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German Pages 237 Year 1999
Elisio Salvado Macamo . Was ist Afrika?
Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft in Verbindung mit Martin Albrow, Cardiff . Hans Bertram, München . Karl Martin Bolte, München Lothar Bossle, Würzburg . Walter L. Bühl, München· Lars Clausen, Kiel· Roland Eckert, Trier· Friedrich Fürstenberg, Bonn . Dieter Giesen, Berlin . Alois Hahn, Trier· Robert Hettlage, Regensburg . Wemer Kaltefleiter t, Kiel· Franz-Xaver Kaufmann, Bielefeld . Henrik Kreutz, Nümberg . Heinz Laufer t, München· Wolfgang Lipp, Würzburg . Thomas Luckmann, Konstanz . Kurt Lüscher, Konstanz . Rainer Mackensen, Berlin . Georg Mantzaridis, Thessaloniki . Norbert Martin, Koblenz . Julius Morel, Innsbruck . Peter Paul MüllerSchmid, Freiburg i. Ü.. Elisabeth Noelle-Neumann, Mainz . Horst Reimann t, Augsburg . Walter Rüegg, Bem . Johannes Schasching, Rom . Erwin K. Scheuch, Köln . Gerhard Schmidtchen, Zürich· Helmut Schoeck t, Mainz . Dieter Schwab, Regensburg . Hans-Peter Schwarz, Bonn . Mario Signore, Lecce . Josef Solar, Bmo . Franz Stimmer, Lüneburg . Friedrich H. Tenbruck t, Tübingen . Paul Trappe, Basel . Laszlo Vaskovics, Bamberg . Jef Verhoeven, Leuven . Anton C. Zijderveld, Rotterdam . Valentin Zsifkovits, Graz
Herausgegeben von
Horst Jürgen Helle, München· Jan Siebert van Hessen, Utrecht Wolfgang Jäger, Freiburg i. Br.. Nikolaus Lobkowicz, München Arnold Zingerle, Bayreuth
Band 24
Was ist Afrika? Zur Geschichte und Kultursoziologie eines modemen Konstrukts
Von Elisio Salvado Macamo
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Macamo, Elisio Salvado: Was ist Afrika? : zur Geschichte und Kultursoziologie eines modemen Konstrukts I von Elisio Salvado Macamo. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Sozialwissenschaftliehe Abhandlungen der Gärres-Gesellschaft ; Bd.24) Zug!.: Bayreuth, Uni v., Diss., 1998 ISBN 3-428-09710-6
Alle Rechte vorbehalten
© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4999 ISBN 3-428-09710-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §
Vorwort Was ist Afrika? Diese Frage beschäftigt mich in der vorliegenden Arbeit. Sie entsprang der Betrachtung des Streites um die afrikanische Philosophie, der seit vielen Jahrzehnten von afrikanischen Intellektuellen geführt wird. Als ich mich zum ersten Mal der afrikanischen Philosophie zuwendete, war ich auf der Suche nach einer afrikanischen Perspektive, die ich als notwendige Ergänzung zu meiner sozial wissenschaftlichen Sichtweise betrachtete. Der Einblick in die soziologische Bedingtheit des Streites um die afrikanische Philosophie hat mich dazu geführt, die Suche nach einer afrikanischen Perspektive zugunsten einer grundlegenderen Frage einzustellen, nämlich was Afrika ist. Obgleich dieser Streit seit langem geführt wird, gibt es dennoch keine soziologische Arbeit zum Thema. Diese Lücke im sozial wissenschaftlichen Wissen erscheint mir äußerst problematisch, da es sich bei dieser Auseinandersetzung um eine grundsätzliche Frage handelt, die beantwortet werden muß, selbst wenn die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Afrika nicht von der Antwort darauf abhängig gemacht werden kann. Die vorliegende Studie stellt nicht nur einen Versuch dar, eine Antwort auf die Frage nach dem konzeptuellen Status Afrikas zu finden, sondern sie ist auch ein Plädoyer für die Relevanz der Soziologie, vor allem der Wissenssoziologie, bei einem solchen Unterfangen. Philosophische Arbeiten über diesen Streit gibt es zuhauf, die meisten davon als Teil des Streites selbst, was sie in gewisser Hinsicht als Wegweiser in dieser Diskussion für wenig geeignet erscheinen läßt. Mein Interesse an diesem Thema rührt von einer Magisterarbeit über "Die Erfindung der afrikanischen Familie in der westlichen Sozialwissenschaft" her. Meine damaligen Betreuer an der University of North London, Prof. Elizabeth Wilson und Dr. Jeannette Murphy, ermutigten mich durch ihren Enthusiasmus dazu, weiter an diesem Thema zu arbeiten und ganz im Stil der Philosophie von Michel Foucault, die als konzeptueller Rahmen für meine Arbeit diente, der Frage nachzugehen, ob das Wissen über Afrika überhaupt der Realität entspricht oder vielmehr der diskursiven Macht des Westens. Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken. Während dieser Zeit habe ich von den Ratschlägen und Hinweisen vieler Menschen profitiert. Zwei davon möchte ich hervorheben: Dr. Lucy Bonnerjea von der London School of Economics, der ich wertvolle Gespräche verdanke, die mir beim Reflektieren über Afrika geholfen haben. Des weiteren bin ich Prof. Dr. Henrik Kreutz von der Universität Erlangen-
6
Vorwort
Nürnberg für den Hinweis auf die Relevanz der Wissenssoziologie von Karl Mannheim für mein Anliegen dankbar. Ein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Amold Zingerle, Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Bayreuth, der sich für mein Anliegen einsetzte und mich durch seine ansteckende Leidenschaft für die Bedeutung von Begriffen dazu führte, nicht nur die Frage nach dem begrifflichen Status Afrikas zu stellen, sondern zu versuchen, sie auch zu beantworten. Dabei haben mir die Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl, PD Winfried Gebhardt, PD Bernard PIe und Dr. Gabriele Capai, viel Unterstützung gewährt. Als ich nach Bayreuth kam, war ich in Sachen Max Weber ziemlich "unmusikalisch". Den vielen Weber-"Virtuosen" am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie ist es aber gelungen, aus mir einen interessierten Leser und Benutzer seiner soziologischen Theorie zu machen. Dafür bin ich sehr dankbar. Meinem zweiten Gutachter, Prof. Dr. Thomas Bargatzky von der Universität Bayreuth, verdanke ich ein großes Interesse am Thema, das in vielen Vorlesungen zum Ausdruck gebracht wurde, an denen ich die Ehre hatte, teilzuneh~en. Gleiches gilt für Prof. Dr. Gerd Spittler, ebenfalls Universität Bayreuth, dessen Interesse und Rat mir bei der Überarbeitung dieser Arbeit sehr geholfen haben. Ich möchte auch Prof. Dr. Franz-Wilhelm Heimer vom "Instituto Superior de Ciencias de Trabalho e Empresa" in Lissabon für die Diskussionsrunde danken, die er für mich organisierte und die es mir erlaubte, meine These einem Fachpublikum vorzutragen. Ferner danke ich all denjenigen, die mir bei der Durchführung dieser Studie mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Ohne die Unterstützung meiner Familie, vor allem meiner Frau, Heike GroschMacamo, wäre die Durchführung dieser Studie jedoch nicht möglich gewesen. Meine Frau hat mich nicht nur moralisch und finanziell unterstützt; sie hat mir auch bei der sprachlichen Formulierung des Textes sehr geholfen. Dabei wurde sie von Tanja Hilpert unterstützt, der ich hiermit besonders danke. Elisio Salvado Macamo
Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . .. . .. . . . . .. .. .. . . . . . . . .. . . . .. . . .. .. . . . . . . . . .. .. .. . . .. . .. . .. . . .. .. .. .. .. .. .
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I. Der Streit aus der Sicht der Soziologie. . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. .. . . .
15
1. Drei Richtungen im Streit um die afrikanische Philosophie..................
16
2. Der Begriff "Afrika" ........................................................
19
11. Struktur der Untersuchung .....................................................
20
Teill Wissenssoziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie A. Die Relevanz von Karl Mannheims Wissenssoziologie ................... . . . . . . . . . . .
23
I. Soziologie in der Modeme .....................................................
23
11. Afrika als moderner Begriff ............ . .......................................
25
III. Die Struktur der Modeme nach K. Mannheim ..................................
28
1. Der Historismus . . . .. . . . . . . . .. . . .. . . .. . . . . . . .. . . .. .. .. . . . . .. . . .. . . . . . . . . .. . ..
29
2. Die Konkurrenz .............................................................
32
3. Die Möglichkeit einer Soziologie des Wissens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
4. Der "Relativismus" der Wissenssoziologie ..................................
37
IV. Wie soziologisch ist die Frage Was ist Afrika? ..................................
41
V. Die Konstruktion einer afrikanischen Wirklichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
VI. Kurze Zusammenfassung .. . . . . . . . . .. .. .. .. . . .. . . . . . . . . . . . . .. . .. . . .. . . . . .. . . . .. .
46
B. Afrika als historischer Prozeß .......................................................
47
I. Exkurs über soziales Handeln und Historizität: Zur GeschichtIichkeit Afrikas. . .
47
11. Grenzen der Darstellung der Geschichte des Begriffes "Afrika" . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
8
Inhaltsverzeichnis
Teil 1I Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
A. Die Erfindung Afrikas ..............................................................
54
I. Methodische Fragen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
H. Afrika als Ideencharisma .......................................................
56
1. Die sozialen Bedingungen für das Ideencharisma Afrika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
2. Die existentielle Frage ........ . . . .... . ......................................
63
III. Die Träger des Ideencharismas .................................................
64
B. Die Veralltäglichung "Afrikas" .....................................................
68
I. Afrika als Schicksais- und Wertegemeinschaft ..................................
68
1. Exkurs: Tradition in der Moderne: Wie modern ist Afrika? ............... . ..
73
2. Die Entwicklung eines politischen Diskurses ................................
77
a) Nkrumahs Conscientism und Nyereres Ujamaa ..........................
81
b) Die Entwicklung eines religiös-philosophischen Diskurses...............
85
c) Die Ethnophilosophie ....................................................
90
d) Die Entwicklung eines intellektuellen Diskurses ...................... . ..
96
e) Leopold Sedar Senghor und die Negritude...............................
99
11. Die gesellschaftliche Konstruktion einer afrikanischen Wirklichkeit ............ 105
C. Die Versachlichung "Afrikas" ...................................................... 11 0 I. Die sozialen Bedingungen der Versachlichung .................................. 11 0
1. Die Radikalisierung des politischen Diskurses in Afrika ..................... 118 2. Amficar Cabral und der Befreiungskampf als kulturelle Tat .............. . . . . 119 3. Die rationale Kritik der afrikanischen Essenz ................................ 126 a) Paulin Hountondji oder die Notwendigkeit eines autonomen Diskurses... 129 b) Kwasi Wiredu oder die Kritik der Unvernunft............................ 131 4. Afrika als Kulturbegriff ..................................................... 134 11. Die Suche nach einer legitimierenden afrikanischen Kultur..................... 138 III. Konsolidierung einer afrikanischen Wirklichkeit................................ 140
Inhaltsverzeichnis
9
Teil III Die Ästhetik der afrikanischen Moderne A. Gibt es eine Soziologie der afrikanischen Intellektuellen? ........................... 148 I. Einführung in die Soziologie der afrikanischen Intellektuellen .................. 148 1. Methodische Fragen......................................................... 152 2. Mannheims wissenssoziologischer Ansatz...... . ............................ 154 a) Interpretation der Weltanschauung............................... . ....... 155 b) Objektivsinn, intendierter Ausdruckssinn und Dokumentsinn ............ 158 11. Die Interpretation des Streits um die afrikanische Philosophie .................. 161 III. Kurze Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 B. Der Kulturkonflikt um die Bedeutung Afrikas ....................... . .... . . . ....... 164 I. Soyinkas Verteidigung seines Theaterstückes ................................... 166
1. Appiahs Einwände gegen Soyinka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. Die Relevanz des Dokumentsinns ........................................... 171 11. Der Marxismus von Aquino de
Bragan~a
..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
1. Der afrikanische Hintergrund des Marxismus in Mosambik ..... . . . . . . . . . . . . . 172 2. Die Relevanz des Dokumentsinns ... . .......... . .................... . ....... 174
C. Zeit und Raum in der Soziologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 I. Zeit und Raum in der soziologischen Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
1. Zeit und Raum in der neueren Soziologie .................................... 177 2. Raum als soziologische Kategorie bei Georg Simmel ........................ 183 11. Exkurs: Die Konstruktion eines schwarzamerikanischen Raumes ............ . .. 187 III. Zeit und Raum in der Wissenssoziologie .... . ........... . ............. . ...... . .. 188 D. Zeit und Raum in der Konstruktion Afrikas......................................... 189 I. Über die Historizität sozialer Gebilde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
II. Exkurs über die Möglichkeit einer afrikanischen Geschichte .................... 191 III. Die Historisierung der afrikanischen Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 200
10
Inhaltsverzeichnis Teil IV
Kultursoziologie eines modernen Konstrukts A. Der Zusammenhang von Afrikanistik, Identität und Antimodeme ................... 204 I. Analytische Aspekte ........................................................... 204 1. Afrikanistik ................................................................. 206
2. Identität ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 208 3. Antimodeme ................................................................ 209 11. Afrikas Selbstreproduktion ..................................................... 211 B. Schlußbemerkungen: Was ist Afrika? ............................................... 214
Literaturverzeichnis ...................................... ~ . . . . .. . . . .. . . . . . . . .. . . . . ... 220
Personen- und Sachwortverzeichnis ................................................. 235
Einleitung In Afrika wird die Frage, ob es eine genuin afrikanische Philosophie gibt, seit langem diskutiert. Diese Debatte zieht sich bereits über Jahrzehnte hin und scheint kein Ende zu finden. Grundsätzlich stehen sich zwei Gruppen gegenüber. Die einen behaupten, es gebe keine afrikanische Philosophie, und die anderen beharren auf der Existenz dieser Philosophie. Diese Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, warum diese Auseinandersetzung stattfindet. Darüber hinaus wird versucht, die strukturellen Zusammenhänge herauszuarbeiten, die diese Auseinandersetzung überhaupt möglich machen. Der Streit um die afrikanische Philosophie hat inzwischen einige Entwicklungen nach sich gezogen, so z. B. den Zuwachs an philosophischen Fakultäten und philosophischen Zeitschriften '. Letztere spiegeln in ihrer Entwicklung und Orientierung die Züge der Auseinandersetzung wider und bieten ein Forum für die gegensätzlichen Meinungen. Die Einteilung in Für und Wider ist jedoch simplifizierend, obwohl sie die Philosophen selbst auch ziehen 2 . Der wirkliche Sachverhalt stellt sich differenzierter dar. Um ihn richtig zu deuten, wäre es angebracht, seine Konturen richtig aufzuzeigen. Der Streit um die afrikanische Philosophie umspannt viele Jahrzehnte, Themenbereiche und Motivationen. Er besteht aus einer Reihe von einzelnen Debatten und Auseinandersetzungen, bei denen sich einmal zwei Philosophen gegenüberstehen, die sich über die Bedeutung eines Begriffes uneins sind3 , und ein andermal zwei oder mehrere Philosophen, die der gleichen Front zuzurechnen sind, und sich trotzdem nicht einigen können, welche Rolle die Philosophie spielen sollte4 . I Um einige bedeutende Zeitschriften zu nennen: Second Order (University of Ife Press, Nigeria); Consequence (Inter-African Council); Thought and Practice (Philosophical Association of Kenya); Uche (University of Nigeria), Nsukka und Cahiers Philosophiques Africaines (Lubumbashi, Zaire), Quest (University of Lusaka, Sambia), Revue senegalaise de philosophie (Les nouvelles editions africaines, Dakar), usw. 2 Vgl. Bodurin (1985). S. XI. 3 Z. B. die Auseinandersetzung zwischen Kwasi Wiredu und Joseph Omoregbe über den Begriff "Wahrheit" in der Akansprache. Siehe dazu: Wiredu (1985); Omoregbe (1985). 4 Das ist der Fall bei Odera Oruka, der eigentlich der Gruppe angehört, die gegen den Begriff "afrikanische Philosophie" ist, und dennoch versucht, eine Philosophie zu entwickeln, die im afrikanischen Denken verankert ist. Siehe dazu: Oruka (1972, 1990). Ein anderer Philosoph, der der gleichen Gruppe zuzurechnen ist und trotzdem bemüht ist, die Ethnophilosophie nicht zu sehr herabzusetzen, ist Meinrad Hebga. Siehe: Hegba (1982).
12
Einleitung
Es gibt also viele Debatten, viele Überschneidungen, und die Fronten sind manchmal nicht klar. Nur beim genauen Hinsehen wird es deutlich, welche Überzeugungen den jeweiligen Positionen zugrunde liegen. Im Falle der Auseinandersetzung zwischen Kwasi Wiredu und Joseph Omoregbe beispielsweise ging es an der Oberfläche um die genaue Bedeutung des Begriffes "Wahrheit" in der Akansprache (Ghana). Dennoch legt eine sorgfältige Lektüre der Argumente einen anderen Schluß nahe. Kwasi Wiredu hatte aufgrund einer Analyse der Akansprache die Thesen aufgestellt, daß "to be is to be known" und" truth is opinion ,,5. Auf die Fragen, ob ein Gegenstand darin besteht, daß er erkannt ist, und ob die Existenz dieses Gegenstandes auch darin besteht, daß er erkannt ist, hatte der schottische Philosoph Berkeley in beiden Fällen mit Ja geantwortet. Wiredu dagegen hatte in Anlehnung an seine Analyse der Akansprache die erste Frage mit Nein und die zweite mit Ja beantwortet, denn ihm zufolge ist die Existenz eines Gegenstandes das, was man erkennt, nicht aber der Gegenstand selbst: "It is the existence of an object, not the object itself, that consists in being known,,6. Damit grenzte sich Wiredu von allen Formen des Idealismus und der Phänomenologie ab, "old and new", wie er sagte7 . Omoregbe war mit dieser These nicht einverstanden und zwar aus dem Grund, daß seiner Meinung nach Gegenstände unabhängig von menschlicher Erkenntnis existieren können. Daraus folgt, daß die Erkenntnis selbst keine Gegenstände konstituiert 8 . Wiredu gehört der Gruppe der Philosophen an, die die Ansicht vertreten, daß es keine afrikanische Philosophie gibt, während Omoregbe zur Gegenposition zu rechnen ist. Wiredus Ablehnung der Phänomenologie in diesem Fall entspricht seiner Distanz zur These der Existenz einer afrikanischen Philosophie. Paulin Hountondji, ein anderer Philosoph, der derselben Meinung ist wie Wiredu, brachte diesen Einwand deutlicher zum Ausdruck, als er sagte, die einzige afrikanische Philosophie, die es gibt, sei diejenige, die afrikanische Philosophen heutzutage entwickeln, also keine Philosophie, die von diesem wissenschaftlichen Tun unabhängig sei9 . Omoregbe betont die unabhängige Existenz von Gegenständen, um eben die Möglichkeit der Existenz einer afrikanischen Philosophie nicht von vornherein auszuschließen. Es gibt übrigens eine "phänomenologische Schule" in Afrika, die aus den gleichen Gründen die Ansicht vertritt, daß es eine afrikanische Philosophie gibt, die die Bemühungen der Afrikaner um Autonomie und Selbständigkeit prägen kann lO • Interessanterweise sind die meisten Vertreter dieser These christliche Wiredu (1985a), S. 48-49. Wiredu (1985b), S. 97. 7 Wiredu (1985b), S. 97. 8 Siehe dazu: Omoregbe (1985), S. 12-13. 9 Vgl. Hountondji (1970). 10 Siehe hierzu: Bimwenyi (1970,1971); Mbouyikebe (1969); Postioma (1967,1963). 5
6
Einleitung
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Theologen, die bemüht sind, die christliche Botschaft für Afrika relevant zu machen. Aus diesem exemplarischen Fall geht hervor, daß die Trennung zwischen dem Für und dem Wider zwar der Grundlage entspricht, die den Streit um die afrikanische Philosophie stützt, aber nicht ausreichend ist, um die verschiedenen Positionen zu deuten, die sich darin abspielen ll. Man hat versucht, Ordnung in diese Deutung zu bringen. Odera Oruka hat in diesem Zusammenhang vier Richtungen identifiziert 12, die seiner Meinung nach dem entsprechen, was sich tatsächlich an philosophischen Fakultäten, in Zeitschriften und Bücher abspielt. Die erste Richtung ist die der sogenannten Ethnophilosophie. Hier handelt es sich um europäische Sozialwissenschaftler und afrikanische Philosophen, die von der Existenz einer afrikanischen Philosophie überzeugt sind. In dieser Gruppe inbegriffen sind Werke wie die des belgischen Missionars Placide Tempels über eine Bantuphilosophie, die auf den Afrikanern gemeinsame metaphysische Vorstellungen abhebt, oder die des französischen Ethnologen Marcel Griaule über die Dogon, die von ihm als eine Bestätigung von Tempels' These empfunden wurden 13. Hierher gehören auch die Werke von afrikanischen Intellektuellen wie Alexis Kagame oder John Mbiti 14 . Beide haben - basierend auf der These der Existenz einer afrikanischen Philosophie - Untersuchungen gemacht, die davon ausgingen, daß die Sprachen und die religiösen Vorstellungen der Afrikaner von dieser gemeinsamen metaphysischen Bezogenheit zeugten. Masolo, ein Philosoph aus Kenya, hat diesbezüglich das Werk von Alexis Kagame und John Mbiti, aber auch Marcel Griaule als systematische Ethnophilosophie bezeichnet 15 . Damit meinte er die Tatsache, daß es aus der Notwendigkeit entstanden war, die ursprüngliche These von Tempels zu bestätigen und zu systematisieren. Oruka nennt auch eine zweite Richtung, und zwar die der professional philosophers, d. h. Philosophen von Berufs wegen. Es geht um Philosophen, die die Ansicht vertreten, daß es keine Philosophie im eigentlichen Sinne des Wortes gibt, sondern eben Volksdenken oder traditionelle Vorstellungen, die Europäer und Afri11 Ein anderes interessantes Beispiel ist die Debatte zwischen Bodunrin und Oruka. Bodunrin hatte in The Question of African Philosophy (1981) die These vertreten, daß das Fehlen der Schrift für die Unterentwicklung der afrikanischen Philosophie verantwortlich sei. Oruka reagierte mit der Feststellung, daß die Oralität die afrikanische Kultur kennzeichne. Die Behauptung, Afrikaner sollten ihre Philosophie schriftlich verfassen, bedeutet nur, daß man von ihnen verlangt, "unafrikanisch" zu sein. Siehe dazu: Oruka (1990), S. 13-14. Beim genauen Hinsehen läßt sich feststellen, daß sich Oruka als ein Philosoph versteht, der anhand Interviews mit afrikanischen Weisen die orale Philosophie Afrikas rekonstruiert. 12 Vgl. Oruka (1981). 13 Tempels (1979); Griaule (1970). 14 Kagame (1976); Mbiti (1969). 15 Masolo (1994), S. 68.
14
Einleitung
kaner aus verschiedenen Gründen afrikanische Philosophie nennen. Die in dieser Gruppe vertretenen Philosophen sind so unterschiedlich, daß es mir nicht angebracht scheint, sie durch das Merkmal "wider die afrikanische Philosophie" zu kennzeichnen. Bevor ich aber meinen eigenen Vorschlag mache, möchte ich die von Oruka identifizierten Richtungen zu Ende ausführen. Die dritte Richtung ist die der politischen Ideologen. Die Rede ist von afrikanischen Denkern, die versucht haben, aus dem Postulat einer afrikanischen Philosophie moderne politische Ideologien zu entwickeln. Diese Ideologien, so wie sie z. B. von Leopold Senghor, Julius Nyerere oder Nkwame Nkrumah konzipiert wurden, zielten darauf ab, eine spezifisch afrikanische politische Kultur zu entwickeln. Oft war die Rede von afrikanischem Sozialismus 16 , was den Versuch darstellte, die These zu bestätigen, daß die traditionelle afrikanische Lebensweise kommunistisch war. Zum Schluß identifiziert Oruka noch eine Richtung, und zwar die der Weisen, d. h. philosophical Sagacity. Sie besteht darin, weise Männer und Frauen zu suchen, die die kosmologischen Vorstellungen der jeweiligen Gemeinschaft gut kennen und die versuchen, daraus philosophische Systeme zu rekonstruieren, die den Gegenstand einer afrikanischen Philosophie bilden können. Diese Richtung unterscheidet sich von der Ethnophilosophie darin, daß sie nicht von der Annahme ausgeht, daß es eine afrikanische Philosophie gibt, sondern einfach aus der Art und Weise, wie afrikanische Gemeinschaften ihre Weltanschauung begründen, Schlußfolgerungen zieht, die den modernen afrikanischen Philosophen beschäftigen sollten 17. Diese vier Richtungen bilden laut Oruka den Hauptbestandteil der philosophischen Praxis in Afrika. Sie spiegeln die Art und Weise wider, wie der Streit um die afrikanische Philosophie durchgeführt wurde. Es gab nie klare Fronten, wenn auch die Beteiligten immer Stellung entlang der Trennungslinie für und wider die Existenz einer afrikanischen Philosophie bezogen haben. Dennoch scheinen diese Richtungen nicht deutlich genug Größe und Tragweite des Streites zu erfassen. Mein Unbehagen ergibt sich aus der Identifizierung der sogenannten "professional philosophers"-Richtung mit jenen Philosophen, die gegen die Idee sind, es gebe eine afrikanische Philosophie. Masolo erhob diesbezüglich den Einwand, daß ein besserer Terminus gefunden werden sollte, denn die Vorstellung, daß die Gegner der These von der Existenz einer afrikanischen Philosophie "professional philosophers" sind, impliziert, daß die anderen keine Philosophen sind 18 . Anstelle dieses Begriffes schlägt Masolo den Begriff "conceptual pragmatists" vor 19 . Der Hinweis auf einen konzeptuellen Pragmatismus würde somit der Trennungslinie entsprechen, die einerseits Philosophen kennzeichnet, die sich der Bezeich16
17 18 19
Siehe dazu: Nkrumah (1970); Nyerere (1968); Senghor (1961). Siehe dazu: Oruka (1990); Hallen (1986). Masolo (1994), S. 233. Ebd., S. 44.
Einleitung
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nung "Philosophie" großzügig bedienen, um afrikanisches Denken zu beschreiben, und andererseits Philosophen, die im Umgang mit der Bezeichnung "Philosophie" strenger sind. Die Schwierigkeiten bei der Identifizierung der verschiedenen Richtungen stammen daher, daß die Für-und-wider-Unterscheidung selbst sehr problematisch ist. Es mag philosophisch Sinn machen, eine solche Trennung zu ziehen, aber aus der Sicht der Soziologie hat der Streit um die afrikanische Philosophie eine andere Qualität. Diese kommt nicht zum Ausdruck, wenn man darauf beharrt, die verschiedenen Richtungen auf den Streit selbst zurückzuführen.
I. Der Streit aus der Sicht der Soziologie
Wie bereits angedeutet, gibt es viele Überlappungen. Um diese zu erfassen, ist man darauf angewiesen, einen Kontext zu entwerfen, innerhalb welchem sowohl die großen Konturen des Streites als auch die vielen einzelnen Auseinandersetzungen miteinander verbunden werden können. Das Interessante an dem Streit um die afrikanische Philosophie aus soziologischer Sicht ist nicht, ob es tatsächlich eine afrikanische Philosophie gibt oder nicht, sondern, daß es ihn überhaupt gibt. Aus diesem Interesse geht hervor, daß sich die Soziologie fragen darf, warum es den Streit gibt und was er bedeutet. Darüber hinaus interessiert die Soziologie, genau zu untersuchen, ob der Streit z. B. etwas dokumentiert, und wenn ja, wie man dorthin gelangen kann. Diese Fragen bilden auch den Kern dieser Untersuchung. Beim Streit um die afrikanische Philosophie scheint es um etwas anderes zu gehen, nämlich die Konstruktion einer afrikanischen Wirklichkeit. Damit führe ich zwei Beschränkungen in die Untersuchung ein. Es geht nämlich nicht um die Frage, wer recht hat, denn dies ist eine philosophische Frage. Was diese Untersuchung angeht, sind die Antworten auf die soeben genannte Frage irrelevant. Afrikanische Philosophen haben sich selbst mit der Frage beschäftigt, und zwar als Teilnehmer an der Diskussion selbst. Die wichtigsten Beiträge in den letzten Jahren sind die von V. Y. Mudimbe, D. A. Masolo, Tsenay Serequeberhan und Kwame A. Appiah2o . Mir geht es darum, nur die soziologischen Aspekte des Streites zu untersuchen, und ich kann dies tun, ohne daß ich Position zur Diskussion beziehen muß. Die zweite Beschränkung ergibt sich aus dieser Feststellung. Es geht in dieser Untersuchung nicht um eine Auseinandersetzung mit den Inhalten der jeweiligen afrikanischen Philosophen. Die Inhalte der Philosophie, die in die Auseinandersetzung einbezogen werden, interessieren mich insofern, als sie mir erlauben können, den Streit verständlich zu machen. Ich werde allerdings die Darstellung der Rechtfertigung der jeweiligen philosophischen Perspektiven bevorzu-
20
Mudimbe (1988); Masolo (1994); Serequeberhan (1994); Appiah (1992).
Einleitung
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gen, da diese am besten die wissens soziologisch relevanteren Fragen zum Ausdruck bringen, die dem Streit zugrunde liegen. Der Prozeß der Konstruktion dieser Wirklichkeit liegt dem Streit zugrunde. Anders fonnuliert: Der Streit ist nicht richtig zu deuten, ohne sich auf die Notwendigkeit, die Möglichkeit und die Sichtbarkeit einer afrikanischen Wirklichkeit zu beziehen, die letztendlich die Grundlage für die Auseinandersetzung liefert. Der Streit ist eng mit dieser Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit verbunden. Nicht ohne Grund bezeichnete Bodunrin - um auf einen afrikanischen Philosophen zurückzugreifen - den Aufruf einiger Philosophen, die Philosophie für Afrika relevant zu machen, als einen Aufruf zu einer Besinnung auf Afrika: "In Africa, a call for relevance is a call for Africanness,,21. Wenn wir uns diese Tatsache vor Augen halten, können wir in der Lage sein, die Kennzeichnung der verschiedenen Richtungen anders auszulegen. Es gibt natürlich einen Kern in der ganzen Auseinandersetzung. Dieser Kern besteht aus den zwei gegensätzlichen Positionen, nämlich für und wider die Existenz einer afrikanischen Philosophie. Dennoch sind die Zusammenhänge innerhalb des Spannungsfelds anders auszulegen als von Oruka oder Masolo vorgeschlagen.
1. Drei Richtungen im Streit um die afrikanische Philosophie
Ich erkenne drei Hauptrichtungen, deren Entwicklung aus der Auseinandersetzung mit dem Begriff Afrika hervorging. Zunächst gibt es die Ethnophilosophie, die aus drei Teilen besteht. Sie umfaßt erstens die Werke europäischer Ethnologen oder Missionare wie die der schon erwähnten Placide Tempels und Marcel Griaule und des Deutschen Janheinz Jahn22 . Diese sind für den Entwurf von grundlegenden metaphysischen Vorstellungen verantwortlich, die Afrika ausmachen. Diesem Postulat folgte eine zweite Gruppe, die sich überwiegend aus Afrikanern wie z. B. Kagame und Mbiti zusammensetzte und sich darum bemühte, daraus eine afrikanische Philosophie entstehen zu lassen. Ihre Bemühungen koinzidierten mit dem Streben einiger afrikanischer Theologen danach, ihre eigenen Erfahrungen als Afrikaner in die Auslegung der christlichen Botschaft einzubeziehen. Dieses Streben kennzeichnete insbesondere die sogenannte "phänomenologische Schule" der afrikanischen Philosophie, die vor allem nach dem 11. Vaticanum einen entscheidenden Impuls bekam. Es ist sicherlich kein Zufall, daß sich diese Schule in Zaire entwickelt hat, gerade in dem Lande, wo Placide Tempels das empirische Material für seine Spekulationen über die Bantuphilosophie gesammelt hatte. Es waren Philosophen wie beispielsweise Jean Kinyongo oder Marcel N. Tshiamalen21
22
Bodunrin (1985), S.viii. lahn (1961).
Einleitung
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ga 23 und Theologen wie Vincent Mulag0 24 , die die Bemühungen dieser Schule prägten. Außerhalb Zaires fand die Schule Anhänger bei Philosophen wie dem Nigerianer Theophilus Okere oder Theologen wie dem aus Kamerun stammenden JeanCalvin Bahoken25 und eben dem Kenyaner John Mbiti. Der dritten Gruppe gehörten Intellektuelle an, die das Postulat einer afrikanischen Philosophie auf die ägyptische Zivilisation zurückführten. Ihnen zufolge war diese Zivilisation von Schwarzafrika geprägt, und die dort entwickelte Philosophie wies Ähnlichkeiten mit den metaphysischen Vorstellungen der Bantu auf, so wie sie von Placide Tempels, Marcel Griaule und Janheinz Jahn, herausgearbeitet wurden. Führende Figuren dieser Richtung waren der senegalesische Nuklearphysiker Cheikh Anta Diop, der kongolesische Historiker Theophile Obenga und der nigerianische Philosoph Henry Olela. Cheikh Anta Diop und Henry Olela bemühten sich darum, die Wurzeln der Zivilisation überhaupt auf Afrika zurückzuführen. Sie argumentierten, daß die griechische Zivilisation nicht nur vom schwarzen Ägypten geprägt wurde, sondern auch, daß sie durch afrikanische Völkerwanderungen im Zuge der Ausdehnung der Sahara gegründet wurde. Obenga begnügte sich damit, einfach die These aufzustellen, daß die afrikanische Kultur auf gemeinsame Wurzeln zurückgeführt werden könne und daß die Zivilisation Ägyptens Ähnlichkeit mit ihr aufweise. 26 Diese erste Hauptrichtung bestand aus drei Gruppen, die sich fast in einem dialektischen Zusammenhang ergänzten. In der Tat: Wahrend Placide Tempels die These der Existenz einer afrikanischen Philosophie aufstellte, versuchten die anderen, sie zu bestätigen, indem sie sie in ihrer Konfrontation mit ihrem europäisch geprägten intellektuellen Standort zum Einsatz brachten. Es folgte eine andere Richtung, die sich nach der ersten richtete. Es ist die der politischen Ideologien, wie sie bei Nkrumah, Nyerere und Senghor zum Vorschein kommt. Mit Philosophie im engeren Sinne hat sie sehr wenig zu tun, dennoch war sie massiv an der Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit beteiligt. Es ging dabei darum, politische Konsequenzen aus dem Postulat einer afrikanischen Philosophie zu ziehen, die, wie bereits erwähnt, eine afrikanische politische Kultur prägen könnte. Es sollte bemerkt werden, daß sich diese politischen Ideologien unmittelbar vor und nach der Unabhängigkeit entwickelten, also in jener Zeit, als sich die Notwendigkeit der philosophischen Begründung der afrikanischen Andersartigkeit als eine
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Vgl. Kinyongo (1979,1982); Tshiamalenga (1977). Vgl. dazu: Mulago (1965). Vgl. Okere (1983); Bahoken (1967). Vgl. Diop (1974); Olela (1980); Obenga (1973).
2 Macamo
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Einleitung
existentielle Frage darstellte. Der Kampf um die Unabhängigkeit wurde ja auf der Grundlage dieser Andersartigkeit geführt, und die Entwicklung dieser politischen Ideologien stellte sich als eine logische Konsequenz dar. Die dritte Hauptrichtung umfaßt jene Philosophen und Intellektuelle, die der ersten Richtung kritisch gegenüberstehen. Ihre Kritik basierte auf der postkolonialen Erfahrung, die alles andere als rosig war. Diese Philosophen erwägen die theoretische Möglichkeit, daß das allgemeine Versagen Afrikas in der postkolonialen Zeit vielleicht auf das Postulat eines afrikanischen Weges zurückzuführen sei, das die Afrikaner daran gehindert habe, sich ernsthaft mit ihrer Lage auseinanderzusetzen. Philosophen wie die Kameruner Eboussi-Boulaga und Marcien Towa, der Beniner Paulin Hountondji und der Ghanese Kwasi Wiredu entwickelten ihre jeweilige philosophische Sicht als Kritik der Ethnophilosophie. Der katholische Priester Eboussi-Boulaga lehnte die Ethnophilosophie aus dem Grunde ab, daß sie keine Lösung, sondern die Krise der afrikanischen Identität zum Ausdruck bringe 27 . Marcien Towa wendete sich gegen Senghors Negritude als Ausdruck der Unterwürfigkeit Afrikas gegenüber Europa28 . Paulin Hountondji, der Philosoph, der das Wort "Ethnophilosophie" erfand, sah in der ,,Ethnophilosophie" einen Versuch der Europäer, ihre Überlegenheit weiterhin zu behaupten. Für Hountondji stelle die Ethnophilosophie keine Möglichkeit des Dialoges zwischen Afrikanern und Europäern dar, sondern die Einseitigkeit der Europäer, die einen ganzen Kontinent auf eine einzige metaphysische Grundlage stellen wollen 29 . Kwasi Wiredu kritisierte die Ethnophilosophie dafür, daß sie gerade die Eigenschaften forderte, die für die Kolonialisierung Afrikas durch Europa verantwortlich waren, nämlich Autoritarismus, Anachronismus und die Nichtkultivierung von analytischen Eigenschaften. Wiredu richtete sich nach der Vernunft, die ihm zufolge der Maßstab der Entwicklung Afrikas sein sollte3o . Innerhalb dieser Richtung gibt es auch Philosophen, die sich nicht aus der Kritik der Ethnophilosophie entwickelten, sondern aus der Kritik ihrer Kritik. Das ist der Fall bei dem Kenyaner Odera Oruka und dem Nigerianer Sodipo, die die "philosophische Weisheit" als Antwort auf die Kritik der Ethnophilosophie entwickelten. Ihrer Ansicht nach wäre es möglich, der afrikanischen Philosophie einen eigenen Gegenstand zu geben, und zwar die Rekonstruktion traditioneller Denksysteme, was dem Wunsch näher kommen könnte, die Philosophie für Afrika relevant zu machen. Auch in dieser dritten Hauptrichtung sind die neueren Bemühungen zu erwähnen, die, ausgehend von einer kritischen Stellung gegenüber der Möglichkeit eines 27 28
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Eboussi-Boulaga (1968, 1977, 1981). Towa (1971,1971,1979). Hountondji (1977). Wiredu (1980).
Einleitung
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autonomen afrikanischen Diskurses, den Begriff Afrika in Frage stellen. In diesem Zusammenhang ist zunächst der Ghanese Kwame A. Appiah 31 zu nennen, der die Konstruktion einer afrikanischen metaphysischen Einheit auf den Begriff Rasse zurückführte, um das ganze Vorhaben in Frage zu stellen. Zum anderen aber ist hier der Zairer V. Y. Mudimbe 32 von Bedeutung, der Afrika als solches als eine europäische Erfindung betrachtet und zu bedenken gibt, daß es wahrscheinlich nicht möglich sein wird, das wahre Afrika aufzudecken.
2. Der Begriff "Afrika"
Man sieht in dieser kurzen Skizze, daß die Reduzierung des Streites auf die Frage, ob es eine afrikanische Philosophie gibt, unzureichend ist. Sie löste zwar die ganze Diskussion aus, aber um eine soziologische Sicht der Dinge zu erreichen, muß die Frage anders gestellt werden. Dabei kommen ganz andere Qualitäten als die zum Ausdruck, die der Streit aufweist, nämlich die Produktion von Wissen über Afrika. Dieses Wissen produziert wiederum einen spezifischen afrikanischen Standort, und zwar als Kritik der Erfahrung der Modeme. Natürlich kann die Frage gestellt werden, ob denn die von Intellektuellen entworfene afrikanische Wirklichkeit auch den Vorstellungen des Durchschnittsafrikaners entspricht und ob meine Annahme nicht doch sehr intellektualistisch ist. Die Frage ist berechtigt, dennoch läßt sie sich entkräften. In der Soziologie hat man die Wahl zwischen dem, was wünschenswert (normativ) ist, und dem, was tatsächlich (objektiv) passiert. Afrika, so wie wir den Kontinent erkennen und in den Medien und in der Wissenschaft wiedererkennen, ist ein Produkt der Bemühungen der afrikanischen Intellektuellen, sich eine Wirklichkeit zu konstruieren, die heutzutage das Bild Afrikas prägt. Wünschenswert wäre es, den Beitrag der einfachen Afrikaner einzubeziehen, die sicherlich eigene Vorstellungen davon haben, was Afrika sein sollte. Dies ist dennoch sehr problematisch. Einerseits ist nicht klar, inwieweit das einfache Volk über Afrika reflektiert hat und, was mir naheliegend scheint, seine eigenen sehr lokalisierten Stücke Afrikas mit Sinnhaftigkeiten ausgestattet hat. Andererseits scheinen sich die einfachen Afrikaner in der Tat nach dem gerichtet zu haben, was die Intellektuellen über Afrika und das Schicksal des Kontinents reflektierten. Denn selbst der Begriff Afrika ist zunächst einmal eine intellektuelle Kategorie, die unter bestimmten historischen Umständen konzeptuell erfaßt wurde. Auch Afrikaner sind eine Erfindung der afrikanischen Intellektuellen. Bevor sich die Intellektuellen mit dem Begriff auseinandersetzten, gab es weder Afrika noch Afrikaner, jedenfalls nicht im Sinne einer selbsterfaßten Identität oder, noch genauer, im Sinne dessen, was die Ethnologen emisch nennen. Es gab ethnische Identitäten
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Appiah (1992).
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Mudimbe (1988).
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und Zugehörigkeit, die aber kein afrikanisches Bewußtsein, d. h. keine gemeinsame kontinentale Schicksals- und Wertegemeinschaft entwarfen. Diese letze Feststellung führt eine weitere Einschränkung in diese Untersuchung ein: das Afrika, das uns hier beschäftigen soll, ist jenes, das im Zuge der Kolonialisierung von afrikanischen Intellektuellen gedacht, produziert und geprägt wurde. Dieses Afrika war dasjenige, das zum ersten Mal von "Afrikanern" selbst im Sinne der Konstruktion einer Wirklichkeit thematisiert wurde. Natürlich ist der Begriff Afrika selbst älter als das Bemühen der Afrikanern im neunzehnten Jahrhundert. Schon die Römer und sogar die Griechen vor ihnen, sprachen über "Africa", "Nubien" bzw. "Aethiopia" und bezeichneten damit Teile des Kontinents, den wir heute Afrika nennen. Mit diesem und ähnlichen früheren Begriffe von Afrika werde ich mich in dieser Untersuchung aus zwei Hauptgründen nicht beschäftigen. Zum einen, weil die Berücksichtigung solcher Konzeptionen uns sehr weit führen würde, ohne dabei beachtliche theoretische Gewinne zu bringen, für das, was ich mir in dieser Untersuchung vorgenommen habe; zum anderen aber, weil es früher beim Begriff Afrika darum ging, einen Kontinent zu definieren und zu bezeichnen, ohne dabei Rücksicht auf die Meinung der Bewohner des Kontinents diesbezüglich zu nehmen. Es mag sein, daß es in ferner Vergangenheit ein afrikanisches Bewußtsein für Afrika gegeben hat. Es mag auch falsch gewesen sein, daß die Intellektuellen die bestimmenden Figuren bei der Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit waren. Wie gesagt, es geht hier um den Unterschied zwischen dem Wünschenswerten und der Realität. In dieser Untersuchung beschäftige ich mich mit der Realität, und demzufolge muß ich die Entstehung des Begriffes Afrika als empirische Realität auf das Tun und Denken der Intellektuellen unter bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen zurückführen. Ein Maßstab für diese Untersuchung muß sicherlich darin begründet werden, ob es ihr gelingt, die These aufzustellen, daß der Begriff Afrika zweierlei Bedeutungen haben kann. Einmal kann der Begriff in einem diskursiven, alltäglichen Sinne alles bedeuten, was jeder unter Afrika versteht; in einem analytischen Sinne jedoch - und das strebe ich in dieser Untersuchung an - kann der Begriff Afrika nur die Wirklichkeit bedeuten, die die Intellektuellen in den letzten hundert Jahren aufgebaut haben.
11. Struktur der Untersuchung
Und somit komme ich nun zur Struktur dieser Untersuchung. Sie besteht aus vier Teilen. Der erste Teil wird sich mit der theoretischen Grundlage meiner Fragestellung beschäftigen. In diesem Teil möchte ich für die Relevanz der Wissenssoziologie, vor allem wie sie von Karl Mannheim herausgearbeitet wurde, plädieren. Dabei werde ich die Fragestellung enger bestimmen und all die Deutungen, die
Einleitung
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hier in der Einleitung verstreut zu finden sind, systematischer formulieren. Ich hoffe dabei nicht nur die Relevanz von Karl Mannheims Wissenssoziologie unter Beweis zu stellen, sondern insbesondere eine der wichtigsten Fragen meines Vorhabens präziser zu formulieren, nämlich inwieweit "Afrika" ein moderner Begriff ist. Im zweiten und dritten Teil möchte ich anhand von Max Webers Charisma-Begriff eine idealtypische Geschichte des Begriffes Afrika entwerfen. Dieser soll uns die Momente aufzeichnen, aus denen heraus die afrikanische Wirklichkeit entstanden ist. Da ich allen Grund habe, davon auszugehen, daß der Streit um die afrikanische Philosophie ein soziologisches Problem ist, möchte ich den Rahmen aufzeigen, innerhalb welchem die verschiedenen Positionen sinnvoll und verständlich sind. Ich hoffe dabei meine Annahme noch besser zu formulieren, wonach nämlich der Streit nicht nur um die Existenz bzw. Nichtexistenz einer afrikanischen Philosophie geht, sondern vielmehr um die Dokumentierung von etwas anderem, nämlich der Konstruktion einer afrikanischen Wirklichkeit. Im vierten und letzten Teil möchte ich versuchen, die Fäden zusammenzuschnüren. Ich werde dies tun, indem ich den Zusammenhang von Afrikanistik, Identität und Antimodeme genauer untersuche, denn der Streit um die afrikanische Philosophie oder die Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit ist anhand dieses Zusammenhangs zu verstehen. Der theoretische Bezugspunkt für die Herstellung des Zusammenhanges wird die Wissenssoziologie von Karl Mannheim sein, die ich aber noch weiter präzisieren werde. Die Präzisierung wird unter Einbeziehung eines Begriffspaares, nämlich Zeit und Raum, noch prägnanter vollzogen. Dabei möchte ich das explizieren, was in Mannheims Wissenssoziologie nur impliziert wurde. Das Ziel dabei wird die Antwort auf die Frage sein, inwieweit es in der Wissenssoziologie möglich ist, über ein standortgebundenes Wissen zu reden. Wie ich hoffentlich zeigen werde, kann aufgrund der Einbeziehung des Begriffspaars ,,zeit und Raum" diese Frage positiv beantwortet werden. Es mag auf den ersten Blick verwirrend wirken, Karl Mannheims theoretischen Ansatz am Anfang und am Ende zu behandeln. Wie hoffentlich im Laufe der Untersuchung deutlicher werden wird, gibt es zwei Ansatzpunkte für den Einsatz von Karl Mannheims Wissenssoziologie. Erstens benutze ich seine allgemeine Sozialtheorie, die in seiner Wissenssoziologie beinhaltet ist, um die Fragestellung zu begründen. Dabei geht es darum, den theoretischen Rahmen abzustecken, inwieweit der Begriff Afrika modern bzw. eine intellektuelle Kategorie ist. Die Klärung dieser Frage geht mit der Darstellung des empirischen Materials einher, die ich mir im zweiten und dritten Teil vornehmen werde. In einem zweiten Schritt möchte ich das Material soziologisch interpretieren, d. h. der Frage nachgehen, welche Implikationen die Aussage hat, daß Afrika ein moderner Begriff ist. Dafür muß die Wissenssoziologie von Karl Mannheim weiter präzisiert werden, denn sie kann meiner Meinung nach das begriffliche Instrumentarium dafür abliefern, diese Interpretation vorzunehmen.
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Einleitung
Bis dahin wird es eine lange Reise sein, die gelegentlich unterbrochen wird, um an diesen Rastplätzen einige Zusammenhänge zu erläutern, die für die Argumentationslinie von großer Bedeutung sind. Ich werde Exkurse machen, die uns dazu bringen werden, uns mit verschiedenen Aspekten der afrikanischen Wirklichkeit zu befassen, wie z. B. das ästhetische Bewußtsein der Afrikaner und die Entstehung der Geschichtswissenschaft in Afrika. Die Unterbrechungen werden dem Zweck dienen, die Frage der afrikanischen Wirklichkeit immer enger und besser zu formulieren, so daß, wenn ich auf den Zusammenhang von Afrikanistik, identität und Antimoderne zu sprechen komme, keine losen Fäden aus der Argumentation heraushängen.
Teill
Wissenssoziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie A. Die Relevanz von Karl Mannheims Wissenssoziologie J. Soziologie in der Moderne In vielerlei Hinsicht ist das vorliegende Vorhaben gewagt. Zum einen, weil es einen ganzen Kontinent, d. h. Afrika, zum Forschungsgegenstand macht; zum anderen, weil es der Moderne einen Platz in der Analyse einräumt. Die Frage, die ich in dieser Arbeit zu beantworten versuchen werde, ist sehr einfach, nämlich: Was ist Afrika? Das Gewagte an dieser Frage besteht darin, daß sie eigentlich eine philosophische Frage ist. Sie ist in gewisser Hinsicht eine metaphysische Frage, zumal sie sich auf den ontologischen Status eines Begriffes bezieht. Afrika ist - genau gesehen - nur ein Begriff, der auf eine Wirklichkeit Bezug nimmt. In der streng nach Zuständigkeitsbereichen getrennten Wissenschaft gehört die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit zweifelsohne zur Philosophie. Es ist Aufgabe der Philosophie, Fragen über die transzendentalen Eigenschaften der Welt, in der wir leben, zu stellen. Die Philosophie setzt sich mit dem tiefsten Sinne unserer Existenz auseinander, und dabei stellt sie die konzeptuellen Rahmenbedingungen für die praktische Lösung der Rätsel der Welt. Die Frage Was ist Afrika? kann allerdings auch in einem soziologischen Sinne gestellt werden. Genau das, also die Möglichkeit diese Frage in einem soziologischen Sinne zu stellen, ist das Hauptanliegen dieses ersten Kapitels. Hoffentlich nehme ich nicht allzuviel vorweg, wenn ich zunächst einmal die Hypothese aufstelle, daß die Möglichkeit einer philosophischen Fragestellung überhaupt bereits eine soziologische Tatsache ist. Denn die Fähigkeit, sich mit der uns umgebenden Wirklichkeit auseinanderzusetzen, und die dazugehörige Überzeugung, daß dies getan werden muß, sind die Hauptmerkmale der Moderne. Die Moderne ist ein Synonym für Soziologie. Sie stellt sich dar als die praktische Umsetzung der Konsequenzen der Aufklärung, also jenes geschichtlichen Phänomens, das den Menschen zum Hauptbezugspunkt der Auseinandersetzung mit der Frage der Existenz machte. Genau das, also das Gespräch des Menschen mit sich selbst, macht die Soziologie überhaupt möglich.
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Teil I: Wissenssoziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie
Der Glaube an die Relevanz der Modeme für meine Fragestellung ist deshalb gewagt, weil heutzutage alles verdächtig ist, was der Modeme eine positive Rolle bei der Analyse wichtiger Probleme unserer Zeit zutraut'. Und der konzeptuelle Status Afrikas ist zweifelsohne ein wichtiges Problem. Aber der Begriff Afrika ist sehr problematisch. Das Elend des Kontinentes prägt sein Bild. Die wirtschaftliche Krise, die Dependenz der fortwährenden Existenz vieler Staaten von ausländischem Mitleid, die anhaltenden ethnischen Kriege, die politische Instabilität innerhalb vieler afrikanischer Staaten, kurz der Krisenherd Afrika bestimmt das Verständnis dessen, was man heute Afrika nennt. Bereits durch die Art und Weise, wie man Afrika untersucht, zeichnet sich die Voreingenommenheit ab, die diesem Verständnis zugrundeliegt. So kommt es vor, daß sich die Sozialwissenschaft zum Ziel setzt, Afrika anhand von zwei Gegensätzen zu untersuchen: einerseits im Blick auf das, was man als Tradition versteht, und andererseits innerhalb des Rahmens der Modeme 2 . Die erste Richtung betrachtet die afrikanische Krise entweder als Ausdruck einer inneren Unfahigkeit, sich zu entwickeln, oder als Ablehnung des Fortschritts schlechthin. Letztere versucht im Glauben an die Unaufhaltsamkeit des Fortschritts, die Hürden auf dem Weg zur Zivilisation und die Bedingungen für das Ziel herauszufinden. Der zairische Philosoph V. Y. Mudimbe 3 hat das Problem Afrika in Bezug auf diesen Gegensatz als eine dichotomisierende Struktur bezeichnet. Dieser dichotomisierenden Struktur zufolge läge zwischen einer schnell zurückgedrängten Tradition und einer Modeme, die sich als verschwommenes Ziel erweist, ein weites Feld, das den genauen Ausdruck der Marginalität des Kontinents wiedergibt. Angesichts der menschlichen Kosten der afrikanischen Krise ist die Suche nach einem Ausweg, unter welchen theoretischen Ansätzen auch immer, legitim. Man möchte nicht den gleichen Fehler begehen und nach dem Geschlecht der Engel fragen, während die Stadt brennt. Aber die Zeit ist reif dafür, daß man zu den Grundfragen zurückkehrt und sich die Aufgabe stellt, die erkenntnistheoretischen Eigenschaften des Gegenstandes zu untersuchen. Dementsprechend zielt die Frage, was Afrika ist, darauf ab, die soziologischen Bedingungen für die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit Afrika darzulegen. 4 I Der amerikanische Sozialtheoretiker, Frank J. Lechner stellt dieses Problem anders dar, nämlich daß, seitdem man entdeckt zu haben scheint, daß die Modeme eigentlich nicht erfüllen konnte, was sie versprochen hatte, der Sozialwissenschaft nur die Abfassung ihres Nachrufes bleibe: "All that remained was to write its obituary". Lechner (1992). 2 Diese Dichotomie hat eine Debatte angestoßen, die diese Gegensätze bestätigen. Es geht um den Streit um die Entwicklungssoziologie, vor allem die Meinungsverschiedenheiten zwischen "Modemisierungstheorien" und ihren Kritiken. Siehe hierzu, Amin (1977); Eisenstadt (1973); Furtado (1971); Parsons (1966) usw. 3 Mudimbe (1988), S. 4-5. 4 Die theoretischen Rahmen dieser Untersuchung stellt Mannheims Wissenssoziologie dar. Der Ausdruck "gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" kommt von Berger und Luckmann, die sich eine Bearbeitung der wichtigsten wissen soziologischen Ansätze vor-
A. Die Relevanz von Karl Mannheims Wissenssoziologie
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Nun ist es in der Tat so, daß diese Frage nur im Zusammenhang mit der Modeme gestellt werden kann. Ich habe bereits angedeutet, welches Verständnis der Modeme ich vertrete. Die Modeme ist ein Dialog des Menschen mit sich selbst, wie ihn die Aufklärung anregte. Die Ansicht ist weit verbreitet, sich unter Modeme einen Siegeszug der Vernunft vorzustellen. Das ist insofern wahr, solange man Kants Metaphysik, insbesondere seine epistemologische Begründung der Wissenschaft, als allgemeingültig betrachtet5 . In diesem Kapitel beschäftige ich mich mit der theoretischen Begründung der These, die dieser Untersuchung zugrundeliegt. Ich gehe davon aus, daß Karl Mannheims Wissenssoziologie die relevantesten Fragen über die soziologische Operationalisierung der Frage Was ist Afrika? stellt. Dementsprechend möchte ich zunächst einmal auf die Frage eingehen, unter welchen Voraussetzungen die Frage nach dem ontologischen Status Afrikas überhaupt möglich ist, und dann versuchen, diese Annahme theoretisch zu rechtfertigen, indem ich mich auf Karl Mannheims Verteidigung seiner Wissenssoziologie stütze. Also wird uns die Frage beschäftigen, inwieweit Mannheims Historisierung des Wissens meine Fragestellung möglich macht. Danach werde ich zur Möglichkeit meiner Fragestellung zurückkehren und die soziologische Natur der Frage Was ist Afrika? belegen. Anhand von Erkenntnissen aus dem Mannheim'schen Programm werde ich in der Lage sein, das ganze Vorhaben theoretisch zu rechtfertigen und einen Blick auf die zugrundeliegende Methodologie werfen.
11. Afrika als moderner Begriff
Seit der Aufklärung gehört es zu einer unseren festen Überzeugungen, daß wir den Fortschritt dem Sieg der Vernunft verdanken. Die zentrale Stellung dieses Begriffs Vernunft in der Definition der Modeme ist unumgänglich. Und logischerweise war die Gegenreaktion auf die Modeme daraufhin ausgerichtet, die Unentbehrlichkeit der Vernunft zu verwerfen. Man sieht heutzutage, vor allem in der sogenannten Postmoderne, wie sehr die Kritik der Modeme vom Versuch abhängt, die Souveränität der Vernunft zu stürzen. So sehr sich unser Zeitalter auch dadurch auszeichnet, daß das Leben durchrationalisiert wird, um es mit Max Weber zu sagen, die Menschheit sich im "eisernen Käfig" der Modeme gefangen befindet, so muß man zu der Feststellung kommen, daß das Wesentliche an der Modeme noch zu erwähnen bleibt. Denn wichtiger genommen haben. Mir scheint dieser Ausdruck dafür geeignet, die soziologische Rolle des Wissens in der Gesellschaft zu präsizieren. Berger I Luckmann (1978). 5 Für eine soziologisch relevante Auseinandersetzung mit Kants Begründung der Wissenschaft ist Georg Simmel unentbehrlich. Siehe dazu, Simmel (1986).
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Teil I: Wissenssoziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie
noch als die Vernunft ist der Moderne die Gesellschaft als Bezugspunkt der Auseinandersetzung mit dem tieferen Sinne der menschlichen Existenz einzusetzen6 . Man braucht nur an die Grundfrage der Soziologie zu denken, nämlich Georg Simmels Wie ist Gesellschaft möglich?? um zu sehen, daß die Moderne nicht einfach auf einen Rationalisierungsprozeß reduziert werden kann. Der Anbruch der Moderne war auch die Abenddämmerung einer geschichtlichen Epoche, in der die Neigung weit verbreitet war, der Metaphysik alles zu überlassen, was mit dem Sinn des diesseitigen 8 Lebens zu tun hat. Es ist oft gesagt worden, daß die Stunde der Soziologie mit der Aufklärung kam. Getreu der Argumentationslinie, derzufolge das Hauptmerkmal der Moderne der Bezug auf die Gesellschaft ist, also Wie ist Gesellschaft möglich?, wäre es nicht übertrieben zu behaupten, daß die Moderne eigentlich auf das Erreichen der Mündigkeit des Menschen arbeitet. Der Gießener Philosoph Odo Marquard hat diese Auffassung der Moderne sehr geschickt mit der Feststellung zum Ausdruck gebracht, daß sich die Moderne durch die Ästhetisierung der Kunst und der Wirklichkeit auszeichnet. Hier handelt es sich um eine soziologisch begründete Auffassung der Moderne. 9 Die Behauptung, daß die Moderne die Soziologie möglich macht, bedeutet, daß der Mensch in der Lage ist, die Geschichte zu hinterfragen. Er empfindet sich als Mittelpunkt der Geschichte und begnügt sich nicht mehr mit der Erfüllung seiner Aufgaben, sondern stellt die Frage, was das Ganze bedeute und ob seine Rolle angemessen ist. Man hat dieses Phänomen in der Soziologie Reflexivität IO genannt. Der englische Sozialtheoretiker Anthony Giddens 11 hat einmal die soziologische Aufgabe als eine doppelte Hermeneutik bezeichnet, und was er damit meinte, trifft den Kern der Besonderheit des modernen Moments: Die Interpretation der Gesellschaft dient als Grundlage für das gesellschaftliche Handeln, und dieses wiederum bringt Bedeutungen hervor, die interpretiert werden müssen. Die doppelte Hermeneutik kann in gewisser Hinsicht als eine Metapher für das Zeitalter der Moderne betrachtet werden, obgleich dem Vergleich bestimmte Einschränkungen obliegen, die mit dem Charakter der Aufklärung zu tun haben. Ich werde auf diese Fragen zurückkommen, denn nur ein solches Verständnis der Moderne rechtfertigt diese soziologische Operationalisierung einer metaphysischen Frage. Inzwischen sei es mir gestattet, davon auszugehen, daß diese AuffasWeiter unten werde ich mich mit dieser Hypothese beschäftigen. Simmel (1986). Diese Interpretation von Simmels Frage wird auch von folgenden Wissenschaftler vertreten: Frisby (1992); Dahme (1988). Interessant ist auch Rammstedt (1992). 8 Gemeint hier ist Max Webers religionssoziologische Unterscheidung zwischen dem ,,Jenseits" und der "diesseitiger Weltordnung". Vgl. Weber (1989). S. 95. 9 Marquard (1986). 10 Für eine interessante Auseinandersetzung mit diesem Begriff siehe Beck/Giddens/ Lash (1994). 11 Giddens (1982), S. 11-12. Alle Übersetzungen, sofern nicht anders angegeben, vom Verfasser. 6
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A. Die Relevanz von Karl Mannheims Wissenssoziologie
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sung der Modeme legitim ist. Die Frage stellt sich nun, wie man, davon ausgehend, die Modeme in Zusammenhang mit Afrika bringen kann. Es liegt nahe, die Annahme zu vertreten, daß "Afrika" eigentlich ein moderner Begriff ist. Die Art der Auseinandersetzung mit dem Begriff Afrika zeigt, daß wir es hier mit bestimmten sozialen Prozessen zu tun haben, die nur unter bestimmten strukturellen Voraussetzungen möglich sind. Akzeptiert man die Definition der Modeme als reflexives soziales Denken, so muß man konstatieren, daß diese Art des Denkens in Afrika nur in einem bestimmten historischen Moment stattfand und zwar mit der Kolonialisierung durch Europa. Die europäische Kolonialisierung Afrikas ist meiner Ansicht nach die Geburtsstunde der Modeme im schwarzen Kontinent und die Voraussetzung dafür, daß Afrika als gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert wird 12. Die wirtschaftlichen und politischen Bedürfnisse der Kolonialisierung lösten eine Welle der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kontinent aus, die dazu führte, daß die afrikanische Wirklichkeit im Mittelpunkt divergierender Interessen stand. Die Europäer erforschten die afrikanische Gegenwart und Vergangenheit, um den Kontinent besser zu bewältigen, und die Afrikaner selbst mußten sich damit abfinden, daß sie nicht die einzige waren, die ihre eigene soziale Wirklichkeit bestimmten, was sie dazu bewegte, Fragen über den begrifflichen Status Afrikas zu stellen. Es sollte niemanden überraschen, daß sich nicht jeder in Afrika mit diesen Fragen beschäftigte, sondern nur die Intellektuellen, also jene Schicht, die eine direkte Erfahrung der Modeme in Form von äußeren Erscheinungen erlebte wie dem Rationalisierungsprozeß 13. Die Einbeziehung Afrikas in die Modeme erfolgte durch die Schaffung einer Trennungslinie zwischen dem, was vor der Kolonialisierung existierte, und den Zielen der europäischen Präsenz in Afrika. Auf einer Seite lag die Tradition und auf der anderen die Modeme. Die Kolonialisierung forderte die Afrikaner heraus, sich Fragen über Afrika zu stellen, und sie bezogen Stellung entsprechend dieser Spaltung zwischen Tradition und Modeme. Manche l4 lehnten die Modeme schlechthin ab und hoben ein mythisches Afrika als Vorbild hervor. Andere l5 hießen die Modeme zwar willkommen, aber versuchten zugleich ein anderes Afrika zu konstruieren, ein Afrika, das sich nicht nach der Vergangenheit sehnte, sondern eines, das Konsequenzen aus der Kolonialisierung zogl6. Es gilt in dieser Arbeit, diese zwei Gegensätze zu untersuchen, und zwar, 12 Was natürlich nicht bedeutet, daß den Afrikanern vorher ihre Wirklichkeit gleichgültig war. Es bedeutet nur, daß sie von diesem Moment an dazu gezwungen waren, ihre ganze Weltanschauung in Frage zu stellen. 13 Die Moderne wird hier zunächst einmal als theoretische Möglichkeit und als Praxis gesehen. Als Möglichkeit offenbart sich die Moderne durch eine besondere Art der Fragestellung, als Praxis durch den Rationalisierungsprozeß. Weiter unten wird diese Unterscheidung näher belegt. . 14 Vgl. dazu: Kagame (1976); Obenga (1980). 15 Siehe z. B. Hountondji (1977); Wiredu (1980).
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Teil I: Wissens soziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie
wie sie durch die Afrikaner erlebt worden sind. Ich hoffe dabei drei Ansätze zu beweisen, nämlich erstens, daß Afrika ein moderner Begriff ist; zweitens, daß die Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit innerhalb einer sozialen Struktur stattfand, die man aufzeigen kann; und drittens, daß diese soziale Struktur die Reaktion der Afrikaner auf die Modeme in eine bestimmte Richtung zwang. Was ist Afrika? Wem gehört es? Das sind Fragen, die soziologisch nur mit wissenssoziologischen Ansätzen behandelt werden können. Afrika ist eine Wirklichkeit. Wie kam diese Wirklichkeit zustande? Wie erkennt man sie? Wer ist an ihrer Konstruktion beteiligt? Warum wird diese Wirklichkeit konstruiert? Was will man damit erreichen?
IH. Die Struktur der Moderne nach K. Mannheim
Alle diese Fragen wirft die Wissenssoziologie von Karl Mannheim auf. Es war Mannheims Verdienst, die Soziologie für die Analyse des Wissens relevant zu machen. Mannheims Wissenssoziologie untersucht den Zusammenhang von Wissen und Gesellschaft. Das Wissen ist in diesem Sinne das Selbstverständnis, also die Identität 17 , von Individuen in der Gesellschaft. Die Gesellschaft stellt den Rahmen dar, innerhalb dessen Individuen zu einem Selbstverständnis kommen. Diese Identität, oder in Mannheims Terminologie Weltanschauung, wird von der Gesellschaft beeinflußt, aber zugleich entwirft sie ein Bild dieser Gesellschaft. Der Zusammenhang ist dialektisch: Die Weltanschauung entsteht in einem bestimmten Rahmen. Dieser Rahmen kann wiederum durch Weltanschauungen verändert werden. Kurz, die Wirklichkeit ist ein dialektisches Sozialkonstrukt. Die Untersuchung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit steht im Mittelpunkt der Mannheim'schen Wissenssoziologie. Robert K. Merton l8 hat das Problem einer Wissenssoziologie theoretisch mit der Feststellung verschärft, daß sie den Zusammenhang von Sozialem und Wissen festlegen muß. Karl Mannheim war bereits auf diese Frage eingegangen. Ich kann hier nicht auf sein ganzes Werk eingehen, wohl aber die für das unmittelbare Anliegen relevantesten Teile hervorheben. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sind Mannheims Schriften über den Historismus l9 , die Konkurrenz 2o und die Voraussetzungen einer Wissenssoziologie 21 , die zusammen nicht nur seine SozialVgl. Heising (1990). Im vierten Teil wird diese Reduzierung des Selbstverständnisses auf Identität näher erläutert. Vorläufig sollte angenommen werden, daß die Identifizierung mit einern sozialen Standort das Selbstverständnis von Individuen prägen kann. 18 Merton (1968). Vgl. Longhurst (1989). 19 Mannheim (1964), S. 246-307. 20 Ebd., S. 566-613. 21 Ebd., S. 308 - 387. 16 17
A. Die Relevanz von Karl Mannheims Wissenssoziologie
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theorie wiedergeben, sondern auch das theoretische Rückgrat dieser Untersuchung bilden. In diesen Schriften findet die vorliegende Arbeit ihr theoretisches Zuhause, denn sie setzen sich mit der Modeme und mit der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit in einer Weise auseinander, die sehr relevant für die Fragestellung ist.
1. Der Historismus
Mannheims Thematisierung des Historismus hat zwei Ziele. Einerseits strebt er eine Widerlegung des Positivismus an und andererseits versucht er darzulegen, warum er glaubt, daß philosophische Fragen auch soziologisch dargestellt werden können. Mannheim akzeptiert die hermeneutische Grundprämisse des Historismus, nämlich die Idee, wonach die Bedeutung jedweden Handeins in der spezifischen historischen Konstellation verankert ist, in der es stattfindet. Im Gegensatz zur Naturwissenschaft bzw. zum Naturalismus, die sich auf die Autonomie der Vernunft als Grundlage jeglicher Suche nach der Wahrheit beziehen, beharrt der Historismus darauf, keinen festen Begriff der Wahrheit zu besitzen, sondern nur jene Wahrheit, die sich im Strom der Geschichte offenbart. Die Vernunft kann deswegen nicht in die Wahrheit der Geschichte hineinführen. Man muß eher zur Kenntnis nehmen, daß es keine Wahrheit außerhalb der Geschichte gibt, sondern nur jene, die durch die aktive Teilnahme am historischen Geschehen entsteht, also die standortgebundene Wahrheit. Nach der Auffassung der Vertreter des Historismus, darunter auch Mannheim, offenbart sich die Geschichte als zeitlicher Rahmen, innerhalb dessen der Sinn des Handeins zu finden ist. Die Geschichte fließt und mitsamt ihr die Wahrheit, aber letztere wird dadurch erlaßt, daß man am Geschehen beteiligt ist und daran Interesse hat, die eigene Interpretation des Handeins einzubringen. Mannheim behauptet, daß es in der Geschichte Wandel gibt. Nichts bleibt, wie es einmal war, aber der Wandel ist nie willkürlich. Es gibt Ordnung im Wandel, was damit zusammenhängt, daß die Geschichte ein Strom der Sinnhaftigkeiten ist. Die übliche Geschichtsphilosophie, die davon ausging, daß die Geschichte von einer sich nie veränderten Wahrheit geprägt sei, könne nicht erklären, warum die Geschichte unbekümmert immer wieder anders verlief, als es der Plan, den die Vernunft bereits für sie gemacht habe, vorgesehen hatte. Hier fällt Mannheims verzweifelte Erfahrung des ersten Weltkrieges in Europa auf22 , dessen katastrophale Folgen die Gewißheit vieler Europäer über die Autonomie der Vernunft stark erschütterte. Den Positivisten, die den historischen Wandel damit erklärten, daß sich die Vernunft verbreitete, trat Mannheim mit der Feststellung entgegen, daß man die Zukunft nicht voraussagen könne, auch wenn es eine bestimmte Ordnung in 22 V gl.: Frisby (1992). Auch Simonds führt Mannheims Bevorzugung des Historismus auf die Erfahrung seiner Generation zurück. Simmonds (1978).
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Teil I: Wissenssoziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie
der Geschichte gebe. Die geschichtsphilosophische Aufgabe bestehe darin, diese Ordnung in bezug auf die Relationalität23 des Begriffes der Wahrheit aufzudecken. Mit dieser Feststellung kommen wir zu einem sehr wichtigen Punkt in Mannheims Historismus. Mannheim lehnt die Rolle ab, die der Positivismus der Vernunft einräumt. Er sieht die Geschichte durch einen statischen Begriff gelähmt. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen, die er folgerichtig daraus zieht, reichen sehr weit in die epistemologischen Ansprüche der Philosophie hinein. Wie begründet er seine Zweifel? Mannheims Antwort zielt darauf ab, auf der einen Seite die Geisteswissenschaften deutlich von den Naturwissenschaften zu trennen und auf der anderen Seite den ontologischen Status der Geschichte als Grundlage geisteswissenschaftlicher Verfahren zu präzisieren. Mannheim hatte sich mit Kant vor allem im Hinblick auf die epistemologische Begründung der Wissenschaft auseinandergesetzt. 24 Kant hatte die Frage aufgeworfen, wie Wissenschaft möglich sei. In Anlehnung an Ernst Troeltsch, der Kants epistemologisches Subjekt kritisiert hatte, weil dieses bloß kontemplativ sei, was durchaus vereinbar mit Kants A-priori-Wissen wäre, argumentierte Mannheim für eine epistemologische Besonderheit der Geisteswissenschaft, die dadurch zustande komme, daß historisches Wissen nur deshalb möglich sei, weil das erkennende Subjekt sowohl am Geschehen beteiligt sei als auch einen Standort für die Betrachtung habe. Der Begriff einer sich nie verändernden Vernunft, mit der man die Naturwissenschaften epistemologisch begründen könne, erweise sich, auf die Geisteswissenschaften angewandt, als unbefriedigend, denn anders als bei Naturobjekten reagieren Menschen bewußt auf ihr Umfeld. Eben diese bewußte Reaktion auf das Umfeld zeichne das Objekt der Geisteswissenschaft aus und trage dazu bei, daß die Idee einer statischen Wahrheit keinen epistemologischen Sinn macht. Berger und Luckmann haben einmal die Soziologie und andere Geisteswissenschaften als epistemologische Unruhestijter25 bezeichnet. Die Lektüre von Mannheim bestätigt und begründet diese Feststellung. Die erkenntnistheoretischen Stärken des Historismus liegt nach Mannheims Auffassung darin, daß in der Modeme nicht eine transzendentale Wahrheit den Bezugspunkt der menschlichen Suche nach dem Sinne des Lebens ist, sondern die Gesellschaft selbst. Der Mensch ver23 Der Begriff "Relationismus" bedeutet bei Mannheim die Tatsache, daß Wissen nur aus einem bestimmten sozialen Standort, der dieses Wissen auch legitimiert, erreichbar sei. Vgl. dazu, Mannheim (1995); und für eine freundliche Auseinandersetzung mit diesem Begriff siehe, Maquet (1974). 24 In der Tat schrieb Mannheim: " ... Schon die zentrale Fragestellung gerade der kantisehen Erkenntnistheorie in der Form des "wie ist es möglich?" (daß es exakte Naturwissenschaften gibt) zeigt zur Genüge, daß die Erkenntnistheorie sich zwar prinzipiell und systematisch als fundierend gibt, faktisch aber und in ihrem strukturellen Aufbau, in ihrer konkret historischen Gestalt abhängig ist von jenen Erkenntnisgebieten, die zur Unterlage ihrer Analysen dienen". Mannheim (1964), S. 256. 25 Die Originalversion lautet "epistemological troublemakers". Berger / Luckmann (1991), S.15.
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wickelt die Gesellschaft in einen Dialog, er nimmt sie für sich in Anspruch. Nach der Ansicht Mannheims haben wir es mit dem Selbstbewußtsein zu tun, das in der Modeme die Mündigkeit erreicht. Es ist dieses Selbstbewußtsein, diese Selbstreferentialität, die ein soziales Umfeld schafft, innerhalb welchem verschiedene Standorte entstehen, die den Sinn des sozialen Handeins wiedergeben 26 . Die Soziologie wirkt deshalb epistemologisch unruhestiftend, weil sie sich ergänzt, sie rechtfertigt sich selbst 27 . Sobald man das Selbstbewußtsein in der Form des Historismus an Stelle der Vernunft plaziert, entpuppt sich die Epistemologie als eine bloße Rechtfertigung herrschender philosophischer Systeme. Bei den Naturwissenschaften kann die Epistemologie weiter die Rolle spielen, die die statische Eigenschaft des zentralen Begriffes der Vernunft braucht, um sich zu behaupten. Bei den Geisteswissenschaften dagegen verliert sie diese Rolle. Die Suche nach der Wahrheit innerhalb der Geschichte selbst macht durch eine Auseinandersetzung zwischen dem Selbstbewußtsein und dem sozialen Umfeld die Epistemologie überflüssig. Der Einbruch des Historismus mit der Behauptung des Selbstbewußtseins kündigt somit den Beginn eines neuen Zeitalters an, des Zeitalters der Modeme. Die Epistemologie wird nicht mehr metaphysischen Erwägungen überlassen, sondern sie rückt selbst in den Mittelpunkt des sozialen Handeins, so daß durch die Soziologie Fragen gestellt werden können, die früher Aufgabe der Philosophie waren. Mit dieser Bevollmächtigung der Soziologie schließt sich der Kreis des Historismus, zumindest was Mannheim angeht. Anstelle des Positivismus plädiert Mannheim für ein dynamisches Konzept der Geschichtsphilosophie, das mit keinem festen Begriff der Wahrheit arbeitet, sondern einem sich im Strom des historischen Wandels befindlichen Wahrheitskonzept. Die Selbstreferentialität des Wissens sorgt dafür, daß anstelle der epistemologisch wichtigen Frage Ist das richtig? nun die soziologisch relevante Frage Warum das? gestellt wird. Mannheims Gedanken zum Historismus bilden in diesem Zusammenhang den ontologischen Kern seiner Soziologie des Wissens. Nun stellt sich die Frage, welche methodologischen Konsequenzen er daraus zieht. Diese können eigentlich aus der soziologischen Herausforderung der Epistemologie abgeleitet werden. Ich habe 26 Nach dieser Auffassung der Gesellschaft wäre es wahrscheinlich gerechtfertigt, den Schluß zu ziehen, daß eine postmoderne Soziologie ein widersprüchlicher Begriff ist. Viele Verfechter der postmodernen Soziologie beziehen sich auf die Herabsetzung des analytischen Wertes des Begriffs "Vernunft" und die Pluralität von Diskurse, um für eine neuere Soziologie zu plädieren. Aber wie Mannheim zeigt, machen genau diese Faktoren die Soziologie überhaupt möglich. Lechner schreibt dazu: "By legitimating the role ofrational criticism and not imposing enlightened consensus on a pluralistic culture, modernity itself makes room for such reactions, though it does not necessarily spawn them. Only under special conditions do they subvert the very project itself". Lechner (1992), S. 75. Für eine gute Zusammenfassung der postmodernen Soziologie siehe Seidman/Wagner (1992). Auch interessant sind: Turner (1990); und KoslowskilSpaemann/Löw (1986). 27 Vgl. Kurzman (1994).
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bereits festgestellt, daß die Relevanz der Soziologie dort anfängt, wo die Philosophie aufhört. Mannheim hatte schon darauf hingewiesen, daß sich, während die Wissenssoziologie Tatsachen behandelt, die Epistemologie mit Fragen der Rechtfertigung beschäftigt. Die Philosophie fragt nicht nach dem Prozeß der Konstitution des Wissens, sondern hinterfragt die logischen Strukturen des Wissens 28 . Daß sie dabei eine bereits existierende Denkweise rechtfertigt, bestätigt nur das Bedürfnis nach einer Methodologie, die sich mit der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit auseinandersetzt. 2. Die Konkurrenz
Mannheim definiert das Soziale als eine Wirklichkeit, in der verschiedene soziale Impulse und Kräfte in Konflikt stehen. Es geht um die Interpretation dieser öffentlichen Wirklichkeit oder, anders gesagt, um die korrekte soziale Sichtweise. Die Konkurrenz wird als der Hauptfaktor im sozialen Handeln identifiziert, denn jede soziale Gruppe kämpft um die Durchsetzung ihres eigenen Verständnisses der Gesellschaft gegenüber dem der anderen Gruppen. Mit dem Begriff der Konkurrenz erklärt Mannheim das organisatorische Prinzip der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, denn genau in diesem Bestreben verschiedener sozialer Impulse und Kräfte, ihre soziale Sicht durchzusetzen, findet die Suche nach der gegenwärtigen historischen Wahrheit statt. Die Konkurrenz ist in dieser Hinsicht ein Begriff, der ein allgemeines soziales Verhältnis 29 zum Ausdruck bringt. Sie sorgt dafür, daß die Geschichte fließend bleibt, daß aus dem Chaos Ordnung kommt und der Wandel stattfindet. Die Konkurrenz kann allerdings nur dann diese Rolle spielen, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind. Diese hängen mit der besonderen Eigenschaft der Modeme zusammen. Erstens, wenn es keine allgemeingültigen oder akzeptierten Grundsätze gibt; zweitens, wenn es keine Hierarchie der Werte gibt; und schließlich, wenn es nur stark divergierende Epistemologien und Ontologien gibt. Diese drei Voraussetzungen sind in der Tat nichts anders als das, was ich bereits als die Mündigkeit der Geschichte bezeichnet habe. Das Selbstbewußtsein und die Möglichkeit der Soziologie treten in dem Moment auf, wenn keine Metaphysik, kein philosophisches System, keine Ontologie oder Epistemologie die Gesellschaft 28 Mannheim schreibt dazu: "Während die letztere eine quaestio facti beantwortet, klärt die erstere eine quaestio juris. Während eine wissenssoziologische Behauptung stets eine Tatsachenfeststellung enthält und durch widersprechende Tatsachen vernichtet werden kann, hängt die Lösung der erkenntnistheoretischen Frage weitgehend von dem hierbei zur Anwendung gelangenden, hierbei vorausgesetzten Wahrheitsbegriff ab". Mannheim (1964), S. 611. 29 Mannheim kritisiert in dieser Hinsicht auch die Ansicht derer, die die Konkurrenz als einen ökonomischen Begriff bezeichnen. Er schreibt dazu: " ... als die Physiokraten und Adam Smith die bedeutende Rolle der Konkurrenz im Ökonomischen aufwiesen, entdeckten sie nur eine allgemeine soziale Beziehung im besonderen Elemente des Ökonomischen". Mannheim (1964), S. 571 (Hervorhebung im Original).
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zusammenhalten, wenn es um den Sinn der Gesellschaft selbst geht, wenn die Gesellschaft zum Problem gemacht wird. Der prozessuale Aspekt ist dialektisch aufzufassen. Die verschiedenen Strömungen in der Gesellschaft streben demnach eine Synthese der Interpretationen der Wirklichkeit an, bis diese nicht mehr bindend ist und sich der Prozeß wiederholt. An dieser Stelle sollte ich zunächst einmal kurz zusammenfassen, was ich bis jetzt Mannheim entnahm. Wie oft betont wurde, steht Mannheims Wissenssoziologie in engem Zusammenhang mit dem Historismus, dessen Hermeneutik die Grundlage für den verstehenden Anspruch der Wissenssoziologie liefert. Die Geschichte wird als sinnstiftender Strom betrachtet, weil die erkenntnistheoretische Grundlage der Geisteswissenschaften davon ausgeht, daß es keine höchste Wahrheit außerhalb der aktiven und bewußten gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, also außerhalb des sozialen HandeIns, gibt. Die Wahrheit ist standortgebunden, und zwar in dem Maße, in dem verschiedene soziale Kräfte innerhalb eines sozialen Umfelds darum konkurrieren, ihre eigene Einschätzung der Wirklichkeit durchzusetzen. Mit dem Historismus begründet Mannheim die methodologischen Überlegungen hinter seiner Wissens soziologie, und seine Gedanken zum Begriff Konkurrenz zielen darauf ab, das Verhältnis zwischen dem Wissen einerseits und dem sozialen Umfeld andererseits soziologisch zu problematisieren. Das Ergebnis ist eine plausible Sozialtheorie, der nur noch eine metaphysische Rechtfertigung fehlt. Es ist schon oftmals erwähnt worden, daß das Scheitern der Epistemologie, zumindest aus der Sicht des Historismus, die Möglichkeit der Wissenssoziologie hervorrief. Die Verteilung von schlechten Noten an die Epistemologie sollte nicht so verstanden werden, als ob die Wissenssoziologie auf Dauer vollkommen auf eine klare philosophische Begründung verzichten könnte. Mannheim selbst sprach sich ausdrücklich für eine Zusammenarbeit von Philosophie und Soziologie aus: " ... Ich will nicht ... durch die Soziologie die Philosophie ersetzen. Die Philosophie ist eine besondere Problemebene für sich. Ich bin ferner nicht nur nicht gegen, sondern ausdrücklich fiir Metaphysik und Ontologie, lehre sogar ihre Unentbehrlichkeit für die seinsverbundene Art der Empirie ... und bin nur dagegen, daß sie unerkannt ihr Wesen treibt und Partikulargeltungen verabsolutiert. Auch die Wissenssoziologie stößt in ihrem Rekurs auf eine von ihr vorausgesetzte Ontologie. Für die philosophische Ontologie leistet die wissenssoziologische Relationierung die Revision der bisher als Absolutheiten kursierenden Partikularitäten des Seins, um jenen Pseudometaphysikern den Boden zu entziehen, die unser politisches soziologisches Denken belasten,,30.
Karl Mannheim ist also nicht gegen die Philosophie per se, sondern gegen eine Beschränkung der philosophischen Aufgabe auf die Funktion einer Rechtfertigung dubioser erkenntnistheoretischer Ansätze. Um gerade die Philosophie von diesen theoretischen Fesseln zu befreien, plädiert Mannheim für eine andere erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaft und grenzt den zeitlichen und 30
Mannheim (1982), S. 434 (Hervorhebung im Original).
3 Macamo
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räumlichen Rahmen der soziologischen Aufgabe so ab, daß sich die Notwendigkeit einer eigenen Metaphysik unüberhörbar zeigt. Auch wenn nach Mannheims Ansicht die Philosophie unentbehrlich ist, so stellt er zugleich fest, daß man nicht auf die soziologische Sicht verzichten kann? I
3. Die Möglichkeit einer Soziologie des Wissens
Aus dieser Auseinandersetzung mit dem ontologischen und epistemologischen Status der Wissenssoziologie geht hervor, daß die naheliegenden Grundannahmen dieser Sozialtheorie auf eine Feststellung reduziert werden können, nämlich daß nicht jede Frage in jedem historischen Moment gestellt werden kann: "Ganz besonders sind wir ... in den Geisteswissenschaften der Überzeugung, daß eine Frage nicht in jeder geschichtlichen Situation gestellt, geschweige denn gL'liist werden kann ... ,,32, und das aus dem einfachen Grund, daß sich intellektuellL: hagen aus bereits existierenden praktischen Problemen ergeben?3 Das entspricht schließlich den zugrundeliegenden historistischen Behauptungen von der Standortgebundenheit und der seinsverbundenen Natur des Wissens. Die Grundfrage der Wissenssoziologie zielt dementsprechend darauf ab, die intellektuellen und existentiellen Faktoren aufzudecken, die dazu führten, daß ein bestimmtes Problem entstand, und die Bedingungen für die Lösung desselben: "Das Hauptziel besteht darin, in einem jeweiligen Querschnitt der Geschichte die geistigsystematischen Standorte herauszuarbeiten, aus welchen heraus gedacht wurde. Es gilt aber dann, diese nicht als rein theoretische Gegenspieler zu betrachten, sondern ihrer lebendigen Verwurzelung nachzugehen, indem man zunächst jene metaphysischen Voraussetzungen herausstellt, in die diese systematisch gestalteten Standorte verankert sind. Hat man diesbezüglich Klarheit erlangt, so muß man sich fragen (gerade mit Hilfe dieses metaphysischen Hintergrundes), zu welchen innerhalb derselben Epoche vorhandenen Weltwollungen dieser oder jener "Denkstil" zurechenbar ist. Hat man auch hier die Entsprechungen gefunden, so hat man auch die geistigen Schichten, die einander jeweils bekämpfen. Erst nach dieser immanenten Weltanschauungsanalyse beginnt die eigentliche soziologische Aufgabe: wenn man fragt, welche sozialen Schichten jeweils hinter den geistigen Schichten stehen".34
Das spezifische Problem einer Wissenssoziologie wird von Mannheim in der Art behandelt, daß eine Konstellation von vier Faktoren festgestellt wird, die zur
Entstehung der Wissenssoziologie beigetragen hat. Dabei spielt, wie schon ange-
31 " ... wenn wir in die gegenwärtige, oft wirklich in Verzweiflung treibende Denklage... einigermaßen eine Klärung bringen wollen, [ist] die soziologische - in diesem Falle die wissenssoziologische - Fragestellung unerläßlich ( ... )". Mannheim (1964), S. 612-613. 32 Ebd., S. 309. 33 "Wenn irgendwo, so bewährt sich hier das Wort: daß etwas, um zum Problem zu werden, zunächst im Leben problematisch geworden sein muß." Ebd., S. 310. 34 Mannheim (1964), S. 385.
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deutet, der Anbruch der Modeme eine wesentliche Rolle in der Möglichkeit der Wissenssoziologie. Zunächst einmal stellt Mannheim fest, daß die Selbsttranszendenz oder die Selbstrelativierung des Denkens der erste Faktor ist. Gemeint ist hier die Seinsverbundenheit des Denkens, d. h. dem Denken wird der philosophische Boden entzogen, und man stellt fest, daß das Denken nicht wertfrei ist, sondern daß es sich auf bestimmte existentielle Referenzpunkte bezieht. Das Denken wird somit aus dem außertheoretischen Bereich herausgeholt, in dem es immer wieder angesiedelt wird, und problematisiert. Wir sollten uns hier nicht länger aufhalten, denn es werden theoretische Probleme erwähnt, mit denen uns zu beschäftigen wir noch Gelegenheit haben werden. Es sei nur kurz darauf hingewiesen, daß Mannheim selbst diese Probleme hervorhebt, Probleme, die oft dafür sorgten, daß seine ganze Sozialtheorie zurückgewiesen wurde. Das Problem beruht auf dem theoretischen Status der Behauptung, daß das Denken seins verbunden sei, was natürlich den Raum für den Vorwurf eröffnet, daß der Relativismus eine unmögliche theoretische Position ist. Man könne schwer behaupten, das Wissen sei relativ, ohne dabei selbst in die Falle zu geraten, daß die eigene Behauptung auch relativ ist und man somit nicht in der Lage ist, seinen Anspruch auf Überzeugungskraft zu begründen. Wie gesagt, wir sollten uns hier nicht aufhalten. Die Kritik von Karl Mannheims Ansätzen wird später behandelt. Für den Moment möchte ich zunächst nur davon ausgehen, daß in dieser Konstellation, der Mannheims Notwendigkeit der Wissenssoziologie zugrundeliegt, die Selbstranszendenz des Denkens eine Rolle spielt. Dieser Gedanke sollte allerdings nicht schwer nachvollziehbar sein, denn damit stellt man nur eine Tatsache fest, die zur Geschichte gehört, nämlich die Referentialität des Denkens. Nur hat man früher das Denken in bezug auf eine Religion oder Ähnliches betrachtet. Logischerweise bildet diese Feststellung noch kein Kriterium für die Besonderheit des wissenssoziologischen Moments. Damit kommen wir dem zweiten Faktor in der wissenssoziologischen Konstellation näher, nämlich der außertheoretischen Zerstörung der Wirksamkeit theoretischer Ansätze. In Anlehnung an die phänomenologische Differenzierung zwischen der Negation des Wahrheits anspruchs einer Idee und der Feststellung der Funktion einer Idee 35 weist Mannheim auf eine Konsequenz der Selbsttranszendenz des Denkens 35 Mannheim schreibt diesbezüglich: "Es gilt hier die phänomenologische Differenz ins Auge zu fassen, die zwischen einer "Negation", dem "Bezweifeln" einer Idee und ihrer "Funktionalitätsbestimmung" besteht. Negiere ich eine "Idee", so setze ich sie selbst als "Thesis" voraus und stelle mich dadurch noch immer auf denselben theoretischen (und ausschließlich theoretischen) Boden, auf dem sie sich selbst konstituiert. Auch wenn ich die "Idee" bezweifle, mache ich die Setzung als Voraussetzung mit. Nur wenn ich eigentlich darauf gar nicht eingehe (oder das Schwergewicht nicht auf dieses Eingehen lege), ob etwas wahr sei, sondern Ideen lediglich in ihrer außertheoretischen Funktionalität erfasse, entsteht eine Enthüllung, die eigentlich gar keine theoretische Widerlegung ist, sondern eine vom Leben her vollzogene Auflösung der Wirksamkeit dieser Ideen. ". Mannheim (1964), S. 315 (Hervorhebung im Original).
3*
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hin, nämlich darauf, daß nicht der Anspruch auf Wahrheit im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht, sondern die sozialen Gegebenheiten hinter dem Anspruch. Dieser Anspruch wird einem sozialen Interesse zugerechnet, und damit wird auch eine theoretische Auseinandersetzung überflüssig. Der dritte Faktor hängt mit der Seinsverbundenheit und Standortgebundenheit des Wissens zusammen. Es geht hier um den Terminus des Drangs zur Transzendenz, denn wenn kein metaphysisches Gebäude mehr das Denken rechtfertigt, wenn keine theoretischen Ansätze mehr eingesetzt werden können, um die ideologische Belastung eines Wahrheits anspruchs zu widerlegen, stellt sich, und zwar dringlich, die Frage des Bezugspunkts der wissenssoziologischen Ansätze. Mannheim stützt sich in diesem Punkt auf den Historismus, demzufolge die Wahrheit im Strom des historischen Geschehens zu finden sei. Die Relevanz des Historismus wäre allerdings nicht angebracht, wäre das Selbstbewußtsein nicht an die Stelle des Religiösen oder Ekstatischen getreten. Es ist in der Tat dieses besondere Moment der menschlichen Evolution, wenn die Gesellschaft thematisiert wird (Wie ist Gesellschaft möglich?) wenn sie zum existentiellen Bezugspunkt gemacht wird. Anders ausgedrückt, es ist die Stunde der Soziologie: ,,[M]it der Konstituierung der Soziologie aus dem positivistischen Bewußtsein heraus wurde der neue ontische Ort gegeben, von dem aus die theoretische Immanenz von nun an transzendiert werden sollte".36 Der vierte Faktor sollte uns keine Schwierigkeiten mehr bereiten. Demzufolge begnügt man sich nicht mehr mit der existentiellen Einordnung einer einzigen Idee, sondern mit der Seinsverbundenheit ganzer Weltanschauungen. Damit bestätigt man die Geschichte als den einzigen zeitlichen und räumlichen Rahmen, innerhalb welchem sich die Wahrheit offenbart. Schließlich ist die Geschichte das Absolute, auf deren Bezug hin die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit stattfindet. Sobald sich diese Konstellation gebildet hat, wird auch eine wissenssoziologische Fragestellung gerechtfertigt. Die Aufgabe selbst ergibt sich aus der Feststellung dieser Konstellation: " ... die einzig mögliche Konzeption [ist] die, daß alle Schichten, in ihren eigenen Denktraditionen stehend, stets bestrebt sind, das jeweilige ganze Weltbild zu verarbeiten, synthetisch zu erfassen, woraus für eine konkrete Soziologie des Wissens die Aufgabe erwächst, in einem jeweiligen Stadium festzustellen, mit welchen systematischen Vorausset36 Mannheim (1964), S. 318. Heinz-Jürgen Dahme hat die Frage so gestellt: "Für die modemen Klassiker der Soziologie ist Fortschritt zwar weiterhin ein Thema, aber nicht mehr in dem Sinne, daß die gesellschaftliche Gegenwart als Fortschritt gedeutet wird und Fortschritt die Zentralkategorie ihrer Soziologien ist. Fortschritt wird ihnen zunehmend fraglich und führt zu einer Auseinandersetzung mit dem linearen Fortschrittskonzept der älteren Soziologie und zu der Frage, wie Soziologie als Wissenschaft dann möglich ist, wenn es keinen Fortschritt mehr gibt. Ist Fortschritt als Grundbegriff der Soziologie nicht mehr brauchbar, stellt sich die Frage, auf welcher Basis die moderne Soziologie neu aufzubauen hat." Dahme (1988), S. 225 - 6.
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zungen die verschiedenen in einem Zeitpunkt gegebenen Strömungen an die Verarbeitung desselben vom Leben her aufsteigenden Faktums herangehen und welch eigentümliche Spannungen zwischen dem mitgebrachten, in der eigenen Tradition sich entwickelnden systematischen Rahmen und den Konstruktionspunkten einerseits und dem neu einzuverleibenden Faktum andererseits entstehen,m.
Angesichts des Vorausgegangenen gilt nach wie vor Mannheims Definition der Wissenssoziologie " ... als eine Disziplin, die die Funktionalitätsbezogenheit eines jeden Denkstandortes auf das dahinterstehende sozial differenzierte Sein rekonstruieren will und im Werdegang der Standorte ihr Forschungsziel erblickt ... ,,?8 Nun sollten wir uns mit der Kritik des Mannheim'schen Programms beschäftigen.
4. Der "Relativismus" der Wissenssoziologie
Die Stichhaltigkeit der wissenssoziologischen Ansätze bedeutet natürlich lange noch nicht, daß es keine theoretischen Einwände gibt. Die Kritik der Wissenssoziologie ist so alt wie die Wissenssoziologie selbst. Ich habe bereits angedeutet, in welche Richtung sich diese Kritik bewegt. Grundsätzlich gibt es nur einen Einwand, der mehrere kritische Anmerkungen umfaßt. In der wissenssoziologischen Literatur ist diese Kritik als die Relativismusdebatte bekannt, und "... die Geschichte der Wissenssoziologie ist ... zu einem großen Teil zugleich die Geschichte dieser DebaUe,,?9 Es ist wohl offensichtlich, daß sich eine Theorie des Wissens, die auf der Standortgebundenheit des Wissens beharrt, nicht ohne weiteres dem Vorwurf des Relativismus entziehen kann. Mannheims Wissenssoziologie blieb dieses Schicksal nicht erspart, obwohl er selbst nicht nur diesen Vorwurf mehrmals zurückwies, sondern auch versuchte, sich vom Relativismus zu distanzieren. Eine gute Zusammenfassung dieser sogenannten Relativismusdebatte haben Volker Meja und Nico Stehr geliefert. 4o Obgleich sie versuchten, theoretische Konsequenzen daraus zu ziehen, bestanden sie doch darauf, der Relativismusdebatte vorzuwerfen, den Kern der wissenssoziologischen Ansätze nicht getroffen zu haben 41 • Der Vorwurf des Relativismus in Richtung der Wissenssoziologie besteht aus zwei theoretischen Säulen. Die erste Säule ist die Inkonsequenz des Relativismus Mannheim (1964), S. 325 (Hervorhebung d. Verf.). Ebd., S. 386- 7. 39 Stehr/Meja (1982), S. 893. 40 Ebd., S. 893 - 946. 41 So schreiben sie z. B.: "Wir haben zu zeigen versucht, daß die meisten Kritiker und Verfechter der Wissenssoziologie im Grunde darin übereinstimmen, daß der Relativismus für eine zufriedenstellend formulierte und abgegrenzte Wissenssoziologie kein ernsthaftes Problem darstellt." Ebd., S. 910 (Hervorhebung im Original). 37
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bezüglich seiner eigenen erkenntnistheoretischen Begründung und die zweite sein verhängnisvoller Charakter für die Wissenschaft, denn "... wer Wissenschaft treibt, strebt nach Wahrheit. Nur durch ihren Bezug auf die Idee der Wahrheit ist es möglich, die wissenschaftliche Betätigung anderen gegenüber abzugrenzen,,42. Ernst Grünwald hat wahrscheinlich den Kern der Kritik deutlicher zum Ausdruck gebracht mit dem Satz, " ... die These, alles Denken sei seinsverbunden, könne daher keinen Wahrheitsanspruch erheben, erhebt selbst Wahrheitsanspruch. Der Satzinhalt, der die Unmöglichkeit eines wahren Satzes behauptet, steht in kontradiktorischem Gegensatz zur Satzform, welche die Möglichkeit und die Wirklichkeit eines wahren Satzes impliziert; das bedeutet aber: das Urteil ist widersinnig im prägnanten Sinne des Wortes. Sind alle Urteile falsch, so ist auch das Urteil, daß alle Urteile falsch sind, falsch, also ist es nicht wahr, daß alle Urteile falsch sind USW".43
Es handelt sich hier um schwere Vorwürfe, aber irgend wie sind sie doch im Laufe der Zeit irrelevant geworden, denn einerseits könnte man fragen: "Wie oft muß die Widerlegung eines geistigen Programms wiederholt werden, bevor das Programm endlich widerlegt ist?,,44, und andererseits könnte man konstatieren, " ... daß die Debatte sich selbst erschöpft hat, steril geworden ist und nichts zu genuinen Entwicklungen in der Wissenssoziologie beitragen kann. Jahrzehntelang bestand die Relativismusdebatte aus nahezu endlosen Wiederholungen ,heiliger', aber gegensätzlicher Ansichten, und sie illustrierte daher gewissermaßen sowohl die Gewißheit der Absolutisten (daß Maßstäbe existieren) als auch die Überzeugung radikaler Relativisten (daß die Suche nach solchen Maßstäben zwecklos ist),,45.
Die Wissenssoziologie ist trotzdem weiter getrieben worden, wenn auch unter Decknamen46 . Sie hat das Interesse am Zusammenhang von Wissen und Gesellschaft geweckt und dabei eine riesige Welle von Untersuchungen hervorgebracht, die genau diesen Zusammenhang in den Mittelpunkt stellen. Ich habe nicht die Absicht, eine umfassende Auseinandersetzung mit der Kritik der Wissens soziologie zu betreiben. Es scheint mir vielmehr angebracht, Stellung hinsichtlich der Implikationen der Kritik an meinem Vorhaben zu beziehen. Von Sehelting (1982), S. 859. 43 GTÜnwald (1982), S. 749. 44 Stehr/Meja (1982), S. 897. 45 Ebd., S. 901. 46 Das ist natürlich eine sehr pauschale Behauptung, doch einige Versuche, Mannheims Ansätze zu operationalisieren, hinterlassen diesen Eindruck. So z. B. Stehr (1994). Nico Stehr scheint in die Falle der Bindestrichsoziologie zu fallen, denn die Idee eine Wissensgesellschaft scheint mir überflüssig zu sein, da nach Mannheim das Wissen selbst die Gesellschaft konstituiert. In Amerika gewinnt es an Ansehen, traditionelle wissenssoziologischen Fragen anhand literaturwissenschaftlicher Ansätze zu untersuchen. Siehe dazu Sommers (1994); auch interessant: Mitehell (1981). Niklas Luhmans Versuch, eine Eheschließung zwischen seiner Systemtheorie und der Wissenssoziologie zu vermitteln, bleibt fraglich, vor allem die Rolle, die seine Semantik spielt, ein Begriff, der eine Mischung aus Historismus und Weltanschauung unter positivistischen Ansätzen zu sein scheint. Luhmann (1995). 42
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Die Relevanz des Mannheim'schen Programms für eine Kultursoziologie der Bedeutung der Moderne in Afrika besteht darin, daß die Wissenssoziologie das Wissen historisiert und relativiert, letzteres aber nur bedingt. Ich beharre darauf, daß für eine vernünftige Analyse der afrikanischen Wirklichkeit solche analytischen Ansätze unentbehrlich sind. Gewissermaßen ist der Vorwurf der Widersinnigkeit der Relativierung des Wissens banal, denn letzten Endes kann sich kaum eine kulturwissenschaftliche Aussage mit dem Argument behaupten, sie sei richtig, weil sie nicht relativistisch ist. Man kann das Argument umkehren und behaupten, daß sich jede nicht relativistische Aussage dem relativistischen Vorwurf, daß sie seinsverbunden sei, nicht entziehen könne47 • Das ist natürlich kein Plädoyer für Nihilismus oder Skeptizismus48 , sondern einen Hinweis auf die Komplexität der Wirklichkeit. Die positivistische Vernunft ist kein Wegweiser der Gesellschaft, wohl aber der verstehende Anspruch der Geisteswissenschaften, indem er sich vom absoluten a priori fernhält und die Bedeutung der sozialen Handlung in der Geschichte sucht, wobei er die Tatsache anerkennt, daß sich der Sinn einer Handlung aus den Intentionen der sozialen Akteure ergibt. Es mag verwundern, daß gerade Mannheim, der Befürworter der Wissenssoziologie, den Versuch nie aufgab, die Wissenssoziologie doch gegenüber dem Relativismusvorwurf zu verteidigen 49 . Allerdings führt eine sorgfältige Lektüre seiner Arbeiten zum Schluß, daß diese Ablehnung des Relativismus mit dem ganzen Programm in Übereinstimmung stand. Der offensichtliche Relativismus der Seinsverbundenheit des Wissens sollte eigentlich als ein analytisches Instrument betrachtet werden, denn Mannheim beschränkte sich nicht darauf, die verschiedenen Weltanschauungen zu deuten. Er schaffte den Zugang in die Bedeutung einer sozialen Situation durch die Weltanschauung der Beteiligten, um aus dieser Betrachtungshöhe die ganze historische Dimension des Geschehens wiederzugeben50 . Deshalb sprach er lieber von Relationismus,51 einem sich vom Relativismus radikal unterscheidenden Begriff. Nach47 Der amerikanische Philosoph Milton K. Munitz setzt sich mit der positivistischen Hervorhebung des Prinzips der Verifizierung im Wiener Kreis auseinander und erklärt es für logisch falsch und erkenntnistheoretisch nicht besser als die Metaphysik. Seiner Ansicht nach kann dieses nur angewandt werden, indem man an den Normen der Wissenschaft festhält, was auch bedeutet, daß die Wahrheit nicht autonom ist, sondern von diesen Normen abhängt. Würde man andererseits dieses Prinzip als empirische Hypothese betrachten, so müßte man zur Kenntnis nehmen, daß es auch falsch sein könnte: "In either case, the appeal to the principle of verifiability would not be genuinely damaging or powerful enough to bring about the elimination ofmetaphysics". VgI. Munitz (1990), S. 12. 48 z. B. Grünwald (1982). 49 Stehr und Meja schreiben dazu: "Mannheim unterstreicht ( ... ) ständig, daß die Wissenssoziologie nicht in den Relativismus führt." Stehr/Meja (1982), S. 899. 50 VgI. dazu: Kecskemeti (1972), S. 32: ..... Mannheim's sociology of knowledge is profoundly relevant, because no amount of methodological purism can reiieve us of the task of accounting for the historical process as a whole and as defining our relationship to our cultu-
re."
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dem der Historismus die unmögliche Position der Epistemologie deutlich dargestellt hatte, war sich Mannheim darüber im klaren, daß ein den Geisteswissenschaften angemessener Wahrheitsanspruch analytisch nur wirksam sein könnte, wenn er einen Platz für den Analytiker im Mittelpunkt des Geschehens schaffte: " ... die Geschichte [ist] nur aus der Geschichte selbst sichtbar, nicht aber durch einen ,Sprung' "aus" der Geschichte, mit dem man sich plötzlich auf einen außerhalb der Geschichte gesetzten statischen Standpunkt willkürlich begibt. Der zunächst relativistische Typus des Historismus erreicht den Absolutheitspunkt allein dadurch, daß die vollendete Gestalt dieser Lehre das Absolute in die Geschichte selbst verlegt, dieses Absolute in der Geschichte werden läßt, wodurch allein die einzelnen Standorte, die zunächst als willkürliche erschienen, als Teil und Funktionen eines sinnvollen Gesamtprozesses, einer werdenden Totalität eingegliedert werden können,,52.
Weiter polemisierte er gegen Scheler: " ... um den Unterschied zwischen der Schelerschen und der eigenen Lösung im Gleichnis auszudrücken, könnten wir sagen, da, während wir gleichsam voraussetzen, daß Gottes Auge auf dem Prozeß ruht (daß also der Prozeß nicht sinnwidrig ist), Scheler voraussetzen muß, mit Gottes Auge selbst die Welt zu sehen,,53. Simonds sieht die Problematik in einer ähnlichen Weise: "Der hermeneutische Kreis ist unveräußerlicher Teil jeglicher verstehenden Methode. Die Tatsache, daß es weder ein Codebuch, mit dem man alle Bedeutungen herausfinden kann, noch eine Metasprache von der man die ganze verwendete Sprache ableiten kann, gibt, und aus Gründen der Logik der Kommunikation auch gar nicht geben kann, bedeutet, daß wir immer in der Mitte beginnen müssen: Wir müssen die Erde unter unseren Füßen als festen Boden [terra firma] annehmen um eine Position zu haben von der aus wir das unbekannte Land [terra incognita] untersuchen, aber wir müssen unseren Blick zurückwenden auf das, was wir als feststehend angenommen haben, sobald wir eine weitere Position erlangt haben, von der aus wir dies tun können. Eine solche Vorgehensweise ... scheint gegen die grundlegendste Logik der Methode zu verstoßen, wonach man, gemäß der kartesianischen Annahme, mit dem beginnt, was unzweifelhaft ist und mit sicheren Schritten weitergeht um das Unbekannte zu erobern; und genau in der Reichweite solcher Annahmen liegt größtenteils die feindliche Haltung der positivistischen Wissenschaftsphilosophen begründet, eine verstehende Methode überhaupt anzuwenden. Aber die einzige Alternative zu einer solchen Vorgehensweise ist die (dogmatische) Verleugnung der Historizität: In den Sozial- und Geschichtswissenschaften ist der Beobachter zwangsläufig ein fester Bestandteil der Struktur, die er untersucht. Wie seltsam diese Aufgabe auch sein mag, so muß er sich doch selbst aus seiner Position des Unwissenden herausziehen, indem er seine Stiefel schnürt und er handelt seine Lage keineswegs förderlich dadurch, daß er annimmt, er habe einen Felsen, auf dem er stehen kann, wenn es diesen Felsen gar nicht gibt".54 51 Viele Mannheim-Kritiken haben allerdings diesen Begriff als einen anderen Name für das gleiche Konzept, also für den Relativismus, betrachtet. Dazu siehe Stehr/Meja (1982), S. 900, insbesondere Fußnote 26 auf S. 936 - 937. 52 Mannheim (1964), S. 357. 53 Ebd., S. 370-1.
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Sowohl Mannheim als auch diejenigen, die seine Wissenssoziologie gegen den Relativismus-Vorwurf verteidigten, stimmten überein, daß der einzige erkenntnistheoretisch vernünftige Weg für die Wissenssoziologie genau derjenige sei, der darauf abziele, das Wissen zu historisieren und zu relationieren. Da der geisteswissenschaftliche archimedische Punkt mitten in der Geschichte liegt und nicht etwa draußen, müsse man das Risiko eines möglichen Relativismus-Vorwurfs eingehen. Ich kann diese Debatte hier nicht beilegen, aber noch weniger sollte ich mich davon abhalten lassen, auch diesbezüglich Stellung zu nehmen. Die Relevanz des Mannheim'schen Programms für die Untersuchung der Bedeutung der Modeme in Afrika liegt eben daran, daß es nur anhand solcher Ansätze möglich ist, sich auf festem Boden zu bewegen und die Afrikaner bei der Konstruktion ihrer Wirklichkeit zu betrachten. Aus Verzweiflung sind viele Afrikaner den Weg des Relativismus gegangen. Warum sie diesen Weg eingeschlagen haben, soll mich hier beschäftigen. Andere haben versucht, Afrika innerhalb moderner theoretischer Konstruktionen zu verstehen. Auch diese Option ist m.E. gescheitert, und wir sollten uns mit den Gründen befassen. Wir sollten uns mit der ganzen Frage der afrikanischen Wirklichkeit beschäftigen, und mit Karl Mannheim haben wir den idealen Wegbegleiter. Ich habe bereits darauf hingewiesen, wie ich es mir vorstelle, Mannheims Wissenssoziologie zu benutzen. Ich möchte mich im folgenden dieser Frage weiter annähern und gleichzeitig das Mannheim'sche Programm verteidigen.
IV. Wie soziologisch ist die Frage Was ist Afrika?
Eine der grundsätzlichen Annahmen bei der Inanspruchnahme der Wissenssoziologie für das Thema der afrikanischen Wirklichkeit bezieht sich auf "Afrika" als modemen Begriff. Diese Annahme ergibt sich daraus, daß sich erst, nachdem eine gewisse Konstellation erreicht worden war, die Frage des ontologischen Status Afrikas stellte. Die europäische Kolonialisierung Afrikas - man kann diese Tatsache nicht genügend betonen - zwang die Afrikaner dazu, sich mit Afrika auseinanderzusetzen. Man darf davon ausgehen, daß es in Afrika vor dem Kolonialismus keine Auseinandersetzung mit diesem Thema gab, zumindest keine mit modemen Begriffen geführte Auseinandersetzung. Gemäß der Methodologie des Historismus, den Sinn55 von Handlungen im Zusammenspiel dessen aufzudecken, was wir einer sozialen Gruppe und der ge54
Simonds. (1978), S. 86.
Die wissenssoziologische Forschung besteht aus drei Phasen. Erstens, die sinngemäße Zurechnung, d. h. die Rekonstruktion eines vollkommenen intellektuellen Systems, um die 55
Weltanschauung herauszufinden, die verschiedene geistige Impulse ausdrückt. Zweitens die
Faktizitätszurechnung, d. h. die historische Untersuchung aller Elemente, die man glaubt,
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Teil I: Wissenssoziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie
schichtlichen Entwicklung zurechnen können, wird meine Untersuchung die Art und Weise aufzeigen, mit der sich die Afrikaner mit ihrer Wirklichkeit auseinandergesetzt haben; dabei wird sich zeigen, daß dies nichts rein Afrikanisches an sich hatte - was auch immer das sein sollte56 - sondern, daß der Kontext und der Inhalt der Auseinandersetzung vollkommen modem waren. Es scheint hier nicht angebracht, eine ausführliche Definition der Modeme vorzutragen; es besteht trotzdem Anlaß genug, eine Arbeitsdefinition aus dem Mannheim'schen Programm abzuleiten, die alle Zweifel bezüglich der nicht-afrikanischen Natur dieser Auseinandersetzung beilegen kann. Max Webers Rationalisierungsprozeß als Hauptmerkmal der Modeme trifft auf meine Zwecke nicht ganz zu, obgleich er auf einer rein praktischen Ebene von analytischer Bedeutung ist. Auf die Art der Modeme, die sich hier als relevant erweist, wurde bereits mit Georg Simmels Frage Wie ist Gesellschaft möglich? hingewiesen. Es ist diese Modeme, die die Afrikaner dazu bewegte, sich Fragen über ihre Existenz zu stellen, und die Rationalisierungsmodeme stellte nur die strukturellen Rahmenbedingungen bereit, innerhalb welcher der Konkurrenzkampf um die Interpretation der afrikanischen Wirklichkeit stattfand. Man kann die theoretischen Impli~ationen dieser Sicht der Modeme so ausdrükken: Die Modeme als soziologisches Moment macht die Fragestellung möglich; die Modeme als Rationalisierungsprozeß entwirft die soziale Struktur der afrikanischen Auseinandersetzung mit der Modeme.
v. Die Konstruktion einer afrikanischen Wirklichkeit Über die Möglichkeit der Fragestellung und ihre Rahmenbedingungen hinaus liefert Mannheims Soziologie den sogenannten archimedischen Punkt für die Auseinandersetzung. Die Notwendigkeit eines solchen Punktes kann anhand eines kurzen Blicks auf die theoretischen Schwierigkeiten erläutert werden, die bei dem Versuch auftauchten, den ontologischen Status Afrikas außerhalb der Geschichte zu untersuchen. Der zairische Philosoph V. Y. Mudimbe 57 bediente sich der Theorie des Franzosen Michel Foucault58 , um gerade die Frage Was ist Afrika? zu untermit der Rekonstruktion in Übereinstimmung zu sehen. Drittens die soziologische Zurechnung, d. h. die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen dem Inhalt und Form der Weltanschauung im historischen Prozeß und der Zugehörigkeit und dem Standort der Gruppe, die die Weltanschauung trägt. Vgl. dazu: Pie (1992); auch Mannheim (1995), S. 263 -4. 56 Man kann Afrika als eine Essenz betrachten, was auch viele tun, oder als einen Prozeß, was meine Ansicht ist. Erstere führt direkt in den Relativismus, denn wenn man von einem afrikanischen Essenz ausgeht, legitimiert man zugleich den absoluten Wahrheitsanspruch dieser Essenz. Letzere allerdings scheint objektiver zu sein, denn Afrika als Prozeß bedeutet nur, daß man eine bestimmte Erfahrung anerkennt. Man darf aufgrund dieser Erfahrung von Afrika und Afrikanern reden, auch wenn es kein Afrika gibt. 57 Mudimbe (1988).
A. Die Relevanz von Karl Mannheims Wissenssoziologie
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suchen. Foucault machte sich bei vielen Intellektuellen in der sogenannten Dritten Welt mit seiner Neuauffassung des Wissens59 sehr beliebt. Nach Foucaults Definition gibt es kein objektives Wissen, sondern eine Repräsentation, die von den mächtigen Teilnehmern an einem Diskurs oft durchgesetzt wird, um die anderen effektiver zu unterdrücken. Foucault lehnte die Moderne ab und glaubte sich in der Lage, sie von außen zu beobachten. Anhand dieser Ansätze untersuchte Mudimbe den Begriff Afrika und kam zu den Schluß, Afrika sei eine Erfindung der Europäer, die zum Zweck der Kolonialisierung eine gewisse Vorstellung des Kontinents durchsetzten, die der Wirklichkeit nicht entspreche. Da sie aber die Macht besaßen, ihren Willen durchzusetzen, gelang es ihnen, dieses falsche Bild Afrikas zu verbreiten. Man sieht an diesem Beispiel die Anziehungskraft von Foucaults theoretischem Modell. Die theoretischen Schwierigkeiten sind aber auch nicht zu übersehen. Erstens, wenn das Wissen eine Vorstellung ist, also keiner Wirklichkeit entspricht, warum ist diese Repräsentation trotzdem erfolgreich gewesen? Die Macht allein kann doch kein falsches Wissen als Grundlage für eine in der Praxis erfolgreiche Politik der Herrschaft durchsetzen. Zweitens, angesichts der Falschheit dieser Vorstellung stellt sich die Frage, was das wahre Afrika ist und wie man zu ihm vordringt. Das erkenntnistheoretische Problem in dieser Formulierung liegt darin, daß man das falsche europäische Bild nur dann umstürzen kann, wenn man mit absoluten Begriffen herangeht, und doch genau dies wollte man vermeiden 60 . Drittens, man hat Mudimbe die Frage gestellt, wenn er so sehr gegen die europäische Vorstellung der afrikanischen Wirklichkeit sei, warum er dann diese mit europäischen Mitteln bekämpfe?61 In einem früheren Buch hatte Mudimbe darauf beharrt, daß Vgl. dazu: Foucault (1973; 1977). Der bekannteste davon war Edward Said, ein palestinensischer Literaturwissenschaftler, der das Buch, Orientalism,(1978) schrieb. Nach Saids Auffassung ist Orientalismus die falsche Repräsentation des Orients durch die abendländische Wissenschaft, die dem Zweck diene, die arabische Kultur zu unterdrücken, also genau wie es Mudimbe mit Afrika macht. 60 Diese Argumente wurden gegen Edward Said von Robert Young, angewandt. Young beschrieb Saids These als "Desorienting Orientalism" und fügte hinzu: "The problem of Orientalism is that without a concept of an inner dissension Said is constantly led simply to condemn Orientalism' s projections of dissonance on to external geographicalor racial differences - even as he himself repeats such a structure by identifying Orientalists as ,for' or ,against'. Meanwhile Orientalism's own internal divisions re-emerge inexorably in the series of theoretical contradictions and conflicts in Said's text" (Hervorhebung im Original). Young (1990), S. 140. 61 Manthia Diawara wendete sich gegen das, was er als eine neue westliche Ratio mitten im afrikanischen Diskurs bezeichnete: "Foucault's call for a pure discourse criticism, a discourse unconstrained by social appropriations, leaves unsaid the repression of non-westerners by Western discourse ... I would like to suggest that what is feared most in the West is not the emergence of discourses by Foucault, Marx, Freud, or Nietzsche, which are always I already appropriated; what is feared is the emergence of (an) Other discourse; one that excludes Western ratio. Because this would mean the break down of hierarchies between the West and the Other; the end of conquest and the removal of the self from the other's space; the breakdown of the security and comfort to which one was accustomed when one was able to predict 58 59
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Teil I: Wissens soziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie
es genüge, die Europäer dabei zu betrachten, wie sie Afrika erfänden!62 Später wehrte er sich mit dem Argument, demzufolge der westlichen Epistemologie nicht zu entkommen sei, jedenfalls nicht in der Gegenwart. 63 Das eigentliche theoretische Problem, Foucaults Entwurf betreffend, liegt bei zwei Annahmen, denenzufolge es möglich sei, einerseits historisierte Fragen mit positivistischen Ansätzen zu behandeln, und sich andererseits keine aktive Rolle im historischen Geschehen zu verschaffen. Mudimbe hat versucht, die europäische Erfindung Afrikas so zu untersuchen, als ob "Europa" und "Afrika" zwei statische Begriffe seien. Der ägyptische Sozialwissenschaftler Samir Amin hat dabei in überzeugender Weise gezeigt, wie sich auch Europa konstruiert hat64 , so daß letzten Endes weder "Europa" noch "Afrika" unveränderliche Begriffe sind, sondern zwei Wirklichkeiten, die dem Gesetz der Geschichte unterliegen. Mudimbe glaubte ferner, er könne sich das Privileg leisten, über Afrika zu sprechen, ohne dabei seine eigene epistemologische Position zu begründen. Kein Wunder, daß das Interessanteste an seinem Werk nicht die Erfindung Afrikas war, sondern dieses geheimnisvolle Afrika, dessen Schlüssel Mudimbe zu haben scheint. Afrika ist eine Wirklichkeit, an deren Konstruktion nicht nur Europäer beteiligt sind, sondern und hauptsächlich Afrikaner. Diesen Prozeß der Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit zu beobachten und zu untersuchen, ist das Hauptanliegen dieses Vorhabens. In bezug auf Karl Mannheims Wissenssoziologie sollte es leichtfallen, auf die Bedeutung der Moderne in Afrika einzugehen. Die Moderne ist der historische Moment, der die Frage nach der Identität und Zugehörigkeit Afrikas möglich machte. Die Tatsache, daß die Moderne von den Europäern nach Afrika gebracht wurde, hat zweierlei Bedeutungen.
the other's actions in one's discourse. In essence, the West fears the fear of the unknown. " Diawara (1990), S. 84. 62 Vgl. dazu Mudimbe: "echapper reellement aI'Occident suppose d'apprecier exactement ce qu'il en coiite de se detacher de lui; cela suppose de savoir jusqu'ou I'Occident, insidieusement peut-etre, s'est approche de nous; cela suppose de savoir, dans ce qui nous permet de penser contre I'Occident ce qui est encore occidental; et de mesurer en quoi notre recours contre lui est encore peut -etre une ruse qu' il nous oppose et au terme de laquelle il nous attend, immobile et ailleurs" mudimbe (1982), S. 44. 63 "African second level discourses have been silenced radically or, in most cases, converted by conquering Western discourses. The popular local knowledge has been subsumed critically by ,scientific' disciplines. The process meant not only a transcending of the original locality, but also through translation ... took place, what I call the ,invention' of Africa. In The Invention of Africa, I simply observe and analyse this fact. In effect, Western interpreters, as weil as African analysts, have been using categories and conceptual systems which depend on a Western epistemological order. Even in the most explicitly ,Afrocentric' descriptions, models of analysis explicitly or implicitly, knowingly or unknowingly, refer to the same order. What does this mean for the field of African studies?" Mudimbe (1990), S. 101. 64 Amin (1988). Auch interessant ist in diesem Zusammenhang Saids neuestes Buch, in dem er zur Kenntnis nimmt, daß die europäische Konstruktion der nicht-abendländischen Gesellschaften auch dem Zweck diente, Europa selbst zu konstruieren. Said, (1992).
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Auf der einen Seiten kam die Modeme als europäisches Projekt nach Afrika, also bereits beladen mit europäischen Sinnhaftigkeiten, die wiederum das Ziel hatten, die europäische Präsenz zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite versuchten die Europäer Afrika im Sinne ihrer eigenen Mission zu konstruieren. Viele Afrikaner haben sich immer wieder beschwert, daß die Anthropologie der Kolonialisierung Afrikas gedient habe. Der zeitliche Abstand erlaubt uns heute, diese Behauptung zu bewerten. Die Afrikanistik, also die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Afrika, tat sich sehr schwer dabei, sich von der Historizität der europäischen Präsenz in Afrika zu trennen. Alles, was sie tat, könnte für die Domestizierung Afrikas übernommen werden. Je mehr Afrika jedoch gezwungen wurde, sich selbst zu hinterfragen, desto klarer wurde, daß man es mit den zwei Kehrseiten der gleichen Medaille zu tun hatte - einerseits dem Zwang zur Se1bstreferentialität und andererseits der Rationalisierung des alltäglichen Lebens. Es wurden in Afrika Universitäten gebaut, politische Ideen wurden diskutiert; das ökonomische Leben fand auf einer unpersönlichen Ebene statt usw. Es kam allmählich zu einer Spannung zwischen dem, was die Modeme an Positivem anbieten konnte, und dem, was eigentlich passierte. In Wirklichkeit hatte man es in dieser Spannung mit dem Partikularismus der Europäer und dem Universalismus der Modeme zu tun. Dieses Begriffspaar deutet auf eine Unterscheidung hin, die auf den Begriff "Konkurrenz" zurückgeführt werden kann. In der Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit konkurrieren afrikanische und europäische Weltanschauungen, die sich nach den partikularen Interessen der eigenen Gruppe richten. Die Fähigkeit, einen solchen Prozeß durchzuführen, gehört allerdings zu den Merkmalen der Modeme. Eigentlich ist diese Fähigkeit die Modeme selbst, und da jede Gesellschaft in der Lage ist, modem zu werden, d. h. sich selbst in einen Dialog zu verwickeln, ist die Modeme universal. Die Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus bestimmte die Reaktion der Afrikaner auf ihrer Einbeziehung in die Modeme. Die afrikanische Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit ist eine Reaktion auf diese Spannung. Manche lehnen die ganze Einbeziehung Afrikas in die Modeme ab und sehnen sich nach einem Afrika, von dem sie glauben daß es vor dem Kolonialismus existiert habe. Andere versuchen die Einbeziehung Afrikas zu verstehen, glauben aber zugleich, sie könnten es außerhalb der Modeme ansiedeln. Beide Reaktionen sind gescheitert. Zum einen drückt sich die Sehnsucht nach einem imaginären Afrika in besonderer Weise in den anhaltenden ethnischen Kriegen sowie in der Erfolglosigkeit der Definition eines politischen Bereiches nach rationalen Maßstäben aus. Zum anderen führt die intellektuelle Skepsis gegenüber der Modeme zum Hochhalten der Ungewißheit, als ob es in der Wissenschaft genüge, die Relativität alles Wissens zu postulieren. Diese theoretische Sackgasse soll überwunden werden. Um das durchzuführen, sollte man die Art und Weise untersuchen, wie sich die Afrikaner Afrika vorstellen, unter Berücksichtigung der strukturellen Bedingungen dieser Vorstellung. Mir
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Teil I: Wissenssoziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie
geht es in erster Linie darum, afrikanische Intellektuelle 65 als Bezugspunkt zu nehmen, denn sie stehen im Mittelpunkt einer bewußten Auseinandersetzung mit der Modeme. Die meisten davon sind Philosophen. Sie haben sich mit Afrika philosophisch auseinandergesetzt. Hier wird die Frage Was ist Afrika? soziologisch operationalisiert, indem sie auf die sozialen und strukturellen Bedingungen ihrer Thematisierung hin untersucht wird. Genau gesagt, es wird der Zusammenhang von Afrikanistik, Identität und Antimodeme untersucht, weil eben innerhalb dieser drei Momente der Geschichte der Modeme in Afrika die Frage danach, was Afrika ist, formuliert wurde. Die Antwort ist auch hier zu finden.
VI. Kurze Zusammenfassung
Dieses Kapitel beschäftigte sich mit der theoretischen Begründung der Frage Was ist Afrika? Ich habe versucht zu zeigen, daß diese Frage soziologisch gestellt werden kann, und zwar in Anlehnung an die Wissenssoziologie von Karl Mannheim, die sich mit der Möglichkeit eines reflexiven Diskurses beschäftigt. Um die Relevanz von Mannheims Wissenssoziologie zu beweisen, war es nötig, daß ich mich mit seinen Gedanken zu Historismus, Konkurrenz und dem Problem einer Wissenssoziologie befaßte. Ich zog daraus erstens den Schluß, daß der Historismus den besseren erkenntnistheoretischen Rahmen für die Geisteswissenschaft darstellt, weil er den verstehenden Anspruch der Kultursoziologie einsetzt und die Wahrheit in den Intentionen und Impulsen der teilnehmenden Akteure in sozialen Handlungen berücksichtigt. Zweitens, daß die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von der Seinsverbundenheit des Wissens abhängt, was zur Folge hat, daß die Konstruktion die Form einer Konkurrenz um die bessere soziale Sicht annimmt. Drittens, daß sich die Wissenssoziologie aus der Tatsache ergibt, daß das Wissen historisiert wird und die Gesellschaft im Mittelpunkt der existentiellen Reflexion steht. Es wurde darauf hingewiesen, daß Mannheims Gedanken zur Möglichkeit der Wissenssoziologie zugleich einen Entwurf der Modeme darstellen, einer Modeme, die nicht auf den Rationalisierungsprozeß reduziert wird, sondern einer, die sich als die Möglichkeit reflexiven Wissens präsentiert. Ich griff diesen Entwurf der Modeme auf, um die Frage Was ist Afrika? zu begründen, indem ich die Tatsache als aufschlußreich betrachtete, daß man sich in Afrika mit dieser Fragen auseinandersetzt. 65 Die Wissenssoziologie bewegt sich zwischen zwei Extremen: einerseits der Sphäre der Philosophie, andererseits der der Psychologie. Die soziologische Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes erweist sich als sehr schwierig aufgrund der Gefahr, die private Sphäre der Philosophie oder der Psychologie unbefugt zu betreten. M. E. genau dies tun Berger / Berger/Kellner (1975). Sie versuchen nämlich die Bedeutung der Moderne in der sogenannten Dritten Welt anhand psychologischer Ansätze zu verstehen, die darauf abzielen, das Bewußtsein der einfachen Leute zu entschlüsseln.
B. Afrika als historischer Prozeß
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Die soziologische Operationalisierung der Frage Was ist Afrika? erfolgte dann durch die Hypothese, derzufolge Afrika ein moderner Begriff ist. Diese Hypothese empirisch zu belegen, bedeutet, die theoretischen Werkzeuge der Wissenssoziologie so einzusetzen, daß sie die Tatsache demonstrieren, daß die Rahmenbedingungen und der Inhalt der Auseinandersetzung mit Afrika im modemen Moment verankert sind. Nicht nur der Diskurs der sogenannten Traditionalisten ist von der Modeme geprägt, sondern auch der der Anti-Traditionalisten. Diese Untersuchung zielt darauf ab, getreu Mannheims Methodologie eine Synthese dieser Debatte zu verfassen, um die afrikanische Auseinandersetzung mit der Modeme weiter auf vernünftigen Wegen zu betreiben. Die Modeme hat Afrika den Fehdehandschuh hingeworfen. Wie haben die Intellektuellen ihn aufgenommen?
B. Afrika als historischer Prozeß I. Exkurs über soziales Handeln und Historizität: Zur GeschichtIichkeit Afrikas Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat einmal geschrieben, daß Soziologie und Kunst eigentlich nicht zusammenpassen 1. Diese Einschätzung geht aus der Erkenntnis hervor, daß Kunsthistoriker und Kritiker darauf bestehen, die Kunst als eine für rationale Methoden der wissenschaftlichen Analyse unzugängliche Schöpfung zu betrachten, während Soziologen die Ansicht vertreten, wonach die Kunst eine bestimmte gesellschaftliche Leistung ist, die rational durchaus verständlich ist. Die einen weisen der Kunst eine Heiligkeit zu, die sie vor dem bohrenden Blick der Wissenschaft schützen soll, und die anderen beharren darauf, der Kunst keinen Sonderstatus zu verleihen. 2 Zahlreiche soziologische Untersuchungen haben jedoch bewiesen, wie nützlich und relevant eine soziologische Analyse der Kunst sein kann, vor allem dann, wenn es um den Versuch geht, anhand der Kunst die Prozesse der Vergesellschaftung nachzuvollziehen. Eines der frühen Beispiele diesbezüglich waren natürlich Georg Simmels Aufsätze zur Soziologie des Stils, wenn nicht sogar seine ganze Soziologie. Simmel hat meiner Meinung nach stichhaltig bewiesen, daß die Kunst eine besondere Rolle bei der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit spielt. So stellen zum Beispiel seine Überlegungen zur Ästhetisierung und Stilisierung unter dem Gesichtspunkt der Schaffung eines individuellen bzw. kollektiven sozialen Bereichs die Ansprüche der Soziologie in bezug auf die gesellschaftliche Gründung der Kunst dar. 3 "La sociologie et l'art ne font pas bon menage", Bourdieu (1980), S. 207. Eine gute und kompakte Zusammenfassung dieser Auseinandersetzung gibt die amerikanische Kunstsoziologin Vera L. Zollberg in ihrem Buch: Zollberg (1990). 1
2
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Teil I: Wissenssoziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie
Soziologisch gesehen ist die Kunst eine besondere Form, sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Die Kunst findet nicht in einem Vakuum statt, sondern sie wird von bestimmten Schichten getragen, sie thematisiert bestimmte gesellschaftliche Impulse und sie wird auch auf der Basis bestimmter gesellschaftlicher Perspektiven rezipiert. Der amerikanische Soziologe Howard S. Becker schreibt dazu: " ... die Art und Weise, wie man über Kunst spricht, ist im weiten Sinne auch eine Form, über die Gesellschaft und soziale Prozesse zu sprechen,,4. Die Soziologie der Kunst geht in gewissem Maße davon aus, daß sich die Auseinandersetzung mit der Kunst nur dann lohnt, wenn sie sich auf modeme Gesellschaften beschränkt. Das geht aus dem Gedanken hervor, daß nur modeme Gesellschaften dazu fähig sind, die Kunst zum Zwecke der sozialen Differenzierung einzusetzen. Der Kunstgegenstand hat unter modemen Bedingungen eine Autonomie, die er in nicht-modemen Gesellschaften nicht haben kann, weil diese eine untrennbare Einheit bilden, die keine Absonderung der verschiedenen Bereiche des sozialen Lebens zuläßt. Dieser vereinfachte Gegensatz zwischen Kunst in modemen Gesellschaften und dem Nichtvorhandensein der Kunst in traditionellen Gesellschaften findet seinen Ausdruck in der Ethnologie, dem Fach, das seine Aufgabe darin sieht, kulturell Fremdes zu untersuchen. Dort geht man zum Beispiel der Frage nach, ob es primitive Kunst gibt. Sind gewerbliche Gegenstände Kunstwerke? Sind Gegenstände, die für rituelle Zwecke geschaffen wurden, Kunstwerke? Gibt es überhaupt aus der Sicht der Menschen, die diese Gegenstände geschaffen haben, ein Verständnis dafür, daß ihre Werke gemeinschaftsunabhängige ästhetische Qualitäten besitzen? Till Förster, ein Ethnologe, hat in bezug auf das, was man unter afrikanischer Kunst versteht, festgestellt, daß "... die meisten afrikanischen Gesellschaften keine Kunst hervorbringen,,5. Diese Behauptung stellte ein Kontrast dar zu dem, was er als "bürgerlichen Kunstbegriff,6, also die Idee, wonach die Kunst weder Aufgabe noch Zweck im sozialen Sinne habe, definiert. Seiner Ansicht nach stellt die sogenannte afrikanische Kunst den Kunsthistoriker und den Kunstsoziologen vor schwierige Probleme, denn die fehlende künstlerische Autonomie der einzelnen Gegenstände, weil sie eben nur in Zusammenhang mit ihrem gemeinschaftlichen Kontext verständlich sind, schließt eine Hervorhebung einzelner Objekte aus. "Afrikanische Kunst läßt sich nicht ausstellen. Versuchte man es, indem man auch noch Musik und Bewegung initiieren wollte, gäbe man das Ganze der Lächerlichkeit preis,,7. 3 Birgitta Nedelmann hat anhand von Simmels theoretischen Ansätzen eine überzeugende soziologische Analyse des Tourismus dargelegt. Siehe dazu, Nedelmann (1989). 4 Zitat nach Zollberg (1990), S. 1. 5 Förster (1988), S. 22. 6 Ebd., S. 22. 7 Ebd., S. 21.
B. Afrika als historischer Prozeß
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Da es in diesem Zusammenhang sehr schwierig ist, von einer afrikanischen Kunst zu sprechen, weil die afrikanischen Gegenstände, die in westlichen Museen auftauchen, in ihrem ursprünglichen Milieu gesellschaftliche Funktionen ausüben, stellt sich die Frage, ob diese Völker überhaupt in der Lage sind, die ästhetische Qualität ihrer Schöpfung zu beurteilen. Förster gesteht afrikanischen Kulturen eine Ästhetik zu 8 und schlägt den Begriff "künstlerische Ausdrucksformen afrikanischer Völker" anstelle von "afrikanischer Kunst" vor9 . Die Idee einer afrikanischen Ästhetik ohne Kunst ist in der Ethnologie sehr weit verbreitet. Sie läßt sich auch anhand theoretischer Ansätze in der Ethnologie nachvollziehen. Afrikanischer Kunst fehlen Künstler, Interesse an Fremdkulturen oder Universalität, ein autonomer Begriff der Kunst, ein von der Natur und der materiellen Welt unabhängiges Verständnis der Kunst und eine Wertung der Geschichte, d. h. eine reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Gesellschaft. 10 Suzanne Preston Blier, eine amerikanische Kunsthistorikerin und Archäologin, deren Forschungsschwerpunkt in Afrika liegt, reduziert die sozial wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der afrikanischen Kunst auf drei Elemente, nämlich Fetisch, Magie und Tradition 11. Der ihrer Reduzierung des westlichen Interesses an der afrikanischen Kunst zugrundeliegende theoretische Ansatz ist die literaturwissenschaftliche dekonstruktivistische Theorie, derzufolge ein Gegenstand anhand der Art und Weise zu untersuchen ist, wie er im wissenschaftlichen Diskurs behandelt wird. In diesem Sinne analysiert Blier, wie Afrika von Europa abgegrenzt wird, worin sich die beiden unterscheiden I2 . So lassen sich die drei Elemente Fetisch, Magie und Tradition, die sie bereits als konstitutiv für die Analyse der afrikanischen Kunst hervorgehoben hatte, folgendermaßen definieren. Fetisch wäre die Unterstellung, daß die Afrikaner ihren Gegenständen magischen Qualitäten zuweisen, die nur aus irrationalen Gründen haltbar sind. Unter Magie versteht Blier den Versuch, der Andersartigkeit fremder religiöser Praktiken Irrationalität zu unterstellen. Tradition bezieht sich auf die Irreflexivität afrikanischer Kulturen, d. h. auf das Fehlen der Geschichte, und somit die Verannahme, daß man in Afrika den Sinn sozialer Handlungen damit erklärt, daß sie der Gewohnheit entsprechen. Suzanne Preston Blier ging es bei der Konzentration auf diese drei Elemente darum, die These zu untermauern, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der afrikanischen Kunst die Analyse der Kunst in westlichen Gesellschaften selbst bereichern kann. Beim Einsatz dieser drei Elemente in der Analyse der Ebd., S. 22. Ebd., S. 23. 10 Siehe dazu: Btier (1993), S. 149. 11 Ebd., S. 139 -163. 12 Sie schreibt dazu: "This essay ( ... ) is about the making and breaking of boundaries and the construction of ideas of difference and sameness in the arts of Europe and Africa". Btier (1993), S. 139. 8
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Kunst können neue Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie Künstler ihre Werke verstehen, wie sich eine Klasse in der Interpretation dieser Kunst herausbildet und wie die Kunst dafür eingesetzt wird, die soziale Differenzierung voranzutreiben. Das Interessante bei dieser Problematisierung des Kunstverständnisses ist weniger die Infragestellung der Behauptung, wonach es keine afrikanische Kunst gebe, sondern vielmehr der zugrundeliegende soziologische Ansatz, demzufolge sich das Kunstwerk eben im sozialen Prozeß konstituiert. Die amerikanische Ethnologin Bennetta Jules-Rosette hat sich mit der afrikanischen Kunst in ihrer modernen Erscheinung beschäftigt und dabei festgestellt, daß, anders als es in der Ethnologie behauptet wird, die afrikanische Kunst längst nicht mehr die gesellschaftlichen Funktionen ausübt, die ihr immer wieder unterstellt werden\3. Der Historiker Jan Vansina hat diesbezüglich versucht, die afrikanische Kunstgeschichte von Standpunkt von Thorsten Veblens "Conspicuous Consumption,,14 zu betrachten, was Jules-Rosettes Erkenntnisse bestätigt. Auch die Idee einer Kunst ohne Ästhetik wird zunehmend in Frage gestellt. AIfred Gell, ein Ethnologe aus Australien, hat sich vehement gegen diese Behauptung ausgesprochen und am Beispiel der Dinka, einem Nomadenvolk im Süden des Sudans, versucht, diese These zu widerlegen 15. Da sich Gells Kritik mit einer festen Überzeugung in der Ethnologie auseinandersetzt, tun wir gut daran, uns damit zu beschäftigen. Die Dinka sind Viehhalter l6, und dementsprechend besitzt das Vieh einen sehr hohen Stellenwert in ihrem Leben. Man kann sogar behaupten, sie verehren ihr Vieh. Jeder junge Dinkahirte bekommt einen Ochsen, der aufgrund seiner natürlichen Schönheit dafür ausgewählt wird; er kann dann das Ansehen und die Heiratsmöglichkeiten des Besitzers beeinflussen. Dieser Ochse wird von seinem Besitzer gepflegt und geschmückt und nimmt an Schönheitswettbewerben teil, wobei die Besitzer nicht nur darauf hoffen, die Zuschauer mit der Schönheit ihres Ochsen zu begeistern, sondern aktiv das Geschehen zu beeinflussen versuchen, indem sie Gedichte und Lieder komponieren, die die besonderen Eigenschaften ihres Besitztums hervorheben. Der Besitz des schönsten Ochsen erhöht in entscheidender Weise die Chancen, eine Frau für sich zu gewinnen, denn Anzahl und Qualität des Viehs drückt bei den Dinka Reichtum und Wohlstand aus. Genau diese Funktion allerdings wird von einigen Ethnologen für die Aberkennung des Vorhandenseins von Kunstwerken bei den Dinka und generell bei traditionellen Gesellschaften benutzt. Den Dinka wird die Fähigkeit, Kunst zu genießen, also einen ästhetischen Sinn zu haben, zugetraut; allerdings nur dort, wo sich ihr ästhetischer Blick auf Schöpfungen der Natur richtet und nicht etwa auf Kunst13 14 15
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lules-Rosette (1984); siehe auch: Richter (1980) und Steiner (1994). Vgl. Veblen (1953). Gell (1995). Siehe dazu: Lienhardt (1961).
B. Afrika als historischer Prozeß
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werke, die sie selbst geschaffen haben, findet man die Aussage bekräftigt, wonach eben Ästhetik ohne Kunst möglich sei. Außerdem, so diese Argumentationslinie weiter, wird die Wahl eines Ochsen nach ästhetischen Maßstäben dadurch eingeschränkt, daß die hintergründige Überlegung darauf basiert, daß der Ochse einen bestimmten Beitrag in einer sozialen Handlung leisten muß, welcher davon abhängt, ob der Ochse so aussieht, wie er auszusehen hat. Kurz, nur wer einen schönen Ochsen besitzt, kann Anspruch auf eine Frau erheben. 17 Alfred Gell wendet sich gegen diese Argumentationsweise und stellt dagegen fest, daß man zu hoch greift, wenn man bei einem Nomadenvolk das Vorhandensein von Kunstgegenständen erwartet l8 . Seiner Meinung nach ist der Ochse der eigentliche Kunstgegenstand der Dinka, der Ochse als Privateigentum ist das Kunstwerk: " ... this ox is an art work, in fact, is the characteristic art work Dinka society produces" 19. Um Gells Behauptung zu verstehen, muß man sein Verständnis der Kunst im Auge behalten, dem ich mich auch anschließe. Soziologisch gesehen, haben Kunstwerke keine Essenz, sondern sie sind als solche zu verstehen, indem man die Wertung und Interpretation der Mitglieder eines künstlerischen Milieus akzeptiert. 2o Ohne die ästhetische Interpretation, die die Dinka der Betrachtung ausgewählter Ochsen hinzufügen, blieben diese nur Schöpfungen der Natur. Sie werden zu Kunstwerken gemacht, indem die Dinka Zeit, Aufwand und poetische Phantasie darauf verwenden, andere Menschen bei der Betrachtung ihres Ochsen zu beeinflussen, d. h. um die ästhetischen Qualitäten ihres Ochsen hervorzuheben. Gell nennt das Beispiel eines Liedes 21 , um darauf hinzuweisen, wie hart die Dinka daran arbeiten, ästhetische Reaktionen zu erzielen: "On the back of my Mijok are four spots elose together but they will never meet they will miss each other like the sun and the moon".22
Das Ziel hier, so Gell, ist, einen "Aha-Effekt" zu erzielen 23 , denn das Dinka-Publikum kennt und schätzt gute und kühne Metaphern.
17 Coote schreibt dazu: " ... in saying that piebald oxen are chosen for aesthetic reasons, we are not saying that oxen are chosen on the basis of looks but on the basis of their contribution to the performance of a social function, the performance of that social function being associated with the possession ofthose looks". Zitiert von Gell (1995), S. 24. 18 Gell (1995), S. 25. 19 Ebd., S. 26 (Hervorhebung im Original). 20 Gell schreibt dazu: "What makes an art work an art work is what members of an art world say about it, or think about it, i.e. the way in which it is interpreted as such". Gell (1995), S. 26. 21 Diese Ochsenlieder wurden von Deng (1972) gesammelt. 22 Gell (1995), S. 28. 23 Er schreibt: " ... I prefer to read this as a sophisticated hope, designed to elicit an ,aaah' response from an audience who appreciate metaphors which are daring but rapt". Gell (1995), S. 28.
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Teil I: Wissenssoziologie und der Streit um die afrikanische Philosophie
Der Ethnologe Förster schrieb: "Auf keinem der ausgesprochenen Felder läßt sich heute die Situation für den gesamten Kontinent hinreichend genau erfassen, so daß sich gegenwärtig weder eine Kunstgeschichte noch etwa eine Soziologie künstlerischer Ausdrucksformen afrikanischer Völker schreiben läßt". 24
Das Beispiel der Dinka läßt Zweifel an dieser Behauptung aufkommen. Wenn ich mich so viel Zeit nehme, um diese Theorien in Frage zu stellen, ziele ich nicht darauf ab, die Ethnologie bloßzustellen, denn sie hat auch ihre Bedeutung, sondern ich versuche deutlich zu machen, daß sich soziale Handlungen historisieren. Die Behauptung, wonach afrikanische Kulturen keine Kunst hätten, unterstellt ihnen den Mangel an Historizität. Nun, wenn wir uns mit Beispielen wie dem der Dinka beschäftigen, so müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, daß solche Feststellungen problematisch sein können. Es gibt kein Volk, keine Kultur ohne Geschichte. In der Art und Weise, wie die Dinka die ästhetischen Qualitäten ihres Viehs hervorheben, sehen wir, wie sie ihre eigene Geschichte schreiben. Insofern dies in bezug auf die eigene Gesellschaft geschieht, d. h. die Dinkakünstler sich von den Werten der eigenen Kultur inspirieren lassen, tun sie nichts anderes als einen Beitrag zur Konstruktion der eigenen Wirklichkeit zu leisten. In den Liedern, die sie zum Lob des eigenen Viehs singen, findet sich die Dinkagesellschaft wieder; die gesungene Schönheit des Viehs zelebriert die eigene soziale Wirklichkeit. Die Eigenartigkeit der afrikanischen Geschichte besteht allerdings darin, daß dieser individuelle Prozeß der Konstruktion der Wirklichkeit eine andere Dynamik erhielt, die entscheidend für die Definition dessen war, was Afrika ist. Es war die europäische Kolonialisierung des Kontinents. Während sich die Europäer und ihre Wissenschaft damit beschäftigten, den Afrikanern Geschichtslosigkeit zu unterstellen, integrierten diese Völker das europäische Element und produzierten weiter ihre Geschichte. Wenn ich noch bei der Kunst bleiben darf, so müssen wir konstatieren, daß gerade die europäische Brandmarkung der afrikanischen Kunstgegenstände als Fetisch, Magie und Tradition dazu führte, ein neues Selbstverständnis der einzelnen Völkergruppen in Afrika zu fördern. Jan Vansina hat geschrieben, daß überall dort, wo sich in Afrika Europäer angesiedelt hatten, die "klassische afrikanische Kunst starb,,25. Statt aber einen Nachruf auf diese Kunst zu schreiben, setzten sie die Afrikaner in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit sich selbst. Die Kunstgegenstände sprengten die Zäune der eigenen geschlossenen Gemeinschaften, gewannen Autonomie gegenüber ihren eigenen sozialen Funktionen, und folgerichtig dienten sie nicht mehr der Reproduktion der eigenen Gemeinschaft, sondern der Konstruktion einer afrikanischen Identität. So müssen beispielsweise die afrikanischen Versuche verstanden werden, afrikanische Kunstgegenstände aus europäischen Museen heimzuholen. So muß auch 24
25
Förster (1988), S. 33. Vansina (1984), S. 18.
B. Afrika als historischer Prozeß
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das afrikanische Interesse an der eigenen Kultur, die in der Glorifizierung der eigenen Kultur, Kunst und Tradition zum Ausdruck kommt, verstanden werden. Wir haben es hier mit einem modemen Moment zu tun. So wie Georg Simmel die "übertriebene Subjektivität" als ein besonderes Merkmal der Modeme charakterisiert hat,26 müssen wir hier das gleiche Phänomen feststellen, denn die Erfahrung der Unterdrückung durch die europäische Kolonialherrschaft und die Trivialisierung der afrikanischen Kulturen führten dazu, genau diese Elemente als Grundstein für die Bildung einer eigenen Identität zu verwenden. 11. Grenzen der Darstellung der Geschichte des Begriffes "Afrika"
In diesem Kapitel möchte ich mit der Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit auseinandersetzen. Ich werde dies tun, indem ich versuche, eine idealtypische Geschichte des Begriffes "Afrika" zu entwerfen. Das empirische Material dazu ist sehr umfangreich, und wenn ich mir vorgenommen hätte, alles zu verwenden, so hätte dies sicherlich den ~ahmen meines Vorhabens gesprengt. Es ist auch nicht nötig, um meinen Standpunkt zu beweisen. Aus diesem Grunde ist die Wahl des Materials sehr selektiv, und um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, sollte ich an dieser Stelle erklären, warum ich so verfahre. Kennern der afrikanischen Geschichte wird auffallen, daß nicht alle dazugehörigen Elemente der Realität besprochen wurden. Ein wichtiges Beispiel ist die Debatte über das alte Ägypten, vor allem die Behauptung mancher Afrikaner, wonach diese Zivilisation dem schwarzafrikanischen Kulturraum zuzurechnen sei. Der wichtigste Verfechter dieser Tradition war der senegalesische Wissenschaftler Cheik Anta Diop, der in zahlreichen Büchern die These verteidigte, derzufolge die der altägyptischen Zivilisation zugrundeliegende Philosophie schwarzafrikanisch sei, was u. a. auch bedeuten würde, daß Afrika eine kulturelle Einheit bilde. 27 Nach dem Tode von Cheikh Anta Diop blieb Theophile Obenga, ein Historiker aus dem Kongo, der wichtigste Vertreter dieser These in Afrika. 28 Edward Blyden, mit dem wir in diesem Kapitel zu tun haben werden, war der erste, der versuchte, diese Verbindungen herzustellen. Das Thema ist zu umfangreich, um hier umfassend behandelt zu werden. Außerdem ist es in Afrika selbst von geringer Bedeutung. In den USA findet diese These die treuesten Anhänger und Anfechter bei der schwarzen Bevölkerung, was mit der Suche nach ihrer Identität im multikulturellen USA zu tun hat. Dieses Thema ist in den USA von einer solchen Wichtigkeit, daß die Zeitschrift Newsweek ihm eine Ausgabe widmete?9 Vgl. Nedelrnann (1989). Siehe dazu: Diop (1974); (1978); (1981); (1987). 28 Sein Buch, Les Bantu - Langues, Peuples, Civilisations, (1985), ist ein gutes Beispiel dafür. Siehe auch: Obenga (1973). (Die Einleitung wurde von Cheikh A. Diop verfaßt). Theophile Obenga leitet ein Centre International des Civilisations Bantu in Gaboun. 29 Newsweek (1991). 26 27
Teil II
Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas A. Die Erfindung Afrikas I. Methodische Fragen
Im Jahre 1884 schrieb Edward Wilmot Blyden: "Trotz allem ist mein Trost die Tatsache, daß der Herr König ist. Trotz menschlicher Fehler und Bosheit werden seine Pläne durchgeführt. Ich glaube, daß die Idee der Kolonisierung von Gott kam und daß die American Colonization Society, unter den natürlichen Schwächen der Menschheit, seine Ziele verfolgt"l.
Edward W. Blyden wurde 1832 auf der dänischen Karibikinsel St. Thomas geboren und starb 1912 in Afrika2 • Er war der Sohn afrikanischer Sklaven in Amerika, und im Jahre 1851 kehrte er zurück nach Afrika, wo seine Stimme und seine Feder im neunzehnten Jahrhundert zu den wichtigsten Stimmen und Federn des afrikanischen Nationalismus gehörten. Wie in dem obigen Zitat leicht zu erkennen ist, verstand sich Blyden als eine Art Prophet des afrikanischen Volkes, dessen Schicksal er mit dem des hebräischen Volkes gleichsetzte. Blyden und viele andere seiner Generation, vor allem diejenigen, die aus Amerika kamen, sind in gewisser Hinsicht die Begründer Afrikas. In dieser Untersuchung geht es um die Antwort auf die Frage, was Afrika ist. Diese Frage soll in diesem und im folgenden Kapitel beantwortet werden. Keine neuen Fakten werden hier präsentiert. Die Geschichtsschreibung in Afrika bedarf keiner neuen Fakten, sondern vielmehr einer Akzentverlagerung und eines soziologischen Sinns für die Beteiligung der Menschen an der gesellschaftlichen Konstruktion ihrer eigenen Wirklichkeit. Der letzte Punkt, dem wir bereits bei der Analyse der afrikanischen Kunst begegnet sind, kommt leider immer wieder zu kurz in der Auseinandersetzung mit Afrika. In einer sonst interessanten Analyse der Konstruktion des Begriffes Afrika gelangte der ghanaische Philosoph Kwame Anthony Appiah zu dem Schluß, daß Blyden und Crummell, ein anderer aus Amerika Zurückgekehrter, der die Idee I
2
Zitat nach Mudimbe (1988), S. 109. Für umfassendere biographische Daten über Edward Blyden siehe: Lynch (1967); und
Holden (1967).
A. Die Erfindung Afrikas
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Afrikas massiv beeinflußte, Rassisten seien? So auch Appiahs zairischer Kollege, Valentin Mudimbe, der das Wirken dieser Menschen nur als Fußnoten der europäischen Übermacht bei der Bestimmung der Wirklichkeit in Afrika betrachtete. 4 Auch der Deutsche Imanuel Geiss mißverstand Blyden, indem er schrieb: "In gewisser Weise darf Blyden als der wichtigste Ahnherr des Mythos von der ,Negritude' bis in unsere Zeit gelten. Die Zwiespältigkeit seines Wesens und seines geistigen Hintergrunds, in dem europäisch-amerikanische und (angelernte) afrikanische Elemente vielfach gebrochen und ineinander verquickt waren, machen verständlich, warum auch die gleiche geistige Konfusion bei seinen Nachfolgern zu finden war".5
Eine mögliche Erklärung für diese abwertenden Behauptungen gegenüber Blyden und seinen Mitstreitern kann sein, daß die Natur der Auseinandersetzung mit der Geschichte Afrikas zu sehr auf emotionaler Ebene geführt wird. Und vielleicht auch, daß der Soziologie kein Platz zugestanden wird. Der Streit um die afrikanische Philosophie ist in diesem Sinne ein gutes Beispiel dafür. Ich sollte in diesem Zusammenhang eine Diskussion erwähnen, die uns möglicherweise helfen kann, die philosophische Konfusion über die Analyse Afrikas zu verstehen. Im Jahre 1992, also vor noch nicht allzu langer Zeit, schrieb eine europäische Philosophin, Carole Pearce, einen Aufsatz6 , in dem sie eine sogenannte soziologische These dafür verantwortlich machte, daß die Afrikaner immer wieder behaupten, es gebe eine afrikanische Philosophie. Carole Pearce wendet sich gegen diese Behauptung und bemerkte: "Ich behaupte, daß die Idee, wonach die Ethnophilosophie (die Analyse von Volksglauben) die Grundlage für die akademische Philosophie sein kann, aus einem falschen Verständnis der soziologischen These stammt. Damit meine ich die Idee, daß der soziale Kontext des Denkens den Inhalt des Denkens bestimmt. Wie eben andere Formen der globalen Skepsis unterminiert sich die soziologische These selbst. Sie ist innerlich widersprüchlich und führt zu einer unbefriedigenden relativistischen Epistemologie". 7
Keiner der an dieser Diskussion Beteiligten sah sich veraniaßt, sich mit diesem Verständnis der Soziologie auseinanderzusetzen. In der Tat schien es vielmehr so, als ob man diese Charakterisierung der Rolle der Soziologie unproblematisch fände. Obwohl sich der afrikanische Philosoph L. D. Keita von Pearces Schlußfolgerungen bezüglich der afrikanischen Philosophie distanzierte, bekräftigte er die Diagnostizierung der soziologischen These als Virus im wissenschaftlichen Körper Afrikas mit seiner Feststellung, derzufolge die afrikanische Philosophie aus den gleichen Gründen gerechtfertigt werden solle, aus denen sich sowohl die angloamerikanische als auch die französische Philosophie rechtfertigen. 8 Gary Trompf, 3 4
5 6 7
8
Appiah (1992). Mudimbe (1988). Geiss (1968), S. 121. Pearce (1992). Pearce (1994), S. 204-205. Keita (1994).
56
Teil II: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
ein amerikanischer Kenner der afrikanischen Philosophie, ging in die gleiche Richtung wie sein Kollege aus Afrika und versuchte die soziologische These damit zu erklären, daß die Europäer die Afrikaner dazu zwangen, sich gegen die ihre Kultur abwertende Wissenschaft mit relativistischen Ansätzen zu wehren. 9 Ohne mich in diese Diskussion einzumischen, darf ich trotzdem zu bedenken geben, ob es zwingende Gründe dafür gibt, die Rolle der Soziologie auf diese Weise herabzusetzen. Daß dieses Verständnis problematisch ist, wird sich in diesem Kapitel herausstellen, vor allem dann, wenn ich mich, wie ich es gleich tun werde, mit dem Werk von Blyden und anderen seiner Generation auseinandersetze. Das Problem der Diskussion über die Existenz bzw. Nichtexistenz einer afrikanischen Philosophie besteht eben darin, daß die Mitstreiter nicht soziologisch genug gedacht haben. Um nicht gleich mit den Schlußbemerkungen zu beginnen, die ihren Ort am Ende haben, wenn ich bereits das empirische Material präsentiert habe, sei diese Überzeugung bezüglich der Soziologie zunächst unkommentiert in den Raum gestellt. Karl Mannheims Wissenssoziologie liefert die theoretische Grundlage für meine Arbeit. Im vorangegangenen Kapitel hatte ich Gelegenheit die Gründe aufzuführen, die diesen theoretischen Ansatz für mein Vorhaben relevant machen. Wichtig dabei war die Möglichkeit, die diese Wissenssoziologie uns gegeben hatte, die Diskussion um den ontologischen Status Afrikas soziologisch zu problematisieren. Es schien mir deshalb naheliegend, diese Diskussion im Zusammenhang mit der Einbeziehung Afrikas in die Modeme zu bringen. Weil ich soziologisch die Modeme als die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich selbst in ein Gespräch zu verwickeln, also reflexiv zu sein, verstehe, stellte ich als Hypothese fest, daß Afrika ein moderner Begriff sei. 11. Afrika als Ideencharisma Ich werde nun die empirischen Beweise für die Umwandlung dieser Hypothese in eine These liefern. Dafür bedürfe ich einer Methode, die Karl Mannheim uns nicht zur Verfügung stellen kann. Ich wende mich, wie bereits angedeutet, Max Weber zu, dessen Religions- und Herrschaftssoziologie einige methodische Ansätze zu entnehmen sind, die in dieser Arbeit in heuristischer Weise eingesetzt werden können. Es geht um den Begriff "Charisma", dessen analytische, theoretische und methodische Ergiebigkeit von vielen Soziologen betont wird lO • Nach Tenbrucks Interpretation des Werkes von Max Weber ll bildet der Rationalisierungsprozeß den Kern Trompj(1994). Vgl. dazu: Breuer (1989); GebhardtlZingerle/Ebertz (1993); Roth (1975); Schluchter (1979); Seyjarth (1979); Shils (1982). 11 Tenbruck (1975). 9
10
A. Die Erfindung Afrikas
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der Soziologie von Max Weber und zeichnet sich durch eine eigene Logik aus, die darin besteht, daß der Prozeß, einmal angefangen, sich selbst trägt. Die zentrale Rolle, die der Begriff Charisma dabei spielt, wurde von Wolfgang Schluchter herausgearbeitet l2 , der in besonderer Weise verdeutlichte, daß der Begriff "Charisma" bei Weber dort zum Tragen kommt, wo er den Blick auf die Systematisierung und Weiterentwicklung eines ursprünglichen Charismas verschärft. Ausgehend von Schluchters Arbeit hat der Bayreuther Soziologe Winnfried Gebhardt Webers Charisma-Begriff weiter thematisiert. Aufbauend auf Webers Charisma-Begriff, schlug Gebhardt eine Typologie vor, die mir in dieser Untersuchung erlauben wird, den Charisma-Begriff genauer auf meine analytischen Zwecke zuzuschneiden. Das Charisma entsteht aus dem Impuls, Antworten auf existentielle Fragen zu finden, die anhand vorherrschender ideologischer Erklärungsmuster nicht gefunden werden können. Einmal aufgeworfen, gewinnen diese Antworten eine eigene Logik, die sich dadurch auszeichnet, daß sie allmählich systematisiert wird. Ironischerweise trifft diese allmähliche Systematisierung mit der Erschöpfung ihrer Möglichkeiten zusammen, die Welt zu erklären 13; d. h. die Veralltäglichung des Charismas ist die Endstation der Karriere eines Begriffes und der Anfang der Möglichkeit, eine andere Erklärung für die existentiellen Fragen zu finden l4 . Gebhardt schreibt in diesem Sinne: "Sobald das Charisma als reale Kraft im gesellschaftlichen Leben in Erscheinung tritt, beginnt auch schon seine Veralltäglichung. Diese Aussage mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, doch kann der Beginn der Veralltäglichung nicht früh genug angesetzt werden".15 Angesichts der von Wolfgang Schluchter vorgeschlagenen begrifflichen Unterscheidung von Veralltäglichung und Versachlichung des "Reinencharismas", die wiederum dem Zweck dient, der strukturellen und entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung des Charisma-Begriffes Rechnung zu tragen, unterscheidet Gebhardt viele Formen des Charismas. Demnach und in Anlehnung an Weber: " ... [kann] Charisma sowohl Personen als auch Gegenständen und Ideen zugesprochen werden ( ... ). Es erscheint deshalb sinnvoll, explizit zu unterscheiden zwischen: 1. Personalcharisma (Charisma, das konkreten Individuen zugesprochen wird), Vgl. Schluchter (1979). Vgl. dazu Gebhardt (1994), S. 68: "Der charismatische Glanz einer Sippe, eines Amtes oder einer kanonischen Lehre kann verblassen, wenn deren Leistungen oder Inhalte der alltäglichen Wirklichkeit auf Dauer nicht mehr entsprechen". 14 Vgl. Zingerle (1996). Über das Charisma schreibt Max Weber: "Es soll bei den nachfolgenden Erörterungen unter dem Ausdruck: ,Charisma' eine (ganz einerlei: ob wirkliche oder angebliche oder vermeintliche) außeraUtägliche Qualität eines Menschen verstanden werden. Unter ,charismatischer Autorität' also eine (sei es mehr äußerliche oder mehr innerliche) Herrschaft über Menschen, welcher sich die Beherrschten kraft des Glaubens an diese Qualität dieser bestimmten Person fügen ... ". Weber (1989). S. 120-121 (Hervorhebung im Original). 15 Gebhardt (1994), S. 49. 12
13
58
Teil II: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
2. Objektcharisma (Charisma, das konkreten Naturgegenständen oder Artefakten zugesprochen wird) und 3. Ideencharisma (Charisma, das konkreten Ideen oder Ideensystemen zugesprochen wird)". 16
Diese Unterscheidung erscheint mir deswegen interessant, weil sie eine besondere Form des Charismas hervorhebt, die in meiner Untersuchung eine wesentliche Rolle spielt. Es geht um das Ideencharisma, das, wie Gebhardt zeigt, bestimmten Ideen und Ideensystemen anhaftet. In einer einfachen Darlegung weist die Vorstellung eines Ideencharismas auf die außeralltäglichen Merkmale einer Idee hin, die bei bestimmten Menschen Verhaltensweisen auslösen, die charakteristisch für charismatische Zustände sind. Die Existenz eines Ideencharismas läßt sich am anschaulichsten durch die Analyse der Formen der Institutionalisierung von Charisma nachweisen. Gebhardt hat in diesem Sinne darauf hingewiesen, daß die Veralltäglichung und Versachlichung Kategorien des Begriffes Institutionalisierung sind. Anders ausgedrückt führt die strukturell bedingte Rationalisierung und Traditionalisierung von Charisma (Veralltäglichung) und seine rein historische Entwicklung (Versachlichung) zur Systematisierung des charismatischen sozialen Handeins 17. Zur Veranschaulichung nennt Gebhardt das Weltbildcharisma, das er als eine Form des institutionalisierten Charismas sieht, die aus der Veralltäglichung und Versachlichung einer charismatischen Idee hervorgeht: ,,Am Ende der Institutionalisierung einer charismatischen Idee steht ... deren Umformung in eine systematisierte und schriftlich oder mündlich fixierte, als ,heilig' und deshalb als prinzipiell unveränderbar geltende Lehre, die, je nachdem ob sie eine Gesamtdeutung und Gesamterklärung der Wirklichkeit und der spezifischen Stellung des Menschen in ihr zur Verfügung stellt, ein ,Weltbild' begründen und auf Dauer stellen kann". 18
Methodisch erscheint es mich angebracht, eine idealtypische Geschichte des Begriffes Afrika zu entwerfen, die sich am Ansatz eines Ideencharismas orientiert. In der Tat beschäftige ich mich in dieser Untersuchung mit der Entstehung des Begriffes "Afrika" als charismatische Idee und des weiteren mit der Art und Weise, wie, ausgehend davon, die afrikanischen Intellektuellen ihr soziales Handeln nach jener Idee ausgerichtet haben. Colin Loader 19 hat zu bedenken gegeben, daß Karl Mannheims Überlegungen zur Ideologie und Utopie 20 eine Umsetzung des Weberschen Schemas Charisma/Veralltäglichung seien. Seine Argumente sind stichhaltig, aber auch ohne sie wäre es nachvollziehbar, wie sehr die beiden Denker einander nahe sind, vor allem in ihrem Bekenntnis zum Historismus. Denn sowohl Weber als auch Mannheim glaubten nur an die Wahrheit, die sich im historischen Ge-
18
Ebd., S. 38. Siehe dazu: Gebhardt (1994), S. 30; S. 69. Ebd., S. 71.
19
Loader (1985).
16 17
Mannheim (1995). Vgl. Zingerle (1981) für Mannheims Nähe zur Weberschen historischen Soziologie. 20
A. Die Erfindung Afrikas
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schehen offenbart, und nicht etwa an den positivistischen Begriff einer festen und vom sozialen Handeln unabhängigen Wahrheit. Schon Mannheims Definition des "utopischen Bewußtseins" als solches, " ... das sich mit dem es umgebenden ,Sein' nicht in Deckung befindet,,21, deutet auf die Parallele mit Weber hin. Die Rolle eines "Ideencharismas" findet auch bei Mannheim Anklang, denn in seiner Abhandlung über den Gestaltwandel des utopischen Bewußtseins mißt Mannheim Ideen eine wichtige Rolle bei. Er unterscheidet in der Tat zwischen vier "Gestalten" des utopischen Bewußtseins, nämlich (i) dem orgiastischen Chiliasmus der Wiedertäufer, (ii) der liberal-humanitären Idee, (iii) der konservativen Idee und schließlich (iv) der sozialistisch-kommunistischen Utopie. 22 Während im ersten, "orgiastischen Chiliasmus der Wiedertäufer" Ideen als solche keine Rolle spielen, wie übrigens das Qualifikativ "orgiastisch" bereits zeigt, kommt auf sie in den letzten drei Gestalten eine zentrale Rolle zu, wenngleich diese Rolle differenziert zu sehen ist. Utopien, so Mannheim, stellen " ... der ,schlechten' Wirklichkeit ein ,richtiges' rationales Gegenbild gegenüber,,23. Anders als der orgiastische Chiliasmus jedoch, bringt die liberal-humanitäre Utopie das rationale Gegenbild als Maßstab zum Einsatz, " ... mit dem man dem Geschehenden eher abwägend entgegentritt,,24: "Die Utopie des liberal-humanitären Bewußtseins ist die ,Idee'. Nicht die griechisch-platonische Idee in ihrer statisch-plastischen Fülle als Urbild der Dinge, sondern als bloßes ,Regulativ' für das diesseitige Werden, als formale, in die unendliche Ferne geschobene, von hier aus uns bewegende Richtungsbestimmheit". 25
Das Postulat eines Ideencharismas als methodischer Ansatz erweist sich in gewisser Hinsicht als vereinbar mit Mannheims Verständnis der Aufgabe der Wissenssoziologie. In seinen theoretischen Arbeiten über Ideologie und Utopie orientierte er sich dennoch stark an der Rolle, die Ideen oder die Idee in der abendländischen Geschichte gespielt haben, bzw. hat. Thematisch scheint die Arbeit von Breuer über das "Charisma der Vernunft" Mannheims Intention sehr nahe zu stehen, wenngleich vordergründig das Interesse bei Breuer darin lag, den Weberschen Charisma-Begriff weiterzuentwickeln 26. Aus meiner Sicht ist es viel produktiver, Mannheims Überlegungen zum "utopischen Bewußtsein" als Bestätigung der zentralen Rolle zu betrachten, die dem Charisma-Begriff zukommt, als der Versuchung nachzugeben und im Gestaltwandel des utopischen Bewußtseins einen nachahmenswerten Fahrplan für meine eigene idealtypische Geschichte des Begriffes Afrika zu sehen. Es wäre durchaus mög21 22
23 24 25 26
Mannheim (1995), S. 169 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 184-213. Ebd., S. 191. Ebd., S. 191. Ebd., S. 191. Siehe dazu: Breuer (1993).
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Teil II: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
lieh, den Werdegang des Begriffes "Afrika" in die Stufen des Gestaltwandels des utopischen Bewußtsein zu integrieren. Der Preis wäre allerdings sehr hoch, denn man würde die analytisch wichtige Spannung zwischen Entstehung und Systematisierung des Charismas aus den Augen verlieren. In diesem und dem folgenden Kapitel werden die strukturellen Bedingungen erörtert, die uns dazu berechtigen, von "Afrika" als einem Ideencharisma zu sprechen. Obwohl am Anfang sehr wohl Handlungen stattfanden, die orgiastisch-chiliastische Züge nachwiesen, war es vor allem das Verdienst zurückgekehrter Sklaven, "Afrika" als Phänomen sui generis zu denken, was uns in dieser Untersuchung erlaubt, frühere orgiastisch-chiliastische Handlungen in das afrikanische Weltbild einzubeziehen. Afrika als Idee verschärfte den Blick auf eine mögliche Geschichte, die desto deutlicher wurde, je mehr die Intellektuellen die Idee "Afrikas" institutionalisierten. Die analytische Spannung, auf die ich abziele, läßt sich mit Weber auf bestimmte Handlungstypen reduzieren. Als Afrika zunächst als Idee entworfen wurde, herrschte bei seiner Bestimmung durch die zurückgekehrten Sklaven eine Wertrationalität vor, die die Idee mit religiösen Sinngehalten ausstatteten, die wiederum eine auf bestimmten Werten basierende Gemeinschaft entwarfen. Strukturelle Gründe, allen voran die Kolonialisierung durch Europa und der aufgezwungene Verzicht auf politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit riefen eine Zweckrationalität hervor, die darauf bestand, die Idee Afrikas als Ausgangspunkt für das Erlangen verlorengegangenen Freiheit anzunehmen. Im Grunde genommen bezieht sich das Postulat "Afrika" als Ideencharisma darauf, wie aus dem Bedürfnis, eine Antwort auf eine existentielle Frage zu finden, ein Bild von Afrika entstand, das durch einen Prozeß der Institutionalisierung / Systematisierung seiner Prämisse eine soziale Wirklichkeit entfaltete, die heute als Afrika bekannt ist - wenn auch schwer erfaßbar. Die existentielle Frage bestand darin, die Begegnung mit Europa, vor allem durch die Sklaverei und die abwertenden Theorien über Afrikaner, die im neunzehnten Jahrhundert in Europa salonfähig waren, richtig zu deuten und zu verstehen. Im Laufe der Jahre begründete die anfängliche Antwort einen Diskurs von Afrikanern über Afrika, der bis zum heutigen Tag die Grundlage für die Historisierung, also die Modernisierung der afrikanischen Wirklichkeit, darstellt.
1. Die sozialen Bedingungen für das Ideencharisma Afrika
Man kann den Einfluß der Sklaverei und die Rolle der sogenannten afrikanischen Diaspora, d. h. der Afrikaner, die als Sklaven nach Amerika verkauft wurden, auf die geschichtliche Entwicklung des Selbstbewußtseins des Kontinents nicht genug betonen. Über die Sklaverei und ihre Auswirkungen läßt sich heute immer noch streiten. Die Wissenschaft ist sich immer noch nicht darüber einig, wie viele Afrikaner als Sklaven verkauft wurden oder wer schuld daran ist, daß
A. Die Erfindung Afrikas
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Menschen so behandelt wurden, wie sie während des Sklavenhandels behandelt wurden. Man kann diese Kontroverse hier nicht beilegen, und das sollte auch nicht unser Ziel sein. Eine Lektüre des Epos von Alex Haley 27 eignet sich als einfühlsame Einleitung in die verheerende Unmenschlichkeit der Sklaverei. Am 25. März 1807 schaffte Großbritannien die Sklaverei ab, ein Jahr vor Amerika und fünf Jahre nach Dänemark. Lange dauerte es, bis die anderen europäischen Länder, z. B. Spanien, Portugal, Frankreich, den gleichen Weg einschlugen. Über die eigentlichen Gründe, die zur Abschaffung der Sklaverei führten, herrschen, wie so oft bei diesem Thema, viele Unstimmigkeiten. Bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg herrschte die Meinung, wonach humanitäre Impulse dazu geführt hätten. Eric Williams, ein britischer marxistischer Historiker, führte 1944 die Abschaffung darauf zurück, daß die Sklaverei nicht mehr den Bedürfnissen des Kapitals entsprochen habe 28 , vor allem was die Briten anging, so daß es sinnvoller wurde, das wirtschaftliche System in Amerika zu reformieren. Dieses Werk hat in den entsprechenden wissenschaftlichen Fachgebieten eine Diskussion entfaltet, die heute noch geführt wird, obwohl die ideologischen Gräben so tief gegraben wurden, daß sich die an der Diskussion Beteiligten gegenseitig nicht mehr zu hören und verstehen können. Sei es, wie es sein mag, es ist zu bezweifeln, ob sich die Abschaffung der Sklaverei durchgesetzt hätte ohne das Wirken von Menschen, die aus humanitären Impulsen den Prozeß vorantrieben. Entscheidend dabei war die Rolle christlich motivierter Menschen, vor allem der Quäker auf dem amerikanischen Kontinent und der sogenannten Abolitionists in Großbritannien. Ihr Motto war "The Negro is a man ", auf welches die Sklavenhändler mit der Überzeugung konterten, daß die Abschaffung die Aufgabe nicht erfüllen würde, "the brutish race of slaves to improve its lot,,29. Den britischen Abolitionists gelang es, 1808 die britische Krone dazu zu bringen, Land an der Westküste Afrikas zu erwerben, um dorthin zurückkehrende befreite Sklaven anzusiedeln. So entstand Sierra Leone, das nach Daget eine Art "Übungsplatz,,30 für die philanthropischen Aktivitäten vieler beteiligter britischer Kirchen war. Die Amerikaner folgten 1821 dem Beispiel Großbritanniens ebenfalls durch den Erwerb von Land an der Westküste, dem heutigen Liberia. Dies geschah unter massiver Beteiligung der American Colonization Society, die die Aufgabe hatte, zurückkehrende ehemalige Sklaven in Afrika zu reintegrieren. Bezeichnenderweise wurden diese Länder dementsprechend benannt. Liberia bedarf keiner Erklärung, und die Hauptstadt Sierra Leones hieß und heißt immer noch Freetown. Auch wenn uns die Impulse hinter der Wohltätigkeit der Amerikaner und Europäer nicht zu sehr interessieren, sollte es nicht unerwähnt bleiben, daß 27 28 29 30
Haley (1987). Williams (1944). Vgl. Daget (1989), S. 69. Ebd., S. 79.
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die Durchführung dieser Mission einige Widersprüche aufwies. In diesem Zusammenhang ist es relevant zu bemerken, daß die American Colonization Society, die den Auftrag hatte, den Prozeß durchzuführen, eine ambivalente Strategie hatte, indem sie "den Amerikaner im Norden darauf verwies, wie wichtig für die Evangelisierung die Repatriierung war, während sie die Amerikaner im Süden darauf aufmerksam machte, daß die Rückführung der Schwarzen auch dazu diente, die eigene Gesellschaft zu säubern,,3!. Das Engagement von Missionaren in diesem Prozeß erweist sich als ausschlaggebend für die Art und Weise, wie die zurückgekehrten Sklaven ihre Lage thematisierten. Der Amerikaner Horatio Bridge reiste 1845 durch Westafrika und kam mit der Überzeugung zurück, daß Liberia die Bezeichnung als black man 's paradise verdiente 32 . Auch die Betroffenen selbst umkleideten ihre Lage mit der Sprache der Religion. K warne Nkrumah, der erste Präsident Ghanas, und jemand, der uns im Weiteren beschäftigen wird, faßte diese Überzeugung 1952 bei einer Rede in Liberia mit den Worten zusammen:
"Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß die Vorsehung die Schwarzen während ihrer Schwierigkeiten im Exil in den USA und der Karibik geschützt hatte; daß es die gleiche Vorsehung war, die Mose und die Israeliten in Ägypten vor Jahrhunderten behütete. ,Ein noch größerer Exodus kommt auf Afrika zu' habe ich festgestellt, ,und dieser Exodus wird hier dann von Statten gehen, wenn es ein vereinigtes, freies und unabhängiges Westafrika gibt ... '. ,Afrika den Afrikanern' habe ich gerufen ... ,,33 Edward Blyden, der den Geist der zurückgekehrten Sklaven mehr als jeder andere repräsentierte, brachte diese Überzeugung auf folgende Weise zum Ausdruck: "In Zukunftsvisionen sehe ich diese schönen Hügel - die Ufer dieser bezaubernden Bäche, die grünen Ebenen und die blühenden Landschaften ... Ich sehe wie die vom Exil im Westen zurückkehrenden von ihnen Besitz nehmen, sie die dafür ausgebildet sind, brachliegendes Land mit strenger Disziplin und unter harter Unterjochung wieder aufzubauen. Ich sehe auch wie ihre Brüder herbei eilen von den Hängen des Nigers und von seinen anmutigen Tälern ... Häuptlinge und das Volk, um sie zu begrüßen, sie kommen alle um etwas von der Inspiration zu erhaschen, die die Exilanten mitgebracht haben um sie mit den anderen zu teilen ... und um zurückzumarschieren ... zum Sonnenaufgang, um den Kontinent wieder zu erschaffen".34 Afrika war für diese Menschen das gelobte Land. 35 Diese religiöse Metapher ist natürlich teilweise darauf zurückzuführen, daß sich diese Menschen während ihres Aufenthalts in Amerika den christlichen Glauben angeeignet hatten. Blyden war 3! 32 33 34 35
Ebd., S. 81. Ebd., S. 82. Zitat nach Appiah (1992), S. 30. Blyden (1971), S. 129. Vgl. Mudimbe (1988), S. 117; siehe auch: Blyden (1971), S. \00.
A. Die Erfindung Afrikas
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außerdem Pastor. Sie brachten die Tatsache, daß sie das Christentum angenommen hatten, in Verbindung mit einem höheren Zivilisationsstatus, was ihnen das Gefühl vermittelte, sie hätten eine Mission. Zur Sklaverei schrieb Blyden z. B.: "Es handelte sich um eine Deportation aus einem barbarischen Land in ein zivilisiertes Land,,36. Crummell, ein anderer Pastor und Wortführer der Zurückgekehrten, sagte kurz und prägnant, "sie [die Afrikaner] haben das Evangelium nicht. Sie leben ohne Gott. Das Kreuz haben sie nie erblickt'.37. Sie dankten ihre Freilassung dem christlichen Glauben, der die Abschaffung der Sklaverei inspiriert hatte. Die Tatsache allerdings, daß gerade christliche Länder diesen unmenschlichen Handel getrieben hatten, führte sie nicht dazu, diesen Glauben zu verwerfen, sondern er verstärkte in ihnen das Gefühl, daß sie auf irgendeine Weise Auserwählte seien. In einem Schreiben an Mary Kingsley, eine englische Reiseberichterstatterin, die lange Zeit in Afrika gelebt hatte, wendete sich Blyden dieser Ironie des Schicksals zu und gab zu bedenken: "Sehr wenige unter den Rassen außerhalb der europäischen glauben an die Echtheit des Christentums des weißen Mannes. Denn weder in der Lehre noch in der Praxis eines weißen Laien zeigt sich für sie irgend etwas vom Geist des Christentums,.38. Weiter unten werden wir sehen, wie sie diese Ironie behandelten. 2. Die existentielle Frage Man sieht in diesem Selbstverständnis der Zurückgekehrten, welche existentiellen Fragen sie zu beantworten hatten. Es handelte sich um ehemalige Sklaven, die zurück nach Afrika gebracht worden waren. Sie hatten sich neue Lebensweisen angeeignet, die im Gegensatz zu denen der vermeintlichen Heimat standen. Liberia und Sierra Leone waren Inseln, die von Menschen bewohnt wurden, die keinerlei Verbindung zur umliegenden Bevölkerung hatten. Es soll hier auch erwähnt werden, daß sie von den ortsansässigen Afrikanern nicht sonderlich willkommen geheißen wurden. 39 Ein einfacher Bezug auf die Religion, indem sie sich z. B. darauf beschränkten, der Gnade Gottes zu danken, wäre auch keine Lösung für die existentielle Frage gewesen, denn es war auch teilweise im Namen Gottes, daß sie als Sklaven verkauft wurden. Wenn man die Frage so stellt, zwingt sie einen auch, sie selbst zu beantworten. Die Antwort bietet sich an, und im Denken von Edward Wilmot Blyden ist eine 36 Zitat nach Mudimbe (1988), S. 103; siehe auch den Aufsatz "The call of Providence to the Descendants of Africa in America" von Blyden in: Lynch (1971), S. 26-27. 37 Zitat nach Appiah (1992), S. 35. 38 Lynch (1978), S. 462. 39 Basil Davidson nennt das Beispiel der Häuptlingen, die vom Sklavenhandel profitierten und sich deshalb von diesen Menschen distanzierten, die den Handel abschaffen wollten. Davidson (1978).
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repräsentative Zusammenfassung zu finden. Mudimbe identifiziert drei Elemente in diesem Denken, nämlich erstens eine Gemeinschaft unter islamischer Führung, zweitens den Begriff der afrikanischen Nation und letztlich die Idee der Eintracht des Kontinents. 4o Tatsächlich sind diese Gedanken bei Blyden zu finden, und darüber hinaus sind sie Ausdruck seiner Bemühungen, eine Antwort auf die existentiellen Fragen zu finden, nämlich wer sie seien, was sie in Afrika zu tun hätten, und warum gerade sie sich in dieser Lage befänden. Für unsere Zwecke genügt es, wenn wir uns auf zwei Elemente konzentrieren, nämlich das Postulat der Eigenart der Schwarzen und die Rolle, die Schwarzamerikaner in der geistigen Entwicklung Afrikas spielen würden. Der Art und Weise, wie diese Gedanken formuliert worden sind, sind auch einige Ansätze zu entnehmen, die mir Anlaß geben zu glauben, daß hier der Ursprung des modemen Afrika zu finden ist. III. Die Träger des Ideencharismas Zehn Jahren nach seiner Ankunft in Afrika, also im Jahre 1862, äußerte sich Blyden zur Lage seiner Mitmenschen folgendermaßen: "Es gibt fünfzehntausend zivilisierte und christianisierte Afrikaner, die zwei Ziele anstreben, nämlich den Aufbau und Erhalt einer unabhängigen Nation und die Missionierung vieler Millionen von unevangelisierten und barbarischen (Menschen)".41 In einem Brief an Sir Samuel Rowe, dem Gouverneur von Sierra Leone, bekräftigte Blyden 28 Jahren später diese Überzeugung, indem er den Gouverneur darauf aufmerksam machte, daß die Ansiedlung von Schwarzamerikanern in Afrika die einzige wirksame Methode sein könnte, die Zivilisation dort zu verbreiten42 . Für ihn war es klar, daß sowohl das Christentum als auch die Rolle der Schwarzen dabei zukunfts weisend für den Kontinent seien: "Die Methode: einfach Jesus Christus in Ehren halten; das Instrument: der Afrikaner se1bst,,43. Wir haben bereits gesehen, in welchem Maße sich die Schwarzamerikaner als eine Art auserwähltes Volk fühlten. Sie reagierten damit, wie bereits gesehen, auf ihr leidvolles Schicksal, das sich dadurch auszeichnete, daß sie durch ihr Leid weder zu Amerika noch zu Afrika Bezug hatten. Afrika hatte sie als Sklaven verkauft. Diese eine Tatsache war für sie schwer zu verdauen, und Blyden läßt uns in diese Verzweiflung blicken, indem er einmal darauf verweist, daß nur diejenigen verkauft wurden, die Untertanen oder Kriminelle waren 44 . Das stimmt natürlich nicht, Mudimbe (1988), S. 114. Zitat nach Mudimbe (1988), S. 104. 42 Lynch (1978), S. 353. 43 Blyden (1971), S. 161. 44 Vgl. Blyden (1971), S. 126: "The Africans who were carried to the Western world were, as a general rule, of the lowest of the people in their own country. They did not fairly represent the qualities and endowrnents ofthe race". Siehe auch Blyden (1971), S. 273. 40 41
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aber man kann das besser verstehen, wenn man im Auge behält, daß die Schwarzamerikaner sowohl von Afrika als auch, und noch schlimmer, von Amerikanern und Europäern abgelehnt wurden, so daß die Suche nach ~iner Erklärung, egal welcher, die einzige Zuflucht für ihre emotionale Bedrohung war. Sie mußten es aus ihrem Glauben begründen, daß ihr Leiden irgendeinen Sinn hatte. Das Christentum und die Möglichkeit der Verbreitung des Wortes Gottes in Afrika waren zugleich das Bindeglied zwischen ihnen und Afrika und darüber hinaus die Bestätigung ihrer Rolle dabei. So schrieb Blyden im Jahre 1878 an Sir Thomas Fowell Buxton: "Die Mission Ihres Landes [Afrika] zu christianisieren und zu zivilisieren wird niemals durch Handel und militärische Machtproben von Statten gehen, auch nicht durch Schulen alleine - sondern durch die praktische Veranschaulichung jener großartigen Prinzipien von Gerechtigkeit und Menschlichkeit, welche der ,Große Lehrer', dem nachzufolgen Ihr bekennt, vorgab, aber welche - und das ist traurig zu beobachten - die christlichen Nationen bisher in ihrem Umgang mit schwächeren Rassen bei weitem noch nicht verstanden oder in der Praxis angewandt haben".45 1877 hatte Blyden einen Brief an den Sekretär der American Colonization Society, W. Coppinger, geschrieben. Darin bat er ihn darum, den Afrikanern in Amerika zwei Mitteilungen zu machen. Erstens gebe es in Afrika, ihrem Vaterland, viel Reichtum, dessen andere sich bedienen würden, falls sich die Schwarzamerikaner verspäteten. Zweitens könnten sie ihr Streben nach Ehre und Gleichheit nur im Zusammenhang mit Liberia wahrnehmen oder jedenfalls mit einer gut etablierten schwarzen Nationalität46 . Denn "eine afrikanische Nation ist das, was wir dringend brauchen und Gott teilt uns durch seine Vorsehung mit, daß er das Land vor uns ausgebreitet hat und er uns zu gehen heißt um davon Besitz zu nehmen,,47. Basil Davidson hat berichtet, daß sich Sierra Leone und Liberia in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts dadurch auszeichneten, daß sie Fortschritte im Bildungsbereich machten. In Sierra Leone wurden 42 Schulen für 6000 Schüler gebaut; 1854 war das Jahr, in dem der erste Schwarzamerikaner sein Studium als Rechtsanwalt abschloß, und zwischen 1858 und 1901 absolvierten ungefähr 35 Schwarzamerikaner das Medizinstudium, noch mehr qualifizierten sich als Pastoren und Lehrer. 48 Blyden hatte den Durst nach Wissenschaft gefördert. Er hatte die Afrikaner aufgefordert, der Welt zu zeigen, daß sie gleichberechtigt sein wollten indem man nach solchen Eigenschaften strebt, " ... die einem Staat Würde verleihen; indem man diejenigen Tugenden pflegt, die Individuen und Gemeinschaften Glanz verleihen,,49.
45
Lynch (1978), S. 271-2.
46
Ebd., S. 260.
48
Blyden (1971), S. 29. Davidson (1978), S. 169.
49
Zitat nach Davidson (1978), S. 168.
47
5 Macamo
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Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
Die Voraussetzungen für die mögliche Rolle der Schwarzamerikaner bei der Entwicklung Afrikas waren einigermaßen gegeben. Aber Blyden ging noch weiter. Er beanspruchte nicht nur diese Rolle für seine GefaJuten, sondern er begründete die Notwendigkeit einer solchen Rolle auch in dem Bedürfnis Afrikas, sich eine neue Identität zu erwerben. Es kam nicht nur darauf an, die ausländische Erfahrung der Schwarzamerikaner ohne jeden Bezug auf eine Idee von Afrika einzusetzen, sondern dafür zu sorgen, daß der Kontinent das würde, was sie sich vorgestellt hatten. Alle wußten ja, daß Afrika keine Einheit darstellte. In der Tat, sie empfanden diese Vielfältigkeit als Nachteil, was natürlich auch ihren Anspruch auf eine Rolle darin verstärkte. Alexander Crummell schrieb: "Afrika ist das Opfer seiner heterogenen Götzendienste. Afrika verrottet unter der Anhäufung von sittlichem und sozialem Elend. Dunkelheit bedeckt das Land und übergroße Dunkelheit die Menschen. Überall herrschen große soziale Übel vor. Vertrauen und Sicherheit werden zerstört, Unmoral ist überall im Übermaß anzutreffen. Der Moloch regiert und herrscht auf dem ganzen Kontinent und zermartert in Form von Fetischen, Menschenopfern und Teufelsanbetung Männer, Frauen und Kinder".50
Blyden nannte die religiösen Praktiken in Afrika paganism, aber er hörte hier nicht auf. Er plädierte dafür, daß die Afrikaner eine African personality schufen. Damit versuchte er zwei Ziele zu erreichen. Auf der einen Seite wollte er den Europäern zeigen, daß ihre Vorurteile gegenüber Afrikanern nicht stimmten. Auf der anderen Seite machte er den Weg frei für eine Annäherung von Schwarzamerikanern und Afrikanern. African personality war weder traditionell noch modern, sondern eine neue Schöpfung, die den Anspruch der Schwarzamerikaner auf eine Rolle in Afrika unterstrich und den Afrikanern die Möglichkeit bot, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Kwame Bediako hat Blydens Verständnis von African Personality erläutert: " ... die ,afrikanische Persönlichkeit' [war] gekennzeichnet durch Fröhlichkeit, ein Gefühl der Harmonie mit der Natur, Religiosität und Offenheit gegenüber der geistigen Dimension der Existenz, als auch durch die Fähigkeit zu leiden und zu dienen, was die Afrikaner dem ,alten Volk Gottes, den Hebräern, nicht unähnlich machte'. Vielmehr könnte man noch anführen, daß sie die Afrikaner auch dem ähnlich aussehen ließ, der sich erniedrigte und die Gestalt eines Dieners annahm, und der durch das Leiden vollkommen geworden, der ,Herr unserer Erlösung' wurde, ein offensichtlicher Verweis auf ChristuS".51
Er war der erste, der sich dem Studium des religiösen Glaubens in Afrika zuwandte52 . Großen Wert legte er darauf, dieses Afrika besser kennenzulernen und schämte sich, daß er mehr über Europa und Amerika wußte als über das Land und die Kultur seines Volkes. Und er wußte auch, warum: 50 Zitat nach Appiah (1992), S. 35. 51 Bediako (1995), S. 12. 52 Blyden (1971).
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"Wir haben es versäumt, uns mit der Heimat zu beschäftigen, weil wir mit Büchern ausgebildet wurden, die von Ausländern geschrieben wurden, und für eine andere Rasse, nicht für uns - oder für uns nur insofern als wir in den allgemeinen Merkmalen der Menschheit jener Rasse ähneln ... deshalb wandten wir unseren Brüdern im Hinterland den Rücken zu, sahen sie als die, von denen wir nichts lernen konnten, das uns weiterbringt, aufklärt oder bildet ... unsere Geschichte wurde für uns geschrieben und wir haben uns bemüht, ihr gemäß zu handeln; wohingegen die eigentliche Reihenfolge die ist, daß Geschichte erst stattfindet und dann aufgeschrieben wird". 53
Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß sich Blyden, anders als er oft mißverstanden wird54 , das Verhältnis zwischen Schwarzamerikanern und Afrikanern nicht als eine Einbahnstraße vorstellte. Afrika könne die Heimat der Zurückgekehrten nur dann sein, wenn sich beide auf neutralem Boden träfen. Diese Zusammenkunft hänge natürlich davon ab, in welchem Maße sich die Schwarzamerikaner dafür engagierten. Für Blyden war es klar, daß "der Neger im Exil ... ein Zuhause in Afrika hat. Afrika ist sein, wenn er will. Er kann es ignorieren. Er mag annehmen, daß er jeden Rechtes darauf beraubt sei; aber dies ändert nichts an seiner Beziehuqg zu diesem Land, und es beeinträchtigt auch nicht die Legitimität seines Anspruches".55 Die Bedeutung der hier angeführten Gedanken liegt darin, daß ein Bild Afrikas entworfen wurde, das es als eine Schicksals- und Wertegemeinschaft darstellte. Afrika war eine Schicksalsgemeinschaft, insofern das Leiden unter Sklaverei und rassistischer Abwertung von den Betroffenen Völkern als zentrale Bezugspunkte bei der Konstitution einer Gemeinschaft verstanden wurde. Die religiösen Metaphern wie etwa "auserwähltes Volk", "gelobtes Land", usw. dienten dazu, das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter einem gleichen Schicksal zu bekräftigen. Afrika war auch eine Wertegemeinschaft, und darunter verstanden die zurückgekehrten Sklaven die aus der Erfahrung des Leidens gezogene moralische und ethische Lehre. Afrika als Wertegemeinschaft bedeutete, daß es anders als Europa bzw. Amerika war und es seine Andersartigkeit auf eine sich radikal von den europäischen Normen unterscheidende Grundlage stellte, die, wie im Falle der African Personality, Werte verband, die eine Mischung aus historischen Erfahrungen waren. 53 Ebd., S. 221. Blyden schrieb diesbezüglich Folgendes: "The songs that live in our ears and are often on our lips are the songs which we heard sung by those who shouted while we groaned and lamented. They sang of their history, which is the history of our degradation. They recited their triumphs, which contained the records of our humiliation. To our great misfortune, we leamed their prejudices and their passions and thought we had their aspirations and their power." Zitat nach Mudimbe (1988), S. 121. 54 Man macht ihm den Vorwurf des Rassismus, d. h. insofern er Afrika als das Land der Schwarzen definiert hat, und vor allem wegen seiner Hervorhebung einer schwarzen Essenz. Ihm wird zugleich Unterwürfigkeit gegenüber den Europäern vorgeworfen, weil er den Anspruch erhob, Afrika zu ,zivilisieren'. 55 Blyden (1971), S. 124.
5*
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Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
Inwieweit Afrika als eine Schicksals- und Wertegemeinschaft konzipiert wurde, läßt sich am besten erläutern anhand der Konsequenzen, die von den Nachfolgern Blydens gezogen wurden. Im nächsten Teil möchte ich mich mit diesen Konsequenzen auseinandersetzen.
B. Die Veralltäglichung "Afrikas" I. Afrika als Schicksals- und Wertegemeinschaft
Das Gefühl, daß die Sklaverei und die Unterdrückung durch die Europäer Zeugen dafür waren, daß die Schwarzamerikaner Auserwählte seien, hörte nicht bei der Suche nach einer Rolle innerhalb Afrikas auf, sondern führte auch dazu, dieses werdende Afrika als Gegensatz zu Europa zu begreifen. Afrika war anders als Europa und Amerika. Ihm kam ein von Gott gegebener Auftrag zu. Blyden schrieb: Es gibt Sterne, so berichten uns die Astronomen, deren Licht die Erde noch nicht erreicht hat; genauso gibt es Sterne im moralischen Universum, die von dem freien Afrikaner erst noch erschlossen werden müssen, die er entdecken muß, bevor er dazu fähig sein wird, fortzuschreiten ohne dabei in gefährliche See zu geraten und ernste Verletzungen zu erleiden. 1
Blyden und seine Weggefährten brauchten einen Begriff für ihre neue Heimat, der den Gegensatz zur Zivilisation, aus der sie stammten, ausdrücken konnte. Das Postulat einer afrikanischen Essenz war somit durch ihre eigene Erfahrung und das Gefühl, daß sie eine Mission hatten, bedingt. Die Art und Weise, wie sie die Andersartigkeit Afrikas formulierten, hing mit den abwertenden Vorurteilen der Europäer gegenüber Afrika zusammen. Dieses Postulat von Afrika wurde durch zwei Elemente untermauert, nämlich Rasse und Gemeinschaft. Das neunzehnte Jahrhundert ist zu Recht als das Jahrhundert bekannt, innerhalb welchem der Begriff "Rasse" Karriere machte. Blyden und seine Kollegen waren darüber informiert; in der Tat formulierten sie ihre Gedanken über Afrika in bezug auf diese Auseinandersetzungen. Es gibt Anlaß genug, die Ansicht zu vertreten, daß Herder, der viel über Nationen als Essenzen geschrieben hatte, einen großen Einfluß auf ihr Denken nahm. Das führte natürlich zu einigen theoretischen Schwierigkeiten. Sowohl Blyden als auch Crummell legten viel Wert darauf, die englische Sprache als Mittel der Verbreitung der Zivilisation zu benutzen, was ihren eigenen Bedürfnissen sicherlich entsprach, aber diese Wahl diente auch dazu, die sprachliche Vielfalt in Afrika zu überwinden. Kwame A. Appiah hat diesbezüglich ironisch bemerkt, daß Herder, der geistige Vater des modemen Nationalismus, viel Wert auf den Sprachgeist als Ausdruck der Zusammengehörigkeit der Nation, legte. Pointiert bemerkte er: "da ... in I
Zitat nach Mudimbe (1988), S. 128.
B. Die Veralltäglichung "Afrikas"
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Crummell so viel Herder steckt, könnten wir vermuten, daß sich Crummell mit dem Versuch herumquälen würde, in den traditionellen Sprachen Afrikas eine Quelle der Identität zu finden,,2. Appiah fährt fort und gibt zu bedenken, daß Crummell möglicherweise keine Schwierigkeiten damit hatte, daß er die englische Sprache gegenüber den vielen afrikanischen Sprachen bevorzugte, denn für ihn zählte nur eins, nämlich die Betrachtung der englischen Sprache als Mittel für die Verbreitung des Christentums 3 . Diese Interpretation hat wenig Überzeugungskraft. Obwohl ich im nächsten Kapitel Gelegenheit haben werde, auf diese Frage noch einmal einzugehen, kann hier vorweggenommen werden, daß diese Menschen innerhalb einer bestimmten historischen Konstellation handelten. Um dies richtig zu deuten, scheint es weniger ratsam zu sein, davon auszugehen, daß es damals ein Afrika gab, das Blyden und Kollegen zu verändern versuchten. Und genau das tut Appiah, setzt man voraus, daß es in der Tat kein Afrika gab. Durch ihr Denken und das Bedürfnis, sich eine Rolle in der Welt zu verschaffen, legten sie den Grundstein für die Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit, was Afrika, dem Kontinent, gleichkam. Ein anderes Mißverständnis beruht auf dem Vorwurf, Blyden und Kollegen seien Rassisten, weil sich das Bild Afrikas, das sie sich vorgestellt hatten, von der Tatsache bestimmt wurde, daß sie Schwarze waren. Sie konnten sich nur einen durch die schwarze Rasse bestimmten Kontinent vorstellen, eine Rasse, der eine spezifische Kultur zukam. Sie sahen - so kann man sagen - nur schwarz, aber die Kritiker scheinen in der Dunkelheit zu bleiben. Die Vorstellung von Afrika läßt sich meiner Meinung nach jedoch nicht auf die Rasse reduzieren, wenngleich die Betonung dieses gemeinsames Merkmals entscheidend für die Kohärenz ihrer Argumente war. Blyden schrieb: "Es ist das Gefühl der Rasse - das Verlangen nach einer eigenen Entwicklung, der Art der Menschheit, der wir angehören. Italiener und Deutsche sehnten sich lange Zeit nach einer solchen Entwicklung. Die slawischen Stämme suchen gerade danach. Nun aber trägt nichts mehr dazu bei, dieser Gefühle zu schwächen und dieses Verlangen zu unterdrücken als die Vorstellung, daß die Leute mit denen wir verbunden sind, und deren Leben wir zu verbessern suchen, niemals eine Vergangenheit hatten oder nur eine unrühmliche Vergangenheit - eine Vorgeschichte - ,ohne Bedeutung und Hoffnung', die man am besten ignorieren und vergessen sollte".4
Wenn ich die Motivationen hinter dem Streben dieser Menschen richtig gedeutet habe, so sollte die Verwendung des Begriffes Rasse in diesem Zusammenhang nicht im engeren Sinne verstanden werden, sondern vielmehr als eine Metapher, die die Gemeinsamkeiten zwischen Schwarzamerikanern und Afrikanern herausstellen sollte. Blyden glaubte im neunzehnten Jahrhundert, die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Zusammengehörigkeit zu erkennen. Und "Rasse" im biologi2 3 4
Appiah (1992), S. 31. Ebd., S. 31-2. Blyden (1971), S. 212.
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Teil II: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
schen Sinne des Wortes spielte dabei eine sehr geringe Rolles. Es handelte sich eigentlich vielmehr um den Begriff der Nation im weiteren Sinne. Er äußerte sich dazu folgendermaßen: "Die Rassen in Europa streben danach, sich gemäß ihrer natürlichen Ähnlichkeiten zusammenzugruppieren ... die Deutschen sind verbündet; die Italiener sind vereint. Griechenland wird gerade wieder aufgebaut. Und so hat dieser Rassengedanke den Afrikaner hier erfaßt. Das Gefühl liegt in der Luft - die Ebene auf der Rassen sich bewegen. Und es gibt kein Volk bei dem das Verlangen nach Einheit und Erhaltung der Rasse stärker ist als beim Neger".6
Der Begriff natural affinities ist hier von entscheidender Bedeutung, denn er bringt die eigentliche Richtung zum Ausdruck, in die sich das Streben Blydens und seiner Kollegen bewegte. Sie sangen hier ein Loblied auf die Rasse, wohl um die Besonderheit des afrikanischen Schicksals hervorzuheben. Man muß sich auch vorstellen, daß die Rahmenbedingungen, innerhalb welcher sie sich mit Afrika auseinandersetzten, dem Begriff "Rasse" einen entscheidenden Platz einräumten. Die Vorstellung Afrikas als einer auf Rasse basierenden Gemeinschaft war auch durch den europäischen Diskurs über die Schwarzen bedingt. Man braucht hier nicht schon wieder die Lieblingsrassisten der afrikanischen Intellektuellen aufzulisten, wohl aber darauf hinweisen, daß es im Europa des neunzehnten Jahrhunderts in bezug auf die Inferiorität der Schwarzen deren viele gab. Es wird reichen, wenn ich diese Abwertung der Afrikaner am Beispiel Hegels aufzeige, der ja bekanntlich in seiner Geschichtsphilosophie Afrika vorgeworfen hatte, kein Prinzip der Universalität, keine Geschichte, keine Unabhängigkeit von der Natur aufzuweisen 7 • Martin Bemals zweibändiges Werk über den Einfluß des Rassismus auf die Geschichtsschreibung ist m.E. immer noch der beste Wegweiser in diese Thematik. 8 5 Diese Feststellung bedarf einer differenzierten Sicht. Eine biologische Definition der Rasse gab es insofern als Blyden zwischen "Schwarzen" und "Mischlingen" zugunsten der Ersteren unterschied. In zahlreichen Briefen beschrieb er "Mischlinge" nicht nur als Entartung sondern auch als Gefahr für die Mission, die Schwarzamerikaner in Afrika hatten. In einem Schreiben an William Coppinger, dem secretary der American Colonisation Society, im Jahre 1887 bemerkte er: "I receive letters frequently from persons in the South asking information about Liberia. I seldom reply because I do not know whether the writers are mulattoes or blacks and I wish to have no hand in inducing any more mulattoes to come to Africa" Blyden (1971), S. 381. Im Januar 1888 schrieb er an den gleichen Adressaten: "Dr. Lowies's administration of the Presbyterian mission work in Liberia has failed through his unwillingness to see that the mulatto is not a Negro, and his leaning probably to the opinion that the mixed man as being nearer the white man is superior to the Negro". Ebd., S. 382. Manchmal war die Sprache auch sehr negativ: " ... I am filled with indignation at the stupidity of the Liberian Government. I should not say at the Liberian Government but at that unfortunate system which saturated Liberia with mongrelism and the mongrel spirit". Ebd., S. 388. 6 Ebd., S. 122. 7 Hegel (1956), S. 99. 8 Bemal (1987) und (1991).
B. Die Veralltäglichung "Afrikas"
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Blyden wehrte sich gegen diese Abwertung der Schwarzen, indem er auf der einen Seite versuchte, das Bild der Afrikaner in einem besseren Licht darzustellen, und auf der anderen Seite, die Andersartigkeit der Afrikaner zu postulieren. Er führte die europäischen Vorurteile auf Ignoranz zurück und stellte fest, daß nur, weil diese Vorurteile funktionell für das europäische Projekt der Unterdrückung der Afrikaner gegen alle christliche Normen waren, denen sich die Europäer doch verpflichtet fühlen müßten, diese eine so große Rolle spielten. 9 Der Europäer sei dem Afrikaner weder überlegen noch unterlegen, sondern er sei eben anders. Es könne an den geographischen Bedingungen liegen und vielleicht auch an der Präsenz der Europäer in Afrika, aber es gebe keinen rationalen Gründe, die beiden zu vergleichen: ,,Es gibt keine absolute oder wesentliche Überlegenheit auf der einen Seite, noch gibt es auf der anderen Seite eine absolute oder wesentliche Unterlegenheit. Es handelt sich vielmehr um eine Frage der verschiedenen Begabung und eines unterschiedlichen Schicksals. Keine Ausbildung oder Kultur, und sei sie noch so umfangreich, macht aus einem Neger einen Europäer; andererseits macht das Weglassen der Ausbildung oder der Mangel an Kultur aus einem Europäer keinen Neger. Die zwei Rassen bewegen sich nicht in der gleichen Schiene mit einem unermeßlichen Abstand zwischen den beiden, sondern auf zwei Parallelen. Sie werden sich nie auf der Ebene ihrer Aktivitäten treffen um so in Fähigkeit und Leistung gemessen zu werden. Sie sind nicht identisch, wie manche denken, sondern unterschiedlich; sie sind deutlich voneinander abgegrenzt, aber gleich". 10
Auf die Afrikaner kam die Aufgabe zu, ihre Eigenart, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Blyden stellte sich diesen Entwicklungsprozeß in einer Form vor, die später, dann schon im zwanzigsten Jahrhundert, von anderen Afrikanern aufgegriffen wurde, wie weiter unten angeführt wird. Drei Aspekte standen im Mittelpunkt. Erstens das Christentum, seiner Meinung nach die höchste Entwicklungsstufe, die eigentlich bereits in der Weltanschauung der Afrikaner vorhanden war, denn wie sonst könnten heidnische Gemeinschaften zusammenhalten, wenn nicht unter dem Einfluß göttlicher FÜhrung?ll Interessanterweise stellte sich Blyden das Studium der Bibel "without note or comment,,12 vor, da die christliche Botschaft von universaler Geltung sei. Hinter diesem Gedanken des Studiums der Bibel ohne Anmerkung oder Kommentar war Blydens Befürchtung verborgen, daß so die Europäer weiter Einfluß auf die geistige Entwicklung Afrikas nehmen würden. Diese Befürchtung kommt deutlich zum Ausdruck beim zweiten Aspekt. Er war fest davon überzeugt, daß die Afrikaner davon profitieren würden, wenn sie sich Zeit nähmen, alte Sprachen zu lernen. Damit meinte er Latein, Hebräisch und Griechisch, Sprachen, die er selbst beherrschte. "Im Griechischen und im Lateinischen und in der entsprechenden LiVgl. Mudimbe (1988), S. 118. Blyden (1971), S. 277. 11 Ebd., S. 126. 12 Ebd., S. 89.
9
10
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teratur gibt es, so viel ich weiß, keinen Absatz, kein Wort oder Silbe, die die Schwarzen abschätzig darstellen"l3. Er schätzte diese Sprachen und die Kultur, die damit verbunden war, mit der Fähigkeit, die modeme Welt zu verstehen und sich darin gut auszukennen. Bezugnehmend auf eine geschichtswissenschaftliche Einteilung der historischen Entwicklung, die sechs Stufen umfasse, nämlich die theokratische Gesellschaft, die griechische und römische Zivilisation, das Mittelalter, die Neuzeit und die Zeit der Französischen Revolution, schlug er vor, daß sich die Afrikaner nicht um die zwei letzten Stufen kümmern sollten, denn es war während dieser Zeit, daß "der transatlantische Sklavenhandel aufkam und solche Theorien im theologischen, gesellschaftlichen und politischen Bereich - erfunden wurden um den Neger zu erniedrigen und zu ächten"l4. Der dritte Aspekt bestand darin, all diese Bemühungen mit einem Bezug auf afrikanische Traditionen zu verbinden, aber nicht, um die Vergangenheit zu glorifizieren, sondern um die Teile herauszunehmen, die einen Beitrag zur Verfestigung der erfundenen Essenz Afrikas leisten könnten: "Wir haben keine Vorgeschichte, an der wir uns erfreuen können - nichts in der Vergangenheit, das uns inspirieren könnte ... alle uns angenehmen Assoziationen sind mit der Zukunft verbunden. So wollen wir denn danach streben, eine ruhmreiche Zukunft zu erlangen,,15. Edward Wilmot Blyden lebte nicht lang genug, um diese Zukunft mitzuerleben. Alles ging zu schnell. Wahrend er hart daran arbeitete, die Pläne für den Aufbau seines Afrika zu skizzieren, bemächtigten sich die Europäer des afrikanischen Kontinents. Die Berliner Konferenz, auf der sich die europäischen Kolonialmächte Afrika teilten, fand 1887 statt. Wie auch immer, wichtig für uns ist festzustellen, daß die Verbreitung der europäischen Kolonialmacht nicht zum Tod von Blydens Ideen führte, sondern zur Notwendigkeit ihrer Bearbeitung und Anpassung an neue Gegebenheiten. Weiter unten wird diese Anpassung näher erläutert werden, aber bevor es so weit ist, sollte ein Blick auf die Bedeutung von Blydens Denkens geworfen werden, damit sein charismatischer Charakter genauer erfaßt werden kann. Die richtige Deutung eines Denkschemas muß die Spannung zwischen einer Weltanschauung und der Wirklichkeit wahrnehmen. Der Begriff Charisma hat nur dann soziologischen Sinn, wenn er den Betrachter dazu führt, die sozialen Umstände zu untersuchen, die letztendlich charismatische Persönlichkeiten hervorrufen 16. Diese weisen auf die Spannung zwischen Weltanschauung und Wirklichkeit hin, eine Spannung, die von großer soziologischer Bedeutung ist. Im Denken Blydens, so wie hier angeführt, zeichnet sich diese Spannung dadurch aus, daß das Postulat einer afrikanischen Essenz und des damit verbundenen Anspruchs der Schwarz13
Ebd., S. 83 - 84
14
Blyden (1971), S. 82.
15 16
Ebd., S. 91. Vgl. Breuer; (1991), S. 34.
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amerikaner auf eine fast messianische Rolle bei der Bestimmung derselben darauf abzielt, die gegenwärtige Lage Afrikas zu bewältigen. Die Art der Bewältigung dieser Spannung rief ein neues Phänomen hervor, nämlich eine bewußte Mischung von Tradition und Modeme mit dem Ziel, die Wirklichkeit mit rationalen Mitteln. zu konstruieren. Einige Worte über dieses Phänomen sollen demnächst gesprochen werden, denn in den Bestandteilen dieses Phänomens findet man die Beweise dafür, daß "Afrika" ein moderner Begriff ist.
1. Exkurs: Tradition in der Moderne: Wie modern ist Afrika? Von 1856 bis 1887, als Edward W. Blyden gerade sein viertes Jahr in Afrika feierte, spielte sich eine Tragödie in Südafrika ab, wo sich langsam, aber sicher die Engländer und Holländer hineingedrängt und dabei eine Ethnie, die Xhosa, aus ihrem Gebiet vertrieben hatten. Diese Tragödie hat Symbolcharakter für die Anfänge des Verhältnisses zwischen Europäern und Afrikanern. Der südafrikanische Historiker J. B. Peyres hat eine sehr interessante Studie 17 über das sogenannte Great Xhosa Cattle-killing Movement vorgelegt, denn, wie er bescheiden erklärt, ,,[E]s wurde noch nie ein Buch darüber geschrieben, nicht einmal ein schlechtes Buch,,18. Ich werde mich dieses Buches bedienen, um den Charakter dieses Verhältnisses zu präzisieren, und dabei feststellen, wie sehr die Ideen von Blyden eine wichtige Wende repräsentierten. Die Xhosa waren wie die meisten Völker Südafrikas Viehzüchter. Ihr Leben drehte sich um die Viehhaltung. Südafrika hat ein für Europäer sehr angenehmes Klima, und seit der Entdeckung des Kaps der guten Hoffnung siedelten sich immer mehr Europäer, vor allem Engländer und Holländer, an der Küste an. Oft vertrieben sie die Einheimischen. In den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts führte dies zu Unruhen in der ganzen Region. Die Zulu, eine Ethnie mit einem stark ausgeprägten Sinn für militärische Expansion, verschaffte sich Lebensraum, indem sie gegen die anderen Ethnien vorging, darunter auch die Xhosa. Doppelt bedrängt durch die Europäer und die Machtansprüche der Zulu, verstanden die Xhosa die Welt nicht mehr. Ihre religiösen Vorstellungen beschränkten sich darauf - und darin waren sie nicht andere als ihre Nachbarn - jegliches Unglück im Leben darauf zurückzuführen, daß die Geister der Ahnen mit dem Verhalten ihrer Gemeinschaft nicht zufrieden waren. Getreu der Gewohnheit, Ahnen durch Opfer zu beruhigen, stellte sich die Gemeinschaft darauf ein, sobald sich die Anzeichen häuften, daß die Ahnen unzufrieden waren. Diese Unzufriedenheit war leicht daran zu erkennen, daß die Lebensbedingungen des Volkes schlecht geworden waren. Um Opfer zu bringen, reichte es oft aus, Vieh zu schlachten. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch die Vorstellung, daß eine Person, die stirbt, 17
18
Peyres (1989). Ebd., S.iv.
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eigentlich nicht tot ist. Diese Vorstellung wurde später von einem Theologen aus Uganda, John Mbiti, im Begriff "the living-dead,,19 genauer erfaßt. Mbiti stellte fest, daß dieses Verständnis vom Jenseits vielen religiösen Vorstellungen in Afrika zugrundeliegt. Er teilte das afrikanische Jenseits in zwei Stufen ein, Zamani und Sasa, wobei erstere die Stufe der höheren Geister sei, d. h. dort, wo sich Gott und die Geister der Gründer des Klans befanden, und letztere die Stufe der niedrigeren Geister, d. h. der Versammlungsort für die Geister der vor kurzem gestorbenen Verwandten, die dort fünf oder sechs Generationen lang bleiben, also solange in der Gemeinschaft noch jemand lebt, der sich an diese Verwandte erinnern kann 2o . Die Nähe zu den Europäern hatte die Xhosa in Kontakt mit dem christlichen Glauben gebracht, und ein Xhosa, der lange als Diener evangelischer Missionare gearbeitet hatte, wurde vom Beispiel Jesu so ergriffen, daß er versuchte, die Wirklichkeit seines Volkes mit christlichen Vorstellungen umzuinterpretieren. Mhlakaza hieß er vor seiner christlichen Taufe. Wilhelm Goliath hieß er nach 1848, d. h. nach seiner Taufe, - ein ironischer Name für die riesige und tragische Aufgabe, die er vor sich hatte. Denn seine zwölfjährige Nichte, die Nongqawuse hieß, glaubte unter seinem Einfluß Visionen gehabt zu haben und sagte ihrer Gemeinschaft, sie habe mit den verstorbenen Ahnen gesprochen. Diese hätten ihr gesagt, sie würden auferstehen, allerdings unter der Bedingung, daß das Volk sein Vieh, das von einer europäischen Tierkrankheit heimgesucht worden war, schlachtete, die Äcker nicht mehr bearbeitete, sondern Ställe für neues gesundes Vieh errichtete, Gräber für Getreide grub, Hexerei abschaffte, sich selbst schmückte und auf die Ahnen wartete, die auferstehen würden. Die Geschichte ist sehr komplex, und Metaphern spielen hierbei eine wichtige Rolle 21 . Militärisch waren die Xhosa den Europäern unterlegen. Sie hatten allerdings von der Niederlage der Engländer gegen die Russen im Krimkrieg gehört, und einige von ihnen glaubten, die Russen seien die Vorfahren der Xhosa und sie würden kommen, um ihnen gegen die Engländer zu helfen. Auf die Lungenkrankheit, die ihr Vieh angriff, reagierten sie mit der Vorstellung, das Vieh sei unrein und die Ahnen möchten ihnen damit signalisieren, daß sie das Gespräch suchten. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß die kleine Prophetin Nongqawuse eigentlich nicht sagte, das Volk solle das Vieh schlachten, sondern es abschaffen, "get rid 0/ Vgl. Mbiti (1989), S. 74-89. Peyres (1989), S. 83. 21 An dieser Stelle sei auf eine Auseinandersetzung zwischen dem amerikanischen Ethnologen, Marshall SahIins und dem aus Sri Lanka stammenden Ethnologen und Psychoanalytiker Gananath Obeyesekere über die Deutung des Todes von Kaptain Cook auf Hawaii im 18. Jahrhundert verwiesen. In jenem Streit ging es um die Interpretation der Gründe, weshalb die Inselbewohner Kaptain Cook töteten. SahIins vertrat die Meinung, wonach die Hawaiianer unter dem Einfluß mythologischer Vorstellungen gehandelt hätten, während sich Obeyesekere als Hüter der Ehre der nicht-europäischen V61kern sah und gegen SahIins den Einwand erhob, daß die Hawaiianer durchaus in der Lage waren, zwischen Mythos und Wirklichkeit zu unterscheiden. Vgl. dazu, Sahlins (1986), (1995), (1996); Obeyesekere (1992), (1994). 19
20
B. Die Veralltäglichung "Afrikas"
75
it. " Viele Xhosa verkauften ihr Vieh an Weiße, aber weil die Prophezeiung nicht eintraf, begannen sie zu glauben, sie sollten das Vieh schlachten. Der Prophezeiung zufolge würden sie den Reichtum der Europäer erben.
Zuerst waren einige Xhosa mißtrauisch, aber die Mehrheit folgte dem Mädchen und tat, wie es ihnen gesagt worden war. Sie schlachteten ihr Vieh, allerdings in vielen Anläufen, weil eben nicht alle die Anweisungen befolgt hatten. Die vielen Termine für die Auferstehung der Verstorbenen wurden immer wieder nicht gehalten, weil irgend jemand sein Vieh nicht geschlachtet hatte. Und so ging es weiter, bis Tausende von Xhosa an Hunger starben. Auch für sie gab es keine Auferstehung. Und sie verloren das Land, fast für immer, bis Nelson Mandela, auch ein Xhosa, mit einer modernen Partei Südafrika neu erfand. Peyres hat versucht, das ganze Phänomen durch eine Analyse der Politik der Kolonialmacht England anschaulich zu machen. Ihm zufolge zielte diese Politik darauf ab, die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Xhosa zu zerstören, sie unter britische Herrschaft zu bringen und ihr Land und ihre Arbeitskraft den weißen Siedlern zur Verfügung zu stellen. Die Europäer hätten nicht früh genug eingegriffen, als sie sahen, wohin die Xhosa trieben. Der kollektive Selbstmord spielte in die Hände der europäischen Politik. Das trifft jedoch nur teilweise zu. Peyres Analyse hat den Vorteil, daß sie weg von der kalten Abstraktion der Wissenschaft geht, einer Wissenschaft, derartigen Phänomenen den Namen Cargo cults zuweist und sie dadurch für ein gefährliches Leben in Fußnoten und Lexikonartikeln bestimmt, wo man die Hochspannung in entscheidenden Phasen des Lebens dieser Menschen nicht wahrnehmen kann. Hier ist nicht der Platz, noch einmal auf diese Fragen einzugehen, wohl aber einen Blick darauf zu werfen, in welcher Hinsicht sich das cattle-killing movement von Blyden unterscheidet. Auf der Oberfläche gibt es ziemlich viele Ähnlichkeiten. Sowohl das cattle-killing movement als auch die Schwarzamerikaner hatten das Problem, daß sie eine existentielle Frage zu beantworten hatten, nämlich die Frage nach der Ursache ihres Leidens. Beide nahmen Elemente aus der christlichen Religion und mischten sie mit einheimischen Elementen, um eine frohe Botschaft zu verkünden. Diese führte die Xhosa in den Massenselbstmord. Die Schwarzamerikaner dagegen legten, wenn auch mit Verspätung, den Grundstein, wie wir weiter unten sehen werden, für die Entwicklung eines politischen Diskurses, der die Lösung der existentiellen Frage hervorbrachte. Nun stellt sich die Frage, worin der Unterschied lag. Der Historiker Basil Davidson hat über Blyden und Kollegen folgendes geschrieben: "Diese bisweilen hervorragenden Männer, die sich zwischen einer weißen Zivilisation befanden, die sie nicht haben wollte, welche sie jedoch zutiefst bewunderten, und einer schwarzen Zivilisation, die sie auch nicht haben wollte, die sie aber auf jeden Fall verachteten, waren so in einer Falle gefangen, aus der sie auch ihre hervorstechendsten Argumente nicht befreien konnten,,?2
Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
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Bis auf den letzten Worte stimmt, was Davidson hier vorträgt. Anders als die Xhosa hatten die Schwarzamerikaner keine sozialen Bindungen zu irgendeiner Gemeinschaft, sehnten sich aber danach. Sie mußten sich eine Gemeinschaft vorstellen und mit Taten versuchen, sie aufzubauen. Davidson irrt, wenn er schreibt, sie hätten keine Lösung für ihr existentielles Problem. Die Erfindung Afrikas war die Lösung, und das war neu. In den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts rief Blyden die Afrikaner in Nigeria auf, eine afrikanische christliche Kirche zu gründen. In Südafrika, wo sich inzwischen der neue Diskurs etabliert hatte, wuchs eine Bewegung, die sich Äthiopianismus nannte, eine Welle afrikanischer christlichen Kirchen, die die Idee eines gemeinsamen afrikanischen Schicksals verbreitete. Viele der Gründer des südafrikanischen National African Congress, J. L. Dube, Sol Plaatje, P. Isaka Sene und D. D. T. Jabavu am Anfang unseres Jahrhundertes, aber auch andere Nationalisten in anderen afrikanischen Länder und zu einem etwas späteren Zeitpunkt wie Eduardo Mondlane von Mosambik, Kamuzu Banda von Malawi und viele andere 23 hatten in Amerika an schwarzen Universitäten studiert, wo sie sicherlich mit Blydens Ideen in Kontakt kamen. Die Bemühungen der Zurückgekehrten, sich in Afrika eine Heimat zu schaffen, kann so als die Geburtsstunde Afrikas bezeichnet werden. Wir müssen jedoch weitere Elemente zu dieser Hypothese hinzufügen, um die Feststellung zu untermauern, wonach Afrika ein moderner Begriff sei. Nach wie vor bleibt Max Weber heuristisch der Wegbegleiter. Der Entstehung des Charismas folgt die Systematisierung, die mit der Versachlichung einhergeht24 • Die Systematisierung wird dadurch gekennzeichnet, daß sich verschiedene Lebenssphären aus diesem charismatischen Impuls entfalten, die dafür verantwortlich sind, daß sich das Charisma veralltäglicht. Ich identifiziere drei wichtige Lebensbereiche, denen die Aufgabe zufiel, Blydens Lehre in die Wirklichkeit umzusetzen. Erstens den Bereich der Politik, der sich vor allem in solchen Ideologien wie Nkrumahs Conscientism und Nyereres Ujamaa bemerkbar machte. Zweitens den Bereich Religion, der zu einer besonderen Entwicklung der sogenannten afrikanischen Philosophie führte, und letztlich den intellektuellen Bereich, der besonders in der literarischen Bewegung Negritude eine Entfaltung fand. Man könnte einen vierten wirtschaftlichen Bereich hinzufügen, aber wie wir am Ende dieses Teils, aber vor allem im nächsten, sehen werden, spielte dieser Bereich eine sehr geringe Rolle dabei, und gerade deshalb wurde er zum Ausgangspunkt der Sackgasse, in die der Panafrikanismus führte.
22 23 24
Davidson (1978), S. 172. Vgl. Davidson (1978), S. 168. Vgl. Rothl Schluchter (1979), Kap. 3.
B. Die Veralltäglichung "Afrikas"
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2. Die Entwicklung eines politischen Diskurses Imanuel Geiss hat die Entstehung des Bewußtseins der afrikanischen Zusammengehörigkeit mit einer Fülle von Faktoren erklärt, die einem Prozeß gleichkamen. "Dieser Prozeß nahm das gesamte 19. Jahrhundert in Anspruch,,?5 Der in Amerika mit der Monroe-Doktrin populär gewordene Slogan Americafor the Americans habe, "entsprechend abgewandelt, fast zu einem Kriterium für panafrikanische Vorstellungen [geführtl: ,Africa for the Africans ",26.
Africa for the Africans ist als Slogan deshalb interessant, weil er bereits einen politischen Inhalt hat. Man erhebt einen Anspruch, der nicht mehr darauf ausgerichtet ist, eine Zuflucht vor der Sklaverei und Rassendiskriminierung in Amerika zu beschreiben, sondern politische Rechte zum Ausdruck zu bringen. Das ist das Verdienst Blydens. In seinem Begriff Afrikas tritt dies hervor, nicht mehr als ein romantisiertes Bild der Vergangenheit und auch nicht einfach als eine Vorstellung dessen, was man gerne hätte, sondern als ein Bündel von politischen Themen, die darauf warten, thematisiert zu werden. Denn das Postulat einer afrikanischen Essenz hat Konsequenzen. Wenn es Afrika gibt und dieses eine Essenz hat, die nicht der europäischen entspricht, stellt sich die Frage, was die Europäer dort tun und aus welchen Gründen sie die sich als Afrikaner verstehenden Menschen unter ihrer Herrschaft leiden lassen. Es stellt sich also die Frage, wann die Afrikaner in den Genuß der Errungenschaften der Französischen Revolution kommen werden, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Um die Jahrhundertwende war die westafrikanische Küste das intellektuelle Mekka Afrikas. Dort versammelten sich die wenigen Afrikaner, die eine westliche Bildung hatten. Nicht nur Sierra Leone und Liberia, sondern auch Cape Co ast in Ghana und zu einem gewissen Grad Lagos in Nigeria wurden zum Zentrum "westlicher Ideen,m. Hier entstanden Zeitungen, die von Afrikanern herausgegeben wurden. 1900 gab es circa 34 Zeitungen in Sierra Leone, 19 in Ghana und sieben in Nigeria 28 . Die Entwicklung dieser Zeitungen zu politischen Sprachrohren des afrikanischen Nationalismus nahm einige Zeit in Anspruch. So nennt Geiss ein Beispiel, das übrigens auch Davidson erwähnt, nämlich den Leitartikel des handgeschriebenen "Accra Herald" von 1857: "Wir respektieren aufrichtig die Obrigkeit, und deshalb werden wir sie nicht aus dem Auge lassen, so daß wir, wann immer sie vom rechtem Pfad abirren sollte, uns in aller Bescheidenheit bemühen werden, ihr den Weg zu weisen,,?9
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Geiss (1968), S. 40. Ebd., S. 40. Davidson (1978), S. 169. Ebd., S. 171. Geiss (1968), S. 64 (Übersetzung im Original).
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Teil II: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
Geiss zufolge überwogen in diesen Zeitungen die Probleme des Alltags, so z. B. "Vorgänge in der Kirche, bei der Regierung in Accra, Forderungen nach Kanalisation, Straßenbeleuchtung, Schulen, besserem Schutz vor Einbrechern und Dieben ... ,,30. Auch die Vereine, die entlang der westafrikanischen Küste entstanden, konzentrierten sich zumeist auf unpolitische Themen. Geiss schreibt: "In ihnen (den Vereinen) wurden von afrikanischen Gentlemen die Ideale und Gesellschaftsformen des victorianischen Englands kultiviert, z. B. in Mäßigkeitsvereinen und Debattierc1ubs. In einem Debattierc1ub wurden so weltbewegende Themen wie die Rechtmäßigkeit der Hinrichtung von Charles I. oder die Frage nach Segen oder Unsegen, den die Erfindung des Schießpulvers für die Menschheit gebracht habe, diskutiert". 31
Das Interesse an Trivialem bedeutete jedoch nicht das Ende von Blydens Traum, sondern schuf ein intellektuelles Milieu, das die praktischen politischen Implikationen des Denkens von Blyden weitertrug. So gesehen, erwies sich dieses intellektuelle Milieu als Segen für den afrikanischen Nationalismus. Aus diesem Impuls wuchsen auch Vereine, Assoziationen und andere Organisationen, die sich allmählich einem politischen Charakter näherten. Es gibt viele Beispiele dafür, etwa die Gold Coast Union Association, die 1881 mit dem Ziel gegründet wurde, die Entwicklung des Landes zum Nutzen der Afrikaner selbst zu fördern. So auch die Fanti National Society 1889 gegründet, auch mit dem Ziel, die Interessen der Fanti, einer westafrikanischen Ethnie, zu fördern. 32 Davidson hat diese Entwicklung beobachtet und dabei festgestellt, es handele sich um die Entwicklung eines politischen Diskurses?3 1900 trafen sich viele Schwarze aus Afrika und Amerika auf einer Konferenz in London, die in der Geschichte des afrikanischen Nationalismus einen besonderen Stellenwert hat. Es war die erste panafrikanische Konferenz, die deshalb interessant ist, weil sie ein Dokument veröffentlicht hat, das an the Nations of the World gerichtet war. In diesem Dokument plädierten die versammelten Schwarzen u. a. dafür, daß die Welt die Menschenwürde unabhängig von der Rasse respektieren sollte, daß sie die Einheimischen in Afrika nicht der Gier für Gold zum Opfer fallen lassen sollte und dadurch ihren Anspruch auf Freiheit, Fortschritt und Identität verhindern, daß sie nicht zulassen sollte, daß die christliche Mission dafür benutzt wird, die Ausbeutung der Völker Afrikas zu verheimlichen, daß die britische Nation, die erste, die sich um die Freiheit der Schwarzen kümmerte, ein Zeichen setzen und den Bewohnern in den Kolonien erlauben solle, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, daß das deutsche Kaiserreich und die Französische Republik dafür sorgen sollten, daß die Menschenwürde in den von ihnen kontrollierten Gebieten respektiert würde, und vor allem: Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. 32 Vgl. Geiss (1968), S. 65 -7. Weitere Beispiele dieser Art von Organisationen sind auch bei Davidson (1978). 33 Davidson (1978), S. 171. 30
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B. Die VeralltägJichung "Afrikas"
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,,Laßt die Nationen der Welt die Integrität und Unabhängigkeit der ersten Negerstaaten Abessinien, Liberia, Haiti und aller anderen respektieren und laßt die Bewohner dieser Staaten, die unabhängigen Stämme Afrikas, die Neger der Westindischen Inseln und Amerikas und die schwarzen Staatsbürger aller Nationen Mut fassen, unablässig weiterstreben und tapfer kämpfen, damit sie der Welt beweisen, daß sie ein unbestreitbares Anrecht darauf haben, zu der großen Bruderschaft der Menschheit gezählt zu werden".34
Dieses Dokument wird mit Recht als ein Meilenstein in der Geschichte des Panafrikanismus gesehen. In Hinblick auf die hier vertretene These liegt es auf der Hand, warum dem auch so ist. In diesem Dokument wird, wenn auch sehr allgemein formuliert, dem Begriff Afrika politischer Inhalt hinzugefügt. Afrikäwird als eine Schicksalsgemeinschaft, wenn auch im weitesten Sinne, empfunden, und als solche spitzt sie die Forderungen der Konferenzteilnehmer nach Achtung der Rechte der Völker Afrikas zu. In den folgenden Konferenzen wurden diese Forderungen noch genauer gefaßt. Nicht nur die Achtung der Menschenwürde wird in den Mittelpunkt gestellt, sondern auch der Anspruch dieser Völker auf Selbstbestimmung. Auf dem panafrikanischen Kongreß in Paris 1919 wendeten sich die Versammelten konkreten Fragen zu. Sie stellten ihre Forderungen in bezug auf Land, Kapital, Arbeit, Bildung und den Staat. 35 Den Staat betreffend lautete ihr Gedanke: "Die Eingeborenen Afrikas müssen ein Recht darauf haben, an der Regierung teilzuhaben, so schnell es ihre Entwicklung erlaubt, im Einklang mit den Prinzipien, daß die Regierung für die Eingeborenen da ist und nicht die Eingeborenen für die Regierung. Ihnen soll sofort erlaubt werden an der Orts- und Starnmesverwaltung teilzuhaben, in Übereinstimmung mit den althergebrachten Gebräuchen. Diese Teilnahme soll Schritt für Schritt auf höhere Posten im Staat ausgeweitet werden, in dem Maße wie Bildung und Erfahrung voranschreiten bis mit der Zeit Afrika schließlich im gegenseitigen Einvernehmen von Afrikanern regiert wird. Wenn auch immer der Beweis vorliegt, daß afrikanische Ureinwohner von irgendeinem Staat nicht gerecht behandelt werden oder daß ein Staat mit Absicht seine zivilisierten Staatsbürger oder Angehörige die ihrer Abstammung gemäß Neger sind, von seiner politischen und kulturellen Sphäre ausschließt, so soll es die Pflicht der Staatengemeinschaft sein, diese Angelegenheit in der zivilisierten Welt bekannt zu machen".36
Dieses lange Zitat weist auf die Richtung hin, in die sich der politische Diskurs auf dem afrikanischen Kontinent bewegte. Kwarne Nkrumah, der spätere Präsident von Ghana, faßte diese Entwicklung mit den Worten zusammen: "Seek ye first the political kingdom, and all things shall be added unto you'.37. Im Laufe der Jahre wurden die Forderungen der Afrikaner immer konkreter. 1920 beschloß der National Congress of British West Africa in Accra, Ghana, eine lange Liste von Resolutionen, die darauf abzielten, den Afrikanern das Wahlrecht auf nationaler und kom34
35 36
37
Vgl. Langley (1979), S. 738-9. Ebd., S. 740. Langley (1979), S. 740. Nkrumah (1976), S. 169.
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munaler Ebene zuzugestehen und das Recht auf Gleichheit und Gleichberechtigung einzuräumen?8 Obwohl diese Forderungen immer noch davon ausgingen, daß die europäische Präsenz in Afrika ein Faktum war, radikalisierte sich der Diskurs bis 1945 in Manchester, wo auf dem panafrikanischen Kongreß die uneingeschränkte politische Selbstbestimmung für die Afrikaner gefordert wurde: "Wir sind dazu entschlossen, frei zu sein. Wir wollen Bildung. Wir wollen ein Recht darauf, uns einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen, das Recht unsere Gedanken und Gefühle auszudrücken, Gestaltungsformen der Schönheit anzunehmen und zu schaffen. Wir fordern für Schwarzafrika Autonomie und Unabhängigkeit, soweit und nicht weiter als es in dieser Einen Welt für Gruppen und Menschen möglich ist, sich selbst zu regieren in Anbetracht der zwangsläufigen Einheit und Verbundenheit der Welt". 39
Viele Entwicklungen waren damit verbunden. Der zweite Weltkrieg war gerade beendet, und viele Afrikaner hatten daran teilgenommen. Sie hatten für die Freiheit Europas gekämpft. Ali A. Mazrui, ein Politikwissenschaftler aus Uganda, führt beispielsweise interessante Zahlen an, die das Ausmaß der afrikanischen Teilnahme an diesem Konflikt belegen: ,,55.000 Ugander dienten in des Königs Truppe namens ,African Rifles'. Einige der 87.000 Tanganikaner, die im Krieg dienten, nahmen auf seiten de GaulIes Teil an der Invasion Madagaskars gegen Vichy im Jahre 1942. Viele afrikanische Soldaten waren am Krieg gegen Japan in Burma beteiligt. Bereits 1939 hatte das nigerianische Regiment 15 Bataillone aufgestellt. Und jahrelang gaben Tausende nordafrikanischer Soldaten ihr Leben in den sich im kriegerischen Auf und Ab der Schlachten zwischen Rommel, Montgomery, Eisenhower und anderen namhaften Kombattanten nördlich der Sahara".40
Die Ironie des Ausgangs des Zweiten Weltkrieges mit der Auftei1ung Europas zwischen Kommunismus und Demokratie, einer Teilung, die sich mitten durch Berlin zog, war von den Afrikanern nicht übersehen worden. Gerade Berlin, wo die Europäer 1885 Afrika unter sich aufgeteilt hatten, fiel diesem Schicksal zum Opfer. Mazrui kommentierte: "Eine afrikanische Nemesis hatte die größtmögliche Rache gefordert. Die Stadt, welche den Fluch des Streits um die Aufteilung Afrikas 1885 ausgesprochen hatte, war auch die Stadt, die den Fluch der Teilung Europas von 1945 an zu erleiden hatte,,41. An die Teilnehmer der Konferenz zur Gründung der UNO in San Francisco schickten viele schwarze Organisationen ein Manifest, das das gewonnene Selbstbewußtsein der Afrikaner widerspiegelte: "Wir glauben, daß die Völker Afrikas sich durch ihren Beitrag bei der Bereitstellung von Menschen und materiellen Rohstoffen im Kampf gegen Faschismus, durch ihren Dienst in Äthiopien, Ostafrika, Westsahara, Italien und in der Schlacht um Deutschland und durch Siehe dazu: Langley (1979), S. 741-7. Ebd., S. 760. 40 Mazrui (1993). 41 Ebd., S. 906. 38 39
B. Die Veralltäglichung "Afrikas"
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ihren Dienst in Bunna, im Krieg im Osten, gegen Japan, ein Anrecht darauf verdient haben, davon zu profitieren, als Ergebnis des neuen Konzepts der internationalen Zusammenarbeit, welches im Laufe der schrecklichen Qualen des Befreiungskampfes gegen den Faschismus erstellt wurde" 42
Von 1951, dem Jahr der Unabhängigkeit Libyens, bis hin zum Jahre 1960, dem Jahr der Unabhängigkeit von rund sechzehn afrikanischen Ländern, die aus britischer und französischer Kolonialherrschaft entlassen wurden, gelang es den Afrikanern, das Ziel zu erreichen, das sich mit der Politisierung ihres Selbstverständnisses als Endpunkt ihres Strebens darstellte. Später würden noch weitere afrikanische Länder folgen, vor allem die portugiesischen Kolonien und die unter der Herrschaft von weißen Minderheitsregierungen stehenden Gebiete in Südafrika und Südrhodesien, das heutige Simbabwe. Ich habe gerade die Geschichte der Dekolonisation in Afrika sehr komprimiert dargestellt. Es war jedoch nicht mein Ziel, diese Geschichte an sich hier aufzuzeigen, sondern sie als Ausdruck einer besonderen Entwicklung in Afrika zu betrachten, die eng verbunden ist mit gewissen Folgerungen, die aus dem Postulat einer afrikanischen Essenz gezogen wurden. Diese Essenz ging davon aus, daß sich der Begriff Afrika auf eine empirische Realität bezog, die, grob gesagt, zwei Bestandteile hatte: einmal Afrika als eine Schicksalsgemeinschaft, d. h. als Produkt einer gemeinsamen historischen Erfahrung, und zum anderen als eine Wertegemeinschaft, d. h. als eine sich von anderen unterscheidenden Gemeinschaft. Ich werde mich nun zwei politischen Ideologien zuwenden, die gerade von diesen zwei Bestandteilen besonders geprägt sind, um dann darauf hinzuweisen, wie sehr die Entwicklung eines politischen Diskurses eine logische Konsequenz, ja die Systematisierung des Denkens Blydens bildete. Ich werde einige Aspekte dieser Ideologien erwähnen, um die Verwandtschaft zum charismatischen Moment der Konstruktion einer afrikanischen Wirklichkeit hervorzuheben.
a) Nkrumahs Conscientism und Nyereres Ujamaa Ghana und Tansania sind zwei afrikanische Länder, die geographisch sehr weit voneinander getrennt sind. Ghana liegt an der Westküste, Tansania hingegen an der Ostküste. Ghana wurde 1957 von Großbritannien unabhängig, während Tansania, das bis zum ersten Weltkrieg als Tanganyika zu Deutschostafrika gehörte und danach britisches Protektorat wurde, ein Jahr später seine Unabhängigkeit erreichte. Francis Nuria Kofie Nkrumah (1909 - 1972), genannt Kwarne, weil er an einem Samstag geboren wurde, war einer der bedeutendsten Politiker Afrikas, der durch sein Werk die Idee einer kulturellen Einheit Afrikas prägte. Aus der Goldküste, das er nach der Unabhängigkeit in "Ghana" umbenannte, stammend, profitierte er, wie 42
Vgl. dazu: Langley (1979), S. 764.
6 Macamo
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übrigens viele afrikanische Nationalisten seiner Zeit, von einer Missionsgrundausbildung, die ihn nach Amerika führte, wo er in Politikwissenschaft promovierte. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er in London, wo er sich in der politischen Agitation der panafrikanischen Bewegung engagierte, um nur zwei Jahre danach wieder nach Ghana zurückzukehren und sich für die Unabhängigkeit von Großbritannien einzusetzen. 1957 gelang es ihm, und er wurde Premierminister. 1966 fiel er einem Militärputsch zum Opfer und starb im rumänischen Exil. Er schrieb sehr viel 43 und setzte den Akzent immer auf die Möglichkeit einer Umschreibung des Marxismus in die afrikanische Wirklichkeit, wie er sie verstand, und auf die Notwendigkeit der politischen Einheit Afrikas. Julius Kambarage Nyerere (* 1922) ist vielleicht der derzeit angesehenste Politiker Afrikas, wenngleich sein Land, Tansania, kein besonders hervorstechendes Beispiel für politischen und wirtschaftlichen Erfolg ist. Er profitierte ebenfalls von einer religiösen Ausbildung und studierte in Schottland bis 1952, als er in die Heimat zurückkehrte und sich als Sprecher seines Landes etablierte. Er war es auch, der sein Land in die Unabhängigkeit von Großbritannien führte, und er sorgte dafür, daß Tansania eine politische Kultur entwickelte, die darauf abzielte, den Sozialismus anhand afrikanischer Ansätze umzuinterpretieren.' Obwohl seine literarischen Arbeiten nicht das Ausmaß derer von Nkrumah haben, ist Nyerere ein Mensch von umfassender Bildung. So war er der erste, der in den 50er Jahren die Werke Shakespeares ins Swahili übersetzte. Seine politische Ideologie stellte er in Reden vor. In den 80er Jahren trat er freiwillig von der Politik zurück, nachdem er fast drei Jahrzehnte lang sein Land geführt hatte, was auch eine Premiere war, denn afrikanische Herrscher sind nicht dafür bekannt, sich freiwillig von der Macht zu verabschieden. Conscientism und Ujamaa haben vieles gemeinsam, mehr als die unterschiedlichen Schicksale der beiden Politiker uns vermuten lassen. Beide Vorgehensweisen sind nicht nur Versuche, der politischen Theorie des Strebens nach Unabhängigkeit eine praktische Seite hinzuzufügen, sondern auch, und vor allem, eine logische Konsequenz und die Vollendung eines langen Prozesses der Konstruktion des Begriffes Afrika. Nachdem Afrika als Werte- und Schicksalsgemeinschaft dargestellt wurde, erwies es sich als unabdingbar, das Ganze systematischer zu behandeln. In der Tat liegt der Schluß nahe, daß es sich bei diesen Ideologien um die Versachlichung des ursprünglichen Charismas handelt, d. h. die Ideen von Blyden finden im Conscientism und Ujamaa ihre letzte Version.
Nkrumah und Nyerere waren der Meinung, die ursprüngliche afrikanische Gesellschaft sei sozialistisch gewesen. Nkrumah begründete diesen ursprünglichen Sozialismus der afrikanischen Weltanschauung mit der Überzeugung, daß die afrikanische Gesellschaft sehr viel Wert auf die geistige Verfassung des Menschen lege. Seiner Meinung nach ist der Mensch ein Bündel von Werten, Würde und Integrität44 , so daß, davon ausgehend, keine partikularistischen Interessen zulässig sei43
Nkrumah (1961,1962,1966,1969).
B. Die Veralltäglichung "Afrikas"
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en, sondern nur das Wohl der ganzen Gemeinschaft, denn der einzelne sei ein besonderer Ausdruck des Ganzen. Nyerere vertrat diese Meinung ebenfalls, obgleich er den Akzent anders setzte und davon ausging, daß die traditionelle afrikanische Gesellschaft auf der Zusammengehörigkeit aller Mitglieder basierte. Das Swahili-Wort Ujamaa bedeutet Familie45 . Für Nyerere war die afrikanische Gesellschaft deshalb sozialistisch, weil die Arbeit einen besonderen Stellenwert hatte; nur aufgrund der Leistung für die Gesellschaft konnte man dort Anspruch auf die Unterstützung durch die anderen Mitglieder erheben. 46 Sowohl Nkrumah als auch Nyerere glaubten, daß der Sozialismus die einzige modeme Ideologie sei, die den afrikanischen Kommunalismus den modemen Verhältnissen anpassen könne. So schrieb Nkrumah beispielsweise: "Im Sozialismus werden den Prinzipien, die dem Kommunalismus zu Grunde liegen, unter modernen Bedingungen Ausdruck gegeben,,47, während sich Nyerere zum gleichen Thema folgendermaßen äußerte: "Wenn wir das Wort ,Ujamaa' ... verwenden, machen wir deutlich, daß Sozialismus für uns bedeutet, die Grundlagen unserer Vergangenheit miteinzubeziehen ... ,,48. Nkrumah war jedoch der vom Marxismus stärker geprägte Theoretiker, und dementsprechend leitete er die Verwandtschaft des Sozialismus zum afrikanischen Kommunalismus aus dem Gegensatz von Materialismus und Idealismus ab. Er war davon überzeugt, daß Idealismus zu Oligarchie führe, also zu Ungleichheit, und deshalb sehr typisch für den Kapitalismus sei. Der Materialismus dagegen fördere den Egalitarismus, denn die Forschung und Bewältigung der Natur kämen aus einem humanistischen Impuls heraus, d. h. sie zielten darauf ab, die Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen zu decken und nicht wie im Kapitalismus nur davon zu profitieren. 49 Dieses Streben nach Gleichheit hätten der afrikanische Kommunalismus und der Sozialismus gemeinsam. Man sieht in der Mischung von vermeintlichen afrikanischen Traditionen und einer modemen Ideologie wie dem Sozialismus, daß weder Nkrumah noch Nyerere die Tradition unkritisch übernahmen. In der Tat gingen sie davon aus, daß nur eine kreative Auseinandersetzung mit der Tradition, aber auch mit der Modeme relevante Aussage für die gegenwärtige politische Praxis machen kann. Beide wußten wohl, daß der Kolonialismus Afrika gründlich verändert hatte. Nkrumah wirft der europäischen Kolonisation vor, den afrikanischen Kommunalismus zerstört zu haben: " ... der Kolonialismus kam und veränderte all dies,,5o. Nicht nur der Kolonia44
45 46 47 48 49
6*
Vgl. Nkrumah (1979), S. 630. Vgl. Nyerere (1979), S. 546. Nyerere (1975). Nkrumah (1979), S. 634. Ebd., S. 546. Nkrumah (1979), S. 637.
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lismus jedoch trage die Schuld, sondern auch die Mischung von drei Elementen Kolonialismus inbegriffen - im gegenwärtigen Afrika, nämlich der Tradition selbst und dem Einfluß des Islam hätten das Bild Afrikas wesentlich verändert. Diese Tatsache rufe eine Auseinandersetzung mit der Geschichte hervor, woraus man eine relevante Philosophie für Afrika erarbeiten müsse. Für Nkrumah war diese Philosophie der Conscientism, d. h. ein Versuch, sich aus der Krise zu befreien, die die Verschmelzung oben genannter Elemente bedeutete 51 • In ähnlicher Weise besteht bei Nyerere die Herausforderung Afrikas darin, daß sich die Afrikaner ,,re-educate" sollen, d. h. sie den Weg zurück zu den ursprünglichen Werte finden müssen, um daraus die Erkenntnis zu gewinnen, daß die Gesellschaft die Familie im weiten Sinne sei. 52 Der Kolonialismus hätte das Verständnis der Afrikaner zerstört, demzufolge die Arbeit Grundlage der sozialen Organisation sei, und nicht die Lohnarbeit, ein den Afrikanern fremder Begriff. Es ist offensichtlich, daß Nkrumah und Nyerere eine äußerst problematische Verarbeitung der Vergangenheit darbieten. Es gibt viele Elemente in ihrer Argumentation, die den Schluß nahelegen, sie handelten genauso wie die Europäer, die den afrikanischen Kulturen Ahistorizität zuwiesen, indem sie ein bestimmtes Moment der geschichtlichen Entwicklung reifizieren und so verfahren, als ob dieses Moment charakteristisch für afrikanische Kulturen sei. Die Auseinandersetzung mit diesen Implikationen gehört nicht zu dieser Untersuchung. Eines muß jedoch schon festgestellt werden, und zwar die Tatsache, daß die Konstruktion der Wirklichkeit nicht von sicheren Prämissen abhängt. Ein Mythos ist genauso gut wie die Wahrheit, wenn es darum geht, einer Wunschvorstellung Substanz zu geben. Sowohl Nkrumah als auch Nyerere wie übrigens alle anderen afrikanische Politiker, die ihre eigene Version des afrikanischen Sozialismus konstruiert haben, waren sich dessen bewußt, daß sie dabei waren, Afrika neu zu definieren, wenngleich sie das nicht zugaben. Der konstruktivistische Ansatz ist immer präsent, und besonders zum Ausdruck kommt er bei Nkrumah, der die Afrikaner ausdrücklich auf die Notwendigkeit hinweist, die Geschichte Afrikas für sich zu beanspruchen: "Unsere Geschichte muß geschrieben werden als die Geschichte unserer Gesellschaft, nicht als Geschichte über europäische Abenteuer. Die afrikanische Gesellschaft muß als eine Gesellschaft behandelt werden, die Eigenständigkeit genießt; ihre Geschichte muß ein Spiegel dieser Gesellschaft sein und der Kontakt Europas zu ihr muß seinen Platz innerhalb dieser Geschichte nur als eine Erfahrung von Seiten Afrikas finden, auch wenn er eine wesentliche Erfahrung darstellt. Damit soll ausgedrückt werden, daß der Kontakt mit Europa unter dem Gesichtspunkt der Prinzipien untersucht und beurteilt werden muß, wel-
50 51 52
Ebd., S. 630. Ebd., S. 633. Nyerere (1975), S. 262.
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che die afrikanische Gesellschaft geprägt haben und in bezug auf die Harmonie und den Fortschritt der Gesellschaft". 53
Die afrikanische Geschichte, die Conscientism und Ujamaa schreiben, ist die modeme Geschichte eines Wirklichkeit gewordenen Mythos. Anders ausgedrückt, handelt es sich hier um die logische Fortsetzung des Postulats einer afrikanischen Einheit. Das Netz wird hier nicht zu weit geworfen, so daß man in der Lage wäre, die Ansicht zu vertreten, ohne diesen Mythos wäre Afrika nicht unabhängig geworden, aber der Schluß liegt nahe. Denn ausgehend von diesem Bild Afrikas, gelang es den Intellektuellen auf dem Kontinent, kohärent über ihre Lebensverhältnisse zu reden und zu handeln. Conscientism und Ujamaa sind das vollendete Produkt dieses Redens und Handeins (Worten und Taten). Blydens Versuch, die existentielle Frage der Schwarzamerikaner und Afrikaner zu beantworten, beschränkte sich nicht nur darauf, einen politischen Bereich zu entfalten. Auch im Gebiet der Religion gab es interessante Entwicklungen, denen ich mich jetzt zuwenden werde.
b) Die Entwicklung eines religiös-philosophischen Diskurses Jemand hat ironisch darauf hingewiesen, daß, wenn Sir Isaac Newton in Afrika gelebt hätte, seine Principia heutzutage der afrikanischen Philosophie zuzurechnen wären. 54 Diese Attacke ging in die Richtung einer Gruppe von afrikanischen Intellektuellen, die unter dem Decknamen Ethnophilosophen bekannt sind. Die Ethnophilosophen gehen davon aus, Afrika stelle einen kulturellen Raum mit einer erkennbaren Philosophie dar, die erforscht werden solle. Die Kritiker, mit denen wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen werden, wenden ein, daß es nur eine einzige Philosophie gebe, und zwar die im westlichen Kulturraum entwickelte Philosophie, an die sich die Afrikaner anschließen sollten. Wenn wir von Afrika als einer gesellschaftlichen Konstruktion reden, so erfordert dies, auf Distanz zu gehen, immer wenn davon die Rede ist, Afrika als metaphysisches Objekt zu betrachten oder zu zerstören. Die Methode, die ich mich angeeignet habe, um auf diese Frage einzugehen, hinterfragt die Prämissen, die die Frage nach dem ontologischen Status Afrikas überhaupt möglich machen. In diesem Sinne habe ich bereits Gelegenheit gehabt, einige Bestandteile dieser Prämissen aufzudecken. Nach der Methode, der ich mich verpflichtet fühle, stammt die Frage aus einer existentiellen Not, und die Antwort nimmt eine logische Entwicklung. In Christianity in Africa äußerte sich Kwarne Bediako, ein Theologe aus Ghana, über diese Tatsache folgendermaßen: 53 54
Nkrumah (1979), S. 625. Appiah (1992), S. 135.
86
Teil II: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas " ... ein nachdenklicher Afrikaner, der mit Europa in Kontakt gekommen war, der einen Einblick in die Geisteshaltung der Europäer gewonnen hatte und dennoch darum besorgt war, eine kohärente afrikanische Identität und Eigenständigkeit angesichts dieses Afrikabildes aufzubauen, mußte sich einfach die Frage stellen, wie die christlichen Völker und Nationen so lange Zeit die Unterdrücker Afrikas sein konnten. Die Frage würde noch weiter verkompliziert werden, sollte dieser Afrikaner selbst ein Christ oder dem Christentum zugetan sein. Während des 19. Jahrhunderts wurde besonders in Westafrika, als Ergebnis des fortwährenden Kontaktes mit Europa und dem Christentum, dieser Frage in der afrikanischen intellektuellen Literatur besondere Aufmerksamkeit zuteil".55
Mit der Beantwortung dieser Frage befaßte sich Edward W. Blyden, den ich stellvertretend für die ganze damalige intellektuelle Atmosphäre vorgestellt habe. Blyden war ein evangelischer Pastor, der von der christlichen Botschaft einerseits und der Praxis christlicher Länder andererseits in existentielle Schwierigkeiten gebracht wurde. Er sah sich mit der Wahl konfrontiert, zwischen seinem eigenen Glauben, dem Christentum, und dem seinem Gefühl nach zu bekämpfenden Glauben seiner gewählten Heimat zu entscheiden. Er hatte die Qual der Wahl, und er wählte die Qual. Er entschloß sich, wie wir bereits sahen, beide zu mischen, um daraus eine afrikanische Interpretation zu entwickeln. Er bekannte sich zu Afrika, indem er die Vergangenheit wie ein Kreuz trug, d. h. er sah das Leiden seinesgleichen metaphorisch als gottgewollt, die Sklaverei als Exodus, Afrika als das gelobte Land. Er schrieb: ,,Afrika wird sich vielleicht erst noch als der Erdteil erweisen, der das geistige Erbe der Welt bewahrt. Genauso wie sich in vergangenen Zeiten Ägypten nach dem Fall Jerusalems als die Festung des Christentums erwies und genauso wie die besten und größten Väter der christlichen Kirche aus Ägypten stammten, so wird es vielleicht sein, wenn die zivilisierten Nationen als Folge ihrer wunderbaren materiellen Entwicklung ihre geistige Wahrnehmung verkümmern haben lassen und ihre geistige Empfindsamkeit abgestumpft ist durch einen alles einnehmenden und aufsaugenden Materialismus; so werden sie vielleicht auf Afrika Zuflucht nehmen müssen um die einfachen Elemente des Glaubens wiederzuentdecken; denn diesem Land wurde verheißen, es werde seine Hände Gott entgegenstrekken".56
Blydens Vertrauen in Afrika kam daher, daß er das Fortbestehen Afrikas, auch ohne das Christentum, darauf zurückführte, daß Gott es so gewollt habe. Viele afrikanische Intellektuelle werden ihm nicht verziehen haben, daß er afrikanische religiöse Vorstellungen als heidnisch bezeichnete. Darin jedoch sah Blyden die Möglichkeit, eine Wirklichkeit zu postulieren, die die Grundlage für unser modemes Verständnis dessen ist, was Afrika ist. Er gab zu bedenken: "Wenn wir bedenken, wie an Zahl große Stämme ... sich seit langem [einem Anführer] unterordnen und viele Ämter innerhalb ihrer Nation erfüllen, ohne Schriftkenntnisse oder schriftliche Offenbarung, so muß es uns doch so vorkommen, als ob am Heidentum frem-
55 56
Bediako (1995), S. 6. Blyden (1971), S. 124.
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der Länder etwas dran wäre - ein subtiler, undefinierbarer, nicht einzuschätzender Einfluß, der auf die Menschen wirkt und ihr Leben steuert".57
Die Rede ist hier von Gott. Gewiß von einem Gott, der im Himmel ist, aber dessen Taten auf der Erde sichtbar gemacht werden sollen. Mit der Abstrahierung einer afrikanischen Werte- und Schicksalsgemeinschaft beanspruchte Blyden die Aufgabe, Gottes Pläne für Afrika zu verwirklichen. Und dabei entwarf er eigentlich eine Wirklichkeit, die sich als Grundlage für die Historisierung der afrikanischen Erfahrung erwies. Im Bereich der Politik führte diese Historisierung dazu, daß ein afrikanischer Nationalismus wuchs, der seine endgültige Form in politischen Ideologien fand, die das Bild Afrikas in bezug auf die Begegnung zwischen der Modeme und der Tradition problematisierten, wie ich oben bereits erwähnte. Eine der wichtigsten Konsequenzen des Versuchs, eine Lösung für die existentielle Frage zu finden, war die Entstehung vieler afrikanischer Kirchen, d. h. afrikanische Christen setzen sich dafür ein, das Christentum den afrikanischen Verhältnissen anzupassen. Einen mißglückten Versuch habe ich bereits erwähnt, und zwar das Great Xhosa Cattle-killing Movement. Ich habe auch beiläufig den Äthiopianismus erwähnt, einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung der modemen religiösen Erfahrung in Afrika. Der Äthiopianismus ist deshalb interessant, weil im Mittelpunkt seiner Entwicklung nicht zu sehr Fragen des Glaubens standen, sondern vielmehr die Politisierung der Erfahrung der Afrikaner im allgemeinen. Obwohl es sich zweifelsohne lohnen würde, eine Untersuchung über dieses Thema durchzuführen, würde es die Rahmen meiner Arbeit sprengen. Wir müssen uns darauf beschränken, die Wahlverwandtschaft dieser religiösen Entwicklung mit dem Bestreben der Afrikaner, sich in der Welt wiederzufinden, zu deuten. Viel relevanter scheint mir die Entwicklung aus diesem religiösen Impuls hin zur Entstehung eines philosophischen Diskurses, der sich auf die Notwendigkeit bezieht, die historische Erfahrung der Afrikaner zur Geltung zu bringen. Einiges über diese Bewegungen soll jedoch erwähnt werden. So ist schon die Entstehungsgeschichte des Äthiopianismus aufschlußreich. Obwohl die ersten afrikanischen Kirchen, die den Anstoß zum Äthiopianismus gaben, erst 1891 in Südafrika als Reaktion auf die Bemühungen der Weißen, Distanz zu den Schwarzen zu halten, entstanden, reicht die Vorgeschichte noch weiter zurück, sowohl räumlich als auch zeitlich. Imanuel Geiss führt die Ursprünge dieser Bewegung zurück auf das Amerika des vorherigen Jahrhunderts, als z. B. 1787 und 1794 die Free African Society bzw. die St. Thomas African Church von Sklaven gegründet wurden. 58 Diese Geschichte ist sehr lang, aber bemerkenswert ist die Bezeichnung Aethiopian, die bereits auf eine kulturelle Einheit Afrikas hindeutet. Eine wesentliche Rolle spielte dabei Psalm 68, Vers 32: "Ethiopia shall soon stretch forth her hand 57
Blyden (1971), S. 226.
58
Geiss (1968), S. 111.
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Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
unto God". Geiss bemerkt: "Die Stelle galt als biblische Verheißung der Erlösung Afrikas,,59, und man kann Verständnis für diese Auslegung haben, wenn man sich dessen bewußt ist, wie die Stelle von manchen übersetzt wurde. Luther z. B. hat Aethiopia als "Mohrenland" übersetzt, während andere die Stelle als "Kusch erhebe seine Hände zu Jahwe,,60 auslegten. Es ist von daher nicht verwunderlich, warum die Stelle geeignet dafür war, die Bemühungen der Schwarzamerikaner voranzutreiben, sich eine positive Identität anzueignen. Geiss schreibt diesbezüglich: "Das religiöse Pathos verstärkte den Anspruch auf politische Gleichberechtigung.,,61 Später gelang es Äthiopi!!n, eine Vorbildfunktion für den Rest des schwarzen Kontinents auszuüben, weil es neben Liberia und Sierra Leone das einzige afrikanische Land war, das seine Unabhängigkeit erfolgreich verteidigt hatte. Als Italien in den dreißiger Jahren versuchte, Äthiopien zu besetzen, löste das eine Welle der Empörung im ganzen Kontinent aus, die auch dazu beitrug, daß sich der afrikanische Nationalismus rasch entwickelte. 62 Die Gründung der Organisation der afrikanischen Einheit im Jahre 1963 fand aus diesen Gründen auch in Äthiopien statt. Der Sitz dieser Organisation ist in Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens. Der Ruf Äthiopiens lebt auch im Reggae fort, jener Musik Jamaikas, die unter dem Einfluß des Rastafarianismus, einer sich zu Afrika bekennenden religiösen Gemeinschaft, glaubt, Äthiopien sei, wo der Gott der Schwarzen lebe, und viele schwarze - und inzwischen auch weiße - Anhänger außerhalb Afrika hat. Als Edward Blyden am 23. Dezember 1890 die Afrikaner aufrief, afrikanische Kirchen zu gründen, hatten die Bemühungen der Afrikaner, gleichberechtigt zu sein, ein Niveau erreicht, das bereits darauf hindeutete, daß es ihnen um die Möglichkeit ging, ihre Erfahrung selbst zu interpretieren. 1891 wurde die United Native African Church gegründet; 1901 die African Church Organization; 1903 die Episcopalian Church und 1917 die United African Methodist Church. Insgesamt gab es um 1921 allein in Nigeria 19 Kirchen, eine Zahl, die später durch Fusionen schrumpfte. 63 Es gab auch Versuche, das Christentum radikal umzuinterpretieren. Bei den Luo, einer südnilotischen Ethnie aus Uganda, wuchs z.B eine christliche GemeinEbd., S. 109. Ebd., S. 109. 61 Ebd., S. 109. 62 Siehe dazu auch Davidson (1978), S. 181: "Said the Gold Coast Spectator in 1935: ,The Gold Coast man, down to the schoolboy, knows that he has everything in common with the Ethiopians'; and the claim to ,mass response' was probably not an exaggeration. Long afterwards the Mozambican leader Eduardo Mondiane, then a village schoolboy in southern Mozambique, was to recall how deeply his community was stirred by news of the invasion. And in 1938 an English observer ... was almost certainly right in claiming that the colonial theme came into the centre of wide attention as never before. There was probably no part of Africa that did not hear about the invasion without a sense of outrage". 63 Geiss (1968), S. 128. 59
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de, die die Notwendigkeit der Afrikanisierung der christlichen Erfahrung radikal umsetzte. Ein gewisser lohn Owalo, der eine katholische Ausbildung in einer italienischen Missionsschule, eine presbyterianische Ausbildung in einer schottischen Missionsschule und eine anglikanische Ausbildung in einer englischen Missionsschule bekommen hatte, ließ 1907 sein Volk wissen, er sei von Gott berufen worden, eine neue Religion zu gründen. 64 Daß er aufgrund seiner multinationalen christlichen Ausbildung besonders qualifiziert war, "... anzunehmen, daß das Christentum sich den Unterschieden zwischen den Nationen anpassen könnte"65, wie Davidson ironisch bemerkt, sei dahingestellt. Auf jeden Fall lehnte Owalo 1910 die Gottheit Jesus ab, erklärte sich zum Propheten und gewann viele Anhänger in seiner Ethnie: "Sie [die Luo] dachten offensichtlich, genauso wie er selbst, daß ein Luo-Christentum für die Luo besser sein müsse und sicher genauso gültig sein müsse wie ein italienisches, schottisches oder englisches Christentum. Sie machten sich daran, eine christliche Gemeinschaft der Luo aufzubauen, mit eigenen Schulen und einern Anrecht darauf, für sich selbst zu sprechen".66
Es gibt Anlaß genug, diese Entwicklungen auf die soziologische Tatsache zurückzuführen, daß es um die Notwendigkeit ging, sich mit der existentiellen Frage der Zurückgekehrten und der Lage der Afrikaner auseinanderzusetzen. Es gibt heutzutage keine afrikanische Kirche im Sinne z. B. des Protestantismus. Viele Faktoren müssen dazu beigetragen haben, daß es nicht dazu kam, allerdings erschöpfte sich die Dynamik, die durch das Streben nach einer afrikanischen Auslegung der religiösen Erfahrung ausgelöst wurde, nicht im dem Versagen bei der Gründung einer afrikanischen Kirche. Dieses Streben ist dafür verantwortlich, daß eine afrikanische Philosophie entstand, die die Energie ausnützte, die nicht in die Gründung einer afrikanischen Kirche einfloß. In der Tat ist die sogenannte Ethnophilosophie, d. h. der Versuch, afrikanischer Volksweisheit einen philosophischen Status zuzuweisen, nichts anderes als die systematische Durchführung des Bedürfnisses, afrikanische Traditionen und neuzeitliche Einflüsse zu verschmelzen, um daraus eine angepaßte Interpretation der afrikanischen Existenz zu entwickeln. Als Nächstes sollte ich mich mit der Ethnophilosophie auseinandersetzen. Damit ziele ich darauf ab, die These zu untermauern, wonach die Ethnophilosophie eine logische Konsequenz des Aufbruchs der Modeme in Afrika sei, eines Aufbruchs, der sich dadurch auszeichnet, daß man eine Wirklichkeit konstruiert, die "Afrika" heißt.
64
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Davidson (1978), S. 154. Ebd., S. 154. Ebd., S. 154.
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c) Die Ethnophilosophie Merkwürdigerweise fällt die Ehre für die Entstehung der Ethnophilosophie einem belgischen Missionar, Placide Tempels, zu, der während seines Aufenthalts im damaligen Belgisch Kongo ein Buch über die Bantu-Philosophie schrieb, das die Grundlage für weitere Untersuchungen auf diesem Gebiet wurde. Der Begriff "Ethnophilosophie" ist eigentlich ein Schimpfwort, das ein Philosoph aus Benin, Paulin Hountondji, gegen Placide Tempels und Afrikaner, die das Projekt der Entdeckung einer afrikanischen Philosophie vorantrieben, verwendete. Seiner Meinung nach ist Placide Tempels La philosophie Bantoue: "Ein ethnologisches Buch, das philosophische Ansprüche erhebt oder einfach, wenn uns ein neues Wort gestattet sei, ein Ethnophilosophiebuch,,67. Der Begriff hat sich inzwischen so eingebürgert, daß ich ihn benutzen darf, ohne zu fürchten, daß ich dabei irgendwe1che Empfindlichkeiten verletze. Vielleicht noch ein Wort zur Begrifflichkeit, und zwar zum Wort Bantu. Dieser Begriff bezeichnet die Mehrheit der Bevölkerung Afrikas südlich der Sahara, die eine gemeinsame Abstammung haben soll. Deutsche Sprachwissenschaftler waren es, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts während ihren Forschungen in Südafrika zu dem Schluß kamen, daß viele afrikanische Ethnien das gleiche Wort für Mensch, Mutu (Mehrzahl Bantu), haben. Das führte sie dazu, eine gemeinsame Abstammung dieser Völker zu postulieren. Tatsächlich ist die Struktur und der Wortschatz vieler afrikanischer Sprachen, die dem Bantu-Raum zugerechnet werden, ähnlich, und somit ist der Begriff Bantu als kollektive Bezeichnung einer bestimmten Völkergruppe in Afrika berechtigt. Der belgische Pfarrer, der sich der Philosophie der Bantu zuwendete, war ein Franziskaner, der im Kongo der Aufgabe nachging, der Bevölkerung das Christentum näherzubringen. Für unsere Belange ist der historische Hintergrund für seine Bantu-Philosophie wichtiger als der Inhalt des Werkes. Auf den ersten Blick scheint die Zurechnung dieses "leidenschaftlichen Plädoyers des flämischen Missionars,,68 zu der Systematisierung des Charismas von Blyden einigermaßen problematisch, denn Placide Tempels war weder Afrikaner noch stand er unter irgendwe1chem sichtbaren Einfluß Blydens. Der erste Einwand ist durchaus berechtigt, er läßt jedoch die Tatsache außer acht, daß die Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit nicht nur Aufgabe der Afrikaner war, sondern auch die einiger Europäer. Hier betone ich das Wirken der Afrikaner selbst, weil die herkömmliche Analyse Afrikas konstanterweise immer davon ausgeht, daß die Europäer die einzigen seien, die Afrika konstruieren. Diese Prämisse läßt zu wenig Raum für die Betrachtung des Beitrags der Afrikaner selbst, was wiederum damit zu tun hat, daß die Soziologie bei der Auseinandersetzung mit Afrika zu kurz kommt. Hountondji (1975). So nennt Johannes Fabian, ein Ethnologe, Placide Tempels Werk. Siehe dazu: Fabian (1975), S. 383. 67
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Placide Tempels ist auch als Europäer sehr wichtig für die Entwicklung des Begriffes "Afrika", weil er für viele Afrikaner die unmittelbare Referenz für die Konstruktion ihrer Wirklichkeit war. Darüber hinaus lag seine Wichtigkeit, wie bereits erwähnt, nicht in der Qualität seines Werkes, das mehrfach und in überzeugender Weise von Afrikanern und Europäern kritisiert wurde. Sein Buch hat dazu beigetragen, daß die Diskussion um Afrika von Afrikanern selbst eine Präzision erreichte, die enorm dazu beitrug, daß philosophische Fakultäten in Afrika gegründet wurden. Anders gesagt: Das Buch des Missionars hat den philosophischen Diskurs über Afrika legitimiert, so daß es, auch wenn es keine afrikanische Philosophie gibt, doch einen Diskurs darüber gibt, der der Philosophie in Afrika ihren eigentümlichen Charakter verleiht. Der zweite Einwand, nämlich ob es möglich ist, Placide Tempels Überlegungen auf Blyden zurückzuführen, ist in gewisser Hinsicht Teil der Frage, die uns hier beschäftigt. Denn es geht um den Nachweis der Konstruktion Afrikas, und zwar ausgehend vom Versuch, einer existentiellen Frage nachzugehen. Unabhängig davon, ob Tempels jemals Blyden gelesen hat, gibt es Anlaß genug zu glauben, daß die Bedingungen, unter welchen La Philosophie Bantoue entstand, doch mit der Dynamik zu tun hatten, die die Politisierung des Lebens in Afrika auslöste. Diese Politisierung des Lebens ist auf Blyden zurückzuführen. Johannes Fabian hat sich in einem anderen Zusammenhang mit dem historischen Hintergrund dieses Werkes befaßt. Angesichts der wachsenden Kritik an der Philosophie Bantoue, vor allem von Eboussi Boulaga69 , einem katholischen Priester aus Kamerun, plädierte Fabian dafür, daß man dieses Werk in bezug auf die damaligen historischen Gegebenheiten lesen70 und beurteilen solle. Das Buch von Placide Tempels erschien zum ersten Male 1945 in Elisabethville, heute Lubumbashi in Zaire, und zwar in französischer Version. Das Original in Flämisch schrieb er wahrscheinlich ein Jahr zuvor, und die Übersetzung übernahm ein Rechtsanwalt namens A. Rubbens, der zusammen mit anderen Europäern im Belgisehen Kongo einer Gruppe angehörte, die sich mit der Verbesserung der Lebensbedingungen der Afrikaner befaßte. 71 Tempels hatte bereits einige Artikel veröffentlicht, die sich mit dieser Problematik auseinandersetzten. Er war der Ansicht, die belgisehe Kolonisierung des Kongos müsse auch die Bedürfnisse der Afrikaner berücksichtigen und nicht so verfahren, als ob es keine afrikanischen Kulturen gäbe. Er schrieb: "Mehr als früher sagen die Alten heutzutage: ,Ihr, Weißen, ihr gehört weder zu unserer Abstammung noch zu unserem Ursprung; Ihr seid vielleicht älter als wir, aber ihr seid hierher gekommen um alles zu verzetteln, durcheinander zu bringen und unsere tiefe Gemeinschaft, unsere organische Existenz zu zerstören. Ihr zeigt euch wie Zerstörer und so seid ihr Feinde unseres tiefen Seins. Metaphysisch gesehen, zerstören wir einander'" .72
69
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Eboussi-Boulaga (1975). Fabian (1975), S. 383. Zitat aus Fabian (1975), S. 386.
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Es scheint gerechtfertigt, die Ansicht zu vertreten, daß Tempels und seine Mitstreiter bezüglich der Rechte der Afrikaner weiterblickten als die anderen Europäer im Kongo. Die 40er Jahre waren überall in Afrika dadurch gekennzeichnet, daß die Afrikaner mit ihren Forderungen immer lauter wurden. Der Kongo war keine Ausnahme, und daß es Tempels gelang, die Afrikaner von den Europäern auf diese Weise deutlich zu trennen, scheint ein Beweis dafür zu sein, daß er nicht nur Anwalt der Afrikaner war, sondern vielmehr jemand, der die Sehnsucht der Afrikaner nach Freiheit und Gleichheit gespürt hatte. Es ist interessant zu bemerken, daß am Anfang der belgischen Kolonialisierung des Kongos Menschen wie Blyden, also zurückgekehrte und christianisierte Schwarzamerikaner, dieses Unternehmen gut hießen. Blyden sah die belgische Präsenz im Kongo als eine Gelegenheit für die ,Zivilisierung' der Afrikaner. Ihm waren jedoch die Greueltäten der Belgier dort bewußt, und er verurteilte diese mit den Worten: " ... die Vergeltung für ihre Schandtaten wird von Gott kommen".73 Daß einige Jahrzehnten später belgische Missionare in eine geistige Krise geraten würden, weil es ihnen eben nicht gelungen war, das Christentum auf ihre Weise durchzusetzen, zeigt nicht, daß sich Blyden geirrt hatte, sondern vielmehr, daß die kreative Auseinandersetzung mit dem Christentum auf der Grundlage der problematischen Lage der Afrikaner nur dazu führte, die Prämisse hinter der europäischen Gegenwart in Afrika in Frage zu stellen. Tempels La Philosophie Bantoue wuchs also nicht nur aus seiner Selbstlosigkeit, sondern auch aus den sozialen Gegebenheiten, die eigentlich die Bedingungen für die Auseinandersetzung mit Afrika bestimmten. Nur so kann man verstehen, warum es Tempels ausgesprochenes Ziel war, der Welt zu zeigen, daß "die Bantu eine eigene Ontologie haben,,74. Den zugrundeliegenden Gedanken hatte Blyden bereits fonnuliert, als er Gott dafür verantwortlich machte, daß auch Heiden eine soziale Ordnung hätten. Tempels brachte diesen Gedanken folgendennaßen zum Ausdruck: "das menschliche Verhalten kann weder für alle gleichennaßen noch für immer gelten, wenn keine Grundlage vorhanden ist, die eine Sammlung von Ideen, ein logisches System und eine vollkommene Philosophie der Welt beinhaltet,,75. Diese "vollkommene Philosophie der Welt", die er bei den Bantu glaubte entdeckt zu haben, erwies sich als ein Gegensatz zur europäischen Philosophie. Denn anders als die der Europäer basierte die Metaphysik der Bantu auf einem Verständnis des Seins, das dynamischer und beweglicher war als jenes des Christentums. Dieser Metaphysik lag die Kraft zugrunde. Tempels zufolge ist "Kraft" für die Bantu das Sein selbst, während für die Europäer die Kraft eine Eigenschaft des Seins sei. Die Fonnellautet "Etre = force,,76. 72
73 74
75 76
Zitiert aus Fabian (1975), S. 389. Zitat nach Mudimbe (1988), S. 100. Zitat nach Boelaert (1975), S. 276. Ebd., S. 276. Ebd., S. 276.
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Im nächsten Teil werde ich noch einmal auf diese Philosophie eingehen, wenn ich mich mit der Kritik an ihr auseinandersetze. Es reicht im Moment, wenn ich die Grundzüge dieser Philosophie vorstelle. Damit ziele ich darauf ab nachzuweisen, inwieweit Placide Tempels' Werk auf eine Dynamik zurückzuführen ist, die weniger mit der Qualität seines Werkes zu tun hat, als vielmehr mit der Grundintention, die verständlich wird, wenn sie im Blick auf die Politisierung des Lebens in Afrika betrachtet wird, d. h. die Systematisierung des Begriffs Afrika. Um die Darstellung dieser Philosophie komplett zu machen, möchte ich einige Implikationen herausheben. Der Grundbegriff der Bantuphilosophie ist Tempels zufolge die Kraft, insbesondere die Lebenskraft (force vitale), d. h. das Leben. Die Welt existiert in dem Sinne, daß es Lebenskräfte gibt, die miteinander interagieren. Innerhalb dieser Interaktion gibt es eine Hierarchie mit dem Mensch als höchstem Wesen. Es ist offensichtlich, wohin dies führt, denn wenn der Mensch als höchstes Wesen in einer Hierarchie der Kräfte betrachtet wird, legt dies den Schluß nahe, die Bantu-Philosophie als humanistisch zu betrachten, genau die Eigenschaft, die dem Bon-sauvage-Mythos entspricht. Es hat auch perverse Interpretationen gegeben, die in dieser Bantu-Metaphysik die Erklärung dafür gefunden haben, warum die Afrikaner den Europäern unterlegen sind. Für sie sind Europäer deshalb stärker, weil sie höhere Wesen sind. 77 Diese kurze Darstellung soll für unser Anliegen hier reichen. Wie tief Tempels La Philosophie Bantoue mit der eigenen Logik der Systematisierung des Begriffs
Afrika verschmolzen war, zeigt sich deutlich in der Geschichte des Buches selbst. 1945 wurde es in französischer Sprache veröffentlicht, nachdem es ein paar Jahre zuvor in Flämisch geschrieben worden war, und 1949 veröffentlichten Afrikaner selbst, die in Paris einen Verlag gegründet hatten, nämlich Presence Africaine, das Buch noch einmal. Presence Africaine wird uns weiter unten beschäftigen, jedoch soll Alioune Diop, der Herausgeber, hier zitiert werden, um den Punkt zu belegen, in welcher Weise Placide Tempels für die Afrikaner wichtig war: "Dies ist ein wichtiges Buch für den Schwarzen, für die Möglichkeit sich seiner Lage bewußt zu werden, für sein Verlangen nach einem Standort in bezug auf Europa. Es muß auch Bettlektüre für alle werden, die sich darum bemühen, Afrika zu verstehen und ein lebendiges Gespräch mit ihm zu führen".78
1956 veröffentlichte ein Priester aus Ruanda seine Dissertation unter dem Titel La Philosophie Bantu comparee de I'Etre 79 , ein Werk, das noch mehr als das Tem-
pels' Geschichte schreiben würde. Der Autor, ein katholischer Pfarrer Namens Alexis Kagame, 1912 in Ruanda geboren, 1941 zum Priester geweiht und 1955 in Philosophie an der Gregoriana in Rom promoviert, gab der Bantu-Philosophie eine wissenschaftlich solidere Grundlage als Placide Tempels es getan hatte. Siehe dazu: Boelaert (1975). 78 Zitat nach Eboussi-Boulaga (1975), S. 379. 79 Kagame (1956). 77
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Es wäre auch nicht falsch zu sagen, daß Kagame Placide Tempels auf dem Kopf stellte und die Philosophie der Bantu noch einmal schrieb. Die Begründung für seine Auseinandersetzung mit den Bantu widerspricht diesem Schluß nicht. Auf der einen Seite wollte er den Begriff "Bantu" präzisieren und wendete sich gegen Tempels, der bekanntlich nur eine Ethnie im Kongo untersucht hatte und anhand dieser Erkenntnisse eine Bantu-Philosophie ohne empirische Beispiele aus anderen Bantu-Ethnien postulierte. Für Kagame bestand die kulturelle Einheit der Bantu nicht darin, daß sie das gleiche Wort für Mensch haben, sondern darin, daß sie alle klassifikatorische Sprachen sind. Damit meinte er die Eigenschaft dieser Sprachen, einem Substantiv ein Präfix voranzustellen. Dieses Präfix ermöglicht die Unterscheidung zwischen Mehrzahl und Singular, während die Wurzel, also das Substantiv, unverändert bleibt. Nimmt man das Substantiv ntu (Mann), und fügt ihm Mu- (Präfix für den Singular) oder Ba (Präfix für den Plural) hinzu, ergibt sich Mensch bzw. Menschen. 8o Die klassifikatorische Natur dieser Sprachen liegt ihrer Einheit zugrunde, und darüberhinaus schlüsselt sie die Ontologie - "la pensee profonde" _81 auf, die die Grundlage der Institutionen der Bantu ist. Kagame weist Tempels die Ehre, der erste gewesen zu sein, der das Problem der Bantu- Philosophie stellte82, zu; dennoch verwendet er eine wesentlich andere Methode für die Untersuchung dieser Philosophie. Seiner Methode liegt die Linguistik zugrunde. Er bedient sich der klassifikatorischen Natur der Bantu-Sprachen, um ein abstraktes System zu entwerfen, das die Grundlage der philosophischen Aktivität in Afrika bildet. Seiner Theorie zufolge gibt es zwei Arten von Abstraktion, nämlich die Abstraktion des Zufälligen (l'abstrait d'accidentalite) und die Abstraktion des Wesentlichen (l'abstrait de substantialite). L'abstrait d'accidentalite drückt Wesen aus, die keine unabhängige Existenz aufweisen. Man fügt das Präfix bu- der Wurzel eines Begriffes hinzu. Er nennt das Beispiel gabo, von dem man den Singular mugabo (ein männlicher Erwachsener) ableitet. Fügt man das Präfix bu- hinzu, bekommt man bugabo, d. h. Kraft, Mut, Männlichkeit. 83 L'abstrait de substantialite drückt Wesen aus, die die Fähigkeit haben, in der Natur aus eigener Kraft vorhanden zu sein. Man fügt das Präfix bu- dem Singular eines Substantivs hinzu. Muntu, also der Mensch, kann abstrakt ausgedrückt werden, indem man das Wort bumuntu bildet, das die Bedeutung Menschlichkeit hat84 .
Damit versucht Kagame seine These zu untermauern, wonach die Philosophie eine universelle Eigenschaft sei, die durch die Fähigkeit, abstrakte Begriffe zu formulieren, gekennzeichnet ist. Da die Bantu-Sprachen diese Eigenschaft besitzen, sei es korrekt zu glauben, die Bantu hätten auch eine Philosophie. Anders als Pla80 81 82 83 84
Kagame (1975), S. 93. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95. Ebd., S. 95. Die Beispiele sind aus Kagames Sprache, dem Ki-Nyarwanda aus Ruanda. Ebd., S. 94.
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eide Tempels vertritt Kagame eine Ansicht der Metaphysik der Bantu, die seiner Meinung nach nicht auf Lebenskräfte basiert, sondern eine Unterscheidung des Seins auf der Grundlage von vier Kategorien vornimmt, die man mit Hilfe der klassifikatorischen Eigenschaft der Bantu-Sprachen untersuchen kann. Es gebe in dieser Hinsicht vier Kategorien, nämlich (i) MUntu = das intelligente Wesen (der Mensch); (ii) KIntu = das Wesen ohne Intelligenz (Sache); (iii) HAntu = das Positionswesen (Raum-Zeit) und (iv) KUntu= das Modalwesen (die Formen des Seins)85. Diese Unterscheidung erlaubt Kagame, die Bantuphilosophie von der europäischen zu unterscheiden, indem er auf die Wurzel ntu hinweist, die bei allen vier Kategorien vorhanden ist. Ntu bedeutet in diesem Sinne nicht "Mann", sondern "das Sein". Es folgt der Schluß, daß die Bantuphilosophie das Sein (Wesen) nicht apriori definiert, sondern aposteriori anhand klassifikatorischer Mittel, was, anders ausgedrückt, bedeutet, daß diese Philosophie dynamisch ist. Placide Tempels hatte den gleichen Schluß gezogen, ohne sich jedoch auf diese grundlegende Eigenschaft der Klassifikation zu beziehen. Kagame sammelte Beispiele aus vielen Bantu-Sprachen, um seine These zu belegen. Das Interessante an den Bemühungen sowohl von Kagame als auch von Tempels ist natürlich die Tatsache, daß sie sich dazu verpflichtet fühlten, die metaphysischen Vorstellungen der Afrikaner als solche zu systematisieren. Viele Afrikaner folgten diesem Beispiel und leisteten ihren Beitrag zur Aufschlüsselung dieser sogenannten Bantuphilosophie. 86 Weniger interessant ist in diesem Zusammenhang der Nachweis der Existenz einer afrikanischen Philosophie, sondern die Tatsache, daß sich ausgehend von einem Impuls, sich kritisch mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, ein Diskurs entwickelte, der eine afrikanische Philosophie neu erfand. Dieser Impuls wiederum stammte aus dem Postulat einer afrikanischen Essenz, die, wie gesehen, Afrika im Gegensatz zu Europa konstituierte. Dieser Punkt scheint mir sehr wichtig zu sein. Die Diskussion um den Begriff Afrika ist dadurch gekennzeichnet, daß manche behaupten, es gebe keine afrikanische Philosophie, während andere das Gegenteil behaupten. Das ist die Sicht der Philosophen. Geht man von einer soziologischen Perspektive heraus, so muß der Sinn dieser Diskussion in Frage gestellt werden, denn in der Tat gibt es keine afrikanische Philosophie im Sinne eines reflektierten metaphysischen und ontologischen Systems vor der Begegnung mit Europa. Aus soziologischer Sicht, d. h. von der Frage der Bedeutung dieser Diskussion überhaupt ausgehend, ist die afrikanische Philosophie diejenige, die in der Auseinandersetzung mit dem Begriff Afrika entsteht. Der philosophische Diskurs und die Diskussion um Afrika machen die afrikanische Philosophie aus. Deshalb bildet die Untersuchung der soziologischen Umstände, die diesen philosophischen Diskurs in erster Linie möglich gemacht haben, den 85
86
Ebd., S. 102. Siehe z. B. Ruch/Anyanwu (1981).
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Ausgangspunkt dieser Untersuchung, die davon ausgeht, daß "Afrika" ein moderner Begriff ist. Kagame und die anderen, die sich der Analyse der afrikanischen Philosophie widmeten, haben diese nicht nur aufgedeckt, sondern sie auch konstituiert. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, das zu bemerken, was Kagame zur Rechtfertigung seiner Arbeit schrieb: "Manche Leute zucken deshalb mit den Achseln, wenn man mit ihnen über die Bantuphilosophie redet, weil sie Philosophie und Philosophen verwechseln. Es gibt aber keinen vernünftigen Mensch, der nicht nach philosophischen Prinzipien handelt, egal welcher Kultur er zugehört - und sei es einer primitiven. Der Unterschied besteht darin, daß es in einer von der Technik geprägten Kultur Philosophen oder Denker gibt, die sich dieser Prinzipien bewußt geworden sind; sie haben sie analysiert und systematisiert, oder beschäftigen sich damit, diese Prinzipien nach neueren Aspekten zu untersuchen, die später rezipierte Wahrheiten ersetzen können. Solche Denker sind im Gegensatz dazu in einer schriftlosen Kultur nicht vorhanden. Hier werden die Prinzipien gelebt und implizit in der Praxis umgesetzt, ohne daß die Möglichkeit gegeben wäre, diesen Prinzipien bewußt zu werden".87
Dieses lange Zitat ist m.E. ein Plädoyer für die philosophische Auseinandersetzung mit den geistigen Prinzipien, die der sozialen Ordnung in Afrika zugrunde liegen. Es geht nicht um das Aufdecken einer afrikanischen Philosophie, sondern um eine Auseinandersetzung mit den ontologischen Vorstellungen anhand moderner westlicher theoretischer Ansätze. Die sogenannte Ethnophilosophie ist in diesem Zusammenhang nur insofern traditionalistisch, als sie in den traditionellen Werten Elemente findet, die in die Konstruktion der Wirklichkeit Afrikas einbezogen werden sollen. Dennoch geschieht dies dadurch, daß die Tradition kreativ mit der Modeme vermischt wird und aus dieser Mischung ein Bild dessen entsteht, was Afrika sein soll.
d) Die Entwicklung eines intellektuellen Diskurses Bevor Wole Soyinka aufgrund seines Literaturnobelpreises berühmt wurde, war er in Afrika hauptsächlich für seine Aussage über Negritude bekannt, die fast einem vernichtendem Urteil über diese gleich kam. Er sagte: "The tiger does not stalk about crying his tigritude!".88 Soyinka wendete sich damit gegen eine kulturelle Bewegung, die sich im französischsprachigen Afrika in den 30er Jahren bis hin zu den 60er Jahren unter dem Namen Negritude verbreitete. Negritude war ein Sich-Besinnen auf Afrika, welches von in Paris studierenden Afrikanern und Schwarzen aus der Karibik initiiert wurde. Negritude informierte und beeinflußte ein literarisches Schaffen, dessen Thema die Aufwertung Afrikas und der schwarzen Kultur war. 87 88
Kagame (1975), S. 94-5. Soyinka (1976).
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Der deutsche Ethnologe Ernst Wilhelm Müller hat Negritude treffenderweise so definiert: "Es gibt gewisse Parallelen zwischen der deutschen Bewegung des 19. Jahrhunderts. die sich auf das Denken von Herder bezog. und der Negritude. Herder betonte die nationale und die Volkskultur; er unterschied zwischen dem Volk einerseits und dem Staat und der Nation andererseits; er unterschied auch zwischen der Kultur als Gesamtheit der inneren Werten und der Zivilisation als äußerer Errungenschaft innerhalb der Wirtschaft und der Technik ... ,,89
Müller fährt fort und stellt fest. daß Negritude eigentlich dem Nativismus zuzurechnen sei. was zutreffend ist. denn der Grundimpuls. aus welchem diese Bewegung wuchs. war entschieden modem. d. h. es handelte sich um die Thematisierung der Lebenslage der Afrikaner oder Schwarzen unter modemen Verhältnissen. Die Betonung einer ursprünglichen afrikanischen Gemeinschaft diente dem Zweck. den Afrikanern eine Identität zu geben. in bezug auf welche sie sich in der modemen Welt orientieren könnten. Es gehört zur Argumentationslinie dieser Untersuchung. Afrika nicht apriori zu definieren. sondern es als Produkt der Modeme. d. h. als eine Wirklichkeit zu betrachten. die dadurch zustandekam. daß sich Intellektuelle Gedanken über ihre Lebensbedingungen machten. Die Konstruktion dieser Wirklichkeit. eine bewußte und reflexive Auseinandersetzung mit der Realität. fing mit der Suche der Schwarzamerikaner nach einer Lösung für eine existentielle Frage an. nämlich das Leiden der Afrikaner zu erklären. Negritude rückt deshalb ins Blickfeld. weil sie einer Phase angehört. der Phase der Systematisierung der Lösung. die Blyden mit dem Postulat einer afrikanischen Schicksals- und Wertgemeinschaft suggerierte. Ein besonderes methodologisches Problem bei der Betrachtung der Negritude als Systematisierung von Blydens Gedanken besteht darin, daß sich die historische Kontinuität - wie übrigens stets bei der Entstehung eines philosophischen Diskurses - nicht einwandfrei feststellen läßt. Negritude entwickelte sich in Paris, vorangetrieben von schwarzen Studenten aus französischen Kolonien in der Karibik und Afrika. Diese kulturelle Bewegung auf Blyden zurückzuführen, erscheint in diesem Sinne problematisch. zumal es in Afrika fast Gewohnheit ist, das englischsprachige Afrika und das französisch-sprachige Afrika gegeneinander auszuspielen. Soyinkas Einwand gegen Negritude wird oft als Teil dieses Gegensatzes gesehen, wobei sich die wichtigsten Kritiker der Negritude auf dem afrikanischen Kontinent im englisch-sprachigen Teil befinden. Der Gegensatz ist jedoch irreführend. Selbst Senghor, der senegalesische Schriftsteller und Politiker, der zusammen mit anderen Intellektuellen aus der Karibik Mitbegründer dieser Bewegung war, bestreitet diesen Gegensatz. Bei einer Auseinandersetzung mit der Kritik von Soyinka und Gleichgesinnten wendete sich Senghor gegen diesen Gegensatz und sagte, daß Negritude die Ideen von Schwarz89
Müller (1996), S. 16.
7 Macamo
Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
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amerikanern übernahm, die über die Notwendigkeit der Aufwertung der Schwarzen sprachen. 9o Er bezog sich insbesondere auf W. E. B. Dubois, einen Schwarzamerikaner, der lange Zeit in Westafrika lebte und mitverantwortlich dafür war, daß Blydens Ideen politisch umgesetzt wurden, vor allem in den vielen panafrikanischen Konferenzen. Noch wichtiger als diese direkte Inspiration jedoch scheinen die historischen Bedingungen zu sein, innerhalb welchen die Negritude als Bekenntnis zu Afrika Kohärent wurde. Bezeichnenderweise schrieb Senghor in diesem Zusammenhang: "Wir sehen die schwarzafrikanische Literatur in englischer Sprache nicht als Konkurrent, sondern als eine Schwester: es handelt sich um eine Ergänzung der Negritude. Dies wäre unsere Antwort auf unsere englischsprachigen Geschwister. Auch wenn sie von der engli-
schen Literatur geprägt worden sind - und so etwas ist nunmal unvermeidlich - haben sie darauf als Schwarze reagiert, genauso wie wir auf den französischen Einfluß reagiert haben. Das ist das Wichtigste".91
Der nigerianische Literaturwissenschaftler Abiola Irele hat vielleicht die ausführlichste Untersuchung der Affinitäten zwischen Negritude und Blydens African Personality unternommen. 92 Seine Thesen weisen eine Struktur auf, die etwas soziologisch anmutet. Irele geht auch davon aus, daß die Lage der Afrikaner im 19. Jahrhundert den Ausgangspunkt für die Konstruktion einer afrikanischen Identität bilde, die sich, wie bereits gesehen, auf das historische Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen oder auch Europäern und Afrikanern bezog. Dieses Verhältnis bewog die Schwarzen dazu, Afrika neu zu denken und zu definieren, und Ireles Meinung nach war es Blydens Verdienst, dies so zu tun und sich Afrika als eine Kategorie sui generis zu denken 93 . Mit anderen Worten, Blyden hat Afrika als Bezugspunkt seiner Reflexion dargestellt: "Blyden hat zum aller ersten Mal Afrika als unmittelbaren Bezug für den Schwarzen dargestellt,,94. Dies führte ihn dazu, eine Strategie zu entwickeln, die drei Elemente beinhaltete. Erstens die Ableitung einer afrikanischen Identität, d. h. schwarzen Identität; zweitens die Ausstattung dieser Identität mit neuen Ausdrucksformen, die den modemen Verhältnissen angepaßt sind; drittens die Schaffung eines Rahmens von neuen Werten und Ideen, die nicht nur für die Schwarzen gelten, sondern auch universelle Geltung haben 95 . Diese Kemgedanken wohnen nach Ireles Ansicht der Negritude inne: "Man muß erkannt haben, daß die Theorie des Afrikanismus von Blyden und der Begriff der afrikanischen Persönlichkeit, die diese Theorie zum Ausdruck bringt, nichts anderes ist als die Negritude. Vielmehr handelt es sich dabei um eine konzeptuell
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Senghor (1975), S. 18.
91
Ebd., S. 19. (Zweite Hervorhebung nicht im Original).
92
93 94 95
freie (1975).
Ebd., S. 65. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66.
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bearbeitete Negritude als allgemeines Prinzip der schwarzen Existenz, die als Philosophie der afrikanischen Existenz und des Schicksals herausgearbeitet wurde,,96. Das Interessante dieser Gedanken Abiola Ireles besteht darin, daß er, ohne es explizit darzustellen, eine soziologische Analyse unternimmt, die über eine Darstellung der Wahlverwandtschaft dieser zwei Denkrichtungen hinaus geht und die Frage der logischen Kontinuität zwischen den beiden stellt. Es ist nicht nur ein Faktum, daß Negritude und African personality aus dem gleichen Impuls hervorgingen, sondern daß erstere die logische Fortsetzung des letzteren ist. Abiola Irele stellt fest, Negritude sei ein bei weitem durchdachtes System, das sich bis auf das Detail mit der Lage der Afrikaner auseinandersetzt. Er faßt es blendend mit den Worten zusammen: " ... dort, wo es Blyden gelungen ist, die schwarze Existenz [l'etre negre] als Ausgangspunkt darzustellen, neigt Senghor dazu, sie als Epistemologie zu begründen,m. Der Schluß wäre nicht überzogen, Negritude als Systematisierung der Idee Afrikas zu betrachten. Ferner kann behauptet werden, daß Negritude ohne Blyden undenkbar ist, natürlich in dem Sinne, daß Negritude viel kohärenter und zielbewußter war als etwa African personality. Wir sollten uns nun dem Inhalt von Negritude zuwenden.
e) Uopold Sedar Senghor und die Negritude Senghor wurde im Jahre 1906 im Senegal geboren, einem Land, das er später fast zwei Jahrzehnte lang regieren würde, bevor er sich aus der Politik zurückzog und ähnlich wie später Julius Nyerere ein Beispiel setzte, das in Afrika kaum Nachahmer fand. Seine Schulausbildung erhielt er zunächst auf einer katholischen Missionsschule, danach kam er in den Genuß eines Stipendiums, das es ihm erlaubte, seine Ausbildung in Frankreich fortzuführen. Wahrend dieser Zeit in Frankreich schuf er zusammen mit Aime Cesaire und Leon Damas, zwei Studenten aus den französischen Kolonien in der Karibik, das Wort Negritude. Senghor nahm auch als Soldat am zweiten Weltkrieg teil, und war später Kriegsgefangener. In einer Studie der belgischen Literaturwissenschaftlerin Lilyan Kesteloot über die geschichtliche Entwicklung der Negritude 98 werden einige Meilensteine auf dem Weg zur Negritude genannt. 1932 gaben schwarze Studenten in Paris eine Zeitschrift heraus, Legitime defense, in der sie sich gegen alles, insbesondere die Heuchelei der europäischen Kultur, äußerten: "Von den widerlichen bürgerlichen Ebd., S. 67 - 8. Ebd., S. 69. 98 Kesteloot (1975). Siehe auch ein Interview mit Mudimbe (1992), S. 388-392. Ihr wird die Ehre zugesprochen Negritude für die Welt bekannt gemacht zu haben. 96 97
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Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
Bestimmungen verabscheuen wir vor allem die humanistische Heuchelei, diese unerträgliche Emanation der christlichen Verdorbenheit. Wir hassen die Frömmigkeit. Uns sind Gefühle egal".99 Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, daß viele Sachverhalte Einfluß auf diese jungen Menschen nahmen. Zunächst einmal scheint eine Art marxistischer Kritik eine Rolle gespielt zu haben. Daher vielleicht der Hinweis auf das Bürgertum, der die Ablehnung des Christentums in gewisser Hinsicht strukturierte. Ferner zeigte sich bei den Gründern der Negritude eine Tendenz, die Irrationalität zu bevorzugen und ihre Identität zu manifestieren. Ohne es zu thematisieren, versuchten sie sich einen Ort zu schaffen, von dem aus sie gegen das Kolonialsystem sprechen und sich als Gegensatz dazu darzustellen konnten. Kesteloot sieht in Legitime Defense bereits den Keim dessen, was später den Kern der Negritude bilden würde. In der Tat identifiziert sie die oben genannten Elemente schon mit diesem Kern: eine Kritik der Vernunft, die Bemühungen, eine ursprüngliche Identität zurückzuerobern, die Ablehnung von Kunstformen, die sich nach europäischen Modellen richteten, und ein Aufstand gegen den Kolonialkapitalismus 100. Eine zweite Phase leitete die Zeitschrift L'Etudiant Noir ein, die ebenfalls von diesen Studenten herausgegeben wurde, mit dem Ziel, alle schwarzen Studenten anzusprechen. Leon Damas, einer der Mitbegründer, sah diese Zeitschrift als: " ... körperschaftliche und kämpferische Zeitschrift, die das Ziel verfolgt, die Tribalisierung zu beenden, das vorherrschende Klansystem im Quartier Latin. Man hörte auf, Student aus Martinique, Guadeloupe, Afrika, Madagaskar zu sein um nichts anderes zu sein als ein einziger schwarzer Student. Das Leben in Isolation war vorbei". 101
In gewisser Hinsicht spiegelte die Absonderung einer auf Rasse basierenden Gemeinschaft das wider, was ich bereits als den Bezug auf einen Begriff von "Afrika" dargelegt habe, der eine Schicksals- und Wertegemeinschaft konstruierte. Dieser Bezug kam im Gewande einer durch die Geschichte konstituierten Gemeinschaft, die sich darüber hinaus mit einer Aufgabe konfrontiert sah, die ihr Schicksal auf der Welt zu bestimmen schien. Senghors Antwort auf die Frage, unter welchen Umständen er und Cesaire den Begriff Negritude schufen, läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es nicht nur um den Versuch ging, sich eine Identität anzueignen, sondern auch von den historischen Gegebenheiten eine Rolle für sie abzuleiten: "Damals befanden wir uns mit anderen schwarzen Studenten in einer Art panischer Hoffnungslosigkeit. Der Horizont war verdeckt. Es gab keine Hoffnung auf Reform und die Kolonisatoren rechtfertigten unsere wirtschaftliche und politische Abhängigkeit durch die Theorie der tabula rasa. Ihnen zufolge hatten wir nichts erfunden, nichts geschaffen, nichts geschrieben, sogar weder gemeißelt noch gemalt oder sogar gesungen. Nur Tänzer! Kesteloot (1975), S. 5. Ebd., S. 6. 101 Zitat nach Kesteloot (1975), S. 7.
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Dennoch ... um eine erfolgreiche Revolution durchzuführen, unsere Revolution, mußten wir uns zunächst der ausgeliehenen Kleider entledigen - d. h. der Assimilation - und unser Wesen behaupten, d. h. unsere Negritude". 102
Diese Aussage ist deshalb interessant, weil sie darauf hinweist, in welchem Maße die schwarzen Studenten dazu bereit waren, die Last ihrer selbsternannten Kultur zu tragen. J. Comhaire-Sylvain hat einmal geschrieben, Senghor wäre ein "metis culturel,,103, weil er von der Ausbildung her Franzose, aber sonst ein senegalesischer Nationalist und vom Herzen her Afrikaner war. Daß die französische Gesellschaft aus bestimmten Gründen vielleicht nicht in der Lage gewesen wäre, ihn aufzunehmen, sei dahin gestellt. George Pompidou, ein Freund und Kommilitone von Senghor, sagte diesbezüglich: "Ich habe ihm [Senghor - Anm. d. Verf.] in diesem für einen schwarzen Mann oft schwierigen Leben auch in Umgebungen, die weniger rassistisch sind, geholfen, dennoch kommt es ab und zu vor, daß ein nichts ahnender die Andersartigkeit erwähnt". 104 Senghor und der Kreis um ihm trafen bewußt eine Wahl, sich mit einer bestimmten Vorstellung von Afrika und schwarzer Kultur zu identifizieren. Was dies bedeutet, geht über die bloße Tatsache hinaus und entspricht bereits dem Punkt, daß Afrika ein moderner Begriff ist. Negritude bedeutete nicht die Rückkehr nach Afrika, sondern die Aufarbeitung dieses Begriffes unter den Verhältnissen der Modeme. Man zielte darauf ab, die afrikanische Gesellschaft in einen Dialog zu verwickeln, um sie für die Gegenwart relevant zu machen. Ausgehend von der Überzeugung, daß Afrika eine Schicksals- und Werte gemeinschaft darstelle, versuchten diese Intellektuellen, dieser Gemeinschaft Gehalt zu geben. Ihre Ansätze lassen eine kurze Darstellung eigentlich nicht zu. Von Relevanz scheint die Art und Weise zu sein, wie Senghor und seine Freunde "Afrika" im Gegensatz zu "Europa" definierten. Anders als es in der europäischen Geschichtsschreibung üblich war, widerstanden sie der Versuchung, Afrika innerhalb der europäischen Historizität zu betrachten, und stellten es einfach als etwas anders dar. Sie leiteten davon eine Aufgabe für sich selbst ab. Auch denjenigen, denen das Werk von Senghor fremd ist, ist ein Satz von ihm bekannt, nämlich seine Feststellung, daß die Vernunft hellenisch, also westlich sei, während Emotionen schwarz seien. Man kann an diesem Satz entweder das Schlimmste oder das Schönste an Negritude erkennen, je nachdem, wie man sich ihr gegenüber positioniert. Senghor hat selbst versucht, die Bedeutung seiner Behauptung zu erklären: "Ich weiß, daß mir vorgeworfen wurde, das Gefühl als schwarz und die Vernunft als griechisch definiert zu haben, so wie eben ein Europäer es machen würde. Ich bleibe allerdings dabei, da meine These heutzutage sogar von Weisen bestätigt wird ... der europäi102 103 104
Zitat nach Kesteloot (1975), S. 12 (Hervorhebung im Original). Siehe Smet (1975), S. 16. Ebd., S. 16.
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Teil II: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
sche Weiße hält eine gewisse Distanz zum Gegenstand. Er betrachtet ihn, er analysiert ihn, er tötet oder zähmt ihn zumindest um ihn zu verwenden. Der Schwarzafrikaner ahnt den Gegenstand ehe er ihn fühlt, er macht sich die Wellen und Konturen des Gegenstandes in einer Liebeshandlung zu eigen, er paßt sich an um ihn tiefer kennenzulernen ... ,,105
Bei einer anderen Gelegenheit hatte er sich dadurch gerechtfertigt, daß er nicht wisse, wie er die Besonderheit der Schwarzen anders zum Ausdruck bringen könne, denn, wie übrigens Jean Paul Sartre in Anlehnung an Martin Heideggers Begriff des Daseins bereits herausgefunden hatte, war Negritude "L'etre-dans-Iemonde du noir,,106. Senghor selbst nannte dies "Negersein".107 Um dieses Negersein zu definieren, berief sich Senghor auf Placide Tempels' Philosophie Bantoue, insbesondere auf dessen Reduzierung der afrikanischen Metaphysik aufforces vitales. Senghor bediente sich der Idee einer auf Lebenskräfte basierenden afrikanischen Metaphysik, um seine Vorstellung von der Andersartigkeit Afrikas zu untermauern. Wie bereits bei der Analyse der Entwicklung eines politischen Diskurses und eines religiös-philosophischen Diskurses gesehen, betrachtete man die afrikanische Gesellschaft in einer ahistorischen Weise, d. h. man reifizierte ihre gesellschaftliche Ordnung, um mit der Geschichte von vorne anzufangen. Senghor nimmt einen von Tempels festgestellten Aspekt der afrikanischen Gesellschaft aus seinem geschichtlichen Kontext und verwendet ihn als ein permanentes Merkmal dieser Kultur. Diese Reifizierung der gesellschaftlichen Ordnung diente jedoch dazu, die projizierte afrikanische Metaphysik zu legitimieren. Die schwarze Vernunft war somit intuitiv, weil alles, was es auf der Erde gibt, der materielle Ausdruck der Welt ist, die letztendlich ein Netz interagierender Kräfte ist. Mit anderen Worten: Die Schwarzen sind nicht in der Lage, die Welt so wahrzunehmen, wie es die Europäer tun, weil in ihrer Ontologie nur eines sicher ist, nämlich Gott, die einzige wahre Kraft. Alles andere seien nur Erscheinungen, Wirksamkeit von Kräften, die in ihrer Interaktion die Wirklichkeit bestimmen. Dieses Verständnis der Art und Weise, wie Schwarze die Welt wahrnehmen, hat Senghor so ausgedrückt: "Der Gegenstand bedeutet nicht, was er repräsentiert, sondern das, was er suggeriert, was er schafft. Der Elefant ist die Kraft; die Spinne ist die Vorsicht; das Horn ist der Mond und der Mond ist die Fruchtbarkeit. Alle Repräsentation ist ein Vorbild; das Vorbild ist kein Zeichen, sondern Sinn, d. h. Symbol, Ideogramm".108
Man sieht in dieser Aussage auch den Einfluß von Kagame, der mit seiner These über die klassifikatorische Eigenschaft der Bantusprachen die Eigenart der afrikanischen Philosophie in ihrer Auffassung der Abstraktion begründet sah. Die 105 106 107
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Senghor (1975), S. 21. Kesteloot (1975), S. 14. Senghor (1975), S. 20. Zitat nach Kesteloot (1975), S. 8.
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schwarze Ontologie ist eben nicht apriori, sondern aposteriori, und zwar in dem Sinne, daß die force vitale vor dem Sein steht, d. h. das Sein konstituiert. In seiner Auseinandersetzung mit dieser Ontologie zeigt sich Senghor sehr vielseitig. Für ihn bedeutet die Tatsache, daß die schwarze Ontologie nicht apriori ist, daß sie eigentlich eine existentialistische Philosophie beinhaltet. Der Einfluß kommt an dieser Stelle von Sartre, der bekanntlich die Negritude dazu verwendete, seine Verteidigung der marxistischen Geschichtsauffassung zu begründen. Im Mittelpunkt dieser Verteidigung stand die Aussage, daß es nur eine universelle Geschichte gibt, die sich im Marxismus offenbare. Die Geschichte sei auch unbewußt möglich "L'histoire se fait sans se connaitre" -, und der Marxismus sei die Geschichte, die sich ihrer selbst bewußt wird 109 . Negritude war Sartre deshalb wichtig, weil sie den Beweis für seine Verteidigung des Marxismus lieferte. Die Afrikaner wollten in die Geschichte, die eine und einzige, einsteigen. Er versuchte, so darf man sagen, die Negritude existentialistisch umzuinterpretieren. 110 Sartre schrieb auch das Vorwort zu einem Buch von Senghor. 111 Tatsächlich argumentiert Senghor in dieser Weise. Er sieht diese Ontologie mit einer existentialistischen Brille. Für ihn wächst die Existenz aus der Präexistenz heraus, d. h. Gott gibt den Tieren, den Pflanzen, den Mineralien u.s.w. die force vitale, damit diese Kraft in den neuen Gehäusen wachsen kann: " ... die Existenz basiert auf der Vorexistenz um sich als große Existenz zu entfalten. Daher der Platz, den der Mensch im System hat in seiner Eigenschaft als jemand, der existiert [existant], d. h. ein Lebender, der fähig ist seine Kraft zu stärken, also sich als Mensch zu verwirklichen und zwar dadurch, daß man immer freier in einer gegenseitig verpflichteten Gemeinschaft wird,,1l2 Senghors Plädoyer für eine afrikanische Essenz geht tiefer als die notgedrungen kurze Darstellung hier. Die Darstellung diente dazu, die groben Konturen dieses Diskurses aufzuzeichnen, um die These zu belegen, inwieweit Negritude eine Fortsetzung der Konstruktion des Begriffs Afrika war und in welchem Maße sie einen Beitrag zur Systematisierung der Reflexion über Afrika leistete. Ein noch zu erwähnender Punkt wäre der Zusammenhang von Tradition und Moderne in dieser Systematisierung. Auf diese Frage bin ich bereits eingegangen, indem ich darauf aufmerksam gemacht habe, daß Negritude keine buchstäbliche Rückkehr zur Wurzel bedeutete, sondern vielmehr einen reflexiven Bezug auf die afrikanische Gesellschaft darstellte. Senghor war fest davon überzeugt, daß die Konstruktion Afrikas nur dann erfolgreich sein würde, wenn sie sich für Einflüsse von außen offenhielte: Sartre (1963). Robert Young hat Sartres Versuche, seinem Existentialismus einen größeren Einflußraum zu geben, in seinem Buch behandelt: Young (1990). Siehe vor allem das dritte Kapitel "Sartre's extravagances" S. 28-49. 111 Sartre (1972). 112 Senghor (1975), S. 22 (Hervorhebung im Original). 109
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"Die wahre Kultur ist Verwurzelung und Entwurzelung. Tiefe Verwurzelung in der Heimat: Im geistigen Erbe. Aber auch Entwurzelung: Öffnung hin zu Sonne und Regen, zu Entlehnungen von ausländischen Kulturen. Im schwierigen Aufbau Afrikas im 20. Jahrhundert sind wir auf das Beste des europäischen Geistes angewiesen ... ,,1l3
Ein Aspekt, den ich hier nicht behandele, obwohl er relevant wäre, ist Senghors Überzeugung, derzufolge die französische Sprache und überhaupt die französische Kultur eine wichtige Rolle im Prozeß der geistigen Entwicklung Afrikas spielen könnte. Das Thema ist einfach zu umfassend, um hier mit der nötigen Sorgfalt behandelt zu werden. Es ist jedoch interessant zu bemerken, daß auch Blyden und Alexander Crummell fest davon überzeugt waren, die englische Sprache und Zivilisation sollten eine wichtige Rolle bei der Zivilisierung der Afrikaner spielen. Man hat sowohl Senghor als auch Blyden Heuchelei vorgeworfen, denn auf der einen Seite predigten sie die Notwendigkeit, die afrikanische Kultur aufzuwerten, und auf der anderen Seite waren sie nicht stolz genug darauf, Afrikaner zu sein, um sich die Entwicklung des Kontinents ohne ausländische Einflüsse vorstellen zu können. 114 Für meine Zwecke reicht es aus, wenn ich dagegen behaupte, es bestehe kein Widerspruch. Gemäß dem erfundenen Status der afrikanischen Wirklichkeit unter modernen Bedingungen wäre es irreführend zu behaupten, Blyden, Crummell und sogar Senghor hätten sich dafür eingesetzt, die afrikanischen Traditionen zu beleben. Das ist die halbe Wahrheit. Nichts wäre abwegiger, als ihr Bekenntnis zu Afrika buchstäblich zu verstehen, dann würde man den Fehler begehen, erstens, die Existenz Afrikas vorauszusetzen, was natürlich dem widerspricht, was wir hier bereits aufgedeckt haben, nämlich daß Afrika ein moderner Begriff sei, und zweitens die Kreativität dieser Intellektuellen zu übersehen, die darin bestand, anhand moderner Konzeptionen Afrika zu erfinden. Aime Cesaire hat dies in einem Aufsatz über die Intellektuellen und ihre Verantwortung pointiert festgestellt. 1I5 Obgleich das Volk auf dem Land am wenigstens vom Kolonialismus und seiner Entfremdung der Lebensweise der Einheimischen beeinflußt wurde, fällt den Intellektuellen die Aufgabe zu, die richtigen Lehren daraus zu ziehen und die einheimische Kultur wieder rein zu machen: "Weil wir die Wahrheit vertreten [forces de verite), sind wir diejenigen, die in die Welt unseres Volkes die Solidarität wiedereinführen, die wir zunächst wiedererfinden und deren Idee der Kolonialismus zu zerstören und zu verwischen versucht hat. Weil wir die Wahrheit vertreten und vertreten wollen, der kolonialen Lügen zum Trotz, bilden wir gleichzeitig die Armee der Eintracht und der Brüderlichkeit.,,1l6
Man kann darüber streiten, ob das von der Negritude entworfene Bild Afrikas der Wirklichkeit entspricht. Daß die Fragestellung bereits Fehler in sich birgt, sei Senghor (1975), S. 28. Die Liste der Kritiker ist umfangreich. Die wichtigsten dabei sind vielleicht mudimbe (1988); Appiah (1992); Serequeberhan (1994). 115 Cesaire (1975). 116 Ebd., S. 46. 113
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B. Die Veralltäglichung "Afrikas"
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nun einmal dahingestellt, denn die Wirklichkeit, die soziologisch zählt, ist diejenige, die durch die Reflexion über Afrika entsteht. Weiter unten werden wir uns mit der Objektivität der Wirklichkeit auseinandersetzen. Es sei hier die Anmerkung gestattet, daß die Negritude einer blühenden literarischen und wissenschaftlichen Produktion Raum und Legitimität zuwies. Diese Produktion bot die Grundlage für die Konzeption von und das Denken über Afrika in einer bestimmten Weise. Ein besonderes gutes Beispiel dafür ist die Zeitschrift Presence Africaine, die in Paris seit Jahrzehnten von Afrikanern herausgegeben wird und außerordentlich viel dazu beitrug, Afrika in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung unter Afrikanern zu stellen. Wie es einem Denkmal entspricht, haben viele afrikanische und westliche Wissenschaftler rechtzeitig zum Jubiläum von Presence Africaine ein Buch veröffentlicht, das treffenderweise The Surreptitious Speech ll7 heißt. 1947 gegründet, bleibt diese Zeitschrift in vielen Bereichen der Afrikanistik die erste Quelle, nicht nur für das rein wissenschaftliche Wissen über Afrika, sondern auch für den Geist des Kontinents. Negritude war also eine Kulturbewegung, die den Begriff Afrika weiter präzisierte. Sie tat es, indem sie sich Afrika als eine Schicksals- und Wertegemeinschaft anhand einer philosophischen und literarischen Bearbeitung der Andersartigkeit des Kontinents vorstellte. Hierbei tat sie nichts anderes als das, was Nkrumah, Nyerere, Tempels und Kagame bereits gemacht hatten, d. h. praktische Konsequenzen aus der Idee Afrikas zu ziehen.
11. Die gesellschaftliche Konstruktion einer afrikanischen Wirklichkeit
Die dieser Untersuchung zugrundeliegende Frage lautet Was ist Afrika? Ich habe mir vorgenommen, diese Frage anhand wissenssoziologischer Ansätze zu beantworten. Was das bedeutet, habe ich in der Einleitung bereits zu erläutern versucht. Ein wichtiger Bestandteil meiner Vorgehensweise ist die Annahme, Afrika sei ein moderner Begriff. Anders ausgedrückt, bedeutet diese Feststellung, daß Afrika als Begriff erst auftritt, wenn bestimmte Bedingungen, d. h. modeme Bedingungen, erfüllt sind. Ich habe bereits erläutert, was ich unter Modeme verstehe, und deshalb sollte uns die Frage nicht länger aufhalten. Es ist wichtig, die Idee festzuhalten, wonach sich die Modeme durch die Fähigkeit, reflexiv zu sein, auszeichnet. Von Reflexivität sprechen wir, wenn eine Gesellschaft sich selbst in einen Dialog verwickeln kann. Die Reflexivität ist ein bedeutungsvoller Bestandteil des sozialen Wandels, denn nur eine Gesellschaft, die sich selbst kritisch gegenübersteht, hat die Möglichkeit, sich zu wandeln.
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Mudimbe (1992).
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Teil II: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
Eine selbstkritische Gesellschaft ist eine, die den Rahmen der Tradition, also der althergebrachten sozialen Normen und Kontrollen sprengt, und sich somit eine dynamische Geschichte verschafft. Um diese abstrakten Gedanken zu verdeutlichen, muß zunächst einmal eine Frage beantwortet werden, nämlich, wie objektiv die Wirklichkeit ist. Um das Pulver nicht nochmals zu erfinden, sollten Berger und Luckmann in diese Analyse einbezogen werden. In ihrem Buch über die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit 1l8 haben diese beiden Soziologen ihre Annahme begründet, wonach der Wirklichkeit eine gewisse Objektivität zugeteilt werden kann. Ihre Argumente sind stichhaltig, und darüber hinaus stimmen sie mit dem dieser Untersuchung zugrundeliegenden theoretischen Ansatz überein. Sowohl Berger und Luckmann als auch ich gehen davon aus, daß die soziale Ordnung nicht von den Naturgesetzen abgeleitet werden kann. Sie existiert auch nicht von selbst, sondern als Produkt menschlicher Handlung. 1l9 Berger und Luckmann sprechen hier von der Genese und fortwährenden Existenz sozialer Ordnung und meinen damit, daß die soziale Ordnung erstens das Ergebnis menschlicher Handlung sei und, daß sie zweitens nur so lange existieren könne, wie menschliches Handeln sie weiter produziere 12D . Die Behauptung, daß die soziale Ordnung ein Produkt menschlicher Handlung sei, bezieht sich auf die Tatsache, daß sich soziale Handlungen institutionalisieren. Die empirische Beobachtung sozialer Handlungen beweise die Tatsache, daß soziale Akteure ihre Handlungen typifizierten, d. h. sie führten sie auf eine Art und Weise aus, die konstant, vorhersehbar und verläßlich sei. Diese Typifizierung sozialer Handlungen bilde den Inhalt sozialer Institutionen, denn diese seien nichts anderes als abstrakte, übergeordnete Rahmen, innerhalb welcher sich das soziale Leben abspiele. Institutionen, so Berger und Luckmann, bedeuten Historizität und Kontrolle. Mit anderen Worten: Wenn soziale Handlungen konstant, vorhersehbar und verläßlich blieben, sich also typifizieren lassen, schrieben sie einerseits ihre eigene Geschichte und bestimmten andererseits, welche Handlungen erlaubt bzw. nicht erlaubt seien: "Wechselseitige Typisierungen von Handlungen kommen im Lauf einer gemeinsamen Geschichte zustande,,121, und weiter: "Wenn ein Bereich menschlicher Tatigkeit institutionalisiert ist, so bedeutet das eo ipso, daß er unter sozialer Kontrolle steht." 122. Die Institutionalisierung sozialer Handlungen sei die Grundlage der Gesellschaft, die wiederum eine institutionalisierte Wirklichkeit sei. Institutionalisierung mache soziale Differenzierung möglich und erweitere somit den Rahmen, innerhalb welchem sich das soziale Leben abspielt. Dies kann anhand einer Metapher erläutert werden. Nehmen wir an, die Wirklichkeit sei eine gähnende Leere, die 118 119
120 121 122
Berger/ Luckmann (1980). Ebd., S. 55. Ebd., S. 55. Ebd., S. 58. Ebd., S. 59.
B. Die Veralltäglichung "Afrikas"
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allmählich von Menschen besiedelt wird, indem sie diese Leere mit institutionalisierten sozialen Handlungen füllen. Der von institutionalisierten sozialen Handlungen erfüllte Raum ist die Gesellschaft, die im weiteren Sinne die territorialen Grenzen des menschlichen HandeIns darstellt. Man kann anhand dieses Beispiels auch weiter spekulieren und die Hypothese aufstellen, daß der Grad der Besiedlung der Leere auf die Komplexität bzw. Einfachheit einer Gesellschaft hinweise. Mit dieser Metapher wird auch deutlicher, warum man von der Objektivität der Wirklichkeit sprechen kann. "Die institutionale Welt ist vergegenständlichte menschliche Tätigkeit, und jede einzelne Institution ist dies ebenso,,123. Berger und Luckmann sprechen von drei dialektischen Momenten, nämlich Externalisierung, Objektivation und Internalisierung, womit sie auf bestimmte Definitionen der sozialen Welt hinweisen, d. h. auf die Annahme, die Gesellschaft sei ein menschliches Produkt, eine objektive Realität, und der Mensch ein gesellschaftliches Produkt 124. Die Gesellschaft konstituiere sich durch den Ablauf dieser drei Prozesse. Man konstruiere die Wirklichkeit durch die Externalisierung, d. h. soziale Handlungen, durch Objektivation, d. h. die Typifizierung sozialer Handlungen bis hin zur Institutionalisierung, und durch Internalisierung, d. h. die Akzeptanz der von sozialen Institutionen bestimmten sozialen Handlungen. Die Ausweitung der institutionalisierten Ordnung stellt auch den Legitimationsrahmen, d. h. die Rechtfertigung ihrer eigenen Existenz, dar. Dieser Schluß liegt auf der Hand, wenn man bedenkt, daß Institutionalisierung auch Historizität und Kontrolle bedeutet. Die Legitimation einer sozialen Ordnung bezieht sich auf die Fähigkeit, die gesellschaftliche Ordnung zu interpretieren, d. h. ihr soziale Normen und Regeln aufzuerlegen. Diese Legitimation ist Wissen schlechthin: "was in der Gesellschaft für Wissen gehalten wird, wird gleichbedeutend mit dem Wißbaren oder ist wenigstens der Rahmen für alles Noch-nicht-Gewußte, das in Zukunft gewußt werden könnte. Es ist das Wissen, das im Verlauf der Sozialisation erworben wird und dem Bewußtsein des Einzelnen die Internalisierung der vergegenständlichten Strukturen der sozialen Welt verrnittelt".125
Berger und Luckmann zufolge ist das Wissen, zumindest in diesem Sinne, grundlegend für die Konstruktion der Wirklichkeit, denn es bestimme die Art und Weise, wie die Externalisierung eine objektive Welt produziere, die sie wiederum dadurch objektiviere, daß sie die soziale Welt in Objekte zerlege, die als Realität wahrgenommen werden sollen, und ferner wird es als eine objektiv geltende Wahrheit während der Sozialisierung internalisiert: "Wissen über die Gesellschaft ist ... Verwirklichung im doppelten Sinne des Wortes: Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren eben dieser Wirklichkeit in einem" 126. 123 124 125 126
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 65. S. 65. S. 70. S. 71 (Hervorhebung im Original).
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Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
Der wissens soziologische Anspruch auf Anerkennung bei der Analyse der Gesellschaft besteht in diesem Sinne darin, daß die Analyse des Wissens auch, in übertragenem Sinn, die Analyse der Gesellschaft selbst ist. Man kann keine Gesellschaft verstehen, wenn man nicht weiß, auf welcher Basis sie ihre soziale Ordnung legitimiert. Dies führt uns zurück zur Diskussion über den Historismus, denn wie ich im ersten Teil erläutert habe, hatte Mannheim diese Methode eben deshalb bevorzugt, weil er davon ausging, daß die Wahrheit der Geschichte im historischen Geschehen zu finden sei. Dies bedeutet mit anderen Worten, daß sich die Gesellschaft durch soziale Handlungen konstituiert, also die Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert wird. Die Deutung des Wissens, insbesondere die Art und Weise, wie das Wissen seine legitimierende Funktion ausübt, ist von sehr großer Bedeutung bei der Analyse der gesellschaftlichen Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit. Die soziologische Auseinandersetzung mit dieser Frage stellt sich die Aufgabe, den Begriff Afrika nicht als eine Essenz zu betrachten, sondern als einen Prozeß. Soziologisch gesehen, gibt es kein Afrika im Sinne einer von der Natur vorgegebenen Tatsache, sondern nur einen Begriff, der unter bestimmten Bedingungen einer Wirklichkeit entsprechen kann. Daß dem so ist, habe ich versucht anhand einer idealtypischen Sozialgeschichte des Begriffs aufzuzeigen. Heuristisch habe ich mich Max Webers religionssoziologischen Ansatzes bedient, der es mir erlaubte, die Frage zu stellen, die uns bei der Darlegung des empirischen Materials behilflich sein konnte. Die Idee eines Rationalisierungsprozesses ist für den Zweck der Rekonstruktion der Geschichte eines Begriffes aufschlußreich, vor allem als Wegweiser durch die dichten und dunklen Wälder der afrikanischen Geschichte. Das theoretische Modell für die Heuristik der Untersuchung stellt das Ideencharisma dar, insbesondere dessen Entwicklung durch die Veralltäglichung und Versachlichung. Immer wenn es eine Spannung zwischen der Wirklichkeit und ihrer Rechtfertigung gibt, entsteht das Charisma, das im weiteren Sinn ein Versuch ist, einen Ausweg aus der existentiellen Krise zu finden. Am Anfang geht man auf die Spannung ein, und später versucht man die Lösung dadurch auf die Wirklichkeit zu übertragen, indem man sie systematisch bearbeitet und einsetzt. Die Systematisierung geht mit der Veralltäglichung einher. Die Veralltäglichung ist zugleich Ende und Anfang, denn wie bereits Oscar Wilde sagte, stürben Religionen nur dann aus, wenn sie als wahr erwiesen seien, und die Wissenschaft sei die Geschichte ausgestorbener Religionen. Die Geschichte des Begriffs Afrika ist also die Geschichte der gesellschaftlichen Konstruktion Afrikas. Aus dem Bedürfnis heraus, die Welt verständlicher zu machen, projizierten aus Amerika zurückgekehrte Sklaven das Bild einer nie dagewesenen afrikanischen Heimat, das in den folgenden Jahren von vielen anderen Afrikanern weiter und präziser ausgearbeitet wurde. Erst in der systematischen Aus-
B. Die Veralltäglichung "Afrikas"
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einandersetzung mit diesem Bild entstand Afrika. Nicht das vorkoloniale Afrika, denn das hat es nie gegeben, sondern das einzige Afrika, das es je gegeben hat, nämlich das Schicksals- und Wertegemeinschafts-Afrika, das politischen Forderungen Kohärenz gab. Es war das Afrika, das einen philosophischen Diskurs möglich machte, ein Afrika, das der Entwicklung eines Zusammengehörigkeitsgefühls auf der Basis des Leidens und der Hautfarbe Substanz gab. Die Behauptung, Afrika sei ein moderner Begriff, wird damit gerechtfertigt, daß es Produkt einer unter modernen Bedingungen durchgeführten Reflexion über die Spannung zwischen Wirklichkeit und ihrer Legitimation sei. Die Objektivität dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit besteht darin, daß es den Afrikanern dadurch, daß sie politische Ansprüche erhoben und daß sie eine gemeinsame Philosophie und kulturelle Einheit postulierten, gelang, Afrika als eine Essenz, oder, wie Abiola Irele es ausdrückte, als Kategorie sui generis darzustellen. Natürlich muß man bei diesen Schlußfolgerungen Vorsicht walten lassen. Es kann mit Recht die Frage gestellt werden, wie es möglich sei, von Afrikanern zu sprechen und zugleich zu behaupten, es gebe kein Afrika. Nun, genau dies ist der Punkt. Es gab erst Afrikaner, bevor es Afrika gab. Die Afrikaner haben Afrika konstruiert, und damit meint man den Kontinent, den man durch politische Ansprüche und als Heimat einer spezifischen Kultur erkennt. Im nächsten Teil wird auf die Kritik eingegangen werden, derzufolge das Postulat einer kulturellen, philosophischen Einheit Afrikas als irreführend zu betrachten sei. Es muß jedoch an dieser Stelle klar herausgestellt werden, daß sich eine wissens soziologische Auseinandersetzung mit der Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit nicht damit begnügen kann, das Bekenntnis zu Afrika als traditionalistisch abzustempeln. Sicherlich ist es in der Tat so, daß das Bekenntnis darauf hinausläuft, zu den Wurzeln zurückzukehren. Dennoch wäre man gut beraten, dies nicht wörtlich zu nehmen. Die in diesem Teil angeführten Beispiele zeigen in aller Deutlichkeit, daß gerade diejenigen, die dafür plädierten, zu den Wurzel zurückzukehren wie etwa Blyden, Nkrumah, Nyerere, Kagame und Senghor auch diejenigen waren, die eine Mischung aus Tradition und Moderne bevorzugten. Blyden sah das vorkoloniale Afrika als den Stoff, auf dem man die Eigenart eines projizierten Bildes von Afrika malen könnte. Ähnlich bei Nkrumah und Nyerere wie bei allen afrikanischen Nationalisten, die das Bild Afrikas dazu verwendeten, ihren politischen Forderungen Kohärenz zu geben, ohne daß sie das vorkoloniale Afrika je in Wirklichkeit wiederherstellen wollten. Bei dem Philosophen Kagame wird es noch deutlicher, daß es nicht um die Wiederherstellung einer afrikanischen Philosophie ging, sondern um die philosophische Reflexion einer möglichen afrikanischen Ontologie. Diese Reflexion resultierte aus dem Postulat einer afrikanischen Wirklichkeit. Auch Senghor definierte sein Verständnis von Negritude nicht als bloße Rückkehr zu einer mythischen afrikanischen Vergangenheit, sondern als darauf aufbauend, um so den Afrikanern einen Wegweiser in die Moderne zu geben.
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Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
Soziologisch gesehen sind die Traditionalisten demnach eigentlich keine Traditionalisten. Zur Erinnerung: Auch Mannheim hatte die gleiche Feststellung bezüglich der Konservativen in Deutschland gemacht 127. Daß man die Auseinandersetzung um den Begriff Afrika als eine Debatte zwischen Tradition und Modeme darstellt, hat vielleicht damit zu tun, daß es Philosophen sind, die an der Auseinandersetzung teilnehmen. Sie interessieren sich für metaphysische Fragen. Dennoch hat auch die Wissenssoziologie in gewisser Hinsicht metaphysische Fragen in den Mittelpunkt ihres wissenschaftlichen Interesses gestellt, was u. a. bedeutet, daß sie einen Anspruch darauf erhoben hat, sich in diese Auseinandersetzung einzumischen. Nimmt man die Auseinandersetzung unter eine wissenssoziologischen Lupe, so muß man feststellen, daß die Diskussion selbst Afrika konstruiert. Die Auseinandersetzung sorgt dafür, um auf die weiter oben verwendete Metapher zurückzugreifen, daß die gähnende Leere der afrikanischen Wirklichkeit immer dichter besiedelt wird. Im letzten Teil werden diese Themen noch eingehender behandelt, vor allem unter dem Gesichtspunkt von Afrikanistik, Identität und Antimoderne. Von besonderem Interesse sind dabei Fragen wie, was die Behauptung, Afrika sei ein moderner Begriff, zu bedeuten hat, insbesondere in bezug auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Afrika, in bezug auf das Selbstverständnis der Afrikaner und darauf, wie sie sich die Zukunft vorstellen. Vorher soll jedoch die Kritik an dem Postulat einer essentialistischen afrikanischen Wirklichkeit vorgestellt werden, eine Aufgabe, die ich mir für das nächste Kapitel vorgenommen habe. Es wird hier gewissermaßen mit gezinkten Karten gespielt, denn die Ausgangsposition steht fest, nämlich daß diese Kritik fehl am Platze ist, weil die Traditionalisten eigentlich nicht zu den Wurzeln zurück wollen. Dennoch findet diese Kritik nicht in einer Leere statt, sondern stützt sich auf bestimmte soziologische Tatsachen, die aufzudecken sich lohnt. Ironischerweise ist die Kritik selbst ein wichtiger Bestandteil der Konstruktion der afrikanischen Wirklichkeit, und schon aus diesem Grund sollte man sich mit ihr auseinandersetzen.
C. Die Versachlichung "Afrikas" I. Die sozialen Bedingungen der Versachlichung
Wollte man einen leichten Beweis für die Modernität der Traditionalisten in Afrika anführen, könnte man auf die Tatsache verweisen, daß die Versuche, Afrika nach einem mythischen Vorbild politisch und wirtschaftlich aufzubauen, eher die Ausnahme waren. In der Tat haben fast alle afrikanischen Länder nach der Unabhängigkeit versucht, sich nach modemen europäischen Mustern zu etablieren. 127 Vgl. Mannheims Abhandlung der Begriffe "Traditionalismus" bzw. Konservatismus" in: Mannheim (1964), S. 411-18.
C. Die Versachlichung ,,Afrikas"
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Kulturelle Revolutionen waren in Afrika bemerkenswert selten. Und wo sie auftraten, dauerten sie nicht lange. So z. B. in Zaire, dem besten Beispiel dafür, daß man eine Staatsideologie entwickelte, wonach sich dieses zentralafrikanische Land nach dem Militärputsch von 1965 auf die kulturellen Werte Afrikas besinnen sollte. Unter der Führung einer modem ausgerüsteten Armee und ausgebildeten Offizieren leitete man eine Revolution ein, die sich dadurch auszeichnete, daß z. B. alle Einwohner aufgrund eines Gesetzesbeschlusses ihre christlichen Namen durch afrikanische Namen ersetzen mußten. Die dieser kulturellen Revolution zugrundeliegende Philosophie hieß authenticite, und in ihren Grundzügen wies sie bestimmte Ähnlichkeiten mit dem Drang,
Afrika neu zu definieren, auf. Tshiamalenga Ntumba, ein Philosoph aus Zaire, hat diese Philosophie dargelegt. 1 Er hat sie auf die Notwendigkeit zurückgeführt, die traditionelle anthropologische Philosophie Afrikas für die gegenwärtigen Herausforderungen relevant zu machen 2 . Authentizität in diesem Sinne ist der Versuch, aus der Vergangenheit eine Lehre zu ziehen, die auf die gegenwärtige Lage übertragbar ist. Man stellte sich das Leben im vorkolonialen Afrika so vor, als hätten die Ahnen mit vollen politischen, religiösen, wirtschaftlichen und kulturellen Freiheiten gelebt, und zieht daraus den Schluß, sie seien freie Menschen gewesen. Insofern die Ahnenfreie Menschen waren, seien sie auch authentisch gewesen, da sie die Schöpfer ihrer eigenen Kultur waren, "eux-memes des createurs libres de civilisation et non des robots ni des imitateurs serviles,,3. Authentizität lief also darauf hinaus, die Kolonialisierung Afrikas durch Europa als eine Fußnote in der Geschichte der Afrikaner zu betrachten und zugleich neue Legitimationsmuster für die autonome Führung der politischen und wirtschaftlichen Schicksale zu schaffen. Anders ausgedrückt, stellte sich die afrikanische Geschichte als eine von den Europäern durchbrochene Linie dar, die mit Hilfe einer konsequenten Rückbesinnung auf verlorengegangene Werte wieder aufgenommen werden könnte. So ließ sich der Namenswechsel dadurch rechtfertigen, daß man ursprünglich nach einem Ahnen benannt wurde, was Ausdruck sowohl einer gewissen kulturellen Autonomie als auch Treue den Ahnen gegenüber gewesen sei: "Es ist daher völlig falsch, den eigenen Namen abzulehnen um einen ausgeliehenen zu tragen; der ausgeliehene Namen hat weder eine afrikanische Bedeutung noch irgend welchen Bezug zum Klan. Die Bekehrung zur Authentizität impliziert die totale Ablehnung ausgeliehener Geister und Sprache,,4.
Diese Authentizität hat Zaire nicht vor der im übrigen Afrika herrschenden politischen und wirtschaftlichen Krise geschützt. Neulich beschrieb sogar eine afrikanische Zeitschrift Zaire als den "Wilden Westen Afrikas"s. Interessant bei diesem I 2
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Ntumba (1975) Ebd., S. 172. Ebd., S. 176. Ebd., S. 173. African Business (1996) S. 8 - Il.
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Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
Versuch ist natürlich nicht die Tatsache, daß er scheiterte, sondern daß sich bei einer tiefen Analyse ergeben würde, daß er sich nur im Grad von der üblichen Entwicklung des restlichen Kontinents unterschied. Es wäre eigentlich auch falsch zu behaupten, Zaire habe die Rückkehr zu den Wurzeln angetreten und die richtigen Schritte in diese Richtung unternommen. Auch bei der Authentizität war die Rolle einer modernen Auffassung der Vergangenheit Afrikas von entscheidender Bedeutung. Daß es beim Namen blieb, ist aufschlußreich, denn auch die Rückkehr zu den authentischen Werten Afrikas blieb ein Vorwand für einen Prozeß, der die Zukunft im Visier hatte, und nicht eine Vergangenheit ohne schlüsselfertige politische und wirtschaftliche Entwürfe für die moderne Zeit6 . Die Idee der Rückkehr diente in Afrika vielen Bedürfnissen, nicht zuletzt und vor allem lange nach der Unabhängigkeit zum einen dazu, die Autonomie des Kontinents gegenüber Europa zu rechtfertigen, und zum anderen, die praktischen Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung dieser Autonomie zu erklären. Im vorangegangenen Teil wurde der Prozeß beschrieben, wie aus dem Begriff Afrika praktische politische Konsequenzen gezogen wurden, die dann die Grundlage für eine erfolgreiche Kampagne gegen den Kolonialismus und für die Anerkennung der Afrikaner als politische Wesen waren. Eine entscheidende Rolle spielte dabei genau diese Idee der Besinnung auf Afrika, eine von vielen Formen der Rückkehr zu den Wurzeln. Man glaubte, an diesem Afrika Merkmale zu entdecken, die wegweisend für die Zukunft sein könnten. Und das legitimierte die Eigenart der Wege, die für den afrikanischen Anschluß an die Moderne eingeschlagen wurden. Obwohl politische Instabilität und wirtschaftliche Krisen zu den Hauptmerkmalen Afrikas nach der Unabhängigkeit wurden, war es theoretisch möglich, dies anhand der gleichen Argumentation zu erklären, die dazu eingesetzt worden war, die politische Unabhängigkeit zu erreichen. Diese politische Instabilität zeichnete sich dadurch aus, daß es der Demokratie in Afrika nicht gelang, sich dort zu etablieren. Der Machtwechsel erfolgte in Afrika in der Regel durch Militärputsch. Ali Mazrui wies in diesem Zusammenhang darauf hin, daß zwischen 1935 und den 80er Jahren mehr als 70 Militärputsche stattfanden, so daß "in diesem Abschnitt der Geschichte Afrikas ist es bisher äußerst selten vorgekommen, daß eine Regierung in Afrika durch eine Wahlniederlage abgelöst wurde ... ,,7. Allein in Nigeria wurden bis 1979 drei von den sechs Staatschefs, die das Land seit der Unabhängigkeit hatte, 6 lan Vansina (1994), S. 146-47 erzählt eine interessante Geschichte. 1964 schrieb er ein Buch über die Ethnographie von Zaire, in dem er die ethnische Zusammensetzung des Landes beschrieb. Obwohl er seinen eigenen Bemühungen schlechte Noten gab - er schrieb dazu: ..... the task was not very challenging, and I remember it as the most tedious project lever undertook" - und die Fachwelt keine Kenntnis vom Buch nahm, blieb das Ganze nicht unbemerkt in Zaire, wo, wie Vansina schildert, ..... it was learned that President Mobutu used it to balance his ethnic appointments so that none of the sixteen clusters held a disproportionate number of positions. So much for my good intentions. It just goes to show that once a book exists, it takes on a Iife of its own". 7 Mazrui (1993), S. 13-4 (Hervorhebung im Original).
C. Die Versachlichung "Afrikas"
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ermordet, " ... aSO per cent ,regicide' rate ... " nach Mazruis Auffassungs.Der politische Mord entwickelte sich zu einem festen Bestandteil der politischen Wirklichkeit Afrikas genau zu dem Zeitpunkt, als man versuchte, die Ideen des Panafrikanismus als Markenzeichen der afrikanischen politischen Kultur zu betrachten. Gleich auf der Gründungskonferenz der Organisation der afrikanischen Einheit in Addis Abeba in Äthiopien 1963 blieb ein Platz leer, weil ein Staatschef einige Monate zuvor ermordet worden war. Der Satz "Death is an exercise in pan-africanism,,9 brachte ein Stück des afrikanischen Galgenhumors zum Ausdruck, spiegelte aber zugleich die Realität wider. Obwohl es sich lohnen würde, den Gründen für diese politische Instabilität nachzugehen, gehört die Antwort darauf nicht in diese Arbeit. Man hat sie öfters in Zusammenhang mit dem schlechten Zustand der afrikanischen Wirtschaft gebracht. Ist die politische Instabilität in Afrika auf die wirtschaftliche Lage zurückzuführen, oder ist es umgekehrt? Fragen wie diese sind Teil der Auseinandersetzung über Afrika, insbesondere über das postkoloniale Versagen im Bereich der Politik und der Wirtschaft. Von den 25 ärmsten Ländern der Welt befinden sich zwei Drittel in Schwarzafrika. 10 Zwischen 1963 und 1983 erlangte Afrika nur drei Prozent der gesamten ausländischen Investitionen in der Welt, was sich als der niedrigste Prozentsatz in der Welt erwies. Ferner blieb das Haushaltsdefizit vieler afrikanischer Länder im gleichen Zeitraum konsequent negativ, mit der Ausnahme von 1970 - aus welchen Gründen auch immer. Inländische Investitionen und Ersparnisse weisen im gleichen Zeitraum immer noch eine absteigende Tendenz auf, was u. a. den damaligen Generalsekretär der Organisation für afrikanische Einheit, Edem Kodjo, dazu veranlaßte, in Lagos, der Hauptstadt Nigerias, 1980 folgende Äußerung zu machen: "Afrika stirbt ... es scheint für uns in der Zukunft keine Zukunft zu geben". II Adebayo Adededji, der Leiter der von der UNO eingerichteten Economic Commission for Africa, faßte die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas folgendermaßen zusammen: "Unglücklicherweise hat sich praktisch für ganz Afrika und für die überwiegende Mehrheit seiner Bewohner der schnelle wirtschaftliche Wandel, auf den man bei der Unabhängigkeit gehofft hatte, nicht verwirklicht. Statt dessen schlitterte die Wirtschaft Afrikas von einer Krise in die nächste: Die Revolution wachsender Erwartungen machte Platz für die Revolution wachsender Enttäuschungen, was eine Welle von Militärrevolten und politischer Aufstände in verschiedenen Teilen des Kontinents zur Folge hatte". 12
Ebd., S. 6. Ebd., S. 16. 10 Siehe dazu: Coquery- Vidrovitch (1993), S. 303; sie zitiert Weltbank Statistiken. II Zitat nach Coquery-Vidrovitch (1993), S. 305. 12 Adedeji (1993), S. 394.
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Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
Dieses Versagen frustrierte nicht nur die Militärs, die in gewisser Hinsicht Teil des Problems in Afrika sind, sondern es blieb auch nicht ohne Folgen für die Versuche, den Begriff Afrika als Phänomen sui generis darzustellen. Das ist das Anliegen dieses Teils. Welche Konsequenzen die wirtschaftliche Krise auf die Konstruktion des Begriffes "Afrika" hatte, soll uns in diesem Teil beschäftigen. Mich interessiert natürlich nicht, warum Afrika wirtschaftlich versagt hat, auch wenn die Frage beantwortet werden sollte. Nachdem im vorigen Teil die These vertreten wurde, das Postulat einer afrikanischen Schicksals- und Werte gemeinschaft habe dazu geführt, dem Anspruch auf politische Rechte durch die Entwicklung bestimmter Diskurse Kohärenz zu verleihen, bleibt nun die Frage offen, warum sich die Sphäre der Wirtschaft nicht so entwickelte wie die Bereiche der Politik, Kultur und Religionsphilosophie. Ich hatte vorübergehend die Frage offen gehalten, ob die Entwicklung eines wirtschaftlichen Diskurses aus der Geschichte des Begriffes Afrika während der Dekolonisierung und unmittelbar danach von irgendwelcher Bedeutung gewesen sei. Bei einer genaueren Betrachtung der Diskurse, die ich im letzten Teil angeführt habe, läßt sich eine Tendenz feststellen, die die Konturen eines wirtschaftlichen Diskurses aufweisen. Die Betonung der Andersartigkeit Afrika hing eng zusammen mit der Hervorhebung einer vermeintlichen ursprünglich gemeinschaftlichen Lebensweise in Afrika. Dem afrikanischen Sozialismus in all seinen Variationen lag die Idee zugrunde, wonach das einzige wirtschaftliche System, das Afrika entspreche, eines sei, das sich nach dem ursprünglichen Gemeinschaftssinn der Afrikaner richte. Teils als geschichtlich erzwungene Maßnahmen und teils als Ergebnis dieser Überzeugung setzten Afrikaner viel Energie dafür ein, Nationalökonomien aufzubauen, die dem Staat viel Macht bei der wirtschaftlichen Entwicklung einräumten. Der Staat in Afrika hat dieses Ziel verfehlt, aber er wuchs trotzdem in gewaltigem Maße und schuf eigene Probleme, die der französische Politologe Jean-Fran~ois Bayart gut beschrieben hat, wenn auch auf problematische Weise. 13 Seit Georg Simmel, der sich in seiner Philosophie des Geldes über die Fähigkeit der modemen Gesellschaft, dem Geld, vor allem dem Papiergeld, soviel Bedeutung zu verleihen, wissen wir die soziologische Tatsache einzuschätzen, wie grundlegend das Vertrauen in die soziale Ordnung ist. Daß das Geld eine so wichtige Rolle in der modemen Gesellschaft spielen kann, hängt damit zusammen, daß es die institutionellen Bedingungen hervorgerufen hat, die seine autonome Rolle un-
13 Bayart (1989). In diesem Buch geht Bayart auf eine wichtige Frage des postkolonialen Afrika ein, aber seine Schlußfolgerungen sollten eher skeptisch betrachtet werden, denn seine Analyse leidet darunter, daß eigene Vorurteile gegenüber dem Staat in Afrika mehr Gewicht haben, als es nötig wäre. Neulich veröffentlichte Bayart noch ein Buch, diesmal über Religion in Afrika, das die gleiche Vorurteile bekräftigt. Bayart (1993). Siehe insbesondere seinen eigenen Beitrag: "Les Eglises chretiennes et la politique du ventre", S. 129-160. Für eine ausgewogene Auseinandersetzung mit dem Staat in Afrika siehe Migdal (1988).
C. Die Versachlichung "Afrikas"
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terstützen, und es in gewisser Hinsicht dem modemen Menschen ermöglicht, die Gesellschaft als selbstverständlich wahrzunehmen. 14 Die Gesellschaft ist in Afrika nicht selbstverständlich. Und das widerspricht den Versuchen der Schöpfer des Begriffs Afrika die afrikanische Wirklichkeit rosig darzustellen. Es spricht einiges dafür, die These zu vertreten, wonach die Unfahigkeit Afrikas, eine Wirtschaft aufzubauen, die dem Volk Wohlstand geben und das politische System stützen könnte, dazu geführt hat, die Betonung des Postulats einer afrikanischen Essenz nicht nur in Frage zu stellen, sondern sie auch für die Misere verantwortlich zu machen. Dieser Schluß läßt sich von der Auseinandersetzung über die afrikanische Wirklichkeit ableiten. Die philosophische Auseinandersetzung um den Begriff Afrika ist in dem Sinne deshalb relevant, weil sie deutlich zeigt, daß es dabei eigentlich nicht um den Begriff "Afrika" geht, sondern vielmehr um die Spannung zwischen der Weltanschauung und der Wirklichkeit. Insofern die Weltanschauung gewissermaßen eine afrikanische Essenz postuliert, die nur zum Vorschein gebracht werden soll, um blühende Landschaften in Afrika zu entfalten, und die Wirklichkeit sich weigert, sich danach zu richten, schafft sie die Bedingungen für die Infragestellung ihrer eigenen theoretischen Prämisse. Die Kritiker des Postulats einer afrikanischen Essenz, zeichnen sich, wie wir sehen werden, nicht dadurch aus, daß sie dieser Essenz widersprechen, obwohl dieser Ansatz vorhanden ist, sondern sie beanstanden, daß das Bedürfnis, sich zu Afrika zu bekennen, nicht dazu führen sollte, den Afrikanern den Zugang zum modemen Fortschritt zu verweigern. Anders gesagt, man bestreitet nicht, daß Afrika als Kategorie sui generis existiert, dennoch solle dies nicht heißen, daß Afrika die Wissenschaft neu erfinden sollte. Auch bei den Kritikern, die die Idee einer afrikanischen Philosophie entschieden zurückweisen, ist trotzdem ein Begriff von Afrika zu erkennen, der den Ton der Auseinandersetzung beeinflußt. Weiter unten werde ich diese Hypothese beweisen. Wichtig im Moment ist festzustellen, daß die Spannung zwischen der Wirklichkeit und der Weltanschauung, bedingt durch das wirtschaftliche Versagen, der Auslöser für die Kritik am Postulat einer afrikanischen Schicksals- und Werte gemeinschaft war. Um diese Hypothese zu belegen, müssen wir so verfahren wie im vorigen Teil und von der angesprochenen Spannung die Idee ableiten, wonach die Aberkennung einer afrikanischen Essenz einem Prozeß der Systematisierung unterzogen wurde, der verschiedene Diskurse entfaltete. Relevant für unsere Zwecke sind noch einmal die politischen, philosophischen und kulturellen Diskurse, die in Afrika entwickelt wurden. In ihrem Kern weisen sie sowohl die Grundzüge ihres Ursprunges als auch die Tatsache auf, daß sie Versuche sind, den Begriff Afrika weiter zu präzisieren. Der politische Diskurs ist in diesem Zusammenhang sehr interessant. Wie bereits gesehen, richtete sich der ursprüngliche afrikanische politische Diskurs dar14
s*
Simmel (1930).
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Teil 11: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
auf, die politischen Ansprüche der Afrikaner zur Geltung zu bringen. Der Kolonialismus wurde thematisiert, und dies ermöglichte eine Politisierung der Lage der Afrikaner, die sich dadurch die Bedingungen dafür schufen, die Geschichte für sich in Anspruch zu nehmen. Dennoch, die Art und Weise, wie sie ihre Lage thematisierten, führte dazu, daß sie ein bestimmtes Bild von Afrika entwarfen, das sie nach bestimmten Zielsetzungen ausrichteten, die von der vermeintlichen Essenz Afrikas abgeleitet wurden, so z. B. die Betonung der ,kommunitarischen' Natur der vorkolonialen afrikanischen Gesellschaft, die die ideologischen Optionen auf den Sozialismus reduzierte. In fast allen afrikanischen Ländern, die in den 60er Jahren unabhängig wurden, wurde eine Form des Sozialismus als Staatsideologie propagiert, obgleich man nicht zu viel Wert auf die theoretische Seite legte, d. h. nicht zu sehr auf den Marxismus fixiert war. Betont wurde immer wieder ein Sozialismus, der von der Natur der afrikanischen Gesellschaft abgeleitet wurde. So verschieden Senghor, Nkrumah, Nyerere - um einige uns bekannte Namen zu nennen - in ihrer ideologischen Orientierung waren, so vertraten sie dennoch die eine oder andere Ausprägung des afrikanischen Sozialismus. Die afrikanischen Länder, die später unabhängig wurden, also sowohl die portugiesischen Kolonien Mosambik, Angola, Kap Vert, Guinea Bissau und Säo Tome e Principe als auch Simbabwe, Namibia und Südafrika lehnten diesen afrikanischen Sozialismus ab und gingen über zu einer Form des Sozialismus, die sich direkt vom Marxismus inspirieren ließ. Sie nannten ihre Wahl wissenschaftlichen Sozialismus, und damit meinten sie nicht so sehr eine Option für die Sowjetunion oder die DDR, sondern den Glauben an eine viel rationalere Thematisierung der Lage der Afrikaner, also eben eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus. Für sie war der afrikanische Sozialismus ein sehr einfacher Begriff, und dies spiegelte sich im Versagen der Unabhängigkeit wieder, oder zumindest glaubten sie das. Vier der scharfsinnigsten Intellektuellen in Afrika, die Historiker Joseph Ki-Zerbo, Christophe Wondji, A. Adu Boahen und der Politologe Ali Mazrui untersuchten die postkolonialen politischen Optionen in Afrika und äußerten sich über die marxistische Option der portugiesischsprachigen afrikanischen Länder folgendermaßen: "Ein geschichtliches Rätsel bleibt bestehen, was die Beziehung zwischen der eigentlichen Natur der Kolonialpolitik einerseits und den postkolonialen ideologischen Folgen andererseits, betrifft. Es hat sich praktisch kein Land auf dem afrikanischen Kontinent, das ehedem vorn Vereinten Königreich regiert wurde, zu einern marxistisch-leninistischen Staat erklärt. Andererseits hat sich praktisch jedes Land, das vorher von Portugal regiert wurde, mit dem Marxismus-Leninismus zumindest versuchsweise abgegeben oder ihn tatsächlich als offizielle Ideologie angenommen. In welchem Maße war die Kolonialpolitik der drei Kolonialmächte für die ideologischen Unterschiede zwischen den früheren Kolonien in der postkolonialen Zeit verantwortlich? War zum Beispiel die stärkere Unterdrückung durch die Kolonialherrschaft Portugals verantwortlich für die stärkere ideologische Radikalisierung? Auf einige Rätsel in der Geschichte dessen, was Afrika erfahren hat, gibt es keine einfachen Antworten, aber der Vergleich der Art und Weise der Unterdrückung könnte ein Teil des Hintergrundes sein".15
C. Die Versachlichung "Afrikas"
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Es wäre keine einfache Antwort, die These zu vertreten, daß nicht die Unterdrückung die unabhängige Variable war, sondern die Gesamtheit der afrikanischen Geschichte, d. h. die Geschichte des Begriffs Afrika entscheidend für die ideologische Radikalisierung des Kampfes gegen den Kolonialismus war. Die radikalisierten Afrikaner waren sich dessen bewußt, daß die gemischten Formen des afrikanischen Sozialismus nicht zum gewünschten Fortschritt in Afrika geführt hatten. Ihnen war es klar, daß der Kolonialismus präziser definiert werden sollte, und im Marxismus fanden sie das theoretische Instrumentarium dafür. Übrigens waren es nicht nur die portugisieschsprachigen Kolonien, die sich dem Marxismus zuwendeten, sondern alle Afrikaner, die länger für ihre Unabhängigkeit gekämpft hatten, z. B. Simbabwe, Namibia und Südafrika, also britische Kolonien oder Protektorate, die die Fehler der anderen Afrikaner nicht begehen wollten. Interessanterweise waren die rätselnden Historiker nicht weit entfernt von dieser Antwort. Sie schrieben: " ... die ideologischen Unterschiede zwischen englisch-, portugiesisch- und französisch-sprachigen Ländern in der nachkolonialen Zeit könnten sich als von kurzer Dauer erweisen. Die Werte und Vorstellungen, die mit der Kolonialherrschaft Einzug halten, könnten sich als weitaus vorübergehender erweisen als die zugrundeliegende kulturelle Kontinuität des ursprünglichen Afrikas.,,16. Man sollte diese "grundlegenden kulturellen Kontinuitäten" nicht in einem engeren Sinne verstehen, d. h. als Ausdruck einer afrikanischen Essenz, sondern im weiteren Sinne als die Historisierung, d. h. die gesellschaftliche Konstruktion des Begriffs Afrika. Dieses Verweilen bei dem politischen Diskurs sollte die Richtung deutlich machen, die diesem Teil zugrundeliegt. Die Kritik des Postulats einer afrikanischen Essenz war nicht darauf ausgerichtet, diese Essenz zu widerlegen, sondern den Begriff Afrika rationaler, also wissenschaftlicher zu untersuchen. Diese Hypothese wird uns naheliegen, wenn ich die verschiedenen Diskurse untersuche, die sich mit der postkolonialen Geschichte Afrikas auseinandersetzten. Wie bereits erwähnt, werde ich zunächst einmal den politischen Diskurs genauer erfassen und der Frage nachgehen, inwieweit die marxistische Option, vor allem in den portugiesischsprachigen Ländern, Teil der Auseinandersetzung mit dem Begriff Afrika war. Danach wird mich der philosophische Diskurs beschäftigen, und zwar die Kritik der sogenannten professional philosophers, also jener afrikanischen Philosophen, die sich ausdrücklich nicht als afrikanische Philosophen bezeichneten, sondern als Philosophie ausübende Menschen in Afrika, deren Interesse darin lag, Afrika mit rationalen Methoden zu erfassen. Schließlich setze ich mich mit dem kulturellen Diskurs auseinander, d. h. mit den Versuchen einiger jüngerer afrikanischer Philosophen, einen Begriff der afrikanischen Kultur von der Auseinandersetzung mit der postkolonialen Wirklichkeit abzuleiten.
15
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Ki-Zerbol MazruilWondjil Boahen (1993), S. 496 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 496.
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1. Die Radikalisierung des politischen Diskurses in Afrika
Frantz Fanon, ein Intellektueller aus der französischen Karibik, der sich für die Dekolonisierung Afrikas engagierte und in den sechziger Jahren viele Jahre bei den algerischen Befreiungskämpfern verbrachte, hat einmal gesagt, das größte Problem Afrikas sei das Fehlen einer Ideologie. Damit meinte Fanon eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Lage Afrikas innerhalb der Welt. In seinen sehr berühmten Schriften versuchte Fanon auf seine Weise, den Afrikanern eine Ideologie zu liefern, die ihre Lage nicht nur in bezug auf den Rassismus thematisierte, sondern und vor allem von einem marxistischen Standpunkt aus die Bedingungen untersuchte, die zum Kolonialismus geführt hätten. In gewisser Hinsicht war eine Theorie wie Negritude vom Marxismus geprägt, obgleich Fanon einer der ersten war, der die vollen Konsequenzen daraus zog und sich weigerte, die Diskussion um den Begriff Afrika ohne Berücksichtigung der globalen kapitalistischen Gegebenheiten zu führen. In seinem zu Recht berühmt gewordenen Les Damnes de la Terre 17 stellte er die Lage Afrikas in marxistischen Zügen dar als die Umwandlung der Afrikaner von Wesen, denen man es absprach, überhaupt Menschen zu sein, zu einer ausgebeuteten Klasse innerhalb des kapitalistischen Systems, das dem Kolonialismus zugrundelag. Er stellte drei Phasen der Entwicklung der kolonisierten Völkern fest, nämlich eine erste Phase der Assimilierung, in der sich der Kolonisierte die Sprache und die Weltanschauung der herrschenden Kultur aneignet; eine zweite Phase der Erinnerung, in der sich der Kolonisierte dessen bewußt wird, wie viel er von seiner eigenen Kultur verloren hat, und sich die Aufgabe stellt, sich zu erinnern; und die dritte Phase des Kampfes, der Revolution und der nationalen Kultur, in der der Kolonisierte das Volk dazu bringt, seine Rechte zu beanspruchen l8 . Christopher Miller, ein amerikanischer Literaturwissenschaftler, hat dazu die Meinung geäußert, bei den drei Phasen handle es sich um Fanons Sicht der Entwicklung des afrikanischen Nationalismus, wobei die erste Phase etwa mit dem anfänglichen Enthusiasmus der Afrikaner gegenüber der europäischen Kultur korrespondieren würde, während die zweite Phase die der Negritude sei. Die letzte Phase entspreche dem algerischen Befreiungskampf gegen die Franzosen.1 9 Das interessante an Fanons Einteilung der afrikanischen Geschichte besteht darin, daß er Entwicklungen voraussah, der sich spätere afrikanische Nationalisten bedienten, um den Prozeß der Dekolonisierung weiter voranzutreiben. Unter den Einfluß von Frantz Fanon gerieten insbesondere diejenigen Afrikaner, die länger für ihre Freiheit kämpfen mußten als andere. Es waren hauptsächlich die Afrikaner in portugiesischen Kolonien, aber auch Afrikaner in Ländern unter der Herrschaft weißer Minderheitsregierungen wie Namibia, Simbabwe und Südafrika. 17
Fanon (1978).
18
Ebd., S. 153-56.
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Miller (1990), S. 47.
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Gemeinsam verfügten sie über die Möglichkeit, den Prozeß der Dekolonisierung, wie er sich im übrigen Afrika entwickelte, aus der Feme zu beobachten und eine Lehre daraus zu ziehen. Die portugiesischen Kolonien gingen nach der Unabhängigkeit zum Marxismus-Leninismus als Staatsideologie über. Die anderen Länder, d. h. Namibia, Simbabwe und Südafrika, verhielten sich etwas anders. Obwohl sich alle nationalistischen Bewegungen in diesen Ländern für den Marxismus entschieden hatten und während ihres Freiheitskampfes ihre Lage anhand marxistischer Ansätze thematisierten, konnten sie nach Erreichen der Unabhängigkeit die Früchte ihres Strebens und Kämpfens nicht ernten und marxistische Staaten etablieren. Und das aus einem einfachen Grund. Sie erlangten ihre Unabhängigkeit oder die Anerkennung ihrer Rechte unter starker Beteiligung der internationalen Diplomatie, die dafür sorgte, daß pluralistische Systeme in diesen Ländern entstanden. Um die Radikalisierung des politischen Diskurses in Afrika richtig zu deuten, möchte ich mich des Schemas bedienen, das mir im vorigen Teil bereits behilflich war, nämlich die Äußerungen der Beteiligten in Hinblick auf das Postulat einer afrikanischen Schicksals- und Wertegemeinschaft zu betrachten und darüber hinaus die Frage zu stellen, in welcher Hinsicht sie eine Systematisierung der ursprünglichen Idee von Afrika waren. Man stelle sich also Afrika als Grundbegriff vor, dessen Kategorien darin zu finden sind, daß es eine Schicksals- und Werte gemein schaft ist. Diese Kategorien wiederum weisen Indikatoren auf, die im Einzelnen aufgelistet werden können. Afrika wurde in diesem radikalisierten Diskurs als eine Schicksalsgemeinschaft definiert, die daraus bestand, daß sie dem kapitalistischen System zum Opfer fiel, einem System, das dem Imperialismus zugrundelag, der ja in den Kolonialismus mündete. Auf der anderen Seite ließ sich Afrika als Wertegemeinschaft dadurch ausmachen, daß die Afrikaner als Unterdrückte die Möglichkeit besaßen, die Geschichte voranzutreiben. Mit anderen Worten: So wie Karl Marx die Arbeiterklasse als Motor der Geschichte definiert hatte, wurden auch die Afrikaner als diejenigen gesehen, die das kapitalistische System durch ihren Befreiungskampf überwinden würden. Voraussetzung für all dies war natürlich eine Analyse, die die theoretische Superiorität des Marxismus in Anspruch nahm.
2. Aml7car Cabral und der Befreiungskampf als kulturelle Tat
In dieser Darstellung wird AIlli1car Cabral als Beispiel herausgenommen. Cabral . stammte aus Guinea Bissau, einer ehemaligen portugiesischen Kolonie in Westafrika. Er gründete und führte die Befreiungsbewegung PAIGC 2o , die von 1962 bis 1973 Krieg gegen die portugiesische Herrschaft führte. 1973 fiel er einem Attentat 20 Partido Africano para a Independencia da Guine e de Cabo Verde. (Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Vert - Anm. d. Verf.).
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Teil II: Die gesellschaftliche Konstruktion Afrikas
zum Opfer. Von den afrikanischen Nationalisten, die seine ideologische Orientierung teilten, insbesondere denen aus den anderen portugiesischen Kolonien, war Cabral der intelligenteste und vielseitigste Theoretiker. Obwohl er nur sehr wenige Bücher schrieb, hinterließ er ein theoretisches Korpus in der Form von Vorträgen und Interviews, die zusammen seine Idee widerspiegeln. Im Laufe der Ausführungen werden auch andere Nationalisten einbezogen werden, um die Breite der Grundgedanken zum Ausdruck zu bringen. Im Jahre 1972 nahm Cabral an einer Konferenz in Guinea Konakry, einer ehemaligen französischen Kolonie in Westafrika, teil, die veranstaltet wurde, um K warne Nkrumah, der kurz zuvor im rumänischen Exil gestorben war, zu gedenken. Nkrumah war ein afrikanischer Nationalist der alten Schule, dessen Überlegungen im Laufe der Jahre immer marxistischer wurden, vor allem nachdem er einen Militärputsch hatte erleben müssen. Aus diesem Anlaß äußerte sich Cabral folgendermaßen: "In welchem Maße war der Erfolg des Verrats in Ghana mit den Problemen des Klassenkampfes verbunden oder nicht, mit welchen Widerspriichen in der sozialen Struktur, mit der Rolle der Partei und anderer Institutionen, das Militär eingeschlossen - und das alles im Kontext eines gerade unabhängig gewordenen Staates? Wir müssen uns die Frage stellen, in welchem Maße der Erfolg des Verrats in Ghana eine Verbindung hatte zu der Suche nach einer genauen Definition derjenigen Akteure in der Geschichte, die Geschichte machen - dem Volk - und dazu was diese fortwährend tun um das, was sie während der Unabhängigkeit errungen haben, zu verteidigen?,,21 Viele Themen sind in diesem Zitat inbegriffen. Zunächst einmal stellt Cabral die Frage, wie die Lage in Ghana, und das betrifft Afrika allgemein, einzuschätzen sei, ob eine Interpretation zulässig sei, die darauf besteht, die Gegebenheiten anhand einer Klassenkampfanalyse zu beleuchten. Cabral richtet seine Frage an die Afrikaner, die sich unter Dekolonisierung schlicht die Übernahme der Macht von den Europäern vorgestellt hatten, und fragt sich, ob die Analyse nicht tiefer gehen sollte. Auf der anderen Seite und vor allem mit der Frage nach der "richtigen Definition des Volkes" problematisiert er die Annahme, wonach es den Afrikanern durch die Glorifizierung der afrikanischen Traditionen gelingen könnte, die Unabhängigkeit erfolgreich zu gestalten. Natürlich hatte Cabral die Antworten auf diese Fragen, und er leitete sie von der eigenen Erfahrung eines hinausgezogenen Befreiungskampfes gegen die Kolonialmacht ab. Bezeichnenderweise sagte er in der gleichen Rede zur Ehre von Nkrumah: " ... diese Probleme werden uns ohne Zweifel zu der Schlußfolgerung führen, daß, solange es Imperialismus gibt, ein unabhängiger Staat in Afrika eine Befreiungsbewegung an der Macht haben muß, denn anders ist es nicht möglich ,