeten, den USA, in Gegensatz bringen lassen. Die Bundesrepublik müsse die Tatsache berücksichtigen, daß zwei Drittel der politisch wichtigen Resolutionen der letzten Vollversammlung gegen die Stimme der USA entschieden worden seien. Andere Politiker, insbesondere Willy Brandt, haben als vierten Punkt hinzugefügt, daß man sich nicht auf einen Wettbewerb mit der DDR um die UN-Mehrheit einlassen werde. Außerdem verfüge auch die DDR über weniger Spielraum in den UN, als gemeinhin angenommen werde. Auch sie werde ihre Industriestaatsinteressen wahrnehmen und werde, wie Brandt prognostizierte, zusammen mit den westlichen Industriestaaten oder wegen der relativ geringen Entwicklungshilfe auch ohne diese Industriestaaten gelegentlich auf der "Anklagebank" sitzen. Insbesondere die Ankündigung, daß das bundesdeutsche Abstimmungsverhalten sich äußerst stark an den wichtigsten Bündnispartnern orientieren wird - insgesamt sei die Bündnissicherung wichtiger als ein originärer Beitrag der Bundesrepublik zu den Problemen des Nord-Süd-Konflikts - deutet auf eine Status-quo-Politik hin, in der oft schlecht definiertes Kompensationshandeln anstelle von Sachbeiträgen zu der Vielzahl der komplizierten internationalen Probleme treten dürfte. Prägnant formulierte Scheel diesen Vorrang der Bündnispolitik als Maßstab auch für das Abstimmungsverhalten in den UN mit dem Satz: "Die Tatsache, daß die Großwetterlage der UNO von nord-südlichen Klimafronten beherrscht wird, ändert nichts an den festen Strukturen, die das ost-westliche Gleichgewicht in Europa bestim-
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men." Die sich daraus ergebende internationale Belastung in den UN werde man zu tragen haben. 3. Eine dritte Phase in der bundesdeutschen UN-Debatte wurde im August eingeleitet. Ausgangspunkt war wiederum die afrikanische Frage. Ausgelöst durch die Flut der Informationen über die Greuel des portugiesischen Kolonialkrieges, an dem nach Augenzeugenberichten der letzten Wochen auch die rhodesische Armee beteiligt zu sein scheint, wurde zumindest die Neuorientierung der deutschen Politik gegenüber den Kolonial- und Minderheitsregimen des südlichen Afrikas zu einem innenpolitischen Thema auch im Hinblick auf den bevorstehenden UNBeitritt. In diesem Zusammenhang gehören die deutlichen Aussagen Epplers zur Rolle Portugals in Afrika, dann die bereits erwähnten demonstrativen, wenn auch mißglückten Wischnewski-FRELIMO-Gespräche und schließlich die Diskussion in der OAU, ob ohne deutschen Richtungswechsel in diesen Fragen dem UN-Beitrittsantrag zugestimmt werden solle. Die Aussicht, daß die BRD zumindest einige wenige Stimmen weniger als die DDR erhalten könnte, falls nicht per Akklamation abgestimmt würde, hat diese Debatte zusammen mit dem herannahenden Eintrittstermin vorangetrieben. In Konsequenz seiner Linie, dem internationalen und innenpolitischen Erwartungsdruck im Hinblick auf das deutsche Abstimmungsverhalten nicht nachzugeben, hat Scheel, soweit aus den Nachrichten über den Tenor der ersten Entwürfe zur Rede vor der Vollversammlung erkennbar wird, aus dieser jüngsten Entwicklung den Schluß gezogen, eine weitere Grundposition bezüglich der Dritten Welt in den Mittelpunkt zu stellen: Anraten des Gewaltverzichtes auch bei essentiellen Konflikten. Mit dem Hinweis auf den Kernpunkt der deutschen Ostpolitik - Gewaltverzicht in der Frage der deutschen Einheit zu üben und Annäherung auch bei extrem kontroversen Gegenpositionen zu praktizieren - sollte der Aufforderung nach Parteinahme für die Befreiungsbewegungen in Afrika, im Grunde auch noch in Südostasien und künftig möglicherweise in Lateinamerika ein Gegen- oder auch Ausweichkonzept entgegengehalten werden. Gegenstand der politischen Kontroverse wird deshalb auch werden, ob wirklich das mitteleuropäische Modell des Gewaltverzichtes, das hier eine Lebensfrage ist, auf die Zuspitzung der Konflikte im südlichen Afrika, in Südostasien und anderen Regionen anwendbar ist, nämlich dann, wenn es um Durchbrechung innenpolitischer Herrschaftsverhältnisse und doch auch von der Bundesrepublik anerkannter unerträglicher Ungerechtigkeiten geht, und der Herrschaftsapparat nicht nur ständig auf "struktureller Gewalt", sondern auf direkter Gewalt beruht. Die Frage nach der Konsistenz eines solchen Postulates nach universalem Gewaltverzicht im Zusammenhang mit der Debatte um militante Demokratie zur Verteidigung der Grundrechte, insbesondere der Würde der Person, wird noch zu erörtern sein.
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4. In der Schlußphase der Debatte um den UN-Beitritt spielte die Frage, wie weit nicht doch mit dem UN-Eintritt Fragen der Neuorientierung an die deutsche Außenpolitik herangetragen worden sind, die dominierende Rolle, wie dies auch in den politischen Auseinandersetzungen um die Übereinstimmung der Reden Scheels und Brandts zum Ausdruck kam. Neuorientierung natürlich nur in dem begrenzten Sinne, daß zu den bisherigen Fixpunkten der westdeutschen Politik - Bündnissicherung, westeuropäische Integration und Offenhalten der deutschen Option eine konsistente Dritte-Welt-Politik kommen müsse, die dann auch Auswirkungen auf den Interessenausgleich im Bündnis der NATO und in der EG haben muß. Die Frage, wie stark dieser Zwang zur Neuorientierung wirklich ist, hängt letztlich davon ab, welches Bild von der langfristigen Weltentwicklung gerade im Hinblick auf den Nord-Süd-Konflikt den politischen Überlegungen zugrunde liegt. Der Abriß der außenpolitischen Debatte zum UN-Beitritt - außerordentlich stark überlagert durch eine Debatte um den Neutralismusvorwurf, den Zweifel am Willen zur Europapolitik und den neuen Belastungen, denen die Ostpolitik in der Berlinfrage ausgesetzt war - sollte dazu dienen, die westdeutschen politischen Positionen zum UN-Beitritt und ihre allmähliche Entfaltung unter dem Druck der Ereignisse mit wichtigen denkbaren Alternativen zur Entwicklung des Nord-SüdKonfliktes zu konfrontieren. Die Aussagen, die in diesem Rahmen gemacht werden können, gehen - auch im Interesse der leichteren Zugänglichkeit - von den vielfältigen Aussagen des nachfolgenden Beitrags von Peter Pawelka aus, der sich im wesentlichen, wenn auch sehr abstrakt formuliert, auf die Funktion der UN in den denkbaren Entwicklungen des Nord-Süd-Konfliktes bezieht, also die Optionsmöglichkeiten theoretisch und ohne Zusammenhang mit diesem Beitrag entwickelt hat. Seine Analyse, der ich im wesentlichen zustimme und die ihrer Anlage nach als Hilfe für die Entwicklungsländer gedacht ist, sei auf die deutschen Möglichkeiten in den UN angewandt. Pawelka geht in seinem Beitrag von zwei alternativen Weltstrategien aus: Es bestände für die Industriestaaten die Möglichkeit, ihre Stellung gegenüber der Weltperipherie - d.h. jenen Staaten, die am Rande des Weltwirtschaftssystems stehen - dadurch noch mehr zu konsolidieren oder gar zu verewigen, daß sie sich das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung von ökonomischen Systemen nutzbar machten, das auch für die Länder der Dritten Welt gelte. Um dem wachsenden Druck einer geschlossenen Dritten-Welt-Opposition zu entgehen, könne man nach sicherheits-, rohstoff- und absatzstrategischen Überlegungen jene Zentren oder Wachstumspole der Dritten Welt aus der Südfront ausgliedern, die für diese Überlegungen von zentraler Bedeutung sind, und Hilfe und Einfluß auf sie konzentrieren. Gerade wirtschaftlich bevorzugte Länder der Dritten Welt würden so in die Versuchung geführt, selbst eine Oligarchie oder besser eine Sub-Oligarchie mit Sonderbindung an die Industriestaaten zu bilden - wobei im Falle von Interessengegensätzen mit den Industriestaaten diese das Schwergewicht der Investitionen und der Hilfe von einem Mitglied dieser Suboligarchie auf das
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andere verlagern könnten - eine wirksame Sanktionsmöglichkeit. Für den Rest gäbe es dann die Armenhaushilfe. Diese Möglichkeit würde dadurch verstärkt, daß auch die sozialistischen Industriestaaten, wie das Abstimmungsverhalten in der UN erkennen ließe, immer mehr zu einer diskreten Unterstützung der kapitalistischen Industriestaaten in Fragen der Weltwirtschaftspolitik tendierten. Diese Möglichkeiten einer umfassenden Industriestaatenstrategie würden also durch den Mangel an Kommunikation und Handel zwischen den Ländern der Dritten Welt noch verstärkt. Außerdem wirke das gegenwärtige Übergewicht der Vertreter der Industriestaaten in allen strategischen Positionen der Unterorganisationen in die gleiche Richtung. Verfüge doch z.B. die von den großen Industrienationen kontrollierte Weltbankgruppe bereits heute über ein umfassenderes Datensystem für die Dritte Weltökonomie als diese Länder selbst. Hinzu käme die wachsende Kohärenz des westlichen Wirtschaftssystems, die sich daraus ergäbe, daß nur noch 17 Staaten ein größeres Bruttosozialprodukt aufwiesen als General Motors und die multinationalen Konzerne bereits 23 Prozent des Bruttosozialproduktes der nicht-sozialistischen Länder kontrollierten. Demgegenüber entwickele sich mit überraschendem Erfolg die Gegenstrategie der Länder der Dritten Welt, wie etwa die gemeinsame Ölpolitik, die gemeinsame Ablehnung der handelspolitischen Vorschläge der EG durch die afrikanischen Länder und die Rohstoffsicherungspolitik, wie sie auf der Konferenz von Algier, aber auch in der Ausweitung der Drei-Meilenzone zum Ausdruck komme. Nun ist die Hoffnung auf Isolation der strategisch wichtigen Wachstumspole eine nicht nur große Versuchung, sondern auch bereits praktizierte Politik, wie die Investitionszahlen, die private Entwicklungshilfe und staatliche Ausfallbürgschaften für Brasilien, den Iran, das südliche Afrika und andere kleinere Rohstoffbasen zeigt. Dies wird um so leichter möglich, als die Tendenz eines Parallel Verhaltens der sozialistischen Industriestaaten wächst. Geht doch jetzt bereits die Nachricht durch die Presse, daß selbst China im Interesse der Sicherung der strategisch wichtigen Chromversorgung die UN-Sanktionen gegen Rhodesien auf dem Umweg über Portugiesisch-Macao durchbreche, ebenso wie dies durch deutsche Firmen auf dem Umweg über Mocambique und Südafrika geschieht. Dennoch erscheint diese Strategie auf Grund einer Reihe von Indizien - ganz abgesehen von den moralischen Implikationen eines Rest-Weltarmenhauses - nicht nur lang-, sondern auch mittelfristig als wenig aussichtsreich. Um wiederum von Pawelkas Organisationsanalyse auszugehen: Es wäre ein Trugschluß, aus der Unfähigkeit der UN, sich in zentralen machtpolitischen Fragen durchzusetzen, auf eine Abschwächung der Tendenzen zu universalen Organisationen zu spekulieren, wenn auch die Mehrzahl dieser Organisationen zunächst im Interesse der komplexeren Industriesysteme errichtet wird. Ganz im Gegenteil, seit dem 19. Jahrhundert hätten sich mit wachsender Intensität fast 100 Superorganisationen gebildet, die teilweise oder ausschließlich aus transnationalen Einheiten bestünden. Gerade das
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Scheitern der UN in der politischen Kontrollfunktion hätte diese Tendenz verstärkt. Diese Superorganisationen seien mehr und mehr auf Konsensbildung angewiesen, die bevorzugt in den Unterorganisationen der UN praktiziert werde, Unterorganisationen, die immer ausschließlicher zu Instrumenten der Entwicklungshilfepolitik des Südens geworden wären und deren Etat das mehrfache der Zentralorganisation betrage. Selbst in dem so häufig abgewerteten Vermögen der UN, Konflikte zu regeln, würde die Kraft der informellen Kommunikation unterschätzt. Es lasse sich der Nachweis führen, daß das Verhalten der UN innerstaatlich immer mehr antizipiert würde, auch wenn nur die Hälfte der Weltkonflikte von der UN aufgegriffen und davon nur ein Drittel gelöst werde. Dies alles trage insbesondere zur Kohärenz der Politik der Länder der Dritten Welt bei. Mittelfristig wird von den Industriestaaten vor allem die Fähigkeit der Entwicklungsländer zur potentiellen Gegenstrategie unterschätzt. Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung kann sich auch durch eine Hegemoniebildung von Ländern der Dritten Welt untereinander auswirken, die den Wachstumspolen Emanzipationsmöglichkeiten und damit Alternativen gegenüber der Abhängigkeit von den Industriestaaten anbieten. Bei der Abhängigkeit der Industriestaaten von Wachstumserfolgen für die innenpolitische Machtsicherung wird schließlich die ungleichmäßige Entwicklung auch nicht vor den Industriestaaten haltmachen und Einheitsfronten zerbrechen lassen, d.h. diese werden in Rohstoff- und Investitionsfragen mit Ländern der Dritten Welt Koalitionen suchen. Am gravierendsten für eine Debatte über den Zwang zur Umorientierung ergeben sich Konsequenzen aus einer Politik, die ein Rest-Armenhaus in Kauf nehmen würde. Die Folgen für den Weltfrieden sind unkalkulierbar. Um dies zu illustrieren, braucht man nur die Kraft, die von der Verzweiflung der doch wirklich kleinen Gruppe der Palästinenser ausgeht, auf die Hundert-Millionen-Dimension umzudenken, die für viele Mittelstaaten der Dritten Welt gilt. Wie weit diese Oligarchiebildung und Armenhausperspektive bereits gediehen ist, hat Eppler in seinem dramatischen Appell auf der UNIDO-Weltkonferenz im Juli 1973 ausgesprochen. Zum Thema des Transfers einer auf die Bedürfnisse der Dritten Welt angepaßten Technologie meinte er, er sehe "für viele Länder nur noch wenig Hoffnung", wenn dieser Transfer nicht gelinge. D.h., er hielt bereits aus diesem Grunde die Armenhausentwicklung für kaum noch aufhaltbar und fügte hinzu, daß sein Eindruck sei, daß es "mächtige Interessen in den Industrieländern gibt, die das Entstehen einer solchen Technologie nicht wünschen" 2 . Eine Mehrheit der Länder der Dritten Welt "ohne Hoffnung", das ist eine Perspektive des Jahres 1973, die in der Tat einen Zwang zur Umorientierung aus Anlaß des UN-Beitritts auslösen muß. Für die deutsche Politik ergeben sich daraus im wesentlichen zwei Möglichkeiten, wenn man die verschiedenen Varianten von Mehrgleisigkeit nicht einrechnet:
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Entweder die Bundesrepublik schwimmt in enger Fühlung mit der EG-Zentrale und deren besonderer Empfänglichkeit für industrielle und agrarische Lobby in einem Geleitzug, der auf eine Oligarchiebildung in der Dritten Welt hinwirkt. Sie wäre dabei wegen der sicherheitspolitischen Verwundbarkeit und der Tradition der Hypostasierung dieser Verwundbarkeit sehr anfällig, die Interessen der übrigen Industriestaaten in vielen Einzelfragen vorrangig wirksam werden zu lassen, ganz zu schweigen von der geringen Manövrierfähigkeit für den Fall des Koalitionszwanges mit Wachstumspolen in der Dritten Welt, falls die Suboligarchie sich in Einzelfällen emanzipiert. Demgegenüber bliebe die bisherige Entwicklungspolitik als eines mehr auf Appeasement der Dritten Welt denn auf grundsätzlichen Wandel gerichteten Nebenstranges erhalten. Oder aber die BRD praktiziert Initiativen - getragen von dem bedeutenden Beitrag zur Entspannungspolitik, manövrierfähig durch den Status als Mittelmacht und als hochentwickelte industrielle Großmacht innerhalb des Bündnisses, der EG und dann der UN - , die gegen diese Obligarchiebildung und den voraussehbaren Gewaltausbruch des Welt-Armenhauses angelegt sind. Um wieder auf die Systematik Pawelkas zurückzukommen: Die Glaubwürdigkeit einer Politik der "Solidarität mit der Dritten Welt", wie sie auch Scheel formuliert hat, wird sich daran messen lassen, 1. ob die wenigen Wachstumspole der Dritten Welt weiter so bevorzugt behandelt werden wie bisher; 2. ob mit allem Nachdruck die bundesdeutsche Bürokratie in den Unterorganisationen so eingesetzt wird, daß sie Chancengleichheit für die Weltwirtschaft der Dritten Welt durch Zuarbeit anstreben (Organisations-Solidarität) oder ob den bundesdeutschen UN-Experten vornehmlich Aufgaben zugewiesen werden, die überwiegend den Interessen der Industriestaaten zugute kommen; 3. ob sich die Bundesrepublik an die Entwicklungsstrategie der UN-Vollversammlung hält und mindestens 0,6 Prozent ihres Bruttosozialproduktes als Entwicklungshilfe aus öffentlichen Mitteln leistet, statt des bisherigen Beitrages von 0,31-0,34 Prozent (und Zielvorstellungen bis 1978 von 0,42 Prozent, d. h. dem Stande von 1969)3; 4. ob westdeutsche Initiativen in der NATO und der EG sichtbar werden, die sich mit dem Druck der Commonwealth-Partner Englands, Neuseelands und Kanadas in der Rhodesienfrage im August 1973 vergleichen lassen, ohne daß die Bündniskonformität als Deckmantel für Passivität und Industriestaatsegoismus verwendet werden; 5. ob sich westdeutsche Initiativen in der Menschenrechtsfrage nicht nur gegen die DDR und die Sowjetunion, sondern auch gegen das südliche Afrika und Portugal richten; 6. ob sich die Bundesrepublik parteilich verhalten wird, wenn die Befreiungsbewegungen Gewalt anwenden und diese Gewalt eindeutig Gegengewalt gegen die strukturelle ungerechter Systeme ist. Als Maßstab für die Beur-
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teilung von struktureller Gewalt eignet sich der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes. Diese Punkte weisen sicher nicht auf umwälzende Schritte, sondern auf Indizien zu Tendenzen der Umorientierung hin. Umwälzende Maßnahmen wie die Veränderung der "terms of trade", der planmäßigen Strukturpolitik unter Aufgabe von Wirtschaftszweigen, die Standortvorteile in der Dritten Welt hätten, oder das Vorantreiben einer internationalen Gewerkschaftsbewegung, die das Ausspielen der Arbeitskräftereserven gegeneinander minimieren könnte, sind bei der gegenwärtigen Interessen- und Bewußtseinslage noch ohne reale Aussichten. In diese außenpolitische Betrachtung sind moralische Positionen eingegangen. Als Schlußüberlegung seien deshalb über das Verhältnis von Interessenpolitik und moralischen Positionen einige Feststellungen getroffen, die für die künftige UNPolitik von Bedeutung sind. Sowohl Brandt (die Bundesrepublik werde "von ihrer Interessenlage ausgehen, von nichts anderem") als auch Scheel haben sich mit deutlicher Akzentuierung gegenüber einem moralisch motivierten Erwartungsdruck zugunsten der "Interessenpolitik" entschieden. Der Ruf nach einer "Interessenpolitik" am Vorabend des UN-Beitritts hat eine ideologische Funktion. Er will dem moralischen Postulat nach Chancengleichheit der Dritten Welt ausweichen. Ebenso ist die starke Betonung der moralischen Positionen durch Vertreter der Dritten Welt, die ihrem innenpolitischen Standard nicht immer entspricht, aus der Position des Ohnmächtigen abzuleiten und dient der Integration der Ohnmächtigen so, wie Solidarität der Kampfruf der Arbeiterbewegung in Europa war, ohne daß aus dem Versagen einzelner der Verzicht auf Emanzipation abgeleitet werden kann. Soweit nun das Erbe des Kolonialismus und des Rassismus hineinspielen, dient die moralische Abwehr und Ablehnung etwa des weißen Südafrika nicht nur Sicherheitsinteressen des unabhängigen Afrikas, sondern sie leiten aus der Existenz und Förderung dieser Systeme den Verdacht ab, daß nach wie vor auch die eigene Menschenwürde in Frage gestellt wird. Die Duldung der Rassenpolitik in Südafrika durch Europa, auch die Verurteilung der Gewaltanwendung, wirkt als Dolchstoß gegen die neue Identität nicht nur des unabhängigen Afrikas, sondern der Entkolonisierten dieser Welt schlechthin. Führende Intellektuelle der Dritten Welt haben dies der deutschen Regierung und der Öffentlichkeit durch die Massenmedien und die Kirchen immer wieder klarzumachen versucht. Welche Kräfte aus einer solchen Versagung der Identität erwachsen können, läßt sich daraus ermessen, was aus der vergleichsweise geringfügigen Verletzung der deutschen Identität durch den Schuldspruch von Versailles erwachsen ist, als sich diese mit einer sozialen Krise verband. UN-Politik muß im strategischen Interesse des Weltfriedens - nämlich im Interesse der Kommunikationsmöglichkeit mit der Dritten Welt - moralische Politik sein. Sie hat in so später Stunde, in der die Strukturschwächen der Weltgesellschaft
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kaum noch rechtzeitig überwindbar scheinen, die entscheidende Funktion des Zeitgewinns durch Vertrauensgewinn und ist in diesem Sinn ohnehin "Interessenpolitik". Bei dem Zwang zu immer weiterer Universalität - mit oder ohne Suboligarchien - wird internationale Solidarität auch an der moralischen Integrität der deutschen Position gemessen werden. Hier liegen Möglichkeiten gerade für den Mittelstaat Bundesrepublik, gerade auch im Rahmen des Bündnisses und der EG. Die deutsche Außenpolitik benötigt eine neue Dimension, und diese Dimension wird das Bündnissystem mit umschließen und verändern müssen.
Anmerkungen
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Eine ausführliche und kritische Auseinandersetzung mit dieser Rede vgl. Helmut Bley, Gibt es ein Regieningskonzept zum deutschen Abstimmungsverhalten in den UN?. In: Die Neue Gesellschaft, (1973) 9 , S. 673-677. Bulletin der Bundesregierung, Nr. 87, 13. Juli 1973. Angaben bei Hans Martin Schmid, Neue Aspekte der Entwicklungspolitik. In: Die Neue Gesellschaft, (1973) 9, S. 669.
5 Zusammenhänge zwischen Industrialisierung und Revolution, erläutert am Beispiel der Entwicklung in Japan und China aus: Rainer Tamchina/Imanuel Geiss (Hg.): Ansichten einer künftigen Geschichtswissenschaft. Bd. 2, München 1974, S. 150-175. ® Carl-Hanser Verlag, München-Wien
Dieser Beitrag geht davon aus, daß die Industrialisierung und die Kette der neuzeitlichen Revolutionen insofern in einem Zusammenhang stehen, als die großen ökonomischen Strukturveränderungen in der Neuzeit insgesamt eine Beschleunigung der ökonomischen und sozialen Entwicklung bewirkt haben, die die generelle Vorbedingung für die großen revolutionären Umbrüche bildeten. Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen vergleichbaren Strukturkrisen in der Neuzeit und in älteren Agrargesellschaften. Der Revolutionsbegriff kann deshalb mit dem ökonomischen Wachstum verbunden werden, das in Europa zur Kommerzialisierung der Agrarproduktion und schließlich zur vollen Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise durch die Industrialisierung geführt hat. So läßt sich das Thema Industrialisierung und Revolution unter der Fragestellung abhandeln, welche Umstände bei der von Westeuropa, besonders von England, ausgehenden Beschleunigung der Wachstumsprozesse in den Agrargesellschaften zu großen Revolutionen führten. Außerdem besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der ersten Industrialisierung in England und der großen Revolution in Frankreich von 1789, weil die Handwerker, Arbeiter - der alten Gewerbe und an den neuen Maschinen sowie die Fachkräfte, die die modernen Maschinen herstellten, ihren Protest gegen die Auswirkungen der Industrialisierung mit der Idee der Revolution verknüpften. Sowohl der Widerstand gegen die Unerträglichkeit der Industrialisierung für die arbeitende Bevölkerung wie auch gegen die wachsende Distanz zwischen den Klassen verband sich im wesentlichen mit dem politischen Programm des Jakobinismus. Auch die Führungsschicht in England reagierte gegen die soziale Bewegung mit Revolutionsfurcht, die in der Französischen Revolution begründet war. In seinem mittlerweile klassischen Werk "The making of the English working class" geht Thompson so weit zu konstatieren, daß die Form, die das Bewußtsein dieser neuen Klasse in der Auseinandersetzung mit der Industrialisierung gefunden habe, wesentlich von der politischen Kultur des Jakobinismus geprägt worden sei. 1 Jedenfalls ergab sich die Möglichkeit, als politische Antwort auf die kapitalistische Industrialisierung revolutionär zu reagieren, durch die parallel verlaufende Französische Revolution. Schließlich wird die Industrialisierung selbst häufig als "Revolution" bezeichnet. Damit ist in der Regel zweierlei gemeint: 1. Die "industrielle Revolution" brachte den Durchbruch einer Produktionsweise, der sich als irreversibel erweist. Seit dieser "Revolution" steigerte sich die Entfaltung der ökonomischen Kräfte unaufhaltsam und hatte soziale und politische Umwälzungen zur Folge, die oft "revolutionär" genannt werden. Gemeint ist damit
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aber der Begriff "epochemachend", wie er auch sonst zur Periodisierung und Abgrenzung von umfassenden strukturellen Umwälzungen Verwendung findet. Allerdings ließe sich argumentieren, daß dieser Epocheneinschnitt von grundsätzlicher und universeller Bedeutung ist und aus den übrigen Periodisierungsschemata herausfällt. 2 2. Zu dem Begriff der industriellen Revolution wird häufig mitgedacht, daß sich die Industrialisierung in einer revolutionär kurzen Periode durchgesetzt habe. Allerdings gilt für England und die USA eher das Gegenteil. Gerade die erste Industrialisierung hat sich graduell über einen längeren Zeitraum hinweg und überdies ohne abrupte politische Umbrüche und den Austausch von Führungsschichten vollzogen. 3 Obwohl es wünschenswert wäre zu überprüfen, ob die vorherrschende Meinung hinreichend begründet ist, daß die Englische Revolution des 17. Jahrhunderts ausreichend Elastizität geschaffen habe, um die Verwandlung eines kapitalistischen Agrar- und Fernhandelssystems in eine vollindustrialisierte Gesellschaft ohne Revolution zu leisten, soll diesem Aspekt nicht nachgegangen werden. Vielmehr ist hervorzuheben, daß trotz des tiefgreifenden Wandels, den Industrialisierung bewirkt hat, alle Vollindustrialisierungen - zumindest bislang4 gerade nicht zu vollendeten Revolutionen führten. 5 Die großen dem Industrialisierungsprozeß in England nachfolgenden Revolutionen bis hin zur chinesischen und auch die revolutionären Entwicklungen in der Dritten Welt gewannen ihre soziale Brisanz überdies überwiegend aus der agrarischen Frage, allerdings einer agrarischen Frage, die durch die Fernwirkungen der Industrialisierung neu gestellt wurde. Die Bedeutung dieser Fernwirkungen soll im Mittelpunkt der Erörterung stehen. Das neue Weltmarktsystem überformte umfassender, als dies durch die Expansion Europas im 16. Jahrhundert der Fall war, alle gesellschaftlichen Prozesse in der Dritten Welt, und zwar nicht nur durch die direkte koloniale Besetzung. Der Eingriff erfolgte auf verschiedenen, aber miteinander verbundenen Wegen. Der Fern- und Waffenhandel - in Afrika auch der Sklavenhandel - veränderte regionale Machtverhältnisse, bot traditionellen Führungsschichten - aber auch Usurpatoren - neue Möglichkeiten der politisch-militärischen Organisation. Es vergrößerte sich die soziale Distanz durch neue Chancen zur Bereicherung. Traditionelle Zentren verödeten, Randgebiete wurden zu Wachstumszonen. Die agrarischen Produktionsverhältnisse wurden durch exportfähige Produkte und durch Nahrungsmittelproduktion für die neuen Zentren verändert. Teilweise erfaßte dies auch die Subsistenzwirtschaft, indem neue Nutzpflanzen die Nahrungsgrundlage bildeten oder aber die Arbeitskräfte abgezogen wurden. Traditionelles Handwerk und die Textilproduktion wurden zerstört, die einheimischen Kaufleute durch exterritoriale Sonderrechte der Europäer und die erhöhte Kapitalkraft der Industriemächte um ihre Entwicklungschancen gebracht.
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In der kausalen Verkettung schwer fixierbar, begünstigte die neue Entwicklung Bevölkerungswachstum, das seinerseits wesentliche Impulse für die Veränderung der politischen Struktur gab. Parallel dazu stellte sich die Legitimationsfrage für alle Führungsschichten. Sowohl die christliche Missionsbewegung, die mit der Marktexpansion ihren Aufschwung nahm, als auch das Vorbild der technisch-organisatorischen Effizienz der imperialistischen Staaten verursachten schwerwiegende ideologische und politische Spannungen und trugen zur Herausbildung neuer Eliten bei. Damit wurden vorgegebene Spannungen in diesen Gesellschaften verschärft und neue Konflikte geschaffen. Insgesamt wuchs das Revolutionspotential.6 Um so auffälliger ist, daß dennoch Revolutionen die Ausnahme bildeten. Insbesondere das japanische Beispiel wird deshalb auch im Hinblick darauf untersucht, warum gerade in dem am intensivsten industrialisierten Land eine Revolution ausblieb. Die Vermutung liegt nahe, daß bei durchgreifenden Industrialisierungsprozessen zugleich mit den wachsenden sozialen Spannungen die Machtmöglichkeiten und die ökonomischen Möglichkeiten zur Revolutionsverhütung oder sogar der sozialen Befriedung wachsen, selbst dann, wenn - wie in vielen nicht-industrialisierten Ländern - lediglich moderne Machtmittel importiert wurden. Wie weit Vollindustrialisierung revolutionäre Lagen verhindert, hingegen die Fernwirkungen der Industrialisierung verstärkt revolutionäre Lagen schafft, soll am Beispiel Japans und Chinas erörtert werden. Damit wurden zwei Gesellschaften ausgewählt, die, obwohl benachbart und kulturell eng aufeinander bezogen, ganz unterschiedlich auf die Fernwirkungen der Industrialisierung und die direkte imperialistische Bedrohung durch Europa und Amerika reagiert haben. Japan ist der wohl klassische Fall einer Nachfolgeindustrialisierung, ohne daß es vorher zu einer politischen und ökonomischen Abhängigkeit von den älteren Industriestaaten kam. Das heißt, interne japanische ökonomische und soziale Prozesse haben diesen Industrialisierungsprozeß außerordentlich stark bestimmt. Am Anfang des eigentlichen Industrialisierungsprozesses fand ein politischer Machtwechsel statt, der einem Auswechseln der traditionellen Führungsschicht gleichkam und dennoch nicht in eine Revolution einmündete. Es ist dies die bekannte MeijiRestauration von 1868. China dagegen ist durch die europäisch-amerikanische und insbesondere durch die japanische Expansion mit einer Intensität getroffen worden, die sogar die territoriale Integrität des Riesenreiches in Frage stellte. Wie in Japan gab es Modernisierungsstrategien, um die Krise zu bewältigen. Sie scheiterten jedoch; entscheidend wurde stattdessen für die große Chinesische Revolution die von den Kommunisten organisierte agrarische Protestbewegung.
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Japan Die aufsehenerregende Entwicklung Japans seit der Meiji-Restauration 1868 ist oft als "Revolution von oben" und die ca. 15 Jahre später einsetzende Industrialisierung als "Industrialisierung von oben" beschrieben worden. Daß dies eine typische Möglichkeit für Nachfolgeindustrialisierungen war, wird in der Regel an den Parallelen in Preußen-Deutschland, der Industrialisierung der Sowjetunion unter Stalin und gegenwärtig der "weißen Revolution" im Iran diskutiert.7 Das Konzept von Rostow hat diese Machbarkeit von industrieller Revolution im Auge, wenn er aus der historischen Erfahrung ableitet, daß generelle Vorbedingungen erfüllt sein müßten, um eine Industrialisierung zu gewährleisten. Diese Vorbedingungen können durch die historischen Umstände gegeben oder eben organisiert werden. Daß mit dem "Antikommunistischen Manifest" der "Stages of Economic Growth" ein Konzept der Revolutionsverhütung angeboten wird, unterstreicht den Zusammenhang zu unserem Thema. Mit der Meiji-Restauration 1868 wurde die seit 1603 bestehende Militärhegemonie des Tokugawa-Clans beendet und die Tokugawa aus der Position des Militärdiktators als Shogun - d. h. oberster militärischer Berater - verdrängt. 8 Eine kaiserliche Regierung unter der Vorherrschaft rivalisierender Clans übernahm die Macht. Die Akteure dieses Machtwechsels, die den Kaiser Meiji zur neuen Symbolgestalt machten, waren vorwiegend Samurais aus der Verwaltung der Feudalherren und des Hofes, die zusammen mit Söhnen der reichen Bauern aus Handelshäusern und den großen Clans selbst Modernisierungskonzepte verfolgten, als die westliche Bedrohung unabweisbar wurde. Sie verließen den feudalen Rahmen rivalisierender Clans und bildeten mit einem staatsstreichähnlichen Modernisierungsvorstoß die Feudalstruktur selbst um, aus der sie hervorgegangen waren. Sie organisierten den Modernisierungs- und Industrialisierungsprozeß, der Japans Durchbruch zur Großmacht begründete. Dies geschah, ohne daß sich ableiten ließe, daß hier neue, dem europäischen Bürgertum vergleichbare Schichten den Machtwechsel getragen und die Modernisierung vorangetrieben hätten, obwohl in der Literatur die Bedeutung der Unterstützung durch Handelshäuser und Großbauern umstritten ist. Unbestreitbar haben vorwiegend Kräfte aus der Feudalschicht selbst die feudalen Oberherren (daimyos) und in einem zweiten Schlag die aristokratische Schicht der durch Reisstipendien finanzierten Krieger (samurai) ihrer feudalen Privilegien beraubt. Damit wurde eine ganze Schicht von Vertretern der eigenen Klasse mit einer Mischung aus Gewaltsamkeit und Kompensation teils entmachtet, teils in der großen Masse zur modernen Unter- und Mittelschicht degradiert oder aber mit besonderen Investitionschancen im angestrebten bürokratisch-kapitalistischen System ausgestattet. Wie eine solche Selbstabschaffung und Selbsttransformation einer Feudalschicht möglich und zugleich in Hinblick auf das angestrebte Ziel der Industrialisierung auch erfolgreich sein konnte, bedarf der Erklärung.
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Der Modernisierungsprozeß entwickelte sich auch aus der Legitimationskrise der feudalen Militärdiktatur. Die Tokugawa waren dem imperialistischen Vorstoß der USA (1853 Commodore Perry in Japan) und anderer europäischer Staaten nicht gewachsen. Die Meiji-Reformer standen vor der Frage, ob sich das Vorbild der Industriestaaten und die Möglichkeiten, die der Weltmarkt anbot, für das Gelingen dieser dramatischen Selbsttransformation einsetzen ließen. Voraussetzung dafür war, daß auch für eine "Industrialisierung von oben" die generelle ökonomische und soziale Vorbedingung für ökonomisches Wachstum gegeben sein mußte. In dem Maße, in dem für das Japan des Tokugawa-Shogunats seit Beginn des 17. Jahrhundert ein Wachstumsprozeß nachweisbar ist, der durch regionale Differenzierung in der Agrarproduktion, überregionale Marktbildung, verstärkte Urbanisierung und die Ausbildung von Manufakturen geprägt ist, wird der Erfolg des Modernisierungsvorstoßes erklärlich. Nun ist die Bewertung einer wirtschaftlichen Gesamtentwicklung in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sehr selten eindeutig. Zweifellos läßt sich aber die ältere Forschung, die den amerikanischen Vorstoß zur Epochenscheide machte ("Japan since Perry") 9 , als überholt bezeichnen. Unbestritten ist, daß Japan seit dem frühen 17. Jahrhundert eine sich dynamisch entfaltende Agrargesellschaft war. Trotzdem läßt sich auch nicht das Extrem vertreten, Japan sei von sich aus auf dem Wege zur Industrialisierung gewesen. Wer von überdurchschnittlichem Wachstum ausgeht, verlegt dies in zahlreiche ländliche Zentren und reduziert sowohl die europäische Einwirkung als auch die Bedeutung der Planung von Industrialisierung an einigen Schwerpunkten. Alsdann würde sich auch die Bedeutung der Reformgruppe im Machtzentrum relativieren. Wer vor 1868 nur durchschnittliches Wachstum sieht - eine reiche, aber mit grundlegenden Strukturschwächen behaftete Agrargesellschaft, gerade auch wegen des Unvermögens eines feudalen Systems, an neuen Formen des Wirtschaftswachstums finanziell zu partizipieren - , wird automatisch den zentralistischen Durchbruch einer "Revolution von oben" betonen. Da die Legitimation der Militärdiktatur in der militärischen Effizienz zur Abwehr der Außenbedrohung lag, die mithalf, den Modernisierungsvorstoß zu erzwingen, tritt dann auch die amerikanische Bedrohung als Stimulans für die Modernisierung um so mehr hervor. 10 Die historische Entwicklung in Japan hat eine Mischung aus beiden Entwicklungssträngen begünstigt. Wirtschaftswachstum und soziale Planifikation im Rahmen eines Feudalsystems waren ihr Kennzeichen. Gerade die Verbindung von Wachstum und Planifikation war auch das Merkmal der Revolution von oben. Das Wirtschaftswachstum Tokugawa-Japans war paradoxerweise das Ergebnis eines durchgreifenden Stabilisierungsversuches, mit dem der Tokugawa-Clan als Sieger in den feudalen Hegemonialkämpfen den Status quo sichern und die Erweiterung rivalisierender Machtzentren behindern wollte. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts war in Japan die Chance für rivalisierende Koalitionen von Daimyo-Clans entstanden, daß der stärksten Koalition die Oberherrschaft über die japanischen
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Hauptinseln zufallen könnte. In den Feudalkriegen, die um die Kontrolle des kaiserlichen Hofes, um die Zerstörung des Landbesitzes rivalisierender Clans und die Sicherung der bäuerlichen Reisproduktion gingen, setzte sich 1603 schließlich die Koalition unter Tokugawa Jeyasu durch. Er errang die formale Legitimation zur Oberherrschaft mit dem Titel des Shoguns. Das Tokugawa-Shogunat war militärisch jeder gegen sie gerichteten Allianz anderer Clan-Gruppen überlegen. Die militärische Macht beruhte auf dem Steueraufkommen aus der bäuerlichen Reisproduktion - jener Gebiete, die unter direkter Kontrolle der Tokugawa standen und 25 Prozent des nutzbaren Landes in Japan ausmachten. Es waren dies zugleich die Regionen von strategischer Bedeutung in Zentral-Japan. Das restliche Japan war unter 250 Daimyos aufgeteilt, deren regionale Einheit "han" hieß." Der Schwerpunkt der Daimyo-Opposition lag in den "hans" Südwest-Japans. Von dort aus, dem bevorzugten Einfallstor chinesischer und westlicher Einflüsse, sollte 250 Jahre später die Überwindung des Tokugawa-Systems ausgehen. Dieser Opposition die Erweiterung ihrer Machtbasis zu entziehen und zugleich die bäuerliche Produktion besser abzuschöpfen, lag der Politik der Tokugawa zugrunde. Die militärische Überlegenheit der Tokugawa war die Grundlage dafür, daß im Interesse der Konsolidierung der Macht eine planvolle soziale Reorganisation durchgesetzt wurde. Sie nahm einen Umfang an, wie sie sonst für feudale oder auch nur agrarische Gesellschaften ohne Beispiel ist. Kernpunkt dieser geplanten Reorganisation war, feudalen Rivalen die ökonomische Basis für eine Revision der Zustände zu zerschlagen. 1. Dem diente die Politik, Landbesitz sowohl aus "disziplinarischen" Gründen als auch im Falle von Erbstreitigkeiten an sich zu ziehen. 2. Den Daimyos wurde extremer Luxuskonsum dadurch aufgezwungen, daß die Clan-Führer mit ihren Familien und großem Gefolge eine zweite Residenz in Edo (später Tokyo) errichten und dort für mehrere Monate im Jahr leben mußten. Als Nebenwirkungen ergaben sich Kontrolle durch faktische Geiselnahme und neue Möglichkeiten, einheitliche Verwaltungsprinzipien durchzusetzen. In unserem Zusammenhang ist der doppelte ökonomische Effekt wichtig: die Blockierung von Kapitalakkumulation bei den Rivalen und die Ausbildung des Urbanen Zentrums Edo, das vom Dorf (1692) zur größten Stadt der Welt (1731) heranwuchs und zusammen mit Osaka ein bedeutendes ökonomisches Zentrum bildete. 3. Das Shogunat übernahm die volle Kontrolle der Verbindungen zum Ausland, insbesondere zu den Portugiesen, einmal im Interesse des Einnahmemonopols, zum anderen aber, um den Clans unabhängige Quellen zur wirtschaftlichen Entwicklung zu verschließen. Aus Gründen der religiösen Einheitlichkeit, insbesondere nachdem feudale Opposition gegen die Tokugawa zeitweise mit der christlichen Missionsbewegung zusammenfloß, schlug diese Kontrollabsicht gegenüber Außeneinflüssen in die bekannte vollständige Abschließungspolitik Tokugawa-Japans um. Nur China und Holland behielten über den Hafen Nagasaki einen streng kontrollierten Zugang zu
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Japan. Über diese Stelle blieb die Tradition der kommerziellen und intellektuellen Kontakte mit der Außenwelt erhalten. Schon im Vollzug der Hegemonialkämpfe waren die buddhistischen Mönchsorganisationen zerschlagen worden, und der Konfuzianismus mit einem Konzept strenger Status-Differenzierung wurde religiöse Grundlage. Diese Abschließungspolitik der Tokugawa als Teil der sozialen Planifikation ist um so bemerkenswerter, als ihr Sieg von 1603 gerade auch auf der Übernahme fremder Techniken, z. B. der portugiesischen Feuerwaffen, beruht hatte, ein Fernhandelssystem aufgebaut und sogar die Invasion Koreas versucht worden war. 4. Die Tokugawa versuchten den Prozeß zu blockieren, der die Grundlage der Hegemonialkämpfe gebildet hatte, nämlich daß lokale Krieger (Samurai) wegen ihres direkten Zugangs zu den ländlichen Ressourcen mächtige rivalisierende Grundherren werden und zudem zuviel von der bäuerlichen Produktion in ihre Kanäle leiten konnten. Den Samurai wurde gesetzlich verboten, Land zu kontrollieren. Sie mußten in den Burgstädten leben. Die Daimyo oder der Shogun in seiner Eigenschaft als Daimyo seiner Territorien wurden verpflichtet, die Samurai mit einem festgesetzten Stipendium in Reis auszuhalten. 5. Die Entwaffnung der Bauern wurde fortgesetzt, um Unruhen gegen die straffe Organisation der Reisabgaben zu verhindern. Die Bauernschaft wurde umorganisiert. Nach einem neuen Landzensus wurde jeder Bauer registriert und an das Land gebunden, sei es nun als Besitzer oder Pächter. Die Produktivität des nutzbaren Landes wurde geschätzt und damit der als Steuer abzuliefernde Reisbetrag. Das Dorf als Einheit war verantwortlich für den Gesamtsteuerbetrag in Reis. Die sozialen Konsequenzen dieser Maßnahmen waren enorm; denn sie wiesen entgegen den Absichten ihrer Schöpfer auf Dynamisierung der Gesellschaft durch ökonomisches Wachstum und soziale Differenzierung. Am Ende der Tokugawa-Zeit, seit ca. 1750, ergab sich folgendes Bild: Selbst der einfachste Landarbeiter mit eigenen Nutzungsrechten an Land war gebunden und mit den Produktionszielen des Dorfes verbunden. Größere Bauern und jene Krieger, die sich für Landbesitz und gegen den Samuraistatus entschieden hatten, waren zwar von der Möglichkeit abgeschnitten, sich zu Feudalherren zu entwikkeln; aber sie entwickelten sich zur neuen Oberschicht auf dem Dorfe, die die Gewinne aus der gesteigerten Produktivität in dem Maße sich zunutze machten, als dem feudalen System mißlang, das neue Wachstum steuerlich ausreichend abzuschöpfen. Die Krieger wurden urbanisiert. Der allgemeine Landfrieden ließ sie funktionslos werden. Ein Teil wurde zur militärisch orientierten Bürokratie ohne eigene Machtbasis. Mit der verordneten Urbanisierung, die Krieger, Handwerker und die Reissteuer umsetzende Kaufmannschaft in einem dichten Netz von über 250 Burgstädten zusammenfaßte, erfüllte sich eine der wesentlichen Vorbedingungen für ökonomisches Wachstum - nämlich die Marktausweitung.
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Mit einer gebundenen Bauernschaft auf Eigentums- und gesicherter Pachtbasis mit vorgegebenen Produktionszielen wurde Japans Landwirtschaft die produktivste der Welt. Die Umwandlung der Reis-Stipendien in Geld lag in den Händen der Kaufmannschaft, die aber von den Besitzern der Stipendien, die zugleich Inhaber der bürokratischen Gewalt waren, abhängig blieben und nicht in Land investieren konnten. Sie mußten überdies ständig mit der Konfiszierung ihrer Vermögen rechnen, wenn sie zur Bedrohung der Feudalherren wurden. Ihr Einfluß konnte nur indirekt wirksam werden. Sie kontrollierten das Geldwesen und die Organisation des Marktes. Zusätzliche Wachstumsfaktoren hingen mit diesem Prozeß zusammen - so der allgemeine Landfrieden seit dem Tokugawa-Shogunat, das Bevölkerungswachstum von 18 auf 25 Millionen (1600-1700), die Entwicklung kommerzieller Techniken als Ergebnis der Urbanisierung (in der Mitte des 18. Jahrhunderts waren 23 Prozent der japanischen Bevölkerung urbanisiert). Damit zusammen hing die Ausweitung des Marktes nicht nur quantitativ, sondern auch nach Warenarten und agrarischen Erzeugnissen. Regionale Differenzierung für Reis-, Seiden-, Baumwollund Zuckerproduktion sowie Gemüse und Indigo begleitete dieses Wachstum. Damit verbunden waren die generelle Produktivitätssteigerung durch neue Bewässerungssysteme und die Anwendung von Kunstdünger sowie der Beginn ländlicher Manufaktur. 12 Sowohl die hochentwickelte Agrartechnik als auch die Nähe der ländlichen Produktionsgebiete zu den Städten erlaubten einer hochqualifizierten Landbevölkerung, wenigstens teilweise in der ländlichen oder städtischen Manufaktur zu arbeiten - insbesondere, wenn die Besteuerung der Reisemte bis zur Erschöpfung, d.h. über 60 Prozent der Ernte, getrieben wurde." Das feudale Steuersystem mit festen Steuersätzen über mehrere Jahre und ebenfalls festen Stipendiensätzen auch bei inflatorischen Entwicklungen stärkte die ländliche Oberschicht und belastete die Bauern und Pächter marginaler Böden. Die Entwicklung führte zusammen mit dem Bevölkerungswachstum zur Ausweitung des großen Landbesitzes, zum Abbau der mittleren Betriebsgrößen und zum Anwachsen der Zahl der sehr kleinen Betriebe. Eine wachsende Schicht Landloser - regional verschieden zwischen 1 und 50 Prozent, in extremen Fällen 70 Prozent - wurde Pächter oder Teilzeit-Landarbeiter oder wich in die handwerklichen Berufe des Dorfes, in die Holzkohleproduktion und das Transportgewerbe aus, sofern nicht die Nähe der Stadt Pendlermöglichkeiten schuf. Obwohl in der Literatur umstritten insbesondere zwischen der älteren marxistischen Literatur und der neueren wachstumstheoretischen Literatur - scheint jedenfalls in den am stärksten marktwirtschaftlich organisierten Regionen das Ausweichen der Landlosen in handwerkliche Tätigkeiten mit Einkommensgewinn verbunden gewesen zu sein.14 Gegenüber dieser ländlichen Dynamik, die auch die traditionelle Dorfoligarchie der Clanführer gefährdete, blieb das feudale Besteuerungssystem auf der Grundlage von Reis zurück, weil es den Tokugawa nicht glückte, die neuen Produkte und Tätigkeiten
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entsprechend zu besteuern. Die finanzielle Basis des Regimes wurde geschwächt. Für die Samurai behinderte die Inflation bei festgelegtem Reisstipendium die Teilnahme am Wirtschaftswachstum. Aber auch die neuen Schichten konnten die Krise des Tokugawasystems nicht für eine Machtübernahme ausnutzen. Die neue ländliche Oberschicht blieb auf das Dorf beschränkt. Die den Binnenfernhandel und das Finanzsystem verwaltende Großkaufmannschaft war der Finanzverwaltung des Systems zu eng verbunden und mit Konfiszierung bedroht, um selbständig handeln zu können. Eine dem Aufstieg des europäischen Bürgertums vergleichbare Entwicklung fand nicht statt. Vielmehr blieb das Wachstum so begrenzt, und - trotz der enormen Finanznot des Feudalsystems - Verwaltungsstruktur und militärische Hegemonie blieben stark genug, daß den Trägern des Feudalsystems noch Spielraum blieb, eine politische Antwort auf die Systemkrise zu geben, bevor die sozialökonomische Basis zerstört war. In diesem Zusammenhang erhält die europäische Offensive im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ihr Gewicht. Die Krise des Tokugawa-Systems wurde frühzeitig offengelegt. Die europäische Bedrohung, die überdies durch den britischen Angriff auf China seit über einem Jahrzehnt vorhersehbar war, mußte auch mit militärischen Mitteln beantwortet werden. Gerade dies lag nicht in der Hand der neuen Schichten. Aber auch die Tokugawa-Herrschaft wurde durch diese Bedrohung in ihrem Kem erschüttert, weil sie sich als unfähig erwies, die Außenbedrohung abzuwehren. Die Militärdiktatur versagte in ihrem ureigenen Bereich. Die internationale Bedrohung erschütterte außerdem das ökonomische Kontrollsystem der Tokugawa. Schuf schon die Finanzkrise eine unhaltbare Lage, so entglitt nun auch die Kontrolle des Außenhandels. Die feudale Opposition in Südwest-Japan erhielt unabhängige Zugänge zu wirtschaftlichen Ressourcen. Jene Daimyo-Koalitionen, insbesondere in Südwest-Japan, die der TokugawaHegemonie unterlegen waren, setzten zur Gegenoffensive an. Ihnen gelang es, den neuen agrarischen Wohlstand in ihr System zu leiten, und sie konnten den Einbruch des europäischen Fernhandels zu unabhängigen Quellen der Ressourcensteigerung ausnutzen, während die aufgezwungenen Handelsverträge dem Shogunat die Kontrolle über den Handel entrissen. Eine Koalition dieser Daimyos mit den Teilen der Samurais, denen die ständigen Geldentwertungen die in Geld umgewandelten Reisstipendien schmälerten, organisierte einen Modernisierungsversuch zur Restauration des Systems. Dies geschah vor dem Hintergrund der Agrarkrise, bei der die bäuerlichen Unterschichten wegen der Inflation marginale Böden aufgeben mußten oder sich dem wachsenden Steuerdruck auf das traditionelle Agrarprodukt Reis entzogen und in nichtagrarische Berufe auswichen. In den "hans" Südwest-Japans wurde die Finanzkrise mit modernen Methoden angegriffen. Die großen Finanzhäuser mußten z. B. die Umwandlung der enormen Staatsschulden in eine zinslose Anleihe über 250 Jahre Laufzeit hinnehmen. Den Bauern wurde u.a. Produktionszwang von Zucker statt Reis auferlegt und der Zucker zu Niedrigpreisen durch eine Monopolgesellschaft aufgekauft. Deren
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Gewinne an dem Wiederverkauf wurden hoch besteuert. Die feudalen Handelsmonopole wurden so zu kommerziellen Gesellschaften und die Konfiszierung der Finanzhäuser so kompensiert. Die Regierungen der "hans" reinvestierten diese neuen Finanzmittel in der Landwirtschaft und der Armee nach europäischem Muster und Ausrüstung. Als 1853/54 das Shogunat offiziell zugeben mußte, daß dem amerikanischen Druck, Japan dem Handel zu öffnen, nachgegeben werden müsse, setzten sich die Träger dieser Reform in den Regionen - im wesentlichen Samurais im Dienst der südwestlichen Daimyos - auch am Hofe und im Shogunat durch. Schließlich entmachteten sie 1868 im Namen des Kaisers für die süd-westliche DaimyosKoalition den Tokugawa-Clan. Die Tokugawa wurden zugunsten des als neue Symbolfigur gewählten Kaisers enteignet. Im folgenden Jahrzehnt verselbständigten sich die Reformkräfte. Unter Ausnutzung der kaiserlichen Zentralgewalt, gestützt auf eine auf Konskription beruhende moderne Armee von Bauern ohne Feudalbindung, wurde das feudale System zerschlagen. Drei Jahre nach dem Machtwechsel von 1868 waren die Institution der Daimyo abgeschafft, das Land der "hans" an die Bauernschaft überschrieben und die Feudalherren zu Pensionären oder Beamten des Regimes gemacht. Die DaimyoKoalition hatte das Gewicht der militärischen Konzentration an allen strategischen Punkten im Namen des Kaisers zu spät als antifeudale Existenzbedrohung erkannt. Gerade diese militärische Autonomie der modernisierten Elite ermöglichte den nächsten Schritt, die soziale Schicht, aus der sie überwiegend selber stammte - die Samurai - , jene mit einem Reis-Stipendium ausgestattete funktionslose urbanisierte ehemalige Kriegerschicht selbst abzuschaffen, ohne sich damit ihre soziale Basis als modernisierende Elite abzuschneiden (1871-1876). Die militärische Rebellion der vom Abstieg bedrohten Samurai wurde abgewehrt (1877). Die Legitimation des neuen Regimes lag in der erfolgreichen Begrenzung des ausländischen Einflusses und der Lösung der Finanzkrise. Beide Maßnahmen wurden ökonomisch erträglich, weil der neue Staat mit der Umwandlung der Daimyo-Einnahmen in gesicherte generöse Pensionen die Finanzkrise der alten Schicht löste und den Samurai mit der Kapitalisierung des Reisstipendiums die Investitionschance im sich entfaltenden Industrialisierungssystem anbot. Allerdings bedeutete dieser Schritt für die meisten Samurai den Abstieg in die städtischen Massen. Trotzdem erklärte die organisierte Transformation der früheren Träger des feudalen Systems in Kapitaleigner während des Industrialisierungsprozesses wesentlich mit das Ausbleiben zumindest einer "bürgerlichen" Revolution. Der Versuch, im Interesse der Produktionssteigerung und Konsolidierung des Systems das Land durch Entlastung der bäuerlichen Schichten zu befrieden, schlug jedoch insofern fehl, als das Meiji-System in den entscheidenden zwei Jahrzehnten weder über eine Schutzzollpolitik noch über Exportbesteuerung neue Finanzquellen erschließen konnte, weil dies die ungleichen Verträge mit den ausländischen
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Großmächten ausschlössen (bis 1897). Dementsprechend beruhten die staatlichen Einnahmen zu 86 Prozent (1875) bzw. 56 Prozent (1892) auf der Landsteuer. 15 Das heißt, die Landwirtschaft trug die Last der Finanzierung des Industrialisierungsprozesses. Dennoch entwickelte sich hier keine revolutionäre Lage, weil sich ein großer Teil des Industrialisierungsprozesses direkt auf das Land auswirkte: Seidenproduktion und Baumwoll-Spinnerei waren die führenden Faktoren für die Devisenbeschaffung. Die Leichtindustrie baute auf der handwerklichen Tradition auf und nutzte die aufgrund des hohen Entwicklungsstandes der bäuerlichen Produktion vorhandenen Spezialkenntnisse für ein ländliches Heimarbeitssystem, so daß eine starke ländliche Basis der entstehenden Industriearbeiterschaft erhalten blieb - mit Auswirkungen zugunsten einer konservativen Kontinuität. Daß die Landbevölkerung die Last der von einem starken Staat vorangetriebenen Industrialisierung trug und ertrug, begründet, warum die kommerzielle Durchdringung Japans durch Europa nicht zur Entwicklungssperre wurde. Mit Bedacht ist der aufsehenerregendste Teil der japanischen Industrialisierung, nämlich die staatlich geförderte oder organisierte Ausbildung des hochgradig monopolisierten schwerindustriellen Bereiches, zurückgestellt worden. Ebenso die Rolle der führenden Finanzhäuser, die die Finanzen des alten Systems verwaltet hatten. Die Initiative lag in beiden Bereichen bei der modernisierten Elite im Staatsapparat. Aus den feudalen Monopolen wurden staatliche Monopole, oder aber sie wurden, wie im Schiffbau, als Privilegien an die großen Finanzhäuser gegeben. Dort, wo der Staat Musterbetriebe gründete, wurden sie zur Hälfte der ursprünglichen Investitionssumme bei zinslosen Krediten mit Laufzeiten von 5-15 Jahren privatisiert. Mitglieder der Reformbewegung verließen seit 1881 durchaus hohe bürokratische Positionen, um diese Investitionschancen wahrzunehmen. Das Ergebnis dieser Politik war die Ausbildung jener bekannten Finanz- und Bürokratencliquen der Zaibatsu, die dem japanischen Regierungssystem in parlamentarischer wie später in autoritär-militärdiktatorischer Form das Gepräge gaben. 16 Ökonomisch gesehen entstand ein doppelt duales System: Die Dualität zwischen der Landwirtschaft mit langsamer Wachstumsrate und dem industriellen Komplex einschließlich der Dienstleistung mit großen Wachstumsraten. Bis 1915 hatte die Landwirtschaft den größten Anteil am Wachstum. Im industriellen Komplex beruhte das Wachstum bis in die dreißiger Jahre auf der halbtraditionellen Kleinindustrie mit überwiegend ländlicher Basis, ohne Arbeiterkonzentration und mit einer den Agrargesellschaften angenäherten Wachstumsrate. Die Last der Industrialisierung auf dem Lande trugen die Mädchen und Frauen der ländlichen Bevölkerung, die im Auftrage der Familie zum Aufbringen der Steuer- und Pachtschuld in die Betriebe geschickt wurden. (Anteil der Frauen in der Leichtindustrie 50-80 Prozent). Erst an dritter Stelle stand der hochkonzentrierte, regierungsgeförderte Monopolsektor. Dieser allerdings war unter dem Aspekt der Wachstumsrate, der Kapitalformation und des Zuganges zur politischen Macht der führende Sektor. Die starke
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ländliche Basis jenes ökonomisch bedeutenderen leichtindustriellen Komplexes zusammen mit dem durch die Landreform gestärkten und für den Export arbeitenden Agrarsektor dämpfte die sozialen Spannungen. So entstand keine revolutionäre Lage, die sich aus den Belastungen der Bauernschaft, insbesondere der Pächter, und den Problemen der Industriearbeiterschaft in den Urbanen Zentren der Industriekonzentration speisen konnte, da beide durch die ausgeprägte doppelte Dualität der Wirtschaftsstruktur nicht zusammenflössen.17 Statt dessen schuf die aus feudalen Schichten stammende politische Führungsschicht Koalitionsmöglichkeiten zwischen den zu Kapitaleignern umgewandelten Daimyos, den mittleren und oberen Samurai und dem traditionellen Handelskapital mit der gestärkten agrarischen und industriellen Oberschicht auf dem Lande. Die Koalition unter der Führung rivalisierender Finanz- und Bürokratiecliquen ermöglichte jene Formen autoritärer Herrschaftsausübung, die vor 1945 Ausdruck der Kontinuität der transformierten feudalen Führungsschichten im industriellen Japan wurden. Ihnen kam zugute, daß der Stand der industriellen Produktivkräfte im Europa und Amerika an der Wende zum 20. Jahrhundert die Möglichkeit eines hochkonzentrierten Sektors anbot, der der engen und zentralistisch orientierten Verflechtung von staatlicher Bürokratie, Militär und Finanzcliquen entgegenkam. Sie beruhte zugleich auf der Ausnutzung traditioneller Machtpositionen auf dem Lande und der Legitimation, die einer ehemals feudalen Führungsschicht durch die erfolgreiche "Revolution von oben" erhalten blieb.
China Das 19. Jahrhundert wurde für China das Jahrhundert großer Krisen. Es mußte sich zeigen, ob, wie wiederholt in der langen chinesischen Geschichte, einer der großen dynastischen Zyklen dem Ende entgegenging oder ob das Ende der Mandschu diesmal einen grundsätzlichen Wandel einleiten würde. Die Krise manifestierte sich seit dem Opiumkrieg 1842 in der Welle der großen Rebellionen. Insbesondere die Taiping-Nien Rebellion von 1851 bis 1864 umfaßte Zentral- und Südchina und damit ein Herrschaftsgebiet von ca. 100 Millionen Menschen. Bei diesen Auseinandersetzungen kamen ca. 20 Millionen Menschen um. Die Beurteilung über Kontinuität bzw. Diskontinuität zwischen dieser revolutionären Bewegung und den weiteren "Stufen der chinesischen Revolution" (W. Franke)18 beeinflußt das Gesamturteil über die Ursachen der Chinesischen Revolution. Unzweifelhaft steht die Endkrise der Mandschudynastie im Zusammenhang mit den Annexions- und Aufteilungsbemühungen der Großmächte seit dem letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, also mit der westlichen Bedrohung. Die gewaltsame kommerzielle Durchdringung ging in Südchina von Kanton aus, in der Schantung-Provinz von der deutschen Besetzung Kiautshous, insbesondere aber von den Vertragshäfen Tsientin und Shanghai und der Erfassung des Yangtsetals. Die Bedrohung der chi-
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nesischen Peripherie - Indochinas, Tibets, der Mandschurei, Koreas, Formosas waren weitere schwere Schläge für die Autorität der kaiserlichen Zentralregierung. Das Problem stellte sich, ob ähnlich wie in Japan eine Kommerzialisierung, in Grenzen auch Früh- bzw. Teilindustrialisierung, einiger Bereiche Chinas Voraussetzungen für zentrale Modernisierungs- und Abwehrstrategien hervorbrachte oder aber Desintegrationserscheinungen und regionaler Selbsthilfe weiter Vorschub leistete: In diesen Zusammenhang gehören die Reformperiode der Hundert Tage 1898 und die von Südchina ausgehende Reformbewegung Sun Yat Sens, die 1911 zum Sturz der Dynastie führte, sowie die Selbstbehauptungsversuche der Warlords und ihrer regionalen Verbündeten in den Bürgerkriegen. Nachdem der Weg über das städtische Proletariat durch das Massaker der Kuo Min Tang (KMT) vor allem in Shanghai 1927 für den chinesischen Kommunismus blutig abgeschnitten worden war, erhebt sich die Frage, wieso nun eine agrarrevolutionäre Strategie Aussicht auf Erfolg hatte. Die Kommerzialisierung Chinas vom Rande her hatte die sozialen Spannungen verschärft und schuf Voraussetzungen für eine antifeudale Bauernbefreiung. Der Zerfall des alten dynastischen bürokratischen Systems und die generelle Desintegration in China hatten ein Machtvakuum hinterlassen, in dem eine revolutionäre Machtergreifung möglich wurde. Die besondere Rolle der japanischen Invasion ab 1931 bzw. 1937 provozierte einen nationalen Abwehrkampf und damit neue Möglichkeiten für eine Massenmobilisierung durch die chinesischen Kommunisten. Übereinstimmung in der Forschung besteht darüber, daß die Taiping-" Rebellion" (nur der ausgebliebene Enderfolg hat ihr in der Geschichtsschreibung die Kennzeichnung als Revolution vorenthalten) einen Doppelcharakter hatte: Sie war zugleich die Endkrise einer Dynastie und auch auf das engste mit dem dramatischen Bevölkerungswachstum verknüpft - und Auftakt zu einer revolutionären Krise des chinesischen Gesamtsystems." Hatte bislang in China ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum durch Ausweitung der Produktionsflächen und Verbesserung landwirtschaftlicher Methoden als positiv gegolten, so überforderten die Bevölkerungssprünge von 150 Millionen (1700) zu 313 Millionen (1794) und 430 Millionen (1850) das bestehende Agrarsystem.20 Nach einer langen Herrschaftsperiode der Mandschudynastie hatte sich das zentralistische bürokratische System durch die wiedergewonnene gesteigerte Autonomie der regionalen feudalen Gewalten zersetzt. Korruption, Überbesteuerung und damit im Zusammenhang Landflucht, um sich greifendes Banditentum und generelle Unsicherheit verschärften die durch die Bevölkerungsexplosion gesteigerte Agrarkrise. Die Zentralgewalt, die Reformen hätte bewirken können, war durch eben diesen Prozeß geschwächt. Die ersten Niederlagen gegen den englischen Imperialismus seit 1842 trugen hierzu weiter bei. Die sich daraus ergebenden Spannungen ließen die antidynastischen Traditionen und ethnischen Spannungen Wiederaufleben und durch Geheimgesellschaften organisieren. Chiliastische Führungsgestalten, wie so häufig in Agrarkrisen,
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übernahmen die Führung. Hung Hsiu-ch'üan, Sohn von Kleinbauern und gescheiterter Examenskandidat für die große chinesische Staatsprüfung, propagierte ein prophetisches Reich des himmlischen Friedens mit allgemeiner Gleichheit und Gerechtigkeit, das im wesentlichen auf eine Verformung christlichen Missionsgutes zurückging. Es enthielt außerdem in der Theorie, wenn auch nicht in der Praxis, einige moderne Reformelemente, z.B. die Frauenemanzipation. Militärische Organisation, Entfaltung und Zerfall der exzentrischen Hofhaltung und die Ursachen des schließlichen Erfolges der Gegenoffensive der Dynastie können hier nicht erörtert werden. Wegen der engen Verbindung von chiliastischen Elementen in diesem sich auf Bauern stützenden Dynastiegründungsversuch überwiegt die Ansicht, daß die Taiping-Rebellion doch im wesentlichen eine traditionelle, antidynastische und agrarische Protestbewegung gewesen sei, wobei die Einbeziehung christlicher Elemente nichts mit einer auf Modernisierung gerichteten Westorientierung zu tun gehabt habe. Übereinstimmung herrscht indessen darüber, daß die ungeheuren Zerstörungen der Taiping- und Nien-Kriege in Zentral- und Südchina das Herrschaftssystem in China schwer erschütterten und der Desintegration enormen Vorschub leisteten. Die Abwesenheit von Regierung überhaupt während einer halben Generation war eine weitere wichtige Vorbedingung für die spätere Revolution. Vom Gedankengut und Sozialprogramm der Taiping überlebte auch wegen der ungeheuren Korruption und Pervertierung der Ideen am Hofe des "himmlischen Prinzen" in Nanking sehr wenig. Die weiteren revolutionären Entwicklungen schlössen nicht an Taiping an, sondern es begann die direkte Auseinandersetzung sowohl der Dynastie wie der von der ökonomischen und militärischen Expansion der Industriestaaten am stärksten betroffenen Schichten Chinas gegen diese Bedrohung. Hierzu zählen die Versuche, das Regierungssystem zu ändern, um den Widerstand gegen die Fremden besser zu organisieren. Industrialisierungsversuche zielten im wesentlichen auf die Verstärkung der militärischen Rüstungen und gingen häufig auf regionale Initiativen zurück. Insgesamt scheiterten die Reformversuche der Hundert Tage 1898 an innerdynastischen Rivalitäten sowie an der generellen Unfähigkeit der Zentralmacht Chinas, den Zerfall in autonome Regionen zu verhindern. Ebenso mißlang der Versuch der Dynastie, mit der Abschaffung des an der klassischen Bildung orientierten Prüfungswesens 1905 eine nach europäischen Gesichtspunkten organisierte bürokratische Zentralgewalt einzuführen. Die Voraussetzung für eine "Revolution von oben" entfiel wegen der Erschöpfung des Regimes aufgrund der inneren Kriege, der damit gesteigerten Autonomie der regionalen Feudalherren und schließlich, weil die drohende Aufteilung Chinas durch die europäischen Großmächte keinerlei Atempause zur Konsolidierung ließ. Ansätze in die gleiche Richtung wie in Japan waren gleichwohl vorhanden. Es ist aus neueren Forschungsansätzen zu schließen, daß es eine wesentlich stärkere
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Dynamisierung wichtiger chinesischer Agrargebiete - so in Südchina - gegeben hat, als in der Regel in der Historiographie über den Verfall Chinas zu vermuten ist.21 Zwischen der Ökonomie Südchinas und der Entwicklung der Reformbewegung bestehen Zusammenhänge. Ebenso kennzeichnend sind die Forschungen über die herausragenden Reformpolitiker. So weist etwa die Karriere Yuan shih k'ais auf bemerkenswerte Möglichkeiten zur Anpassung an die neuen und schnell wechselnden Entwicklungen hin.22 1898 schlug er den Reformversuch der Hundert Tage im Interesse der Kaiserin-Witwe erfolgreich nieder, votierte also aus machtpolitischen Erwägungen für die Restauration. Als Gouverneur von Shantung gelang es ihm, die deutsche Kolonialherrschaft, die von Kiautschau auf seine Provinz ausgriff, zu unterlaufen. Den Versuch der Deutschen, indirekte Herrschaft auszuüben, nutzte er systematisch dazu aus, um die deutsche Investitionspolitik, z.B. den Eisenbahnbau, im Interesse seiner Regionalautonomie und eines innerchinesischen Modernisierungsversuches umzuwandeln.23 Er blieb der mächtigste Mann im Hintergrund des Reformregimes der Kaiserin-Witwe und erhielt den Auftrag, den revolutionären Angriff Sun Yat Sens 1911 aufzuhalten. Er wechselte in später Stunde erfolgreich die Fronten und übernahm schließlich, gestützt auf seinen militärischen Apparat, die Macht, nachdem er für ein Jahr Sun Yat Sen die Präsidentschaft hatte überlassen müssen. Sein letzter Schritt, diese Machtstellung zur Dynastiegründung für sich auszunutzen, scheiterte, so daß er sich, wahrscheinlich durch Selbstmord, dem Sturz entzog. Am bekanntesten und nachhaltig wirksam waren indessen jene Reformversuche, die sich zunächst gegen die Selbstbehauptungsversuche der Dynastie wandten und in den Sturz der Mandschu 1911 einmündeten und schließlich die Herrschaft der KMT begründeten. 24 In ihnen flössen im wesentlichen drei politische Strömungen zusammen. Auf die imperialistische Bedrohung und die Unfähigkeit des Regimes zur Abwehr antwortete eine intellektuelle Reform- und Revolutionsbewegung, die in einem Netz von Reform- und Geheimgesellschaften die Rezeption des Erfolgsgeheimnisses der Industriestaaten im Interesse eines chinesischen Nationalismus leisten wollten und schließlich wegen des Widerstandes der Mandschudynastie gegen diesen chinesischen Nationalismus sich auch gegen die Fremdherrschaft in Peking wandten. Die Vorbilder für die Reformvorstellungen der Intellektuellen stammten aus der Emigration in Tokyo, dem Auslandsstudium in den USA und in Westeuropa. Die soziale Basis der Studenten und Gelehrten waren Kaufleute und die hohe Bürokratie der Vertragsstädte sowie deijenigen chinesischen Provinzen, die am stärksten der Handelsoffensive des Westens ausgesetzt waren, nicht zuletzt das Auslandschinesen tum. Diese Gruppen sahen sich durch den gewaltsamen Anschluß an den Weltmarkt und der von außen organisierten Investitionspolitik um die ökonomische Weiterentwicklung gebracht. Für sie lag der Ausweg in der Schaffung eines modernen Nationalstaates. Ihnen schlössen sich Teile der Gentry und Militärbefehlshaber von Regionen an, die mit Modernisierungskonzepten in
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ähnlicher Richtung vorangingen, wenn auch im Interesse der regionalen Herrschaftssicherung. Exponent der Reform- und Revolutionsbewegung wurde Sun Yat Sen, wenn sich auch seine Ideologie des westlichen Liberalismus nicht durchsetzte.25 Wie stark hier konkurrierende Modernisierungsstrategien aufeinanderstießen, läßt sich am eigentlichen Anlaß zur Revolution von 1911 ablesen: Gestützt auf eine internationale Anleihe Englands, Frankreichs, Deutschlands und der USA, versuchte die Zentralregierung das gesamte Eisenbahnwesen einschließlich der geplanten Linien zu verstaatlichen und zu zentralisieren. Dagegen setzte sich vor allem die Gentry der Provinz Szechuan im Interesse der regionalen Industrialisierung zur Wehr und mobilisierte die gerade in dieser Region stark verankerten Revolutionsund Geheimgesellschaften zum militärischen Aufstand. Sie erhob den Vorwurf gegen Peking, die nationalen Interessen den Großmächten auszuliefern. Den Widerstand weiteten Revolutions- und Geheimgesellschaften zur allgemeinen revolutionären Erhebung aus. Yuan shih-k'ai, der in letzter Stunde von der Dynastie zu einem Rettungsversuch aufgefordert wurde, ließ die Dynastie fallen und verhandelte über die Bildung einer provisorisch-republikanischen Regierung, deren Führung dann für ein Jahr an Sun Yat Sen fiel, der während der Revolution in Europa war. Wegen des Übergewichts des Militärs blieb aber nichts anderes übrig, als die Macht 1912 an Yuan shih-k'ai zurückzugeben. Das Schicksal der Revolution ist zu bekannt, um es hier zu wiederholen. Es ist dadurch gekennzeichnet, daß die Desintegration Chinas in regionale Militärdiktaturen und einen Zustand andauernden Bürgerkrieges und der sich steigernden Belastung der Bauern und Pächter durch die Steueranforderungen der rivalisierenden Gruppen rapide fortschritt. Parallel dazu setzte sich beginnend mit der "Bewegung des 4. Mai" (1919) die kulturelle Revolution und die Vorbereitung eines antiimperialistisch geprägten Nationalismus durch.26 Er höhlte die Struktur des feudalen Chinas weiter aus. Damit entstanden Vorbedingungen für die auf dem kommerzialisierten Sektor beruhende Militärdiktatur der KMT unter Tschiang Kai Schek. Zugleich vollzog sich aber auch unter dem Eindruck der russischen Revolution und der imperialistischen Offensive der Sieger von Versailles die Marxismusrezeption. In der Forschung ist strittig geworden, wie der Sieg der Kommunisten in China mit der Agrarfrage zusammenhängt, ob er im wesentlichen als Antwort auf die Agrarkrise seit dem 19. Jahrhundert auf innerchinesischen Voraussetzungen beruhe oder wesentlich als Reaktion auf die imperialistische Herausforderung zu verstehen ist. Die bekannteste Version folgt den äußeren Etappen in der revolutionären Entwicklung. Nach der blutigen Zerschlagung der städtischen Organisation der kommunistischen Partei trotz der Koalition mit der KMT (das Massaker von 1927) setzte sich die agrarrevolutionäre Linie Mao Tse Tungs durch. Mit den berühmten bäuerlichen Räterepubliken in Kiangsi (1930-1934) und dem Rückzug vor der
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militärischen Übermacht der KMT, dem "langen Marsch" durch die nordwestlichen und nördlichen Provinzen Chinas nach Shensi gelang die Mobilisierung der bäuerlichen Massen durch Ausnutzung des Klassenkampfes auf dem Lande und damit der Sieg über die KMT 1949. Diese These von der Kontinuität zwischen Räterepubliken und Machtergreifung während des japanisch-chinesischen Krieges fand Widerspruch. 27 Es wird bezweifelt, ob den Kommunisten unter Mao Tse Tung die bäuerliche Massenbasis in Kiangsi zur Verfügung stand und ob überhaupt die kommunistische Bewegung einen Klassenkampf auf dem Lande provozierte und ausnutzte, solange sie nicht die Macht im Zentrum errungen hatte. Die Niederlage in Kiangsi wird durch diese Forschung damit begründet, daß auch die Räteregierung in Kiangsi letztlich nur Regierung über Bauern gewesen sei. Die Bauern hätten angesichts der regellosen wachsenden Unterdrückung durch die regionalen Feudalherren und die Militärdiktatur die Sicherheit und Ordnung einer militärischen Alternative angenommen, wenn sie nicht einfach als Landflüchtige wie sonst den Banditen nun den kommunistischen Truppen zuliefen. In dem Maße, wie sich die Antiguerillastrategie der Zentralmacht militärisch durchgesetzt habe und eine vergleichsweise gesicherte Zustände garantierende Alternative entstanden sei, wäre es eine rein militärische Machtfrage gewesen, wer durchhielt. Soziale Energien gegen den Gesamtzustand auf dem Dorfe mit Ausnahme der Ablehnung der funktionslosen gewalttätigen Feudal- und Kriegsherren seien dabei nicht ausgelöst worden. Die Massenmobilisierung sei in Kiangsi mißlungen. Nach dem langen Marsch habe sich die Frage für die Bauern neu gestellt. Durch die japanische Besatzung sei die alte chinesische Führungsschicht vertrieben worden, dort wo gegen den chinesischen Widerstand - insbesondere die Guerillataktik - Terror angewendet worden sei, wäre die Massensolidarisierung entstanden. Die Kommunisten erwiesen sich dabei als die disziplinierten, erfolgreichen und wirklich auf die Vertreibung des Landesfeindes konzentrierte Kraft, die "peasant nationalism" in großem Stil zu mobilisieren vermochte und damit erst die Machtbasis erhielt. Es wäre sicher eine Fehlinterpretation, hierbei nicht das Grundkonzept der kommunistischen Landreform (Entlastung vom übermäßigen Steuerdruck, Mobilisierung zur Selbstorganisation und Selbsthilfe) als Voraussetzung für einen solchen Erfolg anzusehen. Aber nach dieser Ansicht war es im wesentlichen kein Klassenkampf auf dem Dorfe, etwa der Landlosen und Pächter gegen die mittleren und größeren Bauern, sondern es war überwiegend Politik des ganzen Dorfes - allerdings gegen die regionalen Machthaber und Grundherren. Die eigentliche Agrarrevolution fand seit 1949 und dann unter großen Widerständen und Zwischenetappen statt. Dementsprechend kam es in der Phase der Machtergreifung wohl zu Reformpolitik zugunsten der armen und mittleren Bauern; Initiativen verlagerten sich von der Oligarchie der Dorfalten zur jüngeren Generation. Die politische Basis im Dorf weitete sich aus. Aber bestimmend blieb die
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Koalitionsfähigkeit, die Betonung des Rechtes auf bäuerlichen Besitz und die genossenschaftlichen Kooperationen. Auch in China bedurfte die Landenteignung der Gewalt der erfolgreichen Revolutionsregierung. Die Zerschlagung der alten Herrenschicht durch die japanische Besatzungsmacht war eine Voraussetzung für die Revolution ähnlich wie die Verwüstungen der Taiping-Rebellion zur Schwächung der chinesischen Zentralregierung. Die Modernisierung mußte unter Einbeziehung des Nationalismus bäuerlicher Eigentümer und antiimperialistischer demokratischer Strömungen erfolgen (Mao Tse Tung, On Coalition Government, April 1945).28 Sie mußte das Problem der rationellen Produktion für den Markt lösen (Mao Tse Tung, We must learn to do economic work, Januar 1925)29 und die Industrialisierung angehen (On Coalition Government; The Problem of Industry). Zieht man aus diesen Umständen die Summe, dann ist die Endkrise des dynastisch-feudalen China an den eigenen Strukturproblemen ausgebrochen; die Kraft, daraus einen revolutionären Durchbruch zu entwickeln, ist ohne die besondere Bedrohung durch den Imperialismus und durch das Modernisierungskonzept des Industriesystems schwer vorstellbar. Sogar die entscheidende Massenmobilisierung der Bauern Chinas scheint auf dieser Außenbedrohung zu beruhen. Die organisatorischen und ideologischen Mittel erwuchsen aus der gleichen westlichen Bedrohung. Sie sind mit der Kulturrevolution seit dem 19. Jahrhundert in die chinesische Entwicklung integriert worden. Die Widerstandsfähigkeit eines neuen Chinas und die Koalitionsfähigkeit der Kommunisten beruhte nach Mao Tse Tung wesentlich auch auf dem Konzept der antiimperialistischen nationalen Souveränität, während sich die KMT Tchiang Kai Scheks nicht nur auf die regionale alte Führungsschicht Chinas stützen mußte, sondern den Weg der ökonomischen Abhängigkeit vom Weltmarktsystem der Industriestaaten und einer damit ferngesteuerten abhängigen Industrialisierung einschlug. Japan und China bildeten für unser Thema ein Gegensatzpaar. Die Fernwirkungen der europäischen Industrialisierung prägten sich in beiden Gesellschaften unterschiedlich aus; dennoch gelang beiden schließlich die erfolgreiche Abwehr. Ökonomisches Wachstum und Erhaltung der staatlichen Einheit ermöglichten die Industrialisierung in Japan ohne Desintegration, Revolution und Abhängigkeit. In China schufen die Endkrise der Dynastie, Desintegration und unzureichende ökonomische Dynamik sowie die Wucht der Expansion Europas und Japans erst die revolutionäre Krise, aus der dann die erfolgreiche Abwehr und die Industrialisierung erwuchs. Während Japan ein weiteres Beispiel für die stabilisierende Wirkung des Industrialisierungsprozesses ist, der Revolutionen erschwert, zeigt China, daß die Anwendung der Methoden der Industriewelt allein nicht ausreicht, um die Machtsicherung alter und neuer Eliten zu gewährleisten, wenn Desintegration der alten Struktur und Außenbedrohung die soziale Krise ausreichend verschärfen. Im Vergleich mit den Entwicklungen in Lateinamerika und Afrika erweist sich -
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vielleicht überraschend daß Art und Ausmaß der Fem Wirkungen der europäischen Industrialisierung wesentlich uneinheitlicher ausgeprägt waren, als Konzepte der Unterentwicklungstheorien nahelegen, daß der ökonomischen und Sozialstruktur der außereuropäischen Länder ein erhebliches Eigengewicht zukommt, schließlich daß selbst bei eindeutig konstruierten revolutionären Lagen kein Revolutionsautomatismus besteht.
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E.P. Thompson, The making of the English working class, London 1968, besonders Kapitel 16: Class Consciousness, The Radical Culture, S. 78Iff. Hierfür am charakteristischsten W. Rostow, Stages of economic growth, dt.: Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zum marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 1960. Rostows vielzitierter und kritisierter Ansatz ist weiter ausgeführt worden u.a. in: W. Rostow (Hg.), The economics of take-off into sustaining growth, London 1965; ders., Politics and stages of growth, Cambridge 1971, und ders., The beginnings of modern growth in Europe: An essay in synthesis. In: The Journal of Economic History 33 (1973) 3, S. 547ff. Insbesondere in "Politics..." wird vom neueren Forschungsstand aus auch auf den Vergleich China-Japan eingegangen. Rostow ist ein typischer Vertreter für die Beachtung des kurzen Zeitraumes. Die Betonung des Gradualismus ist ausgeprägt z.B. bei Ph. Deane, The first industrial revolution, Cambridge 1967, und J. Hobsbawm, Industrie und Empire I, Frankfurt/M. 1969, wie generell marxistische Ansätze "Langzeit"-Interpretationen sind. Mit historischen Methoden bleibt gegenwärtig unbeantwortbar, ob die volle Entfaltung des industriellen Systems in der Welt in eine "spätindustrielle" Revolution einmünden werde, d.h. ob das bisherige Ausbleiben von Revolutionen in vollindustrialisierten Staaten etwas mit der bislang unvollendeten Industrialisierung in der Welt zu tun hat. Am prägnantesten ist diese These am Beispiel Südafrikas erörtert worden: H. Adam, Südafrika, Soziologie einer Rassengesellschaft, Frankfurt/M. 1969. Vergleiche hierzu die Beiträge von H.-J. König und H.-D. Laß, in denen diese Thematik im Vordergrund steht. Am einflußreichsten für die Frage der Nachfolgeindustrialisiemng ist A. Gerschenkron, Economic backwardness in historical perspective, Cambridge/Mass. 196S. Kritik an der Übertragbarkeit der am Beispiel Rußlands entwickelten These übt z.B. H. Rosovsky, Capital formation in Japan, 1868-1940, Clencoe 1961. Beste Einführung in deutscher Sprache das 5. Kapitel "Japan" in: Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, Frankfurt/M. 1969. Der folgende Gedankengang ist im wesentlichen bestimmt durch: Th. C. Smith, Agrarian Origins of modern Japan, Stanford 19S9; ders., Political change and industrial development in Japan, Stanford 195S; E.S. Crawcour, Changes in Japanese Commerce in the Tokugawa period. In: Journal of Asian Studies, (1963) 22, S. 387-400; W.W. Lockwood, The state and economic enterprise in Japan, Princeton 1965; S. Hanley/Kozo Yamamura, The increasing poverty of the samurai in Tokugawa Japan, 1600-1868. In: The Journal of Economic History, 31 (1971),
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S. 509-541; J.W. Hall, Feudalism in Japan. In: Comparative Studies in Society and History, 5(1962), S. 15-51. Chitoshi Yamaga, Japan since Perry. Für diese Diskussion vgl. Yamamura, Toward a reexamination of the economic history of Tokugawa Japan. In: Journal of Economic History, 33 (1973) 3, S. 509ff., der sich für ein "normales" agrarisches Wachstum ausspricht. B. Moore, a.a.O.; wichtige Einführung in die politische Geschichte: G. Sansom, A history of Japan III, 1625-1867. Zusätzlich zur bereits erwähnten Literatur: Hiroshi Shimbo, A study of the growth of cotton production for the market in the Tokugawa Era. In: Kobe University Economic Review, 1 (1955), S. 55-70; Kokichi Miyashita, Money economy in the Tokugawa era. In: Kobe Universtity Economic Review, 8 (1962), S. 1-20; E.S. Crawcour/K. Yamamura, The Tokugawa monetary system 1787-1868. In: Economic Development and Cultural Change, 18 (1970), S. 489-618. T.C. Smith, Farm family by employments in preindustrial Japan. In: The Journal of Economic History (1969) 29, S. 687-715; vgl. auch Yamamura, Toward a reexamination..., a.a.O., S. 526ff. Ebenda. Kunio Niwa, The reform of the land tax and the government programme for the encouragement of industry. In: The developing economics, (1966) 4, S. 447-471; James I. Nakumara, Meiji land reform... In: Economic Development and Cultural Change, (1966) 14, S. 428439. Hierzu die Beiträge in: W.W. Lockwood, The state and economic enterprise in Japan; T.C. Smith, Political change and industrial development in Japan...; ders., Landlord's sons in the business elite. In: Economic Development and Cultural Change, 9 (1960), S. 93-107; J. Hirschmeier, The origins of entrepreneurship in Meiji Japan...; Kazno Shibagaki, The early history of the Zaibatsu. In: The Developing Economics, (1969) 4, S. 535-566. G.O. Totten, Labour and agrarian disputes in Japan following World War I. In: Economic Development and Cultural Change, 9 (1960), S. 192-200. Nach wie vor die beste deutsche Einführung: W. Franke, Das Jahrhundert der chinesischen Revolution 1851-1949, München 1958. Zum Problem der Stufen vgl. das Vorwort. Wichtige neuere Arbeiten zur Taiping Rebellion: F. Michael, The Taiping Rebellion, 3 Bde., vor allem Band 3, Seattle 1966; S. y. Teng, The Taiping Rebellion and the Western powers, Oxford 1971. Zum Zusammenhang mit älteren "Bauernrevolten" vgl. Franke, a.a.O., und B. Moore, Soziale Ursprünge, Kap. 4, Abschnitt 6, S. 240ff. Grundlegend: Ping-ti Ho, Studies on the population of China, 1368-1953, Cambridge/Mass. 1959, Zahlen S. 278. Sakakida Rawski, Agricultural Change and the Peasant Economy of South China, Cambridge/Mass. 1972; J.K. Fairbank/A. Eckstein/L.S. Yang, Economic Development and Cultural Change, 1960; H. Perkins, Agricultural Development in China 1368-1968; A. Feuerwerker, Chinas early Industrialization, Cambridge/Mass. 1958. J. Ch'en, Yuan shi k'ai, Stanford 1961. J.E. Schrecker, Imperialism and Chinese Nationalism, Germany in Shantung, Cambridge/Mass. 1971. M.C. Wright (Hg.), China in Revolution: The first phase 1900-1913, New Haven, mit Einzelbeiträgen zu den genannten Problemen. Eine neuere Arbeit zu Sun Yat-sen: H.Z. Schiffrin, Sun yat-sen and the Origins of the Chinese Revolution, Berkeley 1968.
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Für das zentrale Ereignis: Chow Tse-Tung, The May Fourth Movement, Cambridge/Mass. 1960. Ch.A. Johnson, Peasant Nationalism and Communist Power, The Emergence of Revolutionary China 1937-1945, Stanford 1962. Vgl. für die beiden Positionen B. Moore, Soziale Ursprünge..., a.a.O., S. 264f. Selected Works of Mao Tse-Tung, Bd. III, S. 205-269. Ebenda, Bd. III, S. 189-200.
Schwerpunkte in der Afrikageschichtsschreibung aus: Britta Benzing/Reinhard Bolz (Hg.): Methoden der afrikanistischen Forschung und Lehre in der BRD. Eine kritische Bilanz. 5. Jahrestagung der Vereinigung von Afrikanisten in Deutschland (VAD), 1973, Hamburg 1976, S. 41-58 ( = Schriften der VAD, Bd. 8). ® Helmut Buske Verlag, Hamburg
Mein Beitrag zur interdisziplinären Tagung über Methodenprobleme der mit Afrika befaßten Gesellschaftswissenschaften soll sich nicht auf den Stand der Afrikageschichtsschreibung in der Bundesrepublik beschränken. Dieser Entschluß wird dadurch erleichtert, daß Dr. Liesegang diese Bestandsaufnahme in dem vorangegangenen Referat angeboten hat. Mich veranlassen dazu aber nicht nur Gründe der Arbeitsstetigkeit, sondern gelinde Zweifel, ob es überhaupt zweckmäßig sein kann, in einer Erörterung der Methodenprobleme auf den Zustand der Disziplinen in der BRD und der DDR - oder im deutschsprachigen Raum abzustellen. Mir ist bewußt, daß dies eines der Motive war, unter dem die VAD ins Leben getreten ist; und die Kritik an der mangelnden Systematik der deutschen Afrikawissenschaft war ja überfällig; dennoch: Methodenfragen sind internationale Fragen. Selbst die Frage nach dem methodischen Orientierungsrahmen, der die deutsche Produktion bestimmt, führt auf die Internationalität, denn in der Regel haben sich jene Einzelgänger, die sich mit historischen Themen der Region Afrika befaßt haben, auf die internationale Methodendiskussion beziehen müssen. Ich will deshalb an ausgewählten Beispielen darüber sprechen, was nach meiner Ansicht sich als Schwerpunkte in der afrikanischen Geschichtsschreibung in den letzten zehn Jahren entwickelt hat, wo, um den Titel einer Standardvorlesung afrikanischer Universitäten zu gebrauchen, z.Zt. die "Problems of African History" gesehen werden. Daß dabei eigene Forschungs- und Unterrichtsinteressen und damit auch einige Regionen und Fragestellungen überbelichtet sein dürften, hoffentlich nicht allzu Wichtiges auch vergessen sein kann, sei vorweg gesagt und möge als Aufforderung zur Ergänzung und Kritik gelten. Dieser Überblick läßt sich am ehesten aus der Frage ableiten, wohin sich der Schwerpunkt der Fragestellungen in den letzten zehn Jahren in den Teildisziplinen, die ja Herr Liesegang vorgestellt hat, entwickelt hat und ob zwischen diesen Entwicklungen in den Teildisziplinen Zusammenhänge bestehen. Also in a) der archäologisch ausgerichteten afrikanischen Vorgeschichte, b) der regional ausgerichteten historischen Ethnologie, c) der klassischen Kolonialgeschichte, d) der politologisch, soziologisch orientierten Analyse der zeitgenössischen Vorgänge während des Dekolonisationsprozesses und der Phase der Unabhängigkeit.
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Ich beginne mit den Trends in der Kolonialgeschichte - und zwar nicht nur weil ich aus dieser Richtung komme und in der Kolonialgeschichte im engeren Sinne die Anwendung der klassischen Methoden der Geschichtswissenschaft am deutlichsten ausgeprägt ist, sondern weil die Kolonialgeschichte jene Periode der afrikanischen Geschichte analysiert, an der sich wird beweisen müssen, ob diese Periode wirklich die Epochenscheide für die afrikanische Geschichte ist, also wie relevant z.B. die Einteilung nach vor- und nachkolonial ist. Bis in die späten fünfziger Jahre zerfiel die afrikanische Geschichte im wesentlichen in zwei Forschungsrichtungen - maßgeblich beeinflußt von London - die einen schrieben die Geschichte der Kolonialverwaltung und - eingebettet in diese Verwaltungsgeschichte - die afrikanische Reaktion. Diese wurde eingeschränkt auf die Reaktion der Führungsfiguren. Das war die Debatte um indirect rule, dual mandate, assimilation. Die klassische historische Ethnologie, insbesondere in England, stand dezidiert im Dienst der Erhaltuung solcher Strukturen, die der Absicherung der indirect rule dienten oder die der kolonialen Sozialpolitik die Entscheidungsgrundlagen anboten.1 Auch in den historischen Arbeiten wurde das ungestörte alte Afrika rekonstruiert, meist mit einer Tendenz der Suche nach Idealtypen. Der sozialpolitischen Orientierung entsprach das Akkulturationsmodell. Die gegenwartsbezogene Sozialanthropologie arbeitete an der Geschichte der Urbanisierung, der messianischen Bewegungen, dem Wanderarbeitsproblem usw.2 Die klassische Kolonialgeschichte entwickelte sich in den sechziger Jahren in zwei Richtungen: 1. Die erste war die - ich würde sagen - klassische Dekolonisationsgeschichte - die Transformation der Institutionen und der Führungsschichten. Sie wurde begleitet von einer soziologisch und politologisch orientierten Analyse der neuen Eliten. Die Geschichte des Panafrikanismus 3 , die Organisationsgeschichte der Nationalbewegungen, ihrer Parteien und staatlichen Institutionen gehören hierher. 4 Kolonialgeschichte afrikanisierte sich sozusagen aus dem Zwang, daß Europäer als Entscheidungsträger ausfielen. Das hat dazu geführt, daß ein so überraschend großer Teil dieser Forschung der ersten Stunde als so schnell veraltet erscheint nicht nur wegen der Materiallage, sondern weil für das Einbeziehen des Ganzen der afrikanischen Gesellschaft mit ausreichend historischer Tiefendimension nur wenige Voraussetzungen vorhanden waren. 2. Die eigentliche Afrikanisierung der Kolonialgeschichte vollzog sich in den Analysen der sechziger Jahre, die die Anfänge der Kolonialherrschaft zum Thema hatten. Die Westafrikaforschung stieß auf die politischen und ökonomischen Rückwirkungen, die der Sklavenhandel, insbesondere aber die Umstellung auf den sogenannten legitimate Handel nach sich gezogen hatten. Das heißt, die afrikanische Antwort auf neue Marktchancen und die damit verbundenen politischen Möglichkeiten rückten in den Vordergrund. Klassische Fälle in der Forschung: z.B.
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Dikes Analyse des House-Systems im Nigerdelta, die Neuinterpretation der Yoruba-Kriegführung im 19. Jahrhundert und viele vergleichbare Arbeiten. 5 Es war die Entdeckung der afrikanischen Führungsschichten als sich ökonomisch, politisch rational verhaltender Akteure. Die Kolonialgeschichte erschien nun auch als Kampf rivalisierender politischer und ökonomischer Systeme, jedenfalls solange die Machtbalance durch die anfangliche europäische Investitionsscheu und die europäische Fehleinschätzung der afrikanischen Widerstandsbereitschaft einigermaßen erhalten blieb. Mit etwas Verzögerung wurde dann auch die Phase europäischer Übermacht in diese Untersuchungen einbezogen. Der an Ideologiekritik und Analyse der europäischen Herrschaftstechniken orientierte Ansatz der Kolonialgeschichte füllte sich immer mehr mit der Geschichte der afrikanischen Initiativen auf, etwa der Manipulation der Kolonialmacht im Interesse von Erbfolgestreits usw. Vor allem aber erwies sich, daß die großen Kriege von afrikanischer Seite unter Abschätzung des Risikos auf rationalen politischen Entscheidungen beruhten und nicht etwa unkalkulierte, unpolitische, irrationale Ausbrüche waren. 6 Shula Marks hat diese neue politische Tiefendimension in ihrer "Reluctant Rebellion" sehr viel weiter getrieben, indem sie nachwies, daß auch den Entscheidungen über Aufstandsverzicht - und zwar gerade bei den vom Kolonialismus am härtesten Getroffenen - rationale politische Entscheidungsprozesse zugrunde lagen. 7 Aus Nairobi hört man, daß dort eine ähnliche Überprüfung der Loyalists - also der sich vom Mau Mau-Aufstand Fernhaltenden und ihres politischen Durchsetzungsvermögens im kolonialen System - unternommen wird, 8 Dieses Thema Widerstand ist dann systematisiert worden - wiederum auch wesentlich aus politischen Gründen. Die Geschichte des afrikanischen Widerstandes aufzuarbeiten galt und gilt als wesentlicher Beitrag zur geistigen und psychischen Dekolonisierung - und zwar nicht nur im Sinne Fanons. Auf dem International Congress of African Historians in Dar es Salaam 1965 war dies ein Leitthema, vorgetragen von A.B. Davidson, Moskau, und in einer Variation von Ajayi mit dem Thema der Continuity of African institutions under colonialism. 9 Produktiv im Sinne einer Forschungstradition wurde das Widerstandsthema systematisiert durch Terence Ranger und John Iliffe in den Gründungsjahren des Dar es Salaamer History Departments. Iliffe - ausgehend von der deutschen Kolonialpolitik in Ostafrika - stieß auf den Komplex Maji Maji 10 , Ranger ging vom Vergleich der beiden Ndebele- und Shonakriege gegen Rhodes von 1893 und 1896 aus." Beide kamen zu Strukturmerkmalen von Widerstand. Sie unterschieden Phasen des Widerstandes und meinten damit Stufen politischer Innovationen zu erkennen. Ranger zog in seinem bekannten Vortrag vor der Social Science Conference in Nairobi 1966 die "connections between .primary resistance' movements and modern mass nationalism in East and Central Africa" einerseits und in seinem
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"Revolt in Rhodesia" andererseits die Kontinuität zu zum Teil sehr alten Strukturen und Traditionen - etwa bis zum Widerstand gegen die Portugiesen im 17. Jahrhundert oder zum Wiederaufleben von Shonastrukturen nach der Niederlage der Ndebelearistokratie. 12 Alles dies sind Thesen, die eine krasse Absage an die Vertreter der Akkulturationstheorien bedeuten, welche die kulturelle Resignation und Desintegration in den Vordergrund hatten rücken lassen. Daß hier methodisch auch höchst Problematisches versucht wurde, muß hier ausgeklammert werden. Entscheidend für den Fortgang der Afrikageschichtsschreibung wurde, daß damit nach der historischen Basis des Widerstandspotentials gefragt werden mußte. Die Pionierleistungen Rangers selbst lagen in höchst komplizierten religionsgeschichtlichen Ansätzen, der Aufdeckung der Sozialstruktur des Ndebele-Shona-Systems, sowie in seinem Einfluß auf die Erforschung des Mfecane. 13 Auch die regional orientierte historische Ethnologie erhielt hier die spezifische Frage nach der Kontinuität und dem Strukturwandel der Institutionen. Eine gute Illustration der an diese Arbeiten geknüpften Erwartungen findet sich in dem Zwischentitel von R. Rotbergs "Political history of tropical Africa": Kolonialgeschichte als Zwischenspiel in einem Meer von Kontinuität: the "colonial interlude". 14 Die Historiographie des afrikanischen Widerstandes ist parallel zu dieser Forschung einen zweiten Weg gegangen, den, nach der Vorgeschichte des afrikanischen Nationalismus zu fragen. Zunächst über die Biographien früherer Führer wird das alte apolitische Akkulturationssyndrom auch in diesem Bereich angegriffen. Shepperson mit seinem "Independent African: John Chilembwe" (1958)15 versuchte den Umschlagpunkt von messianischer Kirchenbewegung in die politische Aktion zu identifizieren. Stufentheorien in den Phasen des politischen Bewußtseins und der Organisation, sicherlich auch die von Grohs, stehen in diesem Zusammenhang. 16 Historiker, Politologen ebenso wie Theologen und Ethnologen arbeiten an breiter Front und meist mit biographischen Methoden an den Erscheinungsformen des frühen Nationalismus - der politischen Innovatoren; dabei entfaltet sich als Sonderfall die Entwicklung im islamischen Bereich - als die Jihadforschung und die Mahdistenforschung. Die Protonationalismusforschung hat Konsequenzen für die Forschungsorganisation - sie ist äußerst eng mit wirklicher Lokalforschung verbunden und setzt die Hilfe von Insidern der betroffenen Gruppen voraus, so daß ohne Anlehnung an afrikanische Universitäten es für die deutsche und europäische Forschung schwer werden wird mitzuhalten. Der Ansatz von Dike, Jones, Ryder17 und anderen hat noch eine weitere wichtige Auswirkung auf die Historiographie gehabt als die, die afrikanischen Akteure der frühen Kolonialperiode sichtbar werden zu lassen.
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Die Erforschung der ökonomischen und politischen Organisation zur Bewältigung des Fern- und Zwischenhandels diente auch der Widerlegung der kolonialen Legende von der Geschichtslosigkeit Afrikas. Diese von Basil Davidson so maßgeblich beeinflußte Rekonstruktion einer großen afrikanischen Tradition hat Vorzüge wie gefährliche Nachteile mit sich gebracht. Alles, was "groß", "organisiert", mit europäischen Institutionen vergleichbar war, wurde zum würdigen Forschungsgegenstand, da es der Wiederherstellung der Würde und einem der neuen Nationalstaatsbildung entsprechenden Afrikabild zuarbeitete. Diese Forschung mußte indessen unsystematisch bleiben und die für den Nachweis der "Größe" geeigneten Themen überbetonen, wenn nicht idealisieren. Insofern haben wir es mit echt nationalistischer Historiographie zu tun, vergleichbar mit unserer Mediävistik während der Reichsgründungszeit - auch dann übrigens, wenn sich ausländische Forschung zum Fürsprecher des neuen Afrika macht. Aber diese Suche nach Organisation des frühen Afrika hat gerade im wirtschaftlichen Bereich mit der Frage nach dem innerafrikanischen Handel und der Entwicklung der Arbeitsteiligkeit einen wesentlichen Beitrag für die historische Tiefendimension in unserer Kenntnis der afrikanischen Gesellschaft gebracht, wenn auch die Forschung auf Handel, und insbesondere Fernhandel, auch aus Gründen des Quellenmaterials beschränkt blieb - also noch nicht die Veränderungen in den eigentlichen Produktionsverhältnissen zum Thema selbst wurden, höchstens am Rande gestreift wurden. Eine vorläufig repräsentative Sammlung von Arbeiten findet sich in dem Band "Pre-Colonial African Trade" von R. Gray und D. Birmingham 18 , wiederum illustriert an Zentral- und Ostafrika, wobei der Kongo- und der angolanische Raum als Teil Zentralafrikas verstanden wird - auch dies ist Programmatik, nämlich der Bezug auf die Bantuexpansion. Die frühe afrikanische Handelsgeschichte und ihre notwendige Verknüpfung mit der Geschichte der Königreiche hat wiederum Konsequenzen für die Forschungsorganisation, die uns in der BRD praktisch unvorbereitet trifft. Ich meine das Zusammengehen von Auswertung der oralen Traditionen - wie sie Vansina am Beispiel dieses Raumes systematisiert hat" - mit der wirtschaftsgeschichtlich orientierten Archäologie und der Genealogie, die sich wiederum auf orale Traditionen stützt. Die historische Tiefendimension, die mit dieser Methodenkombination erreicht werden kann, ist enorm, insbesondere wenn man auf Fundstellen, auf die man von oralen Traditionen her gestoßen ist, weitergräbt, als aus der oralen Tradition her begründet ist. P.R. Schmidt ist etwa in Bukoba - also im Zwischenseenbereich von Nachrichten über Eisenschmelzen in der oralen Tradition auf so allgemeine Markierungen wie sehr alte Versammlungsbäume oder überhaupt markante Bäume weitergegangen mit dem Effekt einer Aufdeckung von Kontinuitäten über 2000 Jahre. 20
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Eine ähnliche Methodenkombination findet sich in immer stärkerem Ausmaß für die wirklich frühe afrikanische Geschichte, die immer mehr Fundamentalforschung in dem Sinne betreibt, daß sie auf die Geschichte der Produktionsverhältnisse und der Technologierezeption abzielt. Sie hat sich aus der Klassifizierungsdebatte der Linguisten, der Ethnobotanik und der Archäologie der Kulturkreise und Schichten entwickelt. Ausgangspunkt war die Debatte über die Wanderungsbewegungen. Zusammengefaßt wurde sie, allerdings im Interesse der Oliver-Linie, in dem Sammelband "Papers on African Prehistory" 197021, wenn auch diese Diskussion bereits viel weiter fortgeschritten ist. Die Relevanz dieser Forschung - die Zusammenhänge zwischen der Rezeption und Entwicklung der Nutzpflanzen, der Metallurgie und dem Charakter der sogenannten Wanderungen - für die Suche nach einem Verständnis afrikanischer Phänomene als Phänomene von Agrargesellschaften ist gar nicht zu unterschätzen. Von hier aus läßt sich mühelos überleiten in jene Trends der Historiographie, die sich in den letzten fünf Jahren auszuprägen beginnen. Die gegenwärtigen internationalen Schwerpunkte in der Forschung - sicher bei Fortgang der Produktion in den skizzierten Richtungen - sind sowohl durch politische als auch durch methodologische Anstöße geprägt worden. Zunächst die politischen Anstöße: 1. Entwicklungspolitische Fragestellungen haben sowohl in den Geberländern wie unter dem Einfluß der Wirtschaftsplanung in Afrika selbst immer mehr den Blick auf die historischen Ursachen der aktuellen politischen Ökonomie dieser Länder geworfen. 2. Die internationale Rezeption neomarxistischer Konzepte von den Ursachen von Unterentwicklung und von Klassenbildung - nämlich die Frage nach den Produktionsverhältnissen im Agrarbereich - haben in eine ähnliche Richtung geführt. Als eine Sonderfrage mit enormer potentieller Bedeutung für die Revision Marxscher Grundannahmen entfaltet sich z. Zt. im sozialistischen Bereich ein ähnliches Interesse wegen der Suche nach Einordnung der afrikanischen Produktionsweise in das Stufenschema Urgesellschaft - Feudalismus und seiner Sonderform der asiatischen Produktionsweise.22 Die Krise in den früher so gefeierten Eliten des Neuen Afrika - insbesondere in den Musterländern der Dekolonisation Ghana und Nigeria - hat ebenfalls den Blick geschärft, daß wir es in Afrika mit Agrargesellschaften zu tun haben und die Produktionsverhältnisse von 80-90 Prozent der Bevölkerung von zentraler Bedeutung sind. Die wissenschaftliche Methodenentwicklung hat ein Instrumentarium vorbereitet und popularisiert, das es ermöglicht, auch tatsächlich in jene Richtungen vorgehen zu können: 1. Aus der Systematisierung der Industrialisierungsgeschichte z.B. durch Marx, Schumpeter und Rostow - um sehr einflußreiche Autoren zu nennen - haben sich
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Fragen für alle Gesellschaften ergeben, die aus agrargesellschaftlichen Strukturen in Wachstums- und Industrialisierungsprozesse hineingeraten, denn auch die industrielle und davor die kommerzielle Entwicklung der altenglischen, amerikanischen und japanischen Gesellschaft beruhte auf Änderungen in der Agrarstruktur. 2. Dementsprechend werden die quantifizierenden Methoden der auf die Industrialisierungs- und Kommerzialisierungsprozesse ausgerichteten Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auf Afrika übertragen. Ein gegenwärtig aktuelles Beispiel ist die Debatte über die Auswirkungen des Sklavenhandels, die von Curtins Neuberechnung der Transportziffem ausging. 23 Ebenso werden die Dikeschen Ansätze für die Wirtschaftsgeschichte Westafrikas mit Währungs-, Preis- und Kreditstudien für die vorkoloniale Zeit fortgeschrieben - die neuen Hefte des Journal of African History oder etwa der Economic History Review sind voller solcher Beiträge.24 3. Die Verdichtung der archäologischen Fundstellen führt zu einer Beschleunigung der früheren agrargeschichtlichen Daten und Hypothesen. Gegenüber den vorhin geschilderten Versuchen von Ranger, eine historische Tiefendimension über die Geschichte der religiösen und politischen Institutionen zu erreichen, oder von Birmingham, die Handelsgeschichte zum Ansatz zu nehmen, rückt mit jener Frage nach der Veränderung der Produktionsverhältnisse auch für das vorkoloniale Afrika die interne Entwicklungsdynamik in den Vordergrund. Damit zusammen hängt auch das so große aktuelle Interesse an der Geschichte der Nutzpflanzenrezeption, den Ursachen der Wanderung, der Integration des Vieh- in den Ackerbaukomplex oder an den Einflüssen der Sklaverei auf die Struktur Westafrikas. Ein Musterbeispiel für diese Richtung ist m. E. Walter Rodneys "History of the Upper Guinea Coast" (1970)25 - eine Analyse von besonderer Dynamik im Produktionsbereich, in der politischen Organisation und der Arbeitsteiligkeit in kleinen Räumen, konzipiert auch als Gegenbild zu den sudanischen Großreichen und als Beweis für Entwicklungsdynamik vor dem Unglück des Sklavenhandels. Vielfältiger sind die Auswirkungen dieser neuen Orientierung im Bereich der Forschung über die Kolonialperiode und der Frühgeschichte des Nationalismus. Insbesondere die protokoloniale Periode und die Zeit der frühen Kolonialherrschaft rückt unter der Frage nach der Dynamik oder Innovationsfähigkeit der afrikanischen Systeme in den Vordergrund, damit die Frage nach der Veränderung der Produktionsverhältnisse. Die Frage nach der Geschichte des Anschlusses an den Weltmarkt und der Umorientierung zumindest von ersten Regionen in Afrika an einen Marktnexus, in dem Akkumulation und Profitmaximierung eine Rolle zu spielen beginnen, wird zum zentralen Periodisierungsmerkmal; Unterfragen sind: die Geschichte der sozialen Differenzierung als Folge dieser Entwicklungen, der spezifische Charakter, den das jeweilige afrikanische Land durch die koloniale Wirtschaftsstruktur erhalten hat. Die schon erwähnten Arbeiten zum Geld- und Kreditsystem in Westafrika gehören in diesen Zusammenhang.
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In Ostafrika hat die Forschung insbesondere durch Norman Bennet und Abdul Sheriff - ausgehend von der Geschichte des Zanzibar-Handelsreiches - die afrikanische Initiative herausgearbeitet und den Beginn der Moderne in diese vorkoloniale Periode vorverlegt. 26 Für Südafrika rückt das ökonomische und politische Gleichgewicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert in den Vordergrund - ein Gleichgewicht rivalisierender Bauerngesellschaften. Sie alle waren auf der Suche nach Weltmarktverbindung, seien sie nun europäischer Herkunft oder Xhosa und Zulu, bis dann die Mineral Revolution das Machtgleichgewicht zerstörte; ich verweise hier auf Thompsons Sammelband "African Societies in Southern Africa, 196927 und die "Oxford History of South Africa" mit dem von der südafrikanischen Regierung zensierten ungedruckten Kapitel über den Nationalismus. Indessen, die Wirtschaftsgeschichte der Kolonialzeit ist z.Zt. das wichtigere Forschungsfeld, d.h. die Geschichte der ökonomischen Differenzierung innerhalb der Kolonien, die interne soziale Differenzierung, die Konsequenzen der demographischen Entwicklung einschließlich der Erforschung der frühen Nationalisten und Innovatoren. Am weitesten im Durchdenken dieser Ansätze ist m.E. Iliffe - jetzt Cambridge - dessen kleine Studie "Agricultural change in modern Tanganyika" mir von exemplarischer Bedeutung erscheint.28 Im deutschen Sprachraum halte ich die Arbeit des Schweizers Wirz in der Reihe von v. Albertini zum Thema "Vom Sklavenhandel zum kolonialen Handel in Kamerun" für einen echten Durchbrach, in dem eine integrierte koloniale Wirtschaftsgeschichte mit Verbindung von europäischen Strategien und afrikanischer Reaktion gelingt. 29 Auch die Geschichte des Protonationalismus und der Organisationen, die für die Nationalbewegung von konstitutiver Bedeutung werden, z.B. die Genossenschaftsbewegung oder die afrikanische Gewerkschaftsbewegung, das Transportgewerbe usw., werden in jüngster Zeit intensiver in diesen Themenkomplex einbezogen. Dies geschieht unter der Aufnahme der Weberschen und Schumpeterschen Frage, woher in einer dynamischen Gesellschaft die Innovatoren kommen - nun nicht mehr nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich. Wer baut als erster Tabak an, wer geht in das Transportgewerbe, sind die missionierten Minderheiten besonders innovatorisch, gibt es neue zugewanderte Eliten, etwa aus den im Ausland rekrutierten Trägerkorps der Weltkriege etc. Vermutlich noch in diesem Jahr wird eine Sammlung von Innovatoren für Tanganyika erscheinen Arbeiten von graduierten Studenten in Dar es Salaam.30 Im Grunde eine Erweiterung auch unserer Kenntnis von der sozialen Basis des Nationalismus. Und ich könnte mir denken, aufgrund der Studien zu Steuerstreiks und ähnlichen Protestaktionen des kleinbäuerlichen Elementes, daß eine Überprüfung der Zwischenfälle und Konflikte z.B. im Zusammenhang mit messianischen Bewegungen ihre ökonomische und soziale Dimension erhellen würde. 31
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So wichtig diese Anbindung der internen afrikanischen Entwicklung an diesen Weltmarktnexus und die Ableitung vieler sozialer Prozesse ist, sie hat eine Tendenz, die afrikanische Initiative zu überschätzen und die von den europäischen Großmächten gesetzten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen zu unterschätzen. Insofern halte ich einen aktuellen Trend in der kolonialen Wirtschaftsgeschichte, die sozusagen nach der Vorgeschichte der nachkolonialen Präsenz der europäischen Großfirmen fragt, die Europaorientierung der Führungsschichten behandelt, Erziehungs- und Medizingeschichte betreibt, für recht bedeutsam.32 Mir fielen allein im jüngsten Cass Catalog für 1979 typische Ankündigungen in dieser Richtung auf: Amsden: International Firms and Labour in Kenya 1945-197033, Government and Labour in Kenya, 1895-1969, von Clayton, oder um wiederum einen deutschen Beitrag zu nennen: Baumhöggers fortgeschrittene Vorarbeiten zur Geschichte der Integration in Ostafrika 1917-1969 - um nur in einer Region zu bleiben. Während hier also Ankündigungen noch vorherrschen, organisiert sich die Forschung unter dem Aspekt der Entwicklung der Agrargesellschaften in interdisziplinären Zeitschriften. Erwähnt seien nur das 1964 gegründete Journal of Development Studies und die Ankündigung eines Journals of Peasant Studies für Juli dieses Jahres. Für die deutsche Forschung stehen sicher zwei Probleme im Vordergrund neben der Sicherung und Durchsetzung der bisherigen Forschungsergebnisse wird zum Hauptproblem werden, wie wir originär an der Aufarbeitung der lokalen Entwicklungen mitwirken können, also der Geschichte neuer Produktionsformen, der Innovationsgeschichte, der Widerstandsgeschichte, da dies nicht nur durch Sanktionen gegen Spezialisierung in der deutschen Afrikageschichte behindert wird, sondern weil der Mangel an Spezialisierung die Anlehnung an Afrikanische Universitäten und ihrer Arbeitsteams erschwert. Kontinuitäten im ökonomischen Bereich - insbesondere im modernen Sektor, bieten sich auch wegen der Materiallage in einem exportorientierten Land sicherlich besonders an. Dies dürfte insbesondere ein fruchtbares Arbeitsfeld werden sieht man von unserer allgemeinen Aufklärungsverpflichtung über den Charakter der Agrargesellschaften, in unserem Falle Afrikas, einmal ab.
Anmerkungen
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Vgl. R. v. Albertim, Dekolonisation, Köln 1966, S. 122-138. Kennzeichnend hierfür die bekannten Sammelbände von A. Southall, Social Change in Modern Africa, Oxford 1961, mit Beiträgen von M. Gluckmam, E.W. Ardener, G. Wilson, J. v. Velsen u.a. und W. Bascom/M.J. Herskovits, Continuity and Change in African
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Cultures, Chicago 1959. Die Akkulturationssoziologie und Ethnologie verfolgte selbstverständlich auch wissenschaftstheoretisch bedeutsame Interessen im Bereich der allgemeinen Anthropologie und hatte von vornherein auch Pionierfunktionen für die historische Aufarbeitung der afrikanischen Gesellschaften: bekanntestes Beispiel hierfür wohl M. Fortes/E.E. Evans-Pritchard, African Political Systems, London 1940. Überblick auch über die älteren Forschungsansätze I. Geiss, Panafrikanismus, Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt/M. 1968. Vgl. hierzu den Sammelband J.S. Coleman/C.G. Rosberg, Political Parties and National Integration in Tropical Africa, Los Angeles 1966, mit guter Bibliographie über diese Arbeitsrichtung. K.O. Dike, Trade and Politics in the Niger Delta, Oxford 1956; J.F.A. Ajayi/R. Smith, Yoruba Warfare in the Nineteenth Century, Cambridge 1964. Kennzeichnend für diese Verbindung von Kolonialpolitik und Darstellung der afrikanischen Positionen am Beispiel deutscher Kolonien: R. Austen, Northwest-Tanzania under German and British Rule, Colonial Policy and Tribal Politics 1889-1939, New Haven 1968; J. Iliffe, Tanganyika under German Rule 1905-1912, Cambridge 1969; H. Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Südwestafrika 1894-1914, Hamburg 1968. S. Marks, Reluctant Rebellion, The 1906-08 Disturbances in Natal, Oxford 1970. Forschungsprojekt von B.A. Ogot, Universität Nairobi. T. Ranger, Emerging Themes of African History, Proceedings of the International Congress of African Historians, Dar es Salaam 1965, Nairobi 1968. J. Iliffe/G.C.K. Gwassa (Hg.), Records on the Maji Maji Rising, Nairobi 1972. T. Ranger, Revolt in Southern Rhodesia 1896-97, A Study in African Resistance, London 1967. T. Ranger, Connexions between "Primary Resistance" Movements and Modem Mass Nationalism in East and Central Africa. In: Journal of African History (JAH), 9 (1968). Fortführung dieser Ansätze wurde vorgelegt auf der Dar es Salaam conference on the historical studies of African religious systems, 1970: T. Ranger/I.N. Kimambo, The Historical Study of African Religion, Berkeley 1972. R.I. Rotberg, A Political History of Tropical Africa, New York 1965, S. 410. G.A. Shepperson/T. Price, Independent African: John Chilembwe and the Origins. Setting and Significance of the Nyassaland Native Rising of 1915, Edinburgh 1958. G. Grohs, Stufen afrikanischer Emanzipation, Studien zum Selbstverständnis westafrikanischer Eliten, Stuttgart 1967. Dike, a.a.O.; G.I. Jones, The Trading States of the Oil Rivers, London 1963; A. Ryder, Benin and the Europeans 1485-1897, London 1969. Repräsentativ auch als Sammelband J.A. Ajayi/I. Espie, A Thousand Years of West African History, A Handbook for Teachers and Students, Ibadan 1965, 3. Aufl. 1969. R. Gray/D. Birmingham (Hg.), Essays on precolonial trade in Central and East Africa before 1900, London 1970. J. Vansina, Kingdoms of the Savanna, Wisconsin 1966; zur Methode der bekannte Aufsatz: De la tradition orale, Essai de methode historique, Tervuren 1961. P.R. Schmidt, Ausgrabungen zur Eisenzeit in Buhaya, Forschungsbericht; vgl. J.E. Sutton, Archeology in Tanzania. Seminar Paper, History Department, University of Dar es Salaam, 8.2.1972. J. Fage/R. Oliver, Papers in African Prehistory, Cambridge 1970. Hierzu am Beispiel der Diskussion in der DDR H. Wunder (Hg.), Feudalismus. Nymphenburger Texte zur Wissenschaft. Bd. 17, München 1974, Einleitung. P. Curtin, The Atlantic Slave Trade, a census, Wisconsin 1969.
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Z.B. M. Johnson, The Cowrie Currencies of West Africa. In: J AH, 11 (1970); A. Latham, Currency, Credit and Capitalism on the Cross River in the Precolonial Era. In: ebenda, 12 (1971). Wichtige Zusammenfassung jetzt: A.G. Hopkins, An Economic History of West Africa, London 1973. W. Rodney, A History of the Upper Guinea Coast 1545-1800, Oxford 1970. N. R. Bennett, Mirambo of Tanzania 1840? - 1884, London 1971; A. Sheriffs PhD über das Zanzibar Empire ist bislang unveröffentlicht. L. Thompson, African Societies in Southern Africa, London 1969. J. Iliffe, Agricultural change in modem Tanganyika. Historical Association of Tanzania Paper Nr. 10, Nairobi 1971. A. Wirz, Vom Sklavenhandel zum kolonialen Handel, Wirtschaftsräume und Wirtschaftsformen in Kamerun vor 1914, Zürich 1972. J. Iliffe (Hg.), Modern Tanzanians. A volume of biographies, dar es Salaam 1973. Ein anderer Schritt in diese Richtung, wenn auch noch vorwiegend unter dem Aspekt des Widerstandes, ist R.I. Rotberg/A. Mazrui, Protest and Power in Black Africa, New York 1970. Z.B. K.J. King, Pan Africanism and Education, a Study of Race Philanthropy and Education in the Southern States of America and East Africa, Oxford 1971; A. Beck, A History of the British Medical Administration of East Africa, 1900-1950, Cambridge/Mass. 1970. A.H. Amsden, International Firms and Labour in Kenya 1945-1970, London 1971.
7 Hobsons Prognosen zur Entwicklung des Imperialismus in Südafrika und China. Prognosenanalyse als Beitrag zur Theoriediskussion aus: Joachim Radkau/Imanuel Geiss (Hg.): Imperialismus im 20. Jahrhundert. Gedenkschrift für George W.F. Hallgarten, München 1976, S. 43-69. e C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München
Die neuere Geschichtswissenschaft hat nach wie vor erhebliche Probleme, aufgrund ihrer stark ausgeprägten Arbeitsteiligkeit zwischen Spezialisten von Regionen oder einzelnen Ländern einerseits und Spezialisten für sehr kurze Zeitabschnitte des 19. und 20. Jahrhunderts andererseits übergreifende Kontinuitäten zu behandeln. So gibt es trotz jahrzehntelanger Bemühungen keine von geschichtswissenschaftlichen Ansätzen und Erfahrungen geprägten zusammenhängenden Beiträge zu theoretischen Problemen der Imperialismusfrage. Es finden sich im wesentlichen Bestätigungen und Widerlegungen politökonomischer oder politologischer Theorien für eine bestimmte Periode oder eine Region, meist in Kombination mit einem isoliert diskutierten Problem. Dies hat dazu geführt, daß die Einzelkorrekturen, die die geschichtswissenschaftliche Forschung zum Komplex "Imperialismus" entwickelt hat, wenig in die allgemeinen Theorieansätze eingegangen sind und so eine Verarmung dieser Theoriebildung wegen zu großer Distanz zu empirischen Materialien entstand. Noch erstaunlicher ist, daß die Geschichte der Imperialismustheorie von der Geschichtswissenschaft - mit Ausnahme des Versuches von Koebner, ihr Herauswachsen aus der zeitgenössischen Publizistik bis zum ersten anspruchsvollen Theorieversuch von Hobson zu erklären - nicht als naheliegender kritischer Ansatz zur Kritik der Theorie verwandt worden ist. Dabei legt dies eine schlichte Überlegung nahe, nämlich, daß jede Imperialismustheorie Prognoseelemente enthält, und, da Prognose nun einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht worden ist, der historischen Kritik offensteht. Historische Kritik der Prognosen kann ein brauchbares Instrument zur Offenlegung der Aporien von Theorie, ihrer Zeitgebundenheit, aber auch ihrer Aussagestärke abgeben. Die in der Empirie aufgefundenen Varianten und Widersprüche bieten ein Stimulans zur Weiterentwicklung von Theorie. Sie bieten außerdem Schutz vor der Suggestion aktueller politischer Trends und Prognosen. Die Analyse von Prognosen, deren zugrundeliegende Theoreme für die Theoriebildung wirkungsgeschichtlich bedeutsam blieben, bieten Möglichkeiten, kritische Distanz auch gegenüber zeitgenössischen Prognosen mit Theorieanspruch herzustellen. Der vorliegende Beitrag will diesen Überlegungen am Beispiel der Hobsonschen Prognosen nachgehen, die dieser im Zusammenhang mit seiner Imperialismuskritik entwickelt hat. 1 Hobsons Prognosen eignen sich aus mehrfachen Gründen für diesen Ansatz. In seinen Arbeiten sind zeitgenössische politische Kritik und theoretischer Ansatz noch erkennbar aufeinander bezogen, und damit auch die normativen
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Voraussetzungen. Seine Theoreme überschneiden sich mit Ansätzen der verschiedensten Positionen. Die Wirkungsgeschichte ist nicht auf die Periode vor 1914 beschränkt und eröffnet damit die Kontinuitätsfrage über 1914 hinaus. 2 Er argumentierte mit Alternativen, in denen Wahrscheinlichkeiten, keine Gesetzmäßigkeiten dominierten. Das Verbindungsglied zur marxistischen Theorie, ohne daß Hobson durch irgendein Konzept der Revolutionserwartung für die schon industrialisierten Großmächte beeinflußt ist, besteht in dem gemeinsamen Ansatz zur Periodisierung des Imperialismus durch den Übergang in den "New Imperialism" - nicht aus Anlaß der Aufteilung Afrikas, sondern wegen neuer Qualitäten in der Kapitalorganisation um die Jahrhundertwende. Die Argumente, die bei Hobson zum Gesamtkonzept mit wissenschaftlichem Anspruch zusammengefaßt wurden, entwickelten sich aus der publizistisch-politischen Debatte in England und den USA seit 1896. Die markanten Ereignisse in diesem Zusammenhang waren nicht die Aufteilung Afrikas, nicht einmal Fashoda, sondern die Jameson Raid in Südafrika bis hin zum Burenkrieg, die Konflikte um China vom Chinesisch-Japanischen Krieg bis zur internationalen Intervention im Boxeraufstand sowie der US-Spanische Krieg um Kuba und die Philippinen. Damit begann eine Debatte, die von einer neuen Phase, einer neuen Qualität internationaler Beziehungen ausging. 3 In der Debatte damals und nachwirkend in der marxistischen Imperialismusanalyse wurde damit ein scharfer Einschnitt auch gegenüber den Ereignissen des 19. Jahrhunderts vorgenommen, wie es für die genannten Regionen etwa der Opiumkrieg und die "Mineral Revolution" 4 in Südafrika darstellten.
Hobsons Analyse des "New Imperialism" Für Hobson war der Ausgangspunkt dieses New Imperialism, wie im programmatischen Titel seines bekannten Artikels in der Contemporary Review (1900) "Capitalism and Imperialism in South Africa" 5 plakativ hervorgehoben, daß entscheidende Kapitalströme und Investitionen durch Ausländer in andere Staaten gelenkt wurden und die politischen Konsequenzen - Absicherung des neuen Eigentums, Erweiterung der Anlagemöglichkeiten sowie Manipulierung des Arbeitsmarktes - unter dem Schutz der europäischen Großmächte betrieben wurden. Das Neue am Imperialismus sei, daß anders als bei einem Fernhandelssystem dadurch in vielen Territorien der Erde ein "antagonism between the political and the economic structure" entstanden sei. Zwar würde die Hauptbewegung der Kapitalströme und Investitionsentscheidungen sich auf die Großmächte selbst konzentrieren, politische Expansion oder gar Fusion zwischen den Großmächten sei aber unmöglich. Stattdessen würden die in die Großmächte drängenden ökonomischen Kräfte ein System des "informal political internationalism" ausbilden. Anders sei es in den kleinen, dekadenten oder neuen Ländern. Dort seien die ausländischen
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Investitionen der beherrschende politische Faktor. Zu diesen Ländern zählte er die Türkei, China, die Staaten Südamerikas und schließlich Südafrika. Vorwegnahme des zukünftigen Trends in Südafrika Für Hobson war Südafrika der eindeutigste Fall, weil dort mit der Gold- und Diamantenindustrie, insbesondere durch das kapitalintensive "deep level mining", auf engstem Raum eine kapitalistische Industrie entstanden sei, die von der bislang am höchsten organisierten Gruppe internationaler Finanziers beherrscht würde. Die Zukunft der imperialistischen Weltentwicklung lasse sich an Südafrika ablesen, gerade wegen dieses "distinctly international character of this financial power" und der "concentrative forces distinctive of modern capitalism"6. Die Konsequenz eines solchen Konzentrationsprozesses und damit auch die "causa causans" des Krieges in Südafrika sei "the growing need of these economic rulers to become political rulers". Dieser Prozeß sei zwangsläufig und gegen den Willen der "economic rulers", auch dann, wenn man etwa bei Cecil Rhodes Empire-Träume als Mittel zur Selbstverwirklichung als ein Randphänomen konstatieren könne. Die Aversion des Geschäftsmannes gegen Politik sei zwar universal, dort wo die Verbesserung der Gewinnchancen mit politischen Mitteln nötig würde, würde er seinen Einfluß lieber durch "gentle art of bribery" ausüben als durch unmittelbare politische Aktivität; nur dann, wenn die Übernahme der politischen Macht für die industrielle Prosperität wesentlich würde, ginge der "economic man" in die Politik, würde er etwas von seinem "primitive cosmopolitanism" abstreifen und Loyalist und Patriot werden.7 Das letzte Mittel in dieser Kette sei dann, wenn selbst dieser politische Einfluß nicht mehr ausreiche, die Großmacht, mit der man politisch und ökonomisch am engsten verwachsen sei, zur Intervention, zum "Imperialism" zu ermuntern. Die Alternative, die nach Hobson in Südafrika verpaßt wurde, war die Ausbildung einer - die moderne Imperialismustheorie würde sagen - "nationalen Bourgeoisie", die Hobson aus Buren wie auch aus den Uitländern europäischer, besonders britischer Herkunft zusammengesetzt sah. Die Macht der konservativen Burischen Partei Krügers, die in Reaktion auf die ökonomische Eroberung des Rand durch das internationale Kapital sich "stubbornly" in eine Festung der Unabhängigkeit zurückgezogen habe, sei 1893 fast gebrochen gewesen. Die Zukunft habe bei einem "strong, genuine liberal movement among the burghers" gelegen, "all the men of education were upon this side, the future was with them". Erst die aggressive Politik der Jameson Raid hätte eine burische nationale Einheitsfront geschaffen und damit eine "friedliche Reform" verhindert, und das hieß, eine von Interventionen des internationalen Kapitals freie nationale Entfaltung des industriellen Komplexes in Südafrika.8
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In seinem Buch "Der Imperialismus" (1902) hat Hobson zu dieser Analyse zwei Elemente hinzugefügt, die Prognose für die Entwicklung in Europa und die Prognose für die Betroffenen. Durch die Prognose für die Betroffenen hat er zugleich sein harmonisches Bild der friedlichen Reform durch eine liberale Reform einer weißen nationalen Bourgeoisie in Frage gestellt. Hobson hat mit einem Scharfsinn, der 50 Jahre sozialwissenschaftliche Forschung für die Strukturprobleme Südafrikas vorwegnahm, die Entwicklungssperre beschrieben, die sich aus der Arbeitsverfassung Südafrikas entwickeln würde. Das "System der Kontraktarbeit" habe den "normalen Prozeß der Selbstentfaltung verdorben" 9 . Denn die "legitime und gesunde Methode, ein Land zu entwickeln, besteht darin, das Arbeitspotential seiner Bewohner zu nutzen, die man durch normale wirtschaftliche Stimuli dazu veranlaßt, sich da niederzulassen, wo lohnende Beschäftigung gewährleistet ist." Wenn Arbeitskräfte fehlten, dann könne es durchaus zur Einwanderung kommen, aber nur durch "Leute, die Bürger ihres Adoptionslandes werden wollen, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Einheiten" 10 . "Ein Kontraktarbeitersystem, wie gut es auch geführt wird, sündigt gegen die Grundgesetze der Natur, weil es die Arbeiter in erster Linie als Instrumente behandelt und nicht als Menschen". Hobson sah in dieser Entwicklung einen "neuen Faktor von gefährlichem Charakter und Ausmaß", dessen Tragweite "kaum zu überschätzen sei". Er bezweifelte, ob es "für die Kultur der Welt einen Reingewinn ergibt, wenn der Gold- und Diamantenvorrat um einen derartigen Preis vermehrt wird" 11 . Die Entwicklungssperre würde auch durch die Lebensweise der weißen Herren ausgelöst. Diese sei ausgesprochen "parasitär". "Sie leben von diesen Eingeborenen. Ihre Hauptarbeit besteht darin, daß sie zu ihrem eigenen Unterhalt die Arbeit der Eingeborenen organisieren", sie seien "Parasiten" mit dem Effekt, daß sie mit der Zeit "unfortschrittlich" und unproduktiv würden. Noch ausgeprägter wäre diese Tendenz in den Ländern ohne Siedlungsgebiete für Europäer - Hobson schloß diese Überlegung mit einem Zitat von John Stuart Mill: "Ein Volk kann ein anderes als ein Gehege für seinen eigenen Gebrauch halten, einen Ort, an dem es Geld macht, eine menschliche Viehfarm, die für den Gewinn ihrer Bewohner betrieben wird. Aber wenn das Wohl der Regierten das eigentliche Geschäft einer Regierung ist, ist es gänzlich unmöglich, daß ein Volk sich gerade hiermit befassen sollte." 12
Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf Europa selbst und die Funktion des Konfliktes um Südafrika für die Entwicklung des Imperialismus - Mobilisierung der öffentlichen Finanzkraft für die Expansion und der breiten nationalistischen Strömungen im Interesse der international organisierten Kapitalgruppen13 - sind im Zusammenhang mit dem chinesischen Problem zu erörtern. Bereits die Konsequenzen des Kontraktarbeitersystems in Südafrika hatten Hobson auf die chinesische Frage gebracht, weil er in seiner Kritik nicht nur die afrikanischen, sondern auch die Rekrutierung chinesischer Arbeiter im Blick hatte. Er begründete deshalb die
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Inhumanität und Entwicklungssperre, die von der Arbeitsverfassung in Südafrika ausgingen, nicht aus den besonderen Umständen des Traditionsabbruches für "primitive Eingeborene", sondern auch für "zivilisierte" Chinesen, und machte sie daher zu einem universalen Problem, unabhängig von irgendeinem Entwicklungsstadium. Die Schlüsselstellung Chinas Der "große Prüfstein für den westlichen Imperialismus" war für Hobson Asien.14 Die Natur des Imperialismus offenbarte sich ihm dort "am deutlichsten in China". Die Begründung hierfür leitete er aus seiner Prognose der Weltentwicklung ab, zu der imperialistische Politik führen könnte. Er argumentierte keineswegs deterministisch-linear, sondern alternativ, wobei sich die für ihn fast apokalyptische Variante aus dem Sieg des Imperialismus ableitete. Hobson schloß die ihm für die Entwicklung der Welt sympathischste Entwicklung, daß China den Imperialismus erfolgreich abwenden könnte, in der Vorbemerkung zu seinen Überlegungen aus. Er hielt es für "unsinnig" anzunehmen, daß sich der Generalangriff der Industrie auf China auf die Dauer umgehen ließe. "Wenn China nicht bald vom Schlaf der ungezählten Jahrhunderte des Friedens erwacht und sich in einen mächtigen Militärstaat verwandelt, kann es dem Druck der auswärtigen Mächte nicht widerstehen."15 Jedenfalls sei eine solche Wendung in der nächsten Zeit nicht zu erwarten. Ebensowenig sei anzunehmen, daß China die europäischen Großmächte in Aufteilungskriege untereinander verwickeln könne, um so die Unabhängigkeit indirekt zu sichern. "Weit begründeter ist die Annahme, daß der Kapitalismus, nachdem er durch separatistische Nationalpolitik, die zu Streit zwischen westlichen Völkern führe, sein Ziel nicht erreicht hat, die Kunst der Kombination erlernen und daß die schnell wachsende Macht des internationalen Kapitalismus ihr entscheidendes Experiment in der Ausbeutung Chinas anstellen wird." Das heißt, es würde nicht zur Weiterentwicklung des Militarismus und seiner nationalpolitischen Verankerung führen, sondern die Interessen "kleiner Finanzund Industriegruppen" würden durch das "rasche Wachstum eines praktischen Internationalismus unter den Finanzgewaltigen und Industrieherren, die mehr und mehr die nationale Politik zu bestimmen scheinen ..., in Zukunft derartige Kriege unmöglich machen". "Während die Arbeiter von internationaler Zusammenarbeit reden, haben die Kapitalisten sie verwirklicht."16 Hobson behauptete, gerade die "friedliche" Durchdringung Chinas durch den "internationalen Kapitalismus" würde das Drama auslösen - und zwar nicht, weil Widerstand erweckt würde, sondern weil die "Auflösung" Chinas das Ergebnis sei.17 "Erst dann werden wir die vollen Risiken und den Wahnsinn des ungeheuerlichsten revolutionären Unternehmens, das die Geschichte je gekannt hat, einsehen." Ein solches Unternehmen sei im "weitesten Maße ... ein Sprung ins
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Dunkle". Es sei ein gigantisches "parasitisches Unternehmen", ein Instrument, das die Methoden des Imperialismus revolutionieren würde.18 "Ein derartiger Verlauf würde die Logik des Imperialismus ihrer vollen Verwirklichung erheblich näherbringen. Die ihm innewohnenden Tendenzen zur unkontrollierten Oligarchie in der Politik und zum Parasitentum in der Wirtschaft würden in der Situation der .imperialistischen' Nationen klar zum Ausdruck kommen." Europa würde die Charakterzüge der Riviera annehmen - kleine Kolonien wohlhabender Aristokraten, die aus dem Fernen Osten Dividenden und Pensionen beziehen, dazu eine etwas zahlreichere Gruppe von Akademikern und Kaufleuten sowie ein starker Anhang von persönlichen Bediensteten und Arbeitern im Transportgewerbe und in den Branchen, die mit der Endproduktion leicht verderblicher Güter beschäftigt sein werden. Alle Hauptindustrien werden hier verschwunden sein, da die wichtigsten Lebensmittel und Industriewaren als Tribute aus Asien und Afrika herbeifließen: "In dem Maße, wie Westeuropa wirtschaftlich von China abhängig würde, müßte die Aufrechterhaltung dieser gemeinsamen imperialen Oberherrschaft auf die Politik des Westens zurückwirken. Alle inneren Reformbewegungen würden dem Bedürfnis der Aufrechterhaltung der Weltreiche untergeordnet, alle demokratischen Kräfte würden durch den geschickten Gebrauch einer hochzentralisierten Bürokratie und Armee in Schach gehalten werden."19 Dem "Druck der Arbeiterbewegungen auf die Politik und Industrie im Westen" könne man "mit einer Flut von Waren aus China entgegenwirken, um die Löhne niedrig zu halten und die Arbeiter zu großer Leistung anzutreiben". Notfalls könne mit dem Import "gelber Arbeiter und gelber Söldner" gedroht werden. 20 Er befürchtete, "daß eine noch größere Allianz westlicher Staaten, eine Föderation der europäischen Großmächte entstehen könnte. Weit entfernt, die Sache der Weltzivilisation zu fördern, könnte sie im Gegenteil die gigantische Gefahr eines westlichen Parasitismus heraufbeschwören. Die Oberschichten einer Gruppe fortgeschrittener Industrienationen würden aus Asien und Afrika ungeheure Tribute beziehen" 21 . Die Darstellung der Prognose über die Auswirkungen dieser Prozesse auf China enthält auffällig wenige universal anwendbare ökonomische oder soziale Elemente. Hobson zeichnete vielmehr das Schreckbild der "Auflösung" und der "Vernichtung der bestehenden Kultur Chinas". Selbst für den Fall, daß es einer chinesischen Kapitalistenklasse ähnlich wie der Japans gelänge, sich in den westlichen Industrialisierungsprozeß einzuschalten und mit den imperialistischen Kräften des Westens zu verbünden, würde das wesentlich radikalere soziale Änderungen als in Europa hervorrufen. Die Familienstruktur würde zerstört, Europas Gewaltsamkeit in Politik und Wirtschaftskampf übernommen und damit die "Erhaltung bestimmter Kleintypen eines geordneten sozialen Lebens" gefährdet werden. Die "angesam-
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melten Schätze an Weisheit", die "allein die Probe der Zeit bestanden" hätten, "Eigenschaften, die ihnen das Überleben ermöglichen" und die für die "pilzartig emporgeschossenen Kulturen des Westens ein Gegenstand tiefen Interesses" seien, würden damit verloren.22 Imperialismuskritik wurde zur Kulturkritik an Tempo, Charakter und Auswirkungen der Strukturveränderungen Europas im 19. Jahrhundert. Gegen Werte wie Gemeinschaft der Familie und Kontemplation wurden die Unwerte des Materialismus, der anonymen Großorganisationen, der Hektik und Gewaltsamkeit gesetzt. Hobson ging bei seinen kulturkritischen Überlegungen nicht soweit, einer agrarischen Idylle das Wort zu reden. Er sah auch nicht die Entfaltung der industriellen Produktivkräfte als ein Übel an. Aber er wünschte dem "Osten" eine langsame Entwicklung. Offensichtlich erschien ihm der Entwicklungsrückstand als eine wichtige Reserve für die Regeneration der Weltkultur zum Ausgleich gegenüber den selbstzerstörerischen Kräften des Westens. Unter Verwendung organologischer Metaphern entwickelte er die pessimistische Annahme, daß bei voller Entfaltung des Imperialismus das parasitäre System stagnieren und von den "Wirtsvölkern" schließlich zerstört werden würde.
Analyse der Prognosen Eine Überprüfung der Prognosen Hobsons auf Treffsicherheit und Fehler kommt um die Gefahr der Überinterpretation und der ahistorischen Überforderung seiner Aussagen nicht herum, weil die normativen Elemente in Hobsons Überlegungen das Wünschenswerte, Unerwünschte und Wahrscheinliche nicht deutlich voneinander abgrenzen und die am meisten unerwünschte Entwicklung als die wahrscheinlichste gilt. Hobson hat diese Wahrscheinlichkeiten aus den konkreten Lagen insbesondere in den außereuropäischen Ländern entwickelt, aber abgelehnt, "die Verwicklungen der politischen und wirtschaftlichen Probleme zu untersuchen, die jeder einzelne dieser Fälle mit sich bringt"23. Er hielt die Lage für "viel zu komplex, das Spiel der Weltkräfte viel zu unberechenbar, als daß diese oder eine andere Einzeldeutung der Zukunft viel Wahrscheinlichkeit für sich hätte. Doch die den Imperialismus Europas lenkenden Impulse gehen in diese Richtung und treiben einem solchen Ziel zu, sofern sie nicht aufgehalten oder abgelenkt werden... Wenn die herrschenden Klassen der westlichen Länder ihr Interesse an einem solchen Zusammenschluß in die Wirklichkeit umsetzten (gemeint ist die 'größere Allianz westlicher Staaten, eine Föderation der europäischen Großmächte' - H.B.) - und jedes Jahr wird der Kapitalismus eindeutiger international ... so wäre die Chance für einen parasitären Imperialismus gegeben"24. Formulierungen wie diese machen es schwierig, die Grenze zwischen Varianten in den Einzelheiten und der Hauptrichtung zu ziehen. Das größte Problem dabei ist, ob die "scharfe Kriegsgefahr"25, "die konstante Bedrohung des Friedens"
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innerhalb und außerhalb Europas, die er als die "tatsächlichen und unausbleiblichen politischen Auswirkungen des neuen Imperialismus" hervorhob26, ein konstitutives Element seiner Prognose ist oder ob die Internationalisierung und Regelung der Konflikte durch Kombination im Interesse der imperialistischen Ausbeutung die eigentliche Tendenz darstellen. Die Analyse hat deshalb an diesen Punkten anzusetzen: 1. an dem Verhältnis von Gesamttrend zu den wichtigen Einzelheiten. Darin eingeschlossen ist die Beurteilung seiner Vorstellungen von Zwischenetappen und 2. vor allem der zeitlichen Dimension seiner Prognosen; 3. schließlich ist die Funktion der normativen Aussagen für die Prognose und damit die Bedeutung normativer Aussagen für die Theoriebildung zu behandeln. Prognosen zur Kriegsgefahr In Hobsons Prognose wurde die Möglichkeit, daß die imperialistischen Gegensätze durch umfassende Weltkriege ausgetragen werden könnten, bagatellisiert, weil ihm der Trend zur Internationalisierung der Wirtschaftsorganisation bestimmend schien. Zwar hat Hobson die vom Imperialismus ausgehende Kriegsgefahr warnend behandelt und Militarismus, Bürokratismus und Chauvinismus als gefährliche Instrumente des Imperialismus beschrieben. Der Burenkrieg war das für ihn naheliegende Beispiel; die Ideen des Pangermanismus, Panslawismus, die britische protektionistische Empire-Idee waren für ihn Verirrungen des internationalen Prinzips.27 Da "die wirtschaftliche Wurzel des Imperialismus" der "Wunsch stark organisierter industrieller und finanzieller Interessen" sei, "auf öffentliche Kosten und durch staatliche Macht private Märkte für ihren Warenüberschuß und ihren Kapitalüberfluß zu erschließen", seien "Krieg, Militarismus und eine .mutige Außenpolitik'... die erforderlichen Mittel zu diesem Zweck"28. Aber diese Beschreibung paßte im wesentlichen auf Kriege in Außereuropa, oder aber sie bezog sich auf so wenig existenzgefahrdende regionale Konflikte, daß daraus nur die Förderung des Finanzkapitals durch öffentliche Ausgaben abzuleiten war. Auch die künftigen Kriege in Europa erschienen ihm nicht als Ereignisse, die strukturverändernde Auswirkungen haben konnten. Sie stellten eine "Vergeudung" der Ressourcen dar und hielten den "Fortschritt" auf, sie begünstigten "Formen der politischen Tyrannei und der gesellschaftlichen Autorität, welche Todfeinde echter Freiheit und Gleichheit sind" 29 , aber sie veränderten nicht die Struktur und sie beeinflußten nicht die grundlegenden Trends. Selbst verlorene Kriege konnte er in dieses System einordnen. Sie verursachten den "plötzlich auftretenden Zwang, eine Kriegsentschädigung oder sonstige öffentliche Geldbuße zu zahlen" und waren deshalb eine "unumgängliche Konsequenz imperialistischer Ausgaben"30.
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Hobson war offenkundig vom Kriegsbild des begrenzten Krieges seiner Zeit geprägt, so daß er aus den geringfügigen Auswirkungen des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 schloß, daß sie die Trends der Weltwirtschaftsorganisation nicht berühren würden. Daß sie für einzelne Großmächte soziale Revolutionen zur Folge haben oder zumindest an den Rand solcher Revolutionen führen könnten, daß die Kriegsfolgen selbst im sozialen, finanziellen und ökonomischen Bereich sowie in der internationalen Machtverteilung erhebliche Bestimmungsfaktoren werden könnten, wurde von ihm unterschätzt. Die eigentlich "gigantische Gefahr" ging von der "Allianz" der europäischen Großmächte unter der Führung der Oberschichten aus, die sich den Rest der Welt zu Tributgebieten machen wollten. Diese Prognose deckt sich im Kern mit der gegenwärtigen Beschreibung der Dichotomie zwischen den "Weltmetropolen" und der unterentwickelten Welt und der diese Struktur bestimmenden Abhängigkeiten. Auch diese Prognosen gehen nicht mehr von Weltkriegen, sondern von lokal begrenzten "Stellvertreterkriegen" aus. Die dabei hervorgehobene Rolle der multinationalen Konzerne bestätigt die Hobsonsche Beschreibung der international organisierten Finanzgruppen. 31 Betrachtet man unter diesem Aspekt Treffsicherheit und Fehlprognose, dann lassen sich einmal die Vorwegnahme von Abhängigkeitsbeziehungen und ihrer theoretischen Beschreibung auf über 60-70 Jahre und damit Hinweise auf wesentliche Kontinuitäten feststellen. Zum anderen aber geraten so einschneidende Ereignisse wie die beiden Weltkriege und ihre Auswirkungen auf Staatensystem und Sozialstruktur und damit auch die Organisation der Konflikte durch die Nationalstaaten außerhalb des Prognosefeldes und bleiben im Bereich der Einzelheiten und der Zwischenetappen. Die Beurteilung der Gründe für die Fehlprognosen und bereits die Feststellung, daß es sich um Fehlprognosen handelt, hängen im wesentlichen vom Urteil über den tatsächlichen historischen Prozeß ab. Die Feststellung der Fehlprognose hängt von der Interpretation der Kontinuitätsfrage in bezug auf die Vor-, Zwischen- und Nachkriegszeit ab, die Analyse der Prognose selbst von der Erklärung insbesondere der Ursachen und Wirkungen des Ersten Weltkrieges. Der Maßstab für die im folgenden formulierten Beurteilungen liegt in dem Anspruch an Theorie und Prognose, daß ihnen Relevanz nur abzugewinnen ist, wenn so erhebliche Ereignisse, die die Existenz von Millionen von Menschen auszulöschen in der Lage sind, soziale Revolutionen auslösen oder Trends um Generationen verzögern oder beschleunigen können, theoretisch und prognostisch präziser erfaßt werden müssen. Kritik der Prognosen Hobsons zielt auf Gewinnung genauerer Maßstäbe. Gerade die relative Sicherheit seiner Prognose für den langen Trend bietet die Gelegenheit, die den Trend verzögernden oder verändernden Elemente hervorzuheben, um sie in Theorieansätze aufnehmen zu können. Hobsons Kritik des Imperialismus orientierte sich maßgeblich am britischen Beispiel. Entgegen deutscher und neomarxistischer geschichtswissenschaftlicher Tradition sah er die europäischen Großmächte auf einem prinzipiell gleichen ökonomischen und politischen Entwicklungsstand. Sie waren kapitalistisch, unde-
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mokratisch, von Oligarchien, Militarismus und Bürokratie beherrscht. Die Legitimationsprobleme für diese Großmächte beurteilte er als gering und hielt sie für durch Manipulation leicht lösbar. Auf die besondere Offensive einer oder mehrerer Großmächte und auf Hegemonialkonflikte großen Stils war er nicht vorbereitet. Die Frage der Neuverteilung, die bei Lenin eine so zentrale Rolle spielen sollte, entfiel für Hobson, weil China im Guten wie im Bösen der große und entscheidende Reserveraum zur Steigerung der Prosperität in der Welt war. Aus den Gründen, die wider Erwarten zumindest eine der Großmächte die existenzgefährdende Offensive wagen ließ, lassen sich die von Hobson vernachlässigten Aspekte herausarbeiten: Als wesentliche Ursachen für den maßgeblichen Anteil des Deutschen Reiches am Ersten Weltkrieg gelten,32 daß sich die Koalition von aristokratischem Großgrundbesitz, monarchischem Militär und Staatsbürokratie, hochorganisierter Schwerindustrie und Universalbanken sowie technisch weit fortgeschrittenen exportorientierten Industrien in Maschinenbau, Elektrotechnik und Chemie nur auf heterogene Expansionsziele nach Ost und West und Außereuropa einigen konnte. Sie stützte sich auf die im Kern vorindustrielle Staatsstruktur, deren Militär wegen seiner inneren Sicherungsfunktion ein relativ autonomer Faktor wurde. Diese Koalition stand schließlich in besonderem Maße unter Legitimationsdruck gegenüber Mittelschichten und Arbeiterschaft und wich demgegenüber mit einem System staatlicher Repression, mit ökonomischem Wachstum und militanten Expansionskonzepten in die Offensive aus. Die Besonderheiten der strategischen Mittellage insbesondere gegenüber dem zaristischen Rußland mit vergleichbarer explosiver Sozial- und Herrschaftsstruktur ergaben ein weiteres Element. Durch das besondere Gewicht dieser innen- und außenpolitischen Situation wurde die von Hobson so hervorgehobene Internationalisierung der Wirtschaftsorganisationen, allen Kombinationen zum Trotz, an denen sich deutsche Banken in internationalen Konsortien oder führende deutsche Firmen beteiligten, nicht zum zentralen Faktor. Dennoch spricht für die Realitätsnähe Hobsons, daß ähnliche Überlegungen auch führende deutsche politisch-konzeptionelle Denker anstellten und zur Grundlage ihrer Strategie machten. Nicht nur gesinnungsverwandte Politiker wie Alfred Fried, der den wachsenden Internationalismus zur Begründung seiner pazifistischen Überlegungen verwandte, oder Bernstein und Kautsky, die ihn für die Begründung des sozialdemokratischen Reformismus einsetzten, sondern auch der Beraterkreis um Reichskanzler Bethmann Hollweg, vor allem Rathenau und Riezler, haben ihre Überlegungen zur "Weltpolitik ohne Krieg" auf Konzepte der "Parallelität" der industrialisierten Großmächte, einer Art friedlicher Koexistenz, gestützt. Damit wollten sie dem Drängen nach kriegerischer Entscheidung der inneren und äußeren Machtfragen in Europa entgegenwirken. 33 Hobson hat im Gegensatz zur tatsächlichen Entwicklung durch Hypostasierung des Internationalismus der Wirtschaftsorganisation die Absicherungszwänge aus Gründen der Legitimation im Innern und die Ausnutzung des staatlichen Machtapparates durch die Unternehmen unterschätzt. Er hat außerdem das Eigengewicht
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der alten Oberschichten, des Machtapparates und die Konkurrenzsituation aus älteren sozialen und ökonomischen Strukturen unterbewertet. Außerdem hat er die Rohstoff- und Marktmöglichkeiten und die Interessen an einer Umverteilung auch im europäischen Bereich zugunsten der Überbewertung der außereuropäischen Welt vernachlässigt. Dies ließe sich an der Geschichte der Mitteleuropakonzepte für das Deutsche Reich, an der Funktion des Balkans für das zaristische Rußland und die Doppelmonarchie illustrieren. Auf einen weiteren wesentlichen Aspekt hat Barrington Moore34 aufmerksam gemacht: daß auch der industrialisierte Staat außerordentlich stark von der Art und Weise der Integration der Agrarstruktur in dem Industrialisierungsprozeß bestimmt wird. Trendprognosen, die sich an den zukunftsträchtigsten Entwicklungen orientieren und nicht zugleich die retardierenden Elemente der Kontinuitäten zu gewichten versuchen, werden sowohl in der Abschätzung der zeitlichen Abläufe wie des Konfliktpotentials entscheidende Fehlerquoten hinzunehmen haben, dies auch dann, wenn die Grundaussage für einen so zentralen Bereich wie den des Trends im Bereich der Entwicklung und internationalen Verteilung der Produktivkräfte prinzipiell zutreffend ist.
Die ökonomische Entwicklung in Europa Ähnliche Überlegungen wie für den außenpolitischen Bereich lassen sich sogar für Hobsons zentrale ökonomische Theoreme anstellen. Analysiert man sein Konzept von den zukünftigen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den europäischen Staaten und den abhängigen Nationen in Asien und Afrika genauer, so verliert die Prognose über diese Abhängigkeitsverhältnisse - so aktuell sie als Beschreibung heutiger Phänomene generell erscheint - viel an Präzision. Geht man dem Konzept des "Parasitismus" nach, so fallen gerade seine zentralen ökonomischen Annahmen einer Überprüfung der tatsächlichen ökonomischen Entwicklung zum Opfer. Das Konzept des "Parasitismus" ging von einer Reduzierung, wenn nicht von einem Zusammenbruch der Produktivität in Europa aus, da "alle Hauptindustrien" in Europa verschwunden sein würden und nur Dienstleistungen im engeren Sinne von Transport und Service sowie Endproduktion leichtverderblicher Güter in den Metropolen organisiert würden - außerdem natürlich die Finanzorganisation und die Organisation des Militärs und anderer Bürokratien zur Sicherung der Herrschaft. Das Konzept ging außerdem davon aus, daß durch die billigen Tribute aus Asien und Afrika zwar auch der Konsum der Arbeiter ausgeweitet, durch die Androhung des Imports von Arbeitskräften aber auch Leistungsdruck und Lohnbegrenzung organisiert werden würde. Hobson hatte also kein Konzept zur Unterentwicklung Außereuropas. Er übersah den Zusammenhang zwischen Produktivitätssteigerung in den Metropolen und der von ihm erkannten neuartigen Kapitalorganisation, weil er die niedrigen Lohnkosten in Außereuropa zum entscheidenden Kriterium für die Investitionen machte. Er sah Unterkonsumtion durch Verzicht auf
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Steigerung des Massenkonsums für das damalige System als konstitutiv und beschränkte den "Parasitismus" auf die Finanzoligarchie und den gehobenen Servicesektor. Zwei Säulen der künftigen Entwicklung - Steigerung der Produktivität durch eine Kombination aus technischer und organisatorischer Entwicklung und Ausbau des Massenkonsums in den Zentren unter dem Druck der Gewerkschaftsbewegung und Verschärfung des Legitimationsproblems - fehlen in der Prognose oder sind an die Entwicklung zur Wirtschaftsdemokratie gebunden. Wie später Schumpeter erwartete Hobson von der Wirtschaftsdemokratie in Europa antiimperialistisches Verhalten. Auch die ökonomischen Theoreme erweisen sich als eine fehlerhafte Projektion in die Zukunft. Das Ergebnis selbst, daß sich aus der imperialistischen Periode vor 1914 parasitäre Beziehungen zwischen den Industriestaaten und den außereuropäischen Ländern entwickeln würden, entspricht aber weitgehend der gegenwärtigen Kritik an der Struktur der Weltwirtschaft. Sowohl in der politischen als auch in der ökonomischen Prognose ergab sich die Fehlerquelle aus einer im Grunde optimistischen Projektion der Stabilität von Strukturen der europäischen Industriestaaten. Imperialismuskritik und Prognose über den unerwünschten Endzustand entwickelten sich aus einer Hypostasierung des sozialen und politischen status quo der Jahrhundertwende. So schloß Hobson die Parallelität von Finanzierung der Sozialreform und Finanzierung des Imperialismus für England aus.35 Die Parallelität seiner Prognose mit den gegenwärtigen Zustandsbeschreibungen des Nord-Süd-Gefalles ergibt sich damit nicht aus den theoretischen Einzelelementen wie den kooperierenden internationalen Finanzgruppen oder der Unterkonsumtionstheorie. Sie entsteht vielmehr, weil nach Überwindung der sozialen und ökonomischen Folgen beider Weltkriege für die Industriestaaten die Reorganisation eines - allerdings reduzierten - Weltmarktes wieder deutlicher hervortritt. Außerdem förderten die Hegemonialstruktur als Ergebnis dieser Kriege und das Gegengewicht der sozialistischen Großmächte die "Kombination" zumindest für den westlich dominierten Teil des Weltmarktes.
Die Entwicklung in Außereuropa Da Hobson die Gesamtentwicklung in den außereuropäischen Ländern von der Ausweitung der Investitionen des europäischen Kapitals abhängig machte und die Penetration zunächst der Ökonomie, dann der Politik als Konsequenz ableitete, sah er für den neuen Imperialismus die Jahrhundertwende als epochalen Einschnitt. Er korrelierte diese Entwicklung mit den Auflösungserscheinungen in China und der Eroberung der burischen Republiken und der Etablierung des Kontraktarbeitersystems unter der Premierschaft von Cecil Rhodes. Damit ging er für Südafrika nicht vom Anschluß der Kapkolonie, der Burenrepubliken, Natals und der afrikanischen Königreiche an den Weltmarkt und die dadurch ausgelösten Kommerzialisierungs-
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prozesse der Landwirtschaft aus. Im Vordergrund standen vielmehr die Investitionsentscheidungen im Zusammenhang mit der "Mineral Revolution" 36 , obwohl auch hier zwischen der Entdeckung 1866 und 1870 und der von Hobson behandelten Periode über zwanzig Jahre liegen. Für China standen nicht die Niederlage im Opiumkrieg und die Jahrzehnte der Taiping-Revolution im Vordergrund, sondern die späten neunziger Jahre mit ihrer Jagd nach Konzessionen und Einflußgebieten für Investitionen, also die Entwicklungen im chinesischen Verkehrswesen, in der Rüstungs- und Fertigwarenindustrie und ihrer Finanzierung. Weil Hobson die soziale Destruktion für die betroffenen Länder aus diesen Prozessen ableitete, hat er aussichtsreiche Gegenbewegungen in den betroffenen Ländern in absehbarer Zeit für ausgeschlossen gehalten. Unter dem Eindruck des britischen Sieges im Burenkrieg schien ihm die bis 1893 aussichtsreiche Entwicklung eines burischen kapitalistisch strukturierten Nationalstaates zugunsten des Diktates der auf England gestützten internationalen Finanzgruppen als gescheitert. Die soziale Destruktion der afrikanischen Mehrheit hielt er für durch das Kontraktsystem der Minenindustrie allein verursacht. Unter dem Eindruck der drohenden Aufteilung Chinas und der damit verbundenen Kriege in Ostasien erkannte er zur Zeit des Boxerkrieges nur Auflösung. Durch Vernachlässigung der Kontinuitäten zum älteren Imperialismus und unter dem Eindruck der aktuellen erfolgreichen europäischen Offensive an der Jahrhundertwende übersah er einerseits, daß durch den "Auflösungsprozeß" des 19. Jahrhunderts sich die Ansätze zum Widerstand früher ergaben, als Hobson mit der späten Datierung erkennen konnte. Zum anderen verkannte er, daß die Umstände der Siege in China und Südafrika Gegenwirkungen eher beschleunigten als retardierten. Noch während der Drucklegung der 1. Auflage seines Buches wurde durch den Frieden (1902), später durch die Gründung der Südafrikanischen Union (1910) die Tolerierung einer Autonomie der Weißen unter maßgeblicher Mitbeteiligung des burischen Nationalismus, das Hauptergebnis des Burenkrieges, relativiert. In China wurden mit dem Aufbau der KMT und der Reformbewegung am Hof die ersten wichtigen Etappen der chinesischen Revolution eingeleitet, zu denen der Boxeraufstand selbst mitzählt und die durch die Revolution gegen die Dynastie der Mandschu 1911 einen wichtigen Impuls erhielt. Durch Hypostasierung der Wucht der europäischen Offensive und der Besonderheiten ihrer Struktur kam es zu europazentrischer Überschätzung der Zeiträume, die die Gegenbewegungen benötigen würden. Die Suggestion der politisch-militärischen Dramatik von Burenkrieg und Boxeraufstand verleitete zur Annahme, daß das Tempo, das die damalige Entwicklung bestimmte, beibehalten werden würde. Ein gleiches Ergebnis hatte die Ausmalung des Endzustandes nach vollendetem europäischen "Parasitismus", da sich die "Wirtsvölker" erst dann befreien würden. Danach schien die Konstellation in Südafrika auf einen schnellen Konflikt zwischen Schwarz und Weiß zuzutreiben, weil durch den hohen Grad der internationalen Finanzorganisation und des internen wie externen Parasitismus sowie der extremen Organisation der Arbeitskräfte in einer ökonomischen "Vieh-
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farm" die Entwicklung weit fortgeschritten schien. China dagegen stand am Anfang der imperialistischen Durchdringung, so daß zunächst die Auflösung, noch nicht der Widerstand begann. Da die tatsächliche Entwicklung zeitlich genau entgegengesetzt verlief, ließ sich aus der Feststellung des fortgeschrittensten Zustandes keine sichere Prognose ableiten.
Die Entwicklung in Südafrika Am Beispiel der Entwicklung der sozialökonomischen Konstellation in Südafrika soll nun das zentrale Theorem Hobsons auf seine Trennschärfe und Prognosefahigkeit hin betrachtet werden. Hobson leitete aus dem Eindringen ausländischer oder internationaler Investoren den Zwang zur Durchdringung des politischen Systems durch diese Investoren ab. Er meinte, die Auswirkungen der Mineral Revolution in Südafrika und die Form ihrer Organisation hätten die Struktur Südafrikas entscheidend bestimmt, und zwar sowohl hinsichtlich der Struktur der Arbeitsverfassung als auch hinsichtlich des Abhängigkeitsgrades Südafrikas von internationalen Finanzgruppen und der europäischen Metropole. Die Entwicklung wäre dementsprechend zu überprüfen am Anteil internationalen und nationalen Kapitals am Industrialisierungsprozeß in Südafrika, daran, welche sozialen Gruppen den Staatsapparat in Südafrika durchdrangen, ob die von Hobson analysierte internationale Penetration bestimmend wurde, ob sich die Arbeitsverfassung erst aus den Bedürfnissen der Minenindustrie heraus entwickelt hat, schließlich, welche ökonomischen Beziehungen vor der Mineral Revolution und insbesondere vor der Machtergreifung durch die Minenmagnaten in den neunziger Jahren vorherrschten. Die herrschenden Interpretationen37 des südafrikanischen Entwicklungsprozesses seit Ende der sechziger Jahre tendieren einheitlich zu folgendem Bild: Die Geschichte der Expansion in Südafrika vom Kapland aus ist eine Geschichte der Marktausweitung im Bereich der Agrarproduktion für den Export und damit verbunden für den heimischen Markt. Wo ein politisch-militärisches Machtgleichgewicht zwischen afrikanischen Staaten und europäischen Republiken und Kolonien bestand, oder dort, wo Europäer Land zu Spekulationszwecken angehäuft und die Nutzung durch Pacht und Squatting auch Afrikanern überlassen hatten, konkurrierte die afrikanische Produktion erfolgreich mit der europäischen. Die Beteiligung an der Marktwirtschaft, die Aufteilung in erfolgreiche agrarische Entrepreneurs, in große Landbesitzer und in Landlose oder Pächter verminderten Rechts vollzog sich bei Europäern wie Afrikanern. Die Beteiligung der Afrikaner an der Marktproduktion wurde - im Interesse der Arbeiterrekrutierung und der Ausschaltung der Konkurrenz der zu geringeren Kosten produzierenden Afrikaner - sowohl in Natal als auch in der Kapkolonie auf Initiative der europäischen Farmer, zum Teil gegen den Widerstand der Landspekulanten, mit militärischen und legislativen Mitteln unterbunden. Die Grund-
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prinzipien der Kontraktarbeit, des Reservatssystems etc. sind insbesondere in der Jahrhundertmitte vor der "Mineral Revolution" entwickelt worden. Sie gehen nicht primär auf die Minenindustrie zurück, sondern entwickelten sich aus den Agrarinteressen Natals und der Kapkolonie. Zwar trifft zu, daß auch Cecil Rhodes im Interesse der Minenindustrie das System weiterentwickelte. Aber die Entscheidung fiel erst mit Verabschiedung des Land Acts von 1913. Dieses wurde von der europäischen Farm Wirtschaft, die die Mehrheit im Unionsparlament hatte, durchgesetzt. Auch die Minenindustrie war Nutznießer des Systems, aber entgegen der Annahme Hobsons ließ sich die Errichtung der Arbeitsverfassung nicht mit der neuen Kapitalstruktur verknüpfen. 38 Die Form der Landnahme in Südafrika, der unterschiedliche Grad der Kommerzialisierung der Landwirtschaft vor und nach der Mineral Revolution hatten eine ungleiche Verteilung des Landbesitzes auch bei den Europäern, insbesondere den Buren, verursacht. Zugang zu Regierungsämtern, zu Kapital durch Verbindungen zu Handel und Mineralproduktion oder günstige Marktbedingungen schufen eine soziale Differenzierung auch im europäischen Bereich. 39 Dieser Prozeß, kombiniert mit der europäischen Arbeiterzuwanderung, hat in die industriellen Zentren im Verlauf des Industrialisierungsprozesses insbesondere seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts das "poor-white"-Problem und eine durch soziale Differenzierung auf dem Lande deklassierte weiße Arbeiterschaft hervorgebracht, die mit gewerkschaftlichen und revolutionären Mitteln in der "Rand Revolt" 1924 durchsetzte, daß "civilized labour" zu Sonderbedingungen von "native labour" definitiv abgegrenzt wurde, so daß, um mit Hobson zu sprechen, der "Parasitismus" Bestandteil der Arbeitsverfassung im Produktionsbereich selbst wurde. 40 Der Anteil der von Hobson so betonten internationalen Finanzgruppen am Regierungsapparat ging durch den politischen Kompromiß zwischen burischen Landbesitzern und der britischen Regierung zur Beendigung des Burenkrieges zurück. In den zwanziger Jahren errang die Koalition von burischen Agrarproduzenten, burischer und englischer Arbeiterschaft die politische Mehrheit und sicherte durch Subventionen den Agrarsektor und durch die "civilized labour"-Politik die Interessen der weißen Arbeiterschaft. Sie begann einen auf Staatsinitiativen gestützten Aufbau eines "nationalen" Sektors der Wirtschaft, besonders in der Stahl- und Energieproduktion. Die Interessen der Minenindustrie als des entscheidenden Sektors der Wirtschaft wurden gewahrt. Die Minenindustrie blieb in britischer Hand oder zumindest in der Hand der Südafrikaner britischer Herkunft. Goldproduktion und Goldpreis bestimmten den Wirtschaftsablauf. Durch den besonderen Charakter des "deep level mining" entstand sogar ein von Europa selbständiger, technologisch führender Sektor der Bergbautechnik.41 Der besondere internationale Charakter des südafrikanischen Systems bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts war weniger durch die Organisationsweise des Kapitals bestimmt als durch die Funktion des Goldes für das internationale Währungssystem. Bereits die Entscheidung des britischen Kabinetts zur Zerschlagung
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der Burenrepubliken scheint zumindest vom Zeitpunkt her durch aktuelle Probleme der Zahlungsbilanz in Großbritannien mitbestimmt worden zu sein.42 Die Dynamik der südafrikanischen Wirtschaft ist bislang immer dann, wenn aufgrund der Weltrohstoffpreise oder der Engpässe, die sich aus der geringen Arbeitsproduktivität ergaben, Entwicklungssperren drohten, von der Entwicklung des Goldpreises gerettet worden. Erst in der zweiten Phase der Industrialisierung seit den sechziger Jahren, als die Fertigwaren- und Produktionsgüterindustrie den Agrar- und Rohstoffsektor überholte, kamen die Probleme internationaler Investitionen zum Tragen - durch Ausweitung des angelsächsischen Kapitals oder durch Präsenz der großen multinationalen Konzerne oder deutscher und japanischer Unternehmen. Die Konditionen für die Investitionen richteten sich mit Rücksicht auf die internationale Abhängigkeit Südafrikas angesichts der permanenten Legitimitätskrise eines Minderheitenregimes nach dem Grad der internationalen Isolierung, zugleich aber auch nach den Industrialisierungskonzepten einer starken nationalistischen Bürokratie. Insofern scheint die Penetration Südafrikas durch ausländische Investoren nicht stärker ausgeprägt, als Hobson für die europäischen Industriestaaten untereinander annahm, mit der Ausnahme technologisch fortgeschrittener Bereiche in der Investitionsgüterindustrie. Die Stabilisierung der Herrschaft trotz extremer sozialer und politischer Ungleichheiten ist deshalb von Analytikern des Systems43 durch die Kombination von bescheidenem ökonomischem Wachstum - auch für die afrikanischen Arbeiter - und Entwicklungssperren, durch den Pragmatismus einer hinauszögernden Manipulation eines starken Industriestaates im 20. Jahrhundert erklärt worden. Für die letzten sechs Jahrzehnte paßt für Südafrika daher eher das Hobsonsche Bild der erfolgreichen Stabilisierung eines parasitischen Systems als das eines vom internationalen Finanzkapital ausgebeuteten "Wirtsvolks". Auch das bevorstehende Ende des Systems wird offensichtlich stärker durch den Wandel in den unterentwickelten Peripherien des südafrikanischen Systems beschleunigt als aus dem am stärksten durchkapitalisierten Zentrum vorangetrieben. Kennzeichnend an Hobsons Prognose für Südafrika ist, daß er die mit Goldproduktion und deep level mining besonders verbundene ökonomische Organisation und politische Penetration einer nur teilweise durchkapitalisierten Agrargesellschaft zum Zukunftsmodell erhoben hat. Dabei hat er im System der Kontraktarbeit in besonderer Schärfe die Inhumanität, aber auch die Entwicklungssperre aus Verweigerung von ökonomischer und politischer Selbstbestimmung gesehen und den Gegensatz von Marginalisierung und Parasitismus herausgearbeitet, der seine Prognose so zukunftsweisend erscheinen läßt. Zugleich hat er der Konstellation in Südafrika den Charakter eines Nationalstaates abgesprochen und daraus eine Entwicklungssperre abgeleitet. So sehr sie auf lange Sicht, das heißt auf über 70 Jahre richtig prognostiziert war, hat sie doch einen vollen Industrialisierungsprozeß, den südafrikanische Wirtschaftshistoriker44 nach dem Rostowschen Stadienmodell periodisieren können, nicht ausgeschlossen. Die Schwäche seiner Prognose lag wiederum darin, daß er die übrigen Sektoren der Wirtschaft, ins-
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besondere den Agrarbereich, die Differenzierungsprozesse in der Arbeiterschaft und schließlich die relative Autonomie des vom burischen Nationalismus mitgetragenen Staatsapparates zugunsten eines radikalen Penetrationsmodells vernachlässigt hat. Die Stärke seiner Prognose lag darin, daß er eine vergängliche besondere Konstellation hypostasiert hat, die mit einer zukünftigen Gesamtkonstellation des kapitalistisch dominierten Weltmarktes in der Grundstruktur übereinstimmte.
Zur Funktion der normativen Aussagen in der Prognose Hobson hat seine Kritik an den Fehlentwicklungen und langfristig zur Katastrophe führenden Widersprüchen des neuen Imperialismus durchgängig aus wenigen, stets wiederholten normativen Aussagen abgeleitet. Es wird zu zeigen sein, daß es trotz allen zeitgenössischen Kolorits des Zivilisationsbegriffs, der Anerkennung der Entwicklungsdifferenz zwischen "zivilisierten" und "niederen Rassen" gerade die konsequente Anwendung seiner Normen ist, die die produktivsten Prognoseelemente begründen. Hobson ging dabei konsequent von einigen wenigen faktischen Annahmen aus. Für ihn war die Welt bis zur letzten Pazifikinsel ein einheitliches politisches und ökonomisches System geworden. Er hielt die ökonomische Offensive des Westens für unrevidierbar.45 Daraus schloß er, daß unter allen Umständen ein die Weltwirtschaft regulierendes internationales System entstehen würde, und sei es durch eine "selbstbestellte Oligarchie von Ländern", die unter dem Deckmantel des zivilisatorischen Prozesses lernen würden, parasitär auf Kosten der "niederen Rassen" zu leben.46 Er hielt es für eine Gesetzmäßigkeit, daß sich aus der Kontrolle über die Investition im Produktionsbereich der Zwang zur Übernahme der politischen Kontrolle ergeben würde. Für ihn war das "Wesen des Imperialismus", "Märkte für Investitionen zu erschließen, nicht mehr Märkte für den Handel" 47 . Sein entscheidendes politisches Problem war deshalb, Methoden zur Kontrolle gegenüber dem Übergang von Partizipation am Weltmarkt zur Penetration der ökonomischen und politischen Struktur anderer Nationen zu finden. Die normative antiimperialistische Alternative ist in Hobsons Aussagen zum idealen Nationalstaat zusammengefaßt. Ihn sah er als Voraussetzung für ein Funktionieren des Weltsystems an; er schien ihm die Basis für volle Entfaltung der Produktivkräfte, der Konsumtion und eines ausgeprägten Systems internationalen Warenaustausches.48 "Wenn es eine Vorbedingung für einen wirksamen Internationalismus oder verläßliche Beziehungen zwischen Staaten gibt, dann ist es das Bestehen starker, sicherer, wohlentwickelter und verantwortlicher Nationen... Die Hoffnung auf einen kommenden Internationalismus gebietet daher vor allem
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anderen die Erhaltung und natürliche Entfaltung unabhängiger Nationalitäten. Ohne sie könnte es keine allmähliche Entwicklung des Internationalismus geben, sondern nur eine Reihe erfolgloser Ansätze zu einem chaotischen, unstetigen Kosmopolitismus. Wie der Individualismus für einen gesunden nationalen Sozialismus wesentlich ist, so der Nationalismus für den Internationalismus."49 Innenpolitische Voraussetzung dafür war "eine siegreiche Bewegung für die Wirtschaftsdemokratie" 50 , da in "dem Maße, wie an die Stelle der bestehenden Oligarchien oder Scheindemokratien wahrhaft nationale Regierungen treten" 51 , auch die "scheinbaren Konflikte" verschwinden würden. Erst dann würde sich die "grundlegende Zusammenarbeit zeigen, auf die der Freihandel des neunzehnten Jahrhunderts sich vorzeitig verließ" 52 . Sowohl in seinem Kapitel über den "Imperialismus und die Niederen Rassen" als auch in seiner Kritik am Kontraktarbeitersystem für Südafrika und an der Auflösung der Sozialstruktur in China bekräftigte Hobson, daß er sein Konzept von Nation als Voraussetzung zur Entwicklung der Wirtschaftskräfte in der Welt universal verwirklicht sehen wollte, weil er die Entfaltung der Produktivkräfte an die "ökonomische und die geistige Gemeinsamkeit von Interessen und Bedürfnissen" gebunden sah.53 Er ging weiter davon aus, daß es keine absolute Autonomie der Nationalstaaten geben könne. Ein gewisses Maß an praktischer Internationalität sei die Bedingung auch für die Rechte auf Selbstregierung, die nur dann garantiert seien, wenn eine "internationale Organisation wenigstens in Ansätzen existiert"54. Indem Hobson den demokratischen Gleichheits- und Freiheitsgedanken auf den neuen Zustand der umfassenden Weltpolitik und des politisch-ökonomischen Entwicklungsgefälles bezog, forderte er dementsprechend als "höchste Berufungsnorm eine Konzeption vom Wohlergehen der Menschheit", die er als eine "organische Einheit" auffaßte. 55 Es ist außerordentlich aufschlußreich und die Problematik der Jahrzehnte der UN-Entwicklungspolitik vorwegnehmend, wie Hobson sein Ziel, "das natürliche Wachstum von Selbstregierung und Wirtschaft nach tropischen Gegebenheiten" 56 , durch eine "organisierte Vertretung der zivilisierten Menschheit" zu erreichen versuchte 57 . Er verstrickte sich soweit in die Widersprüche des Gedankens der "Treuhänderschaft", daß er ihn im Vertrauen auf die stärkeren Prozesse der Selbstentfaltung unter dem System der nationalen Selbstregierung praktisch wieder aufgab, insbesondere weil er um die Hegemonialstellung der europäischen Großmächte in internationalen Organisationen nicht herumkam.58 Das produktivste Element in seiner Prognose lag damit in der Kombination zweier Überlegungen. Er wandte unter Ausklammerung der Entwicklungsunterschiede den Freiheits- und Gleichheitsgrundsatz auf das gesamte internationale System an. Die zukunftsträchtigste Organisationsform war wegen der größten Chancen zur Entfaltung von Selbstbestimmung in Politik und Ökonomie für ihn der Nationalstaat. Deshalb kam es zur Forderung nach Garantien gegen die Penetration dieser Zone der Selbstbestimmung durch internationale organisierte Investitionen. Seine Prognose war, daß die Verweige-
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rung der ökonomischen und politischen Selbstbestimmung in einem Teil der Welt parasitäre Tendenzen, in anderen soziale und politische Auflösungserscheinungen und schließlich erfolgreiche Gegenbewegungen der Betroffenen auslösen würde. Hobson hat die zynischen Positionen seiner Zeit in seine pessimistischen Annahmen einbezogen, daß mit größerer Wahrscheinlichkeit die Weltkontrolle durch eine Oligarchie von Großmächten wahrgenommen würde, die die Kontrolle über die Grenzen der Penetration ausüben. Er hat deshalb die Dynamik, die aus den sozialen und sozial-psychischen Effekten der Fremdbestimmung entstehen würde, immer wieder unterstrichen. Insofern lassen sich seine Prognosen weder auf ein liberales harmonistisches noch auf ein rein ökonomistisches Konzept zurückführen. Er führte ein konkretes Menschenbild als konstitutiv für seine Prognosen ein und zeigte, daß sich eine Theoriebildung ohne konkrete normative Aussagen über Staatsfunktionen, internationales System und Gesamtentwicklung der Menschheit in Widersprüche verwickelt. Ungelöst blieb, daß die normative Orientierung zu Generalisierungen verführt, die nur zeitlich höchst unbestimmte Prognosen zulassen, Zwischenstufen verfehlen und die Interdependenzen, die sich aus der Ungleichzeitigkeit und Ungleichmäßigkeit der Entwicklungen ergeben, nicht zu erfassen vermögen. Eine weitere, immer wieder vernachlässigte Tendenz ließ sich durch die Analyse der Prognosen Hobsons bestätigen, daß die Hypostasierung selbst der tatsächlich dominierenden Trends - im Falle der Prognose Hobsons im zentralen Bereich der Kontrolle über die Produktionsmittel - zu erheblichen Fehlurteilen führen konnte. Da die übrigen Bereiche gegenüber dem Haupttrend unterschätzt und ihre Dynamik zugunsten der Fortschreibung des status quo übersehen wurden, verstärkten sich die Fehlprognosen. Korrekturmöglichkeiten für die Geschichtswissenschaft - wie sie am Beispiel der teils recht simplen und theoretisch auch inkonsistenten Prognose Hobsons diskutiert wurden - ergeben sich dementsprechend aus zweierlei Ansätzen: Jede Theorie hat prognostische Elemente und leitet diese aus den historischen Gegebenheiten ab. Sie muß, um die Komplexität zu bewältigen, dominierende Elemente hervorheben. Die Geschichtswissenschaft kann durch Regional-, Periodensowie vergleichende Studien die Gewichtungen für den für sie überschaubaren Bereich diskutieren. Sie kann insbesondere die Zeitdimension und die Interdependenz ungleichzeitiger Entwicklungen erörtern und so Ursachen der Fehlprognosen aufdecken. Sie würde aber für Theoriebildung unverbindlich und für prognostische Ansätze unbrauchbar werden, wenn nicht die Haltung gegenüber den normativen Elementen deutlich würde. Die Geschichtswissenschaft würde ihren Praxisbezug verlieren, wenn sie den Grenzübertritt in die Reflexion des Wahrscheinlichen und Wünschenswerten vermeiden würde. Urteile, z.B. der Leistungsfähigkeit des Nationalstaates in Prognosen zur Entwicklung des internationalen Systems, ließen sich aus der geschichtswissenschaftlichen Debatte über den Primat der Innenpolitik oder den Nationsbildungsprozeß in den Ländern der Dritten Welt überprüfen. Es ist bei aller Arbeitsteiligkeit gegenüber den systematischen Sozialwissenschaften
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auch ein Erkenntnisinteresse des Historikers, seine empirischen Untersuchungen an der Kontrolle von Prognosen zu orientieren, seien es nun theoretisch-relevante aus früheren Zeiten oder zeitgenössisch-wirksame. Die kritische Analyse von Prognosen böte zugleich einen Anreiz, die Unmengen unrezipierter historischer Einzelstudien zu zusammenfassenden und vergleichenden Arbeiten zu integrieren, die dennoch durch den Untersuchungszweck begrenzt wären.
Anmerkungen
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John A. Hobson, Imperialism. A Study, London 1902. Die Zitate sind der deutschen Übersetzung von Helmut Hirsch auf der Grundlage der zweiten Auflage von 1905 entnommen. John Hobson, Der Imperialismus, Köln 1968. Vgl. Einleitung von Christoph Schröder zur deutschen Übersetzung. Eine sehr aufschlußreiche Analyse der Hobson-Rezeption durch Lenin. Sehr markant hat dies A. S. Jerussalimski in seinem "Der Deutsche Imperialismus", Moskau 1964, dt. Ubers. Berlin 1968, S. 90f., für die leninistische Tradition formuliert: "Dieser von England in Südafrika angezettelte Krieg und der Krieg, den die Vereinigten Staaten im Jahre 1898 gegen Spanien mit dem Ziel führten, dessen Kolonien - Kuba und die Philippinen - zu erobern, bezeichneten, wie W. I. Lenin später feststellte, den Beginn einer neuen Epoche der Weltgeschichte, der Epoche der Herrschaft des Finanzkapitals, der Epoche des Imperialismus.'' Begriff von D. Denoon, The Mineral Revolution. In: G. Kibodya (Hg.), Aspects of South African History, Dar es Salaam 1968. The Contemporary Review, London, 77, Jan.-Juni 1900, S. 1-17. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Hobson, Imperialismus..., S. 239. Ebenda, S. 241. Ebenda. Ebenda, S. 245, nach J. S. Mill, Representative Government, S. 326. Ebenda, S. 112. Ebenda, S. 246. Ebenda, S. 265. Ebenda. Ebenda, S. 266. Ebenda, S. 267. Ebenda, S. 267f. Ebenda, S. 267. Ebenda, S. 304. Ebenda, S. 276. Ebenda, S. 200. Ebenda, S. 304f. Ebenda, S. 146.
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Ebenda. Ebenda, S. 304. Ebenda, S. 112. Ebenda, S. 146. Ebenda, S. 113. Vgl. hierzu den systematischen Aufriß in G. Junne/S. Nour, Internationale Abhängigkeiten, Trendbestimmung und Ausbeutung als Regelfall internationaler Beziehungen, Frankfurt/M. 1974, insbesondere Bilanz der Abhängigkeit. Vgl. als representativen Reader zum Problemkreis Dieter Senghaas (Hg.), Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung, Frankfurt/M. 1974. So zögernd sich dieser Tatbestand im öffentlichen Bewußtsein auch durchsetzt, er ist gesicherter Erkenntnisstand, wenn auch die Gewichtung der einzelnen Gründe kontrovers ist. Uberblick für den Diskussionsstand: A. Sywottek, Die Fischer-Kontroverse. In: Imanuel Geiss/B.J. Wendt, Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973. Wie auch immer die Funktion der Entente in der Julikrise beurteilt wird, ihre Entstehungsgeschichte über Teilabkommen zur Regulierung von Interessenkonflikten zwischen Frankreich, England, Rußland und Japan und, außerhalb des Bündnissystems, den USA enthalten erheblich mehr Elemente der "Kombination" als der Konfliktstrategie. Vgl. hierfür K. Wemecke, Der Wille zur Weltgeltung, 1970; K. D. Erdmann/Kurt Riezler, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, Göttingen 1972; H. Pogge v. Strandmann (Hg.), Walther Rathenau. Tagebuch 1907-22, Düsseldorf 1967; J.J. Ruedorffer (Riezler), Grundzüge der Weltpolitik der Gegenwart, 1914; A. Fried, Das internationale Leben der Gegenwart, Leipzig 1902. Barrington Moore, Social Origins of Dictatorship and Democracy, 1966, dt. Ausgabe Frankfurt/M. 1969. Hobson, Imperialism..., a.a.O., S. 137. Wie sehr diese Überlegungen mit denen führender Politiker des liberalen britischen Kabinetts übereinstimmten, zeigt die Korrespondenz zwischen Lloyd George zum Konflikt über die finanziellen Prioritäten zwischen Flottenbau und Sozialreform. R. Winston Churchill, Vol. II, Young Statesman 1901-1914, London 1967, Kap. 17, Naval Estimates Crisis, 655-686. Denoon, a.a.O. Aus der Fülle der relevanten Literatur besonders weiterführend: S.D. Neumark, Economic Influences on the South African Frontier 1652-1836, Stanford 1957; D. Welsh, The Roots of Segregation, Native Policy in Colonial Natal, 1845-1910, Cape Town 1971, 2. Aufl. 1973; H. Slater, Land Labor and Capital in Natal. In: Journal of African History, (1975) 2; ders., The Changing Pattern of Economic Relationship in Rural Natal 1838-1914. In: The Societies of Southern Africa in the 19th and 20th Centuries. Vol. 3, London 1973; C. Bundy, The Response of African Peasants in the Cape to Economic Changes, 1870-1910. In: Ebenda. Vgl. ebenda, außerdem: F. Wilson, Labour in the South African Gold Mines, Cambridge 1972, Kap. I. Vgl. Slater, a.a.O., und S. Trapido, The South African Republic: Class Formation and the State, 1850-1900. In: The Societies, a.a.O. Vgl. Wilson, a.a.O. Zur Einführung D.H. Houghton, The South African Economy, Cape Town 1973. Zu diesen Fragen unter dem Aspekt der Dependenztheorie M. Legassick, Development and Underdevelopment in South Africa, London Staff Seminar Paper 1971, Department of History, University of London, mit weiterführender Literatur. Zu verweisen ist auf die
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ökonomischen Analysen aus der Sicht der Minenindustrie in der 'Financial Mail' und 'Optima', insbesondere für die ökonomische Entwicklung der Periode nach 1960. H. Adam, Südafrika, Soziologie einer Rassengesellschaft, Frankfurt/M. 1970. Houghton, a.a.O. Hobson, Imperialism, a.a.O., S. 204. Ebenda, S. 211. Ebenda, S. 270. Ebenda. Ebenda, S. 303. Ebenda, S. 270. Ebenda, S. 303. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 200. Ebenda, S. 206. Ebenda, S. 214. Ebenda, S. 206. Ebenda, S. 211.
S Politische Probleme um Namibia seit Ablaufen des Sicherheitsrats-Ultimatums vom 31. August 19761 aus: Afrika Spektrum, 11 (1976) 3, S. 255-272
Eine Beurteilung der Lage in und um Namibia, wie sie sich im wesentlichen seit dem Ablaufen des Ultimatums des Sicherheitsrats am 31. August 1976 darstellt, ist durch eine Reihe von Umständen erschwert, die kennzeichnend für die gesamte Lage im südlichen Afrika ist und die ich mit der in der Diplomatie gebräuchlichen Formulierung "Versumpfen" bezeichnen möchte.2 Dieses "Versumpfen" hat sowohl aktuelle und damit variable Ursachen als auch strukturelle Gründe, die sich aus den Konstanten, die die Lage bestimmen, herleiten. Diese Verflechtung von aktuellen und strukturellen Problemen findet sich bei allen Akteuren, also im südafrikanischen politischen System insbesondere innerhalb der Regierung oder National-Partei, innerhalb Namibias selbst, teilweise als Spiegelbild der innersüdafrikanischen Situation. Sie gilt für die SWAPO, ihre Reaktion auf die innere Dynamik in Windhoek und ihre Beziehungen zur Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) sowie für die Konsequenzen aus ihrer russischen Option. Sowohl durch das vorläufige Scheitern der Shuttle-diplomacy von Kissinger in der Rhodesienfrage als auch durch die Überprüfung der amerikanischen Außenpolitik als Folge der Präsidentenwahlen hat der US-amerikanische Impuls auf die Politik im südlichen Afrika gegenwärtig wesentlich an Kraft verloren. Mit der erneuten Erfahrung der südafrikanischen Regierung, daß eine unverbindliche Ankündigung einer Interimsregierung vor 1978 ohne Einigung über die Essentials für die Verfassung für die Aufrechterhaltung des Vetos der Westmächte gegen Sanktionsbeschlüsse ausreichte, schien sich die südafrikanische Politik, möglichst bindende Optionen zu vermeiden, durchgesetzt zu haben. So sehr auch seit der westlichen Ankündigung aus Anlaß eines ähnlichen Ultimatums im Mai 1975 die südafrikanische Regierung verunsichert war, daß dieser Schutz aus weltpolitischen Gründen möglicherweise zum letzten Mal gegeben werden würde, traf die Kalkulation hinsichtlich einer Interessenidentität in Richtung auf möglichst weitgehende Aufrechterhaltung des Status quo zu. Indessen, offensichtlich in Fehlinterpretation der internen Dynamik in Namibia selbst und als Ergebnis des Abflachens des Schocks über die Bedeutung der Juni-Unruhen in Südafrika, geriet die Politik von kleinen Schritten, die auf die Haltung der Westmächte abgestimmt war, im Herbst 1976 in eine Krise. Es stellte sich heraus, daß die Namibia-Frage wesentlich stärker als die Rhodesien-Frage unter dem Primat der südafrikanischen Innenpolitik steht. Obwohl die Untergliederung der National-Partei in Südwestafrika auf ihrem Parteitag am 25. August 1976, also sechs Tage vor Ablauf des UN-Ultimatums, die Ankündigung einer Interimsregierung und die Festsetzung des Unabhängigkeitsdatums für 1978 bestätigte und damit die Entscheidung der Turnhallenkonferenz vom 18. August
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1976 abstützte3, setzte unmittelbar danach der faktische Abbau des Kompromisses vom 18. August in der Verfassungsdiskussion und im Verhalten der südwestafrikanischen Administration wieder ein. Schon während der gesamten Konferenzperiode in Windhoek seit September 1975 war, von den westlichen Medien weitgehend unterschätzt, die Autorität der Verfassungskonferenz durch die Administration ständig ausgehöhlt worden. Ebenso hatten auch die südwestafrikanischen Wirtschaftsverbände, allen voran der Landwirtschaftsverband, der den größten Teil der Afrikaner in Namibia durch seine Mitglieder beschäftigte, die Empfehlungen der Konferenz zum Minimallohn brüsk zurückgewiesen. Die südwestafrikanische Administration - nach wie vor verankert im südafrikanischen South West Africa Act von 1949 - behielt sich grundsätzlich vor, jede Turnhallenentscheidung oder -empfehlung selbständig zu überprüfen. Insbesondere das Department für Bantu-Administration fuhr fort, die Homeland-Strukturen durch Organisationsmaßnahmen, Anberaumen von Wahlen usw. ungeachtet der Gegentendenzen in der Turnhalle weiterzuentwickeln. Die National-Partei verfolgte zwei Politiken: den Kurs von Dirk Mudge, Vorsitzender des Landesrates, der den "verligten" Kräften der National-Partei zugeordnet wird, und den Gegenkurs der Administration unter Kontrolle der "Verkrampten". Der Journalist Serfontein hat in seinem instruktiven Buch "Namibia?" (1976) als Insider den innerparteilichen Konflikt, der auch in den Massenmedien der National-Partei in Südafrika ausgetragen wurde und wird, detailliert geschildert. Seit September 1976, mit einer weiteren Zuspitzung im November, als die südwestafrikanische Administration sogar die kärglichen ersten Milderungen der sogenannten kleinen Apartheid - nämlich die gemischtrassische Benutzung der kommunalen Einrichtungen - zurückzunehmen begann, führte die Offensive des rechten Flügels der Partei in Namibia zur faktischen Zurücknahme des Verfassungskompromisses vom August 1976. Vom Parteivorsitzenden Du Plessis, gestützt von van Zijl, einem führenden Mitglied der burischen Geheimgesellschaft des Broederbondes, wurde ein Verfassungsentwurf vorgelegt. Dieser Verfassungsentwurf sah drei Ebenen der Regierung vor, wobei 25 Departments pro ethnische Gruppe sicherstellen sollten, daß die entscheidende Kontrolle bei den Weißen und alle Grundelemente des Odendaal-Plans von 1964 dem Bantustankonzept für Namibia - erhalten blieben. Die bis dahin engagiertesten Förderer der Windhoeker Verfassungsgespräche veröffentlichten vernichtende Urteile über diesen Entwurf. Kurt Dahlmann, Herausgeber der Allgemeinen Zeitung in Windhoek, der den Kurs von Mudge mit allen publizistischen und auch organisatorischen Mitteln innerhalb der weißen, besonders deutschen Öffentlichkeit unterstützt hatte, formulierte am 19. Dezember 1976 in einem Leitartikel: "In die Enge getrieben, muß sie (die Regierung - H.B.) zugeben, daß sie mit ihrer vielzitierten Politik der offenen Tür lediglich die bedingungslose An-
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erkennung ihrer Politik der Kleinen und Großen Apartheid gemeint hat ... Unter dieser Regierung, mit diesen Regierenden gibt es keine friedliche Lösung für Südwestafrika mehr, wenn nicht unverzüglich eine drastische Kursänderung erfolgt. Danach sieht es aber nicht aus."
Serfontein, einer der bestinformierten Journalisten in Südafrika für unseren Problemkomplex, revidierte in seinem am 3. Oktober 1976 abgeschlossenen Buch "Namibia?" im Vorwort seine Grundthese, daß die Regierung Vorster auf einen Unabhängigkeitskurs auf der Grundlage von Majority Rule zusteuere. "Moreover there can be little doubt that Mr. Du Plessis as Party leader could only have introduced his three tiers constitutional plan to the constitutional committee with the full backing of Mr. Vorster, the national leader. This plan, a constitutional monstrosity, which is de facto the old Odendaal plan, makes provisions for 25 portfolios for each of the eleven apartheid ethnic councils, leaving only three matters in the hands of the central Government." 4
John Stewart urteilte in der Financial Times am 9. November 1976 über den Verfassungsplan: "Put it in another way this means that the status quo, in which the white group (and foreign interest) monopolise more than 90 percent of established and potential means of production will be maintained and that the national or federal authority will be no more than a figurehead."
Bereits das Zögern der weißen Delegation am Vorabend der Entscheidungen des 18. August, vor allem der Verzicht, die Verfassungsgespräche gesetzlich durch parlamentarische Maßnahmen in Kapstadt abzusichern, hatten die interne Glaubwürdigkeit der südafrikanischen Regierung und der südwestafrikanischen Administration und die der National-Partei nicht nur bei der weißen Öffentlichkeit in Windhoek, sondern bei den am stärksten mit der Apartheid-Politik und dem Konzept der Turnhalle verbundenen afrikanischen Delegierten erschüttert. Am 11. August hatten die Bantustan-Führer von Ovambo und Kavango sich öffentlich von einer Politik in Richtung auf Unabhängigkeit des Ovambolandes getrennt. 5 Bis dahin war insbesondere vor und während der Angola-Intervention der südafrikanischen Truppen an der Jahreswende 1975/76 eine Sezession des Ovambolandes - und damit die Ausklammerung der Mehrheit der Afrikaner in Namibia aus der Verfassungsfrage - eine von der Administration verfolgte und von Ndjoba und seinen Kollegen zumindest tolerierte Alternative gewesen. 6 Die Erosion der Autorität dieser Bantustanführer verstärkt sich unter dem umfassenden Notstands- und Polizeirecht im Ovamboland - insbesondere seit den Verschärfungen seit 19. Mai 1976, die auf die Verunsicherungen der südafrikanischen Armee im Guerillakrieg nach der Niederlage in Angola zurückzuführen waren. Entscheidend war die von allen Beobachtern konstatierte wachsende Loyalität der Afrikaner
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gegenüber der SWAPO. Alles zusammen hat den Prozeß der Umorientierung beschleunigt, um noch den letzten Zipfel von Legitimität zu sichern. 7 Auch der sogenannte Southern Caucus - d.h. die in der Turnhalle vertretenen Delegierten der Herero, Coloureds, Nama und Rehobother sowie außerhalb der Turnhallengespräche der Damara Council - sahen sich durch die neuen Verfassungsvorschläge, aber auch durch die verschärfte Anwendung von Rassenschikanen selbst gegenüber Konferenzteilnehmern um den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit gebracht. Galt bei den Kennern der internen Stimmung der Afrikaner in Namibia mindestens seit der Angola-Intervention, daß die SWAPO zwischen 70 und 80 Prozent der Stimmen bei Wahlen auf sich ziehen würde, so wurde seit Herbst 1976 in afrikanischen Konferenzkreisen befürchtet, daß selbst bei den Rehobothern, in Katutura und sonst außerhalb des Ovambolandes die Autorität auch unter den verbleibenden 30 Prozent durch die Regierungsobstruktion erodiere. Die International Herald Tribune berichtete am 23. November 1976: "Conservative leaders of African and mixed ancestry delegations participating in constitutional talks here have been stung by new displays of discrimination by a white community, that theoretically is negotiating a far reaching sharing of power with them. Local support appears to be melting away as a result of the fresh racial insults. Some of these leaders say they will warn South-African Prime Minister John Vorster this week, that the constitutional conference could become a pointless exercise unless he agrees to let them form an interim Government immediately and to lift the apartheid measures in SWA (Namibia)."
Nach diesem Bericht erklärte Dr. Benjamin Africa, Delegationsmitglied der Rehobother: "We have got to improve our credibility among our own people, who are starting to wonder what this thing is all about when they see that the state administered theaters and swimming pools are still closed to them, that blacks doing the same job for the government as whites get much less pay, and that they are still insulted by the whites."
Der einflußreiche Coloured-Delegierte Cloppers, der auch bereits in früheren Konferenzperioden den Abbruch der Verhandlungen als Druckmittel gegenüber dem rechten Flügel der National-Partei angedroht hatte, meinte nach dem gleichen Bericht: "We have to have something to use against this propaganda by our enemies that we are puppets of the White Government... (But) ... agreement will be hard to come by, with distrust growing among the delegations... And if the talks fail, we'll all walk over to SWAPO and there will be no chance for a peaceful solution."
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Aus der angekündigten Besprechung mit Vorster kam nicht mehr heraus als eine Vertagung der Probleme in das Jahr 1977.8 Mit dieser Darstellung der Herbstkrise der Windhoeker Verfassungsgespräche soll nicht impliziert werden, daß eine den Vorstellungen des Mudge-Flügels und der afrikanischen Delegierten oder Dahlmann entsprechende Lösung der Verfassungsfrage das Ende der Namibia-Krise bedeuten würde; dieses hängt von der strukturell entscheidenden Frage ab, ob damit der Umbau der politischen Ökonomie Namibias zugunsten der schwarzen Mehrheit geöffnet wird oder nicht, d.h. ob Umverteilungsprozesse über die Lohnpolitik, die Landpolitik, das Ende des Transfers von 30 Prozent des Bruttosozialproduktes ins Ausland9 und die Umlenkung der Subventionen für die Landwirtschaft auf die unterentwickelten Regionen vollziehbar werden oder nicht. Ohnehin ist sehr unwahrscheinlich, daß ohne eine Beteiligung der SWAPO an international überwachten Wahlen der Guerillakrieg beendet werden kann. Als Zwischenergebnis soll zunächst festgehalten werden, daß die bisher von Südafrika gegenüber Namibia praktizierte Politik, Entscheidungen zu vermeiden und damit auch den innenpolitischen Konflikt über den zukünftigen Kurs in der National-Partei Südafrikas nicht auszutragen, in eine Sackgasse hineingeführt hat. In der Herbstkrise wurde das Hauptziel der Windhoeker Verfassungsgespräche, durch sie die internationale Absicherung durch die Westmächte gegenüber Sanktionen zu gewinnen und einen endgültigen Zusammenbruch der Kommunikation mit den Frontstaaten-Präsidenten der OAU zu vermeiden, selbst gefährdet. Es liegt natürlich die Frage nahe, warum die südafrikanische Politik sich in der Weise in Flügelkämpfe innerhalb der eigenen Partei hat verwickeln lassen. Immerhin hatten die Delegationen der Turnhalle bis zum Herbst die Wirtschaftsstruktur in Namibia, insbesondere den privatwirtschaftlichen Status quo mit Ausnahme von einigen Aspekten der Landfrage, der Sozialpolitik und vage auch der Lohnpolitik ausgeklammert und die Formel des "free-enterprise" übernommen. 10 Warum war ein Kompromiß auf dieser Ebene - so unrealistisch er auf die Dauer und gegenüber der SWAPO auch sein mag - nicht durchzusetzen? Wir verlassen hiermit den Bereich der variablen und aktuellen Faktoren und kommen in bezug auf die südafrikanische Interessenlage auf strukturelle Probleme. Die Namibia-Frage ist ungleich stärker als die Rhodesien-Frage mit der Strategiedebatte um Südafrika selbst verknüpft. Dahlmann und Journalisten der Weltpresse" stellten sich die Frage, warum Dirk Mudge nicht die National-Partei in Südwestafrika gespalten oder zumindest die Verkrampten aus der Parteiorganisation in Südwestafrika herausgedrängt hat. Weiter ließe sich fragen, warum noch zwei Nachwahlen für das Kapstädter Parlament in Namibia durchgesetzt wurden, warum wiederholte Bemühungen von Mudge, den Plan der Verfassungskonferenz so zu bestimmen, daß ein abgestimmtes Timing mit der Parlamentssession in Kapstadt Änderungen des South West Africa Act ermöglichen konnte, scheiterten. Die Antwort ist meines Erachtens, daß Veränderungen der Parteistruktur der National-Partei und gesetzgebende Akte im
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Parlament, die die offizielle Aufgabe des Konzeptes der getrennten Entwicklung zum Thema haben, die Verfassungsfrage in Südafrika selbst aufwerfen. Vorsters Politik ist von Serfontein als doppelzüngig bezeichnet worden, weil dieser zumindest Du Plessis und Mudge parallel gefordert habe.12 Ebenso ließe sich interpretieren, daß Vorster solange Namibia-Politik in Annäherung an die USA und die OAU zu suggerieren vermochte, als er das Thema aus dem südafrikanischen Kontext heraushalten konnte. Bezeichnend ist sein Kommentar zur Erklärung der Turnhalle am 18. August 1976 im Transvaaler am 19. August 1976: "It was the standpoint of the Government through the years that the nations of South West Africa will themselves decide on their own future. I assume the conference will contact the Government on matters which have been decided, when it will receive the necessary attention." Im Statement wird mit Rücksicht auf die Politik der Apartheid von "nations" gesprochen, zugleich die Möglichkeit einer von Südafrika unabhängigen Sonderentwicklung angedeutet, aber zugleich auch der Souveränitätsvorbehalt gemacht, daß die Entscheidungen der Verfassungsgespräche in Pretoria angemessene "Beachtung" finden würden. Es mag dahingestellt bleiben, ob Vorster den Bruch des South West Africa Act durch die Konferenz zu tolerieren bereit gewesen wäre angesichts der Präsenz der südafrikanischen Armee eine sicherlich weithergeholte Spekulation. Die Verflechtung der Namibia-Frage mit der Parteienstruktur in Südafrika und dem Parlament von Südafrika erscheint als wesentliche Begrenzung für die Handlungsspielräume. Dies wird verstärkt durch die Präsenz großer Teile der südafrikanischen Armee in Namibia - einer Armee, der ein zweiter Rückzug nach dem Angola-Debakel ohne schwerwiegende Rückwirkungen auf die Rolle dieser Armee als letztem Garanten der weißen Privilegien kaum gelingen dürfte. 13 Es scheint deshalb sinnvoll, Entscheidungen über Namibia als Teilentscheidungen über den künftigen Kurs in Südafrika selbst zu interpretieren.14 Insofern offenkundig in Südafrika nach Soweto keine durchgreifenden Kursentscheidungen gefallen sind, oder höchstens in der Weise, daß durch Immobilität auch die Initiativen hinsichtlich der Peripheriestaaten Namibia und Rhodesien eingefroren werden, könnte die Herbstkrise in Windhoek mit der strukturellen Handlungsunfähigkeit oder einer Status quo-Entscheidung der südafrikanischen Regierung zusammenhängen. Diese Überlegungen gehen letztlich von einer These des Primats der Innenpolitik gegenüber den Forderungen, die das internationale System an südafrikanisches Handeln stellt, aus.
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Die internationale Debatte um Namibia in der zweiten Hälfte 1976 Es ist im Hinblick auf die These vom Primat der Innenpolitik in der SüdafrikaFrage nützlich, die internationale Dimension der Frage zu erörtern. Dies ist selbstverständlich durch das Vorherrschen von Geheimdiplomatie sehr erschwert. Da aber Legitimationskrisen dreier Staaten zur Debatte stehen, können auch die Akteure im internationalen System nicht umhin, die unterschiedlichen politischen Konzeptionen in der Öffentlichkeit zu erproben. Überraschend ist, daß in der Periode zwischen dem Ablaufen des Ultimatums vom 31. August 1976, dem scheinbaren Durchbruch in der Rhodesien-Frage durch die Smith-Erklärung vom 24. September 1976 und der Vorbereitung der DezemberDebatte um Namibia innerhalb der UN - sie lief mit dem amerikanischen Wahlkampf parallel - zunächst innerhalb der UN, dann in der Öffentlichkeit, mit wachsender Nervosität vor dem fait accompli einer Interimsregierung in Windhoek gewarnt wurde. Diese Warnungen wurden mit schweren Angriffen auf die Gesamtstrategie der USA gegenüber dem südlichen Afrika verbunden. Erstaunlich an dieser Zeitgleichheit ist zunächst, daß dies geschah, als in Windhoek selbst am wenigsten an die Realisierbarkeit einer Interimsregierung geglaubt wurde. Diese internationale Debatte verknüpfte wiederum sehr aktuelle Probleme mit strukturellen; so die unmittelbare Beeinflussung von UN-Entscheidungen mit Interventionen in eine vermutete Neuformulierung US-amerikanischer Politik durch die neue Carter-Administration, Reaktionen auf eine uneinheitliche Haltung der OAU gegenüber dem Alleinvertretungsanspruch der SWAPO, schließlich die diplomatische Warnung an Südafrika, wie bislang noch einige Türen zu den UN und der OAU offenzuhalten. Die Nervosität in UN-Kreisen ging von der Annahme aus, daß die eigentlichen Entscheidungen in der Namibia- und Südafrika-Frage nicht ein innenpolitisches Problem Südafrikas sein würden, sondern weitgehend von einer politischen Gesamtstrategie der USA hinsichtlich der Kontrolle der Situation im südlichen Afrika bestimmt würden. Diese Debatte wurde durch die Analyse der US-amerikanischen Shuttle-diplomacy seit September 1976 zunächst innerhalb der UN-Administration, im Oktober auch in US-Spezialzeitschriften begonnen und Ende November schließlich mit Veröffentlichung interner Positionspapiere über die US-amerikanische Strategie im südlichen Afrika in der Weltpresse fortgeführt. Die Warnungen des Council of Namibia vor einem fait accompli in der Frage der Interimsregierung im Dezember sowie die Beschränkung der südafrikanischen Reaktion wiederum nur auf die Ankündigung eines solchen Schrittes im Januar 1977 bilden den vorläufigen Abschluß dieser Debatte. Einer der prominentesten Afrikanisten der USA, der Soziologe Immanuel Wallerstein, veröffentlichte eine in der Sache und im Ton vernichtende Verurteilung der Kissinger-Mission im südlichen Afrika, mit der er in den Präsidentschaftswahlkampf einzugreifen versuchte.15 Er verglich die späte Interventionsbereit-
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schaft der US-Außenpolitik im südlichen Afrika mit den Stadien der Dekolonisationspolitik in Algerien, dem Kongo und Vietnam und stellte fest, daß immer dann, wenn der Status quo der westlichen Interessen nicht mehr von Mächten wie Frankreich, Großbritannien oder Südafrika zu verteidigen gewesen wäre, direkte USPartizipation das letzte Mittel gewesen sei. Alarmiert durch die Unfähigkeit des portugiesischen Systems "to arrange one of those harmless little decolonizations in Angola", sei der Versuch, die MPLA u.a. durch die südafrikanische Intervention doch noch zu stürzen, zu spät gekommen. Das Opfer des überstürzten Manövers sei Vorster gewesen, der nun US-amerikanischen Ausgleich verlangte. "When for the first time the South African Regime was imminently threatened from within, the United States 'entered' the Region - not to achieve a 'peaceful solution' but, quite opposite, to struggle to contain the movement for African liberation. The scheme is very simple. (1) Dump the 10 Rhodesian whites quickly. Buy them off ... (2) Create a puppet independent state in Namibia with a large political role for the white settlers, and a semi-permanent invitation to the South African armed forces to station troops there. (3) Do a minor cosmetic job in South Africa, eliminating so-called 'petty apartheid'. Buy off the Coloureds... (4) Get international recognition for Transkei... Thus, set the stage for an ultimate partition of South Africa with the 20 percent of whites retaining 80 percent of the land area (including all the mines and factories). (5) Re-legitimize Vorster and the white regime by getting the so-called 'front-line Presidents' (Tanzania, Mocambique, Zambia, Botswana and Angola) to meet with Vorster and 'trade' the rights of Blacks in South Africa for concessions to Blacks in Zimbabwe and Namibia."
Die Schlußfolgerung Wallersteins, die er dieser Anklage voranstellte, war, daß diese Politik des "containment" in Krieg übergehen und schlimmstenfalls in USamerikanische militärische Verwicklung führen würde. Die Wallersteinsche Analyse ist ein Musterbeispiel für eine - polemische - Verabsolutierung der internationalen Dimension der Südafrika-Frage und der direkten Kontrollmechanismen der Großmächte - in diesem Fall der USA. Allerdings geht auch Wallerstein insofern vom Primat der Innenpolitik aus, als dann wie in China 1947 und in Vietnam 1954 die Kontrolle wirklich umfassender national- und sozialrevolutionärer Befreiungsbewegungen durch Containment zumindest kriegerische Verwicklungen, wenn nicht Niederlagen der Verteidiger des Status quo nach sich ziehen würde. Die von UN-Beamten vorgelegte Analyse vom 21. September 1976 über "Namibia and Shuttle Diplomacy", deren Inhalt und Entstehungsbedingungen in der Sunday Times vom 21. November 1976 von James Fox, Peter Pringle und Steve Weissman dargestellt wurde, ist wesentlich differenzierter als die Analyse Wallersteins und stützt sich präziser auf Erklärungen des State Department und des White House. 16 Das Papier steht unter dem Untertitel "The danger of surrendering U.N. Authority", und setzt sich mit der durch die Veto-Politik bedrohten UN-Position in der Namibia-Frage auseinander. Das Papier interpretiert die Kissinger-Diplomatie
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im südlichen Afrika als eine Methode "that as long as they can keep the ball in the air they can prevent the Security Council from taking action". Die Autoren gehen außerdem davon aus, daß die Installierung einer "moderate" und auch für Südafrika "acceptable" Regierung in Namibia eine explosive Situation schaffen würde. "A client regime would have no popular mandate. It could survive only by repression and violence. The liberation struggle would continue. And a client regime would have to find the means to maintain order. It would thus have to depend upon South African forces or upon 'security assistance' from some sympathetic country."
Nach Erörterung angeblicher Aktivitäten der USA, die Finanzierung und Ausbildung einer eigenständigen namibischen Armee vorzubereiten, werden dann ähnlich wie bei Wallerstein die langfristigen Zielsetzungen der US-Außenpolitik aufgrund der veröffentlichten Erklärungen erörtert. Abweichend von der SüdafrikaStudie des National Security Council von 1969, die noch das Konzept der Majority Rule ablehnte, zugleich aber die amerikanischen Interessen im südlichen Afrika als nicht "vital" bezeichnete, sei seit der Lusaka-Rede Kissingers im April 1976 ein Kurswechsel vollzogen worden. Majority Rule sei jetzt auch das Thema der Westmächte. "The Western powers, however, are insistently urging an implicit distinction between majority rule and fundamental change in Namibia." Die Studie belegt dies mit einer Reihe von Äußerungen Kissingers, so vor dem International Relations Committee des Repräsentantenhauses: " W e were concerned about a continent politically embittered and economically estranged from the West, and we saw ahead a process of radicalization which would place severe strains on our allies in Europe and Japan." (April 1976).
Er wiederholte dies vor dem Senate Committee on Foreign Relations im Mai 1976: " W e have a stake ... in not having the whole continent become more radical and more in a direction that is incompatible with western interests. That is the issue."
Auf einer Pressekonferenz in Washington am 11. September 1976 erklärte er: " W e are facing a situation now in which a so-called 'armed struggle' is already talcing place in Rhodesia and is beginning in Namibia. The history of these struggles is that they lead to escalating violence, drawing in more and more countries, and have the danger of foreign intervention and the probability of the radicalization of the whole continent of Africa, in which moderate governments will find it less and less possible to concentrate on the aspirations of their people and becoming more and more focused on the events in Southern Africa. For this reason, we want to provide a non-violent alternative to this prospect."
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Ein nach Ansicht des Berichtes grundsätzlich neuer Ton gegenüber 1969 wurde durch ein Statement des White House vom 8. September 1976 angeschlagen, in dem der Präsident erklärte, daß das Hauptziel der USA in Afrika sei "to prevent an escalation of the violence which in time could threaten our national security". Die Verfasser des Berichtes interpretierten dies dahin, daß damit erstmals die Fragen des südlichen Afrikas als "vital" und relevant für die Sicherheit der USA bezeichnet worden seien. Die Verfasser verweisen dann auf das strukturelle Dilemma dieser Politik: "They are merely looking for a formula which will ensure 'stability' in the conditions which prevail today. And the obvious formula is to accept 'majority rule' without allowing it to disrupt the existing pattern of power and interests. They want to install 'moderate' governments which will respect South African and Western interests."
In der These 10 des Papiers wird dieses Konzept als widersprüchlich kritisiert: "The Western powers seek to establish 'moderate' governments which will respect foreign interests. To protect those interests, such 'governments' would have to hold change within very narrow limits. They would not be able to change the basic conditions which Africans have struggled for so long. They would consequently be unable to 'deliver the goods' of independence. Such 'government' would be estranged from the people. They would be seen as illegitimate. And fighting would continue and intensify."
Trotz dieser Analyse, die sicherlich durch den bisherigen Verlauf der Debatte um die soziale und ökonomische Struktur während der Verfassungsgespräche gestützt wird, gehen die Verfasser davon aus, daß die USA und andere Westmächte das "client regime" in Namibia stützen werden. Ausgangspunkt des Papiers war ohnehin die Information über ein 340 000-Dollar-Projekt der Agency for International Development (AID), das künftige Unterstützungsmaßnahmen für eine derartige Regierung durch Consulting-Firmen, die Erfahrungen aus dem Vietnamkrieg haben, durchdenken ließ.17 Auch diese Analyse ist durch die Tendenz bestimmt, daß die zutreffend beurteilte Interessenlage der Westmächte, einschließlich der Überlegung, "majority rule" bei Abwehr einer Umverteilungsdynamik anzustreben, verabsolutiert wird. Durch diese Art der apodiktischen Betrachtung wird ein Primat der außenpolitischen Intentionen und ein Vorherrschen starrer strategischer und taktischer Konzepte postuliert, die die operative Seite einer solchen Politik unterschätzen. Es bleibt ungeprüft, ob derartige Intentionen angesichts der politischen Dynamik im südlichen Afrika, des Gesamtverhältnisses der USA zu den UN, der OAU und anderen Randbedingungen durchsetzbar sind. In einem nächsten Abschnitt, der auch das Verhältnis der Westmächte zur SWAPO erörtert, wird erkennbar sein, daß es keine definitiven Anhaltspunkte dafür gibt, daß sich nicht Umstände entwickeln, die die USA zu einer Politik der
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Mitbeteiligung der SWAPO an der Lösung der Namibia-Frage bringen, die damit eine wesentlich größere Flexibilität beweisen würden, als die Alarmmeldung aus dem UN-Bereich nahelegt. Allerdings wird im Zusammenhang dieser Frage das strukturelle Problem zu behandeln sein, ob diese Mitbeteiligung zu Bedingungen möglich ist, die die Essentials der USA und der SWAPO umschließen, darüber hinaus, ob nicht eine weitgehende Autonomie der Politik der südafrikanischen Republik und deren Position, keine Umverteilungsprozesse auch nur in der Peripherie zuzulassen, in der Lage sein würde, Intentionen der USA zu blockieren. Aus der Debatte in der Weltpresse seit Ende November läßt sich zunächst entnehmen, daß so wohlinformierte Journalisten wie David Martin, Stanley Uys, James Fox, John Borrell, Patrick Laurence bis in die letzten Januartage 1977 hinein eher Anzeichen für eine Zuspitzung der Krise bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen mit sehr wichtigen Details zu belegen vermögen. 18 Diese Krisenmeldungen gehen sämtlich von der Analyse der südafrikanischen Position aus und verknüpfen diese mit der Frage, wie weit zwischen artikulierter US-Außenpolitik und de facto-Verhalten wichtiger amerikanischer Institutionen wie dem Pentagon und dem CIA eine Differenz bestehe. Diese Interpretation der US-Politik hat den Kurswechsel der US-Außenpolitik seit der Lusaka-Rede Kissingers im April 1976 von Anfang an begleitet und geht sowohl auf südafrikanische wie Washingtoner und UN-Analysen zurück. Am drastischsten hat dies der Washingtoner Korrespondent des STAR (Südafrika) bereits in seinem Kommentar zur Kissinger-Rede ausgedrückt. 19 Unter dem Titel "Dr. K's policy in Africa is an empty charade" formulierte Ken Owen in der Form bissiger Fragen: "Will the US close down its air force facility in the Transvaal until majority rule comes? Will it cease its monthly flights to South Africa, will it stop drawing on the resources of the silvermine to maintain surveillance of the Russians on the Cape route? Will he cut the CIA links with South Africa, armstrade and the growing stake in South African economy?"
Auch die Debatte Ende November 1976, ausgelöst durch die Berichte der Sunday Times vom 21. November, stützte sich auf diese Kombination von Nachrichten über die südafrikanische Haltung mit aus UN-Kreisen stammenden Papieren, die z. B. "CIA Operations in Namibia" behaupteten.20 Kennzeichnend in diesem Kontext ist die Interpretation, die Stanley Uys im Guardian vom 26. November 1976 unter dem düsteren Titel "War clouds over Cape" den Äußerungen und dem Denken des südafrikanischen Verteidigungsministers Botha und führender Generäle widmet. Nach Uys habe Botha die Südafrikaner aufgefordert, sich auf einen Guerillakrieg in Namibia vorzubereiten. "The Official feeling is that South Africa should fight a 'decisive' war as far from its own borders as possible to 'defend its territorial integrity* and restore some of the prestige lost by its disastrous intervention in Angola. A successful
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campaign in Namibia, it is said, will also divert attention from South Africa's growing internal problems and provide a cover for drastic actions against internal 'troublemakers'."
Einige Generäle sprächen bereits in apokalyptischen Vorstellungen. Generalmajor Webster (Head of the Citizen Force and Defence Force Director of General Resources) ging in diesen Erklärungen von der Präsenz der südafrikanischen Armee in Namibia aus und meinte, daß kein Abschluß der Verfassungsdebatte, der für die SWAPO akzeptabel sei, zu erwarten wäre. Uys verknüpfte in seinem Artikel diese Haltung führender Militärs, die mittlerweile durch die Ankündigung einer erneuten Steigerung der südafrikanischen Militärausgaben um 40 Prozent gestützt werden, mit der Namibia-Frage: "The Turnhalle talks have been losing credibility steadily in Namibia, and it is widely believed that the white authorities are playing for time. Afrikaans newspapers here, which have close links with the ruling white group in Windhoek, say there will be no redistribution of wealth in Namibia. SWAPO will reject such a plan on the grounds that Namibia's 100 000 whites would then simply take over from South Africa and materially life would not be changed for the 650 000 indigenous inhabitants. The new developments coincide with the disclosure of two confidential documents at the United Nations, which claim that the United States is teaming up with South Africa to ensure that Namibia, with its mineral riches, becomes a client state within the Western sphere of influence. According to one document, the CIA and the South African Bureau for State Security (BOSS) are working together to make Namibia safe for western capitalism. The intention, the document says, is to bypass SWAPO and ensure that power goes to those whom it can control. "
Die internationale Debatte, für die eine Reihe weiterer Beispiele anzuführen wäre, hatte auch die taktische Funktion, nochmals eine starke Warnung an die südafrikanische Regierung zu richten, die Ausrufung einer Interimsregierung zu unterlassen, um Verhandlungsspielraum zwischen OAU, UN und Südafrika noch offen zu halten. Wie weit dabei auch das Kissinger-Konzept einer weiteren Genfer Konferenz, diesmal zwischen der SWAPO, Delegierten der Turnhalle und unter irgendeinem Status auch der südafrikanischen Regierung offengehalten werden soll, ist unklar.21 Der scheidende High Commissioner der UN für Namibia, Sean MacBride, erklärte am 10. Dezember 1976 in Lusaka, das Ausrufen einer solchen Interimsregierung unter Ausschluß der SWAPO "were creating the conditions for armed intervention by outside forces" 22 . Diese Warnung wurde durch die UN-Resolutionen zur Namibia-Frage am 20. Dezember 1976, die den bewaffneten Kampf für gerechtfertigt hielten und der SWAPO den Beobachterstatus bei den UN zusprachen, unterstrichen. Als Zwischenergebnis unserer Übersicht über die internationale Diskussion seit August 1976 sei zunächst festgehalten, daß bis zum Jahresende 1976 und vor
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Amtsantritt von Präsident Carter sowohl auf südafrikanischer als auch auf USamerikanischer Seite keinerlei konzeptionelle, geschweige denn operationale Vorschläge veröffentlicht wurden, die eine Tolerierung von "majority rule" unter Einschluß der Möglichkeit von grundsätzlicher sozialer und ökonomischer Umverteilung einschließen. Die behandelten kritischen Analysen, die dies mit Recht hervorheben, verkennen aber, daß bis zu diesem Zeitpunkt noch keine unwiderruflichen Optionen vollzogen wurden, so daß sich pessimistische Urteile zwar in einem Felde hoher Wahrscheinlichkeit bewegen, aber auch nicht mehr. Allerdings ist aus der Interessenlage der südafrikanischen Regierung und angesichts der massiven Präsenz der südafrikanischen Armee in Namibia und der Relevanz der Lösung in Namibia für die Situation in Südafrika kein Hinweis zu sehen, woher der Handlungsspielraum der südafrikanischen Regierung abgeleitet werden soll. Es gibt kaum historische Beispiele, insbesondere nicht solche, in denen vergleichbare Privilegien und Machtstrukturen vorlagen, die die grundlegenden Verfassungs- und Machtfragen der eigenen Gesellschaft in einem rationalen Akt in Richtung auf Machttransfer verwandelt hätten, bevor nicht das militärische Machtinstrument sich verbraucht hatte. Die Unsicherheiten in der Lage ergeben sich aus den Unklarheiten hinsichtlich der Interessenlage im internationalen System und daraus, wie weit bei einer grundlegenden Divergenz zur Interessenlage der Minderheitenregime das Primat der Innenpolitik durchbrochen werden kann. Daß hier möglicherweise eine ganz wesentliche Schere zu klaffen beginnt, könnte man aus den sich ausschließenden Erklärungen der Regierung Carter und der Regierung Vorster und der OAU in den letzten Januartagen schließen. Vorster erklärte in seiner Parlamentsrede am 28. Januar 197723: "Faced with demands from the outside world, all South Africans would have to decide where and how they stood: 'I have already decided'." Nach dem Bericht des Guardian vom 29. Januar 1977 hielt er in dieser Rede an der Politik der getrennten Entwicklung fest. Demgegenüber deutet sich in der Politik der Administration Carter, sollte sich die erkennbare Tendenz durchsetzen, eine wesentliche Erweiterung der LusakaPosition Kissingers an. Nach einem Bericht von Jonathan Steele24 erklärte der als US-Botschafter für die UN vorgesehene Afro-Amerikaner Andrew Young in einer sensationell zu nennenden Erklärung: "The white minority regimes in both Rhodesia and South Africa were making a mistake in thinking that the US would oppose Communism in Southern Africa willy-nilly. Any Government that emerged there, however militant or Marxist it sounded in the beginning, would be a good trading partner with the West and would become moderate out of economic necessity. The Soviet Union did not need Southern Africa's raw materials and the countries of the area would have to sell to the West."
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Youngs Politik würde, so berichtet Steele, von Dick Clark, dem demokratischen Vorsitzenden des Afrika-Unterausschusses des Senats, gestützt. Young deutete die mögliche Zustimmung der USA zu einem befristeten Waffenembargo und einer eindeutigen Nichtanerkennung der Transkei an. Ein Verzicht der USA auf Manipulierung der Struktur künftiger Regierungen im südlichen Afrika im Vertrauen auf die strukturelle Überlegenheit des Westens auf dem Weltmarkt würde vom internationalen System her gesehen den Kreis der Lösungsmöglichkeiten deutlich erweitern. Auch die parallel laufenden Bemühungen der OAU, die Dynamik der Situation im südlichen Afrika unter Kontrolle zu halten und eine Internationalisierung der Kriege um Rhodesien und Namibia zu verlangsamen, weisen in vergleichbare Richtungen, die Türen offen zu halten. Der Konferenz der OAU-Außenminister soll durch das OAU-Befreiungskomitee gemäß Erklärungen des Generalsekretärs Eteki-Mboumoua vorgeschlagen werden, daß Kontingente einer OAU-Streitmacht an die neuralgischen Grenzen zwischen SchwarzAfrika und den Staaten mit Minderheitsregimen verlegt werden sollen, die rhodesische und südafrikanische Truppen daran hindern sollen, in "hotpursuif'-Operationen nach Angola, Mocambique, Botswana und Zambia einzudringen - damit diese also unterhalb der Interventionsschwelle bleiben sollen.25 Eine Beurteilung der Varianten und Wahrscheinlichkeiten in der vorliegenden Situation ist ohne eine Analyse des nach Südafrika wichtigsten Akteurs, der South West African People's Organisation (SWAPO), nicht möglich. Es muß also versucht werden, Situationen und Optionen der SWAPO für den behandelten Zeitraum zu erörtern.
Positionen der SWAPO seit April 1976 Für die Beurteilung der SWAPO gilt, daß sie wie ihr Hauptgegner, die südafrikanische Regierung, gegenüber dem internationalen System und seinen taktisch-diplomatischen Bewegungen einen hohen Grad von Autonomie gewonnen hat. Dieses mag auf den ersten Blick angesichts der von der John Ya Otto-Parteikommission über die Revolte von SWAPO-Kadern in der Zeit zwischen Juni 1974 und April 1976 angestellten Fundamentalkritik (vorgelegt am 4. Juni 1976) an der Effizienz der eigenen Partei und der Abhängigkeit vom Council of Namibia und insbesondere der OAU abwegig klingen, hat aber seine Gründe in der Kombination von interner Position in Namibia und internationaler Absicherung.26 Die SWAPO ist unabhängig vom aktuellen Organisationsstand, den ideologischen Richtungsfragen und dem Grad der militärischen Präsenz in Namibia ein Mythos für Unabhängigkeit und Abwendung aller Beschwernisse, die die afrikanische Mehrheit belasten, weil sie durch die Organisation des internationalen Drucks in der Namibia-Frage und Vermeidung der Parteispaltung auch bei Vorliegen von Richtungskämpfen als einziger glaubwürdiger Garant für die Zukunft der Afrikaner unkompromittiert über 15 Jahre Gefährdungen durch das Exil bei disziplinierter
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Konfrontation ihres internen Flügels in Namibia mit der südafrikanischen Administration durchgehalten hat. Dies ließe sich nicht zuletzt daran illustrieren, daß die SWAPO den Exodus von mehreren Tausend Kadern Ende 1974 aus Namibia intern überstanden hat27, wenn auch Spannungen zwischen der alten Exil-Gruppe und der jungen Exil-Bewegung bis in die Nähe der Parteispaltung führten. Innerhalb Namibias werden die Wahlchancen für die SWAPO auch nach dem Exodus und damit der Schwächung der Organisation als ständig ansteigend betrachtet. 28 Sicherlich ist dieser Mythos nicht unsterblich. So könnte er sich z.B. durch eine weitreichende Lösung der Verfassungsfrage, die die Partei dennoch hindert, sich an echten Wahlen - ausgeschrieben durch eine Interimsregierung - zu beteiligen, bei Fortsetzung des Guerilla-Krieges, wegen des Verzichtes auf Partizipation abschwächen. Bereits Anfang 1975 erörterte die OAU auf ihrer Ministerratssitzung diesen Zusammenhang. Der sambische Außenminister Mwaanga erklärte am 8. April 1975 noch im Zeichen der Detente: "We will not allow independence on the basis of a confederation or Bantustan. We demand independence to be on the basis of a unitary State ... but let me say this: Events are moving fast. Our SWAPO brothers must adopt a multiple strategy approach which must strengthen their influence throughout the Namibian population. Africa must not find itself in a position where independence is granted, in which SWAPO is not an effective participant, in which case they could be forced to take up arms to fight a Black government in Namibia. We must avoid this situation, as it would create serious difficulties for all of us". 29
Die interne und internationale Glaubwürdigkeitskrise, in die die Verfassungskonferenz inzwischen geraten ist, ebenso wie der Zusammenbruch der Detente-Politik während der Angola-Intervention haben diesen Druck für die SWAPO zweifellos gemildert, wenn auch nicht ausgeschaltet. Die Anerkennung des Beobachterstatus bei den UN und des bewaffneten Kampfes durch die UN im Dezember 1976 signalisieren die Absicherung durch die internationalen Institutionen. Gerade diese Entwicklungstendenz hebt den zweiten Aspekt der Stärke der SWAPO hervor. Sie ist durch die Vermeidung der Parteispaltung, ihre Flexibilität hinsichtlich der Anforderungen der OAU, vor allem aber durch die ständige Erweiterung ihres formellen Status im internationalen System den Gefahren der Isolierung bisher erfolgreich ausgewichen. Auch in Schwächeperioden wird die SWAPO durch diesen Status getragen. Insofern erwächst ihr aus der Kombination von internem Status und internationaler Absicherung eine große Autonomie. Dieses soll im folgenden am Verlauf der Parteientwicklung seit Frühjahr 1976 erörtert werden. So wie die südafrikanische Politik, nachdem sie dem Druck des SicherheitsratsUltimatums zum 31. August 1976 erfolgreich ausgewichen war, mit dem innerparteilichen Konflikt der National-Partei im Herbst 1976 das gesamte Turnhallenkon-
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zept gefährdete, geriet die SWAPO im April 1976 gerade in dem Moment in die größte Krise seit ihrem Bestehen, als sich unter dem Eindruck des Ultimatums und der Gefahr einer Interimsregierung die Gegenoffensive entwickeln sollte. Das Ziel der Errichtung einer Interimsregierung durch die Proklamierung einer provisorischen SWAPO-Regierung im Exil, gestützt auf Voten der OAU und der Konferenz der blockfreien Staaten, zuvorzukommen, wurde nicht erreicht. Damit mißlang der Versuch, den Alleinvertretungsanspruch zu zementieren. Die Ursachen der Parteikrise, die damit endete, daß die Führungsgruppe um Samuel Nujoma, gestützt auf das sambische Militär und in Kooperation mit der tansanischen Regierung, neben Andreas Chipanga die Führungsgruppe der SWAPO Youth League internierte und teils in Zambia, teils in Tanzania gefangen halten ließ, sind trotz des Bekanntwerdens interner Dokumente einschließlich des offiziellen Untersuchungsberichtes der Partei und aus den Internierungslagern und Gefängnissen geschmuggelten Gegendarstellungen unklar. 30 Ohne im Rahmen dieser Skizze in die notwendigen Details gehen zu können, läßt sich summarisch aussagen, daß im Vorhof der möglichen tatsächlichen Machtteilhabe einschließlich des Zwanges zu effektiver militärischer Organisation in der vermeintlichen oder tatsächlichen Schlußphase die Strukturschwächen der SWAPO voll durchschlugen. Waren bis dahin fehlende effektive Organisation, Unklarheit in Programmfragen, Offenheit der Optionen gegenüber den Gruppierungen im internationalen System ein Element der Stärke und Flexibilität für die Führungsgruppe bei im wesentlichen diplomatischer Arbeit gewesen, so traten sie beim Übergang zu konkreten politischen Maßnahmen als Schwäche auf. Nun ging es um die Organisation größerer militärischer Operationen, den Zwang zur Option zwischen UNITA und MPLA in Angola, um die Versorgung und politische Integration von Tausenden von Parteikadern und Flüchtlingen, die Integration von Militär, Diplomaten und militanter Jugendbewegung in eine Partei. Dies löste Richtungs- sowie Führungskonflikte aus. Die Intervention Zambias und Tanzanias auf Seiten des Nujoma-Flügels und damit, wie die Verhafteten diesen Ländern vorwarfen, auf Seiten des "SWAPO status quo", der seit Jahren ohne innerparteiliche demokratische Legitimation durch Parteikongresse und Wahlen operierte, hängt, so läßt sich mit großer Sicherheit schließen, mit der Entschiedenheit der Frontstaaten-Präsidenten zusammen, nach dem Debakel in Angola und der Zerstrittenheit der rhodesischen Gruppierungen mit allen Mitteln den Zerfall der SWAPO in Flügel zu verhindern und den international abgesicherten Repräsentanten durchzusetzen. Die SWAPO hat diese Krise mit erstaunlichem Tempo überstanden. Wesentlich war, daß der sogenannte interne Flügel gegen vielerlei Erwartungen und Wunschdenken mit der Wiederwahl Nujomas auf dem Parteitag in Walfischbai am 31. Mai 1976 die Parteieinheit wahrte und die Essentials der SWAPO-Position gegenüber Südafrika bekräftigte. 31 Wichtig blieb weiter, daß der Mythos im Inneren und die internationale Anerkennung in der Welt durch die Politik der Kontinuität von OAU und UN Zeit und Raum für die Konsolidierung ließ, wenn auch Nahziele wie die
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Errichtung einer provisorischen Regierung oder die militärische Ausrüstung für eine Großoffensive nach dem Ablauf des Ultimatums vom 31. August 1976 als Ergebnis der Krise und Zweifel der OAU und wohl auch der Sowjetunion in die Handlungsfähigkeit der SWAPO in dafür notwendigen Größenordnungen auf sich warten ließen. Wichtigstes Ergebnis der Krise, möglicherweise Teilursache, ist die formelle russische Option, die mit der Parteireform vollzogen wurde. 32 Die Bewertung dieser Option ist umstritten. Eine genaue Interpretation des auf dem Treffen des Exekutivkomitees am 31. Juli 1976 verabschiedeten Parteiprogrammes und des Parteistatuts hat in der westlichen Presse erstaunlicherweise nicht stattgefunden, vielleicht weil für die Presse wichtige Kenner der SWAPO wie Colin Legum, Serfontein und die Kirchenführer nicht an eine Umorientierung, sondern mehr an eine rhetorische Annäherung an die Waffenlieferanten glauben. 33 Dennoch sind unter dem Aspekt der potentiellen Übereinkunft von SWAPO und der UN-Sicherheitsratsmehrheit unter Einschluß der USA hinsichtlich einer Verhandlungslösung die Veränderungen der SWAPO-Position zu beachten. Sie stehen allerdings unter dem Vorbehalt, daß wegen des theoretischen Vorranges der innernamibischen Parteiorganisation vor der Exil-Organisation Parteiprogramm und Verfassung einen rechtlich schwer definierbaren Zwischenzustand einnehmen und ohnehin die Absegnung durch einen Parteitag fehlt. Der auffallendste Unterschied zwischen den Zielsetzungen der SWAPO vor und nach der Parteikrise liegt in der Aufgabe des Ziels der Blockfreiheit. In der noch im März 1976 veröffentlichten vierten Fassung des SWAPO-Verfassungsplans für Namibia hieß es unter Punkt 27 der Thesen34 "Namibia would be an active member of the UN and of the OAU, a non-aligned state" und unter These 28 "SWAPO would advance for public consideration and view in favourable light the idea of independent Namibia rejoining the Commonwealth." Im neuen "Political Programme" vom 31. Juli 1976 wurden als Aufgabe der Außenpolitik definiert: "SWAPO holds high the banner of international anti-imperialist solidarity" und arbeite "in solidarity with other national liberation movements and other anti-imperialist, progressive and peace-loving forces throughout the world with a view of ridding Namibia, the African continent and mankind of colonialist and imperialist domination". In Wiederholung dieser Ziele wird unten in einem weiteren Abschnitt noch eindeutiger formuliert, Aufgabe der SWAPO sei "to foster and strengthen the anti-imperialist unity amongst the national liberation, world socialist progressive and peace-loving forces in order to eliminate all forms of imperialism, colonialism and neo-colonialism". Die neue Generalformel der SWAPO lautete: "to unite all Namibian people, particularly the working class, the peasantry and progressive intellectuals into a vanguard party capable of safe-guarding national independence and of building a classless, nonexploitative society based on the ideals and principals of scientific socialism". Begriffe und Kombination der Begriffe sowie der eindeutige zentralistische und am Konzept der Kader-Partei orientierte
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Duktus des neuen Parteistatuts läßt zumindest eine außerordentlich starke Annäherung an das sowjetrussische Partei- und Verfassungsmodell erkennen. Allerdings sind zugleich bedeutungsvolle Unklarheiten enthalten - so die Betonung der nationalen Integration - außerdem in der Exekutivkomitee-Erklärung vom 1.8.1976 eine Liste des Dankes für Unterstützung, die nach der UdSSR auch China nennt, wenn auch Länder wie Schweden ausgelassen sind. Über die Gewichtung dieser Neuorientierung sind nur Mutmaßungen möglich. In den Dokumenten, die in der Parteikrise auf allen Seiten entstanden sind, gibt es mit Ausnahme der spezifischen Angriffe auf die USA, die Bundesrepublik und speziell die Friedrich-Ebert-Stiftung keine expliziten Hinweise auf die Inhalte der Neuorientierung. Die Ya Otto-Kommission beklagte die politische Orientierungslosigkeit der Partei. Sie zeige "lack of initiative and goal orientation within leadership and rank and file. It appears to the Commission that there is a lack of well defined set goals both short-term and long-term on departmental and interdepartmental levels". Sie leitete aus diesen und anderen gravierenden Vorwürfen den Zwang für eine Neuorientierung durch Parteistatut und Parteigrogramm ab. Dieses erfolgte jedoch im Gegensatz zur Sprache der neuen Parteidokumente ohne stilistische oder begriffliche Nähe zu marxistischen Vorstellungen. Auch in den deutlich veränderten außenpolitischen Passagen steht die alternative Interpretation zwischen "sowjetischer Option" und einer unbestimmter formulierten Koalitions-Option bei Vorrang der OAU und bei Aufrechterhaltung der Beziehungen zu China zur Ver-fügung. Wie weit das Fortbestehen des diplomatischen Kontaktes im UN-Rahmen zu Kissinger die Neuorientierungstexte als diplomatische Warnung an den Westen deuten lassen, muß ebenfalls offen bleiben. Wie auch immer in diesen Fragen gewichtet werden muß, die Nähe zur tatsächlichen Machtausübung mußte und hat die SWAPO zu präziserer Programmatik gezwungen. Dabei liegt die Betonung "anti-imperialistischer" und "anti-neokolonialistischer" Positionen in der Natur der Sache. Auch die Umverteilungsproblematik legt sozialistische Konzepte für die künftige Wirtschaftspolitik nahe. Dementsprechend sind m.E. die wirtschaftspolitischen Passagen des Parteiprogrammes auch unabhängig von der Frage der internationalen Beziehungen ein fester und wohl auch unvermeidbarer Kern jeder SWAPO-Politik: "Thus the economic reconstruction in a free, democratic and united Namibia will have, as its motive force, the establishment of a classless society." SWAPO kämpfe daher "towards the abolition of all forms of exploitation of man by man and of the destructive spirit of individualism and aggrandisement of wealth and power by individuals, groups or classes". Sie sichere, "that all the major means of production and exchange of the country are ownership of the people". SWAPO kämpfe "for the creation of an integrated, national economy in which there is a proper balance between agricultural and industrial developments along the following lines: the establishment of processing industry; a comprehensive agrarian reform aimed at giving land to the tillers; the establishment of peasants' or farmers' cooperatives
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or collectives; the establishment of state-owned ranching and crop farms, aimed at making Namibia an agriculturally self-sufficient nation". Der letzte Satz in der wirtschaftspolitischen Passage verdeutlicht die Nähe zum tansanischen Wirtschaftsmodell auch begrifflich: Es ginge um "cultivation of a spirit of self-reliance among our people". Kennzeichnend für die neuen Parteidokumente sind auch wesentliche Aspekte der Kontinuität. So sind die Vorbedingungen für Verhandlungen mit Südafrika die Bindung Pretorias an die Unabhängigkeit, die Zusage zum Rückzug der Armee, die Garantie von unter UN-Aufsicht organisierten freien Wahlen - unverändert geblieben. Außerdem hat die SWAPO daran festgehalten, die Sprache der Black Conciousness zu vermeiden. Für die Beurteilung der Möglichkeiten einer Verhandlungslösung in Namibia ist aus der neuen Programmatik der SWAPO wenig Definitives zu entnehmen. Entschieden ist zweifellos, daß ohne umfassende ökonomische Umverteilung in Namibia keine Lösung für die SWAPO akzeptabel ist, ebenso sicher muß gelten, daß sich die SWAPO nicht Wahlen unter der Kontrolle der südafrikanischen Armee stellen wird. Schwieriger zu beurteilen ist, wie weit SWAPO mit Teilen der organisierten Bevölkerung in Namibia koalitionsbereit ist - etwa mit dem Okahandja Summit, mit den Repräsentanten der Coloureds, die bislang die Türen für die Kontakte mit der SWAPO offengehalten haben, wie weit die politische Annäherung der Rehobother an die SWAPO tatsächlich geht, ob Teile der in der SWANU organisierten Herero-Intelligenz integrierbar sind. Ebenso offen ist, wie tragfähig das Verhältnis zu den Kirchen in Namibia ist. Im Parteiprogramm ist in der Fassung, die im Exekutivkomitee noch handschriftliche Veränderungen gefunden hat, Punkt 6 der "Basic aims and objectives" in letzter Minute insofern verändert worden, als aus "to establish in Namibia a democratic government" geändert wurde in "democratic and secular government". Schwer zu beurteilen ist auch, wie weit das Parteistatut, das für die Wählbarkeit in die Führungspositionen fünfjährige Parteimitgliedschaft vorsieht und dem National Executive Council die Suspendierung der Mitgliedschaft überläßt, Integrationsmöglichkeiten erschwert. Auch die diplomatischen Äußerungen hinsichtlich des Vertretungsanspruches von SWAPO geben hierauf keine eindeutige Antwort. Im Zusammenhang des von Kissinger vorgelegten Konferenzplans erklärte Nujoma unter Ausklammerung dieser Frage auf einer UN-Pressekonferenz am 21. September 1976, daß es am Konferenztisch eine "South African side and a Namibian side" geben könne daß es noch andere Kräfte in Namibia gäbe, die mit der SWAPO "on our side of the negotiating table" sitzen könnten. 35 Außerhalb des Kontexts von Konferenzkonzepten, so in ihrer Warnung vor dem Errichten einer Interimsregierung Ende Februar 1977 im SWAPO-Memorandum vom 11. Januar 1977 hieß es, SWAPO sei "the legitimate representative of the Namibian people". Man wird hieraus die Schlußfolgerung ziehen können, daß die Flexibilität der SWAPO hinsichtlich Verhandlungslösungen erhalten geblieben ist, daß aber der
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Spielraum durch die immer präziser formulierte Interventionsalternative, die Zweifel an der Konsistenz der US-Außenpolitik hinsichtlich der de facto-Förderung der Verfassungsgespräche und die südafrikanische Obstruktions- und Verzögerungstaktik in Windhoek enger geworden ist. Völlig ungeklärt ist, wie die PLAN, die Militärorganisation der SWAPO, die einen wachsenden und Undefinierten Anteil an der Parteistruktur durch die Neuorientierung erhalten hat,36 in den Machttransfer eingebracht werden kann, insbesondere dann, wenn der Aufbau einer Armee im Rahmen der Verfassungsgespräche eine Konkurrenzlage schüfe.
Ausblick Für die Beurteilung der Entwicklung in Namibia wird in den nächsten Wochen und Monaten also insbesondere zu beachten sein, ob die südafrikanische Regierung den entscheidenden Schritt zur Interimsregierung tun wird und wenn, ob durch das Ausschreiben allgemeiner und international kontrollierter Wahlen die Tür weiter offengehalten wird. Außerdem wird die Frage der Stationierung der südafrikanischen Armee auch in der Interimszeit zur Schlüsselfrage werden. Es ist nicht auszuschließen, daß die südafrikanische Regierung die präventive militärische Auseinandersetzung im namibischen Vorfeld einem Aufgeben von Grundpositionen, d.h. dem Zulassen von Umverteilungsprozessen, den Vorzug gibt. Hinsichtlich der Politik der Westmächte wird wesentliches Kriterium für die Beurteilung sein, ob sie im Sinne der Young-Erklärung Umverteilungsprozesse und ihnen verpflichtete Regierungen tolerieren oder aber an den Möglichkeiten der Stützung sogenannter "moderate governments" festhalten und damit einer de facto-Anerkennung der möglichen Interimsregierung den Vorzug geben. Auf Seiten der OAU wird zu beachten sein, ob und mit welchen militärischen Kräften das südafrikanische Umfeld nach Ausrufen einer Interimsregierung besetzt wird und ob die große Offensive der SWAPO ermöglicht wird. Für die SWAPO wird wesentlich werden, ob sie die Spannungen, die durch partielle Kooperation von Teilen zumindest prominenter ehemaliger SWAPOFührer in Namibia mit der Interimsregierung entstehen könnten, sowie die Probleme, die sich in ihrer Führungsschicht aus dem wachsenden Gewicht der militärischen Führung und dem erneuerten Ruf nach einem Parteikongreß ergeben könnten, als Organisation durchhält. Kennzeichen der Gesamtsituation ist, daß bislang OAU und UN-System und unter ihrem Einfluß die SWAPO die größere Flexibilität besessen haben als die südafrikanische Regierung und die Führungsmächte des Westens. Ob die sich aus der Kette der enttäuschten Hoffnungen eskalierende Vertrauenskrise diplomatisch, d.h. vor einer wesentlichen militärischen Niederlage der südafrikanischen Armee in Namibia wird überwinden lassen, ist ungewiß, ebenso wie der negativste Ausgang - ein langwährender Guerillakrieg - in seiner Dauer und seinen Konsequen-
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zen für keine Seite z.Zt. überschaubar ist, obwohl insofern Sicherheit über d i e langfristige Entwicklung bestehen dürfte, daß man ein Gespräch zwischen Wallerstein und einem amerikanischen Senator zur gleichen Frage mit der Implikation des amerikanischen Vietnamtraumas auch für Namibia führen kann: "What can the United States do to make sure that it doesn't end up this time on the side of the wrong people? I gave him the only answer I know: Get on the side of the right people." 37
Anmerkungen 1
Die vorliegende Betrachtung kann nicht auf die ökonomische und politische Struktur in Namibia im einzelnen eingehen. Ich verweise deshalb auf Helmut Bley, Die politische, soziale und wirtschaftliche Situation in Namibia. In: Evangelische Akademie Bad Boll: Die Zukunft Namibias und die Kirche, 3.-5.10.1975. Für die ökonomische Struktur vgl. Roger Murray, The Namibian Economy. Analysis of Foreign Investment and the Policies of the South African Administration. In: Murray u.a., The Role of Foreign Firms in Namibia. African Publication Trust 1974, S. 22-127; J.H.P. Serfontein, Namibia?, Randburg 1976, Kap. 5: Economy. Dieses Kapitel stützt sich auf ein Paper von Wolfgang Thomas, University of Western Cape, das auf der Summer School des Centre for Extra-Mural Studies der University of Cape Town vorgelegt wurde: The Economy of South West Africa: An Overall Perspective, Januar 1975. Der Verf. war ebenfalls zu dieser Summer School eingeladen, erhielt aber von der südafrikanischen Regierung kein Visum. Vgl. auch den statistisch unseriösen, weil selektiven South African Survey 1974, hg. v. Department of Foreign Affairs of the Republic of South Africa, (o.O.) 1975.
2
Dem Verf. liegt eine umfassende internationale und südafrikanische Zeitschriftenausschnittsammlung einschließlich der offiziellen Erklärungen der Konfliktparteien vor, die als Hintergrund für die AUgemeinaussagen dient. Für die einzelnen Phasen der Entwicklung sehr detailliert und zuverlässig jetzt Serfontein, a.a.O. Serfontein, a.a.O., Kap. 9: Verkrampfte Collapse, S. 308ff.; vgl. die Debatte im Windhoek Advertiser und in der Allgemeinen Zeitung von August 1976. Serfontein, a.a.O., S. X. Ebenda, S. 313. Vgl. Bley, a.a.O. Ebenda; vgl. auch die Positionen von Legum/Tötemeyer in: Serfontein, a.a.O., S. 162, sowie Natal Mercury, 20.5.1976, und Windhoek Advertiser mit Bezug auf Rapport 30.4.1976. Vgl. New York Times, 11.12.1976. Murray, a.a.O., und Thomas, a.a.O., weisen übereinstimmend auf die exzessive Differenz zwischen BSP und BNP hin, die ein internationales Ausbeutungsverhältnis zu Lasten der Entwicklungsmöglichkeiten darstellt, das kaum mit anderen Fällen des Gewinn- und Ressourcentransfers in der Dritten Welt vergleichbar ist. Vgl. auch Bley, a.a.O.
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Constitutional Conference of South West Africa, Cape Town 1976: Resolutions of the Constitutional Conference Relating of the Second Report of the First Committee. Punkt 4, S. 76: "That a free economy be accepted as the basis for South West Africa's economic and monetary systems." Für die Parallelen zur westlichen Interessenlage vgl. die dpa-Meldung über das Genscher-Sole-Gespräch am 27.4.1976, das die Lusaka-Erklärung von Kissinger am gleichen Tage stützte: "... daß die Probleme im südlichen Afrika in einer Form gelöst würden, die das Zusammenleben von Schwarz und Weiß ermögliche. In der gegenwärtigen wichtigen Phase müßten diejenigen Kräfte gestärkt werden, die ihre Zukunft in der Zusammenarbeit mit den freien Nationen der Welt sähen." Allgemeine Zeitung, 19.12.1976; Le Monde, 10.11.1976; Serfontein, a.a.O., Kap. 9: Verkrampfte Collapse, S. 308ff. Serfontein, a.a.O., S. X. Zur Analyse der Angola-Intervention vgl. Collin Legum/Tony Hodges, After Angola, London 1976; Serfontein, a.a.O., Kap. 6.1: Angola, S. 333ff. Die aus der südafrikanischen und der internationalen Presse und den dort veröffentlichten Erklärungen ersichtliche interne Debatte nach den Unruhen von Soweto und anderen Städten seit Juni 1976 kann hier nicht erörtert werden. Vgl. unten die jüngsten Erklärungen der südafrikanischen Regierung zum Gesamtkomplex der getrennten Entwicklung. Vgl. Kissinger's African Mischief. In: Nation, 9.10.1967. Ich danke James Fox und der Sunday Times für das relevante Material. Vertragstext liegt dem Verf. vor. Guardian, 26.11., 28.11. und 11.12.1976; The Sunday Times, 21.11.1976. The Star, 6.5.1976. Text liegt dem Verf. vor. Vgl. David Martin im Observer, 28.11.1976. Nach Guardian, 11.12.1976. Nach Guardian, 29.1.1977. Guardian, 26.1.1977. Bericht von John Borrell im Guardian, 28.1.1977. Report of the Findings and Recommendations of the John Ya Otto-Commission of Inquiry into circumstances which led to the revolt of the SWAPO cadres between June, 1974 and April, 1976. Submitted June, 1976. Zum Exodus nun zusammenfassend Serfontein, a.a.O., S. 154ff.; vgl. auch Ya Otto-Commission. Vgl. ebenda. Zitiert nach Serfontein, a.a.O., S. 104. Ein Teil der während der Krise entstandenen Dokumente beider Seiten gelangte als mehr oder minder vertrauliche Papiere in die Öffentlichkeit oder in die Hand von Spezialisten und mit dem Thema befaßten Journalisten. Sie liegen dem Verf. größtenteils in Kopien vor. Star, 31.5.1976, 1.6.1976. Die für die Parteireform relevanten veröffentlichten Dokumente sind: The Political Programme of the SWAPO of Namibia. Vervielfältigter Text (ohne Datum); Constitution der SWAPO; Statement by Comrade Sam Nujoma, President, SWAPO, to members of the press, Monday, 2 August, 1976, Lusaka, Zambia; The Declaration of the SWAPO Central Committee adopted at its meeting held between July 28 und 1 August 1976 in Lusaka; Text of the Speech to be made by Peter Katjavivi, SWAPO Secretary for Publicity and Information. Press release 25.8.1976, gehalten am 26.8.1976.
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Vgl. Serfontein, a.a.O., S. 162ff. Im übrigen Zusammenfassung von Gesprächen des Verf. mit namibischen Kirchenführern, Colin Legum, führenden Mitgliedern des Exekutivkomitees der SWAPO, wobei die Verantwortung für die Interpretation der Gespräche beim Verf. liegt. SWAPO of Namibia: Discussion Paper on the Constitution of Independent Namibia (4th revise), März 1976. Jetzt veröffentlicht bei Serfontein, a.a.O, Annexure B.S. 385. Serfontein, a.a.O., S.366. Waren noch im Entwurf der Constitution (Parteiverfassung) für die Mitgliedschaft im Parteikongreß vier Delegierte von PLAN vorgesehen, heißt es in der handschriftlichen Änderung unbestimmt: V 3 d "The People's Liberation Army of Namibia will be represented. " Da sich im Parteikongreß mit nur geringfügiger Verschiebung der Stimmverhältnisse bei den dominierenden ex officio-Mitgliedem im Sinne des "demokratischen Zentralismus" die Mehrheitsverhältnisse entscheidend verändern können, ist dieser Änderung die größte politische Bedeutung beizumessen. Ich danke James Fox und der Sunday Times für das relevante Material.
9 The History of European Expansion: A Review on German Language Writing since World War II aus: P.C. Emmer/H.L. Wesseling (Hg.): Reappraisals in Overseas History, Leiden (Leiden Academic Press) 1979, S. 140-160
A report on German-language writing on a theme as general as the history of European expansion cannot produce a very unified picture. It is not simply a matter of a wide range of questions, but also of countries that differ in their political outlooks and in their organisation of research. Historiographies may represent the conservative-liberal traditions of Switzerland, the Marxist-Leninist approaches of the German Democratic Republic (GDR), or the very confusing situation in West Germany in which conflicting lines of thought have derived from mutually antagonistic bodies of assumption. Austria's contribution seems to be so marginal with respect to our theme that it can be kept in the background. In order to show the development of particular tendencies, it will be necessary to risk over-simplification and over-categorization. This report must therefore be selective and will not provide a completely annotated bibliography of the subject. In particular, the flood of individual monographs dealing with overseas history had necessarily to be omitted if they focussed on the overseas regions themselves, in spite of the fact that they discuss important aspects of European expansion. Our main concern will be to deal as adequately as possible with the "European side" of the expansion process. My first duty is to explain why, after 1945, no wide-ranging specialized research on the European aspects of the European expansion developed in West Germany, and why GDR-historiography, after its fresh and successful start in the field of German colonial history in the 1950's, somehow became derailed by political developments. The first point devolves upon a story of self-imposed isolation. It developed out of a paradox. Since World War II the desire to reintegrate the future Federal Republic of Germany into Western Europe, after the barbarism of Nazism, became a powerful intellectual force, leading to the reassessment of the "European heritage," the "values" derived from Europe's particular character, and the reinvented mythology of the Abendland. So long as world history was in question - and this was indeed the very issue that emerged in the forefront of discussion after two World Wars - the contribution of Europe to Universalgeschichte was significant. By implication this approach produced a strong tendency toward generalization. It integrated philosophical and religious interests by focussing on the meaning of human existence. In the context of history it meant a broad debate on historical anthropology and cultural history. Tendencies and consequences of this approach will be discussed first. Although I am aware that this approach was not confined to regions in which the German language was spoken - names like Arnold Toynbee and Teilhard de Chardin indicate this - I shall concentrate on the German/Swiss context. My procedure will be to look at the
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Saeculum-group which concentrated itself around the periodical Saeculum, founded in 1950. The second point to be discussed is that, in spite of the rather small number of persons involved, there developed an important and continuous tradition of writing on comparative colonial history. This tradition obtained its main stimulus from the powerful German historiographic tradition in analyzing the thoughts of politicians, political thinkers and administrators. The links between this research and our theme stem from the close relationship between the study of political thought and the history of the modern state and its foreign relations. An example of this tradition can be found in the 17 volumes, so far produced, of the Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte, edited by Rudolf von Albertini (Zürich) and Heinz Gollwitzer (Münster), including the major books of these two scholars. A third major field of attention which distinguished German work in both the GDR and West Germany from that of Western Europe is connected with German history itself - which by dint of having made Europe its victim became in turn Europe's own history: the history of European expansion is also that of an expansion within Europe. In this context it could be argued that it is rather artificial to distinguish a boundary between overseas and intra-continental expansion, one that merely reflects the special experience of Western Europe in contrast to that of Central and Eastern Europe. This aspect could be discussed in the formative context of early modern times - say, in that of the German, Polish and Scandinavian debates on Baltic rivalry, and its connections with the growing Atlantic system, or it could be looked at in the framework of Immanuel Wallerstein 's concept of a modern world system, which tries to integrate the European and overseas aspects of expansion. However, I intend to concentrate on the results of the controversial Germanlanguage debate on the role of Germany in the classic period of imperialism prior to 1914, in which both elements, expansion of Europe and expansion in Europe have become inseparable issues. German research in this field has looked with particular interest at connections between internal developments and the directions and cumulative effects of expansion; it has also been concerned with expansionist thinking. In so far as general interest in the theories of imperialism is concerned, this German debate did not take the route of the Gallagher-Robinson approach to the origins of overseas expansion in the 19th century, that is to say that of their influential concept of formal and informal empire. The German debate in East and West was far more concerned with what its practitioners called the structural crisis of the Kaiserreich, with the far-reaching influences of this crisis upon expansionist thinking, foreign and colonial policy, and with the increased readiness to regard a European war as inevitable (even if it were unnecessary). A fourth major field - more theoretical than concerned with actual detailed research, and relating to the general history of European expansion - was developed by political scientists and political economists when reviving the debate on the
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laws regulating the creation and stages of the world market. This of course is closely connected with the neo-marxist and GDR interest in periodization, and in the stages of the various modes of production. Its timing was related to the beginnings of the debate on "neo-colonialism" and underdevelopment. I will try to interpret this discussion (which obviously has its forerunners and counterparts on the international scene) in terms of the GDR-debate in the Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, and the West German and West Berlin debate sparked off by the so called "capital logic group". I am aware that, in most of the relevant publications, historical data are but scantily used, since what was at issue was a reinterpretation of history itself. Genuine historical research, in a conceptual frame, has not yet been attempted. Yet, it is a challenge to the discipline as a whole that the main sources from which the impulse to generalize and interpret history are derived are located outside the history departments. This is due both to the lack of initiative and to the reluctance to synthesize so characteristic of professional historians. It will not be possible here, even by means of a short appraisal, to discuss that growing production of works by social scientists in general, and historians in particular, consisting largely of regional studies of African, Latin American and Asian countries. In so far as these studies include historical aspects, they indirectly contribute to the history of expansion. Methodologically they are usually linked with the relevant internationally-oriented schools of area-studies. The setting up of collaborative teams and research centres has resulted from a practical interest in development aid and from their function as advisers to government agencies; only very exceptionally they have developed in conjunction with university institutes. Because of these practical connections, historians are seldom at the centre of activities with the exceptions of those involved in Latin American studies.
German Universalgeschichte': A Road to Isolation Traditions of descriptive historiography were revived immediately after WW II when Egmont Zechlin, in cooperation with Eberhard Vietsch, wrote the first volume of a Maritime Weltgeschichte (1947).2 So far as the 15th and 16th centuries were concerned he based himself on his earlier paper published in the Neue Propyläen Weltgeschichte (1941),3 and gave a colourful picture of international rivalry without an Eurocentric bias. If one looks at the fascinating chapter on economic and military rivalry in the Indian Ocean, it can be seen that he had synthesized all of the knowledge available, at that time, not only that concerning European political and commercial powers, but also those of Asia. But in a sense the book remained an isolated event; volume II was never completed, and it did not have the impact upon German research on early European expansion that one would have expected. The same happened to Percy Ernst Schramm's book on the foreign trade traditions of the German seaports (1950). Although Deutschland und
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Übersee is a very early example of research in "free-trade imperialism," it lacked an appropriate conceptual framework. 4 During the early fifties, the period of reconstruction, German intellectual interest took a different route. It tried to bring an interest in philosophical anthropology into relationship with theories of world history, reflecting a desire to reestablish humanitarian ideas in post-fascist Germany. Within this framework the concept of Universalgeschichte became far more ambitious than had been the case in descriptive approaches to World History. The newly founded periodical Saeculum ( 1950), which offered a platform to historians of ancient and medieval Europe and to those concerned with the ancient civilizations of Asia, typified this development. The key question concerned the development of world history, and, further, as aspects of the former, the relationship between the cultural and religious heritage of the old Asian and Latin American cultures on the one hand and the unifying force of European expansion on the other. The grounds for this type of very general interest in Universalgeschichte had been prepared by Karl Jaspers in his Vom Ursprung und Ziel der Geschichte(1949),5 which divided history into periods based on criteria derived from changes in the basic structure of human thinking. A similar set of concerns produced Freyer's Weltgeschichte Europas (1948), 6 which connected traditions of sociology practices in the Weimar Republic with conservative theories current in West German post-war scholarship. The Saeculum-group7 - with Stadtmüller, Köhler, Franke, Spuler and others - bringing together historians, sinologists and islamicists - was concerned mainly with the intellectual consequences and impact upon mankind of European expansion, but only, however, with that part of mankind represented by the ancient high cultures. The group demanded a regional focus that would avoid creating histories that were merely prehistories of European conquest. In fact, they had become so radical that the European impact was lost to sight. Thus, for example Oskar Köhler saw even 20th century world-history, not as a global, integrated development, but basically as a system of regional developments which were "only connected through modern technology". He stated that although intercultural change might be very important, the real impulses for the developments relevant for world history came out of the internal conditions of those "regional worlds". The effect of this thinking was that the research tended to center on the intellectual developments in the different regional "worlds." In reconstructing the rich internal structures of the high civilizations European intellectual history was combined with traditions of orientalist studies. This type of thinking maintained its momentum throughout the sixties and was expressed in the main textbooks, such as in Valjavec's Historia Mundi (in 1960 renamed Weltgeschichte der Gegenwart).8 It also characterizes the Saeculum Weltgeschichte with its Volume VII published as late as 1975.' Traditionally, in the study of cultural history, each decade brought a number of new attacks on the ideological battlefield against what was vaguely called "left thinking" and "left approaches", - whatever might have
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been meant by such interpretations. These attacks served very strong and direct ideological purposes. For instance in the Weltgeschichte der Gegenwart (1962) one of the main spokesmen of the "Ordo-liberal" school (which favoured a free enterprise society), Wilhelm Röpke, argued that on the basis of its fundamentally moral intellectual force, Europe had been able to produce the One World Civilization. 10 Whether envied, hated, or admired, the spirit of Europe could not be transplanted; unfortunately the European success-story overseas to date had merely consisted of a transfer of material civilization. The final victory would be won by a future transplantation of its eternal values. Röpke ended with the classical sentence: "This is the new white man's burden, in a very humble way, but directed towards the most ambitious and difficult aim of all." The strengthening of this thinking in the seventies, bearing many marks of the German tradition of Kulturkritik can be strongly associated with the development of a counter-offensive to the onslaughts against traditional historiography formulated during the period of student rebellion, and to the lead developed by neo-marxist influenced thought occuring within the same context. The Saeculum-group, for instance, between 1971 and 1976, reinforced their debate on cultural history with a sceptical revival of conservative thinking. Köhler drafted a Historische Anthropologie (1974) and was able to summarize the essence of European history in a sentence like: "There were two experiences, which perhaps could be called the basic
elements forming the abendländische - europäische Geschichte, and which have either emerged into full consciousness or been retained at the level of the unconscious memory: the decline of the Roman Empire and the delayed readvent of Christ. Even though the content of these experiences might have been transformed into new forms, the basic impetus originally behind them maintained momentum."11
Köhler, in these obscure words, tried to reinforce the idea that behind modern expansionism was the old ideology of the one Empire, and further that chiliastic desires remained the moving forces behind, for instance, the Marxist theory of society. Köhler attempts to understand world history as the Weg der Menschheit zu sich selbst. As a consequence of his kind of thinking he minimized, to an extreme degree, the role of economic and political factors in historical development, in contrast to the role of the cultural and religious spheres. He was thus enabled to formulate : "The 'first' (Western) and the 'second' (Socialist states) worlds are essentially aggregations of economic-technical, military and political organisation ... Those worlds (despite all claims of being historical units im Innersten) are not, therefore, integrated except in terms of those technical elements."12
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This type of approach has obvious consequences for researchers concerned to communicate with those involved in other branches of history, not to speak of colleagues working in the more systematic social sciences. A tendency towards "global" reflection had developed which failed to lead towards new fields of enquiry. It necessarily avoided an analysis of social, economic and political phenomena. It explained expansion as a mere technical process resulting from European rationality. It could not encourage an interest in comparative studies because it imputed that "cultures" had to be regarded as unique entities in their own right. Another consequence of this reduction of history to cultural and religious aspects is the apologetic tendency with regard to the impact of the European expansion on the rest of the world. 15
Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte14 However, despite the isolationist tendencies of the Universalgeschichte, which were supported by similar developments within oriental studies, certain other traditions of overseas history survived. In the early sixties Albertini and Gollwitzer started from a different position to that of the Saeculum-group. Both were closely concerned with the general history of the modern European state, and maintained a strong interest in the history of political ideas connected with the process of stateformation. Gollwitzer, especially, extended this traditional interest by integrating the methods of social history into his research, no longer restricting the history of political and social ideas to the small body of leading thinkers and politicians. In a sense it was a parallel development to Conze's group, whose work in social history bypassed the much narrower concepts of Meinecke and Ritter. Typical products of this approach were Albertini's and Gollwitzer's most important books. Albertini's book on Dekolonisation (1966) was a comparative analysis of European official colonial thinking since 1919.15 This analysis was completed by his history of European colonial policy (1976) coauthored with Wirz. 16 Gollwitzer wrote a history on the concept of the "yellow peril"; 17 in 1972 he published the first volume of Geschichte des weltpolitischen Denken and is now writing the second volume. 18 Both approaches offered opportunities for specialised research. So the Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte are dominated by books about theories concerning the colonial policy held by politicians and administrators, as well as by books on broader intellectual ideas. The history of French colonialism in North-Africa and in South East Asia have been subjected to particular attention. 19 The same tendency can be observed in the work of scholars possessing no special connections with the group. A typical title in this context is E. Schulin, Handelsstaat England.20 Schulin's introduction to a reader about Universalgeschichte, included a good summary of German traditions of this kind of history. G. Hamann's The Discovery of the Southern Hemisphere (1965) was the main
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Austrian contribution, dealing with the history of geographical knowledge since the 15th century.21 Also influenced by Gollwitzer was a dissertation on the London World Exhibition of 1851 (U. Haltern 1971).22 A rather independent but strong special line of overseas historiography is provided by Latin American and Iberian studies, which grew out of studies on the Habsburg empire. In terms of methodology, the books and articles of Konetzke,23 Kellenbenz,24 Klaveren,25 Wolff26 are closely connected with concepts of social history developed by German medievalists.They are partly influenced by Otto Brunner, and deal with economic history. But in fact it is Konetzke who dominates German production of text books on world history, especially in so far as Latin American history is concerned.
History of German Imperialism The main stimuli leading to research on expansion, both in West Germany and in the GDR, developed out of «interpretations of the history of the Kaiserreich, out of investigations into the reasons for German expansionism, and out of the analysis of the origins of World War I. Because it related social and economic factors underlying the belated processes of industrialization and state-formation, to ideas and policies concerning expansion (overseas and in Europe) on the one hand, and to internal tensions within the Kaiserreich on the other, there developed - especially in West Germany - a broad variety of approaches, in so far as methodology and interpretation were concerned, and this had a profound influence on historical and political debate. The history of German imperialism of that period thus became the most important German contribution to the issue of expansion. The reasons for such a concentration of attention upon the phase of German imperialism that occured prior to 1918 were fourfold. 1. An initial analysis of the origins of Nazi-Germany suggested continuity with the Kaiserreich. 2. Scholars of GDR universities systematically applied Lenin's theory of imperialism to the German situation and rewrote the history of the Kaiserreich, combining it with a permanent and effective attack on West German historiographic traditions. 3. Connected with both of the above developments, two myths, current in West Germany, - characterizing the national-liberal historiography of the Weimar Republic - were destined for destruction. Firstly, that after World War I the allied powers had used their declaration of German war-guilt to justify reparations. Secondly, that they had justified the annexation of German colonies, by the mandate-system, by alleging cruel mismanagement. German historians had thus specialised in attacking what they called the Kriegsschuldluge and the koloniale Schuldliige, and apologetic tendencies of course prevailed.
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4. The timing of new departures in historical writing was influenced by the fact that around 1956 the relevant files of German government departments were returned to Potsdam, Merseburg, Bonn and Koblenz from Moscow, London and Washington. New sources could thus be tapped. Colonial history had its beginning in the research group of Walter Markov in Leipzig. From 1959 books were produced that concentrated on the first period of German colonial expansion (i.e. that preceding the beginning of the "monopoly" stage, which Lenin had dated around 1900); - on the movement of colonization (Nussbaum)27 in East Africa (Müller28 and Büttner29), in Kamerun and China (Stöcker)30 in South-West-Africa (Drechsler),31 on missions (Loth).32 Their theoretical concern was mainly one of ordering the periodization of colonial history according to types of economic organization; at the same time they stressed the importance of African resistance. Attacks on the myth of "good German colonial government" - still much alive - frequently took the form of open agitation. Because almost all of the writers either had become involved in the academic side of the development of GDR politics towards the Third world, or were reoriented towards the more theoretical aspects of imperialism, this group disintegrated, putting aside the study of colonial history and of an African history possessing its own regional perspective. Thus, no important new historical tradition could be constructed. It can be justly stated that in terms of African studies the anthropologists took the place of the historians (e.g. Walter Rusch33 and Thea Büttner34). West German production started a few years later, but more along the line of individual enterprise. Parts of it were often delayed by difficulties in gaining access to GDR archives. The works of Bley35 on South West Africa, Hausen, 36 Diehn37 and Wirz38 on Cameroon, Tetzlaff 39 and Bald40 on East Africa were products of the few West German islands of overseas studies: Bley in the Overseas Section of Zechlin, in the History Department at Hamburg; Hausen at Münster (Gollwitzer); Wirz at Zürich (Albertini); Tetzlaff in the Arbeitstelle für Afrika of Ansprenger at Berlin; Bald possessing contact with the Afrika-Studienstelle of the Ifo-lnstitut für Wirtschafiforschungen at Munich, then led by Wilhelm Marquardt and with the Arnold Bergsträsser Institut in Freiburg. In spite of the existence of these institutes of overseas studies, West German production was not influenced by them, reflecting in the main the more general streams of historiography. Bley's book on South West Africa tried to combine a social and intellectual history of the Kaiserreich (thus of the development of totalitarian politics) with those new concepts of African history which arose in the sixties. Karin Hausen contributed to the debate on the theoretical interpretation of imperialism, Tetzlaff and Bald to that on economic pressure groups, Wirz to that on the conceptual contents of an economic history of West Africa. A regional bias inevitably crept in; colonial history became the history of Africa, a tendency also affecting the work of British and American scholars like Iliffe 41 and Austen42, who had worked in the German archives on
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similar themes and at the same time as German historians. In so far as its reception within German historiography was concerned, this colonial history was regarded as part and parcel of the ongoing debate on German imperialism, because, in the meantime, the debate on the long and short term origins of World War I had gained momentum. The fierce academic dispute over Fritz Fischer's Griff nach der Weltmacht (1961) overshadowed the discussion of expansionism.43 Although Fischer's book was essentially concerned with the question of German war-aims and expansionism during World War I (based on the newly available documentation spoken of above), throughout the introduction and the first chapter on the origins of the war, he had dealt with the question of German expansionism before the War and that of the problems of continuity within German politics underlying the origins of the Second World War. This initial discussion was greeted simultaneously with both enthusiasm and hostility within the discipline.44 Fischer was seen as influenced by radical democratic traditions characteristic of the Weimar Republic, and as being closely related to the lines of research established by Eckart Kehr,45 George Hallgarten46 and Hans Rosenberg47. Fischer's contribution (which was the result of a collaborative project producing a number of dissertations) led to intensified research on the whole Kaiserreich epoch, including the period of Bismarck, as well as a central thesis, or chain of argumentation, concerning the origins and directions of German expansionism since 1870. In this thesis, links were formulated between the Great Depression of 1873-97 on the one hand, and the conservative reorganisation of the Reich that had resulted in an expansionist coalition between East Elbian landlords and organised industry on the other. In consequence, internal tensions had so increased that they had a cumulative effect on expansionist tendencies within Europe and abroad. Research concentrated either on the Bismarck period (Rosenberg, Bohme48 and Wehler49) or on the internal and external structural crisis that developed after 1903 (Stegman50, Witt31, Saul52, Berghahn53). With regard to the primary aims of expansion, the principal lines of debate have been concerned with the periods during and preceding World War I, and they have centred around the following questions: 1. Mitteleuropa, meaning the expansion of Germany, mainly at the expense of Belgium and Poland, but also including parts of France and a special relationship with AustriaHungary; 2. the concept of Mittelafrika, the completion of the half-hearted colonial policy of Bismarck; and 3. direct ambition for annexations which in the later stages of World War I (after the Russian Revolution) included an attempt to partition Russia. Despite Fischer's second book - Krieg der Illusionen (1969)54 discussing the developments of internal politics following the Morocco Crisis of 1911 and elaborating further on the argument contained in the most disputed two chapters of his first book, - the debate on the relationship between internal structures and expansionist concepts in so far as the Bismarck period was concerned, was to a greater extent dominated by Wehler's Bismarck und der Imperialismus. This was due first-
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ly to the development of the debate on methodology between social sciences and history in general, but especially to the debate on "imperialism". Wehler contributed directly to this debate, focussing once more on the works of Eckart Kehr and Rosenberg; he was much concerned with the concepts of "formal" and "informal" imperialism, formulated by Gallagher and Robinson, whereas Fischer had used a more positivistic approach in order to attack the national-liberal school where it hurt most: by using new documents. Wehler in a sense was summing up the debate - concentrating on, and perhaps exaggerating, the aspect of social imperialism. Once more, this book was attacked from all sides, even by the GDR-Marxists since they mistrusted a theory of imperialism which lacked a monopoly stage.55 At all events, an attempt to amalgamate Marxian and Weberian methodologies was not deemed acceptable. On the other hand, those representatives of the German school stressing the importance of foreign policy could not accept a bias that emphasized the priority of internal politics.56 Finally, those involved in colonial history, especially of the period after 1903, could not accept Wehler's strong emphasis on the connections between the great Depression and formal colonialism, since it seemed unable to explain German expansionism in the boom period following 1896.57 Fischer's two books have been followed by a wide range of critical and supportive works produced in both the GDR and West Germany, and to an even greater extent in the U.S.A. The main topics have been: the organisation of the industrial and expansionist lobby; the field of expansion, especially in the Balkans, in the Near East and in Poland; the finances of the system; and the internal political structure of the Kaiserreich. In his textbook Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 (1973, 2nd edition 1975) Wehler has tried to sum up the debate.58 Although he distances himself from Fischer's proposition that there was a very determined war-oriented German policy preceding World War I, (and in existence at least as early as the Morocco Crisis of 1911), the debate on both groups of topics can be easily followed by using his annotated bibliography. Wehler's Kaiserreich has subsequently provoked a counterattack from West German historians in articles published in various periodicals, including Geschichte und Gesellschaft, of which Wehler himself is an editor. These historians deny the predominance of internal politics in foreign policy and expansion; they doubt the validity of the argument postulating a permanent crisis in the Kaiserreich; and they deny that there was any special German emphasis on imperialism on the grounds that parallel developments existed in other European states. The weakness of this attack as at present constituted is that it fails to deal directly with the evidence accumulated so far and that it tends to misrepresent the main line of the arguments. In addition, it has not yet led to the production of an adequate alternative body of research. If one compares this very intensive research on the Kaiserreich (both that conducted in West Germany and the GDR, and that engaged in by non-German scholars) with the historiography on the period of British liberal imperialism following 1906, and the "late Victorian" debate, it
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appears that the latter - for all its intensity - has not reached the degree of synthesis of the various factors involved in historical developments that has been achieved in the German discussion. The contribution of GDR scholars to this debate has been both very important and challenging, and it should not be underestimated, in view of the discussion in West Germany. An important early summary of it is that produced by Fritz Klein (et al.), Deutschland im Ersten Weltkrieg (3 vols., Berlin 1968/70).59 It seems that the debate on expansionism before 1918 has not stimulated research on the interwar-period along similar lines. B.J. Wendt's book 1938: Appeasement, wirtschaftliche Rezession und Mitteleuropa (1966)60 and Claus Hildebrand's Vom Reich zum Weltreich, Hitler und die koloniale Frage 1919-1945 (1969)61 suggest some degree of continuity as shown by the titles. In terms of subsequent research on internal developments and studies of economic pressuregroups, this continuity has been maintained. But, basically, there is virtually no methodological kinship with either Fischer or Wehler in so far as foreign relations are concerned, and two readers on the topic exemplify this: Manfred Funke62 (Editor), Hitler-Deutschland und die Mächte, Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches (1976) and Forndran etc.63 (Editor), Innen- und Außenpolitik unter nationalsozialistischer Bedrohung (1977). It is rather surprising that discussion of the period between 1918-1945 omits the wider framework of European expansion and the later stages of "imperialism", because the reorganisation of Europe's colonial empires, and of Japan's position in the Pacific etc., were the basic events that prepared the post-War development of what was to become the Third World. But this perception seems to have escaped the attention of West German historians, speaking generally, despite such exceptions as Albertini, whose Dekolonisation covered the period between 1919 and 1960, or that of Imanuel Geiss' Panafrikanismus, which analysed the continuity of intellectual and political development among the Blacks of the Atlantic World.64 Of course those who wrote outside the framework of European policy - in effect becoming regionalists, on India say, (Rothermund),65 or on Africa (Ansprenger),66 reacted differently, but they did so outside the framework of European Expansion.
The Social-Science Debate on the Modes of Production and on the Development of a World Market Of course, the debate on the Third World affected German language writing. But historical aspects entered it only indirectly, and only then because both of the main questions - the development of underdevelopment, and the stages of modes of production - (both of which have, for the most part, been articulated by marxist political economists of widely different backgrounds) - eventually threw up historical questions. Three developments have contributed to the debate.
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1. In the GDR, since the inception of the Markov-group, disputation has developed around the question of the modes of production although it has tended to focus largely on its merely European dimension. However, the beginning of international discussion concerning underdevelopment has spread this interest in periodisation to other regions. Even if the African sections of books written about colonial policies have tended to perpetrate outdated and undifferentiated clichés on the political economy of precolonial societies, the discussion of the "Asiatic mode of production" has developed a much more sophisticated body of theory. The Jahrbuch fllr Wirtschaftsgeschichte devoted part of a volume to the theme in 1967. In particular the Vorbemerkungen of Elisabeth Welskopf (Akademie der Wissenschaften, Berlin), Zu den Problemen der asiatischen Produktionsweise''1, reprinted in West Germany, have created a very stimulating framework, implying a need both for greater nuance, and a departure from the schematic application of the concept of modes of production. Most important, it has called for concrete historical research on the specific circumstances influencing the formation of different modes of production. The consequence of this approach has been a direct shift of attention towards regional studies, e.g. Walter Rusch's Klassen und Staat in Buganda vor der Kolonialzeit (East Berlin 1975)68 which in order to assess the nature of the Buganda state had to reconsider the Produktionsverhältnisse in the context of the above mentioned general debate. 2. Another important stream of discussion - which in the initial stage of building a conceptual framework, has led to an attempt to integrate history into the continuing debate on the social sciences - has developed out of the theoretical discussion around the structure of the modern world market, and around theories on foreign trade. Whereas an international debate discovered the theoretical implications of underdevelopment in the fifties, when Prebisch, Singer, Myrdal, Nurkse, Kindleberger and other economists began to dispute the issue, a broad response to these developments only occurred in German-language writing under the stimuli of the recession of 1966/67, of the neomarxist revival, and of the students' movements. Within West German writing, therefore, the first centre for this reassessment became the Freie Universität of Berlin. However, once again, the initial revival of theoretical debate on the structures of the modern world market has come from GDR economists, one of whom, Günther Kohlmey, made an influential and general contribution to it in the form of a discussion on Marx's theories of foreign trade.69 In his work he has attempted to integrate the theoretical implications deriving from a currently Western dominated world market with the existence of relationships generated by the socialist system, and in doing so he reformulated the concepts of unequal exchange. In Berlin and West Germany, political economists, for the most part influenced by the recession of 1966/67 (which encouraged socialist expectations of an imminent crisis of modern capitalism), have participated intensively in the debate. Closely associated with one another - often in the form of cooperative ventures - , Alt-
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vater70, Neusäss71 and Blanke72, Orbon73, Ahlers74, Westhof 5 , Busch76, Schöller77 and Seelow78 created in the early seventies a broad approach to questions concerning the structure of the world-market: thus to the monetary system, to the theory of imperialism, and to a reformulation of the nature of the precapitalist^ mode of production. This approach was aimed at formulating very general laws on the development of capitalism. In directly attempting to reinterpret Marx's position, they examined the "logic of capital" and Bewegungsformen des Kapitals on the very broadest theoretical basis. It is not the scope of this paper to go into the economic and theoretical aspects of the debate. A good but very critical overview can be read in W. Bärtschi and H.-D. Jacobson, Kritische Einführung in die Außenhandelstheorie19 who also comment on Kohlmey. But in the course of this debate - which occured both in the GDR and in West Germany and West Berlin - the special problems surrounding the question of precapitalist modes of production and of the genesis of the world market (which has been reduced by Western neo-Marxists to the theory of the Western world market) have generated a historical dimension. In the GDR the practical problems of formulating appropriate strategies towards developing countries stimulated the search for adequate categories for countries developing on the non-capitalist road. A good summary of these discussions, and of GDR contributions to it, can be found in the published papers of the Proceedings of the Third International Conference of Africanist Marxists of Socialist countries held in Varna, Bulgaria (1971).80 In a paper contributed by Rathmann and Schilling (Rathmann has researched on German expansionism in South-East Europe and Turkey before 1918) the new political realities of the Third World and the position of the forces of the Western world market within it, stimulated the authors to write a sophisticated assessment of the political nature of the social powers within the third world. The question was, how revolutionary change could be achieved in spite of the dominating role of the West on the world market. After the failure of the Third World bourgeoisie, "under the influence of world-socialism representatives of petty-bourgeois circles, and, more particularly, revolutionary democratic forces within the intelligentsia, will seize the reins of power and advocate change that ultimately may lead to socialism"81. At a first glance, this type of thinking may be thought to be irrelevant to research into the history of expansion, but by implication - and the first contributions demonstrated the point - it has generated a new sensitivity to the structures and historical heritage particular to specific social groups. Within the framework of the Leninist approach, it has stimulated scepticism concerning the inevitability of politico-economic processes in the Third World, changes which in traditional terms could only "lead to socialism". Indirectly, it is an answer challenging western neo-Marxist views on the question of inevitability and on the overwhelming power of the Western world market. Moreover, despite strong interest in problems of unequal exchange, the treatment of the concept of a "non-capitalist
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road" repeats the Leninist step from the economic structure to power. For these reasons it is worthwhile to keep in touch with future scholarship along those lines. German language neo-Marxist and Marxist influenced works, especially those by political scientists, have been concerned to integrate the historical dimension in the course of their discussions; at least they have demanded it, and, in responding to the historiography of overseas expansion, they have attempted it. Four fields have been opened to historical reinterpretation: through analysis of the precapitalist mode of production and its transformation through European expansion (correlating with the penetration of the world by the capitalist mode of production - a dialectical process between regional historical developments and the logic of capital development) a new interest has focussed upon regional structures (for instance on the population of Latin America before and during the Colonial Period, or on the structural changes of the Ibo in Nigeria during the period of slave-trading (Ahlers)). The structure of Europe is regarded as decisively determined by the nature of its relations with the colonial world and with the world market (Orbon82, Ahlers", Krippendorf 84 , Elsenhans85). The theoretical question of the nature of imperialism has been directed towards the reinterpretation of the world market, at least as it existed since Bretton-Woods if not since the Great Depression of 1929 (Altvater, Neusiiss, Busch). And the debate on non-capitalist roads of development for Third World countries (an aspect of discussions stimulated by the issue of development-aid and by Unctad) has revived interest in the history of Brazil and of Japan, and in economic thinkers like Friedrich List (Senghaas).86 General syntheses have been attempted on the history of European expansion from the beginning. The coincidence of parallel developments is very striking. Only after Ekkehardt Krippendorf had published his Internationales System als Geschichte87 did he discover Immanuel Wallerstein's first volume on the "Modern-World-System." He even avoided too close a cooperation with Hartmut Elsenhans, who has also attempted a similar general history, putting the organization of labour into the center of his analysis. In a sense, the West German timelag of about fifteen years behind Western historiography, and of about five years behind that of the GDR, seems to have been bridged in many areas of discussion. 88 The fostering of historical research in order to deal with this level of general theory seems to have become an urgent necessity. However, historians have remained reluctant to attempt a general integration of accumulated knowledge, and have thus created such a climate of self-isolation that the more system-oriented social scientists have at last begun to take the initiative and to build up their own programmes for the teaching of history.
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A good introduction by Ernst Schulin in: Ernst Schulin, Universalgeschichte, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Köln 1974, pp. 11-67 (Einleitung). Egmont Zechlin, Maritime Weltgeschichte, Hamburg 1947. Id., Die grossen Entdeckungen und ihre Vorgeschichte, Die Neue Propyläen-Weltgeschichte, Vol. 3, Berlin 1941. Percy Ernst Schramm, Deutschland und Ubersee, Hamburg 1950. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949. Hans Freyer, Weltgeschichte Europas. 2 Vols., Wiesbaden 1948. Saeculum, Jahrbuch für Universalgeschichte, established by Georg Stadtmüller, Vol. 1, Freiburg/München 1950. Historia Mundi, Ein Handbuch der Weltgeschichte, 10 Vols. Vol. 8, Die überseeische Welt und ihre Erschliessung, Bern-München 1959, established by Fritz Kern, ed. by Fritz Valjavec, German language authors: Hermann Trimborn, Rüdiger Schott, Richard Konetzke. Saeculum Weltgeschichte. 7 Vols., ed. by Herbert Franke/Helmut Hoffmann/Hubert Jedin/ Oskar Köhler/Peter Meinhold/Gerd Tellenbach/Hermann Trimborn/Joseph Vogt, FreiburgBasel-Wien 1965-1975; Vol. 7, Werdende Einheit und wachsende Widersprüchlichkeit der politischen Welt - Die Weltreligionen - Selbst- und Weltverständnis nach der Revolution Geschichte in der Gegenwart, by Heinrich Dumoulin/Oskar Köhler/Peter Meinhold/Berthold Spuler/Rolf Trauzettel. Fritz Valjavec, Weltgeschichte der Gegenwart, 1962. Oskar Köhler, Versuch einer "Historischen Anthropologie." In: Saeculum, Vol. 25, 1974, pp. 129-246. Ebenda, S. 186. However, it has to be observed that a counter tendency away from isolation developed at the level of textbooks through the wide participation of international scholars. A good example is the "Fischer Weltgeschichte", a paperback series, published from 1965 on and edited by Jean Bollack, Paris. 34 volumes are planned. It mainly represents French and Italian social and economic historians. Vol. 22 is by Richard Konetzke: Süd- und Mittel-Amerika I, 1965. Rudolf von Albertini/Heinz Gollwitzer (ed.), Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte, publ. at Westdeutscher Verlag Köln, now at Atlantis, Zürich-Freiburg. For a complete list see in Rudolf von Albertini, Europäische Kolonialherrschaft. Vol. 14, 1976. Vol. 1 was von Albertini's Dekolonisation, 1966. Rudolf von Albertini, Dekolonisation. Die Diskussion über Verwaltung und Zukunft der Kolonien 1919-1960, Köln 1966. Rudolf von Albertini, in cooperation with Albert Wirz, Europäische Kolonialherrschaft 18801940. Beiträge zur Kolonial- und Uberseegeschichte. Vol. 14, 1976. Heinz Gollwitzer, Die Gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagwortes. Studien zum imperialistischen Denken, Göttingen 1962. Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens 1. Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus, Göttingen 1972. See Albertini/Gollwitzer, Beiträge zur Kolonial- und..., Vols. 2,. 4, 7, 8. Emst Schulin, Handelsstaat England, Wiesbaden 1969. Günther Hamann, Der Eintritt der südlichen Hemisphäre in die Europäische Geschichte, Wien 1968. Uwe Haltern, Die Londoner Weltausstellung 1851. Diss, phil., Münster 1971.
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Many publications, i.a. Richard Konetzke, Süd- und Mittelamerika I, Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft, Fischer Weltgeschichte, 22 (1965). Hermann Kellenbenz, his early study: Unternehmerkräfte im Hamburger Portugal- und Spanienhandel, 1590-1625, Hamburg 1954. Jacob van Klaveren, Europäische Wirtschaftsgeschichte Spaniens im 16. und 17. Jahrhundert, 1960. Inge Wolff, Regierung und Verwaltung der kolonial-spanischen Städte in Hochperu 15381650, Köln-Wien 1970. Manfred Nussbaum, Vom "Kolonialenthusiasmus" zur Kolonialpolitik der Monopole. Zur deutschen Kolonialpolitik unter Bismarck, Caprivi, Hohenlohe. Studien zur Kolonialgeschichte und Geschichte der nationalen und kolonialen Befreiungsbewegung, ed. by Walter Markov, Vol. 8, Berlin 1962. Fritz Ferdinand Müller, Deutschland-Zanzibar-Ostafrika, Geschichte einer deutschen Kolonialeroberung 1884-1890, Berlin 1959. Kurt Büttner, Die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik in Ostafrika. Markov, Studien..., Vol. 1, Berlin 1959. Helmuth Stöcker, Deutschland und China im 19. Jahrhundert. Das Eindringen des deutschen Kapitalismus, Berlin 1958; id. (ed.), Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. 2 vols., Berlin 1960 and 1968. Horst Drechsler, Südwestafrika unter deutschen Kolonialherrschaft, Berlin 1966. Heinrich Loth, Die christliche Mission in Südwestafrika. Zur destruktiven Rolle der Rheinischen Missionsgesellschaft beim Prozess der Staatsbildung in Südwestafrika (1842-1893). Markov, Studien..., Vol. 9, Berlin 1963. Walter Rusch, Klassen und Staat in Buganda vor der Kolonialzeit, Berlin 1975. See Thea Büttner, Das präkoloniale Afrika und die Diskussion zur asiatischen Produktionsweise. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1967, which gives further examples of her work. Helmut Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914, Hamburg 1968; English edition: South-West Africa under German Rule, London 1971. Karin Hausen, Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika. Wirtschaftsinteressen und Kolonialverwaltung in Kamerun vor 1914. Beiträge zur Kolonial- und Uberseegeschichte. Vol. 6, Zürich/Freiburg i.B. 1970. Otto Diehn, Kaufmannschaft und deutsche Eingeborenenpolitik in Togo und Kamerun von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Diss, phil., Hamburg 1956 (unpubl). Albert Wirz, Vom Sklavenhandel zum kolonialen Handel. Wirtschaftsräume und Wirtschaftsformen in Kamerun vor 1914. Beiträge zur Kolonial- und Uberseegeschichte. Vol. 10, 1974. Rainer Tetzlaff, Koloniale Entwicklung und Ausbeutung. Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutsch-Ostafrikas 1885-1914, Berlin 1970. Detlef Bald, Deutsch-Ostafrika 1900-1914. Eine Studie über Verwaltung, Interessengruppen und wirtschaftliche Erschließung. Afrika-Studien, Vol. 54, IFO-Institut für Wirtschaftsforschung, München 1970. Bald worked at the Arnold Bergsträsser Institut in Freiburg, which has a strong interest in development studies. John Iliffe, Tanganyika under German rule 1905-1912, Cambridge 1969. Ralph A. Austen, Northwest Tanzania under German and British Rule. Colonial policy and tribal politics, 1889-1939, New Haven 1968. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18, Düsseldorf 1961.
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Several readers on the debate have been published. See bibliography Section III 8.1 in: Hans Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1975, p. 265. His most famous book is: Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901, Berlin 1930. A collection of his articles: Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik. In: H.U. Wehler (ed.), Gesammelte Aufsätze zur preussisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1965. George W.F. Hallgarten, Imperialismus vor 1914. Die soziologischen Grundlagen der Aussenpolitik europäischer Grossmächte vordem Ersten Weltkrieg, 2 Vols., München 1963 (1st edition 1935, extensively revised in 1963). Hans Rosenberg, Grosse Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967. Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Grossmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln 1966. Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 1969. Dirk Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands, Köln 1970. Peter-Christian Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903-1913, Lübeck 1970. KlausSaul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich 1903-1914, Hamburg 1974. Volker Berghahn, Der Tirpitz-Plan, Düsseldorf 1971. Fritz Fischer, Der Krieg der Illusionen, Düsseldorf 1969. Manfred Nussbaum, Ökonomie, Politik und Kolonialpolitik. Bemerkungen zu Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1972, p. 215ff. Thomas Nipperdey, Wehlers Kaiserreich. Eine kritische Auseinandersetzung. In: Geschichte und Gesellschaft, 1 (1975), pp. 539-560. Peter-Christian Witt, Innenpolitik und Imperialismus in der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges. In: Karl Holl a.o. (ed.), Liberalismus und imperialistischer Staat, Göttingen 1975, pp. 7-34. Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973 (2nd edition 1975). The GDR production is very important. For an early summary see Fritz Klein a.o., Deutschland im 1. Weltkrieg. 3 Vols., 1968/70. Bemd-Jürgen Wendt, 1938: Appeasement, wirtschaftliche Rezession und Mitteleuropa, Frankfurt/M. 1966. Klaus Hildebrand, Vom Reich zum Weltreich. Hitler und die koloniale Frage 1919-1945, München 1969. Titles concerned with the debate on continuity are: Andreas Hillgruber, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Aussenpolitik von Bismarck bis Hitler, Düsseldorf 1969; Karl Hildebrand, Deutsche Aussenpolitik 1933-1945, Stuttgart 1973 (2nd edition). For further titles see notes to Wehler's Kaiserreich, Chapter III/9. A reader: Manfred Funk, Hitler Deutschland und die Mächte. Materialien zur Aussenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf 1976. Erhard Forndran/Frank Golczewski/Dieter Riesenberg (ed.), Innen- und Außenpolitik unter nationalsozialistischer Bedrohung, Opladen 1977. Imanuel Geiss, Panafrikanismus, Düsseldorf 1969. Dietmar Rothermund, Die politische Willensbildung in Indien 1900-1960, Wiesbaden 1965. Franz Ansprenger, Politik im schwarzen Afrika, München-Mainz 1961. Elisabeth Charlotte Welskopf, Zu Problemen der asiatischen Produktionsweise, Vorbemerkungen. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1967, pp. 165-180; other authors: E. Varga, G. Lewin, B. Töpfer, T. Büttner.
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Walter Rusch, Klassen und Staat..., loc. cit. Gunther Kohlmey, Bemerkungen zur Theorie der komparativen Vorteile im Aussenhandel. In: G. Kohlmey (ed.), Außenwirtschaft und Wachstum. Theoretische Probleme des ökonomischen Wachstums im Sozialismus und Kapitalismus. Vol. 3, Berlin 1968, and other articles. See comments and further bibliographical notes in Wolfgang Bärtschi/Hanns-Dieter Jacobsen, Kritische Einführung in die Außenhandelstheorie, Reinbek 1976, pp. 54. Elmar Altvater, Die Weltwährungskrise, Frankfurt/M. 1969. Christel Neusüss, Imperialismus und Weltmarktbewegung des Kapitals, Erlangen 1972. B. Blanke/C. Neusüss/E. Altvater, Kapitalistischer Weltmarkt und Weltwährungskrise. In: Probleme des Klassenkampfes, 17222 (1971). Ahlers/Donner/Kreuzer/Orbon/Westhoff, Die vorkapitalistischen Produktionsweisen, Erlangen 1973. Ingolf Ahlers, Kolonialismus und Bewegungsformen des Handelskapitals, Berlin 1974. Ahlers/Donner/Kreuzer/Orbon/Westhoff, Dievorkapitalislischen Produktionsweisen, loc. cit. Klaus Busch, Die multinationalen Konzerne. Zur Analyse der Weltmarktbewegung des Kapitals, Frankfurt/M. 1974. Wolfgang Schöller, Welttransfer und Unterentwicklung. In: Probleme dess Klassenkampfes, 3 (1973)6. Busch/Schöller/Seelow, Weltmarkt und Weltwährungskrise, Bremen 1971. Bärtschi/Jacobsen, Kritische Einführung in die Außenhandelstheorie, loc. cit. Developing countries on the non-capitalist road, Proceedings of the third international conference of Africanist Marxists of Socialist Countries, Varna, September 1971, Sofia 1974. Lothar Rathmann, Stoßrichtung Nahost, 1914-1918, Berlin 1963, p. 41. Ahlers/Donner/Kreuzer/Orbon/Westhoff, Dievorkapitalislischen Produktionsweisen, loc. cit. Ahlers, Kolonialismus und Bewegungsformen, loc. cit. Ekkehardt Krippendorf, Internationales System als Geschichte, Frankfurt/M. 1975. Hartmut Elsenhans - who wrote a systematic analysis of Frankreichs "Algerienkrieg 19541962, Entkolonisierungsversuch einer kapitalistischen Metropole. Zum Zusammenbruch der Kolonialreiche", München 1974 - prepared a similar general analysis of the history of the worldmarket, see note 1 of Ekkehardt Krippendorfs review essay Die Entstehung des internationalen Systems. In: Neue politische Literatur, (1977) 1, p. 36. Dieter Senghaas, Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Plädoyer für Dissoziation, Frankfurt/M. 1977. Krippendorf, Internationales System, loc. cit. Id., Die Entstehung des internationalen Systems, loc. cit. Krippendorf is stressing parallel intellectual developments on the theme of the history of the worldmarket in his review on Immanuel Wallerstein, The Modern World-System, 1974; Ellen Brun/Jaques Hersh, Der Kapitalismus im Weltsystem, Frankfurt/M. 1975; Max Savelle, Empires to Nations: Expansion in America 1713-1824, London 1974; Perry Anderson, Passages from Antiquity to Feudalism, London 1974; Perry Anderson, Lineages of the Absolutist State, London 1974.
Konflikte vorprogrammiert: Geschichte Ugandas aus: Journal für Geschichte, 1 (1979) 2, S. 19-23
Nichts hat die Ansätze für ein unbefangeneres Verhältnis zu den gegenwärtigen Entwicklungen in Afrika mehr behindert als die Gewaltherrschaft Idi Amins in Uganda. Ihr ist zuzuschreiben, daß alte Vorurteile über den "schwarzen" Kontinent kräftig wiederbelebt wurden: So wie politische Katastrophen unserer Länder als einmalige Betriebsunfälle bagatellisiert und verdrängt zu werden pflegen, bestärken vergleichbare Katastrophen in Afrika nur zu schnell die Vorstellung, daß sie dort den Regelfall darstellten. Hier wie dort aber haben tiefgreifende Krisen und Spannungen in einem Land einen nachweisbaren Zusammenhang mit zentralen Ereignissen der jüngeren Geschichte. Eine Skizze des Staates Buganda von 1856-1900 kann das für das heutige Uganda aufzeigen. Als 1894 die britische Regierung das Protektorat über Uganda erklärte, verlor eines der stärksten und ausdifferenziertesten afrikanischen Königreiche auf dem Höhepunkt seiner politischen, ökonomischen und militärischen Organisation seine Unabhängigkeit. Die internen und äußeren Bedingungen der Übergangsphase vom vorkolonialen politischen System zur Kolonialherrschaft sollen im folgenden dargestellt werden. Dabei handelt es sich nicht um die Geschichte des ganzen heutigen Uganda, sondern um die eines Staates in einem Vielvölkerstaat, um die Geschichte der (Ba)ganda, die dem Lande (U)ganda den kolonialen Namen gaben (in der Bantu-Sprache haben die Wortstämme Vorsilben, die den Kern des Wortes großen Sachbereichen zuordnen; die Menschen, die Baganda, leben im Land Buganda und sprechen die Sprache Kiganda). Das Königreich der Baganda war eines der 40 bis 50 kleinen Königreiche der Zwischenseen-Region Ostafrikas, die sich aus Clanföderationen (Anfange im 12. Jahrhundert, teilweise das Ergebnis von Wanderbewegungen) zu Königreichen mit wachsender Zentralgewalt über Land- und Dienstadel (seit dem 16. Jahrhundert) ausgebildet hatten. Buganda an der Nordwestküste des Victoria-Sees entwikkelte sich neben Ruanda und Burundi zur Hegemonialmacht in diesem Gebiet. Drei Faktoren begründeten das wachsende Übergewicht Bugandas im 19. Jahrhundert über seine Nachbarn, insbesondere des nördlichen Bunyoro.
Veränderungen in der Gesellschaft Seit dem 16. Jahrhundert hatte sich in dem hinsichtlich Bewässerung und Klima wohl am meisten begünstigten Gebiet Afrikas die landwirtschaftliche Produktion verdichtet. Die Folge war ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum, so daß im 19. Jahrhundert ein bis zwei Millionen Menschen in dem Gebiet lebten. Ausgelöst wurde die agrarische Entwicklung vor allem durch die von Südasien übernommene Bananen-Produktion. Durch die umfassende Zucht dieser Grundnahrungspflanze
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waren erstmals agrarische Mehrprodukte möglich, mit denen auch die nicht in der Landwirtschaft Tätigen in größerer Zahl versorgt werden konnten. Auch konnten die Familien die Produkte relativ unabhängig von den großen Clanverbänden produzieren. Außerdem verstärkte sich die Seßhaftigkeit, weil die Bananenpflanze selbst zur Reproduktion des Bodens als Düngemittel geeignet war. Diese Freisetzung von Menschen von der täglichen Landarbeit - im wesentlichen lag die Produktion in den Händen der Frauen und Sklavinnen - ermöglichte eine extreme Arbeitsteilung: im militärischen und handwerklichen Bereich ebenso wie in der Viehzucht, die meist von Nicht-Baganda als Nomaden betrieben wurde. Der Austausch mit ihnen sowie mit den Produzenten von Eisen, Salz und Elfenbein in den Nachbargebieten vollzog sich als Handel durch militärisch erzwungene Tributzahlungen. Alle diese Tendenzen begünstigten die Vereinheitlichung der bagandischen Clanföderationen. Im zentralen Produktionsgebiet gelang es dem "Kabaka" (König) von Buganda, eine zentralistische Hofhaltung aufzubauen. Gestützt auf die Agrarproduktion von tausenden von Frauen und Sklavinnen - in Buganda sollen im 19. Jahrhundert dreieinhalb mal so viele Frauen wie Männer gelebt haben - und abgesichert durch ein militärisch durchgesetztes Außenhandelsmonopol schufen die Kabaka Gegengewichte gegen die traditionellen großen Clans. Durch Erbfall und militärische Sanktionen sicherten sie sich darüber hinaus im ganzen Lande verstreut Amtsländereien, die sie einem jederzeit wieder absetzbaren Dienstadel übertrugen. So entstand eine vom Kabaka abhängige Grund- und Territorialherrschaft. Weiter setzte sich durch, daß, gestützt auf die Kindersteuer und den Sklavenfang, Hunderte von Pagen zur unmittelbaren Verfügung des Kabaka standen. Diese konnten in die führenden Positionen auch außerhalb der alten Adelsfamilien aufsteigen. Hier entstand ein eigenständiger Faktor bei Hofe. Außerdem hielten sich der Dienstadel, aber auch die Clanführer über große Teile des Jahres in einer Art Doppelresidenz in der Hauptstadt auf. Der Landadel wurde so unter relativ starke zentrale Kontrolle gestellt, die dazu führte, daß letztlich die Clanführer der alten Familien ebenso aus ihren Funktionen entlassen werden konnten wie der Dienstadel. War diese - sehr vereinfacht - dargestellte Grundstruktur auch in den Nachbarvölkern vorhanden, so begünstigten im 19. Jahrhundert weitere Elemente die Entwicklung Bugandas: Das militärische Gleichgewicht verschob sich allmählich zugunsten Bugandas, weil es durch die Annexionen des 19. Jahrhunderts erstmals eigene Eisenerzlager und Waffenschmieden zur Verfügung hatte. Von ähnlicher Bedeutung wurde, daß die Baganda eine starke Kanu-Flotte aufbauten, die große Teile des Victoria-Sees kontrollierte.
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Ostafrikas neue Rolle im Welthandel In diese innerostafrikanische Machtverschiebung wirkten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals auch die allgemeinen Weltverhältnisse hinein: Der Indische Ozean, seit Jahrhunderten Verkehrsstraße zwischen Ostafrika, Indien und dem Mittleren Osten, erhielt durch die Entwicklung der Weltwirtschaft neue Bedeutung. Seit der atlantische Sklavenhandel aus Westafrika zunehmend verdrängt wurde, geriet auch Ostafrika in den Sog dieses neuen Geschäftes. Es beteiligte sich am Sklavenhandel über das für die Versorgung des Mittleren Ostens übliche Maß hinaus. Besondere Impulse erhielt dieser Sklavenhandel, als Franzosen auf den Inseln des Indischen Ozeans mit der Produktion von Zuckerrohr begannen und schließlich die Sultane von Zanzibar die Gewürznelkenproduktion insbesondere für den amerikanischen Markt begründeten. Sie hatten ihre Residenz von Muskat auf der arabischen Halbinsel wegen der wachsenden Bedeutung Ostafrikas für ihr Fernhandelsgeschäft nach Zanzibar verlegt und in rivalisierender Kooperation mit afrikanischen Völkern im heutigen Kenia und Tanzania mit Hilfe indischen Kapitals ein bis nach Zentralafrika reichendes Fernhandelssystem aufgebaut. Neben dem Sklavenhandel weitete sich insbesondere der Elfenbeinhandel aus. Im Gegenzug wurden vor allem Baumwollstoffe und allmählich auch europäische Konsumgüter und Waffen importiert, die amerikanische, britische und hamburgische Firmen nach Zanzibar vermittelten. Buganda war auf diese Entwicklung insofern vorbereitet, als die Südwestexpansion bis nach Karagwe bereits im 18. Jahrhundert Verbindung zu den afrikanischen Fernhändlern, u.a. den Wanyamwesi, hergestellt hatte und somit eine indirekte Verbindung mit dem Küstenhandel bestand. Die Kabaka erkannten frühzeitig die Chancen, die sich aus der neuen Lage ergaben: Zwischen 1844 und 1852 erreichten die ersten muslimischen Händler Zanzibars das Kernland Bugandas. Insbesondere wurde ihnen der Baumwoll-Tuchhandel gestattet. Die Handelsverbindung zu den rivalisierenden Staaten, auch zum Nachbarstaat Bunyoro, wurde ihnen allerdings untersagt. Erst unter Kabaka Mutesa I (1856-1884) entwickelte sich seit Ende der sechziger Jahre ein dauerhafter Kontakt bei Hofe. Mutesa nutzte die Präsenz islamischer Kaufleute auch, um Kurier- und Schreiberdienste in arabischer Sprache und in der Sprache des ostafrikanischen Fernhandels, Kisuaheli, für seine internationalen Beziehungen einzusetzen: so zum Sultan von Zanzibar, dem britischen Konsul in Zanzibar und dem Khediven in Ägypten und seinen Beauftragten im Sudan sowie der Provinz Äquatoria. Wenn es auf diesem Wege auch nicht das Monopol für Schußwaffen bekam, so erhielt Buganda doch hier Präferenz. Allerdings reichten bis in die neunziger Jahre Quantität und vor allem Qualität der Schußwaffen nicht aus, um das militärische Gleichgewicht zu verändern.
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Weltreligionen im politischen Kalkül Schließlich versuchte Mutesa durch Dekrete und auch durch Gewalt den Koran und die wichtigsten islamischen Riten im Lande durchzusetzen. Er beachtete für mindestens zehn Jahre (1867-1877) den Ramadan (islamischer Fastenmonat), verweigerte aber die Beschneidung, weil in Baganda-Tradition kein königliches Blut vergossen werden durfte. Allerdings übernahmen wichtige Hofbeamte, vor allem aber Pagen, sämtliche Elemente des Islam. Anhängern der Kiganda-Religion gegenüber ordnete er - wahrscheinlich 1875 - Massenhinrichtungen an. Seine muslimische Option allerdings änderte Mutesa 1875, als im Auftrag des Khediven in Kairo europäische Abenteurer als Provinzgouverneure der osmanischen Provinz Äquatoria die Kontrolle der Nilquellen anstrebten und die Ausweitung des sudanesischen Fernhandelssystems nach Süden forcierten. Niederlagen des buganesischen Nachbarn Bunvoro gegenüber den Sudanesen signalisierten die neue Bedrohung. Mutesa wollte zunächst mit Hilfe der muslimischen Ausrichtung auch einen friedlichen Ausgleich mit Ägypten erreichen. Unter dem Eindruck der Niederlage Bunyoros und der ägyptischen Annexionsverhandlungen mit ihm und seiner Forderung, den Elfenbeinhandel nach dem Sudan umzuleiten, suchte Mutesa nach neuen Anlehnungsmöglichkeiten. Diese bot Stanley, Abenteurer, Afrikareisender im Interesse europäischer Großmächte und Journalist, der 1875 Mutesa I. nahelegte, eine Einladung an christliche Missionare auszusprechen. Das konnte die gesuchten Kontakte zu mächtigen europäischen Staaten bedeuten. An der Jahreswende 1878/79 kamen die ersten christlichen Missionare an den Hof des Kabaka - und zwar innerhalb einer Woche die Vertreter beider Konfessionen: die Protestanten durch die Church Mission Society aus Großbritannien, die Katholiken durch den Missionsorden der Weißen Väter aus Frankreich. Die sonst übliche Abgrenzung der Missionsgebiete mißlang, weil der Kabaka die religiösen Verhältnisse im Lande unter Kontrolle halten wollte. So entfaltete sich die religiöse Rivalität direkt am Hof. Den Versuch, den ägyptisch-sudanesischen Einfluß durch britische Präsenz auszugleichen, unternahm der Kabaka, ohne zu ahnen, daß Großbritannien drauf und dran war, auch die Kontrolle Ägyptens und des Sudans zu übernehmen. Dies schuf die erste große Komplikation bei Hofe: Einige Gruppen machten die Experimente mit neuen Religionen nicht mit und hielten an der islamischen Orientierung fest. Mutesa griff wiederum zur Gewalt. Um seinen Herrschaftsanspruch bei Hofe absolut durchzusetzen, ließ er islamische Hofleute töten. Jene, die diese Tötungen mit der Würde von Märtyrern erlitten, trugen zur Vertiefung des Islam bei. Mehrere hundert Hofleute, die dem Massaker entkamen, bildeten den Kern einer auf Revision der neuen Verhältnisse bedachten Partei. Von nun an sollten die politischen Auseinandersetzungen in und um Buganda sich nicht mehr ohne Parteinahmen sowohl des Kabaka als auch des Dienstadels, der Pagen und der großen Clans auch in religiösen und konfessionellen Fragen entwickeln.
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Zunächst war es Mutesa gelungen, gestützt auf das internationale Umfeld, die ägyptisch-sudanesische Offensive zu blockieren: Seine Diplomatie hatte sowohl den Sultan von Zanzibar und mittelbar auch den britischen Konsul auf Zanzibar für das Offenhalten der Südroute zum Indischen Ozean mobilisieren können. Die christlichen Missionen hatten von der Küste aus ihr Interesse an Buganda angemeldet. Schließlich sorgte die islamische Revolution der Mahdisten im Sudan (1878) dafür, daß sich der Weg nach Norden verschloß. Überdies hatte die Öffnung des SuezKanals seit 1869 dem Landweg kaum noch langfristige Chancen gelassen. Während der Amtszeit Mutesas vollzog sich die Orientierung zum Christentum nur am Hofe. Der Kabaka selbst wurde insbesondere von den Clanführern, die an der Kiganda-Religion festhielten, vor allem durch ihre Repräsentanten am Hofe, den Premier-Minister, aber auch von der einflußreichen Königin-Mutter vor dem Bruch mit dem alten System gewarnt. Außerdem ließen das christliche Sklavereiverbot und die Forderung nach der Einehe, beides so gegensätzlich zur Wirtschaftsstruktur des königlichen Haushaltes, den Kabaka zögern. Die christliche Konfessionsrivalität hatte ohnedies Verwirrung gestiftet. Die aggressiven Alleinvertretungsansprüche der christlichen Missionare beim Kampf um den Einfluß bei Hofe und die damit verbundene Tendenz zur Parteibildung verhinderten klare Entscheidungen. So betrieb Mutesa in seinen letzten Regierungsjahren den Ausgleich mit den führenden Vertretern der Kiganda-Religion. Mit der Wahl Mwangas II. (1884) stieg der Einfluß der traditionellen KigandaReligion. Muslime und Protestanten hatten der Wahl zwar zugestimmt. Doch mit einer Quasi-Regentschaft durch Premierminister Katikiro Mukasa über den noch nicht zwanzigjährigen neuen Kabaka begann eine vor allem antichristliche Gegenoffensive, die die prekäre Lage in Buganda zur Explosion brachte. Mwanga II. ließ sich von den Warnungen überzeugen, daß sich die christlichen Hofparteien verselbständigen und die Position des Kabaka bedrohen würden. Er ließ zunächst den katholischen Bischof von Ostafrika töten (1885). Als christliche Proteste bei Hofe laut wurden, ließ er über fünfzig meist führende Pagen verbrennen. Auch hier, wie vorher bei den Märtyrern der Kigandareligion und den getöteten Muslimen, zeigte sich betontes, nun christliches, Märtyrertum. Das deutet an, welche Bedeutung über die politischen Optionen hinaus die religiösen Orientierungsfragen in Buganda gewonnen hatten.
Tribut der Zentralisation Es stellt sich die Frage, warum die Weltreligionen einen derart starken Einfluß auf die ugandische Führungsschicht erhalten und Kristallisationspunkt für Adelskriege werden konnten. Zunächst erscheint es ja als ganz ungewöhnlich, daß ein Kabaka von Uganda das Risiko einging, seine Legitimation als König und damit seine Beziehungen zur Kiganda-Religion und indirekt zu den Clanföderationen aufs Spiel
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zu setzen, indem er so offensichtlich mit der Tradition brach und Zweifel an der Legitimität seiner Herrschaft aufkommen ließ: Viele afrikanische Könige haben selbst dann, wenn sie Kulturtechniken über die Vermittlung von Muslimen und Christen in Anspruch nehmen wollten, sorgfältig auf die Abgrenzung von religiösem Einfluß geachtet. Daß das begrenzte politische Kalkül, Muslime und Christen für den Fernhandel, bürokratische Funktionen, die Aufrüstung und die medizinische Versorgung zu nutzen, in Buganda wie in anderen Ländern nicht aufging, hing gerade damit zusammen, daß der Bugandische Staat in der Zentralisation und in der Mobilität zumindest innerhalb des Adels außerordentlich weit entwickelt war. Für die starke Monarchie galt es, über vereinheitlichende Staatsreligionen die Herrschaft unabhängig von den alten Clan-Beziehungen zu legitimieren. Für den Dienstadel brachte eine zentralistisch orientierte Staatsreligion die Chance, Staatsfunktionen auf sich zu ziehen. Auf- und Abstieg in Buganda hingen vom Hof ab. Hier wurde alles entschieden, über Umverteilung der Amtsländereien, die Absetzung als Clanführer, die Beteiligung am Außenhandel und an der Heeresorganisation bis hin zum Überleben. Deshalb konnte sich keine führende Familie etwa durch den Rückzug auf "das Land" den Macht- und Orientierungsfragen am Hofe entziehen. Die Dynamik der Situation, die Mobilität in der Adelsschicht und nicht zuletzt auch der Umstand, daß es meist die junge Generation war, die sich bei Hofe in den zentralen Orientierungsfragen mit Enthusiasmus und Risikobereitschaft engagierte, forderten enorme Bereitschaft zu Neuerungen, um den Chancen und Gefährdungen die die Wechsellagen schufen, gewachsen zu sein. Eine dieser Chancen war, da eben alle wesentlichen Entscheidungen bei Hofe fielen, auch eine - nennen wir es - "feudale" Restauration zu versuchen, indem der Einfluß des Monarchen eingedämmt und die Macht durch Hofparteien direkt ausgeübt würde.
Staatsstreich des Adels Buganda ist sämtliche Wege mit zerstörerischen Konsequenzen nahezu gleichzeitig gegangen, insbesondere als nach der vorsichtig taktierenden Regierung unter Mutesa sein Nachfolger Mwanga II. die interne und internationale Entwicklung nicht mehr kontrollieren konnte. Mwanga begann die Möglichkeiten der Monarchie zu überdehnen. Er löste Gegenschläge sowohl der traditionellen Führungsgruppen wie auch der religiösen Hofparteien aus. Als er in Überschätzung der Möglichkeiten seiner Zentralgewalt sich im wesentlichen auf den jungen Dienstadel seines Hofes stützte und die etablierten Rechte der älteren Amtsträger überging, verlor er jegliche Unterstützung und provozierte einen Staatsstreich der Hofparteien gegen sich. Ausgangspunkt war, daß er durch Umverteilung großer Amtsbezirke den Rückhalt bei den alten Clanführem verlor, zugleich aber die neue Machtkonzen-
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tration, die sich aus den neuen Amtsbezirken ergab, nicht kontrollieren konnte. Da von den vier großen neugeschaffenen Amtsbezirken je einer von einem katholischen und protestantischen Adligen sowie von zwei Muslimen verwaltet wurde, kam es zu einer Koalition der drei religiösen Hof- und Adelsparteien und zum Staatsstreich. Die Unberechenbarkeit der Herrschaft des Kabaka sollte beendet und die Monarchie unter Adels-Kontrolle gebracht werden. In der Schlacht von Mengo 1888, der Residenz von Mwanga, fiel die Entscheidung. Der Kabaka floh außer Landes. Aus dem Kreis der Prinzen wurde ein neuer Kabaka gewählt, dem, obwohl nicht Muslim, Annäherung an muslimische Positionen nachgesagt wurde. Nach Entmachtung auch des alten Premierministers lag die Verteilung der Hofämter - stets verbunden mit der Verleihung von großen Amtsländereien (50-100 Quadratmeilen) und hunderttausende von Menschen umfassenden Amtsbezirken (Bitongole) - bei den siegreichen Hofparteien. Dabei fiel nun der Hauptteil an die Muslime und begründete den Beginn der aktuellen Rivalität insbesondere zur protestantischen Partei. Die unausgetragenen Machtfragen sowie wachsender Druck auf den neuen Kabaka (Kiwewa Mutebi), durch Beschneidung Partei zu nehmen und seine Politik der religiösen Toleranz aufzugeben, trieb diesen zur Anlehnung an die alte Clanführerschaft. Auf diesen Balanceakt reagierte die muslimische Hofpartei mit der Vertreibung des Kabaka und einer der umfassendsten Christenverfolgungen in Uganda. Von nun an rissen die Adelskriege in und um Buganda nicht mehr ab, in die auch Mwanga II. wieder eingriff. Unter christlicher Vorherrschaft wurde er 1890 inmitten einer militärischen Pattsituation wieder Kabaka.
Eine Provinz unter anderen In dieser politisch und militärisch verworrenen Situation der Erschöpfung suchten die Parteien auswärts Hilfe. Katholiken wie Protestanten suchten die Protektion der Imperial British East Africa Company. Da diese sich zunächst desinteressiert zeigte - auch mit Rücksicht auf die britischen Zanzibar-Interessen, die ein gutes Verhältnis zu den Muslimen nahelegten - vermittelten die katholischen Missionare die Verbindung zwischen Mwanga, Carl Peters und der Deutsch-Ost-Afrikanischen Gesellschaft. Die deutsch-britische Rivalität um das Hinterland Ostafrikas begann. Da der katholische Anlehnungsversuch an Deutschland und die drohende Option Mwangas ein antiprotestantisches und damit auch antienglisches Element erhielt, intensivierten protestantische Missionare und die protestantische Hofpartei unter Apolo Kaggwa das Werben um britische Protektion. Die Beauftragten der britischen Chartergesellschaft beteiligten sich mit sudanischen Söldnertruppen und Maschinengewehren an der protestantischen Offensive gegen Mwanga. Unter dem Schutz dieser Intervention setzte sich die protestantische Minderheit gegenüber Mwanga, der sich nicht nur auf die katholischen Kräfte, sondern auch auf muslimi-
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sehe und traditionell bagandische Kräfte stützen konnte, durch. Entscheidend wurde das Zusammenspiel von Missionaren und Chartergesellschaft. Ihnen gelang es, die öffentliche Meinung in England zu mobilisieren. Als die Chartergesellschaft wegen ihrer Verwicklung in den Bürgerkrieg bankrott gegangen war und den Befehl zum Rückzug erhalten hatte, appellierte die vereinigte Missions- und Wirtschaftslobby an die Empire-Idee und das Missionsund Zivilisationsgebot. In einer wirkungsvollen Massenkampagne setzte sie durch, daß die zögernde britische Regierung das Protektorat über Uganda erklärte: Der Krieg der protestantischen Hofpartei gegen Mwanga schlug in einen kolonialen Eroberungskrieg um. Ugandische Historiker sprechen deshalb von einem nationalen Abwehrkrieg, in den die konfessionelle Komponente allerdings integriert war. Am Ende der Entwicklung stand ein Protektorat, das dem Königreich Buganda Sonderrechte innerhalb des weiteren Uganda einräumte, die Amtsländereien den amtierenden Amtsinhabern zuschrieb, allerdings alle wesentlichen politischen und richterlichen Rechte des Kabaka unter britische Kontrolle stellte. Buganda konnte sich durch britischen Machtspruch sogar territorial arrondieren. Aber es wurde eine Provinz unter anderen.
Die Folgen In der Kolonialzeit setzte sich die Hegemonie der Baganda durch, u.a. weil sie einen deutlich größeren eigenen Handlungsspielraum behielten. Sie blieben nicht nur Staat im Staate, sondern die Dynamik dieser Gesellschaft, die ebenfalls im Hintergrund dieser Katastrophen stand, beeinflußte auch die Entwicklung im Uganda-Protektorat. Über Buganda hinaus besetzten Baganda die Afrikanern offenstehenden Funktionen, beteiligten sich mit Vorrang in der Exportproduktion von Kaffee und Baumwolle und finanzierten damit einen Ausbildungsvorsprung. Um so schwieriger gestalteten sich die Probleme nach der Unabhängigkeit, als die Ugander, die keine Baganda waren, gegenüber einer monarchistischen Baganda-Partei "Kabaka Yekka", die Mehrheit errangen. Präsident Obote, der sich auf das Erbe einer Kolonialarmee stützte, in der die Baganda Minderheit waren, beendete die Monarchie schließlich 1966 mit dem Sturm auf den Palast des Kabaka. Seitdem hat es in Uganda keinen Frieden mehr gegeben. Die Probleme der sozialen Spannungen, die aus der ökonomischen Unterentwicklung - insbesondere den Spannungen zwischen Exportsektor, moderner Elite und den Kleinbauern und diskriminierten Minderheiten - entstanden, vermischten sich innerhalb und außerhalb der Armee mit der Restaurationsbewegung der Baganda als einer gesonderten Nation im Vielvölkerstaat Uganda. Hinzu kamen muslimische Restaurationstendenzen und der Mitbeteiligungsanspruch von Minderheiten. Dies alles war durch eine seit dem 19. Jahrhundert bestehende Konfliktkonstellation verhärtet, die durch die Kolonialintervention einseitig entschieden und zementiert worden war; einer der Umstände,
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die den inneren Friedensschluß in Uganda so unglaublich erschweren. Es ist e i n e Tragödie, die nicht zuletzt der ugandischen Intelligenz, die sich bis zur Herrschaft A m i n s an der Universität Makerere, einer der damals bedeutendsten in Afrika, sammelten und nun oft im Exil in Afrika, Europa und den U S A zerstreut leben, schmerzlich bewußt ist.
Literatur Den vollständigsten und anschaulichsten Einblick in die Struktur des Buganda-Reiches mit quellennahen Formulierungen gibt: W. Rusch, Klassen und Staat in Buganda vor der Kolonialzeit, Berlin (Ost) 1975. Die politische Geschichte Bugandas aus der Sicht der ugandischen Historiographie berichtet am zuverlässigsten: Semakula Kiwanuka, A History of Buganda, London 1971. Eine zusammenfassende Interpretation der geschilderten Periode gibt: D.A. Low, Buganda in Modern History, London 1971, insbesondere der Aufsatz: Conversion, Revolution and the New Regime in Buganda 1860-1900. Eine anschauliche und sorgfältige Studie, die die islamischen Quellen nutzt: A. Oded, Islam in Uganda, Islamization through a centralized state in precolonial Africa, Jerusalem 1974. Einen genauen Überblick über die Geschichte der Aufteilung Ostafrikas geben Kapitel 1.2 und 1.3 in: G. Baumhögger, Dominanz oder Kooperartion - die Entwicklung der regionalen Integration in Ostafrika, Hamburg 1978. Einen knappen und guten Gesamtüberblick über die Geschichte der gesamten ostafrikanischen Region gibt: B.A. Ogot/J.A. Kieran, Zamani, A Survey of East African History, Nairobi 1971.E den deutschen Einfluß in dieser Region und Periode ist immer noch am informativsten: F.F. Müller, Deutschland - Zanzibar - Ostafrika, Geschichte einer deutschen Kolonialeroberung 1884-1890, Berlin (Ost) 1959.
1 1 Auswirkungen der Kolonialherrschaft auf politische Systeme in Afrika aus: Historische Identität und Entwicklungspolitik. Zur Rolle der Geschichtswissenschaft in der Politikberatung. Loccumer Protokolle 11, 1981, S. 92-117
Die Tagung steht unter dem Thema "Historische Identität und Entwicklungspolitik". Wenn in diesem Zusammenhang nach dem Einfluß der Kolonialherrschaft gefragt wird, dann vermute ich ein doppeltes Interesse: 1. wie weit hat Kolonialherrschaft historische Identität zerstört, 2. ob und wieviel an offener und verdeckter Kontinuität in der heutigen Politik in Afrika hat mit aus der vorkolonialen Periode herleitbaren Strukturen und Bewußtseinslagen zu tun. Die erste Frage wird viel öfter von Afrikanern selbst gestellt, die zweite regelmäßig in Europa und den USA vor dem Hintergrund, daß Entwicklungspolitik und postkoloniale Wirtschaftspolitik nicht recht greifen, so daß sich die Vermutung einstellt, ob nicht - uns unverständliche - verdeckte Kontinuitäten eine große Rolle spielten. Vom Verständnis des realen Mischungsverhältnisses, um in der Sprache der aufgeklärten Modernisierungstheorie zu sprechen, zwischen traditioneller Herrschaft in Afrika und dem Aufstieg und der Präsenz der modernen Eliten wird Einsicht in die Hintergründe der politischen Dynamik erwartet. Es ist dies eine ältere Fragestellung. Das Kolonialsystem der Zwischenkriegszeit hatte sich bereits damit auseinanderzusetzen, weil man einerseits die moderne Elitenbildung im Interesse der Wirtschafts- und Budgetpolitik zu fördern hatte, andererseits aber zur Behinderung der modernen Nationalbewegung auf die Stabilisierung der sogenannten traditionellen Eliten setzte. Ich persönlich bin skeptisch, ob diese Suche nach Kontinuitäten zwischen "traditioneller" Herrschaft und "moderner" Herrschaft für die gegenwärtige politische Analyse sehr praktisch werden wird. Sie konzentriert sich auf Kontinuitäten bei den Herrschaftseliten und tendiert dazu, die allgemeinen Rahmenbedingungen zu vernachlässigen - insbesondere die Einflüsse, die die bäuerliche Welt bestimmen, die von der Tatsache ausgehen, daß moderne Flächen Staaten gegründet wurden und daß die Dynamik der Weltmarktentwicklungen von starker, Unterschiede einebnender Bedeutung ist. Die Unterscheidung nach traditioneller und moderner Elite verkennt außerdem, daß bereits die "moderne" Elite ihrerseits auf eine hundertjährige Geschichte zurückblickt und ebensolange, oft darüber hinaus die sogenannte traditionelle Elite ebenfalls zu reagieren hatte. Die in diesen mehr als drei Generationen enthaltenen Erfahrungen, Gruppenbildungen, regionale Akzentuierung und Verarbeitung der kolonialen und postkolonialen Herausforderungen sind für die Beeinflussung des gegenwärtigen Politikverlaufs von wesentlich größerer Bedeutung als Kontinuitäten zur vorkolonialen Situation.
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Kolonialherrschaft setzt neue Rahmenbedingungen Als Afrika im sogenannten Scramble for Africa unter die europäischen Großmächte aufgeteilt wurde, gab es keine gravierenden europäischen Interessen in Afrika - bis auf drei Ausnahmen: - Es bestand das Interesse an Ägypten zur Kontrolle des Suezkanals, zur Mitbeteiligung am ägyptischen Modernisierungsversuch und zur Beeinflussung des weiteren Schicksals des Osmanischen Reiches. - Es entstand das starke britische Interesse, die Gold- und Diamantengebiete in Südafrika unter Kontrolle zu halten und die Bildung einer selbständigen Hegemonialmacht im südlichen Afrika zu unterbinden. - Die französischen Interessen an der "Siedlungskolonie" Algerien zielten auf jenes afrikanische Land, das unmittelbares Nachbargebiet einer europäischen Großmacht war. Daß es keine gravierenden Interessen an Afrika gab, hat mit dazu beigetragen, daß sich die Großmächte auf der Berliner Westafrika-Konferenz 1884/85 über ihre Interessenzonen in Afrika verständigen konnten. Der Kompromiß, der gefunden wurde, teilte Nordafrika in eine britische und eine französische Interessenzone auf. Die umstrittenen Gebiete vom Kongobecken bis nach Tanganyika wurden als Freihandelszone konzipiert. Großbritannien wurde freie Hand in Südafrika gelassen. Mit diesen Kompromissen waren Bündnisfragen in Europa verbunden - während der Berliner Konferenz war die französisch-deutsche Kolonialkonstellation vorherrschend, Ende der neunziger Jahre wurde der britisch-französische Interessensausgleich bestimmend. Lassen sich bei den genannten drei Beispielen zusätzlich zu den aktuellen Firmen- und Siedlerinteressen gesamtstaatliche strategische Aspekte festmachen, so ist wichtig, daß in weiten Teilen Afrikas Interessen einzelner Firmen und Missionsgesellschaften konstitutiv waren. Es waren sozusagen fragmentierte und damit auch regionalisierte europäische Interessen, die wirkten. Damit wurde auch afrikanische Kolonialpolitik außerordentlich stark regionalisiert. Über diese Tatsache darf nicht hinwegtäuschen, daß sich einzelnes Firmen- und Missionsinteresse zur Durchsetzung in Afrika tatsächliches und vermeintliches Gesamtinteresse zunutze machen konnte. Aus dieser Kombination von regionalisiertem Einzelinteresse mit Gesamtinteressen der Kolonialmächte sind die wesentlichen Impulse für die Kolonialpolitik in Afrika zu erklären. Was waren nun allgemeine Interessen an Afrika damals? Es lassen sich drei Hauptaspekte hervorheben: Das Einzelinteresse von Firmen, Siedlergruppen und Missionsgesellschaften konnte sich verallgemeinern, weil in der großen Weltwirtschaftskrise von 1874-1896, die eine Überproduktionskrise war, sich Hoffnungen auf große wirtschaftliche Zukunftsräume entwickelten. Dieses waren aber sehr abstrakte Hoffnungen, insbesondere als sich herausstellte, daß weder Gold noch sonstige wichtige Mineralien griffbereit lagen (die Ausnahme war Südafrika), und
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es den Firmen gelang, dem Staat die Kosten für die Sicherheits- und Eroberungsmaßnahmen und die Infrastrukturmaßnahmen zuzuschieben. Mit dieser ziemlich vagen Zukunftshoffnung verband sich ebenfalls unter dem Eindruck der lang anhaltenden Krise die Kalkulation, daß sich mit einer aus Expansion und Kolonialpolitik zusammengesetzten Traumwelt propagandistisch verhindern ließe, daß sich der von der Großindustrie bedrohte Mittelstand einschließlich der Handwerker mit der rasant anwachsenden Arbeiterbewegung zu einer demokratischen Opposition zusammenschließen könnte. Es war Ablenkungspolitik, abgestützt durch überhöhte an Realitäten orientierte Erwartungen. Der dafür verwendete Fachbegriff ist: Sozialimperialismus. Afrika hat diese Erwartungen nie erfüllt. Es blieb ökonomisch ziemlich unwichtig, aber das innenpolitische Interesse am Kolonialismus hat ausgereicht, daß sich die kolonialpolitische Lobby vor 1914 den nötigen Rückhalt verschaffen konnte, um die nötige gesamtstaatliche Unterstützung für die Eroberungsmaßnahmen und die Infrastruktur durchzusetzen. Weil - jedenfalls vor 1914 - Großraumideen (das Deutsche Reich bereitete sich im Ersten Weltkrieg z.B. auf ein Mittelafrikakonzept vor) keine Bedeutung erhielten und nur Einzelinteressen wirkten, hat auch die staatliche Kolonialpolitik ein sehr auf die einzelne Kolonie spezialisiertes Gepräge erhalten. Selbstverständlich gab es zentrale Anweisungen der Kolonialverwaltungen, gab es so etwas wie einen Korps d'esprit der Kolonialbeamten, die ja auch laufend versetzt wurden, aber weil auch der jeweilige Gouverneur wegen des fehlenden übergeordneten Interesses zunächst einmal seine Kolonie mit einem möglichst geringen Budgetdefizit zu verwalten hatte, dominierten pragmatische Zielsetzungen. Die Regionalisierung setzte sich sogar innerhalb der einzelnen Territorien durch. Die vorkolonialen Handelsbeziehungen wurden ausgeweitet. Die Geschichte der einzelnen Kolonien wurde sehr stark dadurch geprägt, ob Handelsinteressen zum Aufkauf tropischer Agrarprodukte überwogen, ob die tropische Landwirtschaft durch europäische Großplantagen geprägt wurde oder wie in Algerien, in Kenya und weiten Teilen des südlichen Afrika sich Siedlerinteressen durchsetzten. Aber auch die Voraussetzungen auf afrikanischer Seite waren prägend für den Charakter der jeweiligen Kolonie, je nachdem ob starke afrikanische politische Strukturen die Überwindung von Widerstand erschwerten oder weitreichende Zersplitterung dies erleichterte. Einzelinteressen der Kolonialeuropäer, gouvernementale Fall-zu-Fall-Behandlung haben mit dazu geführt, daß die einzelnen Kolonien eine historische Individualität erhielten, die auch den in Kolonialkriegen besiegten afrikanischen historischen Kräften einen nicht zu unterschätzenden Spielraum von Widerstand und viele Varianten von Anpassung öffnete. Selbstverständlich hatten diese Kolonialgründungen, auch wenn sie für die Volkswirtschaft der Kolonialmacht oder gar für die Weltwirtschaft marginal blieben, wichtige ökonomische Konsequenzen. Was für die Kolonialmacht unwichtig blieb, konnte ja für die betroffene Bevölkerung in den Kolonien existenz-
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entscheidend werden. Die Kolonialherrschaft vertiefte den Weltmarktanschluß dieser Regionen. Dabei nahmen die auf Afrika spezialisierten internationalen Firmen die Initiative. Dort wo vorkolonialer Handel mit dem Weltmarkt von afrikanischen Mittelsmännern organisiert war, setzte sich die kapitalkräftige, durch überlegene Waffengewalt der Kolonialverwaltung begünstigte europäische Firma durch. Auch wenn es kaum ein Gebiet gab, in dem nicht mehrere internationale Firmen aktiv waren (z.B. war der deutsche Handel mit Britisch-Westafrika wichtiger als der mit den eigenen Kolonien; rivalisierten um das Kupfer in Katanga mehrere Konzerne), führte die so konsequente Begünstigung der Firmen mit Sitz in der jeweiligen Kolonialmetropole doch zu einer überwiegenden Orientierung auf das Mutterland. Dieser Trend ist im Laufe der Kolonialzeit durch drei Großereignisse verstärkt worden. Der Erste Weltkrieg erzwang bei den Westmächten eine Mobilisierung der Reserven auch der Kolonien. In der Zwischenkriegszeit beförderte insbesondere die Weltwirtschaftskrise Konzepte von Großraumideen im Interesse der Devisenpolitik, der Ausweitung der Absatzmärkte und devisensparender Rohstoffe. Der Zweite Weltkrieg hat diese Tendenz vertieft. Dies gilt insbesondere für die französischen Kolonien Afrikas, die ja eine Machtbasis für DeGaulle waren. Für Großbritannien war Afrika Reservebasis für den Abessinienkrieg, den Aufbau der zweiten Front in Nordafrika und die Unterstützung der Burmafront. Afrika wurde, insbesondere nachdem Südostasien von den japanischen Truppen überrannt worden war, einzige sichere unabhängige Ressourcenquelle für England und Frankreich. Überall fanden Versuche statt, administrativ Großregionen zu schaffen (so Französisch-Westafrika, Britisch-Westafrika, Verstärkung der älteren siedlerorientierten Integrationsversuche zu einer Ostafrikanischen Gemeinschaft in der Zentralafrikanischen Förderation). Aus allem ist nichts geworden. Die einzelstaatlichen Interessen wurden geprägt durch regionalisierte Orientierung auf den Weltmarkt und durch einen regionalisierten afrikanischen Nationalismus. Die Budgetinteressen der Gouverneure, die Exportinteressen der Einzelfirmen, die Eisenbahn- und Straßenführungen waren auf den Direktkontakt mit der Kolonialmacht ausgerichtet. In Ostafrika hätte die Integration der drei Länder Kenya, Uganda, Tanganyika bedeutet, daß sich die weißen Siedler Kenyas politisch durchgesetzt hätten und der Entwicklungsvorsprung Kenyas ausgebaut worden wäre. Die Gouverneure von Tanganyika und Uganda haben den Widerstand der afrikanischen Bauern völker dieser Territorien vorhergesehen und Territorialpolitik betrieben. Das Völkerbundsund UN-Mandat über Tanganyika haben diese Politik gestützt. Auch die zentralafrikanische Föderation hat die Vorherrschaft der weißen Minderheit Südrhodesiens (Zimbabwe) zementieren wollen und ist am Widerstand der afrikanischen Nationalismen in Zambia und Malawi gescheitert. Eine Ausweitung des südafrikanischen Konzepts von Siedler- und Rassenherrschaft wurde so verhindert.
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In Französisch-Westafrika haben afrikanische Politiker seit ca. 1950 gesehen, daß sie für ihre Unabhängigkeitsstrategie im eigenen Lande eine sicherere Machtbasis hatten als in Einheitsgebilden. Die französische Afrikapolitik nach dem Zweiten Weltkrieg hat dies dann schließlich begünstigt, weil ein kolonialwirtschaftlicher Großraum zwar erstrebenswert, eine unabhängige afrikanische Großraumbildung indessen bedrohlich erschien. Der Einfluß ließ sich in einer Reihe kleinerer Staaten sicherer wahren. Es gibt indessen einen weiteren äußerst wichtigen außerafrikanischen Grund, warum aus den von den Kolonialpropagandisten erträumten Großraumkolonien nichts wurde - nichts werden mußte: Seit der Zwischenkriegszeit hatte die Entwicklung der großen multinationalen Konzerne auch im Rahmen der afrikanischen Kolonialwirtschaft einen solchen kolonieübergreifenden Einfluß gewonnen, daß die Fragen der Staatsgrenzen von nachgeordneter Bedeutung wurden. Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg wurden die letztlich mittelständischen europäischen Handelskompanien von Branchenriesen verdrängt oder aufgekauft. Die bekanntesten Fälle in Westafrika sind Unilever und Cadbury. Die Ausweitung der südafrikanischen Anglo-American-Corporation nach Süd- und Nordrhodesien, Brook Bonds im Teeund Kaffeegeschäft Ostafrikas sowie die internationalen Minenkonsortien in Angola, Zaire, Firestone in Liberia gehörten dazu. Ähnliches vollzog sich im Bankensektor. Der Kapitalexport für die Anfänge von Verarbeitungs- und Konsumgüterindustrie begünstigte die Ausweitung der Großbanken, wie Barclays, Standard Bank und Société Lyon. Diese Weltfirmen konnten und können unabhängig von politischen Großräumen operieren. Es besteht zweifellos ein Zusammenhang zwischen diesem internationalen Konzentrationsprozeß und der Dekolonisation, insbesondere, weil er der Offensive der amerikanischen Großfirmen zugute kam. Was waren nun die Auswirkungen dieser regionalisierten Kolonialpolitik auf afrikanische Politik? Diese neuen kolonialen Territorialstaaten hatten aus der Perspektive afrikanischer Politik mehrere bemerkenswerte Charakteristika: 1. Budget- und Landfriedenspolitik der Gouverneure (die zunächst häufig militärische Eroberung bedeutete) sowie die Interessenlage der europäischen Residenten grenzten diese Territorien gegen die Nachbargebiete ab. Abgesehen von indirekter, oft verdeckter Arbeiterrekrutierung entstanden abgeschlossene Wirtschafts- und Politikräume. Den neuen Mittelpunkt von Politik bildete die Kolonialverwaltung auf zentraler und Distriktebene. Im Konfliktfall und in Wahrnehmung neuer wirtschaftlicher Interessen war gesicherter und erfolgreicher Zugang zu dieser Kolonialverwaltung auch ein wichtiges Instrument innerafrikanischer Politik. Zweierlei hatte sich grundlegend verändert: Die räumliche Skala von Politik hatte sich enorm ausgeweitet. Der Kolonialstaat umfaßte in der Regel einen wesentlich größeren Bereich, als auch die größeren afrikanischen Staatenbildungen des 18. und 19. Jahrhunderts behaupten konnten.
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Kolonialherrschaft bedeutete einen enormen Sprung hinsichtlich zumindest äußerer Integration. Außerdem war das Herrschaftszentrum aufgrund seiner militärischen und ökonomischen Absicherung durch die Kolonialmacht stabil in dem Sinne, daß nach Errichtung der Kolonialherrschaft keine rivalisierenden Machtzentren mit Aussicht auf Erfolg mehr entstehen konnten, d.h. die Integrations- und Staatenbildungsprozesse, die in Afrika unzweifelhaft vor der Kolonialzeit intensiv in Gange waren, wurden blockiert. Bei diesem älteren System konnte eine Konkurrenz, die die bäuerlichen Ressourcen besser organisieren konnte als das Nachbarvolk oder sich die Möglichkeiten des Femhandels erfolgreicher zunutze machte oder militärische Neuerungen einbrachte, die Machtverhältnisse erheblich verändern. Mit der Kolonialherrschaft wurde das Politikzentrum von außen, von der Metropole und damit vorerst unangreifbar stabilisiert. Alle innerafrikanische Dynamik mußte sich- auf dieses neue Zentrum richten oder sich von ihm im Hinterland abzukapseln versuchen. Rückwärtige Verbindunqen wurden irrelevant. War z.B. im 18. und 19. Jahrhundert Politik um den Viktoriasee herum mit Beziehungen zum Sudan und nach Zanzibar in einem MehrMächte-System möglich, so hörte dies schlagartig mit der Kolonialeroberung auf, wenn es auch noch gewisse Kontinuitäten in den Handelsströmen gab. Dieses Einstellen auf das neue Zentrum ist afrikanischer Politik erst sehr allmählich gelungen. Man wird für jede Kolonie markieren müssen, wann es afrikanischer Politik gelingt, das gesamte Territorium zumindest in Koalitionen von Gruppen so zu erfassen, daß von einer umfassenden Nationalbewegung gesprochen werden kann. Diese kolonialen Territorialstaaten waren nun selbst in großen Flächenstaaten wie Nigeria durch die Existenz der politischen Einheiten, die aus dem verstärkten afrikanischen Staatenbildungsprozeß des 18. und 19. Jahrhunderts hervorgegangen waren, mitbestimmt. Insbesondere in der Anfangszeit der Kolonialherrschaft waren Kompromisse mit diesen afrikanischen Staaten und ihrer Führungselite auch nach militärischen Niederlagen dieser Staaten notwendig. Sie wurden in die administrative Struktur des neuen Staates eingebaut, aus der eigentlichen Kolonialdurchdringung zeitweise ausgeklammert, wenn es darum ging, größere Kriege zu vermeiden, oder aber Kolonialpolitik versuchte vor allem bei häufigen Thronfolgeproblemen durch Parteinahme Einfluß zu nehmen. Das heißt, innerhalb dieses neuen kolonialen Staates blieben diese historischen afrikanischen Staaten existent, zumindest im dynastischen Bewußtsein. Nicht selten blieben es Staaten im Staate, ob nun im Zuge der Durchdringung der Kolonie diese alten Staaten an den Rand des Systems gerieten, etwa weil sie im Hinterland lagen, wie so viele Staaten Westafrikas, die im Hinterland der sklavenexportierenden Küstengebiete lagen, oder aber, weil sie erst spät ökonomisch relevant wurden, wie der Norden Nigerias. Sie waren in diesen Übergangszeiten immer noch politische und ökonomische Großreiche, die auch noch unter der Kolonialherrschaft verdeckt regionale Hegemonialpolitik zu treiben versuchten oder aber politisch und ökonomisch so aus einer Hegemonialpo-
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sition gestoßen waren, daß Revision dieses Zustandes von vornherein Ziel der Führungsschichten blieb. Dies konnte zu wiederholten Rebellionen in der Kolonialzeit führen, langfristig aber im Dekolonisationsprozeß durchschlagen, wenn solche ehemals staatlich organisierten Regionen feste Stimmblöcke bildeten. Diese Kontinuitätsprobleme hatten Auswirkungen auf die Wucht der Veränderung, die die Kolonialherrschaft mit sich brachte. Zunächst sei weiter die administrative Seite behandelt. Auch hierüber sei in einem hohen Allgemeinheitsgrad berichtet, der davon absieht, daß es in der Kolonialgeschichtsschreibung lange Zeit als wesentlich galt, unterschiedliche Administrationssysteme der verschiedenen Kolonialmächte deutlich voneinander abzugrenzen. Die Bedeutung dieser Unterschiede ist in jüngster Zeit wesentlich relativiert worden, weil der kolonialpolitische Pragmatismus Systemgrenzen verwischt. Allerdings ist unverkennbar, daß sich langfristig typische bürokratische Verfahrensweisen des britischen oder französischen Systems vererbten, vor allem aber Kontinuitäten in der kulturellen Orientierung und beim Aufbau des Bildungswesens wichtig wurden. Die koloniale Administration stand vor der Aufgabe, ihre Kontrolle mit einem Minimum an Aufwand durchzusetzen. Dies erzwang die Budget- und Kapitalarmut. Sie hatte dennoch ein Minimum an Legitimität zu erreichen. Dabei waren wichtige Varianten in ein System zu integrieren. Die Gouverneure mußten in den großen, nach Hunderttausenden, wenn nicht nach Millionen Menschen zählenden afrikanischen Staaten Einfluß nehmen. Dabei sollte die Kontinuität der Institutionen gewahrt werden. Widerstand veranlaßte die Kolonialadministration aber dazu, diese Machtzentren militärisch zu besiegen. Da wurde aufgeteilt, Könige wurden hingerichtet oder verbannt, Rivalen gestürzt oder die Systeme durch gefügige Ersatzleute diszipliniert. Land- und Viehabtretungen im großen Stil erschütterten die ökonomischen Grundlagen, öffentliches Land unter Kontrolle des Adels wurde zu großem Privateigentum, Tributeinnahmen wurden zur kolonialen Steuer, Regierungssubsidien erhielten den Charakter von Gehältern. In diesen Auseinandersetzungen vertiefte sich die Erfahrung von Niederlage und bereitete sich der Wille zur Restauration vor. Zur Rationalisierung von Verwaltung und klaren bürokratischen Hierarchien griff auf der entgegengesetzten Skala der politischen Systeme in Afrika - bei den sogenannten staatenlosen Völkern - die Kolonialadministration wesentlich tiefer ein. In diesen staatenlosen Gesellschaften - fast ein Drittel der afrikanischen Völker zählte dazu - bestanden nur lose, für die Europäer kaum erkennbare Zusammenhänge, die durch Clanföderationen, gemeinsame religiöse Systeme und sprachliche Nähe stabilisiert wurden. Hier suchte die Kolonialverwaltung Ansprechpartner, die ihre Zielsetzungen durchsetzen halfen. Bei sehr kleinräumigen Gruppierungen kam das Interesse hinzu, kolonialpolitisch nützliche Größenordnungen zu schaffen. Dort wurden exponiertere Clanführer plötzlich administrativ aufgewertet, Usurpatoren mit guten Beziehungen zur Kolonialmacht gefördert. Häufig wurden nach Kriterien der damaligen Ethnologie Einheiten, "Stämme" genannt, serienweise erfunden.
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Ein Schicksal war allen afrikanischen Gewalten gemeinsam: sowohl alte Führungsschichten wie neu eingesetzte oder aufgewertete mußten neue, von der Kolonialverwaltung zugeschriebene Funktionen erfüllen. Weit über ihre von der afrikanischen Gesellschaft tolerierte oder akzeptierte Autorität hinaus mußten sie an der Arbeiterrekrutierung mitwirken, Landabtretungen organisieren, Steuern eintreiben, europäische Handelsmonopole und zumindest Kompromisse mit den christlichen Weltreligionen zulassen. Alle diese afrikanischen Gewalten mußten ihre Einflüsse überdehnen, Dinge tun, die nicht üblich waren. Sie waren letztlich durch die Kolonialarmee abgesichert. Wer sich verweigerte, konnte abgesetzt werden, Rivalen Möglichkeiten boten überdies Gelegenheit zu Machtgewinn.ten überdies Gelegenheit zu Machtgewinn. Dieser Einbau der alten - und neu geschaffenen - afrikanischen Gewalten in den neuen kolonialen Staat hatte zwei wesentliche Konsequenzen, die für die Beurteilung von Politik in Afrika heute grundlegend sind und fast regelmäßig fehlinterpretiert werden: 1. Die so veränderte und abhängige afrikanische Führungsschicht wird im Interesse des kolonialen Staates und der Kolonialwirtschaft zu einer bürokratischen Instanz, die mit Zwang in die Produktionsverhältnisse der afrikanischen Bauern eingreift. Das Verhältnis von Bauer und Staat entsteht und wird straff hierarchisiert. Wie präsent der Staat bei dieser Häuptlingsschicht ist, läßt sich z.B. an der Entwicklung in Tanganyika zeigen, wo sowohl in der deutschen wie in der britischen Kolonialperiode mehr als die Hälfte der Häuptlinge gewaltsam ausgetauscht werden mußte. Nach Abzug der deutschen Truppen und vor der Ankunft der Briten während des Ersten Weltkrieges haben die afrikanischen Völker am Viktoriasee sämtliche so eingesetzten Autoritäten schlicht veijagt. 2. Die alten politischen Systeme waren in der vorkolonialen Zeit flexibel. In den Macht- und Hegemonialkämpfen, aber auch gestützt durch weitreichende Handelsnetze oder/und religiöse Systeme wurden andere afrikanische Gruppen und Völker in die Herrschaftssysteme integriert. Die Kolonialherrschaft schrieb Einflußbereiche fest. Der koloniale Landfrieden blockierte Herrschaftsbildung, wenn sie nicht den neuen Umweg über erfolgreiche Teilhabe an der Kolonialwirtschaft ging. Aus offenen politischen Systemen, die neue Gruppen - auch gewaltsam - integrierten, wurden festgeschriebene, mitunter isolierte konservative Stammeskönige. Bei den sogenannten staatenlosen Völkern wurden solche Abgrenzungen vom kolonialen Staat mit Nachdruck organisiert. Das, was in Europa mit Vorliebe als Charakteristikum Afrikas hervorgehoben wird - Tribalismus - , ist zu einem sehr wichtigen Teil eine Verhärtung ethnischer Abgrenzung und ein ausgesprochenes Kind des Kolonialismus. Es war sowohl koloniales Herrschaftsinteresse, Abgrenzungen zu fördern, als auch nachvollziehbare Reaktion, vor der Wucht der destabilisierenden Wirkung des Kolonialismus und in der Niederlage zunächst selbst Rückzug und Abgrenzung zu praktizieren, Ethnizität wurde so verstärkt. Die nationale Identität der hochorganisierten Völker wurde durch die Inkorporation in den kolonialen Staat
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auf eine Stammesidentität reduziert. In John Iliffes Buch Modern Tanzanians heißt ein wichtiges Kapitel The creation of tribes. Die Kolonialherrschaft hat nicht nur Integration innerhalb der alten afrikanischen Systeme behindert, sie ist selbstverständlich auch ein eigenes System mit Integrationswirkung geworden. Wichtige Gruppen konnten sich, nach einer Übergangszeit, in der noch auf die lokalen afrikanischen Gewalten Rücksicht genommen werden mußte, im kolonialen Staate verselbständigen und auf das neue administrative Machtzentrum ausrichten. Der koloniale Staat begünstigte Minderheiten, die sich nicht in die afrikanischen Systeme integrieren mußten. Selbstverständlich war die koloniale Bürokratie eine Kaste für sich. Auch wenn politische und ökonomische Spannungen entstanden, konnte selbst in Kolonien, in der der europäische Siedlerund Kaufleute-Sektor sehr klein blieb, diese europäische Minderheit ohne Zwang zur Integration ein privilegiertes Sonderleben führen. In allen afrikanischen Kolonien entstand de facto Rassentrennung. Eine Minderheitsgruppe für sich wurden die Missionsstationen in den Kolonien und die mit ihr verbundene afrikanische Klientel, die sich deutlich jedenfalls in den Anfängen von den alten Gewalten absetzte. Am auffälligsten sind die am Klein- und Zwischenhandel beteiligten Zwischenschichten, die der koloniale Staat förderte: die Inder, Libanesen, Griechen, Brasilianer oder Afroportugiesen. Sie lehnten sich nicht mehr, wie dies in den alten Herrschaftssystemen üblich war, in den von den Königen geschaffenen gesonderten Stadtteilen der alten Städte an die alten Herrschaftsbereiche an, sondern grenzten sich von den Afrikanern ab. Schutzmacht wurde die Kolonialmacht. Die gesonderten Viertel wurden Bestandteil der nach Rassen getrennten kolonialen Stadt. Man kann diese Tendenz zur Abgrenzung, zur Nichtintegration und zum Rassismus als Wirkung des Kolonialismus besonders stark erkennen, wenn man dies mit der Anpassungsfähigkeit dieser Gruppen in der vorkolonialen Periode und in der Anfangszeit der Kolonialherrschaft vergleicht, in der noch nicht alle machtpolitischen Entscheidungen zugunsten der Kolonialmacht gefallen waren. In dieser Zwischenperiode hatten Missionsgesellschaften Politik bei Hofe zu machen, trugen zum Aufbau einer bürokratischen Struktur, ja eines diplomatischen Dienstes bei und wurden so auch von den afrikanischen Herrschern benutzt. Afroportugiesische Plantagenbesitzer haben sich afrikanischer Clanorganisation angenähert. Es war der ausgebaute koloniale Staat, der mit der Verschiebung der Machtverhältnisse die Integration blockierte und isolierte, langfristig gefährdete Minderheiten schuf. Bevor im folgenden die ökonomischen Aspekte behandelt werden, sollte eine Gegenüberstellung angestellt werden, die sich aus der Betonung der Integrationskraft alter afrikanischer Systeme und dem Einschnittcharakter der Kolonialzeit ergibt: Was ist von der These zu halten, daß ein auf großflächige Integration angelegter afrikanischer Staatsbildungsprozeß, der im 18. und 19. Jahrhundert erneut beschleunigt wurde, durch die Aufteilung gewaltsam unterbrochen worden sei.
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Unzweifelhaft hatte sich in einer Reihe von afrikanischen Regionen der Staatsbildungsprozeß erneuert und beschleunigt. Es ist möglich, daß wachsende Bevölkerungskonzentration, damit verbunden die stetige Verbreitung verbesserter Nutzpflanzen - darunter der Mais - vielerorts eine kritische Masse erreicht hatte, die neue politische Organisationen erforderte. Außerdem trifft zu, daß zusätzlich zu diesem säkularen Trend wie auch im Mittelalter Afrikas militärische, religiöse und politische Innovationen verbesserte Ressourcenkopplung ermöglichten, die größere politische Einheiten begünstigten. Es ist aber zu bezweifeln, ob die Veränderungen in der Landwirtschaft revolutionär genug waren, Landverknappung eine Dichte erreicht hatte, daß wirklich die Ressourcen für umfassende Integrationsprozesse vorhanden waren. Außerdem begünstigten sowohl der Sklavenhandel des 17. und 18. Jahrhunderts als auch der Produktenhandel im 19. Jahrhundert zwar die Staatsbildung, führten aber auch zu Konkurrenzverhältnissen und zur Zersplitterung, weil von vielen Punkten der Küste aus der Weltmarkt unabhängige Zugänge eröffnete. Die afrikanischen Systeme waren damit von Anfang an der Instabilität der Weltmarktbeziehungen ausgesetzt, eine Konsolidierung war auch vor der Aufteilung Afrikas durch die Vielfalt der informellen ökonomischen Durchdringung sehr erschwert.
Besonderheiten des ökonomischen Entwicklungsprozesses Die Kolonialwirtschaft war ein Sonderfall des Anschlusses von außereuropäischen Regionen an den Weltmarkt. In vielen Fällen ist der Weltmarktanschluß älter als die Kolonialherrschaft. Dies gilt selbstverständlich in großem Umfang für den vorkolonialen Sklavenhandel mit Westafrika und im 19. Jahrhundert für den Handel mit gesammelten und auch bereits angebauten Agrarprodukten, vorrangig Palmöl und Gummi, Rohstoffe für die beginnende Industrialisierung (z.B. als Schmierfette für Seife). Ähnliches gilt mit Verspätung für Ostafrika, wo neben dem Sklavenhandel die Gewürznelkenproduktion auf Zanzibar einsetzte und - wie auch im südlichen Afrika - der Handel mit Jagdprodukten - Elfenbein, Straußenfedern, Felle - hinzukam. Auch die weißen Siedlungskolonien waren auf den Weltmarkt ausgerichtet. Neben der Verproviantierung der das Kap umfahrenden Schiffe exportierte das Kapland Weizen und Wein. Im 19. Jahrhundert verdrängte der Schafwollexport den Weinexport. Ähnliches gilt für Algerien mit seinem Weinund Weizenexport vornehmlich nach Frankreich. Später kamen die Zucker- und Baumwollplantagen in Natal, Angola, Ägypten und Sudan hinzu. Was wurde nun an Besonderheiten durch die Kolonialherrschaft und Kolonialwirtschaft diesen mit dem Weltmarkt verbundenen Beziehungen hinzugefügt? In der Anfangsphase der Kolonialherrschaft bestimmte zunächst der Raubbau an Elfenbein, Straußenfedern, Gummi, Hölzern - das Geschehen. Parallel dazu liefen die Experimente, geeignete Produkte auf Plantagen oder für die afrikanischen
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Bauern zu entwickeln. Diese Periode war, da schnelle Gewinne nicht in Sicht waren, durch Unterkapitalisierung der europäischen Firmen geprägt. Unterkapitalisierung und Raubbau haben Konsequenzen. Es entwickelte sich die Tendenz, durch Raubbau ohne Reinvestitionen ökonomische Wüsten zu schaffen. Da sich in Europa Booms und Depressionen abwechselten, außerdem Geschmacksrichtungen und Bedürfnisse veränderten, wechselten auch die Prioritäten der gewünschten Produkte. Überwogen zunächst neben dem Sklavenhandel Luxuswaren wie Elfenbein, Straussenfedern und Gold, folgten ihnen die pflanzlichen Fette und das Gummi. Es entstand eine regional sehr ungleichmäßige Entwicklung. Gebiete gerieten in das Scheinwerferlicht des Weltmarktes und nach Ausplünderung wieder an den Rand des Geschehens. Diese Raubbau- und Experimentierphase endete erst, als sich die Hauptexportkulturen, oft als Monokulturen auf Plantagen oder als Bauernproduktion, wirklich etabliert hatten. Dies war im Großen und Ganzen erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Fall. Raubbau und Unterkapitalisierung sowie Experimentierphasen begünstigten Gewaltanwendung bei der Durchsetzung der wirtschaftlichen Erschließung. Das erste und ergiebigste Angriffsziel war, den afrikanischen Fernhändlern und den diese kontrollierenden aristokratischen Familien und Herrschern die Kontrolle über die Handelsrouten zu entreißen. Dies führte an vielen Stellen zu militärischem Widerstand. Wenn dieser militärische Widerstand die Firmen finanziell überforderte, riefen sie erfolgreich nach dem Staat und seinem Militär. Der Transport der Waren, der Bau der Wege und der Aufbau von Plantagen sowie von Großbetrieben der Siedler erforderte einen enormen Arbeitskräftebedarf. Da sich die afrikanischen Bauernproduzenten auf eigene Nahrungsmittelproduktion zurückziehen konnten, oft sogar billiger als die Kolonialeuropäer für den Weltmarkt oder die Städte produzierten, so in Natal, der Transkei, in Tanzania, Ghana und Nigeria oder in Dahomey, mußte die Kolonialadministration unter ständigem Druck der Kolonial-Lobby in Europa und in den Kolonien die Zufuhr von Arbeitskräften mit Zwangsmaßnahmen, oft mit Gewalt sichern. Je nach Sicherheitslage und Einfluß der Plantagenbesitzer, Siedler, der Minenbesitzer und der auf Trägerkolonnen angewiesenen Handelsfirmen übte die Kolonialadministration Druck auf die einheimische politische Führung aus, Leute zur Verfügung zu stellen, wurden Steuern erhoben, um die Bauern in die Geldwirtschaft zu zwingen, fanden Zwangsrekrutierungen für den Wegebau statt und wurde vor allem, wo immer möglich, durch Festlegung von Kronländereien, als "Strafe" für Rebellion, durch Begünstigung der Verschuldung Landenteignung und Landverknappung erzeugt. Insbesondere im Umfeld der Minengebiete im südlichen und in Zentralafrika sowie im Umfeld der Plantagenregionen in Ost- und Zentralafrika entstand aus diesen gewaltsamen Anfängen von saisonaler Wanderarbeit ein sich selbst regulierendes, aber stets mit staatlicher Gewalt abgesichertes System. Arbeiterrekrutierung in großem Umfang hatte wichtige Konsequenzen: Die Kolonien zerfielen in Rekrutierungs- und Beschäftigungsgebiete. Der moderne Agrarexportsektor (Cash-crop-
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sector) wurde zu einer Zone relativer ökonomischer Entwicklung - wenn auch oft mit sehr einseitiger Ausrichtung. In den Rekrutierungsgebieten entwickelten sich aus drei Gründen drastische Unterentwicklungseffekte. Sie blieben außerhalb der cash-crop-Produktion. Es entstand kein Zusatzeinkommen, Reinvestitionen in die Landwirtschaft blieben aus, und die Infrastruktur wurde vernachlässigt. Auch der Ausbau des Bildungswesens konzentrierte sich auf die cash-crop-Gebiete. Insbesondere wenn über zehn Prozent der Bevölkerung in die Wanderarbeit einbezogen wurden - d.h. oft über 25 Prozent der aktivsten männlichen Jahrgänge aus diesen Gebieten abgezogen waren - , wurde die Innovationsfähigkeit dieser Gebiete nachhaltig und über Generationen geschwächt. Außerdem ließ häufig die Nahrungsmittelproduktion für den Markt nach, weil Arbeitskraft und Arbeitszeit zu einseitig auf die cash-crop-Produktion ausgerichtet waren. Im Endausbau eines solchen Systems, mit dessen Krise wir es gegenwärtig zu tun haben, wurden dann ehemalige Nahrungsüberschußgebiete Nahrungsmittelimporteure. Die Vernachlässigung und Verarmung ganzer Regionen behinderte den binnenwirtschaftlichen Austausch und verstärkt die Außenabhängigkeit. Die neuere Kolonialgeschichtsschreibung stellt für wichtige afrikanische Regionen mit Bezug auf diesen Zusammenhang fest, daß durch die Störungen der frühen Kolonialzeit mit ihrem Raubbau und Gewaltanteil in den neunziger Jahren eine ökologische Krise größeren Stils zumindest begünstigt wurde. Viehseuchen verbreiteten sich, der Tsetsefliegengürtel weitete sich aus, es kam vorübergehend zu Bevölkerungsrückgang. Markanteste - auch ökologische - Krisenherde, insbesondere wenn Bodenüberlastung hinzukommt, sind dementsprechend die Hinterländer der Bergbauzentren im südlichen Afrika. Dort wo Siedler- und Plantageninteressen vorherrschten - so in Kenya, Algerien, Südafrika, Rhodesien - , wurden die Versuche afrikanischer Bauern, sich am Export für den Weltmarkt zu beteiligen, mit Gewalt blockiert, verbunden mit Landenteignung und ökonomischer Diskriminierung (Kreditwesen, Infrastruktur).
Kolonialherrschaft und Absicherung des Vorsprungs für europäische Firmen Das Übergewicht der europäischen Ex- und Importhändler auch im internationalen Transportsystem sowie die einflußreiche Position der Plantagen- und Siedlerlobby bekam eine große historische Bedeutung dadurch, daß die Experimentierphase der europäischen tropischen Landwirtschaft und ihres Vermarktungssystems politisch und militärisch sowie durch eine Vielzahl ökonomischer Vergünstigungen abgesichert wurde. So konnten sich viele Kolonialfirmen Monopole sichern, Konzentrationsprozesse organisieren und Rezessionen mit geringem Kapitalaufwand überleben, die das Aufkommen einer insbesondere in Westafrika, aber auch in Zanzibar und Mombasa vorhandenen afrikanischen Händler- und Produzenten-
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Schicht schwer behinderte. Als dann im Verlaufe des Ersten Weltkrieges und in den zwanziger Jahren die großen multinationalen Firmen in dieses System eindrangen, waren die damals verspätet entstehende afrikanische Händlerschicht und das enstehende kommerzielle Bauerntum sowie afrikanische Transportfirmen zu schwach, um diesem strukturellen Vorsprung kräftige, quasi nationalwirtschaftliche Lösungen entgegenzusetzen. Das soll nicht heißen, daß die multinationalen Konzerne wegen der Kolonialherrschaft entstanden sind - ihre Wurzeln liegen im Industrialisierungsprozeß in Europa und insbesondere in den USA. Aber daß sie sich in zunächst marginalen tropischen Agrargebieten direkt etablieren konnten - im Schutze der Kolonialherrschaft - , begründet die besondere Schwäche der afrikanischen kommerziellen Eliten.
Politische Folgen der regionalen Unterentwicklung Die Zweiteilung in cash-crop-Gebiete bzw. Minenenklaven einerseits und in Hinterländer - zum Teil reservatähnliche Armengebiete mit besonders empfindlicher ökologischer Balance - andererseits, bedeutet für die Integrationsfähigkeit der neuen postkolonialen Staaten eine erhebliche Belastung für den sozialen und nicht selten auch für den inneren Frieden. Erschwerend kommt hinzu, daß die sozialen Gegensätze sich als Gebietsgegensätze darstellen und deshalb auch die Gegensätze zwischen einzelnen afrikanischen Völkern oder Volksgruppen steigern. Im Rahmen der ungleichmäßigen kolonialwirtschaftlichen Entwicklung und belastet durch die kolonialpolitischen Eingriffe in das ältere politische afrikanische System entwickelt sich in den Vielvölkerstaaten oder Vielvölkergesellschaftan Afrikas ein regionaler entwicklungspolitischer Gegensatz. Diesen regionalen Entwicklungs-Vorsprung zu verteidigen oder einzuholen, bedeutet für postkoloniale afrikanische Innenpolitik, um die Zentrale zu kämpfen. Der Kampf um die zentrale politische Macht enthält deshalb stark regionalistische Züge. Was heute häufig in Europa als tribalistische Zersplitterung afrikanischer Innenpolitik verstanden wird, ist - so borniert lokalpolitisch es oft praktiziert werden mag - Regionalpolitik, und diese Regionalpolitik ist auf das Zentrum ausgerichtet. Hinzu kommt, daß für jedermann in Afrika auch für die städtischen Eliten - die letzte Quelle sozialer Sicherheit in Abwesenheit zentraler sozialer Sicherheitssysteme und gesicherter Vermögensbildung aus industrialisiertem Produktivkapital der Rückgriff auf die Nutzungsrechte an Land und Clanbeziehungen in der Heimatregion ist. Diese Regionalisierung von Politik im neuzeitlichen Staat ist indessen keine afrikanische Spezialität. Die Geschichte des europäischen frühneuzeitlichen Staates ist maßgeblich aus der Spannung hervorgewachsen, daß feudale Teilgewalten regionale Autonomie verteidigten und zugleich oft zulasten anderer Teilgewalten sich als neue Staatselite im Zentrum der Macht etablieren konnten. In einer Vielzahl von Kriegen, Heiratsallianzen und Veränderungen der Rechtslage unter Ausnutzung ökonomischer und militärischer
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Machtmittel hat sich die europäische Staatenwelt bis ins 19. Jahrhundert hinein entwickelt. Das Besondere am Kolonialismus ist, daß diese Integration fast ohne Mitbeteiligung der afrikanischen Führungsschicht von außen herangetragen wurde und offene Integrationsformen blockiert wurden. Die Region blieb um so mehr die eigentliche Szene afrikanischer Innenpolitik. Wie hat sich nun der Kolonialismus auf die Strategien afrikanischer Eliten ausgewirkt? Die alten politischen Gewalten, aber auch die vom Kolonialismus erfundenen eingesetzten abhängigen Häuptlinge und ihre Berater gerieten in eine Existenzkrise, als sie, durch Kollaboration mit der Kolonialmacht belastet, von einer neuen Schicht mit schließlich antikolonialer Spitze bedrängt wurden. Die Angestellten der Firmen und Kolonialadministration, Lehrer, Kleinhändler, Vorstände der Bauerngenossenschaften und Gewerkschaftler waren in ganz anderem Umfang auf die Zentrale, das gesamtstaatliche System ausgerichtet und durch bildungspolitische Vorsprünge und ökonomische und administrative Erfahrungen vorbereitet. Zweifellos gehört auch ein gut Teil der Häuptlingsschaft hinzu, die oft, begünstigt durch die Kolonialregierungen, besonderen Zugang zu den Bildungseinrichtungen hatten und auch an der Kolonialwirtschaft partizipieren konnten. In diesen Funktionen wurden sie Bestandteil der modernen Elite, aber in ihrer Häuptlingsfunktion verloren sie durch übergroße Nähe zur Kolonialherrschaft und autokratische Abgrenzung gegenüber den Mitbestimmungsansprüchen der neuen Elite doch meist die politische Zukunft. Die Beschränkung auf die regionale Basis trug dazu bei. Wie reagierte nun die neue Mittelklasse auf den kolonialen Staat? Politik konzentrierte sich von vornherein auf das neue Zentrum. Zunächst ging es um die Bekämpfung der beruflichen Diskriminierung vor allem der Regierungsangestellten. Sie fühlten sich als Elite und wurden aus der Elite der Kolonialeuropäer ausgeschlossen. Der Kampf um die Diskriminierung und um die Position im Zentrum der Kolonie konnte sich als Nationalismus formulieren - nicht selten zunächst über den Umweg eines panafrikanischen Nationalismus. Dieser Nationalismus stand dabei nicht im Widerspruch zur regionalen Identität. Denn zugleich verlangte das Zusammenleben in den neuen städtischen Konglomeraten, die landsmannschaftlichen Beziehungen auszubauen. Die so offenkundige künstliche Konstruktion der Kolonie wurde trotz allem Regionalismus in Richtung auf einen Quasi-Nationalstaat vorangetrieben. Dieser Anspruch der neuen afrikanischen Elite wurde durch den Verlauf der Kolonialgeschichte stark abgestützt. Der koloniale Staat kam aus der Legitimitätskrise in der gesamten Periode nicht heraus. Die überlange Raubbau- und Experimentierphase erneuerte ständig das Bewußtsein von Gewalt und Fremdherrschaft. Die systematische Diskriminierung der Eliten und der einheimischen Produzenten verstärkte dieses Bewußtsein. Eine fast ununterbrochene Krisenwelle seit dem Ersten Weltkrieg mit den Krisenphänomenen der Kriegswirtschaft und verstärkter Staatsintervention im Interesse der Kriegsanstrengungen der Alliierten,
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einer schweren Nachkriegsphase 1920/22, nach wenigen Jahren der Erholung die große Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1938 und die erneuten Belastungen des Zweiten Weltkrieges haben bei allem Wachstum der cash-crop-Produktion und der Minen Enttäuschung über die Folgen des Kolonialismus hervorgebracht. Diese Enttäuschung wurde durch zwei Phänomene verschärft: Die ständigen - nur zu oft erfolglosen - administrativ durchgesetzten Agrarexperimente, Marktregulierungen, Arbeitskräfterekrutierungen haben die Bauernschaft am Sinn staatlicher Intervention zweifeln lassen - ein Erbe, das bis heute nachwirkt. Die kommerziellen Eliten, die sich eine ökonomische Zukunft durch Teilhabe am Wachstum versprochen hatten, sahen sich durch die Übermacht der Konzentrationsprozesse um ihre Zukunft betrogen, die administrative Elite sah sich durch die restriktive Beschäftigungspolitik in Krisen- und Kriegszeiten verunsichert. Auch das internationale Umfeld trug zu dieser Legitimationskrise der alten Kolonialmächte bei. Zwei Weltkriege hatten die internationale Position und den Nimbus in Afrika geschwächt. Die Fernwirkung der russischen Revolution, der Indischen Entwicklung, die Kompromisse Großbritanniens mit den weißen Dominions, die Kompromisse des exilierten DeGaulle mit dem frankophonen Afrika außerhalb des Vichy-Einflusses und die antikoloniale Propaganda der USA trugen zur Ideologiebildung und zur Formulierung von ökonomischen und konstitutionellen Forderungen bei. Schließlich bedurfte die Stagnation der bäuerlichen Produktivität einer breiteren Mobilisierung. Kolonialpolitiker - vor allem die Planer der britischen Nachkriegspolitik seit ca. 1940 - konnten hier durchaus eine Funktion in der neuen Nationalbewegung sehen. Das Interesse der USA an freiem Zugang zu den Märkten und das Vertrauen auf die strukturelle Überlegenheit der Weltwirtschaft, den Kapitalexport und das Know-how der Weltfirmen erleichterte die Rückzugsbereitschaft der Kolonialmächte, als Widerstandsbewegungen mit den Mitteln des Aufstandes, des Massenstreiks, des Boykotts und der Massenmobilisierung der neuen Elite Machtmittel an die Hand gab, den Dekolonisationsprozeß zu beschleunigen. Diese Mittelklasse überschätzte ihre Möglichkeiten. Sie war fixiert auf die Rolle der europäischen kolonialen Elite im kolonialen Staat, wollte diese verdrängen und unterschätzte, daß die tatsächliche Macht und Elite in den Metropolen saß, sie im Weltmaßstab Mittelklasse blieben. Es gelang nicht, über das Produktions- und Wachstumsniveau der Kolonialzeit hinauszukommen. Dementsprechend setzte sich nach kurzfristigem Enthusiasmus der postkolonialen Periode das Alltagserlebnis der großen Masse der afrikanischen Kleinbauern fort. Ihr aus generationenlanger Erfahrung gesetztes Wirtschaftsziel war es, ein sicheres Auskommen - nämlich eine garantierte Ernte - zu erzielen und mehr als bisher an den sozialen Dienstleistungen teilzuhaben. Der Kolonialismus hatte für sie, wenn sie nicht direkt durch Landverluste und Rekrutierung in die Wanderarbeit bedroht waren, ständig wechselnde Versuche mit neuen Pflanzen, Anbaumethoden, neuem Landrecht, Marktordnungen und Steuerleistungen sowie Verpflichtungen zu kommunaler Arbeit und Träger- und Militärdienst bedeutet. Neuerungen waren oft mit verdeckter und auch
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manifester Gewalt verknüpft. Abwehr durch passiven Widerstand, Schweigen, Weglaufen waren Hauptantworten. Aber die von diesen Bauern gestellten Landarbeiter, das Steueraufkommen, selbst kleine cash-crop-Ernten, die Mitwirkung am kommunalen Wegebau finanzierten zum großen Teil administrative Tätigkeiten und Investitionen im Zentrum der Kolonie. Lediglich ein vergrößertes Fertigwarenangebot, das aber nicht selten zu Lasten des traditionellen Handwerks auf dem Lande ging, und erste Teilhabe am Missions-Schul- und Gesundheitswesen kamen in Ansätzen auch den Kleinbauern zugute, einschließlich einer landesweiten Mobilität durch das entstehende Verkehrsnetz von Bussen und Lastwagen. Dieser Abfluß der kleinbäuerlichen Produkte in das städtische Zentrum lief selbstverständlich in der postkolonialen Phase weiter. Viele unabhängige Regierungen sahen sich gezwungen, an die administrativen Methoden der Kolonialherrschaft anzuknüpfen. Die Kette der agrarwirtschaftlichen Experimente und Konzepte setzte sich fort. Auch partizipatorische Neuerungen, die etwa von Kadern der Einheitsparteien auf das Land getragen wurden, waren durch das historische Erbe der Kolonialzeit, die Lösungen von oben bevorzugte und das bürokratische System vererbt hatte, belastet. Schwankende Weltmarktpreise, Abschöpfung der Agrargewinne durch ein bürokratisches Vermarktungssystem zugunsten der Staatskasse, Korrumpierung des Genossenschaftswesens zugunsten der führenden Großbauern, Verteuerung der Investitionsmittel wie Pflüge, Düngemittel, erzeugten ein Produktionsklima, das wiederum zu administrativen Maßnahmen bis hin zu Zwangsanbau, Ausweitung von Staatsfirmen und ähnlich belasteten Maßnahmen führte. Neuere Forschungen betonen, daß sich dementsprechend die Masse der Kleinbauern erneut auf defensive Strategien zurückzieht. Die negative Devisenbilanz vieler Staaten beschleunigt dieses Verhalten, weil auch ein preislich erschwingliches Warenangebot die Kleinbauern immer weniger erreicht. Wichtige Elemente der Legitimationskrise der Kolonialherren übertragen sich dementsprechend in wachsendem Umfang auf diese neue Mittelklasse in Afrika. Aus diesen Aussagen läßt sich im übrigen eine These ableiten, die gegen eine kolonialgeschichtliche Legende gerichtet ist, nämlich die Kontrastierung einer entwicklungsorientierten effektiven Kolonialadministration gegenüber der postkolonialen Leistung. Zunächst einmal stellt die Kolonialperiode einen äußerst heterogenen Zeitabschnitt dar, in dem praktisch jedes Jahrzehnt unter anderen Vorzeichen dargestellt werden kann. Politisch-administrativ stand das Niederkämpfen des primären Widerstandes bis 1890, nicht selten bis in den Ersten Weltkrieg im Vordergrund, Raubbau und Experimentierphasen bestimmten das ökonomische Geschehen. Selbst die Entwicklung der Infrastruktur war ohne starke Subsidien und militärstrategische Aspekte alles andere als eine ökonomisch rentable Unternehmung. Die Geschichte der Ineffizienz des unterkapitalisierten Kolonialbahnwesens ist hierfür sehr lehrreich. Diskontinuitäten in der Periode der Wirtschaftskrisen sind in ihren administrativen und ökonomischen Wirkungen mit heutigen Krisenlagen vergleichbar. Das Konzept der Investitionspolitik durch Auslandskredite ist in der
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Kolonialzeit entstanden, nicht in der nachkolonialen Periode. Diese Aspekte des Kolonialsystems sind durch das Wirtschaftswachstum der Kolonialgebiete nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den frühen fünfziger Jahren verdrängt worden. Wahrscheinlich stellten die fünfziger Jahre eine einmalig günstige Konstellation dar. Die Exportwirtschaften waren aus ihrem Experimentier- und Ausbaustudium herausgewachsen und stießen auf den Nachkriegsboom der Rekonstruktionsphase in Europa, die durch den Rohstoffboom in der Folge des Koreakrieges verstärkt wurde. Dieser Boom milderte all jene Phänomene, die sich in der Weltwirtschaftskrise bereits angedeutet hatten - Überdehnung des administrativen Systems, starke Ausweitung der Verstädterung, wachsende Staatsintervention in Vermarktung und Produktion zugunsten der Staatskasse, ansteigender demographischer Druck. Aber die Belastung der Kleinbauernschaft durch die Ausweitung des modernen Sektors setzte sich in Wirklichkeit fort. In einer neuen Krisenkonstellation - wie sie sich seit den siebziger Jahren durchsetzt - war der quantitative Sprung, der sowohl in der Bevölkerungsentwicklung, im Ausbau der Infrastruktur, in den sozialen Diensten einschließlich des Bildungswesens erreicht war, mit der Kolonialzeit nicht mehr zu vergleichen. Der Problemdruck hat dementsprechend erheblich zugenommen, so daß der Vergleich mit der Kolonialzeit kaum noch zulässig ist.
1 2 Namibia, die Bundesrepublik und der Westen: 15 Jahre Krisenverschärfung aus: Hilfe + Handel = Frieden? Die Bundesrepublik in der Dritten Welt, Frankfurt/M. (Suhrkamp Verlag) 1982, S. 109-138 (= Friedensanalysen 15, Hg. Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung)
Das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch deutscher Außenpolitik, auf Friedenspolitik und Menschenrechte ausgerichtet zu sein, und den interessenorientierten nationalen und internationalen Bestimmungsfaktoren von Außenpolitik läßt sich an der Geschichte des Verhältnisses zum südlichen Afrika exemplarisch fassen. Dies soll hier am Dekolonisationsfall Namibia erörtert werden. Ausgangspunkt der Untersuchung sind die Markierungspunkte, zwischen denen sich das mit der Namibia-Frage verknüpfte internationale Spannungsfeld ausbreitet, und die wirtschaftlichen und militärischen Interessen des Westens am südlichen Afrika. Auf eine Skizze der Krisenentwicklung in und um Namibia seit 1972 folgt eine Darstellung der widersprüchlichen Politik des Westens, die das Gegenteil der angeblich von ihr verfolgten Ziele bewirkte. Am Schluß wird versucht, die "Ratio" für diese sowohl in der Anlage wie im Ergebnis doppelbödige Politik zu finden. Bei der Untersuchung hat sich ergeben, daß im Fall Namibias die bundesdeutsche Außenpolitik trotz aller Rhetorik und diplomatischen Aktivität stark von den amerikanischen Leitsignalen abhängig ist. Im folgenden muß also häufig von der westlichen Politik schlechthin die Rede sein; die vorwiegend angeführten bundesrepublikanischen Interessen und Äußerungen haben dabei exemplarischen Belegcharakter.
Das internationale Spannungsfeld Seit die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 27. Oktober 1966 mit der Resolution 2145 das Mandat Südafrikas (seit 1920) für die Herrschaft über Namibia (seit 1884 Deutsch-Südwestafrika) für beendet erklärte, ist dieses Territorium das einzige Gebiet, bei dem die Staatengemeinschaft einen Rechtsanspruch auf Kontrolle des Dekolonisationsprozesses hat. Das wird auch von der Bundesregierung nicht bestritten. Juristisch wurde dieser Anspruch mit dem gutachterlichen Votum des Internationalen Gerichtshofes, daß die bis dahin getätigten UN-Resolutionen rechtmäßig seien, 1971 abgesichert. Namibia-Politik steht damit unter dem besonderen Aspekt, die konfliktregelnde Autorität der Vereinten Nationen zu stützen oder zu unterminieren. Die Namibia-Frage ist außerdem ein Teilaspekt des Konfliktes im südlichen Afrika, der sein Zentrum in einer auf Rassismus basierenden Staatsverfassung und gesellschaftlichen Praxis hat. Für eine antifaschistische, an Menschenrechten orientierte deutsche Außenpolitik muß die Haltung gegenüber dem südlichen Afrika
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entsprechend einen besonderen Stellenwert haben. Als internationalisierter Dekolonisationsfall hat die Namibia-Frage zudem einen Symbolwert für das Nord-SüdVerhältnis im allgemeinen und das Verhältnis von Europa und Afrika im besonderen. Sie beschränkt sich nicht auf die Aspekte der Befreiung von Kolonialismus und Rassismus im Lande selbst und indirekt in Südafrika, sondern strahlt wegen des militärischen und ökonomischen Konfliktpotentials auf Sicherheitslage, ökonomische Stabilität und inneren Frieden der gesamten Region aus. In besonderem Maße betroffen sind die an das südliche Afrika angrenzenden sogenannten Frontstaaten Angola, Zambia, Botswana, Mocambique sowie neuerdings Zimbabwe und, in geographischer Distanz, aber aus politischen Gründen den "Frontstaaten" zugeordnet, Tanzania. Indirekt betroffen, ohne am Verhandlungsgeschehen direkt beteiligt zu sein, sind Zaire und Malawi. Schließlich ist seit 1966, als - auf zunächst noch niedriger Ebene - der Guerillakrieg begann, die Frage der Kriegsbegrenzung und Kriegsbeendigung gestellt. Der politische Wille, den Kriegszustand zu beenden oder zumindest zu begrenzen, wird als Maßstab für westliche Politik zu behandeln sein vor dem Hintergrund, daß in 15 Jahren dieser Krieg erheblich eskaliert ist und die angrenzenden afrikanischen Länder durch grenzüberschreitende Operationen der südafrikanischen Armee in Mitleidenschaft gezogen werden.
Die wirtschaftliche und militärische Bedeutung Südafrikas Das Spannungsverhältnis zwischen diesen programmatischen Aspekten von Außenpolitik und den interessenbedingten Bestimmungsfaktoren ergibt sich im wesentlichen aus der Verflechtung der Namibia-Frage mit dem Südafrika-Problem selbst. Zu den eindeutig identifizierbaren Interessenlagen gehört, daß Südafrika unter dem Aspekt der mineralischen Rohstoffe und des damit verbundenen industriellen Ausbaus ökonomische und militärische Hegemonialmacht in diesem Bereich ist. Verkehrssystem, Struktur der Minenindustrie in den an Südafrika angrenzenden Staaten und die Strukturkrise dieser Länder im Ernährungssektor, außerdem das seit Jahrzehnten etablierte System der Wanderarbeit akzentuieren die ökonomische Vorherrschaft Südafrikas in der Region.1 In den wirtschaftlichen Austauschbeziehungen (Ex- und Import sowie Direktinvestitionen) mit der Bundesrepublik gehört Südafrika eindeutig zur Spitzengruppe in Afrika. 2 Sein Anteil ist zwar im Sinken begriffen, aber noch immer gingen 1978 19,3 Prozent der bundesdeutschen Afrika-Exporte und 26,4 Prozent der Direktinvestitionen im schwarzen Kontinent nach Südafrika und Namibia3, während die Einfuhren von dort in die Bundesrepublik 15,8 Prozent der Gesamteinfuhren aus Afrika ausmachten. Am deutschen Außenhandelsvolumen hat die Republik Südafrika mit 1,1 Prozent der Ausfuhren, 1 Prozent der Einfuhren und 2 Prozent der Auslandsinvestitionen jedoch nur einen geringen Anteil.4 Während
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also Südafrika im Hinblick auf die gesamten deutschen Wirtschaftsbeziehungen von relativ begrenzter Bedeutung ist, die aus propagandistischen Gründen regelmäßig überschätzt wird, bestehen bei einigen Rohstoffen starke Abhängigkeiten, insbesondere für Chrom, Vanadium, Mangan und Uran. Weitere besondere Lieferbeziehungen bestehen für Antimon, Platin, Asbest, Diamanten und künftig Titan. 5 Allerdings werden die Schwierigkeiten, diese Rohstoffe zu ersetzen, und vor allem die Fähigkeit Südafrikas, sie vom Weltmarkt fernzuhalten, ebenfalls aus propagandistischen Gründen stark übertrieben. In einer weitverbreiteten geopolitisch-militärstrategischen Debatte 6 wird Südafrika insbesondere im Kontext der Militarisierung des Indischen Ozeans - in z.Z. noch vager Form auch für den Südatlantik (Marine-Kooperation mit Argentinien und Brasilien) - eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Auch hier liegen politische Übertreibungen vor: Die realen militärischen Interessen der USA und der NATO überlagert ein politisch bedingter Mythos von der zentralen strategischen Bedeutung der Kaproute. Genauere militärische Analysen sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik bezweifeln die Störanfälligkeit der Kaproute für den Öltransport, da eine solche Störung bereits den Kriegsfall darstellen würde. 7 Außerdem ist die Golfregion von der Sowjetunion aus leichter zu kontrollieren. Auch hat die Sicherung der Nordatlantik-Route zweifellos absoluten Vorrang, zumal die Abhängigkeit der Marine von Landstützpunkten schwächer wird. Der in der Reagan-Administration zuständige Leiter der Afrika-Politik, ehester Crocker, hat deutlich gemacht, daß Südafrika nur im Falle eines Dritten Weltkriegs (der wegen der Ölfrage im Nahen Osten oder in Europa ausbrechen könnte) von Bedeutung sei.8 Westliche Südafrikapolitik orientiert sich damit an den direkten Wirtschaftsbeziehungen zu Südafrika, seiner Rolle als Wachstumspol und als militärisch-ökonomische Hegemonialmacht in einer Großregion. Entsprechend dieser Interessenlage hat sich auch die deutsche Politik auf einen stetigen Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen, der Technologie-Kooperation einschließlich des sensitiven Nuklearbereichs und auf einen geregelten politischen Kontakt mit Südafrika konzentriert. Bis in den Anfang der siebziger Jahre wurde die rhetorische Abgrenzung zur Rassenpolitik mit der Formel einer Trennung von Politik und Wirtschaft geleistet.9 Dabei hatte der politische Kontakt in dieser Phase durchaus auch eine militärische Dimension, die, je nachdem, was man unter "militärisch relevantem Material" versteht, in einer Grauzone noch heute besteht. 10 Bis zur Niederlage Portugals im afrikanischen Kolonialkrieg ergab sich die militärische Kooperation in der Region durch bundesdeutsche Waffenlieferungen an den NATO-Partner Portugal, die auch durch verbale Festlegungen auf eine Endverbleibsklausel nicht wesentlich beeinträchtigt wurde. Insgesamt bestand und besteht ein weitverzweigtes ökonomisches, kulturpolitisches und technologisches Beziehungsnetz, das, vermittelt durch eine wirkungsvolle verdeckte Selbstdarstellung der südafrikanischen Regierung bzw. regierungsnaher Organisationen in der Bundesrepublik", ein mildes, wenn nicht positives Licht auf das Konzept der
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Apartheid wirft 12 . Man kann sagen, daß bis zum Anfang der siebziger Jahre eine beschönigende Beurteilung der Lage in Südafrika vorherrschte, die sich stark von dem Bild unterschied, das z.B. die englischsprechende weiße Opposition in Südafrika schon damals entwarf. Die Entwicklung im südlichen Afrika seit 1972. Das Bild bekommt Risse Das in der Bundesrepublik wie im Westen verbreitete Bild einer stabilen Gesamtlage im südlichen Afrika erhielt erste Korrekturen 1971/72. In schneller Folge ging eine Welle politischer Manifestationen mit Signalwirkung für eine drohende Instabilität in der Gesamtregion durch das südliche Afrika. In Zimbabwe gelang es Bischof Muzerewa, ein massives Nein der afrikanischen Bevölkerung gegen den geplanten Verfassungskompromiß zwischen Großbritannien und dem Smith-Regime zu organisieren. Dies war ein erstes Anzeichen - neben dem unterschätzten Widerstand gegen die portugiesische Kolonialherrschaft - , daß entgegen der Sicht westlicher Beobachter, die von einer Entpolitisierung der afrikanischen Massen ausgegangen waren, Massenbewegungen und Führungspotential vorhanden waren. Parallel zum Nein zum Verfassungskompromiß in Zimbabwe lief die Streikbewegung der Wanderarbeiter in Namibia. Sie beendete die Illusion über den Stand der Politisierung in diesem Land. Der Organisations- und Wirkungsgrad der SWAPO (South West African Peoples Organization) als Befreiungsorganisation mußte neu bewertet werden. Wie in Zimbabwe und Südafrika zeigte sich auch in Namibia, daß die politischen Positionen, die die Befreiungsbewegung repräsentierte, sich auch in Formen entwickeln konnten, die vom Polizeiapparat weniger beachtet worden waren, z. B. innerhalb der Kirchen (siehe unten). 1973 setzte sich die Protestbewegung in Südafrika selbst durch. Mit der Streikbewegung vor allem in Natal und mit Manifestationen einer neuen "black consciousness"-Bewegung, die parallel zu der in Südafrika zeitweilig zerschlagenen älteren Befreiungsbewegung entstanden war, wurde auch für das Zentrum des südlichen Afrika die Ausweitung der Politisierungsprozesse demonstriert. Ausschlaggebend für die Verfestigung eines westlichen Krisenbewußtseins hinsichtlich der "Stabilität" der Region war dann der Zusammenbruch des portugiesischen Kolonialsystems. Es steigerte sich noch durch den Verlauf des angolanischen Bürgerkrieges (von den USA tolerierte südafrikanische Intervention und erfolgreiche kubanisch-sowjetische Gegenintervention). Solange die Krisenphänomene vor allem an der Peripherie Südafrikas sichtbar wurden, konnten sie als Folge der besonderen Probleme kolonialer Agrargesellschaften erscheinen; die Schüler- und Studentenstreiks in Soweto im Juni 1976 und das von der südafrikanischen Polizei angerichtete Massaker ließen jedoch auch Südafrika selbst als Krisenherd erscheinen.
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Bevor wir uns den Reaktionen des Westens und dabei besonders der Bundesrepublik auf diese Ereignisse zuwenden, wollen wir einen genaueren Blick auf die Entwicklung in Namibia werfen. Die Entwicklung in Namibia Die politische Konfrontation in und um Namibia entfaltete sich in der Zeit nach 1972, als Südafrika in Verhandlungen mit UN-Generalsekretär Waldheim erstmals das Prinzip anerkannt hatte, Namibia in die Unabhängigkeit zu entlassen, wenn auch ohne Terminangabe und ohne die Zusage territorialer Integrität. Die SWAPO hatte sich im Vorfeld dieser Verhandlungen bereit erklärt, zusammen mit anderen politischen und ethnischen Gruppierungen, darunter der Herero-Häuptlingsrat, eine "National Convention" als Gesprächspartner für die Vereinten Nationen zu organisieren. Südafrika verfolgte dagegen den Plan, Verfassungsfragen in einem "Advisory Council" zu verhandeln, dessen Vertreter nach ethnischen Prinzipien ernannt wurden. Er sollte im Gewände eines Dekolonisations-Prozesses ein Instrument vorbereiten, das eine amtliche Segregationspolitik ermöglichte. Damit ist eine Politik gemeint, die - nach von Südafrika definierten "ethnischen" Kriterien - die Afrikaner in einem politisch und ökonomisch inferioren Status halten und die Hegemonie der weißen Minderheit institutionell sichern soll. Aus dem "Advisory Council" wurde denn auch später die Turnhallenkonferenz und die daraus entwikkelte "Nationalversammlung" in Windhoek. Die Organisationen der "National Convention" lehnten eine Kooperation im Rahmen des "Advisory Council" ab. Als sich 1973 der Zusammenbruch der UN-Initiative abzeichnete, wurde es für die SWAPO wichtiger, ihre internationale Position abzusichern, als weiterhin taktische Koalitionen einzugehen oder aufrechtzuerhalten, mit denen die "interne Lösung", die südafrikanische Segregations-Dekolonisation, verhindert werden sollte. Die Gruppierungen innerhalb der "National Convention" nahmen nun drei unterschiedliche Haltungen ein. Die SWAPO vermied Kontakte und Kompromisse mit der südafrikanischen Administration und sprengte die "National Convention", als diese vom Vorsitzenden des Herero-Häuptlingsrates, Kapuuo, international aufgewertet werden sollte. Ein Teil der "National Convention" mit Kapuuo entschied sich schließlich für die Mitarbeit im "Advisory Council". Kapuuo war bis zu seiner Ermordung im Jahre 1978 neben dem Führer der weißen Minderheit, Mudge, der führende Exponent der "internen Lösung". Andere Gruppierungen, u. a. die SWANU, eine aus der Studentenbewegung hervorgegangene Organisation mit einer ähnlichen Programmatik wie die SWAPO, aber ursprünglich maoistisch orientiert, sowie einige der ethnischen Gruppen, u. a. der Damara-Rat, verweigerten sich ebenfalls der südafrikanischen Dekolonisationstaktik, grenzten sich aber von der SWAPO ab. Als Ergebnis dieser Politik der SWAPO stand am Ende der UN-Initiative die gegen den illegalen Mandatsanspruch gerichtete Anerkennung
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dieser Organisation als einzige und authentische Vertreterin Namibias durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Dieses Votum wurde zwar vom Sicherheitsrat nicht übernommen, bindet jedoch den Generalsekretär. Südafrika eröffnete daraufhin eine Mehrfachstrategie: Neben der Errichtung des "Advisory Council" drängte es auf Homeland-Wahlen, um einerseits die Voraussetzungen für eine Bantustan-Politik auch in Namibia zu schaffen, andererseits die Option für eine Verfassungskonferenz mit von Südafrika ausgewählten Gesprächspartnern offenzuhalten. Hinzu kam das Bestreben, die wachsende Nationalbewegung, insbesondere den dominierenden Einfluß der SWAPO auf die Bevölkerung, mit Gewalt zu zerbrechen. Letzteres war eine direkte Antwort auf die Massenstreik-Bewegung. Als Abwehrmittel gegen die Streiks der Wanderarbeiter waren viele der Streikenden in das Owamboland repatriiert worden, wo sie der Willkür der Bantustan-Bürokratie ausgeliefert waren. Verhaftungen, Folterungen und Disziplinarmaßnahmen gegenüber tatsächlichen und vermeintlichen Streikführern nahmen einen großen Umfang an und führten zu einer tiefgreifenden Vertrauenskrise für die Homeland-Verwaltung. Im Owamboland, in dem ca. 50 Prozent der Bevölkerung Namibias leben, wurde im Februar 1972 das Notstandsrecht proklamiert, das in veränderter Form bis heute gilt. Einschlägige Notstandsregelungen wurden in Kraft gesetzt. Im Schutz des Kriegszustandes forcierte Südafrika Wahlen für die Homeland-Selbstverwaltung nach Apartheid-Prinzipien. Nur die den Homeland-Autoritäten nahestehende "Owamboland Independence Party" war zugelassen. Die SWAPO, die im Owamboland nicht öffentlich operieren durfte, und Demkop, eine weitere in ihrer Programmatik der SWAPO nahestehende Organisation, riefen einen Wahlboykott aus, der zu einem eindrucksvollen Erfolg wurde. Lediglich 2,5 Prozent der Wähler erschienen trotz massiven Einsatzes der Massenmedien, des Notstandsrechtes und der Polizei zur Wahl. Die politischen Kräfte, die zur Kooperation mit Südafrika bereit waren, schienen damit praktisch auf Null reduziert. Südafrika, das vom Grad der Politisierung völlig überrascht war, reagierte mit einer Steigerung des Terrors. Verhaftungswellen, öffentliches Auspeitschen von SWAPO-Anhängern durch die gedemütigten Homeland-Autoritäten, das Verschwinden von Menschen und sonstige Maßnahmen führten dazu, daß 1974/75 3000 bis 6000 SWAPO-Funktionäre und -Anhänger nach Zambia und Angola flohen. Einer erneuten Wahlkampagne der Südafrikaner im Jahre 1975, die durch verfeinerte Repressionsmethoden abgesichert wurde, hielt die Opposition nicht in gleicher Weise stand. Lediglich das Wahlverhalten der Kontraktarbeiter im Süden und im Zentrum des Landes zeigte mit 4 Prozent Wahlbeteiligung die Geschlossenheit von 1973. Im Owamboland konnte eine Wahlbeteiligung von 60 Prozent durchgesetzt werden. Erreicht wurde dies durch Ausweitung des Wahltermins, um bei mangelnder Wahlbeteiligung nachzuhelfen, sowie durch Eintragung der Wahlteilnahme in den Paß, um so Arbeitsplätze, Lizenzen und sonstige Genehmigungen daran zu
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knüpfen. Als Reaktion auf diese Wahlfarce wurde der zum Chief-Minister bestimmte Häuptling Elifas im August 1975 ermordet. Als in dieser Situation die portugiesische Revolution und die Unabhängigkeit Mo^ambiques und Angolas neue Rahmendaten für die weitere Entwicklung schufen, waren die Grundzüge des Konfliktes in Namibia festgelegt. Die südafrikanische Regierung hatte der namibischen Nationalbewegung vorgeführt, was von Südafrika kontrollierte Wahlen bedeuteten. Die Verstärkung des Guerillakampfes war durch die Öffnung Angolas und die Massenflucht insbesondere von Mitgliedern der SWAPO-Jugendorganisation dorthin möglich. Koalitions- und Kooperationsmöglichkeiten in Namibia wurden, sofern die südafrikanische Repression sie nicht ohnehin behinderte, durch ein wachsendes Klima der Polarisierung erschwert. Zwei Umstände trugen dazu in besonderer Weise bei. Wer sich an den von Südafrika in Szene gesetzten Wahl- und Verfassungsprozeduren beteiligte, hatte unweigerlich die Gegnerschaft der SWAPO und den Verlust der Glaubwürdigkeit gegenüber der verdeckten öffentlichen Meinung Namibias in Kauf zu nehmen.13 Dieser Prozeß wurde erheblich verschärft, als die weiße Minderheit direkt in den afrikanischen Organisationsprozeß intervenierte: Im Gewände einer multirassischen Parteienkoalition (formal seit 1977) stützte sie während der Verfassungsverhandlungen in der Turnhalle (seit 1975) afrikanische Honoratioren und organisierte kooperationswillige Gruppierungen. Diese Politik führte zu einer Polarisierung innerhalb der schwarzafrikanischen Bevölkerung. Nachdem die weißen Minderheitsinteressen einmal formuliert waren, drohten die schwarzafrikanischen Sympathisanten der südafrikanischen Politik mit der physischen Vernichtung der SWAPO und meldeten Gegenansprüche zum Führungsanspruch dieser Organisation an.14
Strategie und Ergebnisse der westlichen Politik. Das westliche Analysemuster Die krisenhafte Entwicklung im südlichen Afrika erhielt ihr besonderes Gewicht im weiteren internationalen Kontext: das Vorgehen der ölproduzierenden Länder (OPEC) in der Ölfrage, die Nachwirkungen des Vietnamkrieges und die intensivierte ökonomische Diskussion im Nord-Süd-Konflikt. In dieser Gesamtsituation mußte die Initiative zu einer neuen Politik gegenüber dem südlichen Afrika von der westlichen Führungsmacht ausgehen. Die Ford-Administration entschied sich unter dem Einfluß von Außenminister Kissinger, zunächst die Probleme der Peripherie Südafrikas zu regulieren. Sie lehnte sich damit an die politische Rangfolge an, mit der die Organisation für Afrikanische Einheit (Organization for African Unity, OAU) die Probleme des südlichen Afrika seit 1968 (Lusaka-Manifest) angehen wollte. Absicht der "shuttle diplomacy" Kissingers, die er durch Treffen von Smith und Vorster mit den afrikanischen Präsidenten der Frontstaaten verfolgte, war es, zunächst die Un-
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abhängigkeit Zimbabwes unter einer afrikanischen Mehrheitsregierung durchzusetzen. Dabei strebte er eine "interne Lösung" an, die sich unter Ausschaltung der Befreiungsbewegung auf eine Absicherung der Eigentumsverhältnisse bzw. Entschädigungsleistungen bei Landenteignung und -Verteilung beschränken sollte.15 In der Namibia-Frage galt es, nachdem Angola zur Operationsbasis der SWAPO geworden war, ein diplomatisches Konzept zu entwickeln, das die afrikanische Staatengruppe, die innerhalb der Vereinten Nationen Mehrheiten organisieren konnte, nicht in eine andauernde Konfrontation mit den Westmächten trieb. 16 Durch eine Bereinigung der Rhodesien- und Namibia-Frage, die in besonderer Weise internationalisiert waren, erschien es denkbar, die Konfliktentwicklung in Südafrika vor einer Internationalisierung zu bewahren und es durch eine Politik kleiner Reformschritte international akzeptabel zu machen. Nach der Regulierung der Zimbabwe-Frage war es dann Namibia, über das international auf das Südafrika-Problem eingewirkt werden konnte. Indessen beeinflussen strategische Überlegungen in der westlichen Politik, Konfliktherde rechtzeitig und weiträumig zu kontrollieren, wie sie in entsprechenden Planungspositionen in Washington und auch in Bonn formuliert werden 17 , günstigstenfalls etwas die generelle Richtung von Außenpolitik. Timing und Durchsetzungswille werden in nur minimalem Ausmaß von langfristigen Planungen bestimmt. Dies hat im Falle der Südafrikapolitik auch mit den Richtungsstreitigkeiten in der amerikanischen Außenpolitik zu tun, wo Südafrika- oder Afrikapolitik insgesamt einen deutlich untergeordneten Stellenwert hat. Insbesondere scheinen Zielkonflikte zwischen Regionalisten, die während der Carter-Administration dominierten, und Globalisten, die zur Zeit Fords, vor allem aber in der ReaganAdministration Vorrang haben, zu erheblichen Akzentverschiebungen in der Afrikapolitik zu führen. 18 Wichtiger als die Betonung derartiger konzeptioneller Schwankungen ist aber, daß selbst bei intendierten Anpassungen der Politik an Krisenlagen die tatsächlichen Entscheidungen erst im unmittelbaren Vorfeld der militärischen Niederlage der Regime im südlichen Afrika erfolgten - quasi in der Form von Waffenstillstandsverhandlungen unter westlich-südafrikanischem Protektorat, bei diplomatischer Mitbeteiligung der Frontstaaten und Nigerias. Zwischen der Kissinger-Rede, daß "majority rule" in Zimbabwe unvermeidlich sei", und der Regulierung des Konfliktes vergingen trotz zugespitzter militärischer Lage drei Jahre. Die westliche Namibia-Initiative, die im März 1977 einsetzte, hat auch nach vieijährigem Verhandlungsmarathon noch nicht zu einer abgesicherten Lösung geführt. Diese ist vielmehr weniger in Sicht als je zuvor. Dies ist wesentlich auf die fehlende Bereitschaft zurückzuführen, Druck auf Südafrika auszuüben, und steht in direktem Zusammenhang mit der Lagebeurteilung hinsichtlich der Stabilität der Republik Südafrika selbst, die deshalb im folgenden genauer analysiert werden soll. Eine akute Krisenlage wird, trotz dramatisierender Sprache in Regierungserklärungen, für Südafrika bislang nicht diagnostiziert, obwohl sich die zuständigen
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Botschafter und Beamten keine Illusionen über die Reformfähigkeit und -bereitschaft der südafrikanischen Regierung machen. Auch auf dem Höhepunkt der Verunsicherung über die innenpolitische Stabilität Südafrikas während der Unruhen von Soweto, so läßt sich aus Regierungsäußerungen oder regierungsnahen Positionen auf Expertenkonferenzen schließen20, ist es vorherrschendes Analysemuster geblieben, daß in Südafrika keine revolutionäre Situation bestehe oder in absehbarer Zeit zu erwarten sei. Das pessimistischste Szenario, das auf der Ebene der Planungsdiskussion politikrelevant werden konnte21, ging davon aus, daß die schwarzafrikanische Opposition noch keinen Ansatzpunkt für einen das System überwindenden Widerstand darstelle; sie sei aufgrund des repressiven Apartheidsystems zersplittert und verfüge auch noch nicht über eine starke und einheitliche Gewerkschaftsbewegung. (Der Organisationsgrad beschränkt sich 1981 auf geschätzte 1-2 Prozent der südafrikanischen Arbeiter.22) Auch die Fundamentalpolitisierung über die "black consciousness"-Bewegung, der Ausbau kommunaler und gewerkschaftlicher Aktivitäten und Ansätze von Stadtguerilla würden - trotz wachsender Massenarbeitslosigkeit, Unterversorgung im Erziehungssystem, Kriminalisierung großer Teile der Bevölkerung durch das politische Strafrecht und die Paßgesetze - eher zu Serien spontaner Unruhen (riots) führen, als in eine gewaltsame revolutionäre Bewegung einmünden. Auch die Krisen in der Wohnungsversorgung oder die dramatische Verelendung in den ländlichen Gebieten einschließlich der massenhaften Zwangsumsiedlungen änderten daran nichts. Da die "riots" begrenzte Ziele hätten und zeitlich wie regional beschränkt seien, reiche die Bereitschaft des Systems aus, mit massiven polizeilichen und militärischen Mitteln einzuschreiten (einschließlich gezielter Operationen in den Nachbarländern), um die Lage zu stabilisieren. Solche bereits ungewöhnlich negativen Szenarien werden jedoch in der Regel durch Argumentationen aus sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien abgemildert, die den sozialen Differenzierungsprozessen einer kapitalistischen Industriewirtschaft eine hohe Integrationswirkung zuschreiben. Da real zugespitzte offene Krisen eher ab- als zugenommen haben, wenn auch Guerilla-Aktivitäten auf niedrigem Niveau sich steigerten, steht die Südafrika-Frage noch nicht unter dem direkten Handlungszwang von akutem Krisenmanagement, das allein, wie wir gesehen haben, zu einer gewissen politischen Flexibilität zu führen scheint. Deshalb gehen von der Lage in Südafrika selbst keine starken Impulse aus, aller Rhetorik gegen Apartheid und allen Warnungen vor einem drohenden Rassenkrieg zum Trotz. Dies gilt auch dann, wenn aufgrund der Erfahrungen mit Angola und Zimbabwe der politische Wille der afrikanischen Mehrheit, den Machtwechsel durchzusetzen, als ununterdrückbar gilt. Entsprechend bestimmt die ökonomische Interaktion weiterhin auch die bundesdeutsche Südafrikapolitik. Sie wird mit Steuer- und versicherungspolitischen Instrumenten abgesichert, durch wachsende Anleihen vom deutschen Kapitalmarkt belebt und durch das zunehmende Interesse an der Rohstoffsicherung abgestützt. 23 Ideologisch wird die Analyse, daß eine relative Stabilität in Südafrika intensive und
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langfristige Wirtschaftsbeziehungen zulasse, mit einem Modernisierungskonzept überhöht, das Wirtschaftsbeziehungen die Möglichkeit eines sogenannten friedlichen Wandels zuschreibt. Einziger wirklicher Unsicherheitsfaktor ist in dieser Wahrnehmung der Entwicklung, ob die etwa von Crocker befürchtete Militarisierung des Konfliktes nicht bereits vorentschieden sei. Um eine politische Radikalisierung der Befreiungsbewegungen und später mögliche Absagen an die "Free Enterprise-Position" des Westens zu verhindern, wird eine Politik vorsichtiger diplomatischer Kontakte zu Befreiungsbewegungen betrieben. Das scheint ausreichend, solange die Zeitperspektive des Machtwechsels so großzügig gesehen wird, wie oben dargestellt.
Vor und zurück: die Politik des Westens im UN-Sicherheitsrat Vor diesem Hintergrund läßt sich die Widersprüchlichkeit westlicher NamibiaPolitik analysieren. 24 Dabei sind zwei Tendenzen erkennbar. Fünfzehn Jahre haben die Westmächte, und mit ihnen die Bundesrepublik seit ihrem Beitritt zur Weltorganisation 1973, im UN-Sicherheitsrat und in der für operative Fragen wesentlich wirkungsloseren Generalversammlung diplomatisch um Resolutionen in der Namibia-Frage manövriert. Schrittweise und mit einem Maximum an Verzögerungstaktik haben sie dabei Positionen der OAU und der UNMehrheit übernommen, mit Ausnahme der Sanktionsforderung. 1972 hatte der Sicherheitsrat mit Zustimmung der Westmächte - bei Abwesenheit bzw. Stimmenthaltung der UdSSR und Chinas - der Aufnahme von Dekolonisationsverhandlungen mit der Regierung Vorster zugestimmt (Resolution des Sicherheitsrats Nr. 309). Die Verhandlungslinie von Generalsekretär Waldheim, auf dessen Initiative der Beschluß zustande kam, und seines Beauftragten, des Schweizer Diplomaten Escher, beschränkte sich auf eine Prozedur für einen Dekolonisationsprozeß, die lediglich die territoriale Integrität des Landes garantieren, also nur die Versuche Südafrikas blockieren sollte, unabhängige Homelands zu schaffen. Die südafrikanische Regierung war jedoch nicht bereit, das Homeland-Konzept aufzugeben. Daraufhin ging Escher de facto in Form von Kompromissen sogar auf die südafrikanische Position ein. Das Generalsekretariat tolerierte überdies während des Verhandlungsprozesses stillschweigend die Homeland-Wahlen, von denen oben schon die Rede war. Da die Westmächte weitergehende UN-Resolutionen blockierten, brach der Sicherheitsrat die Verhandlungen Ende 1973 ab. Im Januar 1976 wurde mit der Resolution 385 die Forderung nach freien Wahlen unter UN-Aufsicht und -Kontrolle akzeptiert. Seit 1977 übernahmen es die damaligen fünf westlichen Sicherheitsratsmitglieder, in direkten Verhandlungen mit Südafrika und der SWAPO, aber im Auftrag des Sicherheitsrates und in enger Abstimmung mit den Frontstaaten, der jeweiligen Präsidialmacht der OAU und Nigeria, eine Umsetzung der Resolution 385 auszuhandeln. Dieser Lösungsplan
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wurde in seiner Grundform als Resolution 435 im September 1978 vom Sicherheitsrat verabschiedet und regelt im wesentlichen die Einzelheiten des Waffenstillstandes und der Wahlorganisation, auf deren Grundlage das Generalsekretariat Vorschläge zur praktischen Realisierung des Beschlusses aushandelt.25 Erweitert wurde diese Resolution durch ein - nicht bis ins Detail ausgefeiltes - Konzept einer entmilitarisierten Zone beiderseits der Grenzen zwischen Namibia und Angola (Konsultationen in Genf vom November 1979). Im Januar 1981 wurde sie erneut auf einer Konferenz in Genf vorgelegt, die aber mit einer Absage Südafrikas an den vorgesehenen Terminplan und die Rolle der UN im Dekolonisationsprozeß endete. Dennoch ist die Resolution 435 nach wie vor formal Grundlage der westlichen Position, allerdings mit dem - auf der NATO-Tagung in Rom im Mai 1981 vorläufig formulierten - Vorbehalt, im Vorfeld Verfassungs- und Militärgarantien aushandeln zu wollen. Parallel zu diesem diplomatischen Annäherungsprozeß an OAU-Positionen haben die Westmächte Südafrika eindeutig signalisiert, daß von ihrer Seite kein Druck zu erwarten sei. Das geschah durch die schon erwähnten Verzögerungstaktiken, insbesondere aber durch das konsequent eingesetzte Instrument des Vetos im Sicherheitsrat gegen Sanktionen und durch eine gleichzeitige Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen. Dadurch konnte sich Südafrika trotz eines teilweise verschlechterten diplomatischen Klimas große Handlungsspielräume ausbauen und sichern. Das letzte Veto wurde gegen eine Sanktionsforderung, die vor allem auf einen Ölboykott zielte, im März 1981 eingelegt, als die Sicherheitsratsmehrheit auf das Scheitern der Genfer Konferenz reagierte. Einzige Ausnahme in der Sanktionsfrage war die Verabschiedung eines Waffenembargos 1977. Dabei handelte es sich um eine Reaktion auf die südafrikanischen Operationen in Angola und wohl auch um ein Signal, das die Verhandlungsposition der Westmächte mit einer Drohgebärde abstützen sollte. Diese Ausnahme konnte Südafrika aber nicht sonderlich irritieren. Es hat den durch die generelle Vetopolitik eingeräumten Handlungsspielraum genutzt, um Namibia in der Zwischenzeit umfassend zu militarisieren und seine militärische Präsenz auf ca. 80 000 Mann zu erweitern.
Südafrika baut seine Position aus Die Niederlage Südafrikas in Angola 1976 hatte zur westlichen Namibia-Initiative geführt. Sie konnte nicht verhindern, daß Südafrika - teilweise unter Aufgabe des alten Bantustan-Konzeptes zugunsten eines multirassischen Systems - die repressiven Maßnahmen der Jahre 1972 bis 197526 fortsetzte bzw. wieder aufnahm. Unter dem Schutzmantel neuer internationaler Respektabilität - die westliche Initiative machte Südafrika zu einem Verhandlungspartner der OAU - konnte es seinen ursprünglich von den Westmächten behinderten Ausbau der "internen Lösung" weit vorantreiben.27 Wieder wurden nach ethnischen Prinzipien organisierte Wahlen
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abgehalten, diesmal auf Provinzebene. Die Außenminister der fünf Westmächte stimmten, nach Gesprächen in Pretoria, vorgezogenen Wahlen zu einer "Nationalversammlung" zu, die für Dezember 1978 angesetzt wurden, obwohl gleichzeitig bzw. noch immer Verhandlungen über UN-kontrollierte Wahlen liefen. Die Anerkennung der Wahlen wurde dann zwar formal verweigert; aber Repräsentanten dieser praktisch aus der Turnhallenversammlung hervorgegangenen "Nationalversammlung" konnten als Mitglieder der südafrikanischen Delegation an der Genfer Konferenz teilnehmen. Die Verfolgung der SWAPO im Lande wurde intensiviert. In wichtigen Phasen der Verhandlungen steigerte Südafrika sogar demonstrativ seine Angriffe auf Lager der SWAPO in Angola und Zambia. Der größte Angriff mit ca. 600 Opfern, vor allem unter Flüchtlingen, fand im Mai 1978 statt, während die Westmächte mit Südafrika und der SWAPO in New York verhandelten.28 Schließlich erhielt der von Südafrika eingesetzte Ministerrat exekutive Rechte; gleichzeitig wurde die allgemeine Wehrpflicht in Namibia eingeführt, was erneut eine Massenflucht auslöste. In einem stufenweisen Prozeß wurden die von Südafrika kreierten Gruppierungen, insbesondere die unter weißer Führung stehende und durch internationale Finanzzuwendungen gestützte Demokratische TurnhallenAllianz, in den internationalen Konsultationsprozeß einbezogen. Bei den offiziellen Kontakten mit Diplomaten und Ministern der fünf Mächte wurden sie regelmäßig in New York, Windhoek und Bonn empfangen. Ein vierjähriger Verhandlungsprozeß führte zum Zeitgewinn für die Besatzungsmacht und stärkte ihre internationale Position. Die politische Initiative der Westmächte wurde, da diese auf jede Anwendung von Druck oder auch nur die Ankündigung von unfreundlichen Akten verzichtete, in ihr Gegenteil verkehrt. Südafrika hat für diesen Erfolg jedoch auch einen Preis gezahlt. Auf der diplomatischen Ebene mußte es hinnehmen, daß sich die Westmächte darauf festlegten, nur eine international akzeptierte Lösung anzuerkennen. Außerdem mußte es - wenn auch mit Ausweichmöglichkeiten - prinzipiell der Resolution 435 zustimmen. Es mußte ferner die internationale Aufwertung der SWAPO auch durch die Westmächte hinnehmen und selbst mit einer Befreiungsorganisation verhandeln, deren Mitglieder es als "kommunistische Terroristen" diffamiert hatte.
Die Bundesregierung torpediert ihre eigene Initiative Die westliche Strategie und mit ihr die Politik der Bundesregierung hatte zwei Konsequenzen: den Übergang der diplomatischen Initiative auf Südafrika und, unvermeidliche Folge, eine ständige Zuspitzung der Lage im Lande. Die öffentliche und diplomatische Handhabung des Initiativ-Verlustes sei an drei Politik-Dokumenten zur Südafrika-Frage erläutert:
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- an der Antwort der Bundesregierung auf eine große Anfrage der Koalition von SPD und FDP (Bundestagsdrucksache 8/2168) zum Namibia-Problem vom 4. Dezember 1979, ein Jahr nach Verabschiedung der Resolution 435 und unmittelbar nach den Konsultationen in Genf über eine entmilitarisierte Zone; - an der Erklärung der Bundesregierung vor dem Weltsicherheitsrat im April 1981 (Bulletin der Bundesregierung vom 5. Mai 1981), also nach dem Scheitern der Genfer Namibia-Konferenz und - an der am Rande der NATO-Ministerratstagung formulierten Position zu Namibia vom 4. Mai 1981 (Bulletin der Bundesregierung vom 8. Mai 1981). In der Antwort auf die große Anfrage wird zunächst ein düsteres Krisenszenario ausgebreitet. "Wie auch an den anderen Konfliktherden im südlichen Afrika" drohe die Entwicklung auf eine "Eskalation der Gewalt zuzulaufen". Die mangelnde Bereitschaft der "Verantwortlichen" - gemeint ist Südafrika - , "einem Übergang des Territoriums in die Unabhängigkeit zuzustimmen", könne "jederzeit einen blutigen Rassenkrieg auslösen, der das Leben vieler unschuldiger Menschen kostet und die ganze Region in eine Katastrophe zieht. Die Bundesregierung befürchtet, daß die Auswirkungen einer kriegerischen Auseinandersetzung in Namibia - ebenso wie in den übrigen Konfliktherden des südlichen Afrika - nicht regional begrenzt bleiben würden, sondern daß ein Rassenkrieg den Weltfrieden gefährden würde". Als politische Schlußfolgerung wird anschließend aus dieser dramatischen Lagebestimmung als einzige Lösung eine Politik des Gewaltverzichtes, der Verhandlungen und des Dialogs in Betracht gezogen. Die Bundesregierung fühle sich "durch ihr Bekenntnis zur Friedenspolitik, die sie weltweit verwirklicht sehen will ... verpflichtet, besondere Anstrengungen zu unternehmen, einen Rassenkrieg im südlichen Afrika verhindern zu helfen". Dabei würden nur solche Ansätze zu Lösungsversuchen verfolgt, die Aussicht hätten, von der überwiegenden Mehrheit der Staaten anerkannt zu werden: "Lösungsversuche ohne eine solche breite internationale Anerkennung vermögen nicht die Ursache bestehender Konflikte zu beseitigen, sondern nur deren gewaltsame Beendigung hinauszuzögern. Die Bundesregierung und ihre Verbündeten [hätten] dabei Resultate vor Augen, zu denen verspätete, unfreiwillig und halbherzig in Angriff genommene, unzureichend durchgeführte und international nicht abgesicherte Dekolonisierungen im afrikanischen Raum geführt haben. Diese von der gemeinsamen Überzeugung des Westens getragene Politik der aktiven Friedenssicherung bietet die substantielle Erweiterung der Basis westlicher Außenpolitik. Ihr kommt - nicht nur in Afrika - Modellcharakter für die Friedenspolitik des Westens zu."
In den Detailantworten zu Unterfragen wurde diese Politik an Bedingungen geknüpft: Die Hauptbeteiligten am Konflikt - Südafrika, die SWAPO, die Frontstaaten und der Sicherheitsrat der UN (und damit auch die UdSSR und China) -
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müßten der Lösung zustimmen, und eine "von Südafrika oder mit seiner Unterstützung inszenierte 'interne Lösung'" würde den Erfordernissen "unter keinen Umständen gerecht". Trotz dieser weitreichenden Erklärung (die aber als Einschränkung die Zustimmung Südafrikas mit enthielt) wurde eingeräumt, daß für die Initiative "ein hohes Risiko des Fehlschlagens" bestehe und sich die Lage während der Verhandlungen durch den zunehmenden Guerilla-Kampf der SWAPO und scharfe Repressionsmaßnahmen Südafrikas laufend zugespitzt hätte. In den Antworten zu Zusatzfragen wurde jede alternative Politik abgelehnt, ein politisches Konzept für den Fall des wahrscheinlichen Scheiterns war nicht erkennbar. Damit wurde Südafrika von der Bundesregierung erneut signalisiert, daß kein Druck ausgeübt werden würde - obwohl in die Grundsatzerklärung die für die Sanktionsverhängung entscheidende Formulierung, nämlich daß der Rassenkrieg "den Weltfrieden gefährde", aufgenommen wurde. Der verstärkte Guerilla-Krieg und die "scharfen Repressionsmaßnahmen" Südafrikas waren offensichtlich von diesem Begriff noch ausgenommen, der nur eine zukünftige Krisenlage meinte. Als einzige Sanktion gegen die Forcierung der "internen Lösung" wurde deren Nicht-Anerkennung angedroht, eine Tolerierung ohne Maßnahmenkatalog gleichzeitig nicht ausgeschlossen. Eine Politik, die bei einer diplomatischen Initiative kein Konzept für den Fall des Scheiterns bereithält, überläßt der Gegenseite das Gesetz des Handelns. Südafrika konnte den Affront, die Genfer Verhandlungen scheitern zu lassen, in seinen Auswirkungen sicher kalkulieren. Die Reaktion der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten auf die südafrikanische Entscheidung, die Genfer Konferenz platzen zu lassen, beleuchtet den Verlust der politischen Initiative besonders kraß. Südafrika hatte in die Konferenzvorlage durch Brian Urquardt den mehrdeutigen Artikel 19 einfügen lassen. Er besagt, daß das "Haupthindernis für den Verhandlungsfortschritt bislang das akute gegenseitige Mißtrauen und der Mangel an Vertrauen" gewesen sei und daß daran die Umsetzung des Unabhängigkeitsplans hänge; Südafrika räumt ein, daß dieses Hindernis überwunden werden könne und das Jahresende 1981 "ein realistisches Zieldatum für die Unabhängigkeit Namibias sei". Der Generaladministrator für Namibia hatte dann im Januar 1981 den Abbruch der Konferenz mit der Behauptung begründet, daß die in diesem Artikel genannte Bedingung - ein verstärktes gegenseitiges Vertrauen - nicht erfüllt und es also "verfrüht" sei, ein Datum für die Unabhängigkeit festzusetzen. 29 Obwohl dieser Grund von der Bundesrepublik - als einziger westlicher Macht - deutlich abgewiesen wurde, ging bereits der Vertreter der Bundesregierung in seiner Rede im Weltsicherheitsrat - noch vor der NATO-Tagung in Rom - auf die südafrikanische Position ein. Als Begründung nannte er, daß "der Erfolg weiterer Bemühungen um eine friedliche Lösung der Namibia-Frage ... von einer vertrauensvollen Atmosphäre zwischen allen Beteiligten" abhänge und daß weitere Maßnahmen notwendig seien, um das "Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens in die Zukunft zu schaffen" - und damit auch Zukunftsgarantien für Südafrika in
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Namibia; Sanktionen hingegen würden die "Konfrontation verschärfen und das Verhandlungsklima verschlechtern... Die Leidtragenden wären in erster Linie die Nachbarstaaten Südafrikas". In ihrer gemeinsamen Erklärung am Rande der NATO-Tagung rückten die fünf Mächte sogar von dem durch die Resolution 435 bestätigten Lösungsplan ab. Er sei zwar eine "solide Grundlage", aber die Minister "räumten ein", daß sich der von ihnen selbst mit Südafrika ausgehandelte UN-Lösungsplan "als ungenügend erwiesen" habe. Dabei war schon dieser Plan in den Grundzügen parteilich zugunsten Südafrikas; und nur angesichts der überwältigenden Wahlchancen der SWAPO und unter massivem Druck der Frontstaaten war er von Südafrika akzeptiert worden. Bei Abbruch der Genfer Konferenz über die konkrete Ausgestaltung des UN-Plans im Januar 1981 war der erreichte Verhandlungsstand, daß Südafrika während der Wahlvorbereitungen zwar sein Militär stark reduzieren würde, aber 20 Militärbasen in einer dennoch so genannten entmilitarisierten Zone aufrechterhalten dürfe. 30 Demgegenüber hatte sich die Militärorganisation der SWAPO auch aus Südangola vollständig zurückzuziehen. Außerdem verlangte Südafrika, daß die UN-Truppe, die ursprünglich der Bevölkerung Sicherheit vor Einschüchterung an der Wahlurne und bei Wahlveranstaltungen gewähren sollte, praktisch vollständig als Grenztruppe an der angolanischen Grenze postiert werden sollte. Der gesamte südafrikanische Verwaltungs- und Polizeiapparat blieb als "neutral" unberührt. Außerdem hatte Südafrika de facto ein Veto-Recht erhalten, welche Staaten in der UN-Truppe repräsentiert sein durften. Bis zum Weltwirtschaftsgipfel in Ottawa, so die gemeinsame Erklärung vom Mai 1981, waren die Beamten der westlichen Außenämter aufgefordert, "Vorschläge auszuarbeiten, die auch Maßnahmen wie Verfassungsvereinbarungen enthalten sollen". Dieses Konzept wurde nach Konsultationen mit den Frontstaaten, der SWAPO und Südafrika Ende 1981 durch einen über die Resolution 435 hinausgehenden Einigungsvorschlag der fünf Mächte vorangetrieben; aus den veröffentlichten Äußerungen ist jedoch schwer abzulesen, inwieweit prinzipielle Zustimmung und Formulierung von Vorbehalten bei den Hauptkontrahenten, insbesondere Südafrika, lediglich eine Fortsetzung der bisherigen Taktik ist, den Einigungsprozeß stets erst an nachgeschobenen technischen Details scheitern zu lassen. Die Verschärfung des militärischen Konfliktes durch Südafrika in Angola und die sich verdichtenden Meldungen über die Wiederbelebung des alten Planes, einen an Südafrika angelehnten Pufferstaat in Südangola zu fördern, weisen zumindest nicht auf begleitende vertrauensbildende Maßnahmen durch Südafrika hin. Der westliche Vorschlag enthält, wie angekündigt, die Festlegung von Grundzügen der Verfassung, so die Festschreibung der Eigentumsordnung und des Mehrparteiensystems. Außerdem wurde, um eine verfassungsändernde Mehrheit der SWAPO zu verhindern, das komplizierte bundesdeutsche Wahlrecht mit Erst- und Zweitstimmen vorgeschlagen. Über die Erststimme, so die offenkundige Berechnung, sollen die von Südafrika gestützten Honoratiorengruppen als Wahlkreisabgeordnete
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eine erhöhte Chance gegenüber der SWAPO erhalten, der man einen überwältigenden Wahlsieg bei Listenwahlen zutraut. Absicherung der von Südafrika aufgebauten Gruppierungen, Fortschreibung der Betonung von Ethnizität in Namibia durch das Wahlrecht, verbunden mit der Festschreibung der Grundzüge der Eigentums- und Sozial Verfassung, markieren ein neues Stadium in einer westlichen Initiative, die mehr Krieg und weniger Selbstbestimmung als Ergebnis hat. Der Kontrast zur Ausgangslage 1972 zeigt Schwäche und Unglaubwürdigkeit der westlichen Position auf. Damals bestanden die besten Chancen für eine friedliche Lösung, die von breiten Koalitionsmöglichkeiten in der schwarzafrikanischen Bevölkerung in Namibia getragen werden konnte: - die völkerrechtliche Streitfrage war geklärt; - eine breite, an Menschenrechten orientierte politische Bewegung entfaltete sich in Namibia mit Unterstützung der Kirchenleitungen. Angelehnt an die von Südafrika nie anerkannte - Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 wurde die Abschaffung von Zwangsrekrutierung und Wanderarbeitssystem in Namibia mit den allgemeinen Menschenrechten begründet und daraus insbesondere im Offenen Brief der Kirchenleitungen Selbstbestimmung und Unabhängigkeit gefordert. Dies bereitete das Klima für die Massenstreikbewegung vor; - der hohe Mobilisierungsgrad der Arbeiterschaft (sichtbar geworden im nationalen Streik der Wanderarbeiter) und die politische Initiative der jugendlichen Intelligenz und der SWAPO-Kader, damals mit organisatorischem Schwerpunkt in Walfish-Bay und Windhoek, führten zu einem umfassenden, auf eine Nationalbewegung ausgerichteten Politisierungsprozeß; - die SWAPO war bereits damals eindeutig stärkster politischer Faktor und von der OAU als einzige Befreiungsorganisation anerkannt. Die Mehrheitsfähigkeit der SWAPO wurde bereits damals aufgrund empirischer Analysen von Namibia-Experten der burischen National-Partei eingeräumt31; - trotz der Sonderstellung, die stets der ersten und konsequentesten Befreiungsorganisation in afrikanischen Dekolonisationsprozessen zufiel, sofern sich Spaltungen vermeiden ließen, beteiligte sich die SWAPO aktiv an der Vorbereitung eines von der UN in Gang gebrachten Verhandlungsversuches, in dem sie die "National Convention" als Rahmen für eine Allparteien-Koalition akzeptierte; - in Namibia entstanden keine Koordinationsprobleme durch rivalisierende Befreiungsbewegungen: Mit Ausnahme weißer Minderheitsgruppen und des bürokratischen Homeland-Apparates gab es bis dahin keine von Südafrika oder der weißen Minderheit organisierten politischen Gruppierungen; - der südafrikanische Verwaltungsapparat, sofern er sich auf die HomelandBürokratie stützte, befand sich seit dem Auftreten der Menschenrechtsbewegung in einer offenen Krise;
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- die politische Programmatik der SWAPO zielte bis zur Parteikrise im Sommer 1976 sogar auf ein über die Positionen der Blockfreiheit hinausgehendes Kooperationsverhältnis. Die Mitgliedschaft im Britischen Commonwealth war ein Programmpunkt.32 Der Kontrast zwischen der realen, durch die Westmächte induzierten Entwicklung und der Friedens- und Demokratierhetorik könnte, gemessen an dem damals vorhandenen positiven Potential, kaum schärfer sein, wenn nun von der namibischen Nationalbewegung vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber der Besatzungsmacht gefordert und als Kriterium für eine Namibia-Lösung "safeguard US and South African essential interests and concerns" genannt werden.33
Ein Erklärungsversuch Warum wurde dieses in der Ausgangssituation 1972 liegende Potential nicht genutzt? Wie ist der oben beschriebene eklatante Widerspruch zwischen allmählichem diplomatischem Positionswechsel und einer Politik, die die Krisenverschärfung durch Südafrika begünstigt, zu erklären? Sechs Faktoren sind hier ausschlaggebend: 1. Die Namibia-Frage ist noch stärker als die Südafrika-Frage außenpolitisch von untergeordneter Bedeutung, auch dann, wenn ihr verbal "Modellcharakter für die Friedenspolitik des Westens" gegenüber der Dritten Welt zugeschrieben wird, wie die Bundesregierung es in der Antwort auf die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen tat. Multilaterale Fragen der Afrikapolitik, wie sie im Verhältnis zur OAU und den UN-Organen zum Ausdruck kommen, lassen sich stets durch bilaterale Beziehungen ausbalancieren. 2. Das Ausbleiben einer akuten militärischen Krise in Namibia stützte eine Politik, die auf Zeitgewinn setzte. Ziel war die Einrahmung und "Mäßigung" einer im Guerilla-Kampf stehenden Befreiungsorganisation durch Honoratioren-Gruppierungen und ethnische Minderheiten, insbesondere die weiße Minorität; sie wurde nicht nur von Südafrika, sondern auch von westlichen Kapitalgebern und politischen Stiftungen (z. B. Seidel-Stiftung, Naumann-Stiftung) gefordert. Ein Teilerfolg der "internen Lösung" lag somit durchaus im Interesse der westlichen Politik. 3. Während der gesamten Periode des Dekolonisations-Prozesses seit 1966 hat sich das westliche Interesse an Namibia in dem Maße verstärkt, wie es als UranLieferant Bedeutung erhielt. Der Anteil Namibias an den geschätzten Weltreserven beträgt 5,1 Prozent34, die Prospektierung von Uran begann 1966, der Abbau in Rössing 1976. Das Interesse an Kontinuität und Ausbau dieser Explorations- und Abbautätigkeit und der damit verbundenen energie- und verkehrswirtschaftlichen Infrastruktur wirkt sich als Interesse am ökonomisch-politischen Status quo in
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Namibia aus. Indessen ist auch hier die Grundlage für eine Doppelstrategie vorhanden; denn Investitionen im Innensektor sind langfristiger Natur. Man muß also für den Krisenfall auch über andere politische Optionen verfügen. 4. Die politische Kommunikation innerhalb des UN-Systems und zur OAU hat im Rahmen der Nord-Süd-Konfliktkonstellation ein begrenztes Eigengewicht, das einen kontinuierlichen Verhandlungsdruck in Richtung auf Dekolonisationsmaßnahmen verursacht. Dieser Verhandlungsdruck wirkte sich auch auf Südafrika aus, das durch tatsächliches oder scheinbares Eingehen auf Lösungsstrategien für einen gewissen Handlungsspielraum des Westens sorgen mußte, sollte die relative diplomatische Isolierung des Systems gemildert werden. Diese politische Kommunikation mit der OAU gewährleistet vor allem, daß die UdSSR und die VR China gegen den Willen der OAU keine aktive Politik in der Region betreiben können und dementsprechend die westlichen Aktivitäten zu tolerieren haben. Es bleibt Spekulation, ob die UdSSR Zurückhaltung in einer als westlich deklarierten Interessenzone übt oder ob sie eine Verzettelung ihrer Kräfte in Afrika vermeiden will. 35 5. Als Folge dieses begrenzten Eigengewichts wurde die Befreiungsbewegung selbst zu einem Verhandlungspartner. Das ist durch die Ausweitung des GuerillaKrieges allein nicht ausreichend zu erklären, sondern einerseits auf die Anerkennung durch die OAU und die damit erreichte internationale Stellung im UN-System und andererseits auf die prognostizierte Stimmstärke der SWAPO bei Wahlen zurückzuführen. Insofern verstärkte die internationale Position der Befreiungsbewegung den Dekolonisationsdruck. Da die Befreiungsbewegung sich aber damit zugleich stark an das internationale System anlehnen muß und insbesondere die Interessenlage der Frontstaaten an einer Begrenzung des Konflikts zu berücksichtigen hat, steht sie unter ständigem Druck zur Anpassung an Positionen der Frontstaaten. 6. Auch wenn man die Gesamtentwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen mit Afrika betrachtet, ist die in sich widersprüchliche Doppelstrategie der Bundesrepublik (und der anderen Westmächte) durchaus nicht ohne tiefere Bedeutung: das traditionelle Übergewicht Südafrikas nimmt ab. Gingen 1970 noch 35,7 Prozent der deutschen Afrika-Ausfuhr nach Südafrika (einschließlich Rhodesiens), so waren dies, wie schon erwähnt, 1978 nur noch 19,3 Prozent. In der gleichen Zeit stieg allein der Außenhandel mit Nigeria von 6,9 Prozent auf 18 Prozent und zog damit auch in absoluten Zahlen mit Südafrika fast gleich (2,8 Milliarden DM gegenüber 3,1 Milliarden DM). 36 Allerdings ging im gleichen Zeitraum der Handelsanteil der unabhängigen Staaten des südlichen und östlichen Afrika, die z. T. die "Frontstaaten" darstellen, auf unbedeutende Größenordnungen zurück. Die ökonomische Krisenlage der Staaten dieser Zone verringert ihren außenpolitischen Handlungsspielraum. Die westliche Diplomatie kann daher die Kompromißbereitschaft der Frontstaaten gegenüber dem Kurs der Westmächte in der Namibia-Frage weiter strapazieren. Daß es den Westmächten überhaupt gelungen ist, trotz der von
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Südafrika betriebenen Konfrontationspolitik den Verhandlungsfaden mit der OAU zu erhalten, läßt sich nur mit den enormen ökonomischen Belastungen dieser Länder erklären. Hinzu kommt das Destabilisierungs-Potential des Westens insbesondere gegenüber Angola, das als stetige Drohung vorhanden ist, und die Einsicht seitens der OAU, daß die Umsetzung der afrikanischen Forderung nach militärischer Eskalation die Probleme gesteigerter sowjetischer Militärhilfe nach sich ziehen würde. Ohnehin ist in der OAU bei Dekolonisationsakten das Ziel einer gesicherten politischen Unabhängigkeit eher mehrheitsfähig als der soziale und ökonomische Inhalt der Lösung. In einem langsamen Prozeß wurde das schwer gestörte Verhältnis zur SWAPO verbessert und schließlich durch die Einladung Nujomas von Außenminister Genscher im September 1980 stabilisiert. Besondere Störfaktoren waren bis dahin neben innerparteilichen Problemen der SWAPO die De-facto-Verwicklung der Bundesregierung und der Friedrich-Ebert-Stiftung in die Parteikrise der SWAPO durch scheinbare oder tatsächliche Begünstigung von Andreas Shipanga (Anfang 1976), die langjährige Aufrechterhaltung eines Konsulates in Windhoek als letzte ausländische Macht und die Fortführung konsularischer Dienste nach Schließung des Konsulates durch ein Rechtsanwaltsbüro sowie die finanzielle Förderung der deutschen Schule trotz segregationistischer Praktiken. Ungeklärt blieb außerdem die Errichtung eines Repräsentationsbüros der SWAPO in Bonn. Auch die fortgesetzte direkte und indirekte Beteiligung von Unternehmen mit Bundesbeteiligung an der Urangewinnung und -Vermarktung spielte eine Rolle. Der Besuch fand im Vorfeld der Genfer Konferenz statt und diente dem Ausbau der Vermittlerposition des Auswärtigen Amtes im Rahmen der westlichen Initiative; er sollte gegenüber der amerikanischen Administration und Südafrika die Ansicht des Auswärtigen Amtes, wonach mit der SWAPO als stärkster politischer Kraft und künftigem Wahlsieger zu rechnen sei, unterstreichen. Der Besuch lag auch im Interesse der Frontstaaten, die einen direkten Kontakt der Befreiungsbewegung zu allen fünf Mächten wünschten, er erleichterte die Durchsetzungschancen von Kompromißlösungen zu Lasten der SWAPO und verzögerte vorübergehend die Aufwertung der DTA. Insofern hat die aktive Mitwirkung des Auswärtigen Amtes an der Namibia-Initiative zweifellos zur Aufrechterhaltung eines Minimal-Konsenses mit der OAU und der SWAPO beigetragen. Insgesamt gesehen - nicht zuletzt auch durch das Abweichen von der Resolution 435 - hat die Bundesregierung maßgeblichen Anteil an der Verfestigung der Herr-schaft Südafrikas in Namibia, der diplomatischen Aufwertung Südafrikas und der Tolerierung der Eskalation des Krieges im südlichen Afrika. Dies ist angesichts des praktischen Vorranges der außenwirtschaftlichen Interessen auch vor Fragen der regionalen Friedenssicherung in der Dritten Welt nicht verwunderlich. Absicherung des ökonomischen Status quo und Einflußnahme auf den Charakter des künftigen Regimes werden zumindest gegenüber dem Interesse, den militärischen Konflikt zu beenden, stark bevorzugt.
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Das einzig wirksame Instrument (von OAU und SWAPO seit langem, wenn auch in sehr globaler Form gefordert) - gezielte selektive Sanktionen gegenüber Südafrika - wurde nicht einmal im Bereich politischer Demonstrationen angestrebt, noch war und ist es innenpolitisch durchsetzbar. Dabei kann es kaum Zweifel geben, daß auch unvollständig durchgesetzte Sanktionsmaßnahmen insbesondere in sensitiven und kontrollierbaren Bereichen eine große psychologische und auch materielle Wirkung auf das südafrikanische Regime und die es tragenden Eliten hätten. Eine Isolierung Südafrikas im internationalen Luftverkehr, in der Belieferung mit Elektronik sowie eine Verweigerung des Zugangs zu internationalen Finanzmärkten würde die Strategie der südafrikanischen Regierung zur Machterhaltung des Apartheidsystems so zentral treffen, daß Flexibilität in der Namibia-Frage ein geringer Preis wäre. Es wird von den seriösen Ökonometrikern und Prognostikern der südafrikanischen Ökonomie akzeptiert, daß die Wachstumsrate der südafrikanischen Wirtschaft außerordentlich stark vom internationalen Umfeld abhängt. Da zur Machtsicherung des Systems Wachstumsraten über Jahrzehnte hinaus von real 6 bis 7 Prozent benötigt werden, um mit der Bevölkerungsexplosion und anderen Ursachen der Massenarbeitslosigkeit und der Krise des Erziehungssystems fertig zu werden, träfe eine ernstgemeinte Sanktionsdrohung die Regierung im Kern, ermutigte die afrikanische Opposition und gäbe Ansatzpunkte für die weiße Opposition. Zweifellos läßt sich das Sanktionsproblem nicht mehr mit der NamibiaFrage allein verknüpfen. Die Einleitung relevanter Reformmaßnahmen in Richtung Machttransfer in Südafrika selbst, zumindest aber die Herstellung der politischen Freiheit durch Abschaffung des politischen Strafrechtes in Südafrika, sind davon nicht zu trennen. Auch aus diesen Gründen wird es zu keinen vom Westen akzeptierten Sanktionen kommen, obwohl das traditionelle westliche Argument, daß Sanktionen politisch und ökonomisch ungeeignet sind, insbesondere durch das Anwenden von Sanktionsmaßnahmen in der Iran-Krise, aber auch bei Krisen im Einflußbereich der Sowjetunion vor allem seitens der US-Regierung als Vorwand deutlich erkennbar wurde. Der in der Namibia-Politik besonders sichtbar gewordene Mangel an außenpolitischer Eigenständigkeit der Bundesrepublik im westlichen Bündnis und das innenpolitische Negativ-Klima für Dritte-Welt-Politik, insbesondere gegenüber dem südlichen Afrika, lassen Skepsis geboten erscheinen: Ohne erneute Dramatisierung, ohne militärische oder revolutionäre Gewalt scheint es seitens der Bundesrepublik wenig Handlungsbereitschaft und vielleicht auch wenig Handlungsspielräume zu geben. Als positiver Anknüpfungspunkt kann jedoch gelten, daß die Handlungslinien im Krisenfall eher auf Beschleunigung der Dekolonisation hinauslaufen als auf das katastrophale Gegenteil: eine Intervention auf Seiten repressiver Minderheiten.
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Zum Transportsektor vgl. Joachim Jeske, Verkehrsgeographische Strukturwandlungen im südlichen Afrika 1975-1980. Arbeiten aus dem Institut für Afrikakunde Nr. 28, Hamburg 1981. Vgl. auch die Zusammenfassung der ökonomischen Aspekte in L. Harding, Die Politik der Republik Südafrika, München 197S. Rolf Hofmeier/Susanne Schlattner u.a., Die wirtschaftliche und rohstoffpolitische Bedeutung Afrikas und seiner einzelnen Regionen für die Bundesrepublik Deutschland. Arbeiten aus dem Institut für Afrikakunde Nr. 27, Hamburg 1981, Tabellen: S. 54, 28 u. 415. In diesen Zahlen sind die verdeckten Lieferungen an Rhodesien über Südafrika in der Schlußphase des UN-Embargos gegen Rhodesien enthalten. Hofmeier/Schlattner u.a., Die wirtschaftliche und rohstoffpolitische Bedeutung Afrikas..., a.a.O., S. 57, 34, 419. Ebenda, Kap. 3.4. Als Argumentationskette gegen die Uberschätzung des strategischen Arguments: Jack E. Spence, The Security Interests of NATO in Southern Africa. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Südafrika (Analysen 85/86), Bonn 1980. Ebenda. Chester Crocker, You are part of the West, but we can't endorse racism. In: Sunday Times (South Africa), 9.11.1980: "The Soviet Union is unlikely to start a war by disrupting Western shipping in the southern Oceans - because this is what such action would lead to ... But the USSR would have major advantages once war occured if political forces hostile to the West were in control of South Africa." Hierzu Helmut Bley/Rainer Tetzlaff (Hg.), Afrika und Bonn, Reinbek 1978, insbesondere Gerhard Grohs, Die Unterstützung der portugiesischen Afrika-Politik durch die Bundesregierung, und Reinhard Rode, Bonn und Pretoria; ders., Die Südafrikapolitik der Bundesrepublik Deutschland. In: ders., Südliches Afrika, Berlin 1978. Die Frage des Umfangs und der Zeitdauer der militärischen Kooperation ist umstritten und juristisch ein Streitfall. Wolff Geisler, Die militärische Zusammenarbeit. BundesrepublikSüdafrika im atomaren und konventionellen Bereich. Blätter für deutsche und internationale Politik, (1978) 2, Sonderdruck, (gegen das) Memorandum des Auswärtigen Amtes an die OAU v. 17.1.1977. Die wichtigsten Organisationen dieser Art sind die South African Foundation und die Deutsch-Südafrikanische Gesellschaft. Vgl. Rode, Bonn und Pretoria, a.a.O.; ders., Die Südafrikapolitik der Bundesrepublik..., a.a.O.; Gottfried Wellmer, Network of Influence. In: Focus: Federal Rupublic of Germany, Paper for the International Conference in Solidarity with the Struggle of the People of Namibia, Paris, September 1980. Vgl. Rode, Bonn und Pretoria, a.a.O. Für die Wirkung dieses Netzwerkes in der aktuellen Situation Namibias vgl. Gottfried Wellmer, Network of Influence. In: Focus: Federal Republic of Germany, Paper for the International Conference in Solidarity with the Struggle of the People of Namibia, Paris, September 1980. Gute Illustration dieser Prozesse für Demkop in: Tötemeyer, Namibia Old and New, New York 1978, S. 208. Für die Delegierten der Turnhalle vgl. H. Bley, Politische Probleme um Namibia seit Ablaufen des Sicherheitsrats-Ultimatums vom 31.8.1976. In: Afrika Spektrum (1976) 3.
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Persönliche Aufzeichnungen von der Genfer Konferenz über Erklärungen der Demokratischen-Turnhallen-Aktion. U. a. wurde die Vernichtung der SWAPO innerhalb von sechs Monaten angekündigt und in Anspielung auf Amin in Uganda ein Umgang mit der Opposition "in the African way" angedroht. Ruth Weiss, Der Rohstoffkonflikt. In: H. Bley/R. Tetzlaff, Afrika und Bonn, a.a.O. Zur "Shuttle diplomacy " im Kontext der Namibiafrage: Bley, Politische Probleme um Namibia..., a.a.O. Colin Legum/Tony Hodges, After Angola, London 1976. Bekannt geworden ist als Beispiel einer solchen weiträumig angelegten Studie die Studie S 59 des US-Sicherheitsrates von 1968. Ein ähnliches Planungspapier entstand im Planungsstab des Auswärtigen Amtes für die deutsche Afrikapolitik 1977/78. Eine gute Zusammenfassung der Trends am Vorabend der Wahl Reagans gibt William Foltz, United States Policy in Southem Africa, What next? In: Friedrich-Ebert-Stiftung, a.a.O. Rede von Henry Kissinger in Lusaka vom 25.4.1976, Zusammenfassung in: Süddeutsche Zeitung, 28.4.1976. Vgl. Rainer Tetzlaff, Das Krisenszenario für die Republik Südafrika. In: Bley/Tetzlaff, Afrika und Bonn, a.a.O.; vgl. auch die Skizzen der Szenarios in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Der Konflikt in Südafrika, Bonn 1981. Ahnliche Szenarios sind im Rahmen der Planungsüberlegungen des Auswärtigen Amtes angestellt worden. Einflußreich in der Bundesrepublik hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer revolutionären Entwicklung: Theodor Hanf/Heribert Weiland, Südafrika, Friedlicher Wandel?, München 1978. Vgl. die Rezeption des Buches in der Zusammenstellung: Friedrich-Ebert-Stiftung (Forschungsinstitut), Der Konflikt in Südafrika. Internationale Lösungsstrategien und innerer Wandel, Expertengespräch in Bonn, 29.30.5.1980. (Hierbei handelt es sich um die Kurzfassung des in Anm. 6 genannten SüdafrikaBuches der Friedrich-Ebert-Stiftung, die auch die Diskussion mit einschließt.) Vgl. Tetzlaff, Das Krisenszenario..., a.a.O.; Friedrich-Ebert-Stiftung, Der Konflikt in Südafrika, a.a.O.; Hanf/Weiland, Südafrika, Friedlicher Wandel?, a.a.O.; Friedrich-EbertStiftung (Forschungsinstitut), Der Konflikt in Südafrika, a.a.O. Vgl. die epd-Dokumentation 23-24/1981: Investitionen im Land des Apartheidsystems. Das Dilemma mit dem Kodex (III). Neue Studie über das Verhalten der deutschen Finnen in Südafrika. Die Dokumentation beruht auf Feldforschung in Südafrika selbst und gibt u. a. Auskunft über den tatsächlichen Organisationsgrad der afrikanischen Arbeiter bzw. die ihnen in den Weg gelegten Hindernisse. Kennzeichnend für eine extreme Übertreibung des Rohstoff- und Sicherheitsaspektes (vergleicht man den internationalen Diskussionsstand) sind die von der der CDU nahestehenden Deutschen Afrika-Stiftung veröffentlichten Broschüren von G. A. Sonnenhol, Rohstofflieferant Südafrika, Bonn 1980, und Uwe Vogel/Günter Poser, Afrika und deutsche Sicherheit, Bonn 1980. Quellennachweise in drei den Verhandlungsgang analysierenden Beiträgen: Bley, Politische Probleme..., a.a.O.; ders., Die Bundesrepublik, der Westen und die internationale Lage um Namibia. In: Bley/Tetzlaff, Afrika und Bonn, a.a.O.; Bley, Namibia: Scheitern von Genfer Konferenz und westlicher Initiative. In: Vereinte Nationen, (1981) 1. Die beste Darstellung bis 1976 gibt Hennie Serfontein, Namibia, Randfontein 1976. Vgl. auch Wellmer, Network of Influenae, a.a.O. Resolution 435, Text in: Vereinte Nationen, (1979) 4, S. 247. Einzelheiten für Notstandsrecht und Verfolgungsmaßnahmen: Defence and Aid Fund for Southern Africa, Political Prisoners and Detainees in Namibia, Paper for the International Conference in Solidarity..., a.a.O. Fortschreibungen mit Papers für die Genfer Konferenz: Dezember 1980 und Januar 1981.
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Knappe Zusammenfassung in: Defence and Aid Fund, Constitutional Developments in Namibia, Paris 1980. Vgl. die Selbstdarstellung: Administrator General, Press-Relations, South-West-Africa/Namibia Survey, June 1980. Detaillierte Berichterstattung in: International Commission of Inquiry into the Crimes of Racist and Apartheid-Regimes in Southern Africa, Report of Acts of aggression perpetrated by South Africa against the P.R. of Angola, Brüssel 1980. Berichtszeitraum ist 1980 mit Hinweisen und Quellennachweisen für 1976-78. Statement by the Administrator General (Namibia), 13.1.1981, Genf, Press Release. Bezugspunkt ist: Further Report..., Secretary General UN, S/14266, 24.11.1980. Vgl. die umfangreiche Korrespondenz zwischen Waldheim und der südafrikanischen Regierung, veröffentlicht als Dokumente des Sicherheitsrates (Einzelnachweise in den Depotbibliotheken der U N unter den Seriennummern S/Sicherheitsrat und AI Assembly; vgl. Statement by th Administrator General, a.a.O. Vgl. Tötemeyer, Namibia Old..., a.a.O. In dieser 1974 in Stellenbosch vorgelegten Dissertation ist Tötemeyers bereits 1972 veröffentlichtes Urteil ausgearbeitet. Zur Parteikrise 1976 und zur Programmentwicklung (mit Quellennachweisen) vgl. Bley, Politische Probleme..., S. 266ff. Unterstaatssekretär Chester A. Crocker an Außenminister Haig, 13.5.1981, Subject: Your Meeting with Southafrican Foreign Minister Botha, 11.00 a. m., May 14, at the Department, Scope Paper. Wichtige Dokumente der Verhandlungsunterlagen der US-Regierung mit Südafrika im Mai 1981 wurden der amerikanischen Presse zugespielt und von der SWAPO veröffentlicht in: SWAPO of Namibia, Information and Comments, Special Issue, June 1981. Die Echtheit der Dokumente wurde bestätigt, vgl. New York Times, 1.6.1981. In einem Schreiben von Paul J. Hare an Chester Crocker vom Mai 1981 wird die Absicht ausgesprochen, die Resolution 435 zu ändern, vgl. ebenda. Hofmeyer/Schlattner, a.a.O., S. 196f. Auf S. 196 wird Nicht-Beteiligung am Uranbergbau angenommen. Demgegenüber betont Wolff Geisler eine Beteiligung der Urangesellschaft und deutsche Anleihen, vgl. The Relations between the FRG and Namibia in the Economic and Military Fields. In: Focus: Federal Republic of Germany, a.a.O. Winrich Kühne, Die Politik der UdSSR gegenüber Südafrika nach dem Machtwechsel in Zimbabwe. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Südafrika, a.a.O.; Hans-Joachim Vergau, Die Politik der Vereinten Nationen gegenüber dem südlichen Afrika. In: Ebenda. Vergau, ehemals Mitglied der deutschen UN-Botschaft und Leiter der Südafrikasektion der Afrikaabteilung des Auswärtigen Amtes und in beiden Funktionen maßgeblich an der NamibiaInitiative beteiligt, reflektiert - wenn auch in optimistischer Form - die Wirksamkeit der Kooperation mit der OAU und dem UN-System. Meine Interpretation stützt sich auf Interviews, vergleichbare Informationen, Redebeiträge im Sicherheitsrat, Bulletins der Bundesregierung. Hofmeier/Schlattner, Die wirtschaftliche..., a.a.O., S. 54.
1 3 Gewerkschaften in Südafrika: Geschichtliche Vorbelastungen aus: Eugen Loderer (Hg.): Metallgewerkschaften in Südafrika, Bayreuth 1983, S. 27-58 ( = Schriftenreihe der Otto Brenner Stiftung, 34)
Seit den Massenstreiks in Durban (1973) wird die Gewerkschaftsfrage in politischen Analysen des Konfliktes in Südafrika verstärkt beachtet. Die Schüler- und Studentenproteste in Soweto (1976) und das unter den Jugendlichen durch die südafrikanische Polizei angerichtete Massaker ließen zunächst die politische Entwicklung in den Vordergrund rücken. Als sich danach die schwarze Gewerkschaftsbewegung in allen Teilen des Landes ausweitete und stabilisierte und eine erfolgreiche Streikbewegung einsetzte, sah sich der südafrikanische Staat zu einer zögernden Anpassung an diese neue Situation gezwungen. Ein wichtiges Ergebnis war die Legalisierung schwarzer Gewerkschaften. Afrikaner waren bis dahin aus dem Arbeitsrecht ausgeschlossen, weil sie nicht "Arbeitnehmer" im Sinne des Gesetzes waren. Seit 1978 ist die Gewerkschaftsfrage deshalb in den Vordergrund des politischen Interesses gerückt. In der internationalen Diskussion - wie auch in der Bundesrepublik - ist dieses Interesse dadurch gefördert worden, daß der Reformcharakter dieser Veränderungen im Arbeitsrecht betont wurde. Verschiedene Verhaltenskodices dienten als Ersatz- und Ausweichmaßnahmen gegen die verstärkten Boykottforderungen südafrikanischer Befreiungsbewegungen, der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) und der Mehrheit der UN-Vollversammlung und hatten gerade auch die Unterstützung von Gewerkschaftsorganisationen auf dem Programm. Dabei ist nicht zuletzt auch in der Bundesrepublik der Eindruck entstanden, in der Gewerkschaftsfrage in Südafrika stehe man vor einem Neuanfang. Optimismus, daß sich wenigstens in der Arbeiterbewegung die Rassentrennung werde durchbrechen lassen, machte sich breit. So versuchte z.B. der Internationale Metallgewerkschaftsbund (IMB), die weißen Metallgewerkschaften, die Mitglied des IMB waren, mit den neuen schwarzen Gewerkschaften in einem Koordinierungsausschuß zusammenzufassen und zu einer gemeinschaftlichen Gewerkschaftspolitik zu veranlassen. Selbst in diesem kleinen Kreis von prinzipiell kooperationsbereiten Gewerkschaften waren die Probleme so groß, daß dieser Ausschuß, der 1974 gegründet wurde, seit 1980 "ruht". Ein Blick in die südafrikanische Gewerkschaftsgeschichte soll aufklären helfen, warum es sich in Südafrika um keinen Neuanfang handelt: Erhebliche geschichtliche Vorbelastungen im Verhältnis zwischen weißen und schwarzen Gewerkschaftern sowie im Verhältnis zu Staat, Unternehmern und Unternehmerverbänden bestehen und wirken fort. Außenstehende und Privilegierte, also wir und die weißen Arbeiter, sind stets sehr leicht bereit, die Belastungen der Vergangenheit gering zu schätzen. Die Betroffenen indessen, immer noch umgeben von einem feindseligen und rigorosen System des Polizeistaates, das gerade auch Gewerkschafter verfolgt und zu Tode
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bringt, können diese Vergangenheit und das Versagen der weißen Arbeiterschaft gegenüber dem Anspruch der Solidarität nicht leicht vergessen. Sie müssen sich auf ihre Erfahrungen verlassen.
Neun Thesen zur Gewerkschaftsgeschichte In neun Thesen sollen die Grundzüge der südafrikanischen Gewerkschaftsgeschichte erläutert werden: 1. Die Rassentrennung in der Arbeitswelt Südafrikas besteht fast 150 Jahre. Sie ist bereits im vorigen Jahrhundert von der weißen Landwirtschaft und den Bergwerksgesellschaften durchgesetzt worden. Die Landwirte wollten die erfolgreiche Konkurrenz der afrikanischen Bauern ausschalten und sich landlose gefügige Landarbeiter schaffen. Die Berg Werksgesellschaften konkurrierten mit der weißen Landwirtschaft, um Bergarbeiter zu Niedrigstlöhnen beschäftigen zu können. Die ursprünglich kleine Schar der weißen Facharbeiter und Handwerker, die zum Teil speziell aus den Bergwerksregionen Europas angeworben wurden, waren von vornherein in der Lage, sich gegenüber den afrikanischen Arbeitern Privilegien und ein wesentlich höheres Lohnniveau zu verschaffen. Je länger desto mehr wurde es auch ein Interesse der Industrie, die weiße Facharbeiterschaft von den afrikanischen Kollegen isoliert zu halten, um zu verhindern, daß sich Gewerkschafts- und Kampferfahrung der weißen Arbeiter auf die afrikanischen Arbeiter übertrug. Die weißen Facharbeiter hatten in ihrer übergroßen Mehrheit bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts ihre Privilegien gegen die ihnen für ihren Lebensstandard als bedrohlich erscheinende afrikanische Konkurrenz mit Kampfmaßnahmen ausgebaut. 2. Die weiße Arbeiterschaft hat die Bedrohungen, die von der frühen Industrialisierung (seit 1868), vor allem aber von Mechanisierung und Rationalisierung ausgingen, stets von sich abgewehrt, so daß die negativen Folgen auf die schwarze Arbeiterschaft abgewälzt wurden. Dies geschah insbesondere in den Zeiten der großen Wirtschaftskrisen seit Ende des Ersten Weltkrieges. Mit Kampfmaßnahmen, Massenstreiks und politischer Organisation unter Ausnutzung des nur ihnen zustehenden Wahlrechts sicherten sie sich gegenüber den afrikanischen Arbeitern staatlichen Schutz. 3. Die weiße Gewerkschaftsbewegung wurde nach einer massiven Niederlage in der bürgerkriegsähnlichen Streikbewegung und Rebellion von 1922 (Rand-Revolte) in ein bürokratisches Industrieausschußsystem (Industrial Councils) eingebunden, in dem Tarifverhandlungen stattfinden, wobei die Arbeitgeberverbände und die staatliche Arbeitsverwaltung dominieren. 4. Die afrikanische Gewerkschaftsbewegung hat eine lange Geschichte. Der Organisationsgrad schwarzer Arbeiter war wiederholt, nämlich 1920-1928, 19461950 und 1955-1960 größer als am Anfang der siebziger Jahre. Jeden organisatorischen Aufschwung hat der südafrikanische Staat mit Duldung der weißen,
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teilweise auch der farbigen Arbeiter mit gesetzlichen und polizeilichen Mitteln zerschlagen. 5. Der Organisationsgrad der weißen Arbeitnehmer liegt bei nur 25 Prozent, der der schwarzen lag 1979 bei ca. 2 Prozent, heute dürfte er ca. 12 Prozent betragen. Diese organisatorische Schwäche wird durch den großen Gegensatz von qualifizierten Handwerkern und Facharbeitern auf der einen und un- und angelernten Arbeitern auf der anderen Seite verstärkt. Die Lohngegensätze sind extrem weit über das in Industrieländern übliche Maß zugespitzt. Die Entwicklung der weißen Gewerkschaften aus einer Handwerkerbewegung heraus und das britische Vorbild haben zu einer Zersplitterung der Gewerkschaftsorganisation geführt. Insbesondere den weißen Gewerkschaften ist der Sprung von der berufsorientierten Handwerkergewerkschaft zur Industriegewerkschaft nicht gelungen. Die historische Chance der schwarzen Gewerkschaften liegt nicht nur darin, die übergroße Mehrheit der Arbeiter als Organisationspotential zu haben, sondern auch darin, daß bei ihnen von vornherein der Industriegewerkschaftsgedanke vorherrschend ist. Die fortschreitende Industrialisierung und die damit verbundene Rationalisierung und Arbeitsteilung greift den Status der Handwerker und der Facharbeiter an. Dies wird zur Strukturschwäche der weißen Gewerkschaften. Der Facharbeitermangel durch Ausweitung der Industrialisierung - bei Aufsplitterung der Tätigkeiten - stärkt die Verhandlungsposition der afrikanischen Gewerkschaften. Allerdings bleibt zu beachten, daß die große Zahl der Landarbeiter, große Teile der Wanderarbeiter aus den Homelands und den umliegenden Staaten - insbesondere im Bergbau - und die Arbeiter im kleinen Dienstleistungsbereich ebenso wie die wachsende Zahl der Arbeitslosen (z.Z. ca. 25 Prozent - ohne ländliche Arbeitslosigkeit) kaum organisierbar sind. Auch für die Afrikaner gilt dementsprechend, was früher für die weißen Arbeiter, später für die farbigen und indischen Arbeiter galt, daß sich die qualifizierten Arbeiter zuerst organisieren. 6. Der Organisationsgrad der schwarzen Arbeiter bleibt aber vor allem deshalb noch gering, weil die Gewerkschaftsentwicklung in Südafrika auch nach der Legalisierung von afrikanischen Gewerkschaften auf massive Behinderung und Verzögerungstaktiken der Firmen stößt und sich in einem Umfeld totalitärer politischer und polizeilicher Verfolgung vollzieht. Eines der Hauptmittel des Systems ist, wenn es denn schon Organisationsversuche der Afrikaner nicht verhindern kann, frühzeitig und systematisch immer wieder Führungspersonen der Gewerkschaften auszuschalten. Entlassung aus den Betrieben und Ausweisung in die Homelands sind die milden Methoden, Bannung, Internierung, Folter und politischer Mord die konsequent angewandten harten Methoden. 7. Auch in der schwarzen Gewerkschaftsbewegung gibt es politische Richtungskämpfe. Diese ergeben sich notwendig aus den enormen Herausforderungen, denen sie gegenübersteht: Soll man sich auf betriebliche und im engeren Sinne gewerk-
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schaftliche Probleme beschränken, oder ist es unvermeidlich, das Umfeld der Arbeiterschaft, die erbärmlichen Lebensbedingungen, die Wohnungsfrage, die Transportfrage, die Bildungsfrage mit aufzugreifen, insbesondere weil eine Arbeiterpartei im System der Apartheid verboten ist? Soll man sich auf die bürokratischen Restriktionen des Staates, die auf Kontrolle, Spaltung, Vertiefung der Rassentrennung und Einbindung in Arbeitgeberinteressen aus sind, aus taktischen Gründen einlassen, oder verspielt man Prinzipien und Glaubwürdigkeit? Die Gewerkschaftsbewegung wird dementsprechend - und dies bei hohem Risiko - in einem umfassenderen Sinn politisch, als dies Gewerkschaftsbewegungen in einem parlamentarischen System zu sein pflegen. Schon die reine Tatsache gewerkschaftlicher Organisation der rassisch Unterdrückten an sich ist ein Politikum ersten Ranges. 8. Die Entwicklung afrikanischer Gewerkschaften ist vorwiegend auf den Bereich der verarbeitenden Industrie beschränkt. Noch ist der Bergbau mit seinem System der Arbeiterkasernierung und der Wanderarbeit weitgehend ausgeklammert. Bei Arbeitskämpfen im Bergbau gibt es kaum Verhandlungen, sondern Tote und Verletzte. Der Bergbaubereich des "liberalen" Oppenheimers ist streng bewacht und abgeschirmt. Die deutsche Bergbaugewerkschaft hat hier eine internationale Aufgabe. 9. Arbeiterpolitik ist nicht nur Gewerkschaftspolitik und Lohnbewegung. In den beiden großen Aufschwungphasen der afrikanischen Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg und in den späten siebziger Jahren ist die Ausdehnung der Gewerkschaften stets parallel zu politischen Bewegungen verlaufen. In den späten vierziger und den fünfziger Jahren verlangte die afrikanische Nationalbewegung die Herstellung der Freizügigkeit und protestierte gegen die Paß- und Polizeigesetze. Die Gewerkschaften beteiligten sich und wurden zerschlagen. In den siebziger Jahren ging es um grundlegende Versorgungsbedürfnisse. Die Schüler und Studenten von Soweto verlangten endlich angemessene Bildungschancen, um in der Arbeitswelt nicht auf die untersten Lohnstufen festgelegt zu werden. Demonstrationen gegen Mieterhöhungen, für sichere und menschenwürdige Wohnversorgung bestimmten die politischen Aktivitäten in den großen Wohnsiedlungen; Sicherung der Altersversorgung wurde zum bedrängenden Thema. Ohne Stimme im politischen System läßt sich gewerkschaftliche Politik nicht von dem allgemeinen Kampf gegen die Apartheid isolieren. Es ist kein Zufall, daß der Staat ein Politikverbot für Gewerkschaften betreibt.
Die Rassentrennung in der Arbeitswelt Südafrikas ist fast 150 Jahre alt Aus der Rassentrennung hat sich ein tief in die Gesellschaft dieses Landes eingefressenes Geschwür der Diskriminierung entwickelt, das nicht nur durch Gesetze und Polizeistaatstrukturen abgesichert ist. So wird z.B. behauptet, daß bis 1979 nur
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3 Prozent der Arbeitsplätze gesetzlich für Weiße reserviert waren. Dennoch wurde Arbeitsplatzreservierung für Weiße umfassend praktiziert. Drei Hauptübel der Arbeitsverhältnisse in Südafrika haben einen sehr frühen Ursprung: - die Behinderung der Freizügigkeit der Arbeiter durch Paßgesetze, - die Verbote, qualifizierte Arbeit durch Afrikaner ausführen zu lassen, - der extreme Lohnunterschied zwischen weißen und schwarzen Arbeitern (in Europa und Amerika erhält ein ungelernter Arbeiter im Durchschnitt 60 Prozent des Lohnes eines Facharbeiters, in Südafrika nur 10 Prozent). Die Behinderung der Freizügigkeit reicht in Südafrika am weitesten zurück. Sie hatte ihren Ursprung in der Sklaverei (bis 1834) und wurde in der Landwirtschaft der britischen Kolonien des Kaplandes und Natals sowie in den Burenrepubliken Transvaal und Oranje Freistaat durch den "Masters and Servants Act" (seit 1841) bereits im 19. Jahrhundert durchgesetzt. Die relativ wenigen weißen Farmer (englisch oder burisch sprechend) hatten sich, gestützt auf das Militär und Bürgerkommandos, mehr und größere Ländereien angeeignet, als sie selbst bewirtschaften konnten. Solange die Afrikaner noch selbst ausreichend Land hatten, ließen sie sich nicht aus ihrer Vieh- und Bauern Wirtschaft herausdrängen. Aber auch auf den von Weißen unbewirtschafteten Teilen siedelten sich Afrikaner wieder an und versuchten gegen Pacht und Arbeitsleistungen weiter selbständig zu wirtschaften. Ein Teil der afrikanischen Bauern konkurrierte ohnehin erfolgreich um den städtischen Nahrungsmittelmarkt und teilweise sogar im Export. Deshalb war die Arbeiterrekrutierung für die Farmer schwierig. Aus diesem Grund wurden die aus der Sklaverei stammenden Paßgesetze angewandt. Sie machten die Freizügigkeit der Schwarzen und sämtliche Vertragsverhältnisse vollständig von der Willkür der Farmer abhängig. Alle kritischen Verhaltensweisen wurden kriminalisiert, Arbeitsunterbrechungen unter Strafe gestellt. Als sich mit dem Aufschwung des Bergbaus der Arbeitskräftebedarf erhöhte, verschärfte man die Politik der Kontrolle. Das 1896 erlassene Paßgesetz wandte die wesentlichen Regelungen des "Masters and Servants Act" auf die Bergarbeiter an. Jeder Afrikaner mußte nun offen eine Paßmarke tragen. Vor allem ging man gegen die Landnutzung der Afrikaner vor. Mit dem Landgesetz von 1913 wurde geregelt, daß kein Afrikaner Land in "weißen" Gebieten erwerben durfte. Ihm wurde die Pacht auf dem Land Weißer verboten. Eine Kommission sollte festlegen, daß nur 13 Prozent des Landes als afrikanische Reservate gelten. Das Ziel war, den Afrikanern den Rückhalt in der Landwirtschaft zu nehmen, um sie so zur Lohnarbeit zu Bedingungen der Bergwerksindustrie und der Landwirtschaft zu zwingen. Spezielle Hütten- und Kopfsteuern sollten dazu beitragen, sie zum Erwerb von Bargeld zu veranlassen. Die Arbeitsbedingungen im Bergbau - zunächst in den im Tagebau betriebenen Diamantenminen von Kimberley (seit 1868) - fügten neue Elemente in die Arbeitsver-
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fassung Südafrikas auf Dauer ein: extreme Lohndifferenzen, Kontrolle der Afrikaner auch im Wohnbereich (Wohnlager) und Wanderarbeit. Die extremen Lohndifferenzen kamen aus drei Gründen zustande: Erstens waren die in Europa angeworbenen oder aus Europa zugewanderten Handwerker und Bergleute leicht organisierbar und konnten sehr hohe Lohnforderungen und eine herausgehobene Behandlung durchsetzen. Zweitens sollten fachlich schwierige und vor allem auch gefährliche Arbeiten mit Sprengstoff, der Umgang mit Kesseln u.ä. in der Hand von Fachleuten bleiben. Fachzertifikate wurden durchgesetzt. Die Handwerker organisierten sich nach diesen Fachqualifikationen. Da Afrikaner, auch wenn die entsprechende Erfahrung im Bergwerk vorlag, grundsätzlich keine Zeugnisse bekamen, entwickelte sich von Anfang an eine Rassenschranke. Drittens wurde Berufsausbildung in Südafrika, einschließlich der gesamten Lehrlingsausbildung, die seit 1922 gesetzlich geregelt ist, eine weiße Angelegenheit. Bereits 1911 waren Nichteuropäer aufgrund des Bergwerks- und Munitionsgesetzes von wichtigen bergmännischen Tätigkeiten, insbesondere dem selbständigen Umgang mit Sprengstoffen, ausgeschlossen worden. Unmittelbarer Anlaß für das Gesetz war, daß sich die weiße Bergarbeiterschaft gegen die von der Bergwerkskammer eingeleitete Anwerbung von chinesischen Arbeitern mit Kampfmaßnahmen wehrte. Die Kontrolle des Wohnbereichs der Afrikaner entwickelte sich zunächst aus dem Versuch der Bergwerkseigner, Diamantendiebstähle und Schmuggel zu unterbinden. Dies traf auch auf die weißen Arbeiter zu. Diese wehrten sich aber mit Kampfmaßnahmen gegen die körperliche Durchsuchung. Um die Afrikaner kontrollieren zu können, entschloß sich das Management der Bergwerke, die Wohnraumnot der Afrikaner zu nutzen. Sie schufen aus Baracken bestehende Wohnlager und richteten scharfe Ein- und Ausgangskontrollen ein. Hieraus entwickelte sich ein umfassendes Kontrollsystem. In den Wohnlagern befanden sich die Läden der Bergwerksgesellschaft mit überteuerten Waren. Gewerkschaftsaktivisten ließen sich am Tor fernhalten, bei Streiks konnte man die Lager schließen und so die Arbeiter praktisch gefangennehmen und die einzelnen Wohnlager voneinander trennen. Den Bergwerksgesellschaften kam zustatten, daß der größte Teil der afrikanischen Arbeiter als Wanderarbeiter ohne Familie kam. Mit einem befristeten Vertrag wollten sie einen Pflug und ein Gewehr erwerben, die Aufwendungen für die Hochzeit verdienen und Bargeld zum Begleichen der Hütten- und Kopfsteuer beschaffen. Das Lohnsystem richtete sich von vornherein auf die Wanderarbeit aus, es pendelte sich auf einem Niveau ein, das es selbstverständlich werden ließ, daß davon die Familie nicht ernährt werden konnte. Die Familien und die Alten mußten sich aus der kärglichen Landwirtschaft in den Reservaten (später Homelands) oder in den Nachbarländern erhalten. Das doppelte Elend der südafrikanischen Arbeiter, insbesondere der Wanderarbeiter, verschärfte sich in dem Maße, in dem Land für
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Afrikaner verknappt wurde und die Bevölkerungsentwicklung und Überlastung der überfüllten Reservate (und Homelands) die Ernährungsbasis für die Familien und die Alten aushöhlte.
Der Schutz der weißen Arbeit Die weiße Arbeiterschaft hat im Laufe des Industrialisierungsprozesses die Bedrohungen, die von Wirtschaftskrisen und den Folgen von Mechanisierung und Rationalisierung ausgingen, durch Anlehnung an staatlichen Schutz abgewehrt und die Folgen auf die schwarze Arbeiterschaft abgewälzt. Die Wirtschaftskrisen nach dem Burenkrieg (1899-1902) und während des Ersten Weltkrieges sowie die gleichzeitige Ausweitung des Bergbaus brachten Bewegung in die südafrikanische Arbeitswelt. Seit dem Ersten Weltkrieg weitete sich die Industrialisierung aus. Zum Bergbau kamen Konsumgüterindustrie und Einrichtungen des Dienstleistungsgewerbes hinzu. Zugleich geriet die Landwirtschaft - insbesondere die kleinen Betriebe der burischen Farmer - in eine Krise. Landflucht setzte ein, und eine große Zahl unqualifizierter weißer, meist afrikaanssprechender Zuwanderer aus den Landgebieten drängten als "arme Weiße" auf den Arbeitsmarkt. Wegen des bestehenden Lohngefälles zwischen Schwarz und Weiß entwickelte sich im Bergbau der Trend, nicht nur die Zahl der hochbezahlten Facharbeiter zu begrenzen und Arbeitsplätze für Un- und Angelernte auszuweiten, sondern auch billigere Afrikaner den "armen Weißen" vorzuziehen, die höhere Löhne verlangten. Die weißen Arbeitnehmer hatten in dieser Frage stets mit großer Härte reagiert. Arbeitskämpfe wurden in Südafrika von Eigentümern der Bergwerke, Staat und Arbeitern mit enormer Schärfe geführt. 1907, 1913/14 und 1922 wurde bei Streikaktionen der weißen Gewerkschaften das Kriegsrecht eingesetzt. 1907 war es darum gegangen, den Einsatz chinesischer Arbeiter rückgängig zu machen. Streikergebnis war, daß die Weißen ein Lohnniveau für sich durchsetzten, das sich grundsätzlich an den Lebensstandards in Europa zu orientieren habe. Damit wurde das Prinzip des Lohnes für "civilized labour" - für "zivilisierte" Menschen, im Gegensatz zu den angeblich niedrigen Bedürfnissen der "unzivisierten" (womit die Afrikaner gemeint waren) - erkämpft. 1913/14 wurde, obwohl der Staat Militär einsetzte und die Streikführer verhaftete, die Tariffähigkeit der weißen Gewerkschaften gegenüber der wichtigen Bergwerkskammer durchgesetzt. 1922 ging es darum, die Entlassung angelernter weißer Arbeiter zugunsten billigerer schwarzer Arbeiter zu verhindern. Der Streik weitete sich in eine offene Rebellion gegen den Staat aus und wurde zu einer bürgerkriegsähnlichen Schlacht um den Witwatersrand. Die Regierung Smuts ging mit Maschinengewehren und
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Bombenflugzeugen gegen die Arbeiter vor: 247 Menschen wurden getötet, 591 Verletzte registriert. Danach wurden die Grundlagen des Tarif- und Arbeitsrechtes in Südafrika in den Grundzügen auf Jahrzehnte durch das Industrie-Schlichtungsgesetz (Industrial Conciliation Act) von 1924 festgelegt. Regierung und Bergwerkskammer waren an der Einschränkung des Streikrechtes und an einer staatlichen Kontrolle des Tarifsystems interessiert. Als Angebot an die weiße Arbeiterschaft wurde der Ausschluß der Afrikaner aus diesem Tarif- und Schlichtungssystem festgeschrieben. So wurde vom Staat ein selbstverwaltetes bürokratisches System der Tarifverhandlungen errichtet, das auch für Kranken-, Alters- und Arbeitslosenversicherung zuständig war. Hierzu richtete man Industrieausschüsse (Industrial Councils) ein, die durch Arbeitgeber und weiße Gewerkschaften paritätisch besetzt waren. Afrikanische Interessen wurden bei späteren Novellierungen durch einen Beamten der Arbeitsverwaltung vertreten, so daß eine Mehrheit von Arbeitgebern und Staat gegen die Gewerkschaften möglich war. Tarifverträge veröffentlichte man als Rechtsverordnung; ihre Einhaltung überwachten bei den Industrieausschüssen angestellte Inspektoren - oft ehemalige Gewerkschaftsfunktionäre. Die Niederlage der Bergarbeiter in der Rand-Revolte 1922 und die Angebote von Staat und Bergwerkskammer, die Rassenschranke durch die Errichtung des Industrieausschußsystems zu garantieren und den weißen Arbeitern staatlich garantierte Sozialleistungen zuzusagen, beendete weitgehend die Periode der gewerkschaftlichen Kämpfe der weißen Arbeiterschaft. Allerdings blieb die weiße Arbeiterschaft politisch in der Initiative. Die vom Lande einströmende afrikaans-sprechende Bevölkerung organisierte sich zusammen mit der burischen Farmwirtschaft und der burischen Intelligenz sowie den gegen die Übermacht des britischen Kapitals ankämpfenden burischen Kapitalgruppen zu einem offensiven burischen Nationalismus. Die enttäuschte englischsprachige Arbeiterschaft beider Flügel der South African Labour Party (SALP) schloß mit diesem burischen Nationalismus einen Pakt. Die verhaßte Regierung Smuts wurde 1924 abgewählt und nun eine nationalistische Industrialisierungspolitik mit einer Verschärfung der "civilized-labour"-Politik vorangetrieben. Das Problem der "armen Weißen" wurde durch eine systematische Beschäftigungspolitik zugunsten der afrikaans-sprechenden Arbeiter gemildert. Viele kamen beim Ausbau des öffentlichen Dienstes, vor allem bei Bahn und Post unter. Die weiße Gewerkschaftsbewegung war nach einer massiven Niederlage in das Industrieausschußsystem von Staat und Arbeitgeberverbänden integriert worden. Die Afrikaner waren ausgeschlossen worden, wenn auch die Organisation unregistrierter schwarzer, aber auch gemischtrassischer Gewerkschaften bis 1956 in Südafrika möglich blieb. Vertreter beider Flügel der Labour Party und eine Reihe führender weißer Gewerkschafter waren sich der Risiken dieses Ausschlusses bewußt, überließen sie doch der südafrikanischen Industrie eine kontrollierbare
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industrielle Reservearmee, die die Löhne drücken würde. Der Parteivorsitzende der SALP sprach dies bei Verabschiedung des Gesetzes offen aus, das neue Arbeitsrecht würde die Afrikaner quasi in einem System der Sklaverei halten. Die weißen Arbeiter hätten dementsprechend langfristig eine immer geringere Chance, ihre Arbeitsplätze zu sichern, wenn die Bergwerksmagnaten eine so umfassende Kontrolle über die Afrikaner gewännen. Indessen konnte die weiße Gewerkschaftsbewegung ihr Dilemma nicht durchbrechen. Sie wollte einerseits die Privilegien der Weißen schützen und ausbauen, sah andererseits die Diskriminierung der Schwarzen langfristig auch als Gefahr für das weiße Lohn- und Beschäftigungsgefüge an. Auch die Radikalisierung der weißen Gewerkschaftsbewegung, nachdem kommunistische Gewerkschaftsführer nach 1924 an die Spitze des weißen Dachverbandes gewählt worden waren, änderte an dieser Zweigleisigkeit nichts. Zwar führten sie die Gewerkschaften insofern nach links, als sie das Prinzip der Industriegewerkschaft förderten und von den auf die Handwerke fixierten zersplitterten Berufsgewerkschaften wegentwickeln wollten. Eine Reihe kommunistischer Gewerkschaftsführer gründete schwarze Gewerkschaften parallel zu weißen Gewerkschaften, aber in der praktischen Gewerkschaftsarbeit wurde das Prinzip der "civilized labour", der Ausbau der sich auf die Handwerke stützenden Berufsgewerkschaften (Ausnahme wurde die Bergarbeitergewerkschaft) und die Abschließung der qualifizierten Berufe gegen unerwünschten - weil afrikanischen - Nachwuchs in der Lehrlingsausbildung praktiziert. Das Lehrlingsgesetz von 1922 schloß zwar formell keine Afrikaner aus, aber ein Lehrling mußte acht Schuljahre nachweisen. Dies war wegen der massiven Diskriminierung im Bildungswesen für Afrikaner praktisch unerreichbar. Außerdem saßen nur Vertreter registrierter Gewerkschaften zusammen mit den Arbeitgebern in den Lehrlingsausschüssen. Dort wurde die Aufnahme von afrikanischen Lehrlingen blockiert, ein System, das bis 1978 konsequent praktiziert wurde und bis heute informell sehr wirkungsvoll ist. Das Dilemma der weißen Gewerkschaften verschärfte sich im Verlauf der Industrialisierung zunehmend. In den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkrieges wurden die Barrieren, die zum Schutz des Handwerkermonopols und seiner Standards errichtet waren, immer häufiger unterlaufen. Arbeitsvorgänge wurden in Teilschritte mit geringeren Qualifikationsanforderungen aufgebrochen und neue Berufe unterhalb der Qualifikation als Handwerker entwickelt. In der Leichtindustrie, insbesondere in der Textil- und Lederindustrie, nahmen Jugendund Frauenarbeit der Weißen zu - mit den auch in Südafrika üblichen Lohndiskriminierungen. In der Kapprovinz übernahmen immer mehr Mischlinge, in Natal die Inder, derartige teilqualifizierte Tätigkeiten. Auch die überlange Ausbildungszeit von fünf bis sechs Jahren wurde eine Quelle billiger Arbeit. In dieser Lage vertrieb die große Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre erneut viele unqualifizierte afrikaans-sprechende Weiße vom Lande in die Bergwerke, die wegen des starken Anstiegs des Goldpreises wie so oft in Krisenzeiten stark expandierten.
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Die Gewerkschaften haben auf diese Entwicklungen sehr unterschiedliche organisatorische und politische Antworten gefunden. Die Lage der Jugendlichen und Frauen in den neuen Leichtindustrien erforderte auch die Organisation von an- und ungelernten Arbeitern. Die große Zahl der Mischlinge und Inder in Kapstadt und Durban, Schwerpunkte der Leichtindustrie, förderte die Bereitschaft der kleinen Zahl weißer Handwerker und Facharbeiter in diesen Gebieten, sich in gemischtrassischen Gewerkschaften zu organisieren (jedoch ohne Afrikaner, die von registrierten Gewerkschaften nicht organisiert werden konnten). Dort, wo die Fachqualifikation durch die Ausweitung angelernter Arbeit bedroht war, entstand die Bereitschaft auf weißer Seite, zur Absicherung der Arbeitsplatzsicherheit und des Standards qualifizierter Arbeit die Rassenschranke organisatorisch zu überschreiten. Es ist die These dieses Beitrages, daß sich Ähnliches seit den siebziger Jahren auch gegenüber der afrikanischen Arbeiterschaft abzuzeichnen begann, aber die Jahrzehnte verschärfter Diskriminierung und politischer Verfolgung inzwischen ein schwarzes Nationalund Organisationsbewußtsein geschaffen haben, das die späten Organisationsversuche einiger weißer Gewerkschafter als zu spät und zu halbherzig ins Leere laufen lassen wird. Geschichtlich kommt den so entstandenen gemischtrassischen Gewerkschaften von Weißen, qualifizierten Mischlingen und Indern das Verdienst zu, daß sie dem aufkommenden burischen Nationalismus mit seiner radikalen Rassentrennung auch in der Gewerkschaftsbewegung über Jahrzehnte ein Gegenkonzept entgegengehalten haben, wenn auch mit einem langfristig verheerenden Kompromiß, d.h. dem Ausschluß der Afrikaner. Das Tarifkonzept der gemischtrassischen Gewerkschaftsbewegung lautet: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Das war die Gegenposition zu den vielen Manipulationsmöglichkeiten des Managements, das versuchte, fast gleichwertige Arbeitsplätze in sehr unterschiedlichen Lohnkategorien unterzubringen, um so die Lohndiskriminierung zunächst für Mischlinge und Inder, später für Afrikaner auch bei höherwertigen Arbeitsplätzen fortzusetzen und die hohen Löhne der weißen Facharbeiter und Handwerker zu unterlaufen. Die weißen registrierten Gewerkschaften wurden in Tarifverhandlungen in den Industrieausschüssen stets vor das Dilemma gestellt, entweder Arbeitsplatzbeschreibungen für die für Weiße reservierten Lohngruppen langfristig festschreiben zu lassen oder aber hohe Lohnabschlüsse zu akzeptieren und im Gegenzug Tätigkeitsfelder für billigere afrikanische Arbeiter freizugeben. Die weißen Arbeiter haben sich in der Regel für kurzfristige Lösungen entschieden, dabei aber neben erheblichen Lohnerhöhungen hohe Sozialleistungen durchgesetzt und stets dafür gesorgt, daß sie auch dort, wo Afrikanern neue Tätigkeitsfelder überlassen wurden, formal die Aufsicht führten. Damit vergrößerten sie aber zugleich das Interesse der Industrie, dieses aufwendige System weiter
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zu unterlaufen. Tarifverhandlungen weißer Gewerkschafter sind bis in die achtziger Jahre durch Kompromisse und Rückzugsgefechte nach diesem Prinzip geprägt. Auch die gemischtrassischen Gewerkschaften entgingen trotz ihrer Forderung nach Lohngleichheit diesem Dilemma nicht. Wenn nach diesem System die Afrikaner vor allem in den sechziger Jahren immer stärker in angelernte Tätigkeiten vorstießen und die weißen Arbeiter untere Lohngruppen räumten, überwog stets die Abwehrhaltung. Das Konzept der Integration durch eine Politik des gleichen Lohns für gleiche Arbeit blieb Programmpunkt - und oft auch nur Rhetorik einiger Gewerkschaftsführer aus gemischtrassischen Gewerkschaften. Manchmal war die Forderung gleicher Lohn für gleiche Arbeit auch nur der zynisch mißbrauchte Vorwand, um auf Job-Reservation und Rassendiskriminierung beharren zu können. Ausschlaggebend für die südafrikanische Gewerkschaftsbewegung wurde die wachsende Tendenz der weißen Gewerkschafter, sich immer systematischer auf ihre Mitglieder zu konzentrieren und die Ansätze zu gemischtrassischen Gewerkschaften massiv anzugreifen. Entscheidend wurde, daß große Teile der afrikaanssprechenden Arbeiterschaft dem politischen Programm des burischen Nationalismus folgten. Eine wichtige Etappe der Einbindung von Gewerkschaften in die Politik der Nationalen Partei bildete die Auseinandersetzung um die politische Kontrolle der Bergarbeitergewerkschaft, der Mine Workers Union. Sie war die eigentliche Verliererin bei den Auseinandersetzungen während der Rand-Revolte gewesen. Ein Teil der in den Bergwerken tätigen Handwerker hatte sich in Handwerksgewerkschaften organisiert. Die Bergarbeitergewerkschaft wurde zur eigentlichen Industriegewerkschaft der Weißen, in der die angelernten afrikaans-sprechenden Arbeiter überwogen. In der Weltwirtschaftskrise erhielt sie erneut Zustrom. Als in diesen Jahren die Führer des burischen Nationalismus in Wirtschaft, Kultur und Politik nationalistische Organisationen schufen, strebten sie auch die Vorherrschaft in der Gewerkschaftsbewegung an. Zunächst griffen sie in den Gewerkschaften, die vor allem afrikaans-sprechende Mitglieder hatten, die alte meist englischsprachige und sozialistisch orientierte Führungsschicht an. Die burischen Nationalisten wollten ein nationalistisch-christlich orientiertes Gewerkschaftsmodell durchsetzen. In einer Propagandaschlacht wurden "Kommunisten, Juden und Kaffemboeties" (Leute, die sich für Afrikaner - in diesem Fall für gemischtrassische Gewerkschaften - einsetzen) öffentlich und innergewerkschaftlich angegriffen, um so die alte Gewerkschaftsführung zu diskreditieren. Der Appell an rassistische, nationalistische und antisemitische Vorurteile sollte den Machtwechsel fördern. Vollständig gelang dieser Machtwechsel nur in der Bergarbeitergewerkschaft. Dort ließ sich die Tatsache ausnutzen, daß die bisherige Gewerkschaftsführung korrupt war. Sie machte überdies den entscheidenden Fehler, den Angriff durch ein Abkommen mit dem Management abwehren zu wollen. Sie boten dem Management wirtschaftsfriedliches Verhalten an. Als Gegenleistung sollte das Management die Gründung einer afrikaanssprachigen Gewerkschaft verhindern, indem es nur die al-
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te Bergarbeitergewerkschaft anerkannte und nur bei ihr organisierte Arbeiter beschäftigte ("closed shop" - Anstellungsmonopol für Mitglieder einer Gewerkschaft). Diese Taktik empfanden auch die englischsprachigen Bergarbeiter als Verrat am Gewerkschaftsgedanken und stimmten für den neuen afrikaanssprachigen Vorstand. In einigen anderen Gewerkschaften führte die Offensive der burischen Nationalisten zu Abspaltungen. Insgesamt wurden zunächst nur Teilerfolge erzielt. Aber es setzte sich doch in weiten Teilen der afrikaans-sprechenden Arbeiterschaft der Gedanke ausschließlich weißer Gewerkschaften durch. Sie gründeten eigene Organisationen. Auch die englisch sprachigen Arbeiter gerieten in den Sog dieser Entwicklung. Die alte südafrikanische Arbeiterpartei SALP wurde in den Wahlkämpfen der Zeit um die Wirtschaftskrise stark geschwächt. Ohnehin hatte sie den Fehler begangen, die korrupte Führung der Bergarbeitergewerkschaft zu stützen. Die Umorientierung der Arbeiter in den ausschließlich weißen Gewerkschaften begann sich auf das Wahlverhalten niederzuschlagen. Der rechte und extrem rassistische Flügel der Nationalen Partei unter Malan konnte den entscheidenden Wahlsieg 1948 unter anderem auch deshalb erringen, weil ihm die Stimmen der wichtigen Bergarbeiterbezirke zufielen. Von nun an vertiefte sich die Gewerkschaftsspaltung in Südafrika. Bei den Versuchen, Gewerkschaftsdachverbände zu organisieren, kamen Richtungs- und Rassengegensätze immer stärker zum Ausdruck. An den Flügeln organisierten sich die afrikaans-sprechenden weißen Gewerkschaften und die oft von kommunistischen oder ehemals kommunistischen Gewerkschaftern gegründeten nicht registrierten schwarzen Gewerkschaften. In der Mitte standen die gemischtrassischen Gewerkschaften und zwischen diesen Polen und um das Zentrum herum eine Reihe von Einzelgewerkschaften, die sich aus unterschiedlichsten Gründen aus den Richtungsfragen herauszuhalten versuchten.
Die afrikanische Gewerkschaftsbewegung hat eine lange Geschichte Der Organisationsgrad schwarzer Arbeiter war wiederholt - nämlich 1920-1928, 1946-1950 und 1955-1960 - zeitweilig größer als am Anfang der siebziger Jahre. Es stellt sich deshalb die Frage, warum die Gewerkschaftsbewegung der Afrikaner hundert Jahre nach Öffnung der Bergwerke und fünfzig Jahre nach Beginn der Industrialisierung im engeren Sinn und damit erst seit knapp zehn Jahren eine Kraft entwickeln konnte, die Unternehmen und Staat zur - wenn auch zögernden Anerkennung von Gewerkschaftsrechten von Afrikanern zwang und warum trotz dieser Erfolge die afrikanische Gewerkschaftsbewegung immer noch am Anfang steht und einen geringen Organisationsgrad aufweist. Auch hier wird ein Blick in die Geschichte einen Teil der Antwort geben.
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Die afrikanischen Gewerkschaften hatten vor ihrem Anwachsen ab 1974 drei Höhepunkte erfahren. Kurz vor der großen Weltwirtschaftskrise waren zwischen 1924 und 1928 erstmals weit über 100 000 Afrikaner in einer großen Gewerkschaft organisiert. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, kurz bevor die burische Nationale Partei 1948 an die Macht kam, blühte die afrikanische Gewerkschaftsbewegung erneut auf. Damals schon wurde ernsthaft vom Staat erwogen, die afrikanischen Gewerkschaften anzuerkennen. Schließlich beflügelte der afrikanische Nationalismus der fünfziger Jahre und der Kampf gegen die verschärfte Apartheid-Gesetzgebung auch die afrikanische Gewerkschaftsbewegung. Dem Staat gelang es in allen drei Fällen, die junge Gewerkschaftsbewegung entscheidend zu schwächen und zurückzuwerfen. Gegen die Gewerkschaften gerichtete Gesetze wurden erlassen, die Führer verfolgt, verhaftet, ins Exil getrieben oder auch hingerichtet. Streiks wurden mit den Mitteln des Kriegsrechtes oder durch massiven Polizeieinsatz gebrochen. Die Geschichte der afrikanischen Gewerkschaften ist deshalb zu einem wichtigen Teil die Geschichte der Verfolgung ihrer Führer. Die weiße und auch die gemischtrassische Gewerkschaftsbewegung hat diese Wellen der Unterdrückung teils geduldet, teils gefördert. Ihr Verhalten hat wesentlich dazu beigetragen, daß sich die afrikanischen Gewerkschafter und Arbeiter in ihrer großen Mehrheit für einen eigenen Organisationsweg entschieden haben.
Frühe Kampfformen Lange vor dem Aufschwung einer afrikanischen Massengewerkschaft, die Clements Kadalie seit 1918 aufbaute, hat es individuelle und kollektive Arbeitskämpfe der afrikanischen Arbeiter gegeben. Da aber vor allem durch die Paßgesetze praktisch jede Meinungsäußerung und Handlung von afrikanischen Arbeitern kriminalisiert wurde, blieben zunächst nur defensive Widerstandsmethoden. Dies galt insbesondere für die Wanderarbeiter. Sie wurden von Anwerbeagenturen in die streng kontrollierten Wohngebiete nach einem Quotensystem eingewiesen, hatten also zunächst keinerlei Einfluß auf die Wahl ihres Arbeitsplatzes. Das Wichtigste wurde, den schlimmsten Auswirkungen dieser Zuweisung auszuweichen, insbesondere den brutalsten Arbeitgebern und den berüchtigtsten Bergwerken zu entgehen. Mundpropaganda bildete die Informationsgrundlage, Weglaufen vom zugewiesenen Arbeitsplatz ohne Paß oder mit gefälschtem Paß war das Hauptmittel in der Hoffnung, daß man der Polizei entging und sich Arbeitgeber fanden, die das Quotensystem unterliefen. In "schlechten" Bergwerken war insbesondere die Ernährung katastrophal, oder aber es fielen dauernd Schichten aus, was Lohnkürzungen bedeutete. Andere
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Hauptübel waren Mißhandlungen und zwangsweise Vertragsverlängerungen. In zeitgenössischen Berichten wird mitgeteilt, daß in solchen Bergwerken von 1000 beschäftigten Arbeitern im Extremfall 618 weggelaufen waren, so 1908 von der Simmer Deep Mine. Verschärfte Kontrolle der Freizügigkeit der Afrikaner wurde deshalb tatsächlich eine zentrale Frage für Staat und Bergwerkskammer. Bei sich drastisch verschlechternden Löhnen versuchten vor allem qualifizierte Bergarbeiter, die Erneuerung ihres Vertrages zu verzögern, und zogen sich in die Reservate zurück. Dort mußten sie sich allerdings des Drucks der Anwerbeagenten auf die korrumpierten Häuptlinge erwehren. Kollektives Verhalten, zumindest in kleineren Arbeitsgruppen, wurde notwendig, wenn gegen Prämien höhere Leistungen verlangt wurden. Die erfahreneren Arbeiter mußten den Neulingen klarmachen, daß diese akkordähnliche Leistungssteigerung nur als Test für die Leistungsfähigkeit zum Normallohn eingeführt wurde. Wichtigste organisatorische Form kollektiven Verhaltens wurde zunächst der informelle landsmannschaftliche Zusammenschluß. Die Wanderarbeiter setzten nach Möglichkeit bei den Werbeagenturen durch, daß sie nur in Gruppen von Freunden, Nachbarn und Verwandten aus der gleichen Gegend eingesetzt wurden. So ließ sich die Vereinsamung in den Wohnlagern mildern, Hilfe im Krankheitsfall und Beistand im Sterben erhoffen. Nur in den landsmannschaftlichen Gruppen ließen sich Disziplinarmaßnahmen wie Essensentzug umgehen, weil die Kollegen von ihren spärlichen Essensrationen abgaben. Die landsmannschaftlichen Gruppen hatten zum Teil Führer aus den Familien der Häuptlinge. Diese schrieben Beschwerden an die Verwaltung oder an die Häuptlinge der Heimatdistrikte. Im Interesse der Aufrechterhaltung des Rekrutierungssystems, für das man die Häuptlinge benötigte, wurde dann schon einmal Druck auf das Management der Bergwerke ausgeübt. 1905 wurden 3585 Lohnbeschwerden bei den Paßämtern von Witwatersrand vorgetragen. Trotz der Streikverbote kam es zu kurzen Demonstrationsstreiks und Demonstrationszügen von den Wohngebieten zur Bergwerksverwaltung, mitunter auch zu tagelangen Streiks. Diese Widerstandsbereitschaft, die für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nachgewiesen ist, wurde durch eine Serie von Gegenmaßnahmen ausgehöhlt. Das Rekrutierungssystem wurde zentralisiert. Neue Wanderarbeiter wurden durch einen Anwerbevertrag mit Mocambique auf den Arbeitsmarkt gebracht, außerdem wurden chinesische Kulis als Konkurrenz eingesetzt. Das Landgesetz von 1913 erschwerte den zeitweiligen Rückzug aufs Land und in die Landwirtschaft, eine große Rinderpest hatte ohnehin die viehwirtschaftliche Basis erschüttert.
Die Industrial and Commercial Workers' Union 1918-1928 Nach dem Ersten Weltkrieg, der eine Kombination aus Nachkriegskrise und Wirtschaftsausweitung brachte, erfaßte die allgemeine Mobilisierung der Arbeiterschaft auch die Afrikaner. Der Streik der 35 000 afrikanischen Bergleute für
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höhere Löhne 1920 verlief erfolgreich. Der Versuch weißer Sozialisten, diesen Erfolg auszubauen und sofort eine afrikanische Bergarbeitergewerkschaft zu gründen - die Industrial Workers of Africa - mißlang. An- und ungelernte Wanderarbeiter ließen sich in den scharf kontrollierten Wohnlagern nicht so ohne weiteres in einer Industriegewerkschaft organisieren. Die erste afrikanische Massengewerkschaft - eben Clements Kadalies "Industrial and Commercial Workers Union" (ICU) - ging andere Wege. Kadalie gründete zwar eine Gewerkschaft, die sich auf alle Branchen erstreckte; die ICU wurde aber eher eine Protest- und Massenbewegung als eine an der betrieblichen Arbeit orientierte Gewerkschaft. Sie soll 1924 ca. 50 000, auf ihrem Höhepunkt 1927 mehr als 100 000 Mitglieder gehabt haben. Autoren, die von einer geringeren Mitgliederzahl ausgehen (untere Schätzungen liegen bei 30 000), weisen auf die Massenausstrahlung dieser Gewerkschaft hin, die für große Teile der afrikanischen Bevölkerung ein Symbol der Hoffnung und der Anerkennung ihrer Menschenwürde wurde. Die ICU orientierte sich nicht an dem für Südafrika üblichen englischen Gewerkschaftsmodell. Clements Kadalie und der Hauptorganisator der Gewerkschaft in Natal, Champion, betonten die Elemente der afrikanischen Selbstbefreiung und afrikanischer Führung. Sie sprachen die Probleme der allgemeinen Diskriminierung an und organisierten lieber Massenversammlungen als gewerkschaftliche Alltagsarbeit. Aber sie gerieten damit in vielfältige Widersprüche. Sie nahmen die Organisationshilfe der britischen und der weißen Gewerkschaften an und akzeptierten die Hilfe der südafrikanischen kommunistischen Partei, die multirassisch organisiert war. Damit ging der afrikanische Selbstbefreiungsversuch viele Kompromisse mit anderen Modellen und Strömungen ein. Die ICU ist nach wenigen Jahren gescheitert. 1928 war der Höhepunkt überschritten. 1929 war sie in sieben Organisationen zerfallen und 1931 faktisch am Ende. Zwei Hauptfaktoren erklären dieses Schicksal: 1. Die ICU organisierte Afrikaner ohne besondere Berufsqualifikation aus allen Branchen. Sie entwickelte keinen branchen- oder berufsmäßigen Schwerpunkt. Ein wesentlicher Teil ihres Anhanges waren die Pächter - Landarbeiter in den weißen Farmgebieten - eine der gewerkschaftlich am schwierigsten zu organisierenden Gruppe. Die ICU konnte deshalb die Interessen ihrer einzelnen Mitglieder kaum wirksam vertreten. Da sie in den einzelnen Firmen nicht gut verankert war, fiel auch allzuoft Unterstützung von Streikaktionen aus. Hinzu kamen Führungsprobleme. Viele Gewerkschaftsorganisatoren waren ehemalige Lehrer, die zwar damit die erforderliche Grundbildung hatten, die den meisten Arbeitern - oft Analphabeten - fehlte, aber sie waren nicht aus den Betrieben hervorgegangen. Kadalie führte die Gewerkschaft sehr diktatorisch. Seine persönliche politische Entwicklung wurde deshalb für das Schicksal der ICU mitentscheidend. 2. Die wichtigste Veränderung war, daß Kadalie trotz seiner Wortradikalität den Anspruch auf afrikanische Selbstbefreiung immer mehr aufgab und die Anerken-
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nung seiner Bewegung durch die weiße Gewerkschaftsbewegung, den Staat und das liberale Establishment mit zum Teil unverständlichen Kompromissen suchte. Mit dem Führer der afrikaans-sprechenden Nationalisten, Hertzog, der gerade die Weißen gegen die Afrikaner organisierte, traf er Wahlabsprachen für die Wahl von 1924 (damals gab es noch ein beschränktes Stimmrecht für Farbige und indirekt für Schwarze in der Kapprovinz), ohne Gegenleistungen zu verlangen und zu erhalten. Bei Streiks ging er frühzeitig und ohne Fühlungnahme mit der Streikführung auf Vermittlungsvorschläge der Arbeitsverwaltung ein. Er beugte sich als einziger schwarzer Gewerkschafter dem öffentlichen Druck, schwarze und weiße kommunistische Gewerkschaftsfunktionäre auszuschließen, die als Konsequenz eine Serie von Gegengründungen organisierten (1926). Zugleich suchte er die Anlehnung an den britischen TUC und begann mit britischem Fachpersonal, das dann letztlich die Führung zu übernehmen versuchte, das britische Gewerkschaftsmodell mit großem bürokratischen Apparat, wissenschaftlichem Unterbau und spezieller Berufsorientierung auf seine Massenbewegung anzuwenden. Das traf seinen organisatorischen Ansatz, nämlich afrikanische Selbsterfahrung zu organisieren, an der Wurzel. Champion klagte nach der Rückkehr Kadalies aus England: "Unser Kadalie ist voller englischer Ideen ... Er ging als Schwarzer weg und kam als weißer Mann zurück." Kadalie wollte sich mäßigen, um anerkannt zu werden. Aber der Staat lehnte die Registrierung ab. Auch die weiße Gewerkschaftsbewegung verweigerte die Mitgliedschaft der ICU in der Dachorganisation. Im Gegenteil, das Aufkommen einer afrikanischen Massenbewegung alarmierte die weiße Gesellschaft. Der Ausschluß der Afrikaner im Industrieschlichtungsgesetz von 1924 zielte auch auf Kadalies Gewerkschaft. Darüber hinaus wurde mit dem Gesetz zur Verwaltung der Eingeborenen ein zusätzliches Instrumentarium aufgebaut, durch das Maßnahmen bestraft werden konnten, die das Zusammenleben und die solidarische Zusammenarbeit zwischen Schwarz und Weiß förderten. Versammlungen und Aktivitäten der ICU wurden mit diesen Paragraphen unterbunden. Insbesondere die Farmer fühlten sich durch den Organisationsversuch bei den Landarbeiter-Pächtern aufs äußerste herausgefordert. Die Royal Agricultural Society of Natal gründete Abwehrorganisationen, quasi faschistische Schlägergruppen. ICU-Mitglieder wurden von den Farmen vertrieben, weißer Mob brach in die Gewerkschaftsräume der ICU ein und verbrannte das Privateigentum der Gewerkschaftsorganisatoren. Die ländlichen Magistrate verboten die Versammlungen. Unter diesem Druck zerbrach die ICU, obwohl ihre "rote Mitgliedskarte" für viele Mitglieder so etwas wie messianische Wirkung hatte; ihr wurde zugetraut, daß sie vor der Polizei schützte, vor Gericht half und - das war wohl damals das Wichtigste - Gleichbehandlung mit den Weißen garantierte. Solche Glaubenselemente in einer Massenbewegung spiegeln das Ausmaß der Verzweiflung und der Erniedrigung der Afrikaner wider und sind, das weiß man aus der Geschichte der
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afrikanischen Nationalbewegungen, zugleich das Vorspiel eines eigentlichen politischen Bewußtseins. Von den Nachfolgeorganisationen überlebten nur wenige die Weltwirtschaftskrise, aber diese wenigen Gewerkschaften hielten den Gedanken der afrikanischen Gewerkschaften am Leben und sind wie die ICU wichtige Vorläufer für die späteren Gewerkschaften und insbesondere für die politische Ausrichtung der Dachverbände. Wichtig blieben dabei einige der von den ausgeschlossenen kommunistischen Gewerkschaftern gegründete Gewerkschaften. Es setzten sich insbesondere jene Gründungen durch, deren Führer beim Machtkampf der Stalinisten als Trotzkisten aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen wurden oder aus ähnlichen Gründen mit ihr brachen. Diese Funktionäre bildeten aus ihren kleinen schwarzen Gewerkschaften, von denen sie in der Regel mehrere führten, den Verband nichteuropäischer Gewerkschaften, der 1928 ca. 10 000 Mitglieder hatte, in der Weltwirtschaftskrise aber zusammenbrach. Nur die Gewerkschaft der Wäschereiarbeiter und die afrikanische Textilarbeitergewerkschaft überlebten. Die Organisatoren dieser Gewerkschaften, der Trotzkist Max Gordon und Gana Makabeni, gründeten eine Reihe kleiner und kleinster Gewerkschaften und sorgten für die Koordination zwischen ihnen. Ihr Ziel war, das Recht auf Registrierung afrikanischer Gewerkschaften zu erhalten und überhaupt Gewerkschaften für Afrikaner zu bewahren. Denn, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, ließen die gemischten Gewerkschaften und ihre Dachverbände keine Afrikaner zu und verweigerten ihnen die Mitgliedschaft in den Dachverbänden, weil sie nicht registriert waren. Diese kleinen unabhängigen afrikanischen Gewerkschaften und ihre Dachverbände bildeten die Grundlage für den erneuten Aufschwung der schwarzen Gewerkschaften unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.
Nach dem Zweiten Weltkrieg: der Aufstieg der schwarzen Gewerkschaften Einen sensationellen Aufschwung, vergleichbar mit der Entwicklung nach 1978, nahmen die afrikanischen Gewerkschaften unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Von den 390 000 in Industrie und Handel beschäftigten afrikanischen Arbeitern waren 40 Prozent oder 158 000 Arbeiter in den 119 Gewerkschaften organisiert, die sich als Dachverband 1941 den Rat für nicht-europäische Gewerkschaften (Council for Non European Trade Unions, CNETU) geschaffen hatten, der an die von Gordon und Makabeni gegründeten Vorläufer anknüpfte. Die Ausweitung der Industrialisierung während des Zweiten Weltkrieges, die Mobilisierung der Afrikaner, die als Träger und Soldaten im Zweiten Weltkrieg mitmachen mußten, der sich in ganz Afrika verstärkende Nationalismus verursachten diese Organisationsbereitschaft. Der eklatante Widerspruch zwischen der allgemeinen politischen und ökonomischen Entwicklung und der Stagnation der
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Lage auf dem Arbeitsmarkt schuf einen besonderen Ansatzpunkt für eine sich anbahnende Kampfbereitschaft der afrikanischen Arbeiter. Diese Kampfbereitschaft stieß auf den festen Abwehrwillen des Staates. Streiks wurden mit Waffengewalt und durch Verhaftung der Streikführung niedergeschlagen, setzten aber zugleich eine ernsthafte Debatte in Gang, ob die afrikanische Gewerkschaftsbewegung nicht doch durch den Staat anerkannt werden sollte. Nie zuvor und nicht wieder bis 1979 war durch Regierungskommissionen und Gesetzentwürfe der Regierung Smuts der Boden für diese Anerkennung so weit vorbereitet. Gescheitert ist sie am Widerstand der weißen Gewerkschaften und dann endgültig an der burischen Machtergreifung 1948. Den Anfang der Streikwelle machten die Stadtarbeiter Pretorias an der Jahreswende 1941/42. Jede Form von Streik stand zusätzlich zum allgemeinen Streikverbot unter Kriegsrechtsverbot. Die Polizei griff mit Waffengewalt ein, 14 Tote und mindestens 557 Verwundete waren das Ergebnis. Dieser Streik führte dazu, daß eine Regierungskommission die Anerkennung der afrikanischen Gewerkschaften empfahl. Gegen diese staatliche Absicht organisierten die konservativen weißen Gewerkschaften den Widerstand. Im Februar 1944 lehnte die Fraktion der Arbeiterpartei im Parlament die Anerkennung schwarzer Gewerkschaften ab und wandte sich damit innerhalb der Regierungskoalition gegen den Reformkurs des Premierministers Smuts. Von dem Trades and Labour Council, der Dachorganisation der weißen Gewerkschaften, wurde nun auch formell das Organisationsrecht der Afrikaner abgelehnt, eine Entscheidung, die seit 1925 vermieden worden war, weil dieser Beschluß zu offensichtlich gegen gewerkschaftliches Selbstverständnis verstieß. Nun aber lief parallel zum Aufschwung der afrikanischen Gewerkschaften eine Radikalisierung der weißen Gewerkschaften. Seit 1945 wurden im Trades and Labour Council ständig taktische Varianten diskutiert, wie mit den afrikanischen Gewerkschaften verfahren werden solle. Überlegt wurde, ob es eine Alternative zur rigorosen Ablehnung legaler afrikanischer Gewerkschaften geben könne. Umstritten blieb, ob nicht wenigstens solche Gewerkschaften registriert werden sollten, die keinerlei Verbindungen zu einer politischen Partei hatten. Andere wollten sich darauf beschränken, Repräsentanten der schwarzen Arbeiter in die Industrieausschüsse aufzunehmen; außerdem wurde schon damals der Vorschlag entwickelt, daß die Führer der weißen Gewerkschaften Parallel-Gewerkschaften für die Afrikaner gründen sollten, bevor sich die afrikanische Gewerkschaftsentwicklung verselbständigen würde. Sämtliche "Lösungsvorschläge" beschrieben Umwege, die dann dreißig Jahre später erneut diskutiert und erprobt wurden. Diese Vorschläge waren deshalb alle vorbelastet. Die zaghaften Reformdiskussionen waren Ursache dafür, daß sich die Gewerkschaften der weißen Bergarbeiter, der Stahlarbeiter, Teile der Transport- und Eisenbahnergewerkschaften sowie der Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes aus dem Trades and Labour Council zurückzogen und zusammen mit einigen
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nationalistischen burischen Gewerkschaften 1950 die Südafrikanische Confederation of Labour bildeten, die in der Gewerkschaftsfrage strikt die Rassentrennung und die Nichtanerkennung der schwarzen Gewerkschaften durchsetzen wollten. Sie wurden wichtige Bundesgenossen der neuen nationalistischen Regierung, die 1948 gewählt worden war. Der Widerstand gegen Selbsthilfe und Selbstorganisation der Afrikaner setzte sich auch in anderen Bereichen durch. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die wachsende Verstädterung Wohnungsnot verursacht. Für die weißen Arbeiter wurde bevorzugt Wohnraum erstellt. Als die Regierung die Afrikaner auf Selbsthilfe verwies und schwarze Exsoldaten in Johannesburg in einem Spezialprogramm zu Bauarbeitern ausbildete, setzten sich die weißen Baugewerkschaften zur Wehr. Sie bestreikten das Projekt und bedrohten weiße Bauarbeiter, die sich als Ausbilder bereitgefunden hatten, mit Gewerkschaftsausschluß. Das war eine Maßnahme, die Berufsverbot bedeuten konnte, denn viele der betriebsbezogenen Tarifverträge sahen vor, daß nur Mitglieder der Gewerkschaft beschäftigt werden durften (closed shop). Am dramatischsten war die Lage in den Bergwerken. Das Wanderarbeitssystem war von der Bergwerkskammer und dem vorherrschenden Oppenheimer-Konzern zu radikaler Ausbeutung genutzt worden. Die Löhne lagen mit 2 Shillingen pro Schicht unter dem Schichtlohn von 1890 (2,6 Shillinge). Die Arbeiter klagten über unzureichende Ernährung. Sie konnten außerdem von ihrem kargen Lohn ihren hungernden Familien in den Reservaten keine Ernährungshilfe geben. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten die Familien in den Reservaten soviel eigene Landwirtschaft betreiben können, daß sie nicht auf den Lohn ihrer in den Bergwerken arbeitenden Männer angewiesen waren. Darauf beruhte das System der Niedrigstlöhne - sie waren nicht für den Unterhalt der Familie gedacht. Nun aber waren die Reservate - die späteren Homelands - überbevölkert, der Boden war ausgelaugt, so daß die Ernährungsgrundlage zusammenbrach - eine Entwicklung, die sich bis in die Gegenwart ständig weiter zugespitzt hat. Die Arbeiter rebellierten. Gegen die Hungerrevolten griff die Polizei in den Wohnlagern gewaltsam durch. Vom 12. bis 17. August 1946 entwickelte sich daraus ein großer Bergarbeiterstreik. 100 000 afrikanische Bergarbeiter legten 22 Bergwerke ganz oder teilweise lahm. Die Bergwerksunternehmen waren nicht verhandlungsbereit. Sie organisierten zusammen mit den weißen Bergarbeitern Notstandspläne. 1600 Polizisten riegelten die Wohnlager ab und nahmen die afrikanischen Bergleute auf diese Weise praktisch gefangen. Die Polizei besetzte und zerstörte die Gewerkschaftsbüros der schwarzen Bergwerksgewerkschaften. In der Sub Nigel Mine wurden sechs Streikende von der Polizei erschossen. Die CNETU, der Afrikanische Nationalkongreß (ANC), die politische Befreiungsbewegung der Afrikaner, und die passive Widerstandsbewegung der Inder, die als erste in Südafrika Methoden des gewaltfreien Widerstandes anwandte (ihr Führer war von 1893-1915 Ghandi gewesen, der seine Strategie des gewaltlosen
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Widerstandes für die Gleichberechtigung seiner Landsleute in Südafrika entwickelt hatte, bevor er nach 1915 nach Indien zurückging), versuchten, den streikenden Bergleuten zu Hilfe zu kommen, und riefen den Generalstreik aus. Aber dieser Hilfsversuch scheiterte. Der massive Polizeieinsatz forderte zwölf Tote und 1000 Verletzte. Auch erwies es sich als unmöglich, Streiks ohne Streikkasse lange durchzuhalten. Aber der Streik wurde ein wichtiges Signal: Gewerkschaftsbewegung und politische Bewegung unterstützten sich gegenseitig. Der Staat griff gegen diese Entwicklung massiv ein. Zunächst wurde, wie stets in derartigen Krisenlagen in Südafrika, die Führungsgruppe der Gewerkschaften zerschlagen. 88 Streikführer wurden verhaftet. Auf allen Ebenen der öffentlichen und betrieblichen Kontrolle wurde die afrikanische Gewerkschaftsarbeit behindert. In den Betrieben ließ man Afrikaner zu Tarifverhandlungen nach wie vor nicht zu. Die Unternehmer verweigerten die in Südafrika übliche Einziehung der Gewerkschaftsbeiträge durch das Lohnbüro. Betriebsfremde Funktionäre konnten die Firmen nicht betreten. Vor allem aber kam es dem Staat darauf an, Ansätze zu multirassischer Solidarität abzuwürgen. Ein ständiger Dorn im Auge war, daß weiße Gewerkschaftsfunktionäre in der Regel mit sozialistischen Überzeugungen ihre Organisationserfahrung den Afrikanern zur Verfügung stellten. Die Regierung Smuts entschied deshalb 1947, wenige Wochen vor ihrer Abwahl, daß Gewerkschaften nach Rassen getrennt registriert werden sollten. Wer sich dieser Registrierung nicht unterwarf, wurde verboten. Außerdem sollten afrikanische Gewerkschaften nur dann weiße Gewerkschaftsführer haben dürfen, wenn eine spezielle Genehmigung des Ministers vorlag. Die Regierung wollte damit einerseits die unabhängige Hilfestellung ausschalten und andererseits den weißen Gewerkschaften die Gründung von ihnen kontrollierter Parallelgewerkschaften ermöglichen. Damit waren Grundgedanken des Gewerkschaftsrechtes - die Durchsetzung der Rassentrennung und scharfe bürokratische Kontrolle, die durch die burische Regierung nach 1948 umgesetzt wurden - bereits von der liberaleren Regierung Smuts vorgezeichnet. Die afrikanische Gewerkschaftsbewegung ist durch dieses staatliche Eingreifen erneut stark behindert worden. Die organisatorische Schwächung ließ die vielen kleinen Gewerkschaften auch in den Augen ihrer Mitglieder zu oft erfolglos erscheinen. Der Geldmangel war chronisch, die Mitgliedschaft kaum zu erfassen, denn Wanderarbeit und Fluktuation zwischen den Betrieben machten eine geregelte Mitgliederbetreuung fast unmöglich. Führungsrivalitäten in den 119 Gewerkschaften des Bundes kamen hinzu. Dennoch hatte die von der Regierung eingesetzte Kommission eingeräumt, daß es eine Anzahl gut organisierter schwarzer Gewerkschaften gäbe mit einer fähigen Führung, die in den offiziellen Tarifgesprächen mit den Lohnfestsetzungsbehörden großes Verhandlungsgeschick bewiesen hätten.
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Die Unterdrückung verschärft sich (1948-1964) Die neue burische Regierung (seit 1948) ging über das Konzept der Regierung Smuts weit hinaus. Sie untersagte erneut die Registrierung schwarzer Gewerkschaften, verschärfte das Verbot der Lehrlingsausbildung und erzwang die Rassentrennung innerhalb der bestehenden registrierten Gewerkschaften, was im wesentlichen die farbigen Mitglieder traf. Das Tarifrecht für Afrikaner wurde den staatlichen Lohnbehörden und den Regierungsbeamten übergeben, die Mitglied in den Industrieausschüssen waren. Diese Regelungen wurden nach heftigen Auseinandersetzungen mit den Dachverbänden der afrikanischen und der gemischtrassischen Gewerkschaften sowie dem ANC im Industrie-Schlichtungsgesetz (Industrial Reconciliation Act) 1956 durchgesetzt. Vorausgegangen war eine wichtige Vorentscheidung der Regierung: die Ausschaltung der neuen schwarzen politischen und gewerkschaftlichen Führungsschicht durch das Gesetz gegen den Kommunismus. Obwohl schon viele Gesetze, insbesondere die Paß- und Versammlungsgesetze, die Handhabe gaben, politische Aktivitäten der Opposition und der Gewerkschaftsbewegung polizeilich zu unterbinden, setzte sich erst mit diesem neuen Gesetz von 1950 der südafrikanische Polizeistaat in seiner heutigen Form durch. Die Propaganda - auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges - konzentrierte sich auf das Verbot der Kommunistischen Partei Südafrikas, die seit den zwanziger Jahren immer wieder wichtige schwarze und weiße Führungspersonen hervorgebracht, im übrigen aber auch viele Irrwege der weißen Arbeiterschaft in Südafrika und Kursschwankungen in der Komintern unter Stalin mitgemacht hatte. Aber unter dem propagandistischen Schutz des Verbotes der Kommunistischen Partei wurde - und das war der Kern des Gesetzes - jedes Konzept als "kommunistisch" definiert und verfolgt, das "irgendeinen politischen, industriellen, sozialen oder ökonomischen Wandel in Südafrika" anstrebte und dabei "Unruhe und Unordnung" durch "ungesetzliche Akte förderte" oder Mittel einsetzte, "die Unruhe und Unordnung fördern könnten". Afrikanern waren so viele Aktivitäten verboten oder engen Bestimmungen unterworfen, daß jegliche oppositionelle und gewerkschaftliche Tätigkeit gegen irgendein Verbot verstieß, also "Unruhe" war. Der Staat konnte sie nun "kommunistisch" nennen und unter hohe Strafe stellen. Die Regierung in Südafrika schuf sich so ein seitdem ständig verfeinertes System zur Ausschaltung jeder nur möglichen Führungsschicht. Wer einmal vom Gesetz gegen den Kommunismus erfaßt war, wurde in Listen geführt. Dies gab der Regierung das Recht, ihn von der Mitgliedschaft in Organisationen, so auch den Gewerkschaften, auszuschließen. Der südafrikanische Staat hatte das Zusammenfließen von politischer Freiheitsbewegung und Gewerkschaftsbewegung als Gefahr für das rassistische System erkannt. Dementsprechend hatte er mit einem harten Doppelschlag eingegriffen. Das Gewerkschaftsgesetz von 1956 nahm den Afrikanern formell den Status als
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Arbeitnehmer, und das Gesetz gegen den Kommunismus griff die Führungsschicht an. Die Wucht dieses Angriffes hat die Gewerkschaftsbewegung in Südafrika erneut und vertieft gespalten. Zwei neue Dachorganisationen entstanden neben der rassistischen Confederation of Labour: TUCSA (Trade Union Council of South Africa) und SACTU (South African Council of Trade Unions). Die komplizierte Geschichte südafrikanischer Dachverbände soll hier nicht dargestellt werden, aber ihre politische und organisatorische Ausrichtung. Denn damals fielen Vorentscheidungen, die das Verhältnis zwischen den Verbänden bis heute bestimmen.
Die Gewerkschaftsspaltung vertieft sich (1954-1968): TUCSA und SACTU Das neue Arbeitsrecht, das 1956 in Kraft trat, bedrohte auch die gemischtrassischen Gewerkschaften, die überwiegend weiße, farbige und indische Arbeiter organisiert hatten. Deshalb regte die gemischtrassische Gewerkschaft der Kesselschmiede (Boilermaker Society) Einigungsverhandlungen zwischen den Gewerkschaftsgruppierungen außerhalb der weißen rassistischen Federation of Labour an. Sie bildeten eine neue Dachorganisation TUCSA, die sich als Opposition gegen die rassistische Regierungspolitik verstand (ohne Beteiligung der afrikanischen Gewerkschaften, die zu den Einigungsgesprächen nicht eingeladen waren). TUCSA stellte sich jedoch im Interesse ihrer eigenen Tariffähigkeit von Anfang an auf die neue staatliche Politik ein. Bereits 1954 legte TUCSA fest, daß nur registrierte Gewerkschaften Mitglied des Dachverbandes werden durften - damit waren Afrikaner ausgeschlossen. Jene gemischten und afrikanischen Gewerkschaften, die den Ausschluß der afrikanischen Gewerkschaften nicht billigten, schlössen sich 1955 in SACTU zusammen. Die Spaltung in drei große Blöcke - die rassistischen weißen Gewerkschaften, die die Politik der Nationalen Partei trugen, die TUCSA-Gewerkschaften, die sich den Gegebenheiten des rassistischen Südafrikas mit Vorbehalten beugten und praktisch Schutzpolitik für einen Teil der weißen und farbigen Handwerkerschaft im Rahmen des Industrieausschußsystems betrieben, und die SACTU, die die Tradition der multirassischen Gewerkschaftsbewegung und die Verteidigung der Gewerkschaftsrechte der Afrikaner fortsetzte - sollte für die Zukunft von großer Bedeutung werden. Die unterschiedlichen Wege, die SACTU und TUCSA gegangen sind, sollen dies illustrieren. SACTU entschied sich für die von ihr in ca. 50 Gewerkschaften organisierten rund 50 000 Arbeiter, davon ca. 38 000 Afrikaner, für ein dezidiertes Konzept der multirassischen Gewerkschaft. Diese multirassische Solidarität wurde in der Sprache sozialistischen Klassenbewußtseins formuliert und vertiefte damit die Tradition der schwarzen und multirassischen Gewerkschaftsbewegung, Südafrika als einen Extremfall von kapitalistischer Klassenherrschaft aufzufassen, indem die Rassenund Volkstumsideologie des burischen Nationalismus als Spaltungsversuch zwi-
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sehen schwarzen und weißen Arbeitern angegriffen wurde. Außerdem knüpfte SACTU an die Politik der zwanziger Jahre an und suchte Verbindung mit der schwarzen Nationalbewegung der fünfziger Jahre. SACTU wurde Mitglied der Kongreß-Allianz unter Führung des ANC, die mit Methoden des passiven Widerstandes das sich immer enger zuziehende Netz des Apartheid-Staates angriff. Auf der ersten Jahreskonferenz von SACTU hieß es in der entsprechenden Resolution: "SACTU ist sich der Tatsache bewußt, daß die Aufgabe, die Arbeitermassen zu organisieren, um höhere Löhne, bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen durchzusetzen, unauflösbar mit dem entschlossenen Kampf für politische Rechte und Befreiung von allen Unterdrückungsgesetzen und Praktiken verknüpft ist. Es folgt daraus, daß ein Kampf, der lediglich um wirtschaftliche Rechte geführt wird, ohne daß es zur Teilnahme am allgemeinen Kampf für politische Emanzipation kommt, die Gewerkschaftsbewegung zur Nutzlosigkeit verurteilen und zu einem Verrat an den Interessen der Arbeiter führen würde."
Auch SACTU blieb nicht von schweren Spannungen frei. So mußte die Organisation hinnehmen, daß trotz des prinzipiellen Protestes gegen das Industrieschlichtungsgesetz von 1956 einigen ihrer gemischtrassischen Mitgliedsgewerkschaften die Vorteile der Registrierung wichtig genug waren, daß sie den Forderungen des Gesetzes nachgaben und innerhalb der Gewerkschaft nach Rassen getrennte Unterorganisationen schufen. Afrikanische Gewerkschafter waren damit in den drei stärksten SACTU-Gewerkschaften nicht mehr regulär vertreten. Entscheidend für das weitere Schicksal dieses Gewerkschaftsdachverbandes wurde indessen die Zusammenarbeit mit dem ANC in der Kongreß-Allianz. SACTU-Gewerkschafter waren an der Organisation der politischen Massendemonstrationen beteiligt, die zwischen 1956 und 1960 in allen wichtigen Städten Südafrikas, vor allem in Johannesburg, Pretoria, Kapstadt, aber auch in etlichen Landgebieten und Reservaten stattfanden. Forderungen nach dem Mindestlohn von 2 Rand am Tag wurden erhoben, wegen Fahrpreiserhöhungen Buslinien boykottiert und die diskriminierenden Pässe demonstrativ verbrannt. Führung und Initiative lagen offensichtlich beim ANC und nicht bei der Gewerkschaftsbewegung, wenn auch Luthuli, Präsident des ANC und späterer Friedensnobelpreisträger, immer wieder auf die Bedeutung der Gewerkschaftsbewegung für die Gewinnung der Gleichberechtigung der Afrikaner hinwies. Dem Staat reichte die Zugehörigkeit zur Kongreß-Allianz aus. Auch SACTUGewerkschafter, darunter die gesamte Führungsspitze, wurden regelmäßig gebannt, verhaftet und in langwierige Prozesse verwickelt. 1957 wurde gegen führende Vertreter der Kongreß-Allianz ein Hochverratsprozeß geführt, der erst 1961 zum Freispruch von 156 Mitgliedern des ANC, darunter Führungskräfte der SACTU, führte. Bereits in dieser Periode war die SACTU-Führung weitgehend ausgeschaltet.
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Die Verfolgung verschärfte sich nach den Massakern an afrikanischen Demonstranten in Sharpville und Lange 1960. Eine der Massendemonstrationen - diesmal zur Verbrennung der Pässe - wurde zwischen dem 23. März und 9. April 1960 vom Pan-Afrikanischen Kongreß (PAC) organisiert, einer mit dem ANC konkurrierenden Befreiungsorganisation, die sich vom multirassischen Gedanken abwandte und den afrikanischen Selbstfindungsweg betonte. Die Polizei griff diese friedlichen Massendemonstrationen mit Waffen an und tötete 83 Teilnehmer; 365 Demonstranten wurden verletzt. Dieses Ereignis erschütterte das politische System Südafrikas. Die Regierung rief den Notstand aus und führte weiter Massenverhaftungen durch, die auch die im Hochverratsprozeß freigesprochenen Gewerkschafter erfaßten. Um ihr unmöglich zu machen, ihre führungslosen Organisationen zu reorganisieren, wurde für SACTU ein dreimonatiges Versammlungsverbot ausgesprochen und jeweils nach Ablauf durch vielfältige Einzelmaßnahmen verlängert. Als der inzwischen gebannte ANC im Dezember 1962 zu Sabotageakten überging und damit die Periode des gewaltfreien Widerstandes beendete, hatte auch SACTU die Folgen der verschärften Unterdrückung zu tragen, die sich insbesondere aus einem neuen weitgefaßten Anti-Sabotage-Gesetz ergaben. Danach galt jede Beeinträchtigung von Tätigkeiten "wichtiger" Firmen oder Transportverbindungen als Sabotage. Streik konnte nun auch aufgrund dieses Gesetzes bekämpft werden. Damit konnte bei Streikaktionen die Todesstrafe verhängt werden. Die verschärfte Verfolgung der SACTU hing zweifellos auch damit zusammen, daß es den S ACTU-Gewerkschaftern trotz vielfältiger Reisebehinderungen gelungen war, die mit der südafrikanischen Regierung kooperierenden Gewerkschaften international zu isolieren. Insbesondere gelang es, Südafrika aus der Internationalen Arbeits-Organisation (ILO) herauszudrängen. Es zeigten sich aber auch Grenzen der verstärkten Politisierung von SACTU. Vergeblich versuchten sie unter dem Einfluß des ANC durchzusetzen, daß dem PAC die Anerkennung als zweite Befreiungsbewegung Südafrikas neben dem ANC von den afrikanischen Staaten entzogen wurde. Seit 1960 operierten SACTU-Gewerkschafter auch im Exil, Vorstandssitzungen fanden auch im Ausland statt. Die Spannungen von Exilpolitik wirkten sich in der Zusammenarbeit der Organisationen aus. Als Massenbannungen 1964 das legale Arbeiten in Südafrika außerordentlich beschränkten, entschied sich SACTU, wie vorher der ANC, voll ins Exil zu gehen. So mündete der bislang erfolgreichste Organisationsversuch der afrikanischen Gewerkschaften unter dem Druck der Verfolgung in eine schwere Niederlage. Zwischen SACTU und der sich seit 1973 neu entfaltenden afrikanischen Gewerkschaftsbewegung ist strittig, wie stark SACTU-Gewerkschafter und insbesondere die Exilorganisation in London am organisatorischen Aufbau beteiligt waren und wie stark die Kontinuität ist. Zweifellos hat SACTU mit seinem entschlossenen Kampf gegen den Ausbau der Apartheidpolitik seit 1954 ein wichtiges Erbe hinterlassen:
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Der Bund hat den Gedanken, daß die südafrikanische Gewerkschaftsbewegung unbedingt multirassisch bleiben müsse, in schwierigster Zeit verteidigt. Er hat in der afrikanischen Arbeiterbewegung Südafrikas sozialistische Vorstellungen fest verankert, und SACTU-Gewerkschaften haben durch das Ertragen massivster politischer Verfolgung, ohne Aufgabe der politischen Zielsetzung, wichtige Beispiele für die Kooperation zwischen Afrikanern, Farbigen und Indem in den neuen und erneuerten Gewerkschaften der siebziger und achtziger Jahre gegeben. Von diesem Beispiel prinzipienfesten Widerstandes gegen die Apartheid unterscheidet sich die Politik des anderen großen Dachverbandes TUCSA, der sich ursprünglich gegen das neue Arbeitsrecht der Apartheid zusammenschloß, fast in jeder Hinsicht. Das Hauptproblem von TUCSA war, daß die Mitgliedsgewerkschaften mit mehrheitlich weißen Handwerkern und Facharbeitern immer wieder aus Eigeninteresse und auf Druck der Regierung den Kurs echter multirassischer Gewerkschaftsarbeit verließen und sich in wichtigen Fragen - so in der internationalen Vertretung Südafrikas - öffentlich für die Regierung aussprachen und in Krisenfällen ein Arrangement mit der Regierung zu Lasten der afrikanischen Arbeiter suchten. Schutz vor politischer Verfolgung gewährten sie ihren schwarzen Kollegen ohnehin nicht. Ihr Zickzackkurs im Verhältnis zu den nicht registrierten afrikanischen Gewerkschaften illustriert das Problem: TUCSA hielt den Beschluß, afrikanische Gewerkschaften nicht aufzunehmen, zunächst von 1954 bis 1962 durch. Bei den gemischtrassischen Gewerkschaften mit farbigen und indischen Mitgliedern empfahl TUCSA die von der Regierung zugelassene interne Rassentrennung, mußte aber damit in Kauf nehmen, daß die Führung jeweils weiß zu sein hatte. Die wachsende Militanz von SACTU und ANC, vor allem aber auch das zahlenmäßige Anwachsen von qualifizierten afrikanischen Arbeitern in der verarbeitenden Industrie, ließ die Besorgnis groß werden, daß sich die afrikanische Gewerkschaftsbewegung "subversiven Elementen", d.h. der auf Machtwechsel drängenden Nationalbewegung, öffnen würde, so daß es besser wäre, eine verantwortungsbewußte (responsible) schwarze Gewerkschaftsbewegung unter der (weißen) Führung von TUCSA zu begünstigen. Dies war auch eine Antwort auf die Offensive der Arbeitgeber und des Staates, auf niedrigem Lohnniveau vormals Handwerkern und Facharbeitern zugeordnete Tätigkeiten durch Afrikaner durchführen zu lassen. Besonders alarmierend erschien damals, daß die Regierung im Interesse der räumlichen Rassentrennung Grenzindustrien nahe der Reservate errichten wollte, um die afrikanischen Arbeiter aus den weißen städtischen Zentren herauszuhalten. Die von Handwerkern beherrschten weißen Gewerkschaften fürchteten, daß gerade in solchen Grenzindustrien die Arbeitsplatzvorrechte und die Lohnvorsprünge der Weißen unterlaufen würden. Aus diesen Gründen entschied sich die Führung von TUCSA unter der Federführung der Boilermaker Society, afrikanische Gewerkschaften wieder zuzulassen. Auf dem Jahreskongreß 1962 stimmten 83 Gewerk-
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schaften für diesen Antrag, zehn stimmten dagegen, neun enthielten sich. Der praktische Erfolg war indessen minimal. 1963 hatten sich fünf kleine afrikanische Gewerkschaften mit insgesamt 800 Mitgliedern zum Anschluß an TUCSA entschieden. Gewerkschafts-Konkurrenz in der Eisen- und Stahlindustrie zwischen der entschieden rassistischen weißen Gewerkschaft Yster en Staal und einer der stärksten Gewerkschaften von TUCSA, der Amalgamated Engineering, veranlaßte letztere, wegen des neuen Kurses aus dem Dachverband auszutreten. 1967 wurde TUCSA frontal vom Arbeitsministerium angegriffen. Aktueller Anlaß war, daß TUCSA nach dem Ausschluß Südafrikas aus der ILO den Antrag auf Beobachterstatus stellte; außerdem wandte sich TUCSA gegen einen von der Regierung vorgeschlagenen Lohnstop. Der Regierungsvorstoß reichte aus, daß das Thema der Mitgliedschaft afrikanischer Gewerkschaften auf die Tagesordnung des Gewerkschaftstages 1967 kam. Der Druck der weißen Gewerkschaften - mit Ausnahme der Boilermaker Society - war so groß, daß die Spaltung der Organisation bevorstand. Die sechs afrikanischen Mitgliedsgewerkschaften zogen sich freiwillig im Interesse der Fortexistenz des Dachverbandes aus TUCSA zurück. Dies war jedoch eine vergebliche Geste. Die Gewerkschaften der Drucker und der Elektriker beantragten den Ausschluß der schwarzen Gewerkschaften und setzten eine Resolution mit 41 gegen 13 Stimmen durch, daß auf der nächsten ordentlichen Jahrestagung der Ausschluß vollzogen werden sollte. Auf dieser Jahresversammlung, auf der nach Mitgliedszahlen, nicht nach Anzahl der Einzelgewerkschaften gestimmt wurde, kehrte sich trotz verschärften Regierungsdrucks die Mehrheit um: 123 566 Mitglieder stimmten durch ihre Repräsentanten für die Mitgliedschaft afrikanischer Gewerkschaften, 32 871 wollten diese ausschließen. Es war indessen ein Pyrrhussieg. Die Gewerkschaft der Elektriker verließ sofort TUCSA, andere Gewerkschaften, unter ihnen die Drucker- und Schweißer- sowie die Transportgewerkschaften, drohten den Austritt an. Die Regierung drohte TUCSA, daß die Registrierung widerrufen würde. Zwischen 1968 und 1969 traten zwölf Gewerkschaften aus der TUCSA aus. Im Februar 1969 wich die TUCSA-Führung vor diesem Druck zurück. Afrikanische Gewerkschaften wurden erneut ausgeschlossen, ein Teil der ausgetretenen weißen Gewerkschaften kehrte zurück. Anfang der siebziger Jahre begann sich die afrikanische Gewerkschaftsbewegung von den Niederlagen der sechziger Jahre zu erholen. TUCSA versuchte sich in diese Entwicklung rechtzeitig einzuschalten. 1972 wurde beschlossen, daß TUCSAGewerkschaften afrikanische Parallelgewerkschaften unter weißer Führung gründen sollten. 1974 folgte der unvermeidliche und zu späte Schritt, afrikanische Gewerkschaften erneut als Mitglieder zuzulassen. Mittlerweile war aber das Vertrauen der neuen afrikanischen Gewerkschaften in eine derartig von Taktik, Rassismus der weißen Gewerkschafter und vom Opportunismus geschüttelte Organisation, die gegenüber dem südafrikanischen Staat nicht konfliktfähig sein wollte und konnte, zutiefst erschüttert. Der moralische Kredit war durch Verweigerung der Solidarität verspielt worden.
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Sogar die Entscheidung von 1972, Parallelgewerkschaften zu gründen, wurde von den TUCSA-Gewerkschaften nur zögernd umgesetzt, in der Regel erst in den späten siebziger Jahren, als die afrikanische Gewerkschaftsbewegung erstarkte. Die afrikanischen Gewerkschaften lehnten jetzt Parallelgewerkschaften ab. Was in den zwanziger Jahren und vielleicht noch nach dem Zweiten Weltkrieg als eine nützliche Hilfskonstruktion hätte gelten können, wurde nun mit Recht als Kampfansage an die erstarkende unabhängige afrikanische Gewerkschaftsbewegung empfunden. Die "Financial Mail", das führende Blatt für Südafrikas Geschäftswelt, formulierte sarkastisch: "Wann ist eine Gewerkschaft keine Gewerkschaft? Wenn sie eine Parallelgewerkschaft für Afrikaner ist." (16.11.1976)
Weiße Gewerkschaftsbewegung und der Wiederaufstieg der afrikanischen Gewerkschaften 1974 bis 1980 Der Wiederaufstieg der afrikanischen Gewerkschaften seit den erfolgreichen Lohnkämpfen in Natal 1973/74 wird in einem gesonderten Beitrag von Gottfried Wellmer beschrieben. Es sollen deshalb nur einige Grundzüge der neuen Entwicklung skizziert werden, um das Verhalten der weißen und gemischtrassischen Gewerkschaften und ihrer Dach verbände darstellen zu können. Die neue Welle gewerkschaftlicher Aktivitäten veranlaßte Staat und Unternehmerverbände, darauf nicht nur mit Unterdrückungsmaßnahmen zu reagieren, sondern durch Reformen im Arbeits- und Organisationsrecht den erneuten Versuch der Afrikaner, sich selbst zu organisieren, unter Kontrolle zu bekommen. Die Position der afrikanischen Arbeiterschaft hatte sich erheblich verstärkt. Die wichtigsten Gründe hierfür waren: Den Arbeitern und ihren neuen Gewerkschaften gelang es durch Serien von Streiks, die Lohnfragen mit dem Recht auf Anerkennung als gewerkschaftliche Organisation zu verbinden, die Unternehmen zu zögernder Anerkennung zu zwingen, unabhängig von dem jeweils geltenden staatlichen Recht. Die neue Stärke der afrikanischen Arbeiter lag im Betrieb. Da sie trotz niedriger Löhne im Zuge des fortschreitenden Industrialisierungsprozesses nicht mehr nur Handlanger waren, sondern, wenn auch oft unter falschen Berufsbezeichnungen, direkt die Produktion trugen, war ihre Verhandlungsmacht gestiegen. Unternehmer entwickelten Interesse an geregelten Tarifverhältnissen, wenn sie auch zunächst mit Verbindungsausschüssen, in denen das Management die Hälfte der Mitglieder stellte, später in Betriebsausschüssen oder durch Förderung von Parallelgewerkschaften unternehmerfreundliche gelbe Betriebsgewerkschaften anstrebten. Der Staat erkannte dieses Interesse und begann, über Kommissionen, ministerielle Ausnahmegenehmigungen und schließlich Gesetzgebung auf die neue Entwicklung zu reagieren. Dies hatte auch politische Gründe. Obwohl die neue Gewerkschaftsbewegung die unerträglichen Lohnverhältnisse bekämpfte, Inflationsaus-
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gleich anstrebte und Selbstorganisation auf betrieblicher Ebene im Vordergrund stand, fand dies alles doch in einem neuen politischen Klima statt. Ausgehend von afrikanischen Schülern und Studenten hatte sich in den riesigen schwarzen Vorstädten Südafrikas ein neues schwarzes politisches Bewußtsein gebildet. Die kulturelle Erneuerungsbewegung mobilisierte viele neue Kräfte und führte auch den Gewerkschaften und Betrieben neue unverbrauchte Führungstalente zu. Außerdem änderte sich Anfang der siebziger Jahre das internationale Umfeld. Den großen Streiks in Natal waren politische Massenstreiks der Wanderarbeiter in Namibia vorangegangen. Sie kämpften 1972 sowohl gegen das unmenschliche Zwangsrekrutierungssystem für Arbeiter als auch für die Unabhängigkeit ihres Landes. Gleichzeitig begann sich die Lage im benachbarten Zimbabwe (damals Südrhodesien) zuzuspitzen. 1972 hatte sich zur Überraschung aller Experten die überwältigende Mehrheit der Schwarzen in Zimbabwe gegen einen Verfassungsvorschlag gewandt, der ihnen die Mehrheitsregierung vorenthielt. Nach der Revolution in Portugal setzten sich 1975 und 1976 die Befreiungsbewegungen in Mocambique und Angola durch. Auch in Südafrika spitzte sich die Lage zu. Schüler und Studenten in Soweto, der Millionenvorstadt von Johannesburg, und in Langa, der Vorstadt von Kapstadt, protestierten gegen das ungerechte Erziehungssystem. Die Polizei griff die Demonstranten an und tötete Hunderte von Schulkindern. Die Protestbewegung weitete sich aus. Arbeitsverweigerungen fanden statt. Aus der Protestbewegung der Schüler und Studenten gegen das Erziehungssystem wurde ein allgemeiner Widerstand gegen den Apartheid-Staat, an dem sich viele Arbeiter beteiligten. Staat und Unternehmerschaft gerieten unter Druck. Die Diskussion über Veränderungen im Arbeitsrecht und im Wohn- und Aufenthaltsrecht für die schwarze Mehrheit in Südafrika begann. Regierungskommissionen mit Beteiligung der Unternehmensverbände, der weißen und gemischtrassischen, aber weiß dominierten Gewerkschaftsdachverbände sowie Vertretern von Bürokratie und Wissenschaft - aber unter Ausschluß der Afrikaner - begannen zu beraten. Folgende Zielsetzungen wurden deutlich: Sicherstellung von Verhandlungsmechanismen im Tarifwesen auch für Afrikaner wurde als unvermeidlich akzeptiert, um Produktionsstörungen zu vermeiden. Außerdem wollten die Unternehmer freier als bisher über den Einsatz afrikanischer Arbeiter bestimmen können und die von den weißen Gewerkschaften erkämpfte Arbeitsplatzreservierung durchbrechen. Zugleich sollte die afrikanische Gewerkschaftsbewegung nach Möglichkeit gezähmt werden. Außerdem sollte die afrikanische Arbeiterschaft gespalten werden. Gewerkschaftliche Rechte in Grenzen für ständige Arbeiter, verbesserte Rechtssicherheit für die Dauerbewohner der Großstädte, aber Ausgrenzung der Wanderarbeiter und der Arbeitslosen, denen am besten der Status eines Homeland-Bewohners und damit eines Gastarbeiters ohne südafrikanischen Paß zugesprochen werden sollte.
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Schließlich sollte Reformrhetorik dazu dienen, die internationale Kritik an Südafrika zu dämpfen. Oberstes Ziel blieb außerdem, die Gewerkschaftsbewegung zu entpolitisieren und von der schwarzen Bewußtseinsbewegung und, noch entschiedener, von der Befreiungsbewegung des ANC abzudrängen. 1978 war das neue Arbeitsrecht in den Grundzügen fertig, mußte aber durch den stetigen Druck und die Verhandlungserfolge, die die afrikanischen Gewerkschaften auf betrieblicher Ebene, aber auch in der Koordination ihrer Arbeit in Dachverbänden erreichten, dauernd dem neuen auf betrieblicher Ebene erreichten Stand angeglichen werden. Die weißen und gemischtrassischen Gewerkschaften in der Confederation of Labour und der TUCSA mußten nun innerhalb der Regierungskommissionen und öffentlich Stellung nehmen. Sie taten dies aus einer Position der Schwäche heraus, weil Staat und Unternehmerverbände die Initiative ergriffen hatten und miteinander kooperierten und weil der Organisationsprozeß der afrikanischen Arbeiter erneut auch an den gemischtrassischen Gewerkschaften vorbeilief. Man kann - von wenigen Ausnahmen abgesehen - das Verhalten der weißen und gemischtrassischen Gewerkschaften und ihrer Dachverbände so charakterisieren: Sie fügten sich in das Unvermeidliche, die offizielle Zulassung afrikanischer Gewerkschaften und die offizielle Aufhebung der Rassentrennung am Arbeitsplatz - Aufhebung der Gesetzesklausel zur Arbeitsplatzreservierung - , aber sie lehnten sich an die staatliche Strategie an, so viel Kontrolle über die afrikanischen Arbeiter durchzusetzen wie möglich und ihre geschützte Position am Arbeitsplatz auf der neuen Basis zu verteidigen. Die weiße und gemischtrassische Gewerkschaftsbewegung hat jede staatliche Verzögerungstaktik mitgemacht und teilweise mitverursacht und die afrikanische Gewerkschaftsbewegung eher entmutigt als ermutigt. Die TUCSAGewerkschaften beschlossen auf ihrem Gewerkschaftstag im September 1978, dem Recht afrikanischer Gewerkschaften, offiziell registriert zu werden, zuzustimmen. Aber sie bekräftigten zugleich ihren Beschluß von 1972, nun umgehend Parallelgewerkschaften zu gründen, um die unabhängige Gewerkschaftsbewegung einzudämmen. Der führende Dachverband der Metallgewerkschaften, die CMBU, erklärte sich 1979 bereit, im Manteltarifvertrag für die Metallindustrie den berüchtigten Abschnitt 35, der die Arbeitsplatzreservierung regelte, zu streichen. Aber die Generalsekretäre der weißen Metallgewerkschaften der CMBU, die zugleich Mitglied der TUCSA waren, betonten, daß sie im Gegenzug von den Unternehmern mehr Einfluß auf die Gestaltung der Arbeitsplatzbeschreibungen bekommen hätten. Auf betrieblicher Ebene mußten nun die Unternehmer die weißen Gewerkschaftsvertreter bei der Neufassung von Arbeitsplatzbeschreibungen konsultieren. Die weißen Metallgewerkschafter hielten ihre Stellung gegenüber den schwarzen Arbeitern sogar für gestärkt.
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Generell verlangten alle weißen Gewerkschaften, daß sich die afrikanischen Gewerkschaften den strikten Registrierungsregelungen des Staates beugten: Sie wollten, daß sie sich dem stark verbürokratisierten, von einer Koalition von weißen Gewerkschaftern und Arbeitgeberverbänden kontrollierten Industrieausschußsystem einfügten. Sie entwickelten eine starke Tendenz, afrikanische Gewerkschaften, die sich nicht registrieren lassen wollten, zu übergehen. Generell verweigerten sie afrikanischen Gewerkschaftern, die vom Staat verfolgt, gefoltert und gelegentlich auch umgebracht wurden, politische und moralische Unterstützung. Dennoch hat sich das politische Spektrum der weißen Gewerkschaftsbewegung zumindest bis zum konservativen Gegentrend seit 1982 in dieser Periode verändert. TUCSA-Gewerkschaften, die am ehesten in der Lage schienen, der neuen Linie des Staates zu folgen, wurden Kooperationspartner des Staates, während der Einfluß der weißen, strikt an der Rassentrennung festhaltenden Gewerkschaften in der Confederation of Labour nachließ. Die neue Arbeitsgesetzgebung führte zu einer schweren Krise innerhalb der Confederation of Labour. Der Präsident der SACLA verweigerte sich als Mitglied der Regierungskommission den Reformen; er wollte Gewerkschaftsrechte für Afrikaner verhindern. Als dies nicht gelang, empfahl er den Ausschluß der Wanderarbeiter aus den Gewerkschaften. In einer heftigen Debatte stimmte eine knappe Mehrheit des Gewerkschaftstages der SACLA im Mai 1979 für die Regierungspolitik, unter der Bedingung, durch Beeinflussung der Gesetzgebung im Detail möglichst viele Positionen zu halten. Die einst so mächtige Gewerkschaft der weißen Bergarbeiter erklärte daraufhin den Austritt aus dem weißen Dach verband. Wenn es somit auch zunächst den Anschein hatte, daß die rassistischen Positionen der weißen Gewerkschaftsbewegung geschwächt wurden, und sie sich der neuen Entwicklung der afrikanischen Gewerkschaften trotz aller Hinhaltetaktik schließlich beugten, so galt dies zunächst nur für die Ebene der gewerkschaftlichen Organisation. Ihren Protest gegen den Abbau ihrer Vorrechte äußern Arbeiterwähler in Südafrika durch Stimmabgabe für die konservativen und rassistischen Absplitterungen von der Nationalen Partei. Innerhalb der weißen Gewerkschaftsbewegung vertieft sich zur Zeit noch die Spaltung. Der Generalsekretär der Bergarbeiter versucht, die weiße Arbeiterschaft in einer großen branchenübergreifenden Gewerkschaft zusammenzufassen, und wirbt Mitglieder aus anderen Gewerkschaften ab, was zu Spannungen auch zwischen den konservativen weißen Gewerkschaften führt. Innerhalb der TUCSA und im Dachverband der Metallgewerkschaften, die TUCSA angehören, fanden in der gesamten Zeit Richtungskämpfe statt. Hierbei spielte die Politik der Boilermaker Society unter der Führung ihres Generalsekretärs van der Watt eine besondere Rolle: Obwohl die Boilermaker Society eine von Weißen kontrollierte gemischte Gewerkschaft mit vielen farbigen Mitgliedern ist, hatte sie sich trotz vieler politischer Schwankungen gegenüber dem Anspruch der afrikanischen Gewerkschaftsbewegung am offensten gehalten. Die Boilermaker
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Society sah eine afrikanische Facharbeiterschaft heranwachsen, für die sie gewerkschaftliche Organisation wollte, damit die Unternehmer nicht die afrikanischen gegen die weißen Facharbeiter ausspielen konnten. Diese Gewerkschaft hatte sich ein gewisses Vertrauenskapital auch gegenüber der afrikanischen Gewerkschaftsbewegung erhalten, als sie den wichtigsten opportunistischen Schwankungen der TUCSA nicht nachgegeben hatte, sondern wiederholt aus dem Dachverband ausgetreten war. In der neuen Situation nach Erlaß der Arbeitsgesetzgebung entschied sich die Boilermaker Society, auf die Gründung von Parallelgewerkschaften zu verzichten, erwirkte aber vom Minister die Ausnahmeerlaubnis, direkt afrikanische Mitglieder aufzunehmen und insofern echt multirassisch zu werden. In Absprachen mit führenden afrikanischen Metallgewerkschaften - verbunden durch die gemeinsame Mitgliedschaft im Internationalen Metallgewerkschaftsbund wurden Organisationsabsprachen versucht. Die Boilermaker Society wollte schwarze Facharbeiter der höheren Lohngruppen organisieren und die un- und angelernten Arbeiter der unteren Lohngruppen den unabhängigen südafrikanischen Gewerkschaften überlassen. Im Vertrauen auf organisatorische Überlegenheit, ein eigenes funktionierendes Kranken- und Arbeitslosenversicherungssystem, glaubte die Gewerkschaft, die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung in Südafrika mildern zu können. So aufrichtig und auch vertrauensbildend eine solche Haltung ist - und im Rahmen weißer Gewerkschaftstradition auch mutig und fortschrittlich - , eine solche Politik läuft der Entwicklung lediglich hinterher. Die Entscheidung für eine unabhängige afrikanisch dominierte Gewerkschaftsentwicklung ist nicht zuletzt durch das Verhalten der weißen Gewerkschaftsbewegung unvermeidlich geworden. Der Versuch, afrikanische Arbeiter nach Fach- und ungelernten Arbeitern getrennt zu organisieren, entspricht zwar der weißen Tradition von Handwerksgewerkschaften, dient aber objektiv der Regierungspolitik, die Apartheid langfristig durch Aufspaltung der Afrikaner in eine kleine begünstigte städtische Facharbeiterschaft und in eine riesige Reservearmee in formell unabhängigen Homelands abzusichern.
1 4 Die koloniale Dauerkrise in Westafrika: Das Beispiel Nigeria aus: Dietmar Rothermund (Hg.): Die Peripherie in der Weltwirtschaftskrise: Afrika, Asien und Lateinamerika 1929-1939, Paderborn 1983, S. 37-58. ° Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn
Am Beispiel Nigerias, eines der bedeutendsten afrikanischen Länder, das jetzt eine Bevölkerung von rund 100 Millionen (1945 = 22 Mill.) hat, soll diskutiert werden, inwieweit eine langfristige ökonomische Krisenperiode, die vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges anhielt, grundsätzliche Bedeutung für die politische Ökonomie eines Landes der Dritten Welt hatte. Für das frankophone Afrika hat C. Coquery-Vidrovitch argumentiert, daß die Weltwirtschaftskrise (1929-1934) in mehrfacher Hinsicht die künftigen Strukturen der Unterentwicklung in diesen Ländern entscheidend geprägt hat. Sie führt hierfür vier Gründe an: Der Verfall der Weltmarktpreise sei zu Lasten der Produzenten ausgeglichen worden und zwar teils durch Zwangsmittel des Staates, teils durch indirekte Auswirkungen der Marktmechanismen, die zur Bearbeitung von Neuland geführt haben. Diese Produktionsausweitung ohne Produktivitätssteigerung habe zur Überlastung der bäuerlichen Haushalte geführt und den Rückgang der Nahrungsmittelproduktion gegenüber der Produktion exportfähiger Marktprodukte mit sich gebracht. Der französische Staat habe, teils um die Krise in Frankreich selbst zu mildern, teils um die kolonialen Staatshaushalte zu stabilisieren, durch verstärkte Staatskontrolle und Interventionen in der Produktvermarktung, aber auch auf dem Wege der Steuerpolitik die Überlastung der afrikanischen Landwirtschaft gesteigert. Die Budgeteinbußen und der Kaufkraftverlust der ländlichen Massen hätten zur Kürzung der Mittel für die sozialen Dienste geführt, damit habe sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung verschlechtert, und das ökologische System wurde bereits beeinträchtigt. In den Staaten des Maghreb seien der Marginalisierungsprozeß auf dem Lande, Landflucht und Slumbildung in den städtischen Agglomerationen ein typisches Kennzeichen der Krise geworden. Die Ergebnisse dieser französischen Untersuchungen können hier nicht überprüft werden, sie sollen dennoch als Ansatz für eine Analyse des wichtigsten anglophonen Landes in Afrika dienen, in dem es keine Siedler oder Minengesellschaften wie in einigen anderen Teilen des britischen Kolonialgebietes gab, die besondere Bedingungen schufen. 1 Im Unterschied zu einigen anderen in diesem Sammelband behandelten Ländern ist für Nigeria die Frage nach einer anfänglichen Industrialisierung durch Importsubstitution irrelevant. Nigeria blieb ein reines Agrarexportland, bei dem lediglich die Zinngewinnung im Zweiten Weltkrieg nach dem Verlust Malayas für England eine Rolle spielte. Zwar wurden in der Krise vereinzelt Forderungen nach einer Industrialisierung als Ausweg aus dem Dilemma der nigerianischen Wirtschaft von Seiten führender afrikanischer Händler gestellt, aber diese Forderungen hatten keine unmittelbaren Folgen, und es ist daher gerechtfertigt, diese Untersuchung auf die Landwirtschaft zu beschränken. Hierbei geht es zunächst um die Anbindung der
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nigerianischen Wirtschaft an den Weltmarkt. Grad und Art der Durchdringung der afrikanischen Landwirtschaft durch die Kräfte des Weltmarkts sollen diskutiert und dabei zwei Themen in den Vordergrund gestellt werden: Der Stellenwert der Weltwirtschaftskrise im Rahmen einer längerfristigen Kolonialkrise und die Betroffenheit der großen Masse der afrikanischen Produzenten. Es ist eine der Versuchungen der "Krisen-Geschichtsschreibung", die in der Zeit der Weltwirtschaftskrise auftretenden Phänomene überzuinterpretieren. Die Dramatik der Ereignisse legt dies nahe. Der Gesamtwert des nigerianischen Außenhandels betrug zum Beispiel auf seinem Höhepunkt im Jahre 1920 38 Millionen Pfund Sterling, ging 1930 auf 28 und 1934 gar auf 14 Millionen Pfund zurück und machte drastische Kürzungen im Staatsbudget erforderlich. Doch bei all dieser Dramatik sollen auch jene Entwicklungen beachtet werden, die durch die Krise allenfalls verstärkt wurden und sich bereits früher abzeichneten, und schließlich auch solche, die unabhängig vom Krisenverlauf waren. Dabei soll auch eine Erfahrung beachtet werden, die sich aus der Diskussion um die "Große Depression" von 1874-1896 ableiten läßt, daß nämlich zwischen den strukturellen Folgen der Krise für das ökonomische System und den politischen Auswirkungen zu unterscheiden ist, weil diese nicht immer in direkter Beziehung zueinander stehen. Auch die Problematik der zeitgenössischen Wahrnehmung der Krise ist in diesem Zusammenhang zu beachten. Für Westafrika trifft dies in besonderem Maße zu, weil eine schnelle Folge von "guten" und "schlechten" Jahren die Erkenntnis längerer Trends den Zeitgenossen sehr erschwerte. In diesem Sinne soll auch der Versuch unternommen werden, die Betroffenheit der großen Masse der afrikanischen Produzenten zu ergründen. Forschungsstand und Materiallage machen dies zwar zu einer nahezu unerfüllbaren Aufgabe, aber eine Beschränkung auf das Außenhandelssystem, die Bereitstellung der Agrarexportprodukte und die wenigen importintensiven städtischen Zentren wäre unbefriedigend, weil dann die Auswirkungen der Krise auf die große Mehrheit der Bevölkerung nicht berücksichtigt werden könnten. Diese Orientierung an der Betroffenheit der Mehrheit der Bevölkerung erlaubt es auch, zwischen den unterschiedlichen wirtschafts- und finanztheoretischen Ansätzen, die die zeitgenössische und spätere Literatur zur Wirtschaftskrise bestimmen, insofern zu gewichten, als jenen, die die Welt der Produzenten in den Blick nehmen, besondere Beachtung geschenkt wird.
Allgemeine Trends der nigerianischen Wirtschaftsgeschichte seit 1914 Für die afrikanischen Agrarproduzenten und die seit dem 18. Jahrhundert aus der Agrarexportwirtschaft erwachsene städtische Intelligenz ist Nigeria - neben Uganda - der günstigste Fall einer kolonialen Ökonomie, weil die folgenden positiven Faktoren wirksam waren: Die Agrarproduktion blieb in afrikanischen Händen. Ein Plantagensektor oder eine Siedler-Großlandwirtschaft, die Kapital und Infrastruktur
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auf sich konzentriert hätte, hat sich bis auf geringfügige Ansätze nicht entwickelt. Mit Ausnahme des erst im Zweiten Weltkrieg von Bedeutung werdenden Zinnabbaus auf dem Jos-Plateau gab es keine Bergbauenklaven, die Probleme massenhafter Arbeiterrekrutierung oder institutionalisierter Wanderarbeit geschaffen hätten. Eine Binnenwanderung gab es zwar in Nigeria in der gesamten Kolonialzeit und bis hin zur Gegenwart. Diverse Push- und Pull-Faktoren wie Überbevölkerung, ökonomische Chancen für diejenigen, die eine elementare Bildung genossen hatten, die Anziehungskraft der Wachstumspole usw. spielten dabei eine Rolle, aber diese Wanderungsbewegungen waren nicht auf fremdbestimmte Enklaven ausgerichtet. Eine Vielfalt von Agrarprodukten trug zur Diversifizierung der Wirtschaft bei. Das nigerianische Wirtschaftssystem, das zumindest bis in die 1920er Jahre auch auf das benachbarte frankophone Hinterland durch Handelsbeziehungen Einfluß nahm, war durch einen regional differenzierten und für afrikanische Verhältnisse ungewöhnlich umfangreichen und entwickelten Binnenmarkt geprägt. Unabhängig vom atlantischen Exporthandel bestand der Austausch von Produkten der Waldzone (Kola, Früchte, Fisch) mit denen der Viehwirtschaft der nördlichen Steppenzone. Salz-, Leder- und Textilhandel ergänzten den agrarischen Austausch. Der atlantische Exporthandel mag diese Intensivierung der Handelsbeziehungen zusätzlich begünstigt haben, aber er war nicht der bestimmende Faktor. Von den Größenordnungen dieses Binnenmarktes ist indessen nichts Zuverlässiges bekannt. Wie in jeder Agrargesellschaft ist dieser Binnenmarkt, an dem sich spezialisierte Nahrungsmittelproduzenten ebenso beteiligten wie eine Vielzahl kleiner Kultivatoren, die gelegentlich oder regelmäßig kleine Quantitäten auf lokalen Märkten unterbringen oder zukaufen, die große Unbekannte, die das von Exportwirtschaft und modernem Dienstleistungssektor und Lohnarbeit geprägte wirtschaftsgeschichtliche Bild belastet. Drei große - auch verkehrsmäßig miteinander verbundene - Regionen lassen sich ausmachen. In den Emiraten des Nordens hatte sich, immer noch belebt durch den Transsahara-Handel und die Ost-West-Beziehungen am Sahelrand, ein jahrhundertealtes Wirtschaftssystem entfaltet, das mit seinen großen Urbanen Zentren eine vom atlantischen System unabhängige Dynamik entfaltet hatte. In West-Nigeria ergaben Siedlungsweise und politisches System der Yoruba eine für Afrika überdurchschnittliche Urbanisierungsrate. In Ost-Nigeria hatte sich in Ibo-Land ein dichtes System von Großdörfern entwickelt, das mit Problemen akuter Landnot zu kämpfen hatte. Mit dem Auslaufen des Sklavenhandels, der insbesondere Südostnigeria schwer getroffen hatte, entstand im 19. Jahrhundert entlang der Küste eine auf den Export nach Europa ausgerichtete Palmöl- und Palmkernexportproduktion auf bäuerlicher Grundlage. Dieses von Wildpalmen gewonnene Produkt machte in der Periode 1906-1913 im Durchschnitt 82,1 Prozent des gesamten Exportwertes aus, ging 1914-1938 auf 50,6 Prozent zurück, um im Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit einen Anteil von nur noch 22-34 Prozent zu erreichen. 2
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Diesem älteren und dominierenden Produkt folgte der Kakao-Anbau in WestNigeria; 1880/90 war Experimentier- und in den zwanziger Jahren die Expansionsphase. Es folgte der Erdnuß-Anbau im Norden mit einer Experimentierphase um die Jahrhundertwende und einer Expansionsphase ebenfalls in den zwanziger Jahren. Exportwert dieser drei Produkte war 1915: 3,1 Mill. (Ölprodukte), 0,3 Mill. (Kakao) und 0,07 (Erdnüsse); 1920: 10,3 Mill. (Ölprodukte), 1,2 (Kakao), 1,1 Mill. (Erdnüsse); 1925: 9,1 Mill. (Ölprodukte), 1,4 Mill. (Kakao), 2,3 Mill. (Erdnüsse).3 Von dem sich damals einseitig auf die Kakaoproduktion festlegenden Ghana unterschied sich Nigeria durch eine Diversifizierung der Exportprodukte, deren positive Effekte jedoch dadurch relativiert wurden, daß in den jeweiligen regionalen Produktionsgebieten ein Produkt vorherrschte.
Langfristige Auswirkungen der Krisenperioden In einem ersten Argumentationsgang soll ein Überblick über die Auf- und Abschwungphasen der nigerianischen Wirtschaft mit einer Betrachtung der langen Trends der Produktentwicklung gegeben werden, um einen Maßstab für die Relevanz der Krisen für die Produktentwicklung zu gewinnen. Erst danach sollen die Reaktionen von Produzenten, Handel und politischem System auf die Krisenlagen in einigen wichtigen Aspekten verfolgt werden. Die koloniale Ökonomie Nigerias war bis zur Jahrhundertwende durch eine Reihe wichtiger Vorentscheidungen geprägt worden, die auch für die spätere Krisenperiode relevant blieben. Hierzu gehörte insbesondere, daß ein Konzentrationsprozeß unter den europäischen Kolonialfirmen, gestützt durch koloniale Gewaltmaßnahmen, die aus dem Sklavenhandel und erster Produktvermarktung stammende nigerianische Zwischenhändlerschicht erheblich geprägt hatte. Dies galt insbesondere für die großen Handelshäuser des Nigerdeltas. Dieser Prozeß wurde zwischen 1900 und 1914 verstärkt, als europäische Firmen, teilweise angelehnt an den Bahnbau, Handelsstationen im Hinterland anlegten. Ein weiterer wichtiger Impuls ergab sich nach dem Urteil des nigerianischen Wirtschaftshistorikers Oyemakinde aus der Mobilisierung jener Arbeitskräfte für den Anbau der Exportund Nahrungsmittel-Marktprodukte sowie den Verkehrsausbau, die vor der Durchsetzung des kolonialen Friedens militärisch aktiv waren.4 Den Investitionen im Bahnbau, in den Zinngruben und beim Ausbau eines europäischen Filialsystems gingen nigerianische Investitionen in der Nahrungsmittelproduktion, dem KakaoAnbau und dem Erdnußanbau und in der Erziehung parallel. Der Produktionsausweitung für den Export liefen eine Ausweitung der Nahrungsmittelproduktion und ein verstärkter Warenaustausch insbesondere zwischen Norden und Süden parallel. Beides, nigerianische Agrarproduktion sowie Ausweitung von Export- und Importmarkt, weiteten Opportunitäten auch für nigerianische Händler und Händlerproduzenten aus. Dadurch wurden Rückschläge aufgeholt, die durch die Inlandpolitik der
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europäischen Firmen und die Verödung einer Vielzahl traditioneller Atlantikhäfen durch Konzentration des Verkehrs auf Lagos und Port Harcourt verursacht waren. 5 Die allgemeine Produktionsausweitung, der vergrößerte Binnenmarkt, steigende Produktpreise auf dem Weltmarkt und noch ausreichende Konkurrenz europäischer Firmen untereinander sowie ein produktiv eingesetzter Kapitalzufluß vergrößerten nicht nur die Weltmarkteinbindung, sondern offensichtlich auch den Anteil nigerianischer Händler, Produzenten und Arbeiter am wachsenden Sozialprodukt.
Der Erste Weltkrieg Der Erste Weltkrieg verursachte eine erste wesentliche Strukturveränderung in der kolonialen Ökonomie Nigerias. Wichtige Elemente der Entwicklung in der Zwischenkriegszeit und der Periode des Zweiten Weltkrieges bereiteten sich vor oder wurden vorentschieden. Der Weltkrieg resultierte in der Konzentration des nigerianischen Außenhandels auf Großbritannien als dominierenden Abnehmer. Bis 1913 war Deutschland mit über 50 Prozent am Außenhandel beteiligt. Britische Fachleute schätzten aufgrund der Entwicklung bis 1913, daß die zentraleuropäischen Länder und Holland bis 1922 die Hauptabnehmer für die nigerianischen Produkte werden und damit den Markt anstelle der Kolonialmacht dominieren würden. Ein weiterer bedeutsamer Prozeß mit langfristiger Wirkung war die Monopolbildungstendenz der europäischen Handelskonzerne. Ferner nahm die Staatsintervention zu. Budgetprobleme während des Krieges führten dazu, daß die Steuerschraube angezogen wurde. Das Kolonialverwaltungssystem der "indirect rule" wurde diesem finanziellen Interesse untergeordnet. Die sogenannten "traditionellen" afrikanischen Behörden, die oft künstlich etabliert worden waren, wurden in abhängiger Funktion als kostengünstiges Mittel der staatlichen Kontrolle genutzt. Die unmittelbare Folge des Kriegsausbruchs war, daß Nigeria seinen Hauptmarkt, Deutschland, und seinen Hauptanlaufhafen, Hamburg, verlor. Vor dem Krieg (1913) gingen 80 Prozent der Palmkemernte, 53 Prozent der Erdnüsse und 50 Prozent der Häute und Felle, die Nigeria ausführte, nach Deutschland.6 Die Bedeutung der Außenhandelsbeziehungen zu Deutschland war so groß, daß das britische Kolonialamt das in Lagos ausgesprochene Handelsverbot für deutsche Kaufleute aufhob und sie ihren Handel unter Restriktionen noch bis in den November 1914, also vier Monate nach Kriegsausbruch, weiter betreiben ließ.7 Mit dem Abbruch der Handelsbeziehungen zu Deutschland und dem Ausfall der führenden deutschen Schiffahrtsgesellschaft, der Woermann-Linie, stieg der Einfluß der britischen Firmen, die zur Monopolbildung neigten. Die Liverpooler Firmen 8 schlössen ein Abkommen mit dem Ziel, die Produzentenpreise zu drücken und Firmen, die sich dem Abkommen nicht angeschlossen hatten, auszuschalten. Auch wenn sich dieses Abkommen weitgehend auf Süd-Nigeria beschränkte, so hatte es doch durch die de-facto-Kooperation mit der Niger-Company eine umfassende
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Bedeutung. Das zweite erfolgreich angestrebte Ergebnis des Abkommens war, den im Ersten Weltkrieg verknappten Schiffsraum zu monopolisieren und die nigerianischen Firmen und kleineren britischen Händler vom Schiffsraum auszuschließen. Sie blockierten Bahnschuppen und Waggons mit ihren Waren und zwangen so die Regierung, den bewirtschafteten Schiffsraum bevorzugt an die Agreement-Firmen abzugeben. Mit der Androhung, ein alternatives Charterabkommen abzuschließen, wurde Eider Dempster, die nach Ausfall der deutschen Firmen das Schiffahrtsmonopol hatte, gezwungen, die Agreement-Firmen bevorzugt zu versorgen. Da die Regierung durch Konfiskationen Schiffsraum verknappte, setzte sich das Monopol durch. Der Effekt dieser Abkommen bei den nigerianischen Farmern war groß. Die Erdnußfarmer des Nordens mußten Preiseinbußen von 50 Prozent hinnehmen. Boykottversuche liefen ins Leere, wenn auch ein Teil der Exportprodukte vom Markt genommen wurde. Versuche des Gouvernements unter Lord Lugard, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen - es wurde sogar erwogen, amerikanische Firmen als Gegengruppe zu ermuntern -, blieben folgenlos. Ermunterung ausländischer Konkurrenz konnte gerade in Kriegszeiten als unpatriotisch abgewehrt werden. 9 Lediglich gegen Kriegsende (1. Juli 1918 bis Oktober 1919) begann die britische Regierung, den Aufkauf der Ölprodukte in England zu zentralisieren und die Preispolitik zu bestimmen. Da sie indessen keinen Einblick in die Preisverhandlungen zwischen Produzenten und Zwischenhändlern hatte, sondern nur in solche zwischen Exportfirmen und Zwischenhändlern, waren diese Maßnahmen, die ohnehin stets Kompromisse mit den europäischen Firmen darstellten, kaum wirksam kontrollierbar. 10 So entstanden im Krieg Preisdifferenzen zwischen Lagos und Liverpool, die drei- bis achtfach so hoch waren wie vor dem Krieg. Die britischen Händler sicherten sich auf diese Weise eine enorme Handelsspanne." Auch die Übernahme der Kontrolle des Schiffraums durch die Regierung im Mai 1917 beeinträchtigte die enormen Gewinnmöglichkeiten der Großfirmen nicht, da das regulierende Komitee von den Firmenvertretern besetzt war. Staatsintervention in Nigeria als Folge der Kriegswirtschaft war eines der Vehikel zur Konzentration, auch wenn diese zur Kontrolle dieser Konzentrationsprozesse angesetzt war. Langfristig von weitreichenderer Bedeutung als die Wahrnehmung der Chancen durch die bestehenden britischen Firmen nach Ausfall der deutschen Konkurrenz wurde allerdings, daß sich die Großen der verarbeitenden Industrie in England in das Geschäft einschalteten. Einer der Ausgangspunkte dafür war, daß das deutsche Importmonopol für Palmkerne sich auf eine überlegene Technik für die Bearbeitung der Palmkerne stützte, die in Großbritannien nicht eingeführt war, weil die als Viehfutter verwendeten Ölkuchen von der britischen Farmwirtschaft nicht angenommen wurden. Diebritische Seifen- und Margarine-Industrie unter Führung von Lever Brothers bot die Installation der notwendigen Maschinen unter der Bedingung an, den Handel mit Palmkernen monopolisieren zu dürfen. Auch wenn dies
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nicht akzeptiert wurde, begann damit die verstärkte Präsenz von Lever Brothers in Nigeria, die zunächst ihre Palmkern Verarbeitungsbetriebe, die seit 1910 in Nigeria bestanden, ausweiteten und neue Fabriken gründeten, dann aber vor allem in das lukrative Schiffahrtsgeschäft (seit 1917) einstiegen. Die Bedeutung dieses intensivierten Einstiegs großen internationalen Industriekapitals in ein auf Handelskapital weitgehend beschränktes Außenhandelssystem sollte sich in der Nachkriegskrise 1920/22 zeigen. Der Verfall der Exportpreise bis 1917 und ein Anstieg der Importpreise führten dazu, daß sich erstmals in der kolonialen Ökonomie die "terms of trade" gegen Nigeria wandten. 12 Vorübergehend wurde diese Kriegskrise durch die Strangulierung des Kreditsystems verschärft, weil die starke Position des deutschen Kapitals verfiel, aber auch die Bank of British West Africa den Handelsfirmen keine Kredite in der unsicheren ersten Kriegsphase gewährte, in der der Produktabsatz ungeklärt war. Die gleichzeitige Verknappung des Geldes, insbesondere der Silbermünzen, veranlaßte die Produzenten, ihre Produkte zurückzuhalten. Langfristig von nicht geringerer Bedeutung war, daß der mit der Kriegskrise verbundene ökonomische Rückgang auch das Budget der Kolonialverwaltung schwer traf und diese veranlaßte, die Steuerschraube anzuziehen bzw. überhaupt in wichtigen Gebieten erstmals wirksam einzusetzen. Insbesondere mußten die Erträge aus dem Einfuhrzoll für den umfangreichen deutschen Gin-Import ausgeglichen werden. 13 Die Regierung versuchte auf einer Vielzahl von Wegen ihre Einnahmen zu steigern. Eine Exportsteuer auf Exportprodukte wurde erhoben. Mit weiteren Formen der indirekten Besteuerung wurde experimentiert. Vor allem aber wurde mit Wasser-Abgaben, Rot-Kreuz-Fonds und anderen Formen von Abgaben zielsicher das System der direkten Besteuerung auf den Süden und Osten des Landes ausgeweitet, das bislang nur im Rahmen des traditionellen Besteuerungssystems der nördlichen Emirate gegolten hatte. Politisch entscheidend wurde, daß diese Abgabenpolitik von Gouverneur Lugard auch als Hebel verwendet wurde, das System der "indirect rule" auf das Yoruba-Land zu übertragen, also das einheimische politische System für die Kolonialverwaltung nutzbar zu machen und den administrativen Hierarchievorstellungen zu unterwerfen. Da damit in die sehr komplizierte gesellschaftliche Balance der städtischen Kleinkönigsreiche und regionalen Tributverpflichtungen eingegriffen wurde, löste die Steuerpolitik und die damit verbundene finanzielle und dann militärische Absicherung der von der Kolonialmacht gestützten traditionellen Herrscher eine Welle von Aufstandsbewegungen, insbesondere im Yorubaland, aus. Lugard trieb das System des "indirect rule", das an der Verfassungswirklichkeit des Landes vorbeiging, nicht nur aus fiskalischen Gründen voran. Er wollte die traditionelle Elite stützen, um ein Gegengewicht zu der durch Exportboom, Ausweitung des Dienstleistungsbereiches und des Bildungswesens stärker werdenden neuen kommerziellen und Bildungs-Elite Nigerias zu schaffen. 14
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Oyemakinde hat den Kontrast zwischen der Entwicklung in der Vorkriegszeit und den wirtschaftlichen Konsequenzen des Ersten Weltkrieges betont. Nach seiner Ansicht hat die nigerianische Wirtschaft in der Periode von 1894 bis 1914 einen großen Sprung nach vom gemacht, während der Krieg einen solchen Sprung für das koloniale System und die ausländischen Firmen bedeutete.15 Doch wenn man die Vorstöße des kolonialen Systems seit den 1890er Jahren betrachtet, so kann man diesem Hinweis auf eine kriegsbedingte Trendwende nicht unbedingt zustimmen. Damals folgte der Unterwerfung des Nordens mit der Aufrechterhaltung des Emiratsystems und Experimenten in der Erdnuß- und Baumwollproduktion der Vorstoß zur Zerschlagung des nigerianischen Zwischenhandels am unteren Niger, den D.C. Ohadike16 den fünfzehnjährigen Krieg genannt hat und dessen letzte größere Operation erst im Oktober 1914 abgeschlossen wurde. 17 Seit die Charter der Royal Niger Company widerrufen wurde (1899), die Bahnbauten nach Norden den Verkehr von den Flüssen abzogen und die traditionellen nigerianischen Handelshäuser umgangen werden sollten, kam es zu ähnlichen "Strafexpeditionen". Die Handelsorganisationen - z.B. die Aro-Gesellschaften die den Zwischenhandel kontrollierten, wurden zerschlagen. Städte und Dörfer, die sich britischen Offensiven entgegensetzten, wurden mit hohen Strafzahlungen ruiniert. Der Erste Weltkrieg zeitigte unter diesem Aspekt die Fortsetzung der Kampagnen zur Durchsetzung des kolonialen Systems durch politische Maßnahmen, Forcierung der Steuerpolitik und militärische Repression. Die Ausweitung der Aktivitäten der europäischen Firmen ließe sich dann als Ergebnis einer kontinuierlichen politischen Strategie erklären, die durch flankierende Maßnahmen im Infrastrukturbereich unterstützt wurde und für Nigeria folgenschwerer war als die Schwankungen des Weltmarktes. Wie tiefgreifend die Umstellung der ökonomischen Struktur im Nigerdelta durch den Angriff auf die alten ökonomischen Eliten und die parallel dazu verlaufende politische Durchdringung einschließlich der militärischen Unterdrückung bestimmt wurde, belegt die Fall-Studie von Ohadike, die nachweist, daß von diesem Wandel die gesamte Nahrungsmittelproduktion und damit der Alltag sämtlicher einfacher Agrarproduzenten erfaßt wurde. Das untere Nigergebiet war zur Zeit der Bevölkerungszuwanderung im Nigerdelta während des Sklavenhandels Nahrungsmittellieferant für das Delta geworden. Haupterzeugnis war die Yamswurzel. Ein Ergebnis der britischen politischen Offensiven vor dem Ersten Weltkrieg und während der Weltkriege war, daß die Agrarproduktion durch die Kriegführung der verbrannten Erde litt, wesentlicher wohl noch, das System des internen Nahrungsmittelausgleichs in Krisenzeiten zwischen den Dörfern zusammenbrach. Die arbeitsintensive Yams-Produktion wurde schwer gestört, und erstmals begann die Bevölkerung, auf Cassava auszuweichen. In diese Krise des Produktionssystems griff 1918 eine verheerend von Europa übergreifende Influenza-Epidemie ein, die nach - selbstverständlich unvollständig - gemeldeten Todesfällen über 25 Prozent der Bevölkerung des südlichen Nigeria, insbesondere im unteren Nigergebiet, hinraffte. Da die Influenza stärker
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die jüngeren Jahrgänge angriff als die älteren und mehr Männer als Frauen, wurde die Agrarproduktion auf das Äußerste beeinträchtigt. Die weniger arbeitsintensive und gegen klimatische Schwankungen und Bodenprobleme unempfindlichere Cassava setzte sich als Haupterzeugnis durch. Zugleich hatte sich ein Nahrungsmittelüberschußgebiet in ein Zuschußgebiet verwandelt. Koloniale Kriegführung stand am Anfang, die Influenza-Katastrophe beschleunigte den Prozeß der Produktionskrise und die parallellaufende Transportrevolution in Nigeria zunächst durch Bahnbauten, dann durch den Lastwagen ermöglichten in weitaus größerem Umfang als je zuvor überregionalen Nahrungsmittelaustausch und damit eine Besiegelung des agrarischen Strukturwandels. Hier ließe sich bei genaüerer Detailkenntnis für die lokale Produktionsgeschichte ein klares Wechselspiel zwischen langen Trends der Produktionsstrukturen, der Bevölkerungsgeschichte, langfristigen ökonomischen Innovationen, politischen Strategien und akuten Krisenlagen nachzeichnen, bei dem es verhältnismäßig schwierig sein dürfte, akuten ökonomischen Krisenlagen wie der Absatzkrise für Palmöl 1914-16, der Deflationswirkung der Kreditkrise und intensivierter Steuerpolitik mehr als Trendverstärkung zuzuschreiben."
Nachkriegsboom und Nachkriegskrise, 1919-1922 Nachdem Amerika den Ausfall des deutschen Marktes ausgeglichen hatte und die Nachfrage nach Exportproduktion anstieg, wurde ab 1917 deutlich, daß Nigeria, wenn erst die Engpässe des Transportwesens über See, die Kreditprobleme und die hohen Kriegsimportpreise überwunden wären, eine große Ausweitung seines Außenhandels zu erwarten hätte. Der Aufschwung der internationalen Margarineindustrie - u.a. deshalb der Einstieg von Lever Brothers - , der Gummi-Boom für die entstehende Autoindustrie und die Ausweitung der Nachfrage nach Kakao, insbesondere auch in den USA, stimulierten eine aggressive Aufkaufspolitik der Handelsfirmen bei den Produzenten. Dies eröffnete neue Chancen auch für nigerianische Initiativen, die Lücken ausfüllten, die das Ende des deutschen Firmensystems gerissen hatte. Nigerianische Manager wechselten von den Büros der europäischen Firmen, die sich in den unteren und Mittelpositionen während der Personalverknappung im Kriege "nigerianisiert" hatten, in eigenständige Firmen. Teilweise gingen sie, nachdem Produktvermarktung im Hinterland und Transportgeschäfte während des Krieges neue Kapitalien geschaffen hatten, sogar ins internationale Geschäft über. In einer Phase der Euphorie entstand bei dieser nigerianischen kommerziellen, im Dienstleistungsbereich tätigen Elite der Eindruck einer neuen Chance nach ihrer Verdrängung aus dem internationalen Zwischenhandel in den 1880er Jahren und den Diskriminierungen während des Ersten Weltkrieges. Um so schwerer traf es sie, als der Zusammenbruch des Nachkriegsbooms in Europa und USA auf Nigeria voll durchschlug. Der Wert der Exporte ging um die Hälfte zurück und fiel unter den Stand von 1917."
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"Es ging eine Welle von Bankrotten durch Lagos, und die zuversichtlichen (nigerianischen) Geschäftsleute von 1919-20 waren 1921 wieder zurück an ihren Schreibpulten, um als Angestellte und Agenten für die nun vollständig dominierenden europäischen Firmen zu arbeiten, die die Krise überlebten"20, während sich auf europäischer Seite der Konzentrationsprozeß zuspitzte. Allerdings ist auch hier der Zusammenhang mit der Krise nur äußerlich, denn die erste vorentscheidende große Firmenzusammenfassung fand 1919 statt, als Miller Brothers, F. A. Swanzy, die African Association Ltd. und eine Anzahl kleinerer Firmen sich zusammenschlössen und die African and Eastern Trade Corporation bildeten, die in eine effektive Konkurrenz mit der vorherrschenden Niger Company eintrat. Ebenfalls vor der Krise kaufte dann Lever Brothers 1920 die Niger Company auf und versuchte in einem Vernichtungswettbewerb auch die A & ETC zu übernehmen, was dann erst im April 1929 mit der Bildung der United Africa Company gelang. Im Zuge dieses Konzentrationskampfes blieben viele kleine Firmen auf der Strecke. Die Krise 1921/22 beschleunigte ihr Ende, verursachte es eigentlich aber nicht.21
Die Weltwirtschaftskrise und ihre Auswirkung auf das Produktionsverhalten Die leichte Aufschwungphase mit dem Jahr 1925 als Spitzenjahr in Volumen und Wert der Exportprodukte22 ging mit leicht abfallenden Preisen ab 1927 abrupt in die Weltwirtschaftskrise über, die die von Timoshenko beobachtete, der Weltwirtschaftskrise vorangehende Weltrangkrise nur abgeschwächt widerspiegelte23. 1931/32 waren die Jahre des absoluten Tiefpunktes der Produktpreise. Palmkeme und Palmöl fielen von £17 auf £8 bzw. £28 auf £ 13 per Tonne. Kakao fiel von £42 auf £20 und Erdnüsse von £15 auf £9. Der Gesamtwert des nigerianischen Exports fiel zwischen 1929 und 1931 von £17,8 Mill. auf £8,8 Mill. Da die Importpreise langsamer fielen, kam ein Kaufkraftverlust von 38 Prozent hinzu. Importe fielen dementsprechend von £13,2 Mill. auf £6,5 Mill. Bei den weniger wichtigen Exportprodukten wie Gummi und Baumwolle verfielen Produktpreise bis zu 90 Prozent.24 Nach einer kurzen Wiederbelebungsphase 1936/37 erfolgte ein noch tieferer Absturz 1938, der mit Preisen unter den Marken von 1931 bis 1942 anhielt. Ab 1945 erst ist (ohne Inflationsberücksichtigung) das Preisniveau von 1928/29 wieder erreicht. Das durchgängige Phänomen in der gesamten behandelten Periode ist, daß alle maßgeblichen Exportproduktmengen zwar entsprechend der Preiskurve schwankten - wobei die den Statistiken zugrunde liegenden f.o.b.-Preise nur sehr mangelhaft die realen Produktpreise, die der Bauer beim Zwischenhändler (middleman) erhielt, widerspiegeln -, aber die Produktmenge trotz dieser Anpassung an die Preise insgesamt doch ständig im Volumen zunahm.25 Allerdings schwankten die Mengen in beiden Richtungen von Jahr zu Jahr erheblich. Uber die Verursachung dieser begrenzten Reaktion auf die Preisschwan-
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kungen hat es vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg eine heftige, politisch relevante Diskussion gegeben zwischen denen, die letztlich aus diesem Phänomen eine mangelnde ökonomische Rationalität der Produzenten ableiteten und damit eine Politik der Preisstabilisierung für überflüssig erklärten, und jenen, die einen direkten Zusammenhang zwischen Produktpreis und Produktmenge herstellten und eine Politik der Produktpreiskontrollen forderten. 26 Hinter den globalen Trendangaben verbergen sich indessen wichtige Varianten, die für das Verhalten der bäuerlichen Produzenten und damit auch für die strukturelle Auswirkung der Krise von Bedeutung sind.27 Die erste wesentliche Unterscheidung, die P.T. Bauer bereits machte, liegt darin, daß eine generelle Produktionsausweitung auch bei sinkenden Preisen durch Aufnahme der Produktion durch neue Produzenten möglich ist, auch dann, wenn individuelle Entscheidungen zur Vernachlässigung der Exportprodukte führen. Der zweite Aspekt ist, daß die meisten Produzenten Exportprodukte und Nahrungsmittel kombiniert anbauten, meist sogar als "intercropping" auf dem gleichen Land. Ihre finanziellen Verpflichtungen - Steuern, Kredite, Brautgeld und Auszahlung überfälliger Löhne aus der vorhergehenden Saison - hinderten sie daran, Exportprodukte in dem Maße abzubauen, wie es dem Marktverfall entsprochen hätte. Oft war die Exportproduktion überdies marginal genug, um das Zusatzeinkommen auch trotz niedriger Preise anzustreben. Der wichtigste Einzelfaktor scheint die Ausweitung von Vermarktungsmöglichkeiten durch Ausweitung der Infrastruktur und die größere Flexibilität des Lastwagentransports gewesen zu sein, der gegen die Tendenz des Produktabbaus wirkte. Dies galt insbesondere für den Kakao-Anbau. Kompakte Lage in einem Produktionsgebiet und relative Nähe zu Lagos erleichterten die Verkehrsanbindungen. 28 Für die Ausweitung der Palmöl- und Palmkernproduktion sieht Usoro29 ebenfalls eine direkte Relation zur Transportrevolution, die durch den Ausbau eines dichteren Depotsystems verstärkt wurde. Demgegenüber stagnierte der Transportausbau im Norden, hatte aber insbesondere in der Weltwirtschaftskrise selbst aufgrund extrem niedriger Export- und Nahrungsmittelproduktpreise ein Äquivalent in einem starken Aufleben des Transportes durch Packtiere, gestützt auf Aufkaufstellen und Bahnknotenpunkte.30 Der Zusammenhang von Aufkaufmöglichkeiten und Einfadelung in die Exportwirtschaft ist insbesondere bei Palmölprodukten so wirksam, weil je nach Aufkaufmöglichkeiten und Preisen Palmprodukte auf den internen Markt, insbesondere in den Norden Nigerias, abgesetzt werden konnten, da diese Ölprodukte anders als die schwer zu verarbeitende Erdnuß und der Kakao Bestandteil der nigerianischer Nahrungsmittelversorgung waren. Diese Binnenmarktverwertung hat in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre und in den dreißiger Jahren überhaupt die Palmöl- und Kernproduktion vor dem Ruin bewahrt, weil mit wachsendem Ausbau der Plantagensysteme für Ölpalmen in Malaya und Niederländisch-Indien eine Produktqualität und -menge auf dem Weltmarkt zur Verfügung stand, denen der quasi wildwachsende Ölpalmbestand der nigerianischen Bauern nicht gewachsen war, weil er nur un-
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gleichmäßige und niedrig bewertete Ölsorten hergab. 31 Am Beispiel des Produktions- und Aufkaufverhaltens bei Palmölprodukten hat Usoro - damit von der übrigen Literatur abweichend - detailliert nachgewiesen, daß aus dem Bereich der Geldzirkulation insbesondere für den Zwischenhandel, aber auch für die Produzenten selbst Anstöße zur Produktionsausweitung trotz sinkender Weltmarktpreise kamen. Für die Farmer war das Exportprodukt Zahlungsmittel im Rahmen der verstärkt und systematischer durchgesetzten Steuererhebung geworden und diente außerdem als Zahlungsmittel bei Nahrungsmittelzukäufen. Der Ölmarkt war dabei regulär gespalten, weil die kleinen Quantitäten auf den lokalen Märkten sich kaum zum Aufkauf für Zwischenhändler eigneten und diese daher lokale Preisschwankungen nicht ausnutzen konnten. Es gab also aus administrativen und sozialen Verpflichtungen (Heiraten, Zeremonien, Mitfinanzierung von Schulen und Kirchen usw.) und im lokalen Nahrungsmittelgeschäft ausreichende Anreize zur Aufrechterhai tung oder gar Ausweitung der Produktion. Dabei scheint die Nachfrage nach Importgütern, deren Preise in der Größenordnung von ca. 30 Prozent in der Weltwirtschaftskrise anstiegen, ein nur geringer Faktor für das Produktionsverhalten gewesen zu sein, weil weit über 80 Prozent des Farmer-Budgets auf Nahrungsmittelzukäufe und damit auf den lokalen Markt gerichtet war. 32 Von der Steuererhebung ist indessen generell, und speziell in einigen Produktionsgebieten, Druck auf die Ausweitung der Produktion ausgeübt worden, der einem Produktionszwang nahekam und ruinöse Formen annahm. Im Interesse der Absicherung des Staatsbudgets wurde die Steuerquote wesentlich weniger gesenkt, als dies dem Preisverfall im Lande entsprach, auch wenn stets Anpassungsmaßnahmen vorgenommen wurden. Das entscheidende Faktum war, daß die direkte Besteuerung ab 1927 auch für den Süden Nigerias vorbereitet und 1931 durchgesetzt wurde. 33 In Einzelfällen konnte fast das gesamte Bar-Einkommen von der Steuer absorbiert werden. 34 Für den Zwischenhändler bestanden auch in Perioden des Preisverfalls gesonderte Chancen, Gewinne zu machen und den Verlust auf die Produzenten abzuwälzen. Weitverbreitet wie auch in anderen Teilen Afrikas war die Ausnutzung der Preisunkenntnis der Produzenten. Eine weitere regelmäßig genutzte Möglichkeit bestand im ungenauen Wiegen. Außerdem nutzten die Zwischenhändler die Wechselkursgefalle zwischen der im Palmölgeschäft mit den Produzenten vorherrschenden lokalen Manilla-Währung und den Silber-Münzen und Noten des West-African Currency Board, das direkt an das Pfund Sterling gebunden war. Usoro kann eine direkte Korrelation zwischen Wechselkursbeziehung und Aufkaufpolitik der Zwischenhändler nachweisen. Die Pfundabwertung nach Aufgabe des Goldstandards führte dazu, daß im Wechselgeschäft mit dem Manilla der Preisverfall ausgeglichen werden konnte. 35 Ein wenn auch quantitativ unbestimmter, aber nach den übereinstimmenden Literaturaussagen wesentlicher Faktor im Aufrechterhalten von Produktion und Weitergabe der Produkte auch bei stark absinkenden Preisen lag im Kreditsystem.
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In der Regel gaben Zwischenhändler kurzfristige Vorschüsse, die im Palmölhandel in Öl zurückgezahlt wurden. Dabei wurde eine zusätzliche Produktmenge als Zinsen hinzugefügt. Ähnliches galt im Kakaogebiet, wo insbesondere in Zeiten des Preisverfalls Schwierigkeiten in der Auszahlung der Lohnarbeit, sofern nicht "share-cropping" praktiziert wurde, entstanden. Die Zinssätze müssen sehr hoch gewesen sein. Angaben pendeln sich auf Größenordnungen von 50 Prozent pro Jahr ein, wiederholt werden Zinssätze von 100 Prozent genannt. Die Zinslast konnte durch Manipulationen wesentlich gesteigert werden. Zum einen konnte statt Barzahlung für die Produkte Lieferung von im Preis überhöhten Importprodukten durchgesetzt werden. Der Produzent konnte, um seine Kreditbeziehungen aufrechtzuerhalten, genötigt werden, Produkte zu ungünstigen Zeitpunkten abzugeben. Sicherheiten im Kreditwesen bestanden wegen des überwiegend noch kommunalen Bodenrechts in der Verpflichtung, für den Händler Arbeitszeit zur Verfügung zu stellen oder, was nach dem Nutzrecht dem Landverlust sehr nahe kam, die Ernte einer bestimmten Anzahl von Bäumen abzutreten. Quantitative Angaben über das Ausmaß des Kreditwesens und der damit verbundenen Landverluste in der Zwischenkriegszeit sind nicht vorhanden. Die Verschuldung scheint weit verbreitet gewesen zu sein.36 Für ein Baumwollanbaugebiet Nordnigerias ist eine Verschuldung von 30-42 Prozent aller ländlicher Produzenten für die späten dreißiger Jahre nachgewiesen worden. Hauptursachen für die Geldleihen in diesem Gebiet waren Nahrungsnot, Ausgaben für Heiraten und Steuerzahlungen.37 Die Steuereintreiber sind bei den Erdnußproduzenten des Nordens unmittelbar bei der Ernte aktiv geworden und haben Zwangsverkäufe veranlaßt.38 Ein Teil der Kreditbeziehungen spielte sich in der "extended family" ab. Über Größenordnungen gibt es selbst für die Gegenwart nur gröbste Vorstellungen, wie weit Land kommerzialisiert war und dementsprechend durch das Kreditwesen berührt wurde. In West-Nigeria scheint während der sechziger Jahre, also nach dem starkem Ausbau der "cash-crops", der Anteil verpachteten Landes von ca. 2 Prozent auf 8 Prozent angestiegen zu sein, in Ost-Nigeria werden Pachtanteile von 7-16 Prozent berichtet. Landverkäufe haben sich 1965/66 in der Größenordnung von 4,6 Prozent des kultivierten Landes auf 8,7 Prozent 1970/71 gesteigert. 1970/71 stammten 12,4 Prozent bzw. 21,4 Prozent des Landbesitzes in Crossriver State und Kano State, Gebiete mit sehr hoher Bevölkerungsdichte, aus Verkäufen. In Sokoto konnte im Stadtumland Landbesitz bereits zu 29 Prozent aus Zukäufen stammen.39 Ein Rückrechnen auf die Zwischenkriegszeit ist nicht möglich, aber die Größenordnungen müssen auf Bruchteile der Angaben für die siebziger Jahre reduziert werden. Wenn Schlußfolgerungen aus dem Kreditwesen und der Verschuldung der Bauern für die Krisenperiode gezogen werden können, dann in dreifacher Hinsicht: 1. Aus der Kreditfrage entwickelte sich ein Teil der Kritik in der Funktion der Zwischenhändler, die ohnehin durch das Aufkommen des Lastkraftwagens und der größeren Präsenz von Agenten der großen Firmen unter Druck gerieten. Dies bereitete politisch die mit den Großfirmen abgestimmte administrative zentralisierte
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Aufkaufpolitik vor, die über Aufkauf-Abkommen schließlich zu den "Marketing Boards" der Nachkriegszeit führte. 2. Selbst die geringen Anfänge des Landtransfers bildeten zweifellos einen der Ansatzpunkte zur ökonomischen Ausdifferenzierung der Agrarproduzenten insbesondere im Umfeld der Städte, wobei aber die Möglichkeiten kapitalkräftiger Personen in Nigeria, durch Bearbeitung von Neuland und Zugang zu Arbeitskräften Landbesitz auszuweiten, deutlich im Vordergrund blieben.40 3. Die entscheidende Bedeutung hatte das Kreditsystem dadurch, daß es zu langfristigen Abhängigkeiten zwischen Produzenten und Aufkäufern führte, die die Produktpreise absenkten und teilweise die Arbeitskraft der Schuldner in Anspruch nahmen. Bauer weist mit der Skizzierung der Biographien von Zwischenhändlern nach, mit wie geringen ökonomischen Differenzierungen und Zugang zu Sonderprofiten in einer sich beschleunigt kommerzialisierenden Gesellschaft die Akkumulationsspirale in Gang kommen kann.41
Krisenperiode und politische Eliten Wirkten sich die Preisschwankungen des Weltmarktes, die Offensiven der europäischen Firmen, die Transportrevolution, Steuer- und Verwaltungspolitik der "indirect rule" bis in die Verhältnisse der einfachen Produzenten aus, so waren die nigerianischen Eliten, die viel mehr mit dem Exportsektor und staatlicher Finanzpolitik verflochten waren, vom Auf und Ab der Krisenperiode stets unmittelbarer betroffen. Das Gleiche gilt auch für die Arbeiterschaft, die kleinen Angestellten und Hilfskräfte im privaten und öffentlichen Teil des modernen Sektors. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Krisenperiode und insbesondere die Weltwirtschaftskrise politisches Bewußtsein, Organisationsformen und Koalitionsmöglichkeiten in den mit dem modernen Sektor so viel enger verbundenen Gruppen wesentlich verändert haben. Einige Faktoren lassen eine allzu enge Verknüpfung von wirtschaftlichen Wechsellagen und politischer Entwicklung in Nigeria nicht zu. Anfänge intellektueller Opposition gegen Maßnahmen der Kolonialherrschaft gingen auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück und waren von einer kleinen, vom Geist des viktorianischen Liberalismus erfaßten Gruppe von vorwiegend in britischen Universitäten ausgebildeten Juristen, Ärzten und Priestern getragen, von denen allerdings einige in das internationale oder nationale Handelsgeschäft einstiegen. Der intellektuelle und politische Bezugsrahmen war nicht Nigeria, sondern die kommerzielle Welt der Küstenstädte von Sierra Leone bis Nigeria, wobei trotz der ökonomischen Vorrangstellung von Lagos die übrigen Territorien Britisch Westafrikas durch ältere Bildungsund stärkere politische Institutionen oder wie Sierra Leone und Liberia durch die Verbindung zu der afro-amerikanischen Bewegung in den USA die stärkeren Impulse ausstrahlten. Bewußtsein von einer gesamt-westafrikanischen Interessenlage
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stand im Vordergrund panafrikanischer Utopien. Die damit verbundenen politischen Vorstellungen spiegelten die Entwicklung in den USA, deren Negro-Press in Westafrika und nicht nur dort bereits vor dem Ersten Weltkrieg rezipiert wurde, wider.42 Diese Aktivitäten sammelten sich nach dem Ersten Weltkrieg im National Congress of British West Africa (1920), der einerseits die panafrikanischen Ideen der afro-amerikanischen Entwicklung aufnahm, andererseits vorsichtige Schritte in Richtung konstitutioneller Reform unternahm. Indessen blieb das nigerianische Territorialkomitee der mit Abstand schwächste Zweig der Organisation, der zeitweise auch wegen persönlicher Konflikte zwischen den tragenden Figuren quasi nicht existent war.43 Der Erste Weltkrieg hatte zu wachsenden Spannungen zwischen dieser kleinen politisch aktiven Elite und dem Verwaltungssystem des Gouverneurs Lugard geführt. Im ökonomischen Bereich entstand die Diskrepanz zwischen vergrößerten Chancen für die nigerianische Geschäftswelt nach Ausfall des deutschen Sektors und den günstigen Weltmarktbedingungen einerseits und der systematischen Diskriminierung dieses Sektors durch die Vertragsfirmen und eine de facto parteiliche Verwaltung andererseits. Noch stärker wurde die Diskrepanz empfunden, daß gerade in einer Zeit, als die nigerianische Geschäftswelt glaubte, die Rückschläge der neunziger Jahre etwas ausgleichen zu können, Lugard sein System der "indirect rule" durch künstlich abgesicherte oder gar eingesetzte "traditionelle" Herrscher auch im Süden Nigerias durchsetzte und damit den Ansprüchen der städtischen Elite auf politische Mitwirkung eine massive Absage erteilte. Die Spannungen fanden seitens der Elite ihren Ausdruck in ständigen Pressekampagnen der fünf in Lagos erscheinenden Wochenzeitungen gegen die Administration Lugards, der seinerseits, wenn auch durch den Widerstand des Colonial Office behindert, mit den Mitteln der Pressezensur unter Ausnutzung der Kriegslage zum Gegenangriff überging. Eine politische Wirkung hatte diese Opposition indessen nicht. Wenn das System Lugard nach dem Ersten Weltkrieg überprüft wurde und der neue Gouverneur Clifford durch ein begrenztes Wahlrecht der Elite Zugang zum Stadtrat von Lagos ermöglichte, dann, weil der Eingriff Lugards in das traditionelle Regierungssystem im Yorubaland und die forcierte Steuerpolitik zu den großen Aufstandsbewegungen der Egba Revolten 1914 und 1918 geführt hatte und der Administration Lugard angelastet wurde. Trotz einiger Querverbindungen zu den Gründungsmitgliedern des späteren National Congress of West Africa entwickelte sich der Protest aus den innerpolitischen Gegebenheiten in den Yorubagebieten und nicht in Lagos selbst.44
Die Nachkriegskrise und der Ruf nach einer Verfassungsreform Die unerwartete Nachkriegswirtschaftskrise (1920/21) erschütterte das Vertrauen in einen sicheren ökonomischen Aufstieg Nigerias. Langley kann nachweisen, daß
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mit einem Schlage ökonomische Themen die nigerianische Presse beschäftigten und der National Congress of West Africa aufgefordert wurde, sich kritisch mit der Finanz- und Währungspolitik der Administration zu befassen. 45 Kennzeichen dieser Debatte über ökonomische Schwierigkeiten und ihre Aushilfsmittel war indessen, daß weniger ökonomische Maßnahmen etwa der Selbstorganisation gesucht, sondern vielmehr Verfassungsfragen forciert diskutiert wurden: "Die Agitation für Verfassungsveränderungen und der nationalistische Appell wuchs proportional zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten." 46 Hierin wurde die Lösung der ökonomischen Probleme gesehen. Begrenzte politische Handlungsfreiheit wurde als Ursache für die Behinderung freier und erfolgreicher Teilnahme am Weltmarkt interpretiert. 47 Langley interpretiert diesen Zusammenhang als den typischen liberalen Kompromiß zwischen der direkt und indirekt mit der nigerianischen bzw. westafrikanischen Geschäftswelt verbundenen "educated elite" und der Kolonialmacht48, der zum allmählichen Kurswechsel der Verwaltung in Richtung konstitutionelle Mitbeteiligung dieser Elite führte. Parallel zu diesem politischen Prozeß, der von einer starken Agitation für einen idealistischen Panafrikanismus und rassische Solidarität begleitet war, wurden zugleich positive ökonomische Antworten gesucht, insbesondere um dem wachsenden Monopolisierungsdruck der europäischen Firmen etwas entgegenzusetzten. Kennzeichnend für diese Entwicklung, die mit der Aufschwungsphase 1925-1928 parallel ging und sich in der eigentlichen Depressionsphase seit 1929 verstärkt auswirkte, waren vielfältige Versuche des Aufbaus von finanzstarken Gegengründungen, um mit den europäischen Monopolen mitzuhalten. Hinzu kamen politische Aktivitäten gegen die Monopolpolitik insbesondere der United Africa Company und der Aufkaufmonopole für Kakao. Schon bei der Rezeption von Markus Garveys radikaler "black conciousness"-Politik, die die ältere liberale afro-amerikanische Position von Du Bois ablöste, wurde deutlich, daß wohl die radikalen politischen Positionen Garveys von den liberalen Nationalisten auch in Nigeria abgelehnt wurden, aber Garveys Black-Star-Line, mit der der Direktverkehr von den USA nach Westafrika in afro-amerikanische Hände genommen werden sollte, mit Enthusiasmus aufgenommen wurde. 49 Bereits 1925 formulierte die West African Mail and Trade Gazette: "Combination and co-operation by and between West African traders and middlemen seems to us the only panacea for stemming the rapid current of declension and threatened extinction of West African traders. " 50 Der am besten dokumentierte Versuch einer weltweiten offensiven Geschäftspolitik wurde von dem ghanaischen Geschäftsmann Tete-Ansa unternommen, der in der Hauptsache von Lagos aus operierte. Er entwickelte im Rahmen des National Congress of West Africa ein ökonomisches Programm. Ausgangspunkt war, daß, obwohl die Produktion der agrarischen Exportprodukte vollständig in afrikanischer Hand lag, die Ergebnisse dieser ökonomischen Initiative aber unbefriedigend blieben, weil die ausländische Kontrolle der Marktmechanismen zu Preismanipula-
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tionen und zur Ausbeutung der afrikanischen Produzenten geführt habe.51 TeteAnsa war bis 1919 Angestellter in führenden britischen Firmen gewesen, hatte zwischen 1915 und 1919 in Ghana mit Kakao gehandelt und dann die Firma liquidiert, um in Großbritannien Handels- und Bankwesen zu studieren. Nach kurzer Rückkehr 1923 setzte er seine Studien in Großbritannien und den USA fort und kam 1928, am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, nach Westafrika zurück. Von Großbritannien aus gründete er in Accra 1925 die West African Cooperative Producers Ltd., die 1928 in London und Lagos registriert wurde. Die dritte Firma stellte die Verbindung zu den USA her. Die West African-American Corporation wurde im März 1930 in Delaware registriert. Neben Tete-Ansa waren sämtliche Co-Direktoren Afro-Amerikaner. Die amerikanische Firma sollte den Markt des Hauptabnehmers für Kakao zugänglich machen. Dieses Konstrukt wurde Ende 1930 zahlungsunfähig, wobei sich bei der Ursachenanalyse die Weltwirtschaftskrise selbst, teils die Feindseligkeit der europäischen Firmen, aber auch Mißmanagement und persönliche Rivalitäten die Waage halten.52 Tete-Ansa gab nicht auf und gründete 1932 Firmen und Banken, die allerdings mit weniger Kapital ausgestattet waren. Die Extravaganz von Tete-Ansa, wohl aber auch die erste prinzipielle Abkehr von seinem Konzept, gesamt-westafrikanische vertikale und horizontale Konzentrationsprozesse auf panafrikanischer Grundlage zu fördern, veranlaßten führende nigerianische Geschäftsleute und Politiker, aus der Bank auszusteigen und eine eigene, nun rein nigerianische Bank zu gründen: The National Bank of Nigeria Ltd., die erste langfristig erfolgreiche afrikanische Bankgründung in Westafrika.53
Vom Pan-Afrikanismus zu national-nigerianischen Konzepten Diese Entwicklung ist typisch für die politischen Konsequenzen der Weltwirtschaftskrise in Nigeria. Das Scheitern der panafrikanisch-konstitutionell operierenden Elite der zwanziger Jahre im Sturm der Weltwirtschaftskrise brachten einen spezifisch nigerianischen Nationalismus zum Tragen, der, wenn er auch keinen radikalen Bruch mit dem konstitutionellen liberalen Erbe darstellt, wie Hopkins zu argumentieren tendiert, doch durch die Konzentration auf ein Land und durch Generationswechsel in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre die institutionellen und personellen Voraussetzungen für die Dekolonisationsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg schuf. Ausdruck dieser Entwicklung wurden verschiedene nigerianische Jugendbewegungen, in denen die neue Generation der Dreißigjährigen gegen das Honoratiorentum anging. Wichtigstes Organ dieser Gruppierungen war der "West African Pilot", der 1934 von Nnamdi Azikiwe, dem späteren ersten Präsidenten Nigerias, gegründet wurde. Die ökonomischen Aspekte des afrikanischen Selbstbehauptungsanspruches vertieften sich während der Weltwirtschaftskrise, aber die wachsende Kritik an den Konzentrationsprozessen bei den europäischen Firmen
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zieht sich durch die zwanziger wie dreißiger Jahre gemeinsam hindurch, wenn auch die Marketing Pools der europäischen Exportfirmen insbesondere im Kakaobereich zu Widerstand besonders in Ghana führten, wo Boykottversuche 1937/38 in einen umfassenden ökonomisch-politischen Widerstand einmündeten. Allerdings muß man sich hüten, die unmittelbaren Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf politische Prozesse zu überschätzen. Angesichts des Ausmaßes der Krise bleiben Protest- und Widerstandsschritte minimal und können keinen Vergleich mit den Unruhen des Ersten Weltkrieges und der Widerstandsbereitschaft nach 1945 aufnehmen. Dies ist um so bemerkenswerter, hält man sich die Größenordnungen der Auswirkungen vor allem auf dem städtischen und kommerziellen Sektor vor Augen. Da der koloniale Staat der größte Arbeitgeber war, bedeutete die Reduktion des Staatsbudgets um 25 Prozent54, wobei die Masse der Ausgaben durch die Gehälter der Kolonialadministration gebunden war, die Freisetzung einer großen Anzahl von Arbeitskräften insbesondere in Lagos. Der Konzentrationsprozeß der Firmen und die parallel dazu laufende Transportrevolution taten ihr Übriges. Von 197 Firmen, die zwischen 1927 und 1936 existierten, behielten nur 14 eine ungebrochene Existenz.55 Die übrigen gingen entweder in das Monopol von Uni-Lever über oder verschwanden vom Markt. Das Filialwesen der United Africa Company wurde während der Weltwirtschaftskrise drastisch eingeschränkt. Hatte sie allein in der Kano-Region 1929 noch 80 Filialen, waren es am Ende der dreißiger Jahre nur noch 25. 56 Zehntausende von Zwischenhändlern wurden aus dem Geschäft gedrängt. Insbesondere in Lagos und ähnlichen kommerziellen Zentren führten Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung zu stetigem Lohnabbau. Das Gouvernement konnte sich in seinen Jahresberichten 1934 und 35 nicht mehr vorstellen, wie das Überleben organisiert wurde. Nur durch Rückzug in eigene Agrarproduktion am Stadtrand oder Versorgung aus der Heimatregion und sonstige Abhängigkeit von Verwandten und Freunden, die noch Einkommen hatten, konnten notdürftig Lücken geschlossen werden. 57 Zwei Umstände scheinen die überraschend geringe Widerstandsbereitschaft im städtischen Sektor bestimmt zu haben. Die Verschlechterung der Lage im Lohnsektor war kein Charakteristikum der Krisenzeit. Die Lohnarbeiterschaft mußte zwischen 1890 und 1940 im wesentlichen die gleichen nominalen Löhne akzeptieren und damit bei stetiger Importverteuerung Einbußen im Realeinkommen hinnehmen. Begrenzte Streikbewegungen zogen sich deshalb durch den gesamten Zeitraum, während das Gewerkschaftswesen in den Anfängen steckte, so daß die Kolonialverwaltung erst 1938/39 an eine Regulierung des Gewerkschaftswesens ging. 58 Ebenso wesentlich erscheint, daß individuelle Lösungen, insbesondere der Rückgriff auf die Agrarproduktion der eigenen Familie, vorherrschten, wie auf dem Lande der "middleman" in die Reihen der kleinen Agrarproduzenten zurücktrat. In eine ähnliche Richtung weist auch das Verhalten der Yoruba Kakao-Farmer, die noch im Weltkrieg rebelliert hatten. In der Krisenperiode der zwanziger
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Jahre, in der gerade nigerianische Agrarprodukte oft als erste vom Weltmarkt verschwanden oder besondere Preiseinbußen hinnehmen mußten, weil unterdurchschnittliche Qualität produziert wurde, belebten sich die "agricultural societies". Das Genossenschaftswesen, auf das sich auch Tete-Ansa bezogen hatte, nahm einen kräftigen Aufschwung. Ökonomische Selbstorganisation wurde eine erweiterte Form individueller Initiative. Wie wenig hier Kampfbereitschaft angelegt war, läßt sich daraus ableiten, daß sich trotz des ghanaischen Vorbildes und der Agitation des "West African Pilot" keine nigerianische Boykottbewegung organisieren ließ.59 In Arbeiterschaft und Genossenschaftsbewegung wiederholte sich, was sich im politischen Sektor bereits angedeutet hatte. Die Weltwirtschaftskrise vertiefte Trends der gesamten Krisenperiode, ohne organisatorisch und politisch wirklich eine Trendwende zu bedeuten. Aber ökonomische und organisatorische Strukturen wurden vorbereitet, in welche die sehr viel heftigeren politischen und ökonomischen Prozesse am Ende des Zweiten Weltkrieges und damit nach Abschluß der ökonomischen Krisenperiode einmünden konnten.
Neue Trends in der Kolonialdoktrin: "Colonial Development" In einem in diesen Betrachtungen durch die Betonung der nigerianischen Perspektive vernachlässigten Bereich wird man von einer stärkeren Zäsur sprechen können, in dem der imperialen Politik selbst. Zwar hatte bereits der Erste Weltkrieg das Maß an Staatsintervention gesteigert, die Politik der Preiskontrollen hatte ihre Vorläufer und begleitete den Konzentrationsprozeß. Die Weltwirtschaftskrise verstärkte allerdings protektionistische Tendenzen, die sich mit einer auf die Verzögerung der politischen Dekolonisation gerichteten Politik verbanden. Man wollte die wirtschaftliche "Entwicklung" der Gewährung von Selbstverwaltungen vorangehen lassen, eine Position, die in Lord Haileys berühmten African Survey von 1938 ihren repräsentativen Ausdruck fand. Die Beschneidung der kapitalintensiven Projekte und die Politik der Budgetbeschränkung, die das Colonial Office von jeder Kolonie verlangte, markierten den Anfang zentraler Planungsdirektiven von London. Allerdings ging dieser Wendepunkt in der Kolonialdoktrin stärker von Entwicklungen in den West-Indies aus; er wurde gestützt durch die Arbeitskämpfe im zambischen Kupfergürtel und in den Plantagen Burmas und Malayas. Administrativer Ausdruck dieses Prozesses wurde die Einrichtung einer Wirtschaftsabteilung (1934) und einer Abteilung für soziale Dienste (1938) im Colonial Office. Der Zweite Weltkrieg tat sein Übriges. 1941 war die Mehrheit der britischen Kolonien in ein System der Preiskontrollen eingebunden.60 Zwischenkriegszeit und Weltwirtschaftskrise haben in London frühe Formen "entwicklungspolitischen" Denkens gefördert. Die Colonial Development Acts von 1929 und 1940 sind der formale Ausdruck dieser Tendenz. Drummond und Gup-
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ta61 weisen nach, daß beschäftigungspolitische Aspekte für das Mutterland im Vordergrund standen. Es sollte die Importfahigkeit der abhängigen Gebiete gefördert und durch strikte Lieferbindungen abgesichert werden. Die Budget-Stabilisierung in den Kolonien durch verbesserte Agrarproduktion und die Politik der Produktpreisstabilisierung durch Preiskontrollen blieben nachgeordnete Gesichtspunkte. De facto wirkten sich die Fonds, die zur Produktpreisstabilisierung eingerichtet wurden, günstig für die Zahlungsbilanz Großbritanniens aus, weil sie in London bankmäßig verwaltet wurden. Entwicklungspolitisches Denken stand aber auch damals unter kennzeichnenden Restriktionen. Der Finanzrahmen wurde auf £1 Mill. pro Jahr festgesetzt. Das Schatzamt sorgte überdies dafür, daß Projekte bevorzugt wurden, die als Einzelmaßnahme unmittelbare ökonomische Effizienz versprachen und die sichere Rückzahlung der Schulden gewährleisteten. Dies begünstigte in der Regel die Plantagenwirtschaft. Im übrigen standen die Dominien und die asiatischen Gebiete im Vordergrund des außenwirtschaftlichen Interesses. Das Development Act markiert insofern allerdings auch den Anfang einer gesonderten Afrika- (und Karibik-) Politik. Mit dem Entwicklungsgedanken im ökonomischen Bereich verband sich das Konzept, die politische Selbstverwaltung zu verzögern und zunächst ökonomische Voraussetzungen zu schaffen. Dies beschleunigte die Abkehr vom Lugard'schen System, die traditionellen Gewalten zu begünstigen und förderte Überlegungen, so bei Hailey, in den kommerziellen Eliten auch die künftigen politischen Eliten zu sehen. Die Wirkungen dieser Politik waren jedoch minimal. Selbst in der Labour-Party wurde neben den beschäftigungspolitischen Interessen sowie dem traditionellen Ruf nach billigen Nahrungsmitteln nur befürwortet, daß die afrikanischen Bauernproduzenten gegen Plantagen und SiedlerLandwirtschaft zu schützen seien, aber keine Aufmerksamkeit auf den Konzentrationsprozeß während der Krisenperiode gerichtet. Die Weltwirtschaftskrise vertiefte das Bewußtsein von der Legitimationskrise des kolonialen Systems. Das war für die Afrikapolitik ein erster Anfang, aber das unmittelbare Krisenmanagement stand dabei im Vordergrund. Imperiale Wirtschaftspolitik orientierte sich in erster Linie an den Dominien und war selbst in diesem Bereich von geringer praktischer Bedeutung. Die Marktmechanismen der Konzentrationsprozesse und der sozialen Ausdifferenzierung auf dem Lande konnten sich so in einem zwar durch die Kolonialherrschaft begünstigten, aber nicht ausschlaggebend bestimmten Klima durchsetzen.
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Catharine Coquery-Vidrovitch, L'Afrique et la crise de 1930 (1924-1938). In: Revue française d'histoire d'outre-mer, Numéro spécial, 63 (1976) 232-233, S. 375-779; vgl. auch dies., Mutation de l'Imperialisme Colonial Français dans les Années 30. In: African Economic History, (1977) 4, S. 103-152. Eno. J. Usoro, The Nigerian Oilpalm Industry, Ibadan University Press 1974, S. 3. Carl K. Eicher/Carl Liedholm, Growth and Development of the Nigerian Economy, Michigan 1970, S. 11, Tab 1. R.J. Gavin/Wale Oyemakinde, Economic Development in Nigeria since 1800. In: Obaro Ikome (Hg.), Groundwork of Nigerian History, Ibadan 1980, S. 498ff. Gavin/Oyemakinde, Economic Development..., a.a.O., S. 503. Akinjide Osuntokun, Nigeria in the First World War, London 1979, S. 23. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 61 (Liste der Firmen); auch für das Folgende ebenda, S. 37f. Ebenda, S. 39. Ebenda, S. 50f. Ebenda, S. 60, Anm. 54: Vorkrieg Krieg (1916) Palmöl Lagos 14.15£ 16.17£ Liverpool 19.5£ 44.00£ Kakao Lagos 1.12£ 1.7£ Liverpool 2.7£ 3.8 £ Erdnüsse Lagos 8.0£ 2.10£ Liverpool 20.0£ 16.0 £ G.K. Helleiner, Peasant Agriculture, Government and Economic Growth in Nigeria, Illinois 1966, S. 500, Tab.; vgl. Gavin/Oyemakinde, Economic Development..., a.a.O., S. 502, der sich auf eine unveröff. Seminarstudie des History Department der Universität Ibadan von C.C. Wrigley (1966) stützt. Gavin/Oyemakinde, Economic Development..., a.a.O., S. 504. Für die als "Steuer-Rebellionen" einseitig benannten Konflikte während des Ersten Weltkrieges, die mit großer militärischer Brutalität und öffentlich vollzogenen Hinrichtungen zerschlagen wurden, vgl. Gavin/Oyemakinde, Economic Development..., a.a.O., S. 504, detailliert Osuntokun, Nigeria..., a.a.O., insbesondere das Kapitel "Disaffection and revolts in Southern Nigeria 1914-1918", S. 100-138. Gavin/Oyemakinde, Economic Development..., a.a.O., S. 504. D. C. Ohadike, The Influenza Pandemic of 1918-1919 and the Spread of Cassava Cultivation on the Lower Niger: A Study in Historical Linkages. In: Journal of African History, 22 (1981), S. 379-391. Ebenda, S. 381. Man kann nur mit Verwunderung die Verengung von Wirtschaftsgeschichtsschreibung über Nigeria zur Kenntnis nehmen, die ein demographisch so einschneidendes Ereignis wie das der Influenza-Katastrophe vollständig übergeht. Helleiner, Peasant Agriculture..., a.a.O., S. 492, Tab. II B 2, II B 3, II B 4. Die Produzentenpreise verfielen noch stärker (£/Tonne): Palmöl Palmkeme Erdnüsse 1920 42,3 25,9 23,3 1921 17,7 11,7 8,9
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Gavin/Oyemakinde, Economic Development..., a.a.O., S. 505. Aussagen in der Literatur gehen zurück auf die Angaben im Nigeria Handbook 1921, 1929, 1933 und die detaillierten Erörterungen von J. Mars, Extra-Territorial Enterprises. In: M. Perham (Hg.), Mining, Commerce and Finance in Nigeria, London 1948, S. 43-143, insbesondere Tab. V und VI, S. 49f.; vgl. auch C. Newbury, Trade and Technology in West Africa: The Case of the Niger Company 1900-1920. In: Journal of African History, 19 (1978) 4. Helleiner, Peasant Agriculture..., a.a.O., Tab. IV A 8 und IV A 9. V. P. Timoshenko, World Agriculture and the Depression. In: Michigan Business Studies, 5 (1933) 5, S. 8f. Helleiner, Peasant Agriculture..., a.a.O., S. 18 und Tab. S.A. Agboola, An Agricultural Atlas of Nigeria, Oxford 1979, Fig. 6.1, 6.9, 7.1; und Helleiner, Peasant Agriculture..., a.a.O., Tab. IV A 5. Die frühe Diskussion ist zusammengefaßt in P.T. Bauer, West African Trade, Cambridge 1954, Appendix 3: The responsiveness of supply to the prices received by producers. Zur Kritik an Bauer und Helleiner vgl. Usuro, The Nigerian Oilpalm..., a.a.O., S. 62. Gavin/Oyemakinde, Economic Development..., a.a.O., S. 509; vgl. auch O.N. Njoku, Development of Roads and Road Transport in Southeastern Nigeria, 1903-1939. In: Journal of African Studies, 5 (1978/79) 4. Usoro, The Nigerian Oilpalm..., a.a.O., S. 47. Gavin/Oyemakinde, Economic Development..., a.a.O, S. 509. Usoro, The Nigerian Oilpalm..., a.a.O, S. 49. Ebenda, S. 59. Mit grofiem Unbehagen muß konstatiert werden, daß derartige Berechnungen z. T. auf Budgetuntersuchungen von nur zwei Dörfern beruhen und zurückgerechnet wurden, ein drastisches Beispiel dafür, wie wenig über die Lage der Primärproduzenten und ihre Kalküle tatsächlich bekannt ist. Zusammenfassung in R.O. Ekundare, An Economic History of Nigeria 1560-1960, London 1973, S. llOff. Gavin/Oyemakinde, Economic Development..., a.a.O., S. 510. Usoro, The Nigerian Oilpalm..., a.a.O., S. 53. Ebenda, S. 57; vgl. auch Mars, Extra-Territorial..., a.a.O., S. 89; geringe Bewertung bei Bauer, West African..., a.a.O., S. 215. R.W. Shenton/L. Lennihan, Capital and Class: Peasant Differentiation in Northern Nigeria, Draft Paper, Department of History, University of Toronto 1980. Ebenda; zum Steuerdruck im Erdnußgebiet vgl. auch Gavin/Oyemakinde, Economic Development..., a.a.O., S. 510. Agboola, An Agricultural..., a.a.O., S. 18-23. Für Kakao vgl. die sehr präzise Analyse von C.E.F. Beer/G. Williams, The Politics of Ibadan Peasantry. In: G. Williams (Hg.), Nigeria. Economy and Society, London 1976, S. 135ff.; Ekundare, An Economic History..., a.a.O., behauptet ohne Angabe, daß viele Farmer ihr Land verloren. Bauer, West African Trade..., a.a.O., S. 30 ff.; vgl. auch Shenton/Lennihan, Capital and..., a.a.O. Vgl. hierzu die hervorragende Arbeit von J. Ayodele Langley, Pan-Africanism and Nationalism in West Africa 1900-1945, Oxford 1973, mit ausführlicher Bibliographie für dies oft behandelte Thema. Für den deutschen Sprachraum Imanuel Geiss, Panafrikanismus - Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt/M. 1968. Langley, Pan-Africanism..., a.a.O., S. 177ff. Osuntokun, Nigeria in the First..., Kap. 3 und 4.
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Langley, Pan-Africanism..., a.a.O., S. 218ff. Ebenda, S. 217. Gold Coast Leader, 14.8.1920, nach Langley, Pan-Africanism..., S. 219. Ähnliche Positionen in der nigerianischen Presse, ebenda. Langley, Pan-Africanism..., a.a.O., S. 199. Ebenda, S. 193; vgl. auch R.L. Okonkwo, The Garvey Movement in British West Africa. In: Journal of African History, 21 (1980). 28.3.1925, nach Langley, Pan-Africanism..., a.a.O., S. 225. Für Ideen und Tätigkeit von Tete-Ansa vgl. A.G. Hopkins, Economic Aspects of Political Movements in Nigeria and the Gold-Coast 1918-1939. In: Journal of African History, 7 (1966) 1, S. 136ff. Tete-Ansas Hauptschriften sind: What does West Africa want? In: Empire Review, 44 (1926) 308; Imperial co-operation: British West African development. In: Whitehall Gazette, Sept. 1926; Africa at work, New York 1930; The Ottawa Conference and British West Africa. In: The Lagos Daily News, 13.9.1932 - nach Hopkins, An Economic History of West Africa, London 1973, S. 137. Hopkins, An Economic History..., a.a.O., S. 138-145. Ebenda, S. 145f. Helleiner, Peasant Agriculture..., a.a.O., S. 20. P.A. Bower, Mining, Commerce and Finance in Nigeria, London 1948, S. 50, Tab. VI. Hopkins, An Economic History..., a.a.O., S. 259. Annual Report Nigeria 1934, S. 59/60; 1935, S. 59. Für Lohnverhältnisse vgl. Blue Book of Nigeria 1934 (Hunt Report) sowie John F. Weeks, The Impact of Economic Conditions and Institutional Forces on Urban Wages in Nigeria. In: Nigerian Journal of Economic and Social Studies, Ibadan 13 (1971), S. 313-339. Der Beitrag von Wale Oyemakinde, The Impact of the Great Depression on the Nigerian Railway Workers. In: Journal of the Historical Society of Nigeria, 8 (1977) 4, stand mir nicht zur Verfügung. E. Egboh, The Nigerian Trade Unions and Politics (1945-1965). In: African Quarterly, New Delhi 16 (1976) 2, S. 57. Für die Intensivierung der Kooperativ-Bewegung: C. Beer/G. Williams, The Politics..., a.a.O., S. 135-159; für das Scheitern des nigerianischen Kakao-Boykotts: F. Ehrler, Handelskonflikte zwischen europäischen Firmen und einheimischen Produzenten in BritischWestafrika: Die "Cacoa-Hold-Ups" in der Zwischenkriegszeit, Zürich 1977, Kap. E-5, S. 202-215. Gute Zusammenfassung in J.N. Lee, Colonial Development and Good Government, London 1967, S. 44ff.; vgl. I.M. Drummond, Imperial Economic Policy 1917-1939, Studies in Expansion and Protection, London 1974. Partha Sarathi Gupta, Imperialism and the British Labour Movement, 1914-1964, New York 1975, Kap. 4-6; Ian M. Dmmmond, British Economic Policy and the Empire, London 1972, insbesondere Kap. 2.
1 5 Tribalismus oder Die Verzerrung der afrikanischen Geschichte aus: Sozialwissenschaftliche Informationen: SOWI, 15 (1986) 4, S. 5-10
Es gehört zu den Klischees in der Betrachtung Afrikas, daß die eigentliche Triebfeder afrikanischen Handelns der Tribalismus gewesen sei und daß er auch in der Gegenwart fortwirke. Als starres Konzept setzt es die Vorstellung von einer ausgeprägten Statik afrikanischer Sozialstrukturen fort. Dies geschieht, obwohl zugleich von vorkolonialen und postkolonialen Staaten zu reden ist, obwohl Nationalbewegungen, Urbanisierungsprozesse und die Kommerzialisierung von Agrarproduktion sowie das Vordringen von Privateigentum zu beobachten sind. Wie bei Vorurteilen üblich, bezieht sich auch das Konzept vom Tribalismus als Grundstruktur der afrikanischen Gesellschaften - auf soziale Phänomene, hier die von Gruppen- und Regionsloyalitäten. Da ein überhistorisches Phänomen erfaßt werden soll, werden Kolonialherrschaft und postkoloniale Entwicklung unter der Perspektive dargestellt, daß diese modernen Entwicklungen nur an der Oberfläche wirksam seien, die Ersetzung des Tribalismus durch moderne Staatsstrukturen aber gescheitert sei. Zu fragen ist: Welche Bedeutung hatte das Konzept "Stamm" in der Kolonialentwicklung? Welche Loyalitäten waren (und sind) gemeint? Welche Folgen hatte das "Stammes"-Klischee für afrikanische Gesellschaften? Der Gegensatz von Stamm und Staat wurde aus dem europäischen Verständnis dessen, was einen "Stamm" definiere, entwickelt. Ein "Stamm" bezeichne demnach eine sprachlich-kulturelle Einheit und ließe sich im Rahmen einer Abstammungsgeschichte auch biologisch-ethnisch gegen andere "Stämme" klar abgrenzen. Dieses Bild einer statischen idealen Stammes Verfassung wurde aus verschiedenen Beobachtungen zusammengesetzt: Sprachwissenschaftler/Missionare, die die Missionierung in der Muttersprache der Afrikaner vorbereiteten, analysierten die schriftlosen Sprachen, grenzten sie voneinander ab, entschieden, was als Dialekt oder als selbständige Sprache und damit selbständiger Stamm oder Untergruppe zu gelten hatte. Ethnologen, Reisende und Missionare untersuchten zu bestimmten Zeitpunkten der Kolonialherrschaft, z. B. 1910 oder 1930, aber auch noch 1950, was wohl hinter der Realität von afrikanischen Gruppen das Wesentliche, das vom Kolonialismus und der Moderne unberührte Alte sei. Hierbei stützten sie sich durchaus auf das Bild von afrikanischer Gesellschaft, das die Traditionsträger der mündlichen Überlieferung als typisch oder wesentlich für ihre Gruppe oder Volk ansahen, also die Hofchronisten, Priester, später die "tribal politicians", die Häuptlingsräte unter der Kolonial Verwaltung. Das Konzept von biologisch-rassischer Unveränderbarkeit des Stammes erhielt auch, als offene rassistische Perzeptionen nachließen, eine Bestätigung, weil der Blick auf das traditionale, noch nicht von der Moderne oder prinzipiell von jedem
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Fremdeinfluß freie Afrika konzentriert war. Betont wurde gesellschaftliche Statik. Durch die radikale Unterscheidung von Eigenentwicklung und Fremdeinfluß wurde das, was untypisch erschien, aus der gesellschaftlichen Realität ausgeblendet oder, wenn unumgänglich, als Überlagerung oder als Akkulturationsphänomen eingeordnet (also als Angleichung afrikanischer an die fremden Kulturen). Ein derartiges Konzept vom Stamm war von politischem Nutzen für die Kolonialherrschaft. Der Kolonialismus benötigte klar abgrenzbare politische und soziokulturelle Strukturen. Zum einen ging es darum, größere Sprachräume und vereinheitlichte Begriffe im kulturellen und religiösen Bereich zu schaffen, damit in einer "Muttersprache" missioniert werden konnte. Zum anderen benötigte die Kolonialadministration Einflußwege in die afrikanische Gesellschaft und damit administrativ eindeutig hierarchisierbare Verhältnisse. Die Betonung von Stammesabgrenzung und Starrheit afrikanischer gesellschaftlicher Systeme ließ sich in der sogenannten Pazifizierungsphase (Schwerpunkt: die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts) sowohl zur Machtbalance als auch zur Rechtfertigung von Herrschaft nutzen, um "Stammesrivalitäten" auszubalancieren oder zu unterdrücken. Gegen den aufkommenden Nationalismus und den Erziehungsanspruch der modernen Eliten ließ sich das alte, eigentliche vorkoloniale Afrika mit seinen Stammesidentitäten gegen die angeblich verbildete und unangemessen anspruchsvolle, unruhige und nationalistische Elite ausspielen. Das wirkte selbst dann, wenn man insbesondere den Söhnen der Häuptlinge bevorzugte Ausbildungs- und Aufstiegschancen schuf. Die Ironie der Geschichte ist nun, daß alle von Europäern entwickelten Kriterien für Stamm, nämlich sprachlich-kulturelle Einheit und Stetigkeit, biologisch-rassische Geschlossenheit und Abgrenzbarkeit, vollständige Fiktionen sind. Das Kennzeichen der afrikanischen Geschichte vor der Kolonialzeit ist die Unabgeschlossenheit und Offenheit ihrer politischen und kulturellen Systeme - dies ist durch die Kolonialherrschaft beendet worden. Die Betonung von "Stamm" bis hin zur Gründung und Organisation von Stämmen durch die Kolonialadministration selbst ist eines der herausragenden Ergebnisse der Herrschaftstechnik von Kolonialpolitik. Auf beide Aspekte soll eingegangen werden: auf eine die Starrheit des Stammesbegriffes überwindende Vorstellung von afrikanischer Geschichte und auf die Betonung von "Stammesstrukturen" durch die Kolonialherrschaft. Um beides leisten zu können, kommt man nicht darum herum, an die fiktiven und realen sozialen Organisationsprinzipien afrikanischer Gesellschaften anzuknüpfen. Auch wenn man "Stamm" und "Tribalismus" als belastete Begriffe vermeiden will, müssen doch Gruppen- und Regionalloyalitäten benannt werden. Im folgenden wird der Begriff Ethnizität verwandt. Er hat den Vorteil, daß er Systeme mit tatsächlichen und fiktiven Verwandtschaftsverhältnissen - auch Strukturelemente größerer Gruppen - umfassen kann: also Großfamilien, Clans, Systeme bzw. Föderationen von Clans (lineages), kurz, kinship-Syslemt. Aber er ist dennoch offen für andere konstituierende Elemente von Gruppen- und Regionsloyalitäten als der von kinship bestimmten. Insbesondere soll die Verwendung des Begrif-
Tribalismus
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fes Ethnizität unterstreichen, daß seine Inhalte historisch konstituiert und veränderbar sind und daß sich vorkoloniale und nachkoloniale Staatsbildung und Ethnizität nicht gegenseitig ausschließen. Es ist nicht die Absicht des Essays, die Bedeutung von Ethnizität in Afrika zu bagatellisieren, wohl aber darauf hinzuweisen, daß sie ihre Funktionen verändert, sich in ihrer Bedeutung verstärken oder abschwächen kann und sich auf keinen Fall alle oder auch nur die wichtigsten politisch-sozialen Prozesse unter diesen Begriff fassen lassen. Dies gilt natürlich auch für die nachkoloniale Zeit, die hier nicht behandelt wird. Ethnizität verändert in der Gegenwart ihre Funktionen umso mehr, je stärker der nachkoloniale Staat über die Ressourcenverteilung verfügt, je differenzierter die individuelle und Gruppenidentität in der modernen Gesellschaft wird und je deutlicher Regionalismus versus Zentralismus oder Rivalitäten um das Herrschaftszentrum ausgeprägt werden.
Kinship (Abstammungszusammenhang) als gesellschaftliches Organisationsprinzip Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, wenn die These, daß die vorkoloniale afrikanische Gesellschaftsorganisation besonders flexibel war, dennoch mit einem "Abstammungskonzept" beginnen muß: Es geht um das Organisationsprinzip von kinship und Großfamilien, Clans, Clanföderationen sogar innerhalb großer vorkolonialer Staaten. Herrschaft und Sozialverfassung verändern sich in Afrika wie in allen menschlichen Gesellschaften im Verlauf der Intensivierung von Agrarproduktion. In ihrer Folge vermehrt sich die Bevölkerung, und der Nahrungspielraum weitet sich aus. Aber für die Formen der Herrschaftsbildung bleibt charakteristisch, daß mit wenigen Ausnahmen die Bevölkerungsdichte so gering bleibt, daß Herrschaft über Leute wichtiger ist als Herrschaft über Land. Man kann in Afrika bis weit in das 20. Jahrhundert auf neues Land ausweichen. Herrschaft muß sich als Kontrolle über Leute etablieren, die man hindern können muß, sich der Kontrolle durch Verweigerung von Tribut, Arbeitsleistung oder durch Wegwandern zu entziehen. Den Herrschenden stellt sich dabei das Problem, daß die Autonomie der Produzenten - bei einer Mindestgröße von Familie und Nachbarschaft - ziemlich groß ist. Herrschaftsbildung hat nur einen einzigen Anknüpfungspunkt: die Nutzung der hierarchischen Strukturen. Sie entwickeln sich aus dem Lebenszyklus und der Arbeitsteilung innerhalb der Großfamilien; zugleich beruhen sie auf der Notwendigkeit, daß Großfamilien ein Mindestmaß an Außenbeziehungen für die Eheschließung (und das damit verbundene Erbrecht) sowie für ein Mindestmaß an Austausch von seltenen Waren benötigen. Herrschaftsbildung oder gar Staatsbildung setzt deshalb voraus, daß Großfamilien- und Clan-übergreifende Handlungsmöglichkeiten geschaffen werden. Die Lösung liegt darin, daß die Kunst der Herrschaftsausübung - auf der Basis von fa'mTz/p-Beziehungen - darin besteht, so
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viele Fremde zu integrieren wie möglich. Dies aber wird in den Konzepten von "Stamm" oder (überbetonter) Ethnizität prinzipiell verdeckt. Eine der großen Erfindungen neben der so wichtigen Heiratsallianz ist die der fiktiven Abstammungsgemeinschaft, in die sich Zuwanderer, Flüchtlinge, sogenannte Ureinwohner, Kriegsgefangene und Sklaven integrieren lassen. Auf erweiterte Möglichkeiten, Menschen in Herrschaftssysteme zu konzentrieren, kam es an. Die Einbindung von Fremden in die kinship entsprach in der Funktion oft Klientel-Verhältnissen. So konnten Schuldner auf Zeit adoptiert werden, oder Kaufleute organisierten durch den Abschluß von Blutsbrüderschaften Sicherheit auf ihren Handelswegen. Es ist mit Recht argumentiert worden, daß sogar für die Institution der Sklaverei die Integrationsmöglichkeiten des kinship-Sysiems genutzt wurden (Lovejoy). Abstammungs- und Gründungs- bzw. Wanderungsmythen sind zahlreich. Sie lassen sich auf einen tatsächlichen oder fiktiven Gründer bzw. auf eine Gründerin beziehen. So kann tatsächlich ein Schmiede-Clan in eine schon besiedelte Gegend eingewandert sein und aufgrund seines kulturellen Angebotes, das mit spiritueller Überlegenheit verbunden sein mochte, sich zum vorherrschenden Clan ausbilden, denen sich andere zuordnen. Welche Sprache sich dann durchsetzt oder wie lexikalische und grammatische Verschmelzungen stattfinden, hängt von den historischen Umständen ab. Ebenso entscheiden sie, ob ein Usurpator seine Legitimität durch Einheirat in alteingesessene Clans durchsetzt, die eigene religiöse Symbolik zum Zuge kommt, ob eine Koexistenz von Kulten entsteht oder ob etwa der Usurpator die Ursprungslegende des "Stammes" auf sich anwenden und umformen läßt. Auch im vorkolonialen Staat bleibt das Konzept von kinship erhalten, selbst wenn zentrale Funktionen, etwa überregionale sakrale Aufgaben, Titelvergabe für gewisse Ämter oder gar nichterblicher Dienstadel entstehen oder Amtsfunktionen durch Sklaven wahrgenommen und damit die Einflußmöglichkeiten von Clans bei Hofe und in den Clan-Ländereien eingeschränkt werden. Daraus entsteht zweifellos eine Schwäche für den Staatsbildungsprozeß, weil die Mechanismen und Anknüpfungspunkte für Herrschaft bei Dorfältesten, Clanführem oder Königen gleich und letztlich nur eine Frage der Kombination der Funktionen sind. Aber die afrikanischen Gesellschaften haben eine reiche gesellschaftliche Phantasie entwickelt, das kinship-System zu einem sehr wandlungsfahigen Instrument zu machen. Als Beispiel sei der vom Konzept des "modernen", d.h. europäischen Staates am weitesten entfernte Fall idealtypisch vorgeführt: die staatenlose Gesellschaft, wie sie Horton für Westafrika dargestellt hat. Staatenlos heißt nicht herrschaftsfrei, und es sind auch nicht nur Kleingruppen gemeint, sondern ebenfalls große Völker, die zu Hunderttausenden "staatenlos" organisiert waren, wie die Tiv und Ibo in Nigeria. In diesen "staatenlosen" Gesellschaften gibt es wenig Konzentration von Autorität. Es ist schwierig, ein Individuum oder eine Gruppe zu finden, die man als Herrscher über die Gesellschaft identifizieren kann. Die ausgeübte Autorität beschränkt sich stets nur auf einen Sektor des gesellschaftlichen Lebens. Verschiedene Aspekte von Gerichtsbarkeit sind z.B. auf mehrere Amtsträger aufgeteilt.
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Erbschaftsregulierungen, Entscheidungen über Saat- und Emterhythmus oder über den Einsatz kollektiver Arbeit und die Initiationsregeln liegen nicht in einer Hand oder in der Gewalt einer Gruppe. Dementsprechend gibt es keine Vollzeitbeschäftigung für Inhaber von Autorität. Woher kommt nun die Kohärenz im gesellschaftlichen Handeln bei derartig geringen Machtkonzentrationen in den afrikanischen Gesellschaften? In "staatenlosen" Gesellschaften lebten vor 1900 immerhin 30 Prozent der Bevölkerung Afrikas. Voraussetzung ist ein relativ großes ökonomisches Gleichgewicht, insbesondere eine relativ gleichmäßige Verteilung von Land, ein hoher Selbstversorgungsgrad und ziemlich langdauernde Landnutzung, die Wanderungen selten machen. Erforderlich ist aber auch, daß Land geringfügig verknappt ist und daß einige wichtige Produktionsschritte in Landwirtschaft und Jagd die Arbeitskapazität von Kleingruppen überfordern. Ebenfalls wichtig ist sicherlich eine latente militärische Bedrohung der Siedlungen, die zur befestigten Dorfbildung veranlassen. Diese Struktur kann auch dann erhalten bleiben, wenn sich die egalitäre Verteilung von Land auflöst. Alteingesessene Clans, die aus Arbeitskraft- wie aus militärischen Gründen Zuwanderer dulden oder anziehen, können einen Primat der Landverteilung erringen, symbolisiert durch die Ämterwahrnehmung des ErdPriesters. Die Zuwandernden können unter Umständen als Gegengewicht das Amt des Arbeitskräfte zuteilenden Ältesten besetzen. Insbesondere in dieser Konstellation wird nochmals deutlich, daß sogar in der staatenlosen Gesellschaft trotz der strukturellen Bedeutung von kinship z.B. im Verteidigungsfall und im Fall kollektiver Arbeit Nachbarschaft wichtiger ist als Verwandtschaft. Das heißt auch: Selbstverständlich bestehen im Normalzustand spannungsreiche Beziehungen zwischen den Dörfern nach dem Prinzip der Rivalität zwischen feindlichen Brüdern, die nur im Krisenfall höhere Autorität auf Zeit organisieren. Zur Milderung dieses Rivalitätsprinzips und zur Integration der mächtigeren und reicheren Clans, der Aufnahme der Aufsteiger und der Zurückdrängung der sozialen Absteiger und damit zur geregelten Kontrolle der sozialen Prozesse haben viele afrikanische Gesellschaften Institutionen geschaffen, die quer zu den üblichen faVu/zip-Strukturen verlaufen: die Altersgruppe, abgeleitet aus der Initiation, die Geheimgesellschaft, die Streuung von Ämtern sowie die Bevorrechtigung von starken Clans. Die Altersgruppen von Männern und Frauen organisieren - letztlich quer zu der Clanzugehörigkeit - den Gegensatz von alt und jung, Männern und Frauen. Für die zentrale Autoritätsbildung können sie von überragender Bedeutung werden, wenn die Autorität die Altersgruppe, die sich den Initiationsriten unterzieht, für neue militärische und landwirtschaftliche Zwecke nutzen kann - wie z.B. die Zulu und Ndebele im südlichen Afrika im 19. Jahrhundert. Die Geheimgesellschaft ist das hervorragende Mittel zur Kontrolle und Einbindung der starken Clans und der Disziplinierung der Dauerrivalitäten zwischen
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ihnen. Das wesentliche an einer Geheimgesellschaft ist, daß, wer in ihr aufgenommen ist, sich symbolisch aus seinem Clan löst. Während auf den öffentlichen Dorfversammlungen Clanloyalität erforderlich ist, ermöglicht die Entscheidung hinter der Maske der Geheimgesellschaft gemeinschaftsdienliche Entscheidungen, ohne z.B. Blutrache auszulösen. Durch hohe Aufnahmegebühren und Unterhaltszahlungen für die Gemeinschaft wird die Oligarchie der starken Clans sowohl begünstigt als auch ihre Rivalitäten eingebunden. Auch die Ämter- und TitelStreuung dient diesem Ziel; sie ist insbesondere darauf angelegt, die Interessen alter und neuer Clans auszubalancieren, gegen Tendenzen zur Zentralgewalt Gegengewichte zu schaffen, unterschiedlichste Kulte zuzulassen. Für Dörfer im Nigerdelta weist Horton z.B. auf die Aufteilung von religiösen Funktionen auf zwölf Priesterämter hin. Für die Bändigung von Rivalitäten, wie sie Tosh für die Lango in Uganda nachgewiesen hat, konnte eine Zentralinstanz gerade soviel Macht haben, daß sie die Regeln auf den clan-übergreifenden Versammlungen festlegte und in Kämpfen zwischen Clans dafür sorgte, daß nur nicht-tötende Waffen wie Stöcke, Keulen und Peitschen eingesetzt wurden - im Unterschied zum Speer im Kriegsfall und auf der Jagd.
Kolonialherrschaft verhärtet Ethnizität - und revolutioniert sie Kolonialherrschaft greift auf dreifache Weise in die Organisations- und Integrationsprozesse der afrikanischen Gesellschaften ein. Erstens schafft sie mit dem kolonialen Gewaltmonopol und dem von einer unüberwindbaren Zentrale (der kolonialen Hauptstadt) verwalteten Flächenstaat den Freiraum für alte afrikanische Integrationsprozesse ab; sie schreibt den status quo fest und legt ihn (nach Niederlagen der alten Führungsschicht im sogenannten "primary resistance") neu fest. Zweitens braucht, sucht und notfalls erfindet die Kolonialadministration geeignete Einheiten und Hierarchien, die sich verwalten lassen. Dies führt in allen kolonialen Verwaltungssystemen zu verstärkter Staatsintervention. Besonders systematisch entwickelt wurde diese kolonialstaatliche "Stammespolitik" im britischen System der indirect rule. Schließlich fördert die Kolonialherrschaft neue Identitäten - neben die alten treten die eines missionierten Christen, eines Muslims, eines städtischen Angestellten oder Bergarbeiters, schließlich nationale Bezugspunkte. Vor allem aber treibt sie den sozialen und ökonomischen Differenzierungsprozeß voran. John Iliffe hat in seinem vorbildlichen Buch, "A Modern History of Tanganyika" unter der Kapitelüberschrift "The creation of tribes" diese Prozesse unter dem System der indirect rule beschrieben. Die Grundvorstellung der Beamten war der Stamm: "Stammesmitgliedschaft war erblich. Verschiedene Stämme waren abstammungsmäßig miteinander verbunden, so daß Afrikas Geschichte einen riesigen
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Abstammungsbaum von Stämmen" ausmachte (S. 323f.). Selbst aufgeklärte Beamte, die wußten, daß sie von einer Fiktion ausgingen, brauchten die Organisationseinheit "Stamm". Vor allem hatten sie einen Häuptling zu finden: "Der Bauer des abgelegenen Dorfes ... ist nun mit seinem Dorfältesten verbunden, dieser mit dem Unterhäuptling und jener mit dem Häuptling. Der Häuptling ist auf das Distrikt Office bezogen. So kann der Provinz-Kommissar über alles, was in der Provinz vorgeht, informiert sein" (Reisebericht des Gouverneurs v. 18.8.1928, Iliffe, S. 325). Und auch auf afrikanischer Seite wurde der "Stamm" nun zugelassenes Aktionsfeld im Kolonialismus, "eine sichere, nicht nationalistische Basis für afrikanische politische Entwicklung" (Austen). Hauptmittel zur Herstellung von Hierarchien war, "Stämme" zu Unionen zu vereinigen und unter Oberhäuptlinge zu stellen, ein wirksames Mittel zugleich, administrationsfreundliche Vertreter zu fördern. Das Hauptproblem dieses social engineering, wie Iliffe es nennt, bildeten die "staatenlosen" Gesellschaften: In Südtanzania wurden aus Priestern Oberhäuptlinge, oder ein "staatenloser" Stamm wurde einer benachbarten Häuptlingsherrschaft zugeordnet. Natürlich wurden damit auch Abwehrmechanismen organisiert, z.B. gegen den von der Kolonialmacht geförderten Usurpator und Kollaborateur. Aber im kolonialen Flächenstaat blieb diese Politik nicht wirkungslos. Der nach Iliffe bemerkenswerteste Fall eines "neuen Stammes" waren die Nyakyusa in Südtanzania. Im 19. Jahrhundert umschrieb dieser Name nur die Mitglieder einiger Clangruppen am Lake Malawi. Deutsche und britische Kolonialbeamte weiteten diesen Begriff auf kulturell ähnlich organisierte Gruppen aus. Als es den Briten nicht gelang, einen Oberhäuptling als Chef dieser staatenlosen Gruppen zu etablieren, beschränkten sie sich 1933 auf einen Rat von Häuptlingen. Nur wenige Jahre genügten, bis sich diese neue Einheit, allerdings verbunden durch eine gemeinsame Sprache, als effektive politische Einheit verstand. Bereits 1942 wurde eine Nyakyusa-Gesellschaft gegründet, deren Satzungszweck es war, "die guten Gebräuche und Gewohnheiten des Stammes zu bewahren". Kolonialadministration und Weltmarktanschluß wirkten gleichzeitig gegen diese Trends, den Stammesbezug zu steigern. Ziel der sozial mobilen Afrikaner und in der Regel auch der Führungsschicht mit "Stammes-Funktionen" wurde die assimilative Bildung in der Sprache der Kolonialmacht - mit der Absicht, sich im Verwaltungs- und Marktsystem zu etablieren. "Stammes-Funktionen" verloren an Gewicht und (auch regionale) Institutionen, wie etwa die Genossenschaften, wurden zentrale Ansatzpunkte für regionale Interessenwahrnehmung. Diese verlagerte sich ohnehin immer mehr in die Zentrale. Regionale Loyalitäten durchlaufen auch insofern einen Funktionswandel, als im Zuge der sozialen Differenzierung bis hin zur Klassenbildung die sozialen Sicherungssysteme des kinship-Systems an Gewicht verlieren und dem Verstädterungsprozeß angepaßt werden müssen. Hierzu gehört auch, daß regionale Loyalitäten
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und Klientelsysteme im politischen Machtkampf der Führungsschichten ausgenutzt werden. Gewiß verstellt man sich für die Analyse dieser Prozesse den Blick, wenn man mit der Fiktion von historischer Statik arbeitet. Noch wichtiger ist aber, die Verhärtung von Ethnizität als "Stamm" in der Kolonialzeit als das zu nehmen, was sie ist: kein Relikt aus vormodernen Zeiten, sondern ein Steuerungsinstrument des kolonialen Staates, aber auch ein Defensivinstrument afrikanischer Gruppen. Unangemessen erscheint aber auch, mit einem simplen Identitäts- oder auch Entfremdungsbegriff zu arbeiten. Die Assoziations- und Disassoziationswege haben sich auch in Afrika im 20. Jahrhundert außerordentlich vervielfältigt - und damit auch die Möglichkeiten für rivalisierende Identitäten. Damit werden moderne Identitäten überaus fragil, nicht nur in Afrika.
Literatur R. Austen, Northwest Tanzania under German and British Rule. Colonial Policy and Tribal Politics 1889-1939, New Haven 1968. D.W. Cohen, Womunafu's Bunafu. A study of authority in a 19th century African community, Princeton 1977. Ph. Curtin/S. Feierman/L. Thompson/J. Vansina, African History, London 1978. R. Horton, Stateless societies in the history of West Africa. In: J.F.A. Ajayi/M. Crowder, History of West Africa. Vol. 1, London 1971. J. Iliffe, A Modern History of Tanganyika, Cambridge 1978. H. Melber, Stammeskultur als Zivilisationsgut. In: Peripherie, (1985) 18/19, S. 143-161. P. E. Lovejoy, Transformations in Slavery, Cambridge 1983. T. Ranger, Kolonialismus in Ost- und Zentralafrika. Von der Traditionellen zur Traditionalen Gesellschaft. In: J.-H. Grevemeyer, Traditionale Gesellschaften und europäischer Kolonialismus, Frankfurt/M. 1981, S. 16^6. J. Tosh, Clan leaders and colonial chiefs in Lango, Oxford 1978.
Namibia nach zwei Jahrzehnten Krieg aus: Vereinte Nationen, 37 (1989) 2, S. 47
Über Martti Ahtisaari, dem Sonderbeauftragten Pérez de Cuéllars in Windhoek, sind ganze Wogen an Vorwürfen zusammengeschlagen. In der Tat war seine Entscheidung vom 1. April, Südafrika freie Hand an der Nordgrenze Namibias zu geben, ein grober Mißgriff - doch geht hier, einmal mehr, die Kritik fehl, wenn sie sich primär an die Adresse der Weltorganisation richtet. Wurde einst schon vom Sicherheitsrat der UNIFIL, der Friedenstruppe im Süden Libanons, ein "unerfüllbarer Auftrag" erteilt, so wurde nun die nach Namibia entsandte Unterstützungseinheit unzureichend ausgestattet - ungeachtet der Warnungen der Afrikaner und Blockfreien in New York. Es war kein Versäumnis der Vereinten Nationen, vielmehr sind die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats mit ihrer Sparsamkeit am falschen Platz als Hauptverantwortliche zu benennen. Zu hoffen ist, daß die gewaltige Anstrengung der Vereinten Nationen frei von weiteren Beeinträchtigungen bleibt. Es handelt sich um eine Operation, die die Fähigkeit der Weltorganisation zur Friedenssicherung auf eine neuartige Probe stellt. Schon jetzt läßt sich festhalten, daß der von selbsternannten Realpolitikern belächelte völkerrechtliche Anspruch der Vereinten Nationen ungeachtet der anfanglichen Belastung an Realität gewonnen hat: Für die nächsten Monate teilen sich der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs, Vertreter der legalen Verwaltungsmacht, und der südafrikanische Generaladministrator, Repräsentant der Defacto-Gewalthaber (und allerdings noch immer Chef der Verwaltung), die Macht im Territorium. Die Vereinten Nationen bieten den geeigneten und offensichtlich einzig möglichen Rahmen zur Abwicklung des mühsamen Prozesses, an dessen Ende die Aufnahme des unabhängigen Namibia in die Völkergemeinschaft stehen wird; sie haben darüber hinaus das Verdienst, daß sie, kritisiert und mißtrauisch beäugt nicht nur von Südafrika, sondern auch vom Westen, über lange Durststrecken hin das Problem der Wiedererlangung des veruntreuten Pfandes auf der Tagesordnung der internationalen Politik gehalten haben - und damit die Frage der Freiheit eines kleinen Volkes und des Schutzes seiner Naturschätze. Gerade zwei Jahre ist es her, daß der Namibia-Rat der Vereinten Nationen in der Bundeshauptstadt ein (dem offiziellen Bonn freilich unwillkommenes) Symposium veranstaltete, das von der Vorstellung geprägt war, der Kampf um die Unabhängigkeit Namibias werde noch lange dauern, vielleicht so lange wie der Kampf um die Freiheit in Südafrika selbst. Und ein Teil der Gespräche auch mit den führenden Vertretern der Südwestafrikanischen Volksorganisation (SWAPO) ging darum, wie man die generationslange Kampf- und Exilzeit für die zerrissenen Familien, für die politischen Aktivisten bewältigen sollte. Auch meine eigenen Gedanken über die Entwicklung in Namibia waren von diesem Pessimismus geprägt, trotz der erstaunlichen Entfaltung der namibischen Gewerkschaftsbewegung und etwa der ermutigenden Präsenz der Interessengemeinschaft deutsch-
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sprachiger Südwester bei dieser UN-Veranstaltung. Niemand vermochte sich vorzustellen, daß die weltpolitische Entspannung zwischen den beiden Supermächten so direkt und so schnell wirken könnte. Und so mischen sich in die Hoffnungen einige Reflexionen zur Unabhängigkeit Namibias. Im Rückblick drängen sich Überlegungen auf, welchen Sinn nun die westliche Duldung der südafrikanischen Herrschaft in Namibia gehabt hat, welch absurd langer Weg zur Anerkennung der fundamentalen Freiheits- und Friedensrechte nötig war, sogar noch zehn Jahre nach der Einigung im Sicherheitsrat über die Resolution 435 (1978). Das jetzige politische Ergebnis zu wollen - das heißt, in freien Wahlen den spätestens seit 1972 wahrscheinlichen hohen Wahlsieg der SWAPO zuzulassen - , war eine Position, mit der man am Beginn dieses Kampfes als subversiv verdächtigt wurde. Ich erinnere mich lebhaft an eine vom Entkolonisierungsausschuß der Vereinten Nationen 1966 in einem der Colleges von Oxford veranstaltete Zusammenkunft zum Thema. Sämtliche Umstände waren äußerst bedrückend. Die britischen Grenzbehörden hatten Listen und befragten die Anreisenden hochnotpeinlich; die Deutsche Botschaft in London verfertigte Berichte über deutsche Teilnehmer, die bei den Universitäts- und Verfassungsschutzbehörden landeten. Wir Seminarteilnehmer waren tief deprimiert durch die Abweisung der Südwestafrika-Klage Äthiopiens und Liberias gegen Südafrika seitens des Internationalen Gerichtshofs im Haag. Nun steht die Unabhängigkeit vor der Tür. Wieder einmal sind die neunmalklugen Experten, die ein ganzes Vierteljahrhundert zum Aufbau von Gegenkräften gegen die Befreiungsbewegung nutzen wollten, ins Leere getappt; eine kollaborierende Gruppe nach der anderen ist unglaubwürdig geworden und verbraucht. Stetigkeit im Kampf und - dies sei mit aller Deutlichkeit gesagt - die Bereitschaft zur militärischen Gewalt gegen den militärischen Gewalteinsatz der Besatzungsund Kolonialmacht waren wie vorher in Angola, Mocambique und Zimbabwe ausschlaggebend, mag man auch mit Recht sagen, daß der 1966 aufgenommene, mit niedrigem Intensitätsgrad geführte Kampf der Befreiungsarmee (PLAN) militärisch wenig effektiv war. Aber er hat Südafrika in eine Situation gebracht, in der es selbst nicht gewinnen konnte. Er hat es zur Terrorherrschaft im bevölkerungsreichen Norden des Landes veranlaßt und damit die Homeland- und InterimsBürokratien um jede Glaubwürdigkeit gebracht. Als die südafrikanische Lufthoheit über Südangola verloren ging (und damit die risikolose Penetration des Nachbarn unmöglich und die Kriegskosten für das ökonomisch angeschlagene Schwellenland schwer erträglich wurden), kamen auch in Pretoria alternative Konzepte zur Geltung. Pessimisten sagen, dem Minderheitsregime gehe es in einem kühl kalkulierten Konzept nur darum, Namibia - statt es als militärisches Vorfeld gegen den Afrikanischen Nationalkongreß (ANC) zu halten - jetzt in eine leicht zu destabilisierende wirtschaftliche Geisel zu verwandeln, um so der Bevölkerung in Südafrika selbst zu demonstrieren, daß eine Befreiungsbewegung die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen könne. Aber die Niederlage Südafrikas ist unbestreitbar. Die
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Entscheidung fiel auf Grund des weltweiten Arrangements der Supermächte und straft all jene Lügen, die die Einwirkungsmöglichkeiten der großen Mächte und des ökonomischen Faktors als gering propagierten. Südafrika ist auch durch den Kleinkrieg der PLAN, über den sich manche mokierten, als das decouvriert worden, was es ist: eine regionale Mittelmacht auf tönernen Füßen. Was steht zu erwarten? Über Namibia wird eine Welle der Intervention durch den gesamten Komplex der internationalen Entwicklungshilfe-Institutionen hinwegrollen, anknüpfend an die Projekte aus der Zeit der Interimsregierung. Die SWAPO - im Grunde überrascht von dem Tempo, mit dem schließlich die Unabhängigkeit kommt, und eingeengt durch den internationalen Druck - wird größte Mühe haben, eigene Vorstellungen ausreichend konkret zu entwickeln und finanzielle und politische Spielräume zu finden, ihre Vorstellung von der Entwicklung im Lande im Dialog mit den Menschen, die sich so lange nicht frei äußern konnten, zu konkretisieren. Da werden viele Institutionen schnell und mit dem Willen der Einflußnahme Positionen besetzen, Projekte schmieden und das Land mit Experten und ihren Apparaten überschwemmen - und nicht immer die Emanzipation von südafrikanischer Bürokratie und Geschäftswelt im Auge haben. Namibia ist daher - neben wirklich freien Wahlen und der Abwesenheit von bewaffneten Destabilisierungskommandos - vor allem Zeit zum inneren Dialog zu wünschen, damit die Menschen im Land Vertrauen in den Frieden und in ihre Chance zur Mitbestimmung finden können. Das Versagen der UNTAG, die die Tötungen und Kampfhandlungen nach Inkrafttreten des Waffenstillstandes im Norden Namibias nicht verhindert hat, und die unerträgliche Duldung des Einsatzes des berüchtigten Terrorbataillon 101 gegen SWAPO-Kämpfer durch den Sonderbeauftragten Ahtisaari haben diesen Prozeß, im Kriegsgebiet Vertrauen zu schaffen, extrem gefährdet. Weiterhin zu wünschen ist finanzieller Spielraum, Zurückhaltung der internationalen Projektmanager bei ihren Belehrungen und die Konzentration auf jene Aspekte des Wiederaufbaus, die von den Menschen unmittelbar verstanden werden: Ende der Angst vor politischer Verfolgung, Beginn der Wiederherstellung der agrarischen Infrastruktur im am meisten vom mehr als 20jährigen Krieg betroffenen Norden des Landes, erträgliche Wohnbedingungen für Flüchtlinge, Exsoldaten und Arbeitsmigranten. Und vom Westen ist zu erwarten, daß er südafrikanische Destabilisierungsversuche in dieser kritischen Phase abwehrt und dem Land den ungehinderten Zugang zum Hafen Walfischbucht sichert. Uns im Westen, unserer westlichen Selbstgerechtigkeit wünsche ich ein tiefes Nachdenken darüber, daß es offensichtlich in der Macht der westlichen Allianz lag, einen sinnlosen Kampf gegen die Selbstbestimmung eines kleinen Volkes viel früher zu beenden, ihn vielleicht sogar zu verhindern. Aber zwischen den hehren Ansprüchen in den Bekenntnissen zu friedlichem, demokratischem Wandel und der vor Duldung, wenn nicht Unterstützung von Kriegshandlungen nicht zurückschreckenden "Interessen "wahrung auch der Bundesrepublik Deutschland klafft über 25 Jahre hinweg
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eine unüberbrückte Kluft. Möge auch die geschundene Bevölkerungsmehrheit in Südafrika von solchem Nachdenken über unsere häßliche Seite als Waffenexporteur, Förderer der Fähigkeit zum Atombombenbau und Kreditgeber jenes angeschlagenen Kolosses am Kap endlich etwas spüren.
1 7 Probleme afrikanischer Staatenbildung im 19. Jahrhundert aus: Helmut Christmann (Hg.): Kolonisation und Dekolonisation. Referate des internationalen Kolonialgeschichtlichen Symposiums '89 an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 1989, S. VIII-XXV ( = Gmünder Hochschulreihe, Hg. Senatskonunission "Gmünder Hochschulreihe", Bd. 8)
Es mag Sie überraschen, daß Ihnen zur Einleitung einer Tagung über den Kolonialismus ein Vortrag über Grundprobleme der afrikanischen Staatsbildung im 19. Jahrhundert angeboten wird. In der Tat stammen die Überlegungen, die ich Ihnen hier präsentieren möchte, ursprünglich nicht aus einem kolonialgeschichtlichen Kontext, also etwa aus der Frage, auf welche Konstellation denn die Europäer stießen, als sie seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zu formellen Kolonialgründungen in Afrika südlich der Sahara übergingen. Mir ging es vielmehr darum, für eine Konzeptionalisierung afrikanischer Geschichte einige leitende Kriterien zu entwickeln, mit denen sich Dynamik und Entwicklungstrends der afrikanischen Gesellschaften erklären und beschreiben lassen. Da es darum ging, möglichst gut dokumentierte Fälle zu erhalten, ergab sich eine Beschränkung auf die letzten 150 Jahre vor der europäischen Kolonialexpansion, weil die Geschichte Afrikas bis ins 18. Jahrhundert noch stärker unter nahezu spekulativen Annahmen zu leiden hat, als es selbst für diese späte Periode noch der Fall ist. Ich stieß in der jüngeren Literatur über die unterschiedlichsten Gesellschaften und Systeme auf einen - man kann wohl sagen - revolutionären Entwurf afrikanischer Geschichte. Er besagt, daß die starre Vorstellung eines Afrikas der tribalen Gesellschaften eine unhistorische, im Grunde rassistisch-kolonialistische Konstruktion sei, die, um das Fachwort zu verwenden, Ethnizität als Organisationsprinzip afrikanischer Gesellschaften übertreibe. Ethnien im heutigen Sinne - etwa die Yoruba in Nigeria, die Nyakyusa in Tanzania, die Xhosa in Südafrika - seien Konstrukte, Ergebnisse von Kolonialpolitik. Die Welt, die die Anthropologen von Afrikas Organisationsprinzipien gezeichnet hätten, jenes strenge System von kinship- und lineage-Regeln, sei von sehr geringer Bedeutung im sozialen Alltag gewesen, jedenfalls weitgehend Fiktion bzw. Herrschaftsideologie der führenden Familien. Zugespitzt formuliert, seien Formen freiwilliger Assoziation, d.h. Geheimgesellschaften, Gilden, Stadtteilchefs, Freundschafts- und nachbarschaftliche Beziehungen, wichtiger als Abstammungszusammenhänge gewesen. Nun leugnet natürlich niemand, daß sich die afrikanische Tradition in der Sprache von Abstammungs- bzw. Verwandtschaftsbeziehungen ausdrückte. Aber die historische Realität hat sich weit weniger an ihnen orientiert. Außerdem läßt sich in vielen afrikanischen Gesellschaften zumindest bei den führenden Familien beobachten, daß das zur lineage gezählte Gefolge an Sklaven, Schuldknechten, Konkubinen, kurz die Fremden, eine auch zahlenmäßig große Rolle spielten, ganz zu schweigen von Heiratsallianzen, Blutsbrüderschaften und ähnlichen Methoden zur Erweiterung des Handlungsspielraums von Verwandtschaftssystemen. Die Kunst, Fremde in das
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Gesellschaftssystem zu integrieren, sei die wichtigste Voraussetzung für Machterweiterung, Entwicklung der Produktivkräfte und schließlich Basis für Staatsbildung gewesen. Die empirischen Erkenntnisse, die in diese Richtung weisen, sind eindrucksvoll. Zugleich erleben wir in der sozialwissenschaftlichen Diskussion über das postkoloniale Afrika, daß der ethnische Faktor insbesondere von den afrikanischen Intellektuellen in ihrer Enttäuschung über die Krise der afrikanischen Nations- und Staatsbildung immer stärker betont wird. Ein Widerspruch? Meine Ausgangsfrage ist: Wenn es denn so ist, daß das afrikanische Sozialsystem, trotz seiner Betonung des Idioms der Verwandtschaft eine besondere Kompetenz für die Integration des Fremden gehabt und sich den Umständen durch Uminterpretation der Regeln im Interesse von Herrschaftslegitimation etc. außerordentlich stark angepaßt hat, wenn die Fähigkeit, flexibel zu sein und Fremde zu integrieren, so ausgeprägt war, warum finden wir dann in der Geschichte der afrikanischen Staatsbildung so enorme Probleme, dauerhafte Institutionen, Bürokratien, Ämter, stehende Heere etc. über längere Zeit zu entwickeln und zu behaupten? Was sagt es aus, daß die Sprache der Verwandtschaft vorherrschend bleibt, was sagt es aus, daß in der Realität so viele Fremde in die lineages aufgenommen wurden? Um dieser Frage nachzugehen sollen drei miteinander verschränkte Thesen erörtert und an drei Beispielen illustriert werden: These 7: Die Behinderung von Institutionsbildung hat etwas mit der relativ großen Autonomie afrikanischer Agrarproduzenten zu tun und mit einer enormen sozialen Phantasie, miteinander konkurrierende kleinräumige Netze von /zrceage-Strukturen und Assoziationen flexibel nach Lage der Umstände zu nutzen, zu wechseln und neu zu interpretieren, was Institutionalisierung durch Herrschaft erheblich erschwert. These 2: Die afrikanischen Produzenten sind zugleich in ihrer ökonomischen, ökologischen und sozialen Existenz außerordentlich verletzlich. These 3 (die in diesem Text stark in den Vordergrund rücken wird): Zur Verstetigung von Institutionen und für die Entwicklung stabiler Staatsstrukturen bedarf es Kontinuität; die Periode, die uns hier interessiert, die Zeit von ca. 1750 bis 1890 bot diese Kontinuität nicht, sie war vielmehr eine Periode, die destruktiv war und für die Konsolidierung von Institutionen kaum Zeit gab. Einige kurze Bemerkungen zu den Thesen 1 und 2: Es gibt Gründe für die These, daß in Afrika eine strukturell besonders ausgeprägte Verletzlichkeit der Agrarproduzenten bestand. Es ließe sich hinweisen auf die besonders geringe Produktivi-
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tat auf Grund der verfügbaren Nutzpflanzen sowie auf die klimatischen und ökologischen Risiken. Insbesondere aber bestanden Probleme bei der Kontrolle von Arbeitskräften in einem Kontinent, wo Land im Übermaß vorhanden war und damit Ausweichen und Autonomie der Produzenten große Chancen hatten. Diese Autonomie hatte aber einen Preis. Sie stand unter einem besonderen Existenzrisiko, so daß die gesamte Lebensstrategie auf das Überleben in Krisen konzentriert werden mußte. Wenn die tötende Hungerkrise nur einmal in der Generation auftrat, eine Seuche nur in großen Abständen viele einzelne Überlebende isoliert ließ, oder Männer, Kinder und insbesondere Frauen durch andere Umstände, vor allem durch frühzeitige Verwitwung, Verwaisung, durch Seuchen, Krieg und Versklavung, durch Schuldknechtschaft in Notfällen, aus der Sicherheit der lineage herausfielen, dann war das die eigentliche Katastrophe. Einerseits erzwang die Krisenstrategie ein Festhalten an der Referenzgruppe, die einen im Notfall unterstützte - Verwandtschaft, auch fiktive Verwandtschaft, selbst die Zugehörigkeit als Haussklave zur lineage, schuf gewisse Garantien. Andererseits wird deutlich, daß es in diesen Agrargesellschaften viele Gelegenheiten gibt, aus dieser Sicherheit herauszufallen, vereinzelt zu werden, daß Schutz in einer neuen Gruppe gesucht werden muß bzw. man in der Katastrophe der Vereinzelung der Unterwerfung und Inkorporierung in eine fremde lineage ausgeliefert ist. Das heißt aber auch, daß Zeiten, in der einzelne und Kleingruppen aus ihren Gesellschaften herausgedrängt wurden, besondere Chancen für Gefolgebildung boten, was das Überschreiten von klassischen lineage-Grenzen bedeuten konnte, kurz, daß Chancen zur Staatsbildung auf der Grundlage neuer Integrationsmechanismen entstanden, denn Überleben war prinzipiell nur Mitgliedern der Community möglich, nicht Individuen oder Kernfamilien. Das 18. und 19. Jahrhundert hat nun für Afrika in praktisch allen Regionen in außerordentlich starkem Umfang Verwundbarkeiten gesteigert, Menschen isoliert und den Zwang, neue gesellschaftliche Wege zu finden, enorm gesteigert. Die Periode zwischen ca. 1750 und 1860 ist durch vielfältigste Staatsgründungsund Staatsausweitungsprozesse geprägt. Man kann geradezu von einer Kette politischer Revolutionen sprechen, zum Beispiel von der politischen Dimension der islamischen Revolution im Westsudan von Senegambien bis Kamerun zwischen 1750 und 1860, von den Yoruba-Kriegen in Nigeria als ihrer indirekten Folge. Ein anderer Fall ist die Mfecane im südlichen Afrika von ca. 1818 bis 1838, mit Ausstrahlungen weit nach Tanzania und Zambia. Auch die Entwicklung der Großkarawanen unter dem Einfluß von Zanzibar seit ca. 1830 führt in Ostafrika zu Staatsbildungen mit Kriegsfolgen von Kenya bis nach Zaire. Dieser Prozeß verknüpfte sich mit entsprechenden Karawanensystemen Angolas zu einem außerordentlich destruktiven System. Sämtliche Prozesse waren mit erheblicher Ausweitung von Gewaltanwendung verbunden und vermischten sich seit der Jahrhundertmitte mit der wachsenden europäischen Intervention. Frankreich wurde in
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Senegambien seit den vierziger Jahren militärisch aktiv, ebenso England in Nigeria. Die südafrikanischen Händler und Konquistadoren expandierten intensiv seit den zwanziger Jahren. Europäische Intervention in das zanzibarische Handelssystem erfolgte seit den dreißiger Jahren - sie war auch Folge der Antisklavereibewegung und der Umschichtung des Sklavenhandels seit dem Aufstieg Brasiliens als Hauptabnehmer für Sklaven während und nach den Napoleonischen Kriegen. Seit ca. 1750 in Westafrika, spätestens seit 1815 im südlichen und östlichen Afrikas entstand ein verstärktes Sicherheitsproblem für die Menschen in Afrika südlich der Sahara. Diese Periode ging in die frühe Kolonialzeit und deren gewaltsame Übergriffe über, bis nach strategischen Niederlagen der meisten Völker und trotz allerdings regional begrenzter - militärischer Aufstände gegen die Maßnahmen der Kolonialherrschaft sich die pax colonialis durchsetzte, auch wenn Formen des Widerstandes unterhalb der Schwelle des Krieges und der bewaffneten Aktion verbreitet blieben. Es entstand so etwas wie Landfrieden. Man kann das konkret an der Siedlungsweise sehen: Entstanden am Anfang des 19. Jahrhunderts verbreitet befestigte Dörfer, nahm im 20. Jahrhundert die Streusiedlung (natürlich parallel zur Urbanisierung) wieder zu. Was sind hierfür die Hauptgründe? Die Jahre 1750 bis 1860 waren die Boomjahre des Sklavenhandels. Mehr als 80 Prozent der versklavten Menschen wurden in dieser Periode gehandelt - d.h. im wesentlichen nach Aufkommen der Diskussion um die Abschaffung des Sklavenhandels mit den Schlüsseldaten 1807 und 1833. Die Intervention der britischen Flotte (1840) gegen den westafrikanischen Sklavenhandel verschärfte außerdem zunächst das Problem: In Westafrika kam es zur Intensivierung und Institutionalisierung von Sklaverei für die innerafrikanische Produktion und für die ersten Exportprodukte. Es folgte die Verlagerung der Sklaverei nach Angola, Mocambique und Tanzania. Ein Nebenprodukt war die aggressive Suche nach alternativen Arbeitskräften in Südafrika, nicht nur durch die Vortrekker, sondern auch durch die kommerzialisierte Agrarwirtschaft der Kapkolonie. In derselben Weise ist in jüngster Zeit durch Julian Cobbing auch die zunächst nur aus innerafrikanischen Gründen erklärte Mfecane, die Kriegswirren um den Aufstieg des Zulureiches, interpretiert worden. 1 Diese destruktive Tendenz im 19. Jahrhundert trug maßgeblich zur Diskontinuität und Instabilität von Staaten bei. Damit verschärfte sich das Sicherheitsproblem für die Menschen erheblich. Die Gründe hierfür lagen in einer Reihe miteinander verbundener Phänomene: 1. Beide Handelsgüter, Sklaven wie Elfenbein, waren instabile Ressourcen: sowohl Rekrutierungsgebiete wie Märkte und Häfen für Sklaven verlagerten sich, Jagdgebiete der Elefanten erschöpften sich - und damit verschoben sich auch Interessen- und Einflußzonen. 2. Im südlichen und östlichen Afrika, wahrscheinlich aber auch am Sahelrand, kam es zur Ausweitung der überregionalen Vermarktung von Vieh. Dies führte
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insbesondere im südlichen und östlichen Afrika zu systematischen Jagden auf Vieh durch afrikanische und europäische Gruppen. 3. Neue militarisierte Großgruppen wurden zum Instrument der Aneignung von Sklaven, Elfenbein und Vieh: - die bewaffnete Großkarawane von bis zu 600 bis 1000 Personen (kennzeichnend für Ostafrika und Teile Zentralafrikas); - das "Kommando", bis zu Hunderten zählende, oft berittene und mit Gewehren bewaffnete Gruppen mit starker ethnischer Heterogenität, einschließlich weißer Beteiligung. Ihren Schwerpunkt bildete das südliche und östliche Afrika, jedenfalls dann, wenn man eine Abgrenzung zum Brigantentum vornimmt; - die Regimentsverfassung der Nguni und ihrer Nachahmer im südlichen Afrika; - die bewaffnete Kanuflotte auf dem Niger, der Lagune von Lagos und auf dem Victoria-See; - die älteren Kavallerieheere des Westsudan, die weit in den Süden vordrangen; - die entsprechenden Organisationsformen der kolonialen "Entdecker" und "Pioniere". Sie nutzten ebenfalls die bewaffnete Karawane und das berittene Kommando, statt des Kanus die mit Maschinengewehren bewaffnete Dampfbarkasse auch bei scheinbar friedlichen Expeditionen, und fügten bei militärischen Konflikten und "Strafexpeditionen" die Taktik der verbrannten Erde hinzu. Diese Großgruppen waren sozusagen mobile Armeen, die sich aus dem Lande ernährten. Sie trugen durch die Weiträumigkeit ihrer Bewegungen neue Seuchen für Menschen und Vieh in jene Teile Afrikas, die noch nicht virologisch und bakteriologisch an die Welt angeschlossen waren. Das heißt, Masern, Lungenseuche, Rinderpest und wahrscheinlich auch die weniger beachtete Tuberkulose wurden zu den großen Tötern dieser Periode. Durch die Aufgabe der Streusiedlung verbreitete sich der Busch, und damit weiteten sich die Tsetsefliegengebiete und damit die Schlafkrankheit endemisch aus. Auch die gesteigerte Aggressivität im Austragen der Konflikte, so beim Übergang vom begrenzten Interclan-Krieg zu Vernichtungsstrategien, erklärt sich aus der Instabilität des Systems. Durch Rückgang der Elefantenherden und durch die Wechselfälle der Konjunkturen für Sklaverei und Antisklavereipolitik gerieten jene politischen Einheiten, die die Karawanen und Kommandos organisierten, in Existenzkrisen. Die eskalierenden Konflikte bedrohten um so stärker Gesellschaften, die der Militärrevolution nichts entgegenzusetzen hatten und deshalb ihre weniger konzentrierten und organisierten Systeme kaum behaupten konnten. In der aktuellen Debatte über die Rolle von Ethnizität in der afrikanischen Geschichte und Gegenwart werden diese Zusammenhänge verstärkt aufgegriffen. Ich
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kann das in diesem Zusammenhang nicht vertiefen, möchte jedoch auf Robert Papsteins Analyse zur Zambesi-Region seit 1830 verweisen.2 Er schreibt die Geschichte des ethnischen Bewußtseins als Ergebnis eines langen historischen Prozesses. Aus dem Partikularismus der frühen lineages habe sich zur Wahrnehmung eines vergrößerten sozialen Feldes im späten 18. und im 19. Jahrhundert eine erweiterte Identität gebildet, in der sich Loyalitäten nun auf der Basis ähnlicher Sprachen und Kulturen bildeten und sich mit den primären sozialen und ökonomischen Bindungen an lineages und Clans verknüpften. Was sich nun so dramatisch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geändert habe, sei, so Papstein, daß ein ehemals langsam sich entwickelndes ethnisches Selbstbewußtsein in eine neue härtere tribale Struktur transformiert wurde. Zu den wichtigsten frühen Gründen für diese Transformation habe die Furcht gehört, die durch den Sklavenhandel verursacht worden sei. Sie habe bewirkt, daß sich Menschen aus kleinen, auf lineages basierenden Dörfern in große befestigte Orte zurückgezogen hätten und so stärker als früher durch mächtige Chiefs kontrolliert wurden. Der Nachdruck auf ethnische Identität war ein Element des Schutzes gegen die Versklavung, denn Versklavung eines Mitgliedes des Gefolges eines Chiefs durch Fremde gefährdete die Basis seiner neuen Autorität und Legitimität, Schutz zu gewähren. Der frühe Kolonialismus hat diese Tendenzen verändert. Papstein argumentiert, daß die Entwicklung schwacher Protostaaten durch die koloniale Expansion auf dieser erweiterten ethnischen Basis abgewürgt wurde; zugleich sei diese Ethnizität durch koloniale Herrschaftstechniken verschärft worden. Ranger und Iliffe haben ebenfalls diskutiert, daß "Stämme" im Interesse der kolonialen Verwaltung entpolitisiert und als "unpolitische" Einheiten geradezu erfunden wurden und daß afrikanische Machteliten sich gleichzeitig aus Mangel an politischer Mitbestimmung im Zentrum der Macht auf einen regionalen Ethnozentrismus zurückzogen.3 Diese Zusammenhänge von verstärkter Verwundbarkeit, Gefolgebildung, Staatsbildung einerseits und der Wirkung der Diskontinuitäten, die die Entfaltung einer neuen afrikanischen Gesellschaftsstruktur behinderten, andererseits sollen an drei Beispielen erläutert werden: - an der Entstehung eines Staates in den Usambarabergen Tanzanias seit dem 18. Jahrhundert, - an der Destabilisierung und Reintegration dreier Dörfer in Ostzaire und - am Schicksal einer Frau an der Grenze zwischen Zambia und Tanzania.
Die Entstehung eines Staates in den Usambarabergen Die Shambaa4 sind ein Bergvolk im Norden Tanzanias. Anders als in den Steppengebieten mit unregelmäßigem Regenfall boten die Bergländer vielseitige landwirtschaftliche Produktionsmöglichkeiten. Hauptpflanze war die Banane, die in den
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Bergländern, in die sie, aus Südasien stammend, ca. 1500 eingeführt worden war, unterstützt durch ein Bewässerungssystem abgeleiteter Bergbäche außerordentlich gut gedieh. Ihre Blätter boten Grünfutter für das Vieh, das teilweise in Stallfütterung gehalten wurde, so daß auch Dung konzentriert anfiel. Baum- und Bananenstaudenbestand waren weit genug gestreut, so daß ergänzende Gemüsepflanzen und Getreide, insbesondere die seit ca. dem 18. Jahrhundert aus Lateinamerika übernommene eiweißhaltige Bohne und der Mais, angebaut werden konnten. Dieser Schub in der Nahrungsmittelproduktion ist zweifellos einer der langfristig angelegten strukturellen Gründe, daß die materiellen Voraussetzungen für eine Überschußproduktion und damit auch Staatsbildungschancen wuchsen. Wenn auch die Bodenverhältnisse verschieden waren, Hochebenen durchaus weniger Ertrag bringen oder Landschaften im Regenschatten liegen konnten, so daß landwirtschaftlich strategische Zonen sich als Herrschaftskern anboten, so waren doch die Möglichkeiten zur Herrschaftsbildung bis ins 19. Jahrhundert sehr begrenzt. Die lineages der verschiedenen Täler und Hügelgruppen konnten durchaus autonom wirtschaften und den Austausch wichtiger Handwerksgüter und des Salzes ohne Zentralisierung von Herrschaft organisieren. Offensichtlich kamen beim Staatsgründungsprozeß der Shambaa äußere Anlässe hinzu: Er ergab sich aus der Expansion der Masai, eines mobilen Hirtenvolkes in den Ebenen Nordtanzanias und Kenyas, das, durch ein System der Altersgruppen militärisch hoch organisiert, sich die Überschüsse der Bauern am Fuß der Berge aneignete und im Wechsel der Jahreszeiten die Berghänge als Reserveweiden in Anspruch nahm. Diese Bedrohung verstärkte die Tendenz, daß die Besiedlung der Berge und Hochebenen aus Sicherheitsgründen vorangetrieben wurde und sich zugleich ein Bevölkerungsdruck abzeichnete. Zugleich entstanden in den unteren Hanglagen größere befestigte Orte, die vor den Überfallen der Masai schützen sollten. Dies bildete verstärkte Ansätze zur Herrschaftskonzentration. Denn die Gruppen, die sich aus den gefährdeten Tieflagen in die Berge zurückzogen, waren kampferfahren, organisierter und mußten ihre Landansprüche in den Bergen gegenüber den Altsiedlem oft mit Gewalt durchsetzen. Diese Entwicklung trug die allgemeine Unsicherheit der Ebenen in die Berge. Aus der Ebene einwandernde Klans, die Kilindi, nutzten diese Situation zur Herrschaftsbildung. Sie hatten die Abwehr gegen die Masai organisiert und vermittelten zwischen den aus der Ebene flüchtenden Neu- und den Altsiedlern. Als Beleg für diese Vermittlerrolle läßt sich ein Element der Rechtsprechung deuten: Es konnte nur verurteilt werden, wer ein Geständnis ablegte. Lediglich der König der Kilindi-Dynastie konnte ohne Geständnisse aburteilen, d.h. über das Selbstverständnis und Rechtsgefühl der unterschiedlichen Rechtstraditionen und Interessen entscheiden. Kennzeichnend dafür, daß die Kilindi zwei Bevölkerungsgruppen einten, war es, daß sie die Vorschriften für den Ahnenkult beider Bevölkerungsteile beachteten. Die Bergbauern erhielten eine Reihe von Ämtern, die Hauptorte allerdings wurden von den Söhnen des Königs als Statthalter besetzt.
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Die zentrale Stellung als Gerichtsherr kam auch für Gefolgebildung und den Aufbau der Streitkraft zur Geltung. Die Rechtspraxis der Könige spiegelt die Krisenlage und das Sicherheitsproblem im weiten Umfeld des Shambaakönigreiches wider: Neben Vieh auch Menschen als Kompensationszahlung an den Hof zu geben, wurde Bestandteil der Strafen, sozusagen als Gerichtsgebühr. Noch deutlicher wird diese Praxis daran, daß Menschen, die der Hexerei beschuldigt wurden, die Auflage erhielten, am Hofe zu leben - das heißt, die in Krisenzeiten Ausgegrenzten fanden Schutz beim König. Daß dieser so offensichtlich in der Lage war, diese Hexen zu kontrollieren, steigerte seine rituelle Macht. Auch wer des Diebstahls überführt wurde, wurde verurteilt, am Hofe des Königs zu leben, für ihn zu produzieren und Kriegsdienst zu leisten. Auch dieses um sich greifende Diebeswesen deutet auf Krisenlagen jener Zeit. Schließlich schlössen sich entlaufene Sklaven, die sich aus der Küstenzone Tanzanias in die Berge geflüchtet und teilweise Dörfer gegründet hatten, dem Schutz des Königs an oder gingen an den Hof. Hinzu kamen offensichtlich landlose, an ihre lineage-kltesten verschuldete oder sonstwie zu Außenseitern gewordene Menschen. Sie galten als "Sklaven", d.h. sie waren lineage-los, mußten sich der Königs-lineage als Gefolge anschließen, führten aber eine selbständige Bauernwirtschaft. Der in den Bergen liegende Königssitz Vhuga wurde so zu einem neuen Zentrum mit hoher ritueller Anziehungskraft. Allerdings kam es nicht zu einer Konsolidierung - auch dieses Königreich war ein Ergebnis einer umfassenden sozialen Krise - Hexen, Diebe, entlaufene Sklaven und vor den Kämpfen in der Ebene Flüchtende deuten darauf hin. Eine grundlegend neue Lage entstand, als die Großkarawanen von Tanga am Bergmassiv vorbei nach Norden zogen. Die Kampfkraft der Masai wurde teils gebrochen, teils zogen sie sich wegen einer internen Krise zurück. Die Ebene bzw. die unteren Hänge gerieten in das Zentrum des Geschehens. Vergeblich versuchten die Könige, die Handelskontakte auf den isolierten Hof in Vugha zu lenken. Sie betrieben überregionale Außenpolitik, beeinflußten die Besetzung von Führungspositionen im Hafen von Tanga und entlang des Pangani-Tales, das als Durchzugsroute durch die Berge diente. Man beschäftigte bei Hofe einen Swahili-Schreiber und versuchte mit all diesen Maßnahmen insbesondere den Textil- und Gewehrhandel auf den Hof zu konzentrieren. Indessen, abgelegen von der Handelsroute, ließ sich eine solche Monopol-Politik nicht durchsetzen. Der Ort Mazinde am Fuß der Berge, regiert von einem der Söhne als Statthalter, wurde zum informellen Zentrum des Reiches. In Vugha war das rituelle Zentrum, in Mazinde, wie gesagt wurde, "waren die Gewehre". Im Grunde drehte sich sogar die Siedlungstendenz um, weil in der Nähe der Route Nahrungsmittel für die Versorgung der Karawanen angebaut wurden. Bei der Nachfolgeregelung nach dem Tode des Königs Kimeri übernahm der älteste Bruder des Königs Mazinde. Er forderte die Autorität des Enkels, der Nachfolger in Vugha geworden war, heraus, indem er das zentrale Recht des Königs, die Sicherheit für Flüchtlinge in Vugha zu garantieren, in Frage stellte. Sofern es sich um seine Leute handelte, forderte er diese zurück. An
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diesem zentralen Punkt der Gefolgebildung brach der Krieg zwischen beiden Dynastiezweigen aus. Zwar gewann der Herr von Mazinde, Teile der Besiegten setzten indessen den Krieg fort, der sich mit der chaotischen Anfangszeit der deutschen Besetzung Ostafrikas in den achtziger Jahren überlagerte. Zunächst wurde er zu Sklavenjagden genutzt, dann erreichten die Auswirkungen des Krieges der Küstenbevölkerung Tanzanias gegen die deutsche Besatzung Ende der achtziger Jahre Usambara. Deutsche Karawanen wurden geplündert, so daß, um die Karawanenroute zu sichern, 1890 in Mazinde eine deutsche Militärstation errichtet wurde, die der König hinnahm, weil er sich militärisch unterlegen fühlte. 1895, beim Tode des Königs in Vugha, nahmen die deutschen Offiziere ihre Chance wahr. Sie konfiszierten die Waffen des verstorbenen Königs, und als dessen Nachfolger einen Nichtadligen hinrichten ließ, weil dieser Ehebruch mit einer der Frauen des Königs vollzogen hatte, klagten die deutschen Offiziere den König wegen Mordes an und hängten ihn in Anwesenheit des Kilindi-Adels. Der Nachfolger war König von Deutschlands Gnaden. Seine Hauptaufgabe war, Arbeiter für die deutschen Plantagen in den Usambarabergen zu rekrutieren. Im Juli 1896 hörte ein Missionar eine Frau aus Vugha sagen: "Wo einst ein Löwe saß, ist nun ein Schwein." In den Schlußworten von Feierman wird der Umfang der Katastrophe deutlich, er schrieb: "1899 traf Usambara eine schreckliche Hungersnot. Die Menschen aßen Baumwurzeln und Bananenstrunke und Hunderte wurden Christen, um ihren Magen zu füllen. 1898 brannte die eine Hälfte von Vugha ab, 1902 die andere. Die Stadt hatte auch in der Vergangenheit oft gebrannt und war immer wieder aufgebaut worden, aber nach 1902 nicht mehr. Die Stadt verschwand. Die Shambaa fühlten sich am Ende des Jahrhunderts als ein geschlagenes Volk".
Ein Dorf im östlichen Zaire in der Krise: Lupupa Ngye5 Bei seinem Versuch, die Weltvorstellungen der Menschen des Dorfes Lupupa Ngye in Ostzaire in den 1960er Jahren zu rekonstruieren, sah sich der Anthropologe Alan Merriam mit der mehr als dreißigjährigen Krise Ostzaires konfrontiert. Er stellte fest, daß Dorf und politische und soziale Struktur sehr neu waren. Die Erinnerungen an die Anfänge der führenden Familie und die Amtsträger des Dorfes gingen nicht weiter als bis 1892 bzw. 1906 zurück, als das Dorf gegründet wurde. Selbst in den Schöpfungsgeschichten, obwohl sie theoretisch weit über 1892 zurückverwiesen, kam die Zeit vor der Krise nicht vor. Das Dorf teilte die Erfahrungen des Volkes der Basongy, von denen viele teils vernichtet, teils vertrieben worden waren. Nicht nur die größeren sozialen Zusammenhänge der lineageSysteme waren zerrissen worden, sondern auch einzelne Familien wurden zerstreut und hatten isoliert Zuflucht in Waldsiedlungen gefunden. Erst zwischen 1900 und 1920 begannen sich die zerstreuten und verängstigten Menschen neu zu organisie-
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ren. Die Konsolidierung einer neuen Gesellschaft, selbstverständlich mit Rückerinnerungen und Anknüpfungen an die Gründungszeit um 1900, fand ab 1920 statt und war nach Merriams Urteil auch in den sechziger Jahren noch nicht beendet. Das, was er als "Basongye-Gesellschaft" vorgefunden hatte, war damit Ergebnis einer relativ neuen Entwicklung. Die ersten europäischen Reisenden, unter ihnen der spätere deutsche Reichskommissar in Ostafrika Wissmann, schilderten 1886 die Basongye Dörfer als groß, in dichtbesiedelten Gebieten liegend, mit bewässerten Feldern sich bis zu 15-17 km erstreckend. Nur acht Jahre später reiste Cameron durch verwüstete und entleerte Dörfer. Chaltin schrieb 1897, das Land, früher fruchtbar, wohlhabend und bevölkerungsreich, böte das Bild einer riesigen Leere. Die gesamte Region sei ruiniert und verlassen, viele Menschen suchten Schutz in der Tiefe der Wälder, sie wären zu Nomaden- und Brigantentum gezwungen, um nicht zu verhungern. Der Reisende Laurent schilderte 1895 die alten Plantagen der Basongye als von der Baumsavanne überwachsen. Dementsprechend verbreitete sich die Tsetsefliege. 1900 wurden die ersten Fälle von Schlafkrankheit für das Gebiet gemeldet. Le Marinel berichtete 1888, daß viele an den Masern und an Unterernährung starben und den Hungernden Akte von Kannibalismus nachgesagt würden. Wissmann wußte 1891 von Versuchen der Dorfleute, ihre Felder aus dem Schutz ihrer Waldverstecke heraus zu bearbeiten. Sie mußten aber immer wieder hinnehmen, daß die Ernten geplündert und die Männer bei der Verteidigung ihrer Felder fielen oder versklavt wurden. Auch er berichtete über tödliche Masernseuchen und Hungersnöte. Nach den Sklavenkriegen und den belgisch-arabischen Kämpfen blieb die Unsicherheit zumindest ein weiteres Jahrzehnt bestehen, nun durch Brigantenbanden geprägt. Das Dorf Ngye lag in einem umkämpften Gebiet. Eine der ersten Schlachten fand nur wenige Meilen vom Ort entfernt statt, und Karawanen müssen direkt durchgezogen sein. Alte Leute berichteten von den Schrecken der Überfälle, zeigten ihre markierten Ohren, mit denen ihr Sklavenstatus und ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Eigentümer gekennzeichnet worden war. Die Chronologie der Leute in Ngye orientiert sich an der Erinnerung an Ngongo Lutete, einen besonders grausamen Sklavenjäger, "the worst man in the world". Aber die Erinnerung an die genaue Lage der alten Wohnorte und an die genealogischen Zusammenhänge der führenden Familien sind "vergessen", d.h. offensichtlich verdrängt, weil sie die Rekonstruktion der sozialen Ordnung des Dorfes nach dem Desaster mit neuem Dorf und neuen führenden lineages stören würde. In der Schöpfungsgeschichte der Bala, Leuten aus vier Dörfern, zu denen Ngye gehörte und die die meisten Dorfältesten stellten, mag das zentrale Ereignis auf die Katastrophe hinweisen: Als der Schöpfer Mulope Kamusenge erklärte: "Ich habe die Leute geschaffen. Ich habe alles geschaffen", erhielt er die Nachricht von einem Mann, der behauptete, er habe dennoch etwas vergessen. Mulope ließ ihn suchen und zu sich bringen: "Bist Du die Person, die mir geantwortet hat, ich hätte etwas vergessen?" "Ja."
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"Was habe ich vergessen?" "Du hat vergessen uns zu erklären, warum wir sterben müssen." "Ja ihr müßt sterben, weil ihr sonst keine Kinder bekommen könnt. Wenn ihr sterbt, kommt ihr als Kinder auf die Welt zurück." Die Gründungsgeschichte des Dorfes selbst beginnt mit der Niederlage Ngongos 1892 und der Flucht Yakalalas aus dessen Sklavenarmee. Er fand einige Leute, die er kannte. Sie hatten ihre Dörfer verlassen und waren in den Wald geflohen. Die Leute lebten noch verstreut. Einer der Dorfältesten berichtete, die Idee, alle Leute in einem Dorf zu konzentrieren, sei den Europäern abgesehen und auf einer Versammlung der lineage-Ältesten durch Mulenda von Bena Yewusha vorgeschlagen worden. Als Gründungszeit sind die Jahre kurz nach 1900 am wahrscheinlichsten. Eine andere Erklärung war, daß Yankamba, 1911 gestorben, der wirkliche Organisator des ersten zentralen Dorfes und erster Chief war. Er hätte die Leute als Schutz gegen Leoparden in einem Dorf zusammengezogen. Eine der von den Dorfleuten in Ngye benutzte Deutung der Herkunft des Dorfnamens ist Leopard, weil sie die Mentalität von Leoparden hätten. Andere meinten, man habe den Wald verlassen müssen, weil sich die Schlafkrankheit ausbreitete, eine Aussage, die sich mit den Verbreitungsdaten der Krankheit deckt. Sämtliche Deutungen behandeln die Krise: sich sammeln am Ende der Kriegszeit, die Furcht vor den Leoparden, denen man sich ähnlich fühlt, also die Reaktion auf Brigantentum und Hexenängste, dann das Ausweichen vor der Schlafkrankheit und schließlich die Behauptung, man habe die Siedlungsform der Europäer nachgeahmt. Letzteres ist eine Fortsetzung der Verdrängungsmechanismen, da man vor der Katastrophe - allerdings in anderer Gruppenidentität - schon in großen Siedlungen gelebt hatte. Alle Gründungsgeschichten, die von Angehörigen verschiedener lineages überliefert wurden, nennen im wesentlichen den gleichen Personenkreis, der um 1900 ca. 20 bis 30 Jahre alt war und als Gründer der vorherrschenden lineages der Gegenwart gilt. Das heißt, die offizielle Geschichte der Bala begann mit dem Wiederaufbau. Die nun führenden Familien waren allein erwähnenswert, nicht die Familien vor der Krisenzeit. Relevant war die Traditionsbildung der neuen Führungsschicht. Dabei war der Prozeß der Konsolidierung schwierig und langwierig. Auseinandersetzungen um Frauen und um die Herrschaftsansprüche einzelner lineage-Chieis führten nach dieser Tradition zur Abwanderung von lineages und Gründung weiterer Dörfer, darunter auch Ngye um das Jahr 1906. Erst 1959/68 wurde durch erneute Entscheidungen zur Um- und Rücksiedlung, schließlich zu den Wohnsitzen vor der Krise, die Spaltung der Dörfer überwunden. Über einen neuen Wohnsitz wurde verhandelt, weil offensichtlich das Glück den alten Dorfplatz verlassen hatte. Angeblich häuften sich unerklärliche Todesfälle, Frauen bekamen weniger Kinder als üblich, viele Menschen hatten schlechte Träume. Außerdem waren die gepflanzten Bäume so gewachsen, daß der Schatten das Land "kalt" machte, d.h., die Savanne dem Wald zu ähnlich wurde. Die Überlegungen des Jahres 1959 zogen sich bis 1960 unmittelbar vor der Unabhängigkeit hin. Als
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deren Ergebnis wurde befürchtet, daß die alten Kriegszeiten wiederkommen und die benachbarten Baluba angreifen könnten. Das geschah zwar nicht, aber alle drei Dörfer siedelten 1964 an einen gemeinsamen Ort, nur wenig vom alten entfernt, bis dann nach Konflikten mit dem neuen Staat, die zur Absetzung des Chiefs führte, der alte Dorfplatz auf der Hügelkuppe wieder besetzt wurde. Die Geschichte dieses Dorfes macht deutlich, wie sich tief die Krise des 19. Jahrhunderts ausgewirkt hat und das historische Bewußtsein prägte. Es ist überdies eines der vielen Beispiele dafür, mit welcher Vorsicht Genealogien und Kinship-Systeme betrachtet werden müssen. Die historische Fiktion eines Anfangs, der die Geschichte vor der Krise ausblendete, diente dem inneren Frieden und der Konsolidierung der führenden Familien. Der politische und soziale Diskurs mit den Begriffen des lineage-Konzeptes ist stets auch Teil des Kampfes um ideologische Vorherrschaft und, bei allem Realitätsbezug zu tatsächlichen verwandtschaftlichen Beziehungen, auch manipulierte Fiktion. Es paßt in dieses Bild der Flexibilität des lineage-Konzeptes, daß ergänzende soziale Institutionen entstanden. In den Dörfern der Bala war das Konzept der formalisierten Freundschaft ein Grundprinzip. Es ist kein Zufall, daß es gerade in dieser Zeit der Rekonstruktion und Konsolidierung dieser kleinen Gesellschaft ausgeprägt zur Geltung kam. Aber derartige Freundschafts-Systeme finden sich bei vielen Völkern, die durch Wanderungen, Vertreibungen und Abspaltungsprozesse auf Hilfe, von Fremden angewiesen waren. Gerade Siedlungsgründungen benötigen mehr Hilfe als mit dem Organisationsmuster des lineage-Konzeptes geleistet werden konnte. Es verwundert deshalb nicht, daß Merriam betont, daß formalisierte Freundschaften zwischen Männern, Männern und Frauen und Frauen untereinander ein Grundthema der Kultur dieser Menschen war. Wesentlich war die gegenseitige Unterstützung. Sie war außerhalb des Dorfes wichtiger als im Dorf. Schutz auf Reisen und auf der Flucht stand im Vordergrund. Merriam geht deshalb davon aus, daß die Institution der formalisierten Freundschaft auf die Zeit der Krise an der Jahrhundertwende zurückgeht. Wie deutlich das System der formalisierten Freundschaften vom /¡neage-Konzept abgegrenzt war, läßt sich daran ermessen, daß Ehepartner zusätzlich formelle Freunde werden konnten. Freundschaftsbeziehung zwischen Männern und Frauen außerhalb der Ehe wurden als Bruder-Schwester-Beziehung gedeutet, Geschlechtsverkehr war sanktioniert. Männer hatten um die dreißig Freunde, Frauen um die zwanzig. Diese Freundschaften erstreckten sich auch gerade auf Leute aus benachbarten Dörfern. Allerdings kam der "beste Freund" aus der eigenen Altersgruppe des Heimatdorfes. Der Austausch von Geschenken begründete diese Freundschaften. Formen der Ablehnung eines Freundschaftsangebotes waren ebenfalls standardisiert. Auflösung erfolgte vor allem in dem Fall des Ehebruchs mit der Frau des Freundes. Aber auch die formelle Freundschaft orientierte sich an den Regeln, die das lineage-Konzept ausmachten, oder wie ein Mann aus Ngye formulierte:
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"Freunde sind wichtig. Ein Freund hilft dir in der Not. Er ist wie ein Kinsman oder ein Ersatz für die Kinsmen. Man behält einen Freund, solange man kann, wie die Ehefrau. Wenn der Freund stirbt, nimmt man seine Kinder, wenn keine Verwandten da sind, und sie werden Teil deiner Familie."
Das Netz der Freundschaften war für die Konsolidierung der von der Krise zerstreuten Menschen wichtig. Die Beschlüsse, die Dörfer wieder zusammenzulegen, waren ohne Vertrautheit mit den Freunden aus den verschiedensten lineages kaum denkbar, die politische Kooperation wurde wesentlich erleichtert. Im Kontext der Geschichte dieser Region im 19. Jahrhundert mag sowohl die Verbreitung dieser Institution wie das bemerkenswerte "Vergessen" der älteren lineage-Genealogien und schließlich die lange Zeitdauer des Konsolidierungsprozesses die Tiefe der Krise verstehen helfen. Zur Weiterentwicklung der Basongye Gesellschaft in Richtung auf einen vorkolonialen Staat bestand historisch keine Zeit. Die Großsiedlungen mit großen bewässerten Reisfeldern hatten in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwar einen Ansatz geboten. Sie entstanden in der Hochkonjunktur des überregionalen Handels zwischen Angola, Zambia, Tanzania und Zaire, waren der Punkt, an denen sich die Karawanenrouten von Atlantik und Indischem Ozean trafen. Neue Nutzpflanzen und Agrartechniken sowie das große befestigte Dorf bildeten die Voraussetzung. Aber diese Entwicklung wurde durch die militante Wendung abgebrochen, die Sklavenhandel und Elfenbeinhandel im letzten Drittel des Jahrhunderts nahmen. Die Kriege zwischen den verschiedenen Warlords und schließlich deren Kämpfe mit den belgischen Kolonialtruppen, die zunächst von Warlords kaum zu unterscheiden waren, ermöglichten wegen der destruktiven Aspekte des Handels und des endemischen Krieges keine Konsolidierung. Am ehesten läßt sich das noch für den Herrschaftsbereich des Sklavenhändlers und Karawanenfürsten Tippu Tip im Grenzbereich zwischen Zaire und Tanzania sagen, der derartige hochentwickelte, dichtbesiedelte Reisanbaugebiete vor durchziehenden Karawanen und Sklavenraub schützte, um so seine Karawanen ausrüsten zu können. Die Konsolidierung der Gesellschaften der geflüchteten und versklavten Menschen vollzog sich dann in Formen, die der koloniale Staat vorschrieb - in einer sehr regional und auf die Dörfer bezogenen neuen ethnischen Identität. Aber auch zu der bedurfte es, wie dieser Fall zeigt, achtzig Jahre, um durch fiktive lineage-Genealogien und durch die Institution der formalisierten Freundschaft stabile neue Strukturen zu schaffen.
Frauen in Gefahr Ich möchte meine Beispiele, die Strategien der Existenzsicherung in extrem unsicheren Zeiten mit Problemen der Diskontinuität in der gesellschaftlichen Entwicklung verknüpfen, mit der Lebensgeschichte einer Frau beenden.
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Diese Frau lebte im Grenzgebiet zwischen Ost- und Zentralafrika. Ihr Schicksal wurde von Nyamwesi- und Swahili-Sklavenhändlern und Elfenbeinjägern bestimmt, aber auch von Überfällen und Expansion der Bemba aus dem heutigen Zambia. Sie teilte damit die besonderen Härten, die das 19. Jahrhundert für eine Großregion Afrikas brachte, die auf den ersten Blick am weitesten von den Einflüssen der Küsten entfernt schien. Für unsere Vorstellung von den destruktiven Folgen, die der Sklaven- und Elfenbeinhandel und der frühe Kolonialismus hatten, ist gerade der Blick in das für die damaligen europäischen Reisenden "dunkelste Afrika", nämlich Zentral-Afrika, besonders aufschlußreich. Seit Mitte des Jahrhunderts kam auch der Korridor zwischen den Seen, der Tanzania mit Zambia verbindet, in Kontakt mit dem System des Indischen Ozeans. Elfenbein, Kühe, Gewehre und auch Frauen wurden durch intensivierten Handel zu fast standardisierten Tauschgütern. Darüber hinaus hing das individuelle Schicksal von Menschen, insbesondere von jungen Frauen, von den unmittelbaren Umständen ab, ob ihre Gruppe in die Kämpfe um die Zentralisierung von Herrschaft geriet, ob man nahe den Haupthandelsrouten lebte oder in wenig zugänglichen Regionen. Marcia Wright ist den Lebensläufen von Frauen Südtanzanias nachgegangen, die dadurch überliefert sind, daß deutsche Missionarinnen der Mährischen Brüdergemeine sie gesammelt haben. Geht man einigen dieser Lebenläufe nach, so wird das ganze Ausmaß der Unsicherheit deutlich, die die Turbulenzen des 19. Jahrhunderts mit sich brachten. Marcia Wright 6 , deren Schilderung der Lebensläufe hier weitgehend gefolgt wird, weist insbesondere darauf hin, daß die Schicksale sich nicht einfach nach dem abstrakten Status der Personen beurteilen lassen. Frei oder Sklave zu sein, gefangen zu werden oder von Hungersnot bedroht in die Abhängigkeit von Fremden zu geraten, das alles hing von den konkreten Umständen ab. Es konnte Prinzessinnen ebenso treffen wie Bauernmädchen. Wer in die Turbulenzen gerissen wurde, für den gab es keine Sicherheit und kein Minimum von Kontinuität des Lebens. Entscheidend war, Schutz zu finden, den nur eine lineage und für Frauen darüber hinaus ein Mann als juristisch verantwortlicher Beschützer bieten konnte. Krieg und Versklavung und damit verbundene Zerstörung der Dörfer und das Auseinanderreißen der Familien aber führte in besonderem Maße zum Verlust dieses Schutzes durch die lineage und die von ihr kontrollierten Männer, und das in einer Zeit, in der die Unruhe im Lande und die Hungerkrise der achtziger und neunziger Jahre das Schutzbedürfnis für viele Menschen steigerte. Auch Meli suchte diese Sicherheit in ihrem "traditionellen" Dorf, wo sie für Organisation und Durchführung des Ackerbaus zuständig sein würde, für die Aufzucht der Kinder und die Versorgung des Hausherren. Noch in ihrer Lebensbeichte vor den Missionsschwestern akzeptierte sie diese Normen, obwohl die Lebensumstände sie weit von der erwarteten Normalität und Sicherheit weggetrieben hatten. Meli wurde im Grenzgebiet zu den Bemba geboren, das diese kürzlich unterworfen hatten. Melis Eltern gehörten in matrilinearer Linie einem Häuptlings-Clan
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an, in den führende Bemba nach der Eroberung eingeheiratet hatten und den sie an der Regierung beteiligten. Melis Vater geriet aber in Konflikt mit der BembaFührung, weil er sich weigerte, in einem Fall angeblichen Ehebruchs die Kompensation zu leisten, d.h. in diesem Fall eine neue Frau zur Verfügung zu stellen. In dem daraus folgenden Krieg wurde Meli während eines Bemba-Überfalls mit anderen Frauen und Mädchen verschleppt. Ihnen gelang es zwar, zunächst zu fliehen - sie wurden aber wieder eingefangen. Bei einem zweiten Fluchtversuch wurden die kleinen Mädchen von den Frauen zurückgelassen und von den Bemba über mehrere Haushalte verteilt. Als Meli aus Unachtsamkeit eine Hütte in Flammen setzte und Verbrennungen erlitt, sorgte sich die Gastfamilie, daß ihr Tod Komplikationen nach sich ziehen würde, da sie einer Chief-Familie entstammte. Damit war sie für die Familien nicht integrierbar, so daß diese an ihr das Interesse verloren. Dementsprechend wurde sie an eine Gruppe Elefantenjäger verkauft. Solange sie in der Region war, konnte sie über Dorfleute Kontakt zur Familie ihres Vaters halten und war nicht total anonymisiert. Als sie hörte, daß ihr Vater gestorben war, änderte sie ihr Verhalten und versuchte, Anschluß an die Familie eines Elefantenjägers zu finden. Sie erhielt einen Swahili-Namen, und ihre Nase wurde nach Swahili-Art markiert. Aber sie wurde kränklich und damit eine "schlechte Investition", wie sie es bezeichnete, so daß sie an einen Nyamwesi-Händler gegen Elfenbein verkauft wurde. Da sie krank blieb und ihr neuer Herr vermeiden wollte, daß sie ihm unter den Händen starb, wurde sie, nun inzwischen fast wertlos, gegen etwas Tuch weiter verkauft. Erneut erhielt sie einen anderen Namen. Nun zog sie mit einer Karawane, die von Nyamwesi und Arabern gemeinsam geführt wurde. Diese geriet in Konflikt mit britischen Grenztruppen, die die illegale Sklavenkarawane angriffen. Die verwirrten Kinder wurden von Kolonialbeamten in Obhut genommen, jene Kinder, die sich ihrer Dörfer erinnerten, wurden an ihre Familien zurückgegeben, die Waisenkinder Missionaren überlassen. Auf der Missionsstation traf Meli, die inzwischen zehn war, Leute, die ihr bekannt vorkamen. Sie wurde nach ihrem Namen gefragt und von entfernten Verwandten erkannt, die ihre Geschwister holten und sie so identifizierten. Die Missionare machten Schwierigkeiten und verlangten Kompensationszahlungen in Vieh von der Delegation der drei männlichen Verwandten Melis. Dies wurde verweigert und Meli blieb auf der Station, allerdings mit dem Recht, die Verwandten zu sehen und als Erwachsene zu ihnen zurückzukehren. De facto praktizierte die Mission die landesübliche Praxis der Kompensation, nun natürlich im Interesse der christlichen Erziehung bzw. um überhaupt Missionszöglinge zu haben. Allerdings ließ die Familie einen Bruder auf der Station, um den Anspruch aufrecht zu erhalten. Da er sich aber auf die Agrarmethoden des Graslandes nicht umstellen konnte, in dem die Missions-Station lag, zog er sich zurück und Meli verlor die Rückendeckung ihrer lineage. Sie begann sich nun in die Missionsgesellschaft zu integrieren. An der Jahrhundertwende fand sie als Bräutigam einen Missionshandwerker. Die Mission arrangierte anstelle der Familie den Brautpreis
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und zog das junge Paar in das Ritual der christlichen Eheschließung, mit der Mission ssch wester in der Rolle als Mutter. Noch im Bericht über ihr Leben stellte Meli ihre Beziehung zu den weißen Patronen der Mission mit dem Vokabular der kinship-Beziehungtn dar. Da die Ehe ohne Zustimmung des lineage-Chiefs geschlossen worden war, wurde diese Rolle der Mission durch einen Onkel der mütterlichen Linie ihres Mannes angefochten, der vorübergehend Chief der lineage war. Die Situation wurde durch eine Wiederholung der Heiratszeremonie gerettet. Ddurch wurde sowohl der Status der Mission als auch Melis lineage und damit ihr Status gegenüber der Familie ihres Mannes abgesichert. Allerdings geriet ihr Mann als Missionshandwerker und Christ ins Zwielicht von Missionszugehörigkeit und seiner Zugehörigkeit zur lineage. In einer großen Geste vertiefte die Mission die Integration dieser künftigen christlichen Familie in die Missionsgemeinde, indem sie dem Mann den Brautpreis verzinst zurückzahlte und damit den Wohlstand der Familie begründete. Meli ließ sich 1910 taufen, sie zog mit ihrem Mann viel herum, der Viehhandel betrieb und im Kolonialdienst arbeitete. Als sie 1919 Witwe wurde, entstand der Konflikt zwischen der lineage ihres Mannes und der Mission erneut. Sie akzeptierte nach wie vor das Prinzip des afrikanischen Familienrechtes, daß sie im Erbfall die Frau eines anderen Familienmitgliedes wurde, aber sie verlangte dies in Monogamie. Sie setzte sich mit dieser Forderung durch. Der Erbe verstieß, angezogen von ihrem Wohlstand, seine erste Frau und übernahm Hof und Herde. Als er nach Melis Ansicht durch zu viele Verpflichtungen gegenüber seiner lineage das Vermögen verschleuderte, trennte sie sich von ihm, heiratete einen anderen Verwandten ihres Mannes, der sie aber über die Tatsache täuschte, daß er bereits eine Frau hatte. Sie nahm dies schließlich hin, führte ein relativ selbständiges Leben unter anderem als Hebamme, bis sie sich im Alter auf ihre nun eigentliche soziale Basis, die Missionsstation, zurückzog und als Sozialarbeiterin und respektierte Ältere ihr Leben beschloß, letzteres bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Das 19. Jahrhundert der großen Karawanen, der Machtkämpfe und des Sklavenhandels, aber auch der Hungersnöte durch Dürren und Krieg, auch den kolonialen Krieg der verbrannten Erde hat sicherlich unmittelbarere Lebensbedrohungen und brutalere Erniedrigungen zur Folge gehabt. Ungezählte Lebensläufe dürften ähnlich wie die der Frauen - in abgeschwächter Form - auch für Männer verlaufen sein. Viele Lebensstationen, eine enorme Mobilität und sehr entwürdigende Formen der Abhängigkeit haben ungeheure Anpassungsleistungen und Überlebensstrategien erfordert. Der Hintergrund dieser Erfahrungen wird zu beachten sein, wenn die Auswirkungen der Kolonialherrschaft auf die Lebens- und Sicherheitsperspektive vieler Menschen betrachtet werden. Auch Europäer waren Kriegsherren, Warlords, Eroberer. Sie setzten mit direkten und indirekten Mitteln Arbeits- und Zwangsarbeitsverhältnisse durch, insofern schufen sie mächtigere und in den Auswirkungen neue Varianten von Herrschaft und Abhängigkeit. Außerordentlich schwer zu
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beurteilen ist, wann diese Herrschaft systematischer, berechenbarer und insofern sicherer wurde. Sehr viele Experimente in der Agrarwirtschaft scheiterten oder waren ausbeuterisch. Die Interventionen in die politische Organisation der afrikanischen Gesellschaften, die die Legitimität der alten Gewalten zerstörte, müssen als Willkür gedeutet worden sein. Insbesondere die Zwangsarbeit oder unter Druck durchgesetzte Arbeitsleistungen wurden als Fortsetzung von Sklaverei verstanden und wirkten besonders erniedrigend, wenn sie Freie trafen. Aber der moderne koloniale Flächenstaat schuf eben mit Bürokratie und Urbanität sowie der militärischen Überlegenheit nach einer Übergangsperiode von ca. 30 Jahren auch berechenbarere Sicherheit. Die Landschaft veränderte sich. Die befestigten Dörfer verschwanden, die Straße wurde wieder Anziehungspunkt, auch wenn dort der Steuereintreiber näher war. In großen Konfliktfällen waren Stadt, Mission und entsprechende Arbeitsmöglichkeiten, aber auch der Beginn kapitalistischen Kleinhandels und ständiger Lohnarbeit Ausweichmöglichkeiten, die totale Abhängigkeiten wie die im 19. Jahrhundert in eher strukturelle Abhängigkeit ohne abrupte und totale Gefährdungen umwandelten. Auch hierbei gibt es Ausnahmen. Gebiete, die zu strukturellen Hungergebieten wurden, oder die systematische Entrechtung, wie sie etwa in Südafrika die landlosen Wanderarbeiter traf, boten materielle, soziale und psychische Gefährdungen, die den Gefahren des 19. Jahrhunderts bei aller Verschiedenheit in ihrer Unerträglichkeit nahe kamen. Individuelle Verschuldung, Absinken in die unterbäuerliche Schicht, städtisches Vagantentum, für Frauen die Gefährdungen durch städtische Prostitution setzten derartige Gefährdungen in urbanem kapitalistischem Umfeld fort. Unter dem Aspekt der Staatsbildungschancen im 19. Jahrhundert bleibt im Vordergrund die geringe Chance zur Konsolidierung, die unentwickelte agrarische Basis ebenso wie die destruktive Basis der Fernhandelssysteme. Staatsentwicklung hatte ihren Anknüpfungspunkt an dem enorm gesteigerten Existenzrisiko des einzelnen und der durch die Kette der Krisen und Kriege Vereinzelten. Bis sich nach Aufbrechen gesicherter Dorf- und Lebenszusammenhänge alternative Institutionen, gestützt auf die Schwächung der lineage-Systeme, konsolidieren konnten, war die koloniale Intervention vollzogen. Was blieb, war, wie es Papstein formuliert, die Vergrößerung der gesellschaftlichen Räume. Lineage-Identität erweiterte sich zur Ethnizität; die Identität aus Urbanität, städtischer Profession und neuer Religiosität kam hinzu. Da aber auch der koloniale Staat die zentrale Sicherheit nicht gewährleisten konnte oder den gesellschaftlichen Aufstieg nur Minderheiten ermöglichte, das gesamte System der sozialen Sicherheit letztlich beim lineage-System und daran angelehnten Freundschaftssystem verblieb, blieb auch der koloniale und nachkoloniale Staat, von unten betrachtet, weit mehr leere Hülse, als man annehmen möchte, wenn man die Bedingungen von Existenzsicherung in vor- und halbkapitalistischen agrarischen Gesellschaften aus der Sicht des modernen kapitalistischen Industriestaates verkennt.
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Julian Cobbing, The Mfecane as Alibi: Thoughts on Dithakong and Mbolompo. In: Journal of African History, 29 (1989), S. 487-519. Robert Papstein, From ethnic identity to tribalism: The upper Zambesi Region of Zambia, 1830-1981. In: Leroy Vail, The Creation of Tribalism in Southern Africa, London 1989, S. 372-394. Terence Ranger, Kolonialismus in Ost- und Zentralafrika. Von der traditionellen zur traditionalen Gesellschaft. In: Jan-Heeren Grevemeyer, Traditionale Gesellschaften und europäischer Kolonialismus, Frankfurt/M. 1981, S. 16-46; John Iliffe, A modern History of Tanganyika, Cambridge 1978, Kapitel 10: The creation of Tribes. Steven Feierman, The Shambaa. In: Andrew Roberts (Hg.), Tanzania before 1900, Nairobi 1968, S. 1-16; ders., The Shambaa Kingdom, Wisconsin 1974. Alan P. Merriam, An African World. The Basongye Village of Lupupa Ngye, Bloomington 1974. Marcia Wright, Women in Peril: A commentary on the life stories of captives in nineteenthcentury East-Central Africa. In: African Social Research, 20 (1975) 12, S. 800-819.
l o Widerstand in Südafrika: Befreiung unter Bedingungen von Repression und militärischer Gewalt, zur destruktiven Rolle westlicher Systemstabilisierung aus: Hans-Jürgen Häßler/Christian von Heusinger (Hg.): Kultur gegen Krieg - Wissenschaft für den Frieden, Würzburg 1989, S. 75-79. ® Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg
Die Kongreßleitung hat in ihrer Einladung der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß nur am Verhandlungstisch und mit vernünftigen Argumentationen eine Möglichkeit zur Konfliktlösung besteht. Die offizielle Doktrin der Westmächte im Umgang mit dem Konflikt in Südafrika scheint dem zu entsprechen, sie empfiehlt "friedlichen Wandel", "constructive engagement", verweigert die von den Befreiungsbewegungen, der Gewerkschaftsbewegung in Südafrika und von der UN-Generalversammlung geforderten umfassenden Sanktionen, mit dem Argument, daß sich unter dem Druck von Sanktionen die südafrikanische Regierung weiter verhärten und ein ökonomisches Chaos entstehen würde (so zuletzt der Bundeskanzler in Nairobi). Demgegenüber erwarten die Befreiungsbewegungen, die Gewerkschaften und die Mehrheit der Mitglieder der Vereinten Nationen, daß die notwendigen Schritte zur Einführung einer repräsentativen Mehrheitsherrschaft, der Abbau des umfassenden repressiven politischen Strafrechts, die Abschaffung der die Mehrheit diskriminierenden Gesetze und die Freilassung der politischen Gefangenen nur durch Sanktionen in Verbindung mit dem bewaffneten Befreiungskampf durchgesetzt und die südafrikanische Regierung an den Verhandlungstisch gezwungen werden kann, an dem über eine die Apartheid überwindende Verfassung verhandelt werden würde. Ich bin Anhänger der Sanktionsforderung und respektiere, obwohl ich mich als Mitglied der Friedensbewegung empfinde, die Bereitschaft der Befreiungsbewegungen, zu militärischen Mitteln der Befreiung zu greifen. Die schwarze südafrikanische Bevölkerungsmehrheit hat 50 Jahre vergeblich versucht, ihre soziale Lage zu verbessern und die Diskriminierung zu beenden, ohne das Lebensrecht der weißen Herren als normale und gleichberechtigte Staatsbürger in Frage zu stellen. Diese Versuche sowie jeder auch noch so friedliche Organisationsversuch der schwarzen Mehrheit ist nicht nur erst seit 1948, sondern seit jeher mit Gewalt beantwortet worden. Wie kommt jemand, der nur deshalb von dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung keinen Gebrauch machen mußte, weil er als weißer Jahrgang vom Kriegsdienst befreit wurde, zu einer solchen Forderung und Position, daß Sanktionen und auch bewaffneter Befreiungskampf im Laufe der Jahrzehnte die verbleibenden Möglichkeiten geblieben sind? Es gibt darauf, wie ich meine, zwei Antworten: Ein Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland kann die Befreiungsbewegungen nicht mit dem pazifistischen Gebot konfrontieren, wenn die bundesrepublikanische Gesellschaft und der Staat (selbst hochgerüstet und mit dem Selbstverständnis einer "wehrhaften" Demokratie) das Gewalt und Diktatur ausübende System mit allen Mitteln geschützt hat und schützt, aller Rhetorik zum Trotz - auch mit den Mitteln legaler und illegaler Aufrüstungshilfe, der (andauernden) Lieferung
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der Polizeiwaffen, der Elektronik, der Kampffahrzeuge und der Hubschrauber, militärisch relevanter Atomtechnologie, Blaupausen für Kriegsschiffe, nicht zu reden von massiver Finanzhilfe und einem engen ökonomischen und ideologischen Netzwerk zwischen dem weißen Südafrika und wichtigen Gruppen unserer Gesellschaft. Angesicht dieser Praxis erscheint mir die Duldung eines Widerstandsrechts als Teil der Selbstbestimmung unabweisbar zu sein, zumindest als Anerkennung des Versagens, unser politisches System zur Vernunft zu bringen. Die friedliche Alternative seit Jahrzehnten war, massiven politischen und ökonomischen Druck auszuüben und die südafrikanische Regierung durch Erschöpfung ihrer Ressourcen, Verhinderung ihrer durch uns ermöglichten relativen Autarkie in der Rüstung an der stetigen Eskalation der Repression zu hindern und verhandlungsbereit zu machen. Ohnehin handelt es sich z. Zt. eher um Maßnahmen zur Beendigung eines bereits ausgebrochenen und offensichtlich ungerechten Krieges der südafrikanischen Regierung gegen die Mehrheit ihres Volkes. Es gibt einen zweiten, sozusagen "realpolitischen" Grund, Druck und Gegengewalt zu steigern. Ich möchte hier als Historiker und Sozialwissenschaftler argumentieren. Man kann aufgrund von Analogien über das Schicksal von Systemen mit struktureller Reformunfähigkeit, in diesem Fall die politische Ausschaltung der übergroßen Bevölkerungsmehrheit aus der Mitbestimmung und eine zugespitzte soziale Klassenherrschaft, sagen, daß, wenn erst einmal der politische Mobilisierungsprozeß dieser Mehrheit in Gang gekommen ist und die sozialen Forderungen organisiert artikuliert werden, das Systemende unabwendbar ist. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, der Umstände und, darauf kommt es hier an, der Größenordnung von Gewalt und Zerstörung und der damit verbundenen Radikalisierung beider Seiten, wie das Ende aussieht; das Ende selbst steht nicht in Frage. Dieser Organisationsprozeß ist - historisch gesehen - seit 1912 mit der Gründung des ANC und 1919 mit Gründung der ersten Massengewerkschaft, dem ICU, zu erkennen und der herrschenden Minderheit, insbesondere dem burischen Nationalismus, auch als "S warte Gevaar" bewußt geworden. Seit 1960, nach den Schüssen von Sharpville und der Bannung aller relevanten schwarzen Organisationen im Land, wird von den meisten Beobachtern in der Welt das Ende der weißen Minderheitsherrschaft als unvermeidlich prognostiziert: von den "Optimisten" als kapitalistisch naturnotwendiger Prozeß der Systemreform, von den "Pessimisten" als ausgekämpfte Systemkrise. Spätestens seit 1976, dem Jahr der "black consciousness"-Proteste und des Massakers an den Schulkindern von Soweto, gehen auch die westeuropäischen Kabinette und das Weiße Haus von dem unabwendbaren Ende des Apartheidsystems aus. Sie analysieren außerdem, wie auch ich glaube, daß eine Lösung ohne Zustimmung der führenden Befreiungsbewegung - des ANC - nicht möglich sein wird. Diese Ansicht ist durch das Aufkommen der Gewerkschaftsbewegung seit 1978, auch diese im übrigen von den deutschen Konzernen nach Kräften behindert, bestärkt worden. Seit den Massenunruhen im Vaal Triangle und
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im ganzen Land seit 1984 und dem Aufkommen vielfältiger sozialer Bewegungen meist unter dem Dach der UDF, aber nach wie vor auch der "black consciousness"-Bewegung, im wachsenden Maße mit Forderungen in sozialistischer Sprache, haben die internationalen und sogar auch interne Bemühungen von Teilen der weißen Business-Community, weißen Politikern und Vertretern der Intelligenz und der Kirchen das Gespräch mit dem ANC gesucht, nun offensichtlich auch, weil dies die letzte Instanz zu sein scheint, die vor einer wirklichen sozialen Revolution bewahren könnte. Diesen aufgeklärten Lagebeurteilungen zum Trotz lassen es die Westmächte nach wie vor zu, daß die südafrikanische Regierung das Ende mit einer ungeahnten Steigerung von Gewalt im Innern und gegen die Nachbarstaaten, vor allem Angola und Mocambique, hinauszögert. Die südafrikanische Regierung hat an ihren Prinzipien der letzten Jahrzehnte festgehalten, daß jeder Versuch afrikanischer Selbstorganisation zerschlagen oder zumindest schwer gestört werden muß. Abgesehen davon, daß ANC und PAC immer noch verboten und die Führer im Gefängnis oder Exil sind, ist nach dem ersten und zweiten Ausnahmezustand praktisch der größte Teil der UDF-Führung verhaftet, oft gefoltert und zum Teil durch von der Polizei gedeckte Aktionen ermordet worden. Die noch nicht Verhafteten befinden sich meist im Untergrund. Das gilt auch für viele Gewerkschaftsführer, deren Gewerkschaftszentrale von Bomben der Regierung zerstört wurde. Der Sinn ist, die Bevölkerungsmehrheit führungslos zu machen, um Zeit zur Fortführung der Herrschaft zu gewinnen. Diese destruktive Politik wird durch eine Strategie der totalen Kontrolle ergänzt. Die Verfassungsreform in Südafrika hat eine Präsidialdiktatur geschaffen, deren stärkster Verwaltungsarm auch auf der kommunalen Ebene mit Militärs besetzte Komitees sind, die neben der offiziellen Verwaltung eine Doppelherrschaft zur Durchsetzung der "total strategy" darstellen. Ihr Ziel ist es, die Konfrontation mit System und Regierung in einen Bürgerkrieg innerhalb der afrikanischen Bevölkerung umzuwandeln. Gegen die Selbstverwaltungskomitees der Stadtteile und Kleinstädte, die die afrikanische Bevölkerung gegen die Bantuadministration seit 1984 geschaffen hatte, wurden sogenannte Vigilante-Gruppen, bewaffnete und von der Polizei geschützte Gruppierungen von Geschäftsleuten und kleinen Bodenspekulanten, kriminelle Banden, aber auch von der Unruhe und den Übergriffen der Jugendlichen verunsicherte ältere Anwohner und natürlich die Angehörigen der Bantu-Bürokratie und schwarze Angehörige der Polizei sowie ländliche und städtische Dauerarbeitslose eingesetzt. In Natal übernimmt die wie eine Einparteien-Staatspartei organisierte Inkatha des Homelandführers Buthelezi eine ähnliche Funktion: Zwangsmitgliedschaft, Zuweisung des Arbeitsplatzes durch die Organisation, Bewaffnung ihrer Mitglieder gewährleisten, daß Funktionäre der Gewerkschaften und der UDF in Natal verfolgt und ermordet werden. Und dies führte und führt zur Eskalation von wechselseitiger Verfolgung und Tötung. Der erst jüngst aus dem Gefängnis entlassene ANC-Führer Govan Mbeki wollte als
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erstes in den Natal fahren, um hier befriedend und einheitsstiftend einzugreifen, was ihm das Regime verweigerte. Verfolgung, Vietnamisierung und Lateinamerikanisierung des Konfliktes und die Frustrationen der Niederlagen fördern die Polarisierung auch innerhalb der sozialen Bewegung Südafrikas. Eine Verschärfung des totalitären staatlichen Systems und seine Politik der Destabilisierung der schwarzen Opposition im Lande, aber auch in den Nachbarstaaten schafft Vorbilder, zusätzliche Konflikte und eine politische Kultur, die dem Frieden auf das äußerste abträglich ist. Die Funktionärssprache von Stalinisten, schwarzen sozialistischen Rassisten, aber auch die faschistischchauvinistische Sprache der Inkatha ist unüberhörbar, die Besorgnis der führenden Schriftsteller und unabhängigen Demokraten auch innerhalb des ANC wächst. Der totalitäre Staat in Südafrika und seine Kriegs- und Destabilisierungsmethoden tragen leider Früchte, je länger die Zukunftsperspektive unerfüllt bleibt. Dies mit der Vokabel "friedlicher Wandel" zudecken zu wollen oder insgeheim die südafrikanische Regierung als Garanten für geordnete und friedliche Verhältnisse zu dulden und zu unterstützen ist mehr als zynisch, es begründet Mitschuld am Kriege und an der Steigerung der Friedensunfähigkeit. Diese Entwicklung war vorhersehbar und ist von der sogenannten "pessimistischen" Schule der mit Südafrika befaßten Historiker und Sozialwissenschaftler vorhergesagt worden, so wie es die führenden Stimmen in Südafrika angekündigt haben. Die Antwort auf die zweite Frage ist deshalb: Der Zeitfaktor wird von entscheidender friedensstiftender Bedeutung. Eile ist seit über einem Jahrzehnt das unbedingte Gebot der Stunde. Sanktionen sollen der Beschleunigung dienen. Das Chaos ist da, es muß beendet werden. Aufgeklärte weiße Liberale, wie führende Vertreter des Black Sash, weisen darauf hin, daß das totalitäre Instrumentarium, das das Apartheidsystem seit 1948, insbesondere aber seit 1983 geschaffen hat, noch vor dem Machtwechsel verschwinden muß, weil es sonst auch in der Postapartheid-Gesellschaft als Mittel der Machtbehauptung gegen enttäuschte Erwartungen eingesetzt werden könnte. Schwarze Führer in den Townships drücken ihre Sorge aus, daß Kinder und Jugendliche als eine verlorene Generation, durch Gefängnis, Folter und Straßenkämpfe gegangen und um ihre Bildungschancen gebracht, einer politischen Kultur oder besser Unkultur verfallen könnten, die nicht dem Frieden und der Demokratie dient. Sie brauchen jetzt Perspektiven und Organisation. Die sozialen Bewegungen haben dementsprechend die Jugendorganisationen ausgebaut. Warum haben die westlichen Systeme keine Eile? 1. Weil die kurzfristigen Wirtschaftsinteressen insbesondere in der Rohstoffversorgung Vorrang haben und die Produktionsbedingungen z.Zt. aufgrund der Lohnstruktur immer noch günstig sind. Zugleich wird angenommen, daß der Zugriff auf die Rohstoffe auch nach dem Machtwechsel trotz feindseligem Verhaltens der Kon-
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zeme aufgrund der starken Position des Westens auf dem Weltmarkt erhalten bleibt. 2. Vorrang vor einer schnellen Konfliktlösung hat, Einfluß auf die Konfliktlösung zu nehmen, also zu gewährleisten, daß entweder eine marktwirtschaftlich und westlich gezähmte Befreiungsbewegung an die Macht kommt, besser aber eine geschwächte, die dann durch genehmere Organisationen, wie z.B. Inkatha oder regierungsnahe Bürokratien, ersetzt werden kann. Traumziel ist, ausreichend Zeit zu gewinnen, um eine anpassungsbereite Mittelschicht für einen Herrschaftskompromiß in letzter Minute zu schaffen, die als Gegengewicht gegen die sozialen Forderungen der Gewerkschaften, der Arbeitslosen (um 40 Prozent) und der Landlosen eingesetzt werden kann. Da sich der nationale Befreiungskampf in Südafrika auch nach einem Urteil der katholischen Kirche sehr stark mit sozialistischen Umverteilungserwartungen verbunden hat, soll diese Entwicklung mit allen Mitteln, auch denen der Tolerierung und Unterstützung der Eskalation und Verlängerung des Krieges, verhindert werden. Die Prognose, die ich dagegen setzen muß, ist, daß Kriegsverlängerung langfristig Friedensfähigkeit auch nach dem unvermeidlichen Machtwechsel behindern wird und die Voraussetzungen für friedliche und demokratische Selbstbestimmung immer schwerer erreichbar sein werden. Leider habe ich das Vertrauen verloren, daß unser politisches und soziales System den so offenkundig notwendigen Druck auf die südafrikanische Regierung ausüben werde, weil Friedenssicherung immer dann zur Leerformel verkommt, wenn sich ökonomische und ideologische Interessen vermischen und anderen Völkern eine Gesellschaftsordnung aufgezwungen werden soll, mit der sie auch durch unser Mitwirken sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben. Die Entwicklungen in und um Südafrika seit Abfassung des Referates sollen mit wenigen Bemerkungen in die Analyse eingeordnet werden. Die Organisationen des afrikanischen Widerstandes sind durch den südafrikanischen Staat inzwischen noch massiver verfolgt worden. So wurden die Dachorganisation, die UDF, verboten, die Pressezensur bis hin zu Zeitungsverboten verschärft. Mittlerweile haben die verdeckten Operationen bislang verschonte Institutionen erreicht. So wurden das Hauptgebäude des Gewerkschaftsdachverbandes und des Südafrikanischen Kirchenrates gesprengt und unter dem Vorwand feuerpolizeilicher Maßnahmen die Akten beschlagnahmt, auch das Sekretariat der katholischen Bischofskonferenz war Opfer eines Brandanschlags. Dessenungeachtet hat der Politisierungsgrad der schwarzafrikanischen Bevölkerung zugenommen. Der Wahlboykott der Kommunalwahlen beschränkte die Wahlbeteiligung auf knapp 20 Prozent der registrierten Wähler, d.h. zwei Prozent der Bevölkerung im Wahlalter. Die Autorität des ANC stieg, was durch zunehmende Kontakte auch der weißen Opposition und einen auf die interne Diskussion bezogenen neuen Verfassungsentwurf zum Ausdruck kam. Allerdings haben sich die Konfliktlagen innerhalb des afrikanischen Widerstandes nicht gemildert, der Frieden im Bereich Pietermaritzburg ist nicht herge-
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stellt, der ANC hat Probleme, jugendliche Guerilla von Angriffen auf von Zivilisten besuchte Ziele abzuhalten. Die Reaktion des Westens ist nach wie vor ambivalent. Trotz verbaler Proteste hielt die Bereitschaft z.B. der Bundesregierung an, technologisch hochsensible Teile von Waffensystemen durch deutsche Firmen liefern zu lassen, obwohl in diesem Bereich jüngst Kritik bis in die Regierungskoalition reicht. Am auffälligsten war die diplomatische Entwicklung im Rahmen der Regulierung der Regionalkonflikte zwischen den beiden Supermächten, die Südafrika thematisieren. Südafrika konnte sich diesem Druck nicht entziehen. Insbesondere nachdem es im Krieg in Angola aufgrund der waffentechnischen Überlegenheit der sowjetischen Luftabwehrwaffen und der kubanischen Offensive die militärische Initiative verloren hatte, kamen Waffenstillstandsverhandlungen und die Wiederaufnahme der Unabhängigkeitsverhandlungen um Namibia in Gang. Dieser Prozeß ist nicht abgeschlossen und wird dadurch entschieden werden, ob die Westmächte die technologische Erneuerung der veralteten südafrikanischen Armee zulassen und die Finanzkrise durch weitere milde Bedingungen in den Umschuldungsverhandlungen minimieren oder als Verhandlungshebel nutzen.
Unerledigte deutsche Kolonialgeschichte aus: Entwicklungspolitische Korrespondenz (Hg.): Deutscher Kolonialismus. Ein Lesebuch zur Kolonialgeschichte. Zusammengestellt von Ekkehard Launer und Werner Ustorf. 2. erw. Aufl., Hamburg 1991, S. 11-18 (EPK-Drucksache Nr. 1)
Unerledigte deutsche Kolonialgeschichte: was kann das heute heißen? Als in den sechziger Jahren offizielle Entwicklungspolitik begann und damit auf die weltweiten Dekolonisationsprozesse und Kämpfe reagiert wurde, ging deutsche Politik von der Annahme aus, daß sie in diese neue Ära unbelastet hineingehen könne. Erleichtert ließ sich feststellen, daß das Deutsche Reich seine Kolonien bereits 1919 verloren hatte. Es mußte eigentlich ein besonders günstiger Ausgangspunkt für Beziehungen zu den neuen unabhängigen Mächten in der Dritten Welt - insbesondere in Afrika - vorhanden sein. Diese Annahme erwies sich unter vielerlei Aspekten als irrelevant. Einmal behaupteten die alten Kolonialmächte ihren informellen Einfluß über etablierte Außenhandelsbeziehungen, vor allem aber auch durch die kulturellen Verbindungen zur neuen Elite in Afrika, nicht selten sogar über direkte Militär- und Budgethilfe so stark, daß es eine Gleichung - "unbelastete" koloniale Vergangenheit schaffe gute Beziehungen - nicht gab. Wenn die Bundesrepublik in den sechziger Jahren eine wachsende Rolle in Afrika spielte, dann aus zwei Gründen: wegen der steigenden Wirtschaftskraft und wegen des afrikanischen Interesses, Gegengewichte gegen die Weltmächte zu schaffen, also Beziehungen zu Mächten mittlerer Bedeutung wie Kanada, Jugoslawien, Schweden und auch Bundesrepublik zu fördern. Dieser Bonus der Bundesrepublik, daß sie eine Macht sein könnte, die weniger Einfluß nehmen würde als die alten Kolonialmächte oder als die beiden Supermächte im Ost-West-Konflikt, wurde alsbald aus vier Gründen verspielt. - Über die Anwendung der Hallstein-Doktrin trug insbesondere die Bundesrepublik die Ostwest-Kontlikte auch nach Afrika. - Durch das enge Bündnis mit den USA und Frankreich geriet bei allem Bemühen um Neutralität die Bundesrepublik als Mitglied der NATO in das Kreuzfeuer der internationalen Kritik zunächst am Algerienkrieg, am Vietnamkrieg und dann an den portugiesischen Kolonialkriegen in Guinea-Bissau, Angola und Mocambique. - Durch den intensiven Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit Südafrika und dem damaligen Rhodesien und ihre starke Absicherung durch politische, militärische und kulturpolitische Zusammenarbeit und zugleich - mit Aufkommen der internationalen Kritik am Weltwirtschaftssystem geriet die zweitgrößte Außenhandelsnation ohnehin in das Zentrum der Kritik. Der mit diesen Entwicklungen verbundene Imperialismusvorwurf aus der Dritten Welt erreichte das vorherrschende politische Bewußtsein in der Bundesrepublik aus mehreren Gründen nicht. Die Verstärkung des Imperialismusvorwurfs durch die Wissenschaft und Propaganda der DDR und in den späten sechziger Jahren durch
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die oft neomarxistisch argumentierende studentische Protestbewegung hat die als kommunistisch plakatierte Kritik an den Einflußwegen deutscher Politik in der Dritten Welt mit interner Systemkritik an der Bundesrepublik selbst verschmolzen. Das Selbstverständnis der Bundesrepublik bis weit in die sozialliberale Koalition hinein, daß der Imperialismusvorwurf ungerecht sei und der deutsche Staat, nicht zuletzt durch die Friedenspolitik in Richtung Osten, sich grundsätzlich von den Hypotheken der Vergangenheit in der inneren wie der äußeren Politik gelöst habe, ließ jedes Denken in Kontinuitäten als feindselig erscheinen. Die Abwehrhaltung gegen jeglichen Imperialismusvorwurf, der eben Elemente der Kontinuität zur Gegenwart beinhaltete, klammerte die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - auch mit der kolonialen - aus. Dies schien insofern lange als unwesentlich, als sich die Beziehungen zu den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika tatsächlich ohne jegliche Verbindung zu dieser Vergangenheit gestalten ließen. Länder wie Togo und Kamerun lagen ohnehin nur am Rande des ökonomischen Interesses. Seit jeher waren Länder wie Nigeria oder Ghana ökonomisch für Deutschland in Westafrika von wesentlich größerer Bedeutung. Die Beziehungen zu Tanzania/Tanganyika entwickelten sich im Pro und Kontra zum entwicklungspolitischen Experiment der Regierung Nyerere. Als Mittelmacht nach der Unabhängigkeit sogar zu Militärhilfe eingeladen, verhinderte die Bundesrepublik einen Neubeginn durch ihr Insistieren auf der Hallstein-Doktrin. Die deutsche Entwicklungs- und Militärhilfe wurde demonstrativ 1967 durch Tanzania abgebrochen, bis unter der entwickungspolitischen Offensive von Eppler ein Neuanfang gelang. Die Kolonialzeit war kein Thema. Es gab allerdings eine bedeutsame Ausnahme: Namibia. Mit dem Konflikt um das südliche Afrika generell ging das Interesse an Aufrechterhaltung und Ausbau der ökonomisch-strategischen Interessen im gesamten Bereich von Angola bis Zimbabwe einher mit starken Sentiments hinsichtlich der Verteidigung der Präsenz der weißen Siedlerbevölkerung. Sowohl mit Blick auf Namibia und seine heute ca. 30 000 deutschsprachigen Siedler und die ca. 120 000 deutschsprachigen Siedler in der Republik Südafrika belebte sich das Bewußtsein von Kontinuität zur Kolonialzeit. Es ist deshalb kein Wunder, daß aus beiden Elementen - dem Unwillen gegen jede Form der Auseinandersetzung mit einem imperialistischen Erbe und der akuten spontanen Parteinahme mit den weißen Minderheiten im südlichen Afrika, insbesondere in Namibia - eine apologetische, verklärende Beschäftigung mit der Kolonialzeit durch die Medien hervorgeht. Dies geschah - sofern es um Betrachtung der Deutschen in Südafrika geht - in direkter Verbindung mit der Kolonialzeit. Aber auch dieses Argument läßt sich nicht überdehnen; in dem Umfang, in dem sich der afrikanische Widerstand in Südafrika zur Systemkrise ausbreitete und die Unabhängigkeit Namibias unabweisbar wurde, stellte sich ein außenpolitischer Realitätssinn ein, zumal Wirtschaftsinteressen nicht zu Schaden kamen. Bei der Vorbereitung auf die Unabhängigkeit Namibias (März 1990) war die unerledigte deutsche Kolonialgeschichte präsent. Sowohl die politische Führung in Namibia als
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auch die Weltmeinung erwarten einen besonderen deutschen Beitrag, der auch versprochen wurde, aber sich unter dem Druck der deutschen Einheit reduzieren wird. Die Verdrängung unserer gewalttätigen Traditionen Viel einflußreicher aber schlägt sich unerledigte Kolonialgeschichte im öffentlichen Bild Afrikas nieder. Seit der Niederlage Portugals in Angola und Mocambique noch stärker wohl unter dem Eindruck der Unruhen in Soweto im Sommer 1976 ist die Vorstellung vom bevorstehenden Ende der weißen Minderheitsherrschhaft im südlichen Afrika weit verbreitet. Koloniales defensives Denken zugunsten der Verteidigung der weißen Positionen verdrängt deshalb Vergangenheit und Realität der weißen Herrschaft im südlichen Afrika und orientiert sich an einem Horrorbild von der Zukunft eines afrikanisch regierten südlichen Afrika. Hierzu tragen der Terrorismusvorwurf gegen die Befreiungsbewegungen und der Vorwurf der Regierungsunfahigkeit afrikanischer Regierungen bei - illustriert am Terrorregime Amins in Uganda, am Bürgerkrieg in Angola oder an den Auseinandersetzungen in Kongo/Zaire im Jahre 1961 oder auch schlichtweg an der Tatsache, daß Militärregime in Afrika verbreitet sind. In dieser Art Denken gibt es einen konsequent angewandten doppelten Maßstab: Während lateinamerikanische Militärdiktaturen ebenso als Ordnungsfaktoren gelten wie etwa das Regime in Südkorea, sind parallele Entwicklungen in Afrika Ausdruck der afrikanischen Minderwertigkeit. Dies hat zwei Gründe: Systeme, die sich dem westlichen Interesse an intensivem Güteraustausch zu westlichen Bedingungen anschließen, erfahren die grundsätzliche Sympathie, die systemkonformem Verhalten zuteil wird; dies sei hier nicht erörtert. Ebenso wichtig ist aber in dieser Politik des doppelten Maßstabs, daß diese starke Identifizierung mit als systemkonform betrachtetem Verhalten den unerschütterlichen Glauben bestärkt, daß die eigene Gesellschaft und ihre Vorläufer nicht systematisch versagen oder, ethisch gesprochen, böse sein können. Die deutsche Kolonialgeschichte ist deshalb auch unerledigt, weil sie die Erinnerung daran wecken kann, daß die industrielle Gesellschaft in Deutschland an der imperialistischen Gewalt Europas über die außereuropäische Welt mitbeteiligt war und in dieser Gesellschaft gewalttätige Traditionen vorhanden sind, die sich nicht auf den "Dämon" Hitler reduzieren lassen, sondern die sich in sozusagen "normalen" Zeiten, im Grunde in der "guten alten Zeit" vollzogen. Deutsche Kolonialgeschichte gehört in den Zusammenhang des Kaiserreiches. Während die offenkundige Gewalttätigkeit des Hitlerreiches als eine Sonderentwicklung betrachtet werden konnte, die angeblich nichts oder nur wenig mit der sonstigen deutschen Geschichte zu tun hatte, wurde als äußerst alarmierend in der deutschen Publizistik empfunden, daß die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg dem Kaiserreich zugeschrieben wurde, wie dies für den Zweiten Weltkrieg dem Hitlersystem galt. Als der Erste Weltkrieg aus dem Expansionismus des Kaiserreiches abgeleitet wurde,
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wie dies wichtige Teile der deutschen Geschichtswissenschaft aufgrund des Quellenstudiums der Regierungsakten herausgearbeitet haben, und dieses ungeliebte Ergebnis alsbald wieder vergessen wurde, geriet auch die gleichzeitig aufgearbeitete Kolonialgeschichte des deutschen Kaiserreiches in ähnlich bequeme Vergessenheit. In der Abwehr gegen den Schuldvorwurf der alliierten Siegermächte von 1919 sowohl am Ausbruch des Weltkrieges als auch am Vorwurf besonderer Mißwirtschaft in den deutschen Kolonien hatte sich ohnehin eine Tradition nationalistischer Abwehr von selbstkritischer Analyse der Geschichte des Kaiserreiches eingestellt und daran angepaßte Geschichtslegenden auch in der Wissenschaft gewoben. In der Tat kann Beschäftigung mit der deutschen Kolonialgeschichte und ihren Voraussetzungen im Kaiserreich in besonderer Weise an Schwachpunkte deutscher politischer Kultur rühren, an die besondere Schwierigkeit, auf Krisenlagen rational und demokratisch und nicht hysterisch und autoritär zu reagieren. Die deutsche Kolonialpolitik ist aus einer Krisenlage heraus entwickelt worden - aus der Angst, daß die deutsche Industrialisierung ab 1874 durch die Verwicklung in die Große Depression 1874-1896 in eine Sackgasse geraten könnte, in der das ökonomische System und mit ihm die Gesellschaftsstruktur gefährdet werden könnten. Eines der Aushilfsmittel - übrigens ökonomisch gesehen ein unnützes - war, Export- und Rohstoffsicherung durch die Kolonialpolitik zu betreiben und zumindest für die weitere Zukunft Reserveräume zu schaffen. Daß die deutsche Kolonialpolitik unter anderem aus Gründen der internationalen Rivalitäten nicht soweit kam und kein großafrikanisches Kolonialreich entstand, verändert nicht die Gesamttendenz, ein mittelafrikanisches Reich von Ostafrika einschließlich Ugandas bis zu den portugiesischen Kolonien und Katanga, bei günstiger Konstellation mit einem befreundeten burischen Südafrika, zu schaffen. Gerade der Widerspruch zwischen dem erträumten und angestrebten "Platz an der Sonne" und den Realitäten eines von der internationalen Konstellation blockierten großen Kolonialreiches hat dann auch in Zeiten der Hochkonjunktur und des außenwirtschaftlichen Wachstums seit der Jahrhundertwende den Kolonien im öffentlichen Bewußtsein und insbesondere in der Propaganda der Parteien, Verbände und Ministerien, die sich mit der internationalen Konstellation Deutschlands nicht abfinden wollten, eine über jede ökonomische Bedeutung hinausgehende propagandistische Rolle verschafft. Diese Propaganda des Expansionismus und der Kolonialpolitik, die die internationale Krise um die Krügerdepesche während des britischen Angriffs auf Johannesburg 1896, die erste Marokkokrise 1905, den Reichstagswahlkampf - die sogenannten "Hottentottenwahlen" - 1906, die Daily Telegraph Affäre um die Rechte des Kaisers 1908 und die zweite Marokkokrise 1911, also die Mehrzahl der Vorkriegskrisen, beeinflußte, erhielt auch dadurch ihr besonderes Gewicht, weil sich so die großen Bündnisse zwischen Großlandwirtschaft und Schwerindustrie, überhaupt die Sammlung der konservativen und nationalliberalen Kräfte gegen eine Demokratisierung des Kaiserreiches als Ergebnis der Industrialisierung besser zusammenschmieden ließen.
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Kolonialpolitik, auch als Hilfsinstrument für die Flottenpolitik und als Anlaß für Forderungen an die übrigen europäischen Großmächte, trug zur Einigungsformel im Kaiserreich bei, sollte Krisen- und Zukunftsängste mildern helfen und die Mittelschichten der Städte - nach Möglichkeit auch die Arbeiterschaft - mit den Zuständen des Kaiserreiches versöhnen. Die koloniale Praxis selbst ist aus Krisenlagen während der gesamten 30jährigen Herrschaft in den afrikanischen Kolonien nicht hinausgekommen. Sie teilte das Schicksal europäischer Kolonialpolitik generell, daß trotz allen Überlegenheitsbewußtseins der Kolonialherren und der tatsächlichen militärisch-ökonomischen Dominanz Kolonialpolitik nicht ohne jahrzehntelange gewaltsame Eroberung gegen die afrikanischen alten Führungsschichten möglich war. Die Erfahrung der Widerstandsfähigkeit afrikanischer Völker hatte eine rücksichtslose koloniale Gewalt hervorgerufen, die nun, bei Kolonialeroberungen an der Wende des 20. Jahrhunderts, sich vor aller Öffentlichkeit vollzog. Die großen Kolonialkriege, nur zehn bis zwölf Jahre nachdem die militärische Eroberung abgeschlossen schien - insbesondere der Herero- und Nama-Krieg 1904-1907 und der Maji-Maji-Aufstand in Ostafrika, deren Gesamtkosten höher waren als das Flottenprogramm - , haben in der Siedlerwirtschaft und beim Militär einen Sicherheitskomplex geschaffen, der rücksichtsloseste Methoden des Einsatzes von Gegenterror, der Verweigerung auch nur der Grundlagen von Selbstbestimmung und Lebensmöglichkeiten immer wieder erzeugt hat. Es gehört zu den verschütteten Traditionen im öffentlichen Bewußtsein heute, daß diese Katastrophen der Kolonialpolitik von der Mehrheit der Zeitgenossen durchaus als solche verstanden wurden und eine Tradition von Reformbereitschaft und Kritik der Kolonialpolitik ausgelöst hatten, die von der Sozialdemokratie stets grundsätzlich geführt wurde, vom linken Flügel des katholischen Zentrums sich auf Reformbestrebungen der Missionsgesellschaften stützte und bei linksliberalen Parlamentariern unter den Aspekten der ökonomischen Rationalität, in Grenzen auch im Interesse allgemeiner Rechtsnormen, aufgenommen wurde. Diese Reformtradition, so zeitgebunden und unzureichend sie gewesen war und so wenig wirklichen Einfluß auf den Kolonialalltag sie auch meist hatte, ist in den Jahren 19051909 zeitweilig von den Parteien getragen worden, die später die große Weimarer Koalition bildeten. Ihr Exponent war der junge Erzberger - und es ist kein historischer Zufall, daß die Hetzkampagne gegen Erzberger nach 1919, die seine Ermordung vorbereitete, zunächst von seinen alten Gegnern in der Kolonialpolitik ausging und so der Unterzeichner des Waffenstillstands und Urheber der Kolonialkritik als der "Schuldige" an "Kriegsschuldlüge" und "Kolonialschuldlüge" der Alliierten und zugleich als Exponent des demokratischen Systems Weimar vernichtet wurde. So wurde eine Tradition politischer Selbstkritik und demokratischer Weiterentwicklung zugunsten der Verdeckung der Züge der Gewaltätigkeit in der deutschen Gesellschaft, zugunsten der "nationalen" Verharmlosung von Gewalt und der Bereitschaft, Menschen, die dem eigenen Herrschaftswillen im Wege standen, rück-
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sichtslos auszuschalten, auch im Bereich der Kolonialpolitik verschüttet. Noch 1965 erhielt ein Journalist, der die Koloniallegende im Fernsehen angriff, Morddrohungen; wer im Ausland auf Parallelen zwischen dem Völkermord an den Hereros und den Juden und Polen hinwies, bekam es mit Zensurabsichten des Auswärtigen Amtes zu tun. Auch in gesellschaftlichen Bereichen, die der Reformtradition zuzurechnen waren, etwa dem für die Kolonien so wichtigen Missionswesen, hat sich die Entscheidung zum Aufarbeiten der kolonialen Vergangenheit schwer und spät angelassen. Ähnlich wie das Stuttgarter Schuldbekenntnis für das Ausmaß an Duldung der Greuel des Hitlerreiches keine aktive kirchliche Tradition nach 1945 begründet hat, hat der lange Weg der Missionskirche vom Helfer bei der Errichtung des Kolonialreiches über das Selbstverständnis eines milderen patriarchalischen Herren über die "eingeborenen" Gemeindemitglieder zur zögernden und späten Anerkenntnis der unabhängigen afrikanischen Kirchen praktisch wenig und späten Einfluß auf die großen Kirchen gehabt. Einer der wichtigsten Gründe hierfür war sicher, daß sich Kolonialherrschaft auch durch die Missionskirchen selbst vollzogen hatte. Die Annehmlichkeit der hierarchischen weißen Kontrolle über die Gemeinden und die Hinnahme der kolonialen Gewaltverhältnisse im Interesse eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche schwächte jede Bereitschaft zum Bruch mit der kolonialen Realität und damit mit dem Staat entscheidend ab. Weil der afrikanische Unabhängigkeitswille sich zunächst in der Kirchenfrage vorbereitete, solange politische Organisation und politisches Bewußtsein noch wenig entwickelt waren, haben die Missionskirchen und durch sie vermittelt die Kirchen selbst über ein Jahrzehnt eher mit der Aufarbeitung dieses kolonialen Erbes begonnen als die politische Öffentlichkeit unter dem Eindruck der Unabhängigkeit. Durch die Präsenz der Mission über die 1918 beendete Kolonialzeit hinaus war sie ohnehin mit den realen Verhältnissen enger verbunden als der Staat, der ja noch sowohl in der Weimarer Republik als unter Hitler an der Rückgewinnung der afrikanischen Kolonien arbeitete und dafür die Legende weiter wob. Insgesamt gilt aber für sämtliche gesellschaftlichen Gruppierungen, sofern nicht die sozialdemokratischen oder sozialistischen Traditionen des Antikolonialismus fortlebten, daß das Bild von der Tradition der Gewalttätigkeit verschüttet blieb, das sich mühsam genug hinsichtlich Osteuropas politisch aufarbeiten ließ. Dies muß auch im Verhältnis zur Dritten Welt geleistet werden. Die von der Veränderung der Bewußtseinslagen und den Machtverhältnissen in der Dritten Welt unmittelbar betroffenen Erben der Kolonialzeit, so auch die weißen und deutschsprachigen Minderheiten im südlichen Afrika, sind von der Verschüttung der Tradition der Kritik am Gewaltverhältnis besonders betroffen. Die koloniale Situation hat einen Sicherheitskomplex geschaffen, der einmal Blindheit gegenüber der eigenen Gewalttätigkeit produziert, zum anderen Selbstgerechtigkeit schafft, die eine sowohl
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humane als auch politische Einstellung auf die afrikanische Gegenreaktion erschwert und Realitätsverlust schafft. Es wäre aber ein Fehler anzunehmen, daß diese Verknüpfung von Selbstgerechtigkeit und Sicherheitskomplex nur ein Problem der unmittelbar im kolonialen Gewaltverhältnis Stehenden ist. Ein Sicherheitskomplex und die damit verbundene Selbstgerechtigkeit entstehen auch aus den Risiken, die der Nord-Süd-Konflikt schafft. Da er in den Zusammenhang der Weltgeschichte der europäischen Expansion und des damit begründeten Gewaltverhältnisses gehört, ist die Einsicht in die Geschichte dieses Konflikts und damit auch die Einsicht in die unerledigte Kolonialgeschichte ein Mittel, um die Anwendung eines doppelten Maßstabes in der Beurteilung der gesellschaftlichen Realitäten der Welt aufzugeben. Nur so läßt sich auch die große Lücke schließen, die zwischen den Sachzwängen internationaler Politik in Richtung auf die Dritte Welt und dem öffentlichen Bewußtsein klafft. Sicherheitskomplex und Selbstgerechtigkeit schaffen jene gefährlichen Solidaritäten, die Konflikte eher verschärfen und verlängern. Kritische Aufdeckung der eigenen Vergangenheit, in diesem Fall des kolonialen Gewaltverhältnisses, vermag Interessenausgleich frei von Angst und Selbstgerechtigkeit zu erleichtern.
Afrika seit der Dekolonisierung: Waren die Großmächte ein Faktor der Destabilisierung? aus: Klaus J. Bade/Dieter Brötel (Hg.): Europa und die Dritte Welt. Kolonialismus, Gegenwartsprobleme, Zukunftsperspektiven, Hannover (Metzler-Schulbuchverlag) 1992, S. 138-163
Das Thema knüpft an eine allgemeine Wahrnehmung an: Afrika als Krisenkontinent. Tatsächlich ist in der Gegenwart eine Marginalisierung der afrikanischen Staaten in der Weltwirtschaft zu beobachten, ein Abkoppeln des Kontinents von den Haupttrends der Weltentwicklung. Und so finden sich die meisten "least developed countries" in Afrika. Sicherlich bestehen Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen Krisenlagen und politischer Destabilisierung oder gar Bürgerkriegen. Dies gilt insbesondere für die Verteilungskämpfe zwischen den Regionen in Afrika und die Konflikte über die Kontrolle der Ressourcen der Zentralmacht. Sehr viel schwieriger ist es, diesen Zusammenhang auf den Dekolonisationsprozeß selbst zu beziehen. Bei genauem Hinsehen ist es sehr fraglich, ob diejenigen Dekolonisationsprozesse, die gewaltsam ausgetragen wurden, durch ein allgemeines Krisenszenario der ökonomischen Marginalisierung Afrikas erklärt werden können. Sind die Konflikte im südlichen Afrika, maßgeblich geprägt von den Interessen der regierenden Minderheit in Südafrika, wirklich "Armuts-Konflikte", auch wenn sie unendlich viel Armut wie in Mocambique und Angola produzierten? Ist der Konflikt zwischen der Zentralregierung Äthiopiens und den politischen Bewegungen in Eritrea, Tigre und Oromo auf die besondere Armutsentwicklung zurückzuführen? Die Hungersnöte der siebziger Jahre mögen darauf hindeuten. Aber zumindest Eritrea gehörte zu Beginn des Krieges vor 30 Jahren nicht zu den ärmsten Gebieten, sondern hatte eine überdurchschnittliche Infrastruktur. Noch weniger wird man den Bürgerkrieg in Nigeria 1967-70 auf diese Marginalisierung Afrikas zurückführen, war doch Nigeria damals an der Schwelle zum Ölland.
Die verzerrte Wahrnehmung: Afrika als Krisenkontinent Das Bild vom Krisenkontinent Afrika ist offensichtlich älter als die aktuelle ökonomische Marginalisierung des Kontinents in den letzten zwanzig Jahren. Hängt dies doch mit unserem Urteil über die Dekolonisierung Afrikas zusammen? Wenn ja, wäre auch dies etwas unverständlich. Denn der Dekolonisationsprozeß ist in der Hauptsache sehr friedlich verlaufen. Die übergroße Mehrzahl der afrikanischen Staaten hat zwischen 1957 und 1965 friedlich die Unabhängigkeit erlangt. Dieser Prozeß war von günstigen Weltmarktbedingungen für die Rohstoffe Afrikas begleitet und hat sowohl für das frankophone als auch für das anglophone Afrika optimistische Prognosen der damaligen Fachleute der Weltwirtschaft erhalten.
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Der blutige Algerienkrieg, von 500 000 französischen Soldaten gegen die algerische Befreiungsbewegung FLN geführt und von brutalen Terror- und Foltermaßnahmen begleitet, hat den Dekolonisationsprozeß im übrigen Afrika nicht geprägt, eher den friedlichen Übergang gefördert. Auch der gescheiterte MaumauAufstand in Kenya hat die britische Bereitschaft, den friedlichen Übergang in die Unabhängigkeit zu suchen, gefördert. So wurde z.B. auf die von Gandhis Methoden geprägten Demonstrationen für die Unabhängigkeit in Ghana sehr flexibel reagiert. Die wirklichen gewaltsamen Dekolonisationskriege fanden im südlichen Afrika statt, weil Portugal, gestützt auf die finanzielle und militärtechnische Förderung durch die NATO, sich dem Dekolonisationsprozeß entzog und weil die Siedlergesellschaften im damaligen Südrhodesien, heute Zimbabwe, in Namibia und in Südafrika dem vom englischen Premierminister Wilson beschworenen "Wind of Change" nicht nachgeben wollten. Diese Verweigerung der Dekolonisation durch die weißen Siedlergesellschaften hat, so meine langjährige Beobachtung der Krisen-Diskussion um Afrika, zum Bild des Krisenkontinents nicht beigetragen. Selbst der Charakter militarisierter und gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung terroristischer Regime in diesen Ländern oder der Umstand, daß zunächst die südrhodesische Regierung, dann auch Südafrika Nachbarländer wie Angola militärisch destabilisierten oder direkt angriffen, hat wenig zur Krisenwahrnehmung beigetragen. Die westliche Aufforderung, Frieden zu bewahren, galt stets den Befreiungsbewegungen, obwohl diese wie der ANC zwischen 1912 und 1961 Frieden trotz wachsender Repression gewahrt hatten. Die Konfliktbereitschaft der weißen Siedlergesellschaften wurde unter dem beschönigenden Begriff, sie sollten zu "friedlichem Wandel" bereit sein, verharmlost. Krisenwahrnehmung in Afrika steht also offensichtlich unter ungewöhnlichen Gesetzen. Sollte es damit zusammenhängen, daß von industrialisierten, europäischen Gesellschaften ausgelöste oder unterstützte große Konflikte wie der Frankreichs gegen Algerien, Portugals gegen seine Kolonien und Südafrikas gegen seine Nachbarn und seine Bevölkerungsmehrheit lange Zeit in unserer Öffentlichkeit und Politik nicht als bedrohlich krisenhaft und chaotisch erscheinen? Diese Frage ist aus zweierlei Gründen wichtig. Sollte es sich um eine durch Interessen und Ideologie bedingte Wahrnehmung auf unserer Seite handeln, so könnte unsere Krisenanalyse für Afrika selbst falsch oder einseitig sein. Und: Unterschätzen wir den Anteil der industrialisierten Welt an der Krise Afrikas, weil wir in der Gegenüberstellung von Chaos und Ordnung stets die Neigung haben, den höheren Organisationsgrad der Industriegesellschaften per se als ordentlich, nicht krisenhaft zu begreifen, und dementsprechend auch unsere Interventionsmöglichkeiten stets als geordnete Interessenwahrnehmung deuten? Man kann das an zwei Wahrnehmungen verdeutlichen. Wie würde man ein Land in Afrika bezeichnen, das zweimal in einem Jahrhundert große Kriege verursacht
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hat, eine Revolution erlebt, eine Hyperinflation, die Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise und eine erbarmungslose Diktatur, deren Mordmaschine außer den Kriegsopfern Millionen Zivilisten in Europa zum Opfer fielen, und zwar meist solche anderer ethnischer Zugehörigkeit als die, die sich als Staatsvolk definierten? Bei aller Selbstkritik am deutschen Sonderweg - als Chaos erscheint dies den meisten offensichtlich nicht. Verglichen mit dieser Vergangenheit ist die übergroße Mehrzahl der afrikanischen Gesellschaften als höchst geordnet zu betrachten. Ein anderes Beispiel: Das Jahrhundert der Chinesischen Revolution seit den TaiPing-Kriegen 1850-1864 mit 20-40 Millionen Opfern, dem chinesischen Bürgerkrieg 1934-1949 vor und während des Zweiten Weltkrieges und den nachrevolutionären Krisen in China, einschließlich der Kulturrevolution - Ereignisse, die mehrere Millionen Opfer kosteten - hat zweifellos nicht dazu geführt, China als ChaosLand zu interpretieren. Die staatliche Geschlossenheit, die Verteidigung seiner Souveränität als Weltmacht und das hohe Ansehen seiner Kultur verhinderten solche Klischees vom Krisengebiet. Man könnte die Krisenzeiten in Indochina, die Dauerkrise des Nahen Ostens und die Krisenlagen in wichtigen mittel- und lateinamerikanischen Ländern hinzufügen. Diesen realen Krisenlagen entspricht keine solche Krisenwahrnehmung, wie sie in bezug auf Afrika bestimmend ist. Die Gründe lassen sich vielleicht am ehesten erfassen, wenn man sich den Ereignissen zuwendet, die für die Krisenwahrnehmung von hohem Symbolwert waren, obwohl es sich um atypische Einzelfälle des Dekolonisationsprozesses und der postkolonialen Zeit handelte. Die Kongo-Krise Am nachhaltigsten hat zweifellos die Kongokrise 1959/60 das Bild von der Krisenhaftigkeit des Dekolonisationsprozesses geprägt. Sämtliche Elemente, die für die moderne Krisenwahrnehmung wesentlich wurden - mit Ausnahme des Massenhungers - , spielten mit hinein: die Instabilität der neuen Koalitionsregierung, der Zerfall des politischen Systems nach ethnischen Gegensätzen, die scheinbare Bedrohung weißer Siedler in der Shaba-Provinz, die Verselbständigung des Militärs und sein Verfall durch Disziplinlosigkeit, der das weiße Söldnertum als Ordnungsmacht in Katanga propagandistisch entgegengesetzt wurde. Hinzu kam die Zuordnung der kongolesischen Gruppierungen zu den ideologischen Blöcken des Westens und Ostens. Dabei beruhte die Wahrnehmung der so berüchtigten Kongokrise auf Halbwahrheiten. Jedes der Krisenphänomene wurde durch die Intemationalisierung der Krise im Ost-West Konflikt verschärft. Es war nicht die kongolesische Elite, die eine überstürzte Dekolonisation wollte, sondern die belgische Kolonialmacht legte es auf einen abrupten Zusammenbruch des Kolonialsystems an. Die kongolesischen
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Führer wollten fünf Jahre Zeit für die Vorbereitung des Überganges, nachdem in Brüssel der Entschluß zur Dekolonisation gefallen war. In dieser Phase des plötzlichen Systemzusammenbruchs brachen dann die Konflikte zwischen den Sprechern der großen Volksgruppen in Zaire aus. Es ging letztlich darum, wer vorherrschen würde und wieviel Autonomie die Regionen bekommen sollten. Diese Konflikte wurden von den Großmächten nach Kriterien des Ost-West-Gegensatzes gedeutet und gefördert. Die alte Kolonialmacht Belgien und die USA nahmen an, daß der Sprecher des großen Volkes der Bakongo, Kasavubu, die Fortsetzung der belgischen Hegemonie garantieren und soziale Experimente insbesondere hinsichtlich des europäischen Eigentums vermeiden würde. Die Westmächte unterstellten, daß Lumumba als Repräsentant eines radikalen inter-ethnischen Nationalismus sich an den Ostblock anlehnen würde, zumindest aber die Afrikanisierung von Schlüsselpositionen in Verwaltung und Militär durchsetzen würde - ein neuer Nkrumah oder Nasser in Zentralafrika. Im Kampf um seine politische Existenz nahm Lumumba dann tatsächlich sowjetische Waffenhilfe an. Die Krise spitzte sich wenige Tage nach der Unabhängigkeit zunächst durch die Meuterei der kongolesischen Polizeitruppen, dann durch den Sezessionsversuch der von den Siedlern und Bergbaukonzernen geprägten Shaba-Provinz, damals Katanga, zu. Belgische Bergbau-Interessen und Befürchtungen ethnischer Minderheiten wirkten zusammen. Der Zentralstaat, gestützt auf UN-Truppen, Söldner und die zairische Armee, konnte diese Sezession niederkämpfen. Aber die Massenflucht weißer Siedler, Disziplinlosigkeiten des Militärs und die hilflose Rolle der UN zwischen den Fronten der Supermächte und damit das Scheitern einer direkten Machtausübung durch UN-Generalsekretär Hammerskjöld, der aus ungeklärten Ursachen mit dem Flugzeug abstürzte, vervollkommneten das Bild eines ungeheuren politischen Desasters, ebenso wie die spektakuläre Ermordung des populären Lumumba. Am Ende setzte sich gegen rebellierende Regionen der Zentralstaat unter der Militärdiktatur von Mobutu durch, der gestützt auf westliche Duldung eines der korruptesten Regime des Kontinents schuf. Obwohl die Internationalisierung der Krise unübersehbar war, überwog doch die Wahrnehmung der internen Konflikte.
Idi Amin in Uganda Die Kongokrise als Symbol des krisenhaften Dekolonisationsprozesses wurde abgelöst und die Krisenwahrnehmung verstärkt durch die Schreckensherrschaft von Generalstabschef Amin in Uganda. Seine Herrschaft, der 190 000 Menschen zum Opfer fielen, wurde zum Negativ-Symbol für das nachkoloniale Afrika in der öffentlichen Meinung Europas, als seit 1963 in einer Welle von Militärputschen in 27 afrikanischen Staaten das Dekolonisationsmodell der Kolonialmächte zusammenbrach. Die Tatsache von Militärputschen selbst trug zur Krisenwahrnehmung nicht
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wesentlich bei, denn es spielte das Modell von der Erziehungsdiktatur des Militärs als Modernisierungsagentur in der öffentlichen Wahrnehmung eine Rolle. Allerdings wurde auch in dieser Hinsicht mit doppeltem Maß gemessen; Militärdiktaturen in Lateinamerika, Südostasien und im Nahen Osten oder gar in Griechenland und der iberischen Halbinsel wurden anders bewertet als in Afrika. Amins Herrschaft wurde zum Symbol, weil er in einem Aufstand des halbalphabetisierten Deklassö im Zusammenspiel mit den Medien europäische Grundwerte provokativ durch Clownerien angriff, so durch die Diffamierung der Queen von Großbritannien, dann durch die brutale Verfolgung von Intelligenz und Klerus und den Griff nach dem Eigentum der Inder und ihre Vertreibung aus Uganda. Das nachfolgende Regime Obote, das unter dem Schutz Tanzanias etabliert wurde, hat wesentlich mehr Menschen getötet - etwa 300 000 - als Amin und hatte ihn bereits 1966 zum gewaltsamen Sturz der Baganda-Monarchie benutzt, ohne daß dies besondere Beachtung gefunden hätte.
Das neue Krisenbild und der internationale Trend zur politischen Konditionierung Erst mit der Hungerkrise in Äthiopien 1974, die zur Revolution gegen Kaiser Haile Selassie und sein feudales Regime führte, und der parallel verlaufenden Hungerkrise im westafrikanischen Sahel verallgemeinerte sich das Bild vom Krisenkontinent und verband sich mit dem Phänomen der ökonomischen Marginalisierung. Dies verschärfte sich mit der seit der Öl- und Weltwirtschaftskrise verstärkten westlichen Selbstkritik an den Leistungen der Entwicklungspolitik, die eine Vierte Welt wahrnahm, deren "least developed countries" überwiegend in Afrika lagen. Mit dieser verschärften Wahrnehmung der Krisenphänomene in Afrika verlagerten sich auch die intellektuellen Erklärungsansätze. Seit der Weltrezession 1966/67, die die Welle der Militärputsche in Afrika mit auslöste, wurden die Ursachen der Unterentwicklung im Weltwirtschaftssystem und im Erbe des Kolonialismus gesehen. Die Intellektuellen der Dritten Welt setzten diese Argumente auch im diplomatischen Kampf um eine neue Weltwirtschaftsordnung ein, um ein Gegengewicht zum Eigeninteresse der OECD-Staaten zu schaffen. Auf diese Kritik reagierten die Institutionen des Weltwährungssystems und die Vertreter einer neoliberalen Modernisierungsstrategie, indem sie die Staatskrisen in der Dritten Welt, und damit auch in Afrika, zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machten. Damit wurde die Kritik an den afrikanischen Eliten zu dem am deutlichsten artikulierten Erklärungsansatz. Die Forderungen nach interner Strukturanpassung von Staatsapparat und sozialen Dienstleistungen wurden zur Zauberformel der achtziger Jahre, verstärkt durch die politische Kritik an den Eliten im Rahmen der Demokratisierungs-Diskussion, die die ökonomische durch eine politische Konditionalität bei der Vergabe von Entwicklungshilfe ergänzte. Die sich
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häufende Notwendigkeit, Katastrophenhilfe durch internationale Institutionen und Nichtregierungsorganisationen in Kriegs- und Hungergebiete zu senden, hat die Tendenz verstärkt, auch die Krise Afrikas nur als Versagen seiner Eliten zu definieren und den internationalen Kontext völlig aus den Augen zu verlieren. Die Großmächte und das postkoloniale Afrika Es scheint deshalb sinnvoll, am Beispiel der Rolle der Großmächte nach der Dekolonisation die Verflechtung von internen afrikanischen Faktoren und den externen Faktoren wieder stärker zu betonen. Dies soll anhand einiger Beispiele Ghana, Tanzania, Nigeria und das südliche Afrika - erläutert werden. Dabei ist, um Mißverständnissen vorzubeugen, auch die Kritik an den Eliten Afrikas notwendig und der Wunsch nach Demokratisierung und damit Erweiterung der Partizipation der afrikanischen Bevölkerung zu unterstützen. Die Chance, die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und wegen der Erschöpfung der Staaten nach jahrzehntelangen Konflikten insbesondere im südlichen Afrika und am Horn von Afrika bereit zu liegen scheint, ist zu nutzen. Auch die notwendige Forderung nach Demokratisierung enthält die Tendenz, mit doppeltem Maß zu messen und die strukturellen Zusammenhänge zwischen ökonomischer Dependenz und unvollendeter Unabhängigkeit, interner Destabilisierung und internationalem Verhalten zu unterschätzen. Deshalb sollen den Fallanalysen, die diesem Zusammenhang von interner Krise und internationalem System nachgehen wollen, einige allgemeine Bemerkungen über die Schwierigkeiten nachholender Entwicklung im 20. Jahrhundert vorangestellt werden, die verstärkt für Afrika gelten. Es ist insbesondere das kurze historische Gedächtnis Europas hinsichtlich seines eigenen Industrialisierungs- und Demokratisierungsprozesses, das immer wieder zu überraschter und verzerrter Krisenwahrnehmung im postkolonialen Afrika führt. Sowohl die Erwartungen der in Europa ausgebildeten Eliten Afrikas, die die Dekolonisation durchsetzten, als auch die Erwartungen der europäischen und amerikanischen Theoretiker der Modernisierung zum Zeitpunkt der Dekolonisation und der ersten Dekade der Unabhängigkeit erwiesen sich hinsichtlich zentraler Annahmen als falsch. Das zentrale Versprechen war, daß nachholende Entwicklung mit dem Ziel der Industrialisierung möglich sei, wenn genügend Kapital transferiert und die Infrastruktur ausgebaut, eine Bildungsexpansion durchgesetzt und der Standortvorteil für spezialisierte Exportproduktion genutzt würde. Dann ließe sich ein Entwicklungsautomatismus einleiten. Tatsächlich ist aber Afrika in den vier Jahrzehnten weniger Kapital zugeflossen, als über den Verfall der Rohstoffpreise, die Zinszahlungen für Kredite, die Inflation der Importpreise und wegen der Kapitalflucht der afrikanischen Eliten abfloß. In Afrika sind die Wachstumsraten in den letzten Jahrzehnten eher negativ, die Bevölkerung ist aber in welthistorisch einmaliger Größenordnung gestiegen.
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Nachholende Industrialisierung ist im 20. Jahrhundert auch unter günstigeren Bedingungen extrem schwierig. Sie setzt nach allem, was über Industrialisierungsprozesse bekannt ist, eine radikale Landreform und einen großen Qualitätssprung in der landwirtschaftlichen Produktion voraus. Beides war in den südostasiatischen Wachstumsländern der Fall, aus inneren wie äußeren Gründen in Afrika aber bislang nicht möglich. Der Primat der Industrialisierung im Bereich der Importsubstitution und der Vorrang der städtischen Bevölkerung in der Versorgung mit Infrastruktur und Nahrung ließ trotz aller Rhetorik agrarzentrierte Entwicklung nicht zu, zumal die Exportorientierung der Länder trotz schwindender Konkurrenzfähigkeit z.B. mit der amerikanischen und europäischen geschützten Landwirtschaft in die Sackgasse führte. Eine weitere Randbedingung für nachholende Entwicklung ist ein starker Staat, der entwicklungsfördernde Institutionen schaffen kann, klare soziale und ökonomische Rahmenbedingungen garantiert und auch im internationalen System durch Zollpolitik, Konditionierung von Konzessionen etc. Spielräume für Entwicklung eröffnet. Insofern hatte die Forderung von Senghaas nach "autozentrierter" Entwicklung ihre Berechtigung. Es ist offenkundig, daß dies in einer Zeit wirtschaftlicher Giganten auf dem Weltmarkt, der ständigen Steigerung der Produktivität auch in der Landwirtschaft der Industriestaaten und auf der Basis chronischer Devisenknappheit und Verschuldung ans Unmögliche grenzt. Hierzu gehört auch die interne Dimension. Das europäische Entwicklungsmodell setzt den homogenen Nationalstaat oder zumindest eine stabile Allianz von Bevölkerungsgruppen wie etwa in der Schweiz voraus. Diesen starken Staat mit homogener Bevölkerung gibt es in Afrika nicht, und es kann ihn nach einer kurzen Periode wie der des postkolonialen Nationsbildungsprozesses auch nicht geben. Die Homogenisierung der Gesellschaften in Europa zu modernen Agrar- und später Industriestaaten ist ungeheuer langwierig und krisenhaft verlaufen. Parallel zu ihr verliefen die Zerschlagung von autonomen Gesellschaften sowie große Enteignungsprozesse auf dem Lande. Die Nationwerdung in Frankreich war vom hundertjährigen Krieg im 14. Jahrhundert ebenso begleitet wie von der Durchsetzung des allgemeinen Staatsbürgerrechts in der Französischen Revolution. In Deutschland zwang die Krise des Dreißigjährigen Krieges, als der Krieg den Krieg ernährte und ganze Landschaften sowie die reiche Städtewelt verwüstete, die Flucht in den starken Territorialstaat. Soziale Disziplinierung und Reglementierung der freien arbeitenden Schichten durch den absoluten Staat, seine Armee und Polizeiverfassung oder den Druck der Fabrikherren und Verleger der Manufakturen erzwangen nach krisenhaften Zusammenbrüchen und Widerstand schließlich wohlfahrtsstaatliche Elemente, die die Basis für die Akzeptanz des starken Staates und des modernen Produktionsapparates wurden. Die im 19. und im frühen 20. Jahrhundert nachholenden Nationen wie Deutschland, Japan und Rußland haben dennoch im Zuge ihrer Industrialisierung extreme interne und externe Krisen verursacht, Revolutionen, Bürgerkriege und militärische
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Expansionen, die etwas von der Brisanz nachholender Entwicklungsprozesse ahnen lassen. Gemessen am europäischen Vorbild hat der afrikanische Kontinent ein vergleichbares Konfliktpotential nicht erreicht. Im übrigen ist auch in Afrika das Vordringen des modernen Staatsmodells mit seinem Homogenisierungsdruck unverkennbar. Darüber darf die starke Bedeutung von Ethnizität nicht täuschen. Das wird in der Debatte um die Demokratisierung in Afrika deutlich, die zwar auf interethnischen Ausgleich z.B. mittels föderaler Konzepte zielt, die aber mit Mehrparteiensystemen, allgemeiner Rechtssicherheit und weiteren Garantien liberaler Marktwirtschaft, einschließlich sozialer Sicherheitssysteme, mindestens in den Städten auf das Ziel möglichst einheitlicher Lebensverhältnisse in einem Staat orientiert sind oder aber Gefahr laufen, in neue zentralistische Militärdiktaturen im Namen der Nation zu münden oder Sezessionen zu erleiden. Die Demokratisierungsbewegung ist der Versuch insbesondere der von den etablierten Eliten an den Rand gedrängten nachwachsenden mittelständischen Schichten, überhaupt das moderne Staatsmodell mit Leben zu erfüllen, weil dem künstlichen kolonialen und nachkolonialen Staat keine leidlich homogene Bevölkerung entspricht, nicht zuletzt deshalb, weil der postkoloniale Staat keine der Staatsaufgaben wirklich erfüllt hat. Er konnte weder ausreichenden Schutz gegen das Weltwirtschaftssystem gewähren noch die Bedingungen im Innern für die Entfaltung größerer Produktivität und nicht zuletzt die Daseinsvorsorge für große Teile der Bevölkerung garantieren. Die regionalen ländlichen und die informellen städtischen Versorgungsnetze werden in der Regel neben oder gegen den Staat organisiert. Sie höhlen den modernen Staat aus. Statt einer Strategie des Nachholens werden Strategien des Überlebens dominierend. Viele Entwicklungsruinen des Industrialisierungsversuches stehen am Rande dieses Rückzuges. Selbstsucht und Überlebensstrategien der überforderten Eliten sind deren eigene unproduktive Antwort. Die mangelnde Integrationskraft des Staates, mangelnde öffentliche soziale Versorgung und mangelnde Durchsetzungskraft gegenüber den Weltfirmen und -Organisationen, die die Weltwirtschaft steuern, fördern den Rückzug in die Lokalpolitik, in die ethnische Defensive und in die ländliche und städtische Selbsthilfe. Die Menschen müssen sich vom Staat und dem Nationalstaatsgedanken abwenden, um zu überleben. Der Staat löst sich in Patronats- und Klientenbeziehungen auf. Sie nutzten den Staat als Fassade und bedienen sich der Ethnizität, weil die nationale Identität fehlt. Zugleich gibt es wegen des Weltmarktes und des internationalen Staatensystems keine Alternative zur Aufrechterhaltung des Staates: eines Staates ohne Nation und mit geringer sozialer Entwicklungsperspektive. Man muß sich die Größe des Dilemmas vor Augen halten, wenn im folgenden einige Krisen postkolonialer Staaten und Regionen betrachtet werden. Wenn auch dabei die Innenperspektive der Staaten im Vordergrund steht, soll doch herausgearbeitet werden, wie relevant die Interventionen der Großmächte sind, um in kritischen Phasen destabilisierend oder stabilisierend zu wirken.
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Erste Anzeichen der postkolonialen Krisen in Afrika bildeten die gewaltsamen Regierungswechsel im ersten Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit. Zwischen 1963 und 1980 fanden in 27 Staaten Militärputsche statt. Von den verbliebenen 19 Staaten gingen 14 zu Einparteiensystemen über. Beide Entwicklungen müssen als Krisensymptome gedeutet werden. Die erste Welle fand zwischen 1966 und 1972 statt. Aus ihr sollen Ghana, Tanzania und Nigeria als Fallbeispiele skizziert werden. Diese Staaten hatten als die Musterfälle des Dekolonisationsprozesses im anglophonen Afrika gegolten. Die postkolonialen Krisen begannen nahezu gleichzeitig 1966/67 und damit sieben bis zehn Jahre nach der Unabhängigkeit. In Ghana führten die Krise des Systems Nkrumah und die Krise des Weltkakaomarktes zum Militärputsch, in Nigeria zum Sezessionsversuch Biafras und Bürgerkrieg. In Tanzania führte die Enttäuschung über die mangelnde internationale Unterstützung zu einem wirtschafts- und sozialpolitischen Systemwechsel im Rahmen des Einparteiensystems und eines als sozialistisch gedeuteten Reformweges. Ghana und Tanzania gemeinsam war die Enttäuschung der führenden Exponenten des Systems darüber, daß man mit den Entwicklungshoffnungen nach wenigen Jahren ans Ende der Illusionen angekommen war. Die Weltmarktpreise der wesentlichen Rohstoffe waren in der Krise 1966/67 verfallen, der Rohstoffboom, der seit Ende des Zweiten Weltkrieges die Entwicklung geprägt hatte, lief aus. Überdies konkurrierten neue Anbieter aus der Dritten Welt um Marktanteile. Die Auslandsinvestitionen waren nicht in der erhofften Größenordnung gekommen und hatten trotz mancher Großprojekte außerdem nicht die angestrebte Entwicklungswirkung. Insbesondere die allgemeine Erwartung, daß sich in kurzer Zeit gar Industrialisierungsprozesse einleiten lassen würden, hatte getrogen. Die Zuspitzung in der Depression 1966/67 legte die Strukturschwächen offen. Dennoch waren aus internen Gründen und wegen der unterschiedlichen Bewertung der Krisenlagen durch die westlichen Großmächte Krisenverlauf und Destabilisierungsgrad für die beiden Länder sehr unterschiedlich.
Ghana: Repression und Destabilisierung durch den Weltmarkt Nkrumah hatte eine Politik rigider Gleichschaltung der regionalen und feudalen Opposition gegen seine Politik begonnen. Der Sicherheitsapparat und die Nutzung der Jugendorganisation als Terrorinstrument hatten das Einparteiensystem zu einem absoluten Herrschaftsapparat verfestigt. Da die Gleichschaltungspolitik auch die Institutionen der Exportagrarwirtschaft traf, also die bäuerlichen Genossenschaften und insbesondere die Vermarktungsorganisationen für Kakao, erfaßte die Systemkrise auch die ländliche Welt. Nkrumah setzte damit durchaus eine kolonialpolitische Praxis fort. Zur Abwehr von Preisschwankungen waren schon kurz vor dem Zweiten Weltkrieg Kakao-
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Vermarktungsgesellschaften geschaffen worden, die den Bauern einen stetigen Produzentenpreis gewährleisten sollten. Überschüsse wurden bei Londoner Banken deponiert, offiziell mit der Absicht, in Depressionszeiten einen Ausgleichsfonds für die Bauern zu schaffen. Aber bereits die Kolonialregierung hatte in den Zeiten extremer britischer Devisennot diesen Fonds für den Ausgleich der britischen Zahlungsbilanz genutzt und damit eine Tradition begründet, dieses bäuerliche Vermögen für allgemeine Staatszwecke zu nutzen. Nach der Unabhängigkeit wurden diese Mittel dem allgemeinen Entwicklungsfonds zur Verfügung gestellt. Aus den Vermarktungsgesellschaften für die Bauern wurden faktisch Steuerbehörden. Der Staat transferierte die Kakao-Einnahmen für aufwendige Entwicklungsprojekte und für die Bedürfnisse von Stadt und Bürokratie. Als in der Krise der KakaoWeltmarktpreise die Ausgleichszahlungen ausblieben, war die Loyalität der Bauern dahin und ihre Reorientierung an alten Autoritäten mit ethnischer Dimension vorgeprägt. Nkrumahs Krisenstrategie trug zu dem Desaster bei und förderte die Bereitschaft der Kakao-Weltfirmen und westlichen Regierungen, ein unliebsames System zu destabilisieren. Durch seine panafrikanische und sozialistische Rhetorik hatte er im Ost-West Konflikt quasi Partei genommen, ohne daß die östliche Wirtschaftshilfe die Defizite des Weltmarktes ausgleichen konnte oder eine schlüssigere Entwicklungspolitik betrieb. Westliche wie östliche Berater Nkrumahs sowie die in England und den USA selbst ausgebildete ghanaische Elite hatten die Entwicklungsmöglichkeiten eines Landes, gestützt auf Kakao-Konjunktur und Bauxitvorkommen, illusionär überschätzt. In der Beurteilung seiner Marktmacht als wichtigster Kakaoanbieter wurde er überdies Opfer seiner Erfahrungen in der Kolonialzeit. Dreimal hatten sich die ghanaischen bäuerlichen Produzenten im 20. Jahrhundert gegen die MonopolTendenzen der großen Kakao-Verarbeiter in England und Amerika, die einen Aufkaufpool organisiert hatten, mit Boykotten gewehrt, indem sie ihre Kakao-Ernte zurückhielten - am wirkungsvollsten 1937/38 im großen "Cocoa Hold-Up". Nkrumah wandte diese Waffe gegen die sinkenden Weltmarktpreise 1966 erneut an, weil er davon ausging, daß im Unterschied zu den Boykotten in der Kolonialzeit, die keine Unterstützung beim kolonialen Staat fanden, ein Boykott, organisiert vom unabhängigen Ghana, verstärkt Wirkung haben müßte. Dies erwies sich als Irrtum. Moderne Methoden disponibler Lagerhaltung bei den internationalen Großfirmen machten sie gegenüber dem Boykott weniger verwundbar. Die internationalen Kakao-Lager waren voll, neue Anbieter wie die Elfenbeinküste sicherten sich ihren Marktanteil. Wenn es auch schwer nachweisbar ist, waren genügend zeitgenössische Stimmen aus Kakaowirtschaft und Afrikapolitik vernehmbar, diese Gelegenheit, ein ungeliebtes Regime zu schwächen, nicht vorübergehen zu lassen. Der Verfall der Staatseinnahmen und damit auch der Beschäftigungsmöglichkeiten in der Stadt, die Beschränkung der Importmöglichkeiten und schließlich die Enttäu-
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schung der Bauern über den Mißbrauch ihrer Ausgleichsfonds beschleunigten das Ende des immer repressiver werdenden Regimes. Auch Nkrumahs Nachfolger konnten die sich damit vertiefende Staats- und Systemkrise nicht beenden. Ghana hatte ein tiefes Tal zu durchschreiten, in dem sich eine Entstaatlichung der Gesellschaft vollzog und vorübergehend sogar von einer Rückwanderung der städtischen Bevölkerung auf das Land gesprochen wurde. Zivile und militärische Regime mit mehr oder minder repressivem Charakter lösten sich ab.
Tanzania: Ujamaa, Antwort auf Desillusionierung Die Regierung Nyerere, bereits seit 1959 und damit zwei Jahre vor der Unabhängigkeit im Amt, unterschied sich vom Regime Nkrumahs in zweifacher Hinsicht. Obwohl de facto seit 1962, de jure 1965 Einparteiensystem, gelang es der TANU in einem Land ohne dominierende Ethnie und mit einem Präsidenten, der aus einem kleinen Minderheitsvolk stammte, einen relativ repressionsfreien Kurs zu steuern, bei dem auch innerhalb der TANU die Gruppen- und Regionalinteressen in einem für Außenseiter schwer nachvollziehbaren Prozeß immer wieder ausgeglichen wurden. Über das Instrument der Parteivorstände der Provinzen kamen auch die ländlichen Interessen zu Worte. Trotz der tiefgreifenden Umstrukturierungsmaßnahmen, über die im folgenden zu berichten ist, blieben Tanzania schwere innere Konflikte erspart. Sie führten jedenfalls trotz tiefster Wirtschaftskrise nicht zum Militärputsch, sondern schließlich sogar 1985 zum konstitutionellen Machtwechsel durch den freiwilligen Rücktritt Nyereres. Die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik der ersten Fünfjahrespläne waren auf vorsichtige Fortsetzung der kolonialen Wirtschaftspolitik angelegt. Die Anlehnung an den Westen war eindeutig, bis hin zur Annahme von Militärhilfe durch die Bundesrepublik Deutschland. Es bestand lediglich eine Distanz zu den USA als Supermacht, mit der eine entsprechende Distanz zur UdSSR einherging. Die Hoffnung ruhte auf der Unterstützung durch Mächte mittlerer Größe. Auch Nyerere wurde desillusioniert, als sich der Aufwärtstrend für die Exporte der in Tanzania produzierten Rohstoffe nicht fortsetzte, die bäuerliche Produktivität stagnierte und die Auslandsinvestitionen nicht im erhofften Maße gewonnen werden konnten. In der entstehenden Devisennot fiel um so drastischer auf, daß man wirtschaftspolitisch nicht Herr im eigenen Hause war, weil Banken und Außenhandelswirtschaft nach wie vor überwiegend in britischer Hand waren, ebenso die großen Plantagen insbesondere für Sisal, Kaffee und Tee. Überdies öffnete sich die Schere zwischen den Preisen für Importwaren und Rohstoffe. 1967 bereitete sich der Kurswechsel der tanzanischen Agrar- und Außenhandelspolitik vor. Beschleunigt wurde dieser Prozeß, als das wichtigste entwicklungspolitische Geberland, die Bundesrepublik Deutschland, im Zuge seiner Politik,
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die internationale Anerkennung der DDR zu verhindern, Entwicklungshilfe mit den politischen Bedingungen der sogenannten "Hallstein-Doktrin" verband (Hallstein war Staatssekretär unter Adenauer und dessen wichtigster außenpolitischer Berater). Tanzania, das sich der Blockfreiheit verschrieben hatte, weigerte sich, in den OstWest-Konflikt hineingezogen zu werden. Die Regierung Nyerere versuchte diesen Kurs durchzuhalten, ohne in Konfrontation mit den westlichen Geberländern zu kommen. Die Inflexibilität der deutschen Politik machte das unmöglich. Nyerere hatte auf die Revolution auf Zanzibar zu reagieren. Als Folge war eine große Anlehnung des neuen Regimes auf Zanzibar an den Ostblock entstanden, u.a. mit einer diplomatischen Mission der DDR. Nyerere, politisch mit dem neuen Regime der Afro-Shirazi Partei aus der Zeit vor der Unabhängigkeit verbunden, setzte die Union Tanganyikas mit Zanzibar durch, das nun Tanzania hieß, um im Interesse seiner blockfreien unabhängigen Außenpolitik keine Großmachtpräsenz der UdSSR oder Chinas vor seiner Haustür zuzulassen. Unvermeidlich wurde im Vollzug der Union, die Zanzibar viele autonome Rechte ließ, daß die DDR-Mission nach Dar es Salaam transferiert wurde. Nyerere kam dem bundesdeutschen Druck sogar soweit entgegen, daß er der Zurückstufung der Botschaft zu einem Generalkonsulat zustimmte. Im Zuge dieser Verhandlungen, in denen die Bundesrepublik kein Verständnis für die objektive Lage der Regierung Nyerere zeigte, drohte Bonn mit der Einstellung der Entwicklungshilfe. Diese Intervention wurde für Nyerere zum Prinzipienfall. Er verzichtete auf die Hilfe, empfand aber, vorbereitet durch die Desillusionierung während der Weltwirtschaftskrise, daß eine Neuorientierung der tanzanischen Wirtschaftspolitik die Abhängigkeit von internationaler Hilfe verringern mußte. Der Slogan der "Seif Reliance", der Selbsthilfe, wurde geboren. Mit der "Arusha-Declaration" wurde 1967 die Konsequenz aus diesen Entwicklungen gezogen. Die Kontrolle der Außenwirtschaft und der Banken sowie einer Reihe von Großplantagen wurde durch den Staat und seine "Parastatals" übernommen, Devisen- und Import-Regulierungen wurden durchgesetzt, mit der Hoffnung, entwicklungsorientierte Entscheidungen besser durchsetzen zu können und den Transfer der Gewinne nach Übersee zu kontrollieren. Eine Revolution im Agrarbereich sollte dreierlei erreichen - die Produktivität zu steigern, die Sozialverhältnisse auf dem Lande zu verbessern und die Bildung großen Grundbesitzes zu verhindern. Die Politik der sogenannten "Ujamaa"Dörfer, die schließlich mit millionenfachen Zwangsumsiedlungen seit 1972 forciert wurde, brach mit dem Konzept der privaten Nutzung des Bodens und hoffte auf Produktivitätssteigerung durch gemeinsame Investitionen in Zentraldörfer, die Geräte, Schulen und Gesundheitsversorgung optimal nutzen sollten, wobei Gemeinschaftsfelder dominierten. Opfer wurde die bäuerliche Genossenschaftsbewegung, in der sich insbesondere die für den Export produzierenden Bauern organisiert hatten. Bei diesem insbesondere durch die Umsiedlungspolitik radikalisierten Konzept wagte sich aber die Regierung Nyerere nicht an die Regionen heran, die
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die Deviseneinnahmen durch ihren Anbau garantierten, so daß die Gebiete mit den besten Böden und der entwickeltsten Agrarproduktion ausgeklammert blieben, aber vom Regime vernachlässigt wurden, insbesondere weil die staatliche Regie der Vermarktung und des Transportes der Ernten sowie der regelmäßigen Zahlung schlecht funktionierte. Im Laufe der nächsten zehn Jahre geriet das Ujamaa-System in eine tiefe Krise, von der Weltwirtschaftskrise nach 1974 beschleunigt und durch die Lasten des Krieges gegen Amin überfordert. Aber auch wenn diese Politik trotz unleugbarer sozialpolitischer Erfolge scheiterte - weder wurde die Agrarproduktion gesteigert, noch wurde die Seif Reliance erreicht, da Tanzania einer der größten Empfänger für Entwicklungshilfe wurde - führte die Krise des lange allseits bewunderten Entwicklungsweges nicht zur Destabilisierung des Systems. Das hing mit drei Faktoren zusammen. Auch für die Geberländer in West und Ost schien der Kurswechsel der Regierung Nyerere eine sinnvolle Antwort auf die sich anbahnende Krise der Entwicklungspolitik zu sein. Nyereres Politik der Kooperation mit Mächten mittlerer Größe, so mit den skandinavischen Ländern, mit Kanada und schließlich wieder der Bundesrepublik, sowie seine starke Position in der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) sicherte ihm den Handlungsspielraum. Den Großmächten war die viertgrößte Militärmacht Afrikas mit stabiler innenpolitischer Ordnung ein regionaler Sicherheitsfaktor, der wichtiger schien als systembedingte Abwehr eines sozialistischen Experiments. Die Krise in Uganda, der sich ausweitende Guerillakrieg in Mocambique sowie die Revolution in Äthiopien ließen es geraten sein, Tanzania nicht zu destabilisieren. Nyereres Innenpolitik, die nach der Krise der Ujamaa-Politik ständig Kurskorrekturen vornahm und sich schließlich sogar dem Votum des Weltwährungsfonds zu Strukturanpassungsmaßnahmen beugte, hat hierfür sicherlich wichtige Voraussetzungen geschaffen. Sein innenpolitisches Frühwarnsystem war fein genug tariert, um Ansätze zu Militärputschen weit im Vorfeld abzuwehren. Sein Entschluß, 1985 freiwillig vom Amt des Präsidenten zurückzutreten, um seinem Volk das Beispiel eines friedlichen Machtwechsels zu demonstrieren, ergänzt dieses Bild. Der Unterschied zum Schicksal der Regierung Nkrumah in Ghana liegt auf der Hand. Nkrumahs Sturz ist von den Westmächten gefördert worden. Die internationalen Kakao-Verarbeiter und die Weltwährungsinstitutionen haben die Krisenlage in Ghana mit zugespitzt. Sie konnten dabei die starken inneren Spannungen in Ghana ausnutzen, die Nkrumah auch durch sein extrem repressives System gesteigert hatte. Sein Überspielen so starker historischer Machtgruppen wie des alten Königreiches Ashanti war ebenso ein Ansatz zur Destabilisierung des Systems wie die Vernachlässigung der Kakao-Bauern und die Gleichschaltung der einst so mächtigen Gewerkschaften und der Mißbrauch der staatlichen Jugendorganisationen als Terrorinstrument.
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Nigeria: Bürgerkrieg ohne internationale Destabilisierung Nigeria geriet nur wenige Jahre nach der Unabhängigkeit in eine extreme Verfassungskrise, die zur Sezession der Südostregion führte. Im Biafrakrieg 1967-1970 setzte die nigerianische Bundesregierung das Ende der Sezession militärisch durch. Die Frage nach der Verflechtung interner Systemkrisen und externer Intervention und Destabilisierung stellt sich im Fall der nigerianischen Krise in einer weiteren Variante. Die Struktur der nigerianischen Verfassungskrise wurde maßgeblich durch die Methoden der britischen Dekolonisationspolitik vorgeprägt. Der Krieg selbst wurde insbesondere durch die französische Unterstützung für Biafra, die Anerkennung Biafras auch durch vier afrikanische Staaten, nicht zuletzt aber durch den Umfang der humanitären Hilfe für die bedrängte Zivilbevölkerung verlängert. Entscheidend wurde aber, daß sowohl die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien als auch die Sowjetunion sich entschieden, die territoriale Integrität des bevölkerungsreichsten afrikanischen Staates und damit die Bundesregierung in Lagos zu unterstützen (ca. 20 Prozent der Bevölkerung Afrikas lebt in Nigeria). Damit wurde ein Stellvertreterkrieg im Ost-West-Konflikt vermieden. Die Systemkrise in Nigeria ging nicht auf eine Krise der postkolonialen ökonomischen Entwicklung zurück. Das Land stand vielmehr an der Schwelle zum Ölförderland wobei die meisten Ölfelder im Gebiet des künftigen Biafra lagen. Es ging von vornherein um die Ressourcenverteilung zwischen den Regionen sowie darum, wer die Kontrolle über Finanzen und Gesetzgebung in der Bundesregierung in Lagos bekam. Dieser Verteilungskonflikt erhielt wichtige soziale und ethnische Komponenten, die von der britischen Dekolonisationsstrategie in den Jahren vor der Unabhängigkeit seit 1951 entscheidend geprägt wurden. Nigeria war ein sehr heterogenes Land. Die Kolonialherrschaft hatte diese Heterogenität verschärft und gefördert. Der überwiegend islamisch geprägte Norden, Ergebnis einer islamischen Reform und Reichsbildung am Anfang des 19. Jahrhunderts, war nach der britischen militärischen Eroberung nur indirekt verwaltet worden. Die Fulani- und Haussa-Aristokratie wurde in ihrer Sultanatsverfassung bestätigt und unter anderem von der christlichen Missionsbewegung abgeschirmt. In der riesigen Nordregion, der etliche große Minderheitenvölker zugeschlagen wurden, lebte wahrscheinlich mehr als die Hälfte der nigerianischen Bevölkerung. Diese Nordregion wurde von den Strömungen des modernen afrikanischen Nationalismus im Yoruba-dominierten Südwesten und im Ibo-dominierten Südosten isoliert. In diesen beiden südlichen Regionen hatte sich parallel zum Ausbau der Exportwirtschaft und der Küstenstädte in enger Verbindung mit dem übrigen westlichen Afrika seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine Elite in Handel, Kirchen, Verwaltung und Justiz sowie der Presse, die einen überregionalen Nationalismus vertrat, entwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen diese auf Dekolonisation drängenden Kräfte für das Sultanat des Nordens, dessen Führungsschichten den sozialen Status
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zu sichern suchten, als Bedrohung. Sie drängten darauf, die Unabhängigkeit hinauszuzögern, um den durch die nationalistische Bewegung ausgelösten Modernisierungsdruck von sich abzuwenden. Die britische Kolonialverwaltung reagierte auf diesen Druck und begann auch im Eigeninteresse, die Dekolonisation zu verzögern. Sie verhinderte zunächst die Bildung einer Zentralregierung und ließ anfangs nur Wahlen in den drei Regionen getrennt durchführen. Damit mußten sich die nationalistischen Eliten noch stärker, als es ohnehin der Fall war, eine regional verankerte und damit ethnisch geprägte Hausmacht schaffen. Konkurrierende Parteien hatten in den Regionalwahlen keine Chancen, damit auch nicht die vielen ethnischen Gruppierungen, die in den Regionen Minderheiten bildeten. Bei der Bildung der Bundesregierung in Lagos kam es zur Koalition der Parteien des Nordens und des Ostens, die das Land in die Unabhängigkeit führten. Bereits 1962/63 nutzte die Koalition die Spaltung der von den Yoruba getragenen oppositionellen "Action Group", um durch Schaffung einer vierten Region im Westen den Yoruba die Kontrolle über die von ihnen nicht bewohnten Gebiete zu nehmen und so deren Hausmacht zu schwächen. Durch die Ausschaltung der Westregion kam es zum direkten Nord-Süd-Gegensatz. Er reichte bis in die Armee, die auf die Staatskrise 1966 mit zwei Putschen antwortete. Auf den Putsch der Majore aus dem Süden (v.a. Ibo) folgte der Militärputsch des Nordens, der Offiziere der nördlichen Minderheitsvölker, des sogenannten "Middle Belts", an die Macht brachte. In der Nordregion entluden sich die sozialen Spannungen, nicht ohne verdeckte Führung durch die islamische Oberschicht, in Pogromen gegen die als Händler, Lehrer, Beamte und Arbeiter tätigen christianisierten Ibo in den Neustädten der alten städtischen Zentren des Nordens. Sie waren zum Symbol der von der Modernisierung ausgehenden sozialen Bedrohung des alten Systems und seiner wachsenden Vernachlässigung der Unterschichten geworden. Die Ibo suchten Sicherheit in ihren eigenen Herkunftsgebieten. In der Sorge um die Konflikte zwischen den großen Volksgruppen verständigten sich die nigerianischen Militärs darauf, die Befehlshaber in den Regionen nach ethnischen Kriterien zu besetzen. Dabei geriet der Südosten in die Isolation. Die Hegemonie des Nordens etablierte sich. Angesichts der bedrohten Sicherheitslage nach den Pogromen und in der Hoffnung, durch die neuen Ölfunde im Südosten über eine ausreichende ökonomische Basis zu verfügen, entschied sich die Führung der Südostregion zur Sezession. Die Bundestruppen führten gegen Biafra einen konventionellen Krieg, der zunächst zur Einnahme der Ölregion führte und sehr schnell Biafra auf ein kleines Territorium reduzierte. Er dauerte zwar wegen der geschilderten internationalen Unterstützung zweieinhalb Jahre, sein Ausgang war aber stets vorhersehbar. Er endete mit einer totalen Kapitulation Biafras und der Abtrennung der Ölgebiete von der Südostregion. Die Führungsschicht des Bundesstaates trug zur Stabilisierung der Lage nach 1970 bei, indem sie Konsequenzen aus der Sezession zog. Die Reintegration der
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Elite Biafras vollzog sich sehr schnell. Vor allem wurde durch eine Verfassungsreform im Laufe der wechselnden Zivil- und Militärregime der Bundesstaat in 19 Staaten aufgeteilt, so daß auch die großen Minderheiten zum Zuge kamen. Ein komplizierter Finanzschlüssel garantierte das Finanzaufkommen der Bundesstaaten. In der Periode der Zivilregierung 1979-1983 wurde das Wahlrecht für den Präsidenten so gestaltet, daß er Stimmanteile aus allen Bundesstaaten benötigte. Im Fall Nigeria läßt sich also im großen und ganzen eine Stabilitätspolitik der Großmächte konstatieren, die über die Systemgrenze im Ost-West-Konflikt hinausreichte, wenn auch Frankreich im Sinne seiner Westafrika-Interessen auf eine Schwächung des Giganten Nigeria hinarbeitete und damit kriegsverlängernd wirkte. Selbstverständlich sind die großen sozialen und ökonomischen Konflikte in Nigeria nicht gelöst. Wiederholte Militärregime weisen auf die Verteilungskämpfe der Eliten untereinander, gestützt auf ihre jeweilige regionale Basis, hin. Die Probleme des Nordens bestehen weiter und haben den Kampf um die Kontrolle des Militärs ebenso geprägt, wie sich die sozialen Spannungen in sozialen und religiösen Protestbewegungen und pogrom-ähnlichen Vorfällen entladen haben. Mit dem Zusammenbruch des schlecht genutzten Ölbooms sind die sozialen Spannungen eher gestiegen. Das Zusammenspiel zwischen Eliten-Interessen, Weltmarktentwicklungen im Netz von Verschuldung, privater Vermögensbildung auch durch Korruption und aufwendigen Modernisierungsinvestitionen blieb erhalten - allerdings, und dies bleibt ein wichtiger Faktor, auf der Basis betonter internationaler Zurückhaltung davor, ein so kompliziertes System wie Nigeria zu destabilisieren. Allerdings mag dabei ausschlaggebend sein, daß die nigerianischen Eliten bei aller Rivalität untereinander machtbewußt genug sind und über einen ausreichend starken Staat verfügen, der internationale Einflußmaßnahmen über die gängige Großkorruption hinaus in Grenzen hält.
Die Destabilisierung des südlichen Afrika Vom südlichen Afrika als von einer besonders destabilisierten Region zu sprechen und dabei insbesondere die Rolle der Westmächte zu betonen, ist eine Wahrnehmung, die Jahrzehnte lang nicht nur in Deutschland auf den kleinen Kreis von Kritikern westlicher Südafrikapolitik und westlicher Unterstützung der Kolonialkriege des NATO-Mitgliedes Portugal beschränkt geblieben ist. Bis zum Zusammenbruch der Diktatur Salazars in Portugal 1974 und bis zur blutigen Niederschlagung der Schülerdemonstrationen in Soweto in Südafrika 1976 setzte sich die einseitige Wahrnehmung fort, daß weiße Kolonialherrschaft, insbesondere weiße Siedlerherrschaft, die an Strukturen industrialisierter Staaten erinnerte, Inseln der Stabilität im dekolonisierten Afrika bildeten. Auf den Druck der Befreiungsbewegungen in Mocambique und Angola, die seit 1961 zum Guerillakrieg übergegangen waren, da offenkundig die portugiesischen Kolonien von der allgemeinen Dekoloni-
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sation in Afrika ausgeschlossen wurden, setzte eine intensive Modernisierungs- und Siedlungspolitik Portugals, gestützt auf westliches Kapital, ein - so verdreifachte sich die Zahl weißer Siedler in Angola von 1963 bis zur Unabhängigkeit. Der Kolonialkrieg der Portugiesen und die Investitionspolitik wurden ökonomisch und rüstungstechnisch von der NATO unterstützt, die die Fiktion duldete, daß Mocambique, Angola und Guinea-Bissao integrale Bestandteile Portugals seien. Ab 1965 spitzte sich durch die Verweigerung eines Dekolonisationskonzeptes für Südrhodesien die Krise im künftigen Zimbabwe zu. Die einseitige Unabhängigkeitserklärung der von den weißen Siedlern getragenen Regierung Smith führte zwar zu - in der Regel via Südafrika - durchbrochenen Sanktionsbeschlüssen gegenüber Südrhodesien. Großbritannien räumte aber in Verfassungsverhandlungen dem weißen Minderheitsregime so viele Vorrechte ein, daß die afrikanische Bevölkerung in einer Volksabstimmung 1972 zu einem einhelligen Nein kam. Als dieses demokratische Votum übergangen wurde, begann auch in Zimbabwe der Guerillakrieg. Fast gleichzeitig war das südafrikanische Besatzungsregime in Namibia in die Krise geraten. Das UN-Mandat wurde 1966 aberkannt, die Bevölkerung wehrte sich gegen die Übertragung der südafrikanischen Homelandstrukturen. Die wichtigste Befreiungsorganisation SWAPO ging nach politischer Verfolgung 1966 im Norden zum Guerillakrieg über, als Südafrika sich der Beendigung des UN-Mandates nicht beugte. 1971/72 manifestierte sich in großen Streikbewegungen, daß auch die Härten des Wanderarbeitersystems nicht mehr länger geduldet wurden und die Bevölkerung in Gesamt-Namibia sich zunehmend politisierte. Sämtliche Nachbarländer Südafrikas mit Ausnahme Botswanas und Malawis gerieten damit in weniger als zehn Jahren in den Kriegszustand. Rhodesien begann destabilisierend in Mocambique einzugreifen, um die Operationsbasis der ZANU zu schwächen, griff gelegentlich in Botswana ein, während Südafrika verdeckt in Südangola aktiv wurde. Sämtliche Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika, zunächst National- und Menschenrechtsbewegungen, entwickelten sich aus friedlichen demokratischen Bewegungen. Die Verweigerung von Unabhängigkeit bzw. Reform radikalisierte sie. Dabei spielten die extrem ungleiche Eigentumsverteilung zugunsten der weißen Siedler und die unerträglichen Arbeitsverhältnisse bei der Entwicklung antikapitalistischer sozialistisch argumentierender Bewegungen erst in den späten Phasen nach Ausbruch des bewaffneten Kampfes die entscheidende Rolle. Dies wurde durch die Ablehnung, die die Befreiungsbewegungen bei den Westmächten erfuhren, maßgeblich gefördert, zumal da - außer Skandinavien - die einzige wirksame Unterstützung von der Sowjetunion und ihren Verbündeten kam, während die Kolonialregime und Südafrika bis in die Versorgung mit Waffen und Hochtechnologie auch im Nuklearbereich sowie in der Versorgung mit Krediten vom Westen gestützt wurden. Die OAU entschied sich, die Befreiungsbewegungen auch im militärischen Kampf zu unterstützen und die Gruppe der "Frontstaaten" mit der Koordination zu
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beauftragen. In ihrem Lusaka-Manifest von 1968 boten die Frontstaaten Südafrika und dem Westen eine Verhandlungslösung der Konflikte im südlichen Afrika an, letztlich sogar hinsichtlich eines friedlichen Machtwandels in Südafrika. Andernfalls würden sie bis zum Erreichen der Unabhängigkeit in der Reihenfolge Angola, Mocambique, Zimbabwe, Namibia und schließlich Südafrika auch den militärischen Kampf unterstützen. Damit stand der Westen vor einer Orientierungsfrage hinsichtlich der langfristigen Afrika-Politik. Sogar die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt versuchte jede Option zu vermeiden, indem sie der wachsenden Forderung der UN-Mehrheiten, Südafrika wirtschaftlich mit Sanktionen zu belegen und eine Endverbleibsklausel für Portugal durchzusetzen, mit der stereotypen Formel ablehnte, Handel und Politik müßten getrennt werden - also eine Position, die der Westen in Iran, Kuba, Polen, Afghanistan und Irak bei vielfältigen Gelegenheiten verließ. Das Sicherheitsmemorandum des US-Außenministers Kissinger von 1969 brachte die Position der westlichen Führungsmacht auf den Punkt: Die Analyse der Lage habe erbracht, daß die weißen Minderheitsregime eine Revolution der Befreiungsbewegungen würden abwehren können. Für diese Abwehr müßten sie gestärkt werden. Parallel dazu müsse der Westen Kontakt zu den schwarzen Oppositionsbewegungen herstellen, wobei man jene bevorzugen solle, die auf den bewaffneten Kampf und auf die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechtes verzichteten. Damit war ein Konzept zur Verlängerung der Konflikte entwickelt, das sich nur deshalb nicht langfristig durchhalten ließ, weil die ökonomische Stärke Portugals, Südrhodesiens und schließlich auch Südafrikas weit überschätzt wurde. Mit dem Zusammenbruch Portugals und der Aufgabe seiner Kolonien 1974/75 sowie der Krise Zimbabwes ab 1977 und der wachsenden Welle der Politisierung in Südafrika seit 1976 brach dieses Konzept zusammen. Es wurden letztlich sämtliche Länder in der von der OAU gesetzten Reihenfolge unabhängig, und stets mit jenen Befreiungsbewegungen an der Spitze, die abgewehrt werden sollten, zuletzt in Namibia 1990 und in Südafrika durch die Anerkennung des ANC. Dennoch begann die eigentliche Welle der Destabilisierung im südlichen Afrika nach 1974. Sowohl Südafrika als auch die USA fanden sich weder mit der Machtverschiebung zugunsten von Bewegungen mit notgedrungen engen Kontakten zur UdSSR und Osteuropa noch mit der durch lange Kampferfahrungen erzwungenen politischen Radikalisierung ab. Südafrika griff das unabhängige Angola mit Billigung der USA 1975 an. Seine Panzer wurden erst kurz vor den Toren Luandas durch angeforderte Truppen aus Kuba zurückgeschlagen - eine traumatische Niederlage für die überschätzte südafrikanische Armee. Die im Kampf um die Macht in Luanda unterlegene UNITA wandte sich von der chinesischen Unterstützung ab und suchte Südafrikas Hilfe, was zur Verflechtung der Kriege in Angola und Namibia führte. Südafrika übernahm nach dem Zusammenbruch des Smith-Regimes in Zimbabwe die Destabilisierungs-Einheiten des rhodesischen Geheimdienstes und begann den Bürgerkrieg in Mocambique zu fördern. Die am
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starren Plansystem des Ostens orientierten Wirtschafts- und Einparteiensysteme Mogambiques und Angolas entfremdeten sich wichtige Teile der bäuerlichen Bevölkerung. Sie verursachten den Massenexodus der Siedler durch überhastete politische und ökonomische Reformen und boten so ständige Ansatzpunkte für die Destabilisierung durch Südafrika. Entscheidend für diese Entwicklung war einerseits die Selbstüberschätzung Südafrikas, dessen "Totale Strategie" einer Militarisierung der Konflikte nach innen und außen die Ökonomie Südafrikas überforderte, das, statt sich weiter zu einem Industriestaat zu entwickeln, immer mehr Züge eines sich unterentwickelnden Landes mit Massenarbeitslosigkeit, sozialen Spannungen und Desinvestition annahm, aber diese Strukturschwäche erst Mitte der achtziger Jahre realisierte. Andererseits konnte Südafrika die Enttäuschung der USA in der letzten Phase der Carter-Ära und der Regierung Reagan nutzen, die ein sozialistisches Regime in Angola, gestützt durch Kuba, nicht hinnehmen wollte, obwohl sich die USÖlkonzeme über die Förderung des angolanischen Öls verständigt hatten. Die USA gingen zur Förderung der UNITA über und verbanden die Lösung der NamibiaFrage mit dem Abzug der Kubaner aus Angola. Zwar steigerten die Westmächte den Druck auf Südafrika, indem sie die Unabhängigkeit Zimbabwes unter dem Druck des britischen Commonwealth hinnahmen. Sie stärkten seit 1978 die UN-Position in Namibia. Schließlich reagierten sie auf die Repression Südafrikas im Innern mit ersten Embargomaßnahmen. Dennoch blieb die Grundannahme, durch Verzögerung der Unabhängigkeit und durch Hinnahme der Destabilisierung die Befreiungsbewegungen auszuschalten oder zu zähmen, erhalten. Es war eine Politik, die, wenn auch um dem Preis der Kriegsverlängerung um weitere 15 Jahre und einer ungeheuren inneren Zerstörung Angolas und Mogambiques und einer extremen Unterentwicklung im Norden Namibias, "erfolgreich" war. Die Hinnahme und Förderung von Destabilisierungsstrategien produzierte immer weitere grundlegende Widersprüche. Der politische und ökonomische Nutzen, selbst in einem engen strategischen Sinn oder an den Interessen der westlichen Großfirmen und an der Kontrolle von Rohstoffen gemessen, verflüchtigte sich immer mehr. Die Destabilisierungsstrategien führten zu Bürgerkriegs-Konstellationen, die unkontrollierbar wurden und ökonomische Krisenzonen schufen. Um nicht die Frontstaaten durch die "Totale Strategie" Südafrikas in den Strudel zu ziehen, sahen sich die Westmächte gezwungen, eine gegen Südafrikas Dominanz gerichtete Wirtschafts- und Entwicklungsorganisation, die SADCC, zu fördern - also Stabilisierungsmaßnahmen zu ergreifen, die schließlich auch Mocambique einbezogen. Mit dem Ende der Konfrontationspolitik der beiden Supermächte, die sich auf eine Regulierung von Regionalkonflikten zu einigen begannen, kam ein weiteres Element hinzu. Seit Ende 1988 wurde durch den überraschend schnellen Kurswechsel der Weltmächte der Druck auf die auch militärisch erschöpften beteiligten Staaten verstärkt. Südafrika, das in Angola eine Schlacht von strategischer Bedeu-
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tung nicht für sich entscheiden konnte, Angola, das im Bürgerkrieg zum Elendsgebiet geworden war und das durch die Hilfe für Angola überforderte Kuba verhandelten die Voraussetzungen für Waffenstillstand und Abzug der Kubaner, was den Weg zur Unabhängigkeit Namibias unter UN-Aufsicht und -Kontrolle ermöglichte. Schließlich hatten die Bürgerrechtsbewegung, die ökonomische Krise und die Wirkungen der Sanktionen und der Desinvestition den Reformdruck in Südafrika unter der Regierung De Klerk so weit erhöht, daß die Integration der südafrikanischen politischen Bewegungen in das politische und ökonomische System Südafrikas im letzten Moment begann und der ANC entbannt und als Verhandlungspartner anerkannt wurde. Dies könnte ein versöhnlicher Schluß sein, wenn nicht offenkundig wäre, daß durch die langjährige Abwehr der nationalen Protestbewegungen im südlichen Afrika deren Radikalisierung, ihre Polarisation in Bürgerkriegsparteien und damit die interne Instabilität gefördert wurde und daß eine Politik der Kriegsverlängerung letztlich über Jahrzehnte ein katastrophales Erbe hinterließ. Dies läßt sich in zweifacher Weise unterstreichen: Die Strategie der südafrikanischen Regierung, wiederum unterstützt von vielfältigen westlichen Interessengruppen, die sozialen und politischen Bewegungen in Südafrika mit ständig wechselnden Methoden zu schwächen, hat interne Gegensätze zugespitzt, wie den zwischen der UDF, den Gewerkschaften und dem ANC einerseits und der ethnischen Organisation der Inkatha andererseits. Die Stützung sonstiger, oft aus kriminellem Hintergrund stammender Gruppen in den Townships, die sich verselbständigten, hat auf dem Hintergrund wachsender Massenarbeitslosigkeit in Stadt und Land die Konfliktpotentiale enorm gesteigert. Die Verzögerung der Konfliktregelung über mindestens drei Jahrzehnte hat den Problemdruck und die ökonomische Schwächung ohnehin außerordentlich verstärkt. Ähnlich läßt sich für weite Teile Afrikas argumentieren. Gerade die wachsenden Risiken der ökonomischen Marginalisierung steigern die Verletzlichkeit des sozialen und politischen Friedens. Äußere Einflußnahme muß deshalb unter dem Gebot des sorgfältigen Umganges mit der Stabilität dieser Gesellschaften stehen. Wie weit dies generell durch die Regulierung des Rüstungstransfers und der Weltwirtschaftsordnung zugunsten des von der Marginalisierung bedrohten Kontinents zu geschehen hat, kann im Rahmen dieses Beitrages nicht erörtert werden. Auch sind selbstverständlich in so umfassenden Prozessen, die sich aus der Notwendigkeit zur sozialen und politischen Neudefinition so vieler Völker unter den erschwerten Bedingungen der nachkolonialen Periode des 20. Jahrhunderts ergeben, auch ohne gezielte Destabilisierungsversuche friedliche Verhältnisse nicht garantiert. Der Anteil der außerafrikanischen großen Mächte an diesen Zuspitzungen ist aber unübersehbar groß. Ihr Einfluß war und ist, wie die unterschiedlichen Beispiele zeigen, größer und wirkungsvoller, als die einseitige Verlagerung der Verantwortung auf die überforderten und zweifellos kritikwürdigen Eliten des postkolonialen Afrika sichtbar macht.
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Anmerkung Die Literatur zum Thema ist unübersehbar. Als einführende Literatur in deutscher Sprache mit weiterführenden Literaturhinweisen: Franz Nuscheler/Klaus Ziemer (Hg.), Politische Herrschaft in Schwarzafrika, München 1980. Für die aktuelle Entwicklung seit 1987 die Bände des "Afrika Jahrbuch" 1987, 1988, 1989, 1990, herausgegeben von Rolf Hofmeier, Institut für Afrikakunde, Hamburg-Wiesbaden, mit Artikeln für einzelne Länder und herausragende Entwicklungen. Für die Geschichte der einzelnen Länder bis 1985, ebenfalls mit weiterführenden Literaturhinweisen: Rolf Hofmeier/Mathias Schönborn, Politisches Lexikon Afrika, München 1985.
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Sklaverei in Südafrika
Koautorin: Uta Lehmann-Grube aus: Helmut Bley/Clemens Dillmann u.a. (Hg.), Sklaverei in Afrika, Pfaffenweiler 1991, S. 137152 ( = Bibliothek der historischen Forschung 2). ® Centaurus Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler
Die Geschichte der Sklaverei in Südafrika unterscheidet sich von der in anderen Teilen Afrikas. Es ist der Fall, in dem Europäer auf dem Kontinent selbst Sklaven hielten. Die Versklavten wurden nicht nur von Europäern aus anderen Regionen herantransportiert, so außer von afrikanischen Nachbargebieten von den Inseln des Indischen Ozeans, aus Indien und Indonesien, sondern Menschen wurden auch innerhalb der Region des Kaps gejagt. Sie wurden ausschließlich für Produktion und Dienstleistungen im Lande eingesetzt. Anders als auf den großen, von Europäern betriebenen Plantagen Amerikas arbeiteten viele Herren auf den Farmen weiter mit, jedenfalls galt dies für kleine und mittlere Farmer, sicherlich nicht für die aristokratischen Wein- und Weizenproduzenten. Schließlich geriet auch das südafrikanische Sklavereisystem unter den Druck der englischen Antisklavereibewegung. Aber es gelang in Südafrika trotz der Tatsache, daß Sklaverei illegal wurde, die Arbeiter unfrei zu halten. Die Kontrolle der Arbeitskräfte auch nach Abschaffung der Sklaverei 1833 gelang durch ein über die Jahrzehnte verfeinertes Netz von Gesetzen, die Sklaverei wurde so in ein System der Zwangsarbeit und dann der umfassenden Arbeiterkontrolle umgewandelt. Das heißt, zur Vorgeschichte des Apartheidsystems heute gehört der erfolgreiche Versuch der europäischen Siedler am Kap der Guten Hoffnung, die Vorteile der Sklaverei in das 19. und 20. Jahrhundert herüberzuretten und den modernen Erfordernissen anzupassen. Entsprechend der günstigen Quellenlage, weil die Administratoren, Kommissionen und Gerichte reichhaltig Quellen produzierten, ist viel über die innere Struktur der Sklaverei bekannt. Wir wissen, wie die Sklaverei von den Betroffenen empfunden wurde, welche Chancen zum Widerstand bestanden, oder besser, kaum bestanden, wie das Verhältnis zwischen Sklaven und Herren war, wie insgesamt das soziale Leben durch diese Institution geprägt war. Robert Ross, der in den Niederlanden lehrende Historiker, hat in seinem Buch "Cape of Torments, Slavery and Resistance in South Africa" sehr negative, aber sicherlich zutreffende generelle Aussagen gemacht: 1. Gewalt bestimme das Verhältnis zwischen Herrn und Sklaven, und es sei deshalb ein Widerspruch in sich selbst, nach "milden" Sklavenregimen zu suchen. 2. Es sei wahrscheinlich, daß in einer durch Gewalt und Sklaverei brutalisierten Gesellschaft die meisten Menschen brutalisiert würden; das gelte auch für die Sklaven, eine Warnung, die Folgen der Unterdrückung für die Unterdrückten zu bagatellisieren. 3. Obwohl sich nachweisen lasse, daß immer wieder Sklaven Widerstand geleistet haben, insbesondere durch Weglaufen, auch durch Tötung ihres Herren, schließlich durch viele Versuche, Elemente eines autonomen Lebens zu sichern,
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waren die Chancen für Widerstand in der Konstellation der Kap-Kolonie sehr gering. Die Sklaven lebten zu verstreut. Die Herren selbst waren anwesend und arbeiteten mit. Die Herrenschicht blieb in der Periode des Regimewechsels von Holländern und Briten, sogar in der Zeit der Abschaffung der Sklaverei, in der Frage der Kontrolle der Arbeitskraft einig. Dieses wurde auch nicht durch den Umstand unterminiert, daß ein Teil der sklavenbesitzenden Buren im Protest über die Antisklavereipolitik der britischen Verwaltung sich zum "Großen Treck" nach Norden und zur Gründung von Burenrepubliken entschieden. Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß die holländische Ostindiengesellschaft, als sie sich 1653 anschickte, die Bucht an der Südspitze Afrikas im Schutze des Tafelbergs zu einer Schiffahrtsstation zu machen, die die nach Asien fahrenden Schiffe mit frischem Proviant versorgen sollte, sich jahrzehntelang energisch dagegen wandte, daß aus dem Proviantplatz eine Siedlungskolonie selbständiger europäischer Siedler wurde. Vielmehr versuchte sie als Handelskompanie ihre Angestellten unter Kontrolle und nur auf die Aufgaben der Schiffsversorgung konzentriert zu halten. Vordringen in das Hinterland und damit Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung, vornehmlich den Khoikhoi, die sie verächtlich Hottentotten nannten, sollten aus Kostengründen vermieden werden. Allerdings konnte sich die holländische Kompanie an dieses Prinzip nicht lange halten. Sie überließ zögerlich die Nahrungsmittelproduktion auch freien Burghern (burisch: Bürger), die sie trotzdem unter Kontrolle zu halten versuchte. Gegen den aggressiven Charakter europäischer Siedler, unter allen Umständen ihr Glück am Tafelberg zu versuchen und die einengenden Zwänge einer Monopolgesellschaft zu durchbrechen, um selbständig für einen Markt zu wirtschaften, waren die Kontroll-Mechanismen der Gesellschaft auf Dauer zu schwach. Etliche Burgher zogen sich in das relativ trockene Hinterland zurück und begannen, anders als in den Gärten unmittelbar um Kapstadt, extensiv Viehzucht zu betreiben. Das Kunststück war dabei, einerseits am Kapstädter Markt beteiligt zu sein und andererseits für schlechte Zeiten, wenn sich nichts verkaufen ließ, auf Eigenversorung und Jagd umzustellen. Ein Dilemma hatten alle, die Gesellschaftsangestellten ebenso wie die in das Hinterland treckenden Burgher, die sich bald Buren oder auch Afrikaaner nannten: Sie brauchten Arbeitskräfte. Auch wenn Eigenarbeit eine Rolle spielte, es war selbstverständlich, daß man Herr war. War man leitender Angestellter, war es ohnehin üblich, Diener zu haben, versuchte man als kleinerer Mann sein Glück in Übersee, war auch für ihn selbstverständlich, wie ein Herr zu leben und mindestens für die harten Arbeiten und für die häuslichen Dienstleistungen Diener zu wollen und in dieser europäischen Männergesellschaft mit Mangel an Frauen aus der eigenen Gesellschaft auch afrikanische oder asiatische Frauen als Konkubinen zur Verfügung zu haben und nach wechselnden gesetzlichen Regeln auch Mischlinge zu heiraten. Die Khoikhoi waren an abhängiger Arbeit für Europäer nicht interessiert. Die Arbeit, die insbesondere die siedelnden Farmer von ihnen für schlechten Lohn verlangten, waren Jagd- und Hütedienste und damit prinzipiell nichts anderes als
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die eigene auskömmliche Arbeit. Sie gegen schlechtere Bedingungen für Fremde auszuüben, gab es wenig Gründe. Eher konnte man, wenn es um Kapstadt zu eng wurde und man militärisch unterlegen war, ins Hinterland ausweichen, solange noch Raum war. Allerdings wurden Khoikhoi durch Gewalt, als Kriegsgefangene oder weil sie in ihrer Gesellschaft ausgestoßen waren, in Einzelfallen als Arbeitskräfte an die Farmen gebunden: ein Trend, der sich im Laufe des Jahrhunderts verstärken sollte. Dennoch, die Zahl beschränkte sich auch gegen Ende der Herrschaft der holländischen Kompanie nur auf wenige tausend. Für die Lösung der Arbeitskräfteprobleme gab es eine bequemere Alternative. Kapstadt lag zwischen den Hauptströmen des internationalen Sklavenhandels. Es war für die holländische Gesellschaft ziemlich unkompliziert, aus Angola oder Mocambique, aber auch aus dem asiatischen Sklavenhandel, aus Madagaskar, Indien und Indonesien die geringe Anzahl von Sklaven mit den durchreisenden Schiffen zu beschaffen. So entstand an der Südspitze Afrikas die wohl internationalste Sklavengesellschaft, die wir kennen. Zum Herrschaftswissen von Herren und Sklavenhaltern dieser Zeit gehörte, die Leute nach tatsächlichen oder ihnen nachgesagten Tätigkeiten zu beschäftigen. So wurde es üblich, den Afrikanern, den Khoikhoi vom Kap wie auch den bantusprechenden aus Mocambique und Angola, die Viehzucht, oft das Jagdwesen zu überlassen, im Transport- und Handwerkswesen sowie im häuslichen Dienst eher Sklaven aus dem asiatischen Raum einzusetzen, obwohl viel davon auch Herrenideologie blieb, da der statistische Nachweis der Arbeitsverteilung ein sehr gemischtes Bild zeigt. Charakteristisch blieb außerdem, mit Ausnahme der später zuwandernden aristokratisch lebenden kapitalkräftigen Wein- und Weizengroßfarmer, von denen die meisten aus in Frankreich vertriebenen hugenottischen Familien kamen, daß kleine und mittlere Farmer keine reine auf Aufsicht beschränkte Herrenkaste wurden, sondern beim Haus- und Brunnenbau, beim Frachtfahren und auf Jagdzügen selbst arbeiteten. Es entstand so eine bemerkenswerte Vermischung von herrschaftlicher Distanz und alltäglicher Nähe und Zusammenarbeit, in der diese Nähe zugleich die ständige Verteidigung der Distanz notwendig machte. Der Unterschied zur afrikanischen Haussklaverei war groß. Auch nach Generationen war die Integration in die Familie europäischer Abstammung unmöglich. Der soziale Mechanismus, der im übrigen Afrika eine so wichtige Rolle spielte, daß wegen der Gleichartigkeit der Arbeit sich die Unterschiede im Alltag verwischten und Kinder aus dem Konkubinat in die Familie hineinwuchsen, galt hier nicht obwohl unter den heutigen alteingesessenen europäisch-stämmigen Familien kaum eine ohne afrikanische Vorfahren ist.
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Die soziale Lage der Sklaven in Stadt und Land Die Sklaven kamen aus fünf Regionen: dem indonesischen Archipel, Bengalen und Südindien, Ceylon, Madagaskar und von der ostafrikanischen Küste. Unter den Sklavenhändlern waren bengalische Banians, buginesische Händlerpiraten aus Celebes, chinesische Dschunken-Kapitäne, Sakalava-Könige aus Madagaskar, Prazeros, Großgrundbesitzer portugiesisch-afrikanischer Herkunft vom Zambesi, portugiesische Beamte von der Delagoa Bay in Mocambique oder Menschenräuber aus Südindien. Der Transport erfolgte zum Teil illegal als Fracht von Seeleuten und Kompanieangehörigen, dann in kleinen Zahlen, oder aber von französischen und portugiesischen Sklavenschiffen, die bevorzugt erkrankte Sklaven zu verkaufen versuchten, die die Überfahrt nach Amerika nicht überstehen würden. Ein kultureller Zusammenhang zwischen versklavten Menschen so unterschiedlicher Herkunft und so kleiner Zahlen war schwer zu stiften. So war die Kap-Kolonie während der gesamten Herrschaftsperiode der Ostindien-Gesellschaft eine Strafkolonie, in die insbesondere die politischen Gegner der Niederländer aus dem indonesischen Archipel gebracht wurden. Diese Exilanten waren in der Regel Aristokraten und oft gelehrte Muslime. Der Statusunterschied beispielsweise zwischen aristokratischen Javanesen und indischen Unberührbaren war sehr groß. Dennoch gab es Gemeinsames zwischen diesen Sklavengruppen. Sklaven durften nicht getauft werden, so daß sich die Distanz vom Sklaven zum Herrn als religiöse ausdrückte, Sklaven waren Muslime und Hindus, Herren waren Christen. Im übrigen trugen die gelehrten aristokratischen Muslime zu einer islamischen Gemeindebildung bei und halfen Sklaven unter Umständen beim Weglaufen, weil Muslime nach dem Koran nicht versklavt werden durften. Bei den wenigen organisierten Aufstandsversuchen richteten sich die Befehle der Anführer, Sklavenbesitzer zu bekämpfen oder zu töten, nicht gegen diese als Herren (Master) oder Weiße etc., sondern stets gegen sie als Christen. Ein weiteres die Sklaven untereinander verbindendendes Element, das aber auch Kommunikation mit den Herren stützte, bildete die Hauptverkehrsprache, das Afrikaans. Es entstand geradezu aus der Sprache zwischen Sklaven und Herren. Auch wenn das Grundvokabular holländisch war, so wurde es am Anfang sogar auch in arabischer Sprache niedergeschrieben und enthielt viele malayische und afrikanische Elemente. Hinzu kam, daß die meisten Angestellten der Kompanie Holländisch nicht als Muttersprache beherrschten, sondern meist Deutsche und Skandinavier waren. Das heißt, was als der Kern der Identität der burischen Nation im zwanzigsten Jahrhundert interpretiert wird, ist ein Produkt des Vielvölkergemisches und der Kommunikation zwischen Herren und Sklaven. Die soziale und gesellschaftliche Isolation und Entfremdung der meisten Sklaven wurde dadurch extrem zugespitzt, daß sie kaum eine Chance zur Familiengründung hatten. Das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Sklaven war im 17. und 18. Jahrhundert vier zu eins, so daß bis auf wenige, die Khoikhoi-Frauen heiraten
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konnten, die meisten ohne Frau blieben. Die Spannungen, die sich aus dieser, auch sexuellen, Not, ergaben, bestimmten das Klima insbesondere auf den Farmen, steigerten die Isolation und im Falle der Homosexualität auch die Illegalität, da dies nach den Gesetzen der Kolonie ein todeswürdiges Verbrechen war. Gefahrliche Spannungen entstanden auch, weil Müttern und Vätern die Autorität gegenüber ihren Kindern verweigert wurde. Ohne Chance zur Familiengründung und bei sehr geringer Lebenserwartung blieb das Sklaverei-System auf ständige Zufuhr von Menschen von außen angewiesen. Van Riebeck gab den ersten Sklaven eine Lebenserwartung von fünf Jahren nach Ankunft am Kap. Es verwundert nicht, daß in der malayischen Tradition eine Form äußersten Widerstandes in so aussichtsloser Lage war, den Herren umzubringen, um dann Amok zu laufen und Unbeteiligte zu töten, bis man selbst zu Tode kam. Diese Lage scheint sich erst nach dem Verbot des Sklavenhandels gemildert zu haben, jedenfalls gleicht sich das Zahlenverhältnis zwischen den Geschlechtern im 19. Jahrhundert aus. Tabelle: Burgher und Sklaven in Zahlen Burgher
Sklaven
Jahr
Männer
Frauen
Kinder
Männer
Frauen
Kinder
1687
254
88
231
230
44
36
1691
378
145
313
285
57
44
1701
418
242
605
702
109
80
1711
545
337
874
1232
290
249
1723
679
433
1133
2224
408
290
1733
793
547
1684
3384
711
614
1743
1075
700
2197
3804
815
742
1753
1478
1026
2197
4137
1031
877
1763
1862
1278
3610
5072
1214
929
1773
2300
1578
4587
6102
1707
1093
1783
3158
2042
5840
7808
2533
1609
1793
4032
2730
7068
9046
3590
2111
Am auffälligsten ist die Überzahl der männlichen Sklaven. Obwohl sich dieses Verhältnis im Laufe des 18. Jahrhunderts oft von 8:1 auf 3:1 abschwächt, bleibt für eine Familiengründung kaum eine Chance. Das kommt auch in den für jene frühen Zeiten extrem niedrigen Kinderzahlen zum Ausdruck. (Quelle: Nigel Worden, Slavery in Dutch South Africa, Cambridge 1985, S. 53.)
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Das Verhältnis von Sklaven und Herren unterschied sich in Stadt und Land. In Kapstadt, wo rund ein Drittel der Sklaven lebten, bestand keine rigorose Trennung nach Sklaven und Herren. Die sozialen Grenzen waren vielmehr komplizierter gezogen. Es bestand eher der Unterschied zwischen der kleinen Zahl "respektabler Leute", den Kompanie-Beamten an der Spitze, den Schiffsoffizieren und Kaufleuten bis hin zu Burghern, die Sklavenbesitzer waren, also auch den kleinen Krämern, Kaufleuten und Handwerkern, und dem Rest der Gesellschaft, ob sie nun durchreisende Seeleute, Soldaten, freie Afrikaner, Chinesen oder eben Sklaven waren. Etliche freie Schwarze kontrollierten die Kneipen und Bordelle, Chinesen den Kleinhandel einschließlich der Hehlerei und der Versorgung mit Opium, das viele Sklaven rauchten, um die eigene Lage zu vergessen. Sklaven konnten, obwohl abhängig, auf eigene Rechnung kleine Werkstätten haben. Dies war aber stets eine Minderheit. Die Grenze war in Einzelfällen so verwischt, daß gelegentlich freie Europäer der Unterschicht und Sklaven gemeinsam flohen und im Hinterland eine oft kurzlebige Freiheit suchten. Die Lage auf den Farmen war durch eine andere Gemengelage kompliziert. Totale Abhängigkeit und relative Vereinzelung in kleinen Gruppen sowie die Aufsicht des Herren oder seiner Knechte bei der Arbeit war der eine Pol; relative Distanz und Selbständigkeit beim Hüten des Viehs, eventuell sogar auf einer Zweitfarm des Herren oder als Frachtfahrer und Jäger, sogar mit Gewehren ausgerüstet, der andere. Persönlichkeitskonflikte zwischen Herren und Sklaven auf engstem Raum, die sexuellen Spannungen auf den Farmen, dies alles schuf offensichtlich ein Klima der Gewalt und Brutalität. Nur gut ein Viertel der Sklaven lebte in Gruppen von über zwanzig Sklaven zusammen, etwa 7 Prozent in Gruppen von über fünfzig. Südafrika war also kein Land der Großplantagen und der Anonymisierung des Arbeitsverhältnisses, es war überwiegend ein Land kleiner Sklavenbesitzer. Keiner der wein- und weizenanbauenden Aristokraten hatte mehr als 100 Sklaven. Die große Mehrheit der Sklaven arbeitete im Weizenanbau und wurde anschließend in der Saison der Weinernte auf die Weinfarmen vermietet, ausgenommen diejenigen, die für die Anlieferung des Weizens in der Stadt zuständig waren oder Herden hüteten.
Formen der Herrschaftssicherung Die Herrschaftssicherung beruhte im Kern auf Gewaltanwendung. Direkte Gewaltanwendung der Herren gegenüber Sklaven wurde von der Kompanie zwar rechtlich begrenzt, weil sie ein Gewaltmonopol für sich durchsetzen wollte. Aber es gab die Möglichkeit der "häuslichen Korrektur", nach preußischem Gesinderecht hieß dies "väterliches Züchtigungsrecht", was in der Regel erbarmungsloses Auspeitschen bedeutete. Ohnehin überließen die lokalen Behörden, wenn sie denn in der Praxis
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überhaupt gefragt wurden, häufig das Strafen den Herren. Sklaven konnten zum öffentlichen Kläger, dem Fiscaal, gebracht werden. Die öffentlichen Strafen gegenüber Sklaven waren weit über den ohnehin grausamen Standard des 17. und 18. Jahrhunderts brutalisiert. Wurde ein Mörder zum Brechen der Körperteile am Rad verurteilt, erhielt er doch den Gnadenstoß, um einen schnellen Tod zu gewährleisten. Dieser Gnadenstoß fiel weg, wenn ein Sklave einen Herren getötet hatte. Dann wurden ihm noch am Rad mit glühenden Zangen Körperteile herausgerissen, wonach er seinem Schicksal überlassen wurde. Es wird berichtet, daß die gnädige Ohnmacht meistens nicht vor dem dritten Tag eintrat. Auf Diebstahl stand Tod durch Erhängen. Für kleine Vergehen im Arbeitsalltag stand das Auspeitschen oder die Tretmühle in den Kornmühlen der Stadt. Ein wichtiges indirektes Prinzip, Herrschaft zu sichern und Widerstand zu erschweren, lag darin, soziale Gegensätze zu schaffen. Es gab die priviligierten Aufseher, die selbst Sklaven waren. Haussklaven nahmen auch in Südafrika gegenüber den Farmsklaven eine Sonderstellung ein. Darüber hinaus setzten die Farmer oft Farmverwalter, die "Knegte", ein. Diese Knegte, oder genauer besonderen Aufseher, wurden von der Kompanie auf Zeit vermietet; sie konnten freie Burgher, freie Schwarze oder auch Sklaven sein. "Frei" waren die Knegte meist dann, wenn ein Farmer mehrere Farmen hatte. Denn geriet dem Farmer die Sklaven-"Community" außer Kontrolle, konnte er durch seine Nachbarn bestraft oder sogar regulär enteignet werden. Insbesondere wenn auf Farmen Schußwaffen unkontrolliert blieben, wurden die Gerichte angerufen. Konflikte zwischen Knechten oder Aufsehern und Sklaven waren dementsprechend an der Tagesordnung. Selbstverständlich waren auch Herren allein durch die persönliche Strafausübung bis hin zu Folter und Tötung an der Aufrechterhaltung der Kontrolle beteiligt. Sadismus, Angst und Brutalität konnten extreme Zustände schaffen. Dennoch ist diese Konfliktzone unterhalb des Eingreifens des Herrn für die Herrschaftsstabilisierung von großer Bedeutung gewesen. Zwischen direkter Gewaltanwendung, insbesondere dem Auspeitschen und Sklavenwiderstand, Weglaufen oder dem offenen Ungehorsam bestand ein enger Zusammenhang. Dies war auch der Grund für die Regierungspolitik, die offene Gewalt zu begrenzen, um die Effektivität der Sklaverei zu gewährleisten.
Sklaven und Khoisan Am Kap lebten lange vor Ankunft der Europäer die Khoisan. Es waren Jäger und Sammler, die aber teilweise zur Viehzucht übergegangen waren. Letztere nannten sich Khoikhoi, Menschen der Menschen. Zu ihnen standen die Sammler oft in einer Art Klientelverhältnis, solange die Khoisan nicht das Vieh der Khoikhoi als Jagdbeute betrachteten und daraus Konflikte entstanden. Die Kompanie handelte mit ihnen im wesentlichen mit Vieh, um die Frischfleischversorgung für die Schiffe
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sicherzustellen. Im Gründungsbefehl der Ostindien-Kompanie war Gouverneur van Riebeck sogar angewiesen worden, friedliche Ausstauschbeziehungen herzustellen. Versklavung war untersagt. Konflikte blieben nicht aus. Siedler drängten entgegen den Intentionen der Gesellschaft in das Hinterland und damit in die Weidegebiete. In Konflikten mit ihnen kam der Gedanke auf, die Sklaven gegen sie einzusetzen. Wichtiger wurde indessen, daß die Khoikhoi durch Geld - in der Regel durch den Preis einer Kuh - veranlaßt werden konnten, entlaufene Sklaven wieder einzufangen. Andererseits entstand ein ambivalentes Verhältnis zu entlaufenen Sklaven. Viele Khoikhoi-Gruppen waren interessiert, Fremde, und so auch entlaufene Sklaven, zu integrieren, um so die Gruppe größer und konkurrenzfähiger zu machen. Insbesondere galt dies für von der Kolonialherrschaft entfernter lebende Gruppen. Diese Tendenz zur Integration der Entlaufenen ließ im Laufe der Jahrzehnte unter dem Druck der Burgher-Kommandos und der Marktbeziehungen nach. Vor allem die Beziehungen zwischen Sklaven und Khoisan wurden im 18. Jahrhundert dadurch geprägt, daß die Khoisan selbst in die Arbeitsverfassung der KapGesellschaft gezwungen wurden. Die Wege in die Arbeit waren unterschiedlich. Es war eine Grundsatzentscheidung der Kompanie, geprägt durch die Erfahrungen in Java, die einheimischen "Hottentotten", wie sie sie nannte, nicht zu versklaven. Nur wenige waren bereit, für Entgelt zu arbeiten. Die Lage der Khoisan und Khoikhoi war im Konfliktfall schwieriger als die eines Sklaven. Es gab keinen Rechtsschutz, und einen Sklaven zu töten, bedeutete finanziellen Verlust für den Herren, einen unzufriedenen Khoisan zu töten aber nicht. Stoff für Konflikte lag also vor. Die Khoisan oder Khoikhoi konnten sich als Hirten oder als Jäger zurückziehen, und sie achteten dabei mit Sorgfalt darauf, daß die Grenze zum Sklavenstatus nicht verwischte - ein konfliktträchtiges Unterfangen. Eine der Rückzugsmöglichkeiten war, sich militärisch organisierten Jagd- oder Militärgruppen anzuschließen, so etwa den Orlam, die schließlich ins Gebiet des späteren Namibia auswichen. Insgesamt läßt sich sagen, daß sich jenseits der Einflußgebiete der europäischen Siedler, hinter der "frontier", neue Gemeinschaften bildeten, die sich zu guten Teilen aus entlaufenen Sklaven zusammensetzten - so die Griquas, die sogar einen Staat gründeten. Allerdings hat diese Herkunft nicht zu einer besonderen Solidarität mit den Sklaven geführt. Je nach politischer Lage wurden entlaufene Sklaven durchaus auch ausgeliefert, was sicher eine Abwehrmaßnahme gegen den Druck der weißen bewaffneten Kommandos war. Es deutet aber auch an, daß es kein allgemeines "Klassenbewußtsein" der Sklaven gab, das Solidarität schuf und organisationsfahig machte. Dies ist wichtig festzustellen, weil die Beweislage ansonsten außerordentlich eindeutig ist, da sich die Sklaven ihres Verlustes der Freiheit völlig bewußt waren, nach Gelegenheiten suchten, frei zu werden, in der Regel durch Entlaufen, bei günstigen Umständen durch Freikauf. Den Khoikhoi war ja der Statusunterschied zwischen ihrem unfreien Knechtsdasein und dem Sklavenstatus wohl bewußt. Dies
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kam dementsprechend im Verhältnis von Europäern und Khoikhoi bzw. Khoisan zum Ausdruck. Zwar kam es sicher vor, daß sich ein Khoikhoi einem Farmer praktisch als Klient anschloß und so in Abhängigkeit geriet. Die Regel war das aber nicht. Im Prinzip führte die Zurückhaltung der Khoikhoi, unfreie Arbeit anzunehmen, und der steigende Preis von Sklaven, der für extensiv wirtschaftende Farmer immer unerschwinglicher wurde, zu einer brutalen Unterwerfungs- und Jagdtechnik gegen Khoisan. In der Periode der britischen Besatzung wurde dies unter dem Druck von Missionaren zum eigentlichen Skandal, nachdem legale Sklaverei durch die Antisklavereimaßnahmen des britischen Parlamentes immer stärker erschwert wurde. Als Ersatz nahm das Kidnapping zu, so daß ein Gesetz, der "Caledon Act", erlassen wurde, das die " Lehrlingsarbeit", eine über Jahre ausgedehnte Zwangsarbeit der Khoisan, regelte und dem Kidnapping und der Gewalt eine gewisse Grenze setzte.
Krisen des Systems: 18. Jahrhundert Schon nach wenigen Jahrzehnten befand sich die Kolonie in einer tiefen Krise. Nur wenige Europäer waren zu Wohlstand gekommen, die Produkte erwiesen sich als nicht verkäuflich, vor allem aber die Abgrenzung zwischen Europäern, Afrikanern und Sklaven erwies sich als extrem schwierig. Einerseits förderte die Sklaverei die extensive Wirtschaftsform, die zudem noch an das Abgabemonopol der Gesellschaft gebunden war, andererseits war durch die Dynamik, die sich aus dem Frauenmangel ergab, keine klare Grenze zwischen Sklaven, befreiten Mischlingen und älteren freigekauften Sklaven zu ziehen. Außerdem scheiterte am Expansionsdrang der Siedler eine feste Grenzziehung zum Hinterland. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde darüber nachgedacht, ob nicht die gesamte soziale und ökonomische Struktur der Kolonie verändert werden müsse. Zu den damals angestellten Überlegungen gehörte die fantastische Idee, einen breiten Wassergraben zwischen der Europäerkolonie und dem Rest des südlichen Afrika zu ziehen, um so eine klare Abtrennung zu erreichen - ein utopisches Apartheidkonzept des 18. Jahrhunderts. In der Debatte von 1717 um die Zukunft der Kolonie kam das ganze Dilemma der Sklavenökonomie, verbunden mit der Monopolwirtschaft der Kolonie, zur Sprache. Schließlich empfahlen die Räte der Kompanie in Kapstadt, das System der Sklaverei beizubehalten, aber das Hauptquartier der Kompanie in Holland zu bitten, über die Schiffsversorgung hinaus selbständig mit den afrikanischen Nachbarländern und Inseln handeln zu können. Interessant war der Gegenvorschlag, den Dominique de Chavonnes, der Kommandeur der Garnison und Bruder des Gouverneurs, vergeblich gemacht hatte. Seine Ratskollegen wollten an der Sklaverei festhalten, weil weiße Arbeiter zu faul, inkompetent, dem Alkohol ergeben und im übrigen zu teuer seien. Dagegen
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empfahl de Chavonnes, daß freie weiße Arbeiter produktiver seien, weil sie auf eigene Rechnung und für eigenes Interesse arbeiteten, auch wenn ihre Arbeit teurer sei. Der Hang zur extensiven Landwirtschaft und zu Großbetrieben würde durchbrochen werden. Durch viele verdienende Handwerker und intensiv betriebene mittlere Farmen entstünde ein aktiver Binnenmarkt und schließlich Anreiz zur Familiengründung und damit auch zum Zuzug europäischer Frauen. Der Offizier war natürlich an einer derartigen Bevölkerungsstruktur auch aus militärischen Überlegungen interessiert, aber es bleibt doch bemerkenswert, daß diese aufgeklärte kapitalistische Logik so eindeutig bereits 1717 formuliert wurde, auch wenn sie überstimmt wurde. Kurzfristige Kosteninteressen und die gewohnte Lebensform ließen die Gesellschaft trotz offenkundiger Krisensymptome an der Ökonomie der Sklaverei festhalten. Abschaffung der Sklaverei und Beginn der Passgesetze Der von Großbritannien ausgehende Druck zur Abschaffung der Sklaverei erreichte das Kap 1806 mit der erneuten britischen Besatzung. Zwar wurden noch immer Ausnahmegenehmigungen erteilt, insgesamt aber veränderte sich die Lage, weil der Preis für Sklaven anstieg. Zugleich wandten sich die britischen Philanthropen, unterrichtet durch Missionare, gegen den brutalen Umgang mit Khoisan und Khoikhoi. Die Khoisan waren durch die gnadenlose Jagd der Burenkommandos auf sie aufgrund von Viehdiebstahl, aber auch wegen der gewaltsamen Suche nach Arbeitskräften in ihrer physischen Existenz gefährdet. Kinder wurden gekidnapt oder als Waisen auf die Farmbetriebe gebracht. Im Grunde war ein schleichender Genozid im Gange. Ihnen stand ein Schicksal bevor, das dem der Indianer ähnelte. Sie zu schützen und die barbarische Praxis der Menschenjagd an der "Frontier" zu beenden, war ein politisches Ziel der britischen Administration, das 1828 schließlich zur Anerkennung dieser Menschen als "Zivilpersonen" und damit als rechtsund vertragsfähige Subjekte führte. Eine der Übergangsmaßnahmen, um die Arbeitsverfassung nicht zu stark zu stören, bestand darin, die in Hörigkeit gehaltenen Kinder und Jugendlichen auf den Farmen als "Lehrlinge" zu deuten, die mit den Farmern in einem vieljährigen Ausbildungsvertrag standen. Gouverneur Caledon führte dieses System 1809 ein. Sein Motiv war, einerseits einen Ersatz für die Ausfälle, die durch das Verbot des Sklavenhandels enstanden waren, zu bieten und Arbeitskräfte zu beschaffen, andererseits die wilde und gewaltsame Rekrutierung der Khoikhoi und Khoisan zu begrenzen. Die Ambivalenz dieses Programms wird aus den Details der Maßnahmen deutlich. Der Widerstand der Khoikhoi gegen hörige Arbeit war in der Vergangenheit am wirkungsvollsten gewesen, wenn eine starke lineage zur Verfügung stand, zu der man sich zurückziehen konnte.
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Diese afrikanische Organisation war durch Gewaltmaßnahmen, durch Dezimierung als Folge von Masernepidemien oder dadurch geschwächt worden, daß einzelne Khoikhoi sich aus den Zwängen ihrer Gesellschaft hatten lösen können. Caledon löste nun die "Stammesverfassung" auf und "emanzipierte" die Hottentotten als Individuen, eben mit individueller Vertragsfreiheit, wie es die liberale Ideologie nahelegte. Aber diese persönliche Vertragsfreiheit hielt sich in engen Grenzen. Die Khoikhoi durften die Distrikte, in denen sie Arbeit hatten, ohne einen Pass und ohne Genehmigung der Behörden nicht verlassen, waren also den lokalen Gewalten und damit auch den Farmern ausgeliefert. Die Kinder von Eltern, die bei Inkrafttreten der Bestimmungen in einem Dienstverhältnis standen, wurden in einen zehnjährigen Lehrlingsvertrag gegeben. Dies sollten die Wege werden, mit denen aus der abhängigen Arbeit, später auch den Sklaven, eine fiktive "freie Arbeit" mit faktisch starken Elementen von Zwangsarbeit konstruiert werden konnte. Es war ein Konzept, das aus dem britischen Arbeitsrecht stammte, dort aber unter dem Druck der Arbeiterschaft 1814 abgeschafft wurde. In der Kapkolonie kam noch ein weiteres Element hinzu, das in die Ideologie der Zeit paßt: nämlich die Auffassung, daß Arbeit bei Europäern, ganz gleich wie die Bedingungen waren, sogar Bedingungen der Unfreiheit, Menschen "zivilisiere". Die koloniale Legende war im Kap, das in vieler Hinsicht der Vorreiter kolonialpolitischer Techniken und Ideologien wurde, schon an der Jahrhundertwende voll entwickelt. Wirklich kritisch wurde es, als die Freilassung der Sklaven ab 1833 anstand und 1834 durchgesetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt lebten 39 000 Sklaven und 65 000 Europäer im Kapland. Aus der Sicht der Sklavenbesitzer gab es zwei Aspekte der Befreiung: Die Kompensation dessen, was sie als Enteignung auffaßten, und die Versorgung mit Arbeitskräften. Insbesondere im Ostkap erschien den Sklavenbesitzern eine Lösung des Arbeitskräfteproblems innerhalb dessen, was sie als restriktive britische Arbeitspolitik auffaßten, nicht möglich. Da sie sich überdies in ihrem Drang in die Siedlungsgebiete der Xhosa nicht genügend unterstützt fühlten, entstand der Gedanke an einen Treck nach Norden in Gebiete mit Zugang zu Arbeitskräften und frei von britischer Intervention. Die Gründung der Burenrepubliken im Norden ermöglichte dann die verschärfte Fortsetzung der Politik der abhängigen Arbeit, denn obwohl selbst in diesen Republiken offiziell Sklaverei abgeschafft blieb, wurde doch die Nähe zu den portugiesischen Sklavenhändlern noch lange genutzt. Wesentliches neues Element der burischen Arbeitskräftepolitik wurde, daß sie alle Nichteuropäer als "Natives" deklarierte und sie unter Sonderstatus stellte. In der Kap-Kolonie setzte sich die kapitalistisch liberale Tradition der Kontrolle der Arbeitskräfte durch. Als die "Lehrlingsgesetze" nicht mehr griffen, weil die Frist 1838 verstrich, wurde ein "farbenblindes", für alle Vertragsverhältnisse gültiges "Master and Servants"-Gesetz verabschiedet: Jeder Arbeitskonflikt wurde kriminalisiert, die Rechtlosigkeit festgeschmiedet und die Grenzen der Freizügig-
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Afrika: Geschichte und Politik
keit eng gezogen. Langfristig geriet diese aus der Sklaverei abgeleitete Arbeiterkontrolle, die im Zuge der liberalen Reform in England entwickelt und auch in anderen Kolonien wie der Karibik angewandt wurde, in eine Krise. Auch sie konnte die Hauptprobleme nicht lösen - den Widerstand der großen Mehrheit der afrikanischen Bauern, ihr Land aufzugeben, und die Unfähigkeit der Europäer, ihr Land intensiv zu bewirtschaften. Arbeitskräfte in großer Zahl wurden aber notwendig, als sowohl die Bergwerke seit 1866 wie auch eine immer kapitalintensivere Landwirtschaft große Mengen von Arbeitskräften verlangten. Dies ließ sich mit den alten Gesetzen der Arbeiterkontrolle als Erbe der Sklaverei allein nicht mehr bewerkstelligen. Ergänzend hinzu kam eine Politik der Landenteignung und Landverknappung, weil nur Landlose zur Arbeit gezwungen werden konnten.
Schluß Wenn man überlegt, was das Besondere an der Sklaverei in Südafrika ist, drängen sich dem Betrachter folgende Aspekte auf, die sich zwar auch in den anderen von der Sklaverei betroffenen Gesellschaften finden, in Südafrika aber viel schärfer zutage getreten sind. Die soziale Distanz zwischen Herren und Sklaven ergab sich nicht von selbst; in der Realität entstanden, da keine Großbetriebe vorherrschten und weil Spezialtätigkeiten ausgeübt wurden, unscharfe Zonen, die Distanz erschwerten. Am Kap kam hinzu, daß Freigelassene vorhanden waren, daß die Grenze zwischen Sklaven und Knechten verschwamm und daß durch sexuelle Beziehungen und gemeinsame Kinder auch juristische Grauzonen bestanden. Um hier dennoch "Klarheit" zu schaffen, wurde direkte Gewalt eingesetzt. Dieses direkte Gewaltverhältnis ist kennzeichnend. Obwohl es in allen Sklavengesellschaften prägend ist, so ist doch denkbar, daß die besondere Aggressivität europäischer Herrschaftsformen hier besonders zum Ausdruck kam. Die Sklaven waren sich ihrer Situation bewußt. Sie kannten den Unterschied zwischen Sklaverei und Freiheit selbst dann sehr genau, wenn sich im Alltag der Unterschied zwischen Sklavenarbeit, unfreier und Knechtsarbeit verwischte. Die Schwierigkeit der männlichen Sklaven, Frauen zu finden, gar Familien zu gründen, die Rechtlosigkeit von Eltern gegenüber ihren Kindern, die sexuelle Bedrohung, die ständig für die wenigen Frauen bestand, auch von Seiten der Herren, und schließlich das häufige erbarmungslose Prügeln - all dies verstieß zu elementar gegen die Menschenwürde, als daß Gewöhnung möglich war. Stets war sowohl für die von weither Verschleppten als auch für die Versklavten aus den Nachbarregionen die Freiheit als Alternative sichtbar. Sich anderen Gruppen nach der Flucht anzuschließen oder selbst welche zu gründen, war die eine Möglichkeit, in die kapstädtische Gesellschaft der Freien aufgenommen zu werden,
Sklaverei in Südafrika
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z.B. durch Freikauf, war die andere. In der Zeit der Sklaverei gab es real nur wenig Möglichkeiten zum Widerstand, denn die Hauptformen des Widerstandes wegzulaufen und den Herren zu töten - endeten meist in Katastrophen. Für die Herren in Südafrika erzwang das Sklavereiverbot für Khoikhoi und seit 1807 die steigenden Sklavenpreise, die Grenzen zwischen Sklaverei und unfreier Arbeit zu verwischen. Im Selbstverständnis aller Betroffenen war ohnehin die Grenzlinie zwischen oben und unten scharf in der Weise gezogen, daß Sklaven und Arbeiter eher derselben Schicht zugerechnet wurden. Deshalb übernahm das Arbeitsrecht so viele Maßnahmen aus der vor- und frühindustriellen Arbeitsverfassung Europas. Dabei wurde sowohl in den Maßnahmen gegenüber Sklaven als auch gegenüber den durch viele Regulierungen gebundenen Arbeitern um so rigoroser verfahren, je massenhafter sie existierten. So schwächte sich der Impuls, Sklaven zu christianisieren, mit Anwachsen der Zahlen ab; je härter die Konkurrenz um die Arbeitskräfte wurde und je widerstandsfähiger sich diese zeigten, desto schärfer entwickelte sich der Kontrollapparat. Auch in Südafrika fand dies unter dem Anspruch statt, zu "zivilisieren", d.h. der Barbarei der Ungleichheit und Ungerechtigkeit und der Gewalt einen Schleier der Selbstgerechtigkeit überzuwerfen.
Literatur S. Daniel Neumark, Economic Influences on the South African Frontier, 1652-1836, Stanford 1957. Robert Ross, Cape of Torments, Slavery and Resistance in South Africa, London 1983. Eric A. Walker, A History of Southern Africa, London 19643. Nigel Worden, Slavery in Dutch South Africa, Cambridge 1985.
ZENTRUM MODERNER ORIENT ARBEITSHEFTE Nr. 1 ANNEMARIE HAFNER/JOACHIM HEIDRICH/PETRA HEIDRICH: Indien: Identität, Konflikt und soziale Bewegung Nr. 2
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HELMUT BLEY: Afrika: Geschichte und Politik. Ausgewählte Beiträge 19671992