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German Pages 330 Year 2016
Stephanie Wodianka, Juliane Ebert (Hg.) Inflation der Mythen?
Edition Kulturwissenschaft | Band 72
Stephanie Wodianka, Juliane Ebert (Hg.)
Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens (unter Mitarbeit von Jakob Peter)
Die Entstehung dieses Bandes wurde gefördert durch das Department »Wissen – Kultur – Transformation« der Interdisziplinären Fakultät der Universität Rostock.
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Inhalt
Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens
Stephanie Wodianka und Juliane Ebert | 7 Mythenbildung und Kanonisierung: Walter Paters Mona Lisa als Mythos der Moderne – transkulturell, intertextuell und intermedial
Gabriele Rippl | 27 Fortschritt – ein zentraler Mythos der Moderne. Zur Genese, Veränderung und eigentümlichen Stabilität einer modernen Semantik
Jan Weyand und Sebastian M. Büttner | 55 Starmythen – mythische Stars. Stars als ‚Trickster‘ im 20. und 21. Jahrhundert am Beispiel von Michael Jackson, Marlene Dietrich, Marilyn Monroe und Madonna
Jan-Oliver Decker | 79 Vernetzte und kanonisierte politische Mythen in der modernen Demokratie
Yves Bizeul | 109 Vom Surrealismus bis zu Roland Barthes: Transformationen moderner Mythen
Wolfgang Asholt | 141 Beflügelte Fantasie. Asterix, die unbeugsamen Gallier und der Widerstandsmythos
Fernand Hörner | 163 Pathostransfer: Wagners Beitrag zum Faust-Mythos
Stefan Matuschek | 195
Napoleon in den Alpen: Der moderne Halbgott tritt in Erscheinung
Patrick Stoffel | 219 Zur Persistenz des Mythos. Europa im Bildinventar der europäischen Staatengemeinschaft
Roland Alexander Ißler | 239 Nach Kolumbus: Das Figurenarsenal amerikanischer Gründungsmythen im Kontext von Kanondebatten und ‚Culture Wars‘
Heike Paul | 269 Der Spanische Bürgerkrieg – Vernetzung und Haltbarkeit moderner Mythen am Beispiel eines Mythenkomplexes
Claudia Jünke | 303 Autorinnen und Autoren | 323
Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens S TEPHANIE W ODIANKA /J ULIANE E BERT
Seitdem Roland Barthes im Jahr 1957 die ‚Mythen des Alltags‘ entdeckt hat – allerdings ausschließlich im Denken der Bourgeois –, steht die Rede von modernen Mythen unter dem Generalverdacht der Inflation:1 „[D]a der Mythos eine Aussage ist, kann alles, wovon ein Diskurs Rechenschaft ablegen kann, Mythos werden. Der Mythos wird nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert, sondern durch die Art und Weise, wie er diese ausspricht. Es gibt formale Grenzen des Mythos, aber keine inhaltlichen.“2
‚Mythos‘ ist nicht als ein ‚Etwas‘, sondern als eine Qualität zu verstehen: als ein Deutungs- und Rezeptionsmodus, der sich an verschiedene Narrationsformen und Erzählgegenstände anheften kann – in der Antike, aber eben
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„In der heutigen Umgangssprache ist der Ausdruck ‚Mythos‘ inflationär geworden [...]“, (Jamme, „Gott an hat ein Gewand“ (1991), S. 23); eine „mythostheoretische Gegenperspektive“ zum Mythischen in der Moderne bei Gottwald, Wiederkehr von Mythen in der Moderne? (2013).
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Barthes, Mythen des Alltags (2000), S. 85.
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auch in der Moderne.3 Das Mythische ist ein subjektiver Wahrnehmungsmodus von kollektiver Bedeutung, der markiert ist durch scheinbare Evidenz, durch Überführung von Geschichte in ‚Natur‘, durch scheinbare Erzählerlosigkeit und ein hohes Identifikationspotential. Er kann als ‚Brille zur Weltdeutung‘ verstanden werden, die Normen und Werte vermittelt. Aus dieser an Barthes orientierten Mythosdefinition als Wahrnehmungsmodus könnte sich die vermeintliche Nivellierung der Grenzen dessen, was ein ‚moderner Mythos‘ ist, ableiten lassen: Inflation der Mythen? Wenn alles Mythos ist oder sein kann, welche Bedeutung hat dann noch die Bezeichnung eines Phänomens als Mythos? Kann man moderne Mythen überhaupt über den Einzelfall hinaus und jenseits diskursfunktionaler Kategorien4 untersuchen und beschreiben, oder entziehen sie sich jeglichem systematischen Zugriff, weil ihr systematischer Ort nicht auszumachen ist? Unsere These ist: Alles kann zum Mythos werden, aber es wird eben nicht alles zum Mythos. In diesem Sinne ist verfolgt dieser Band das Interesse, zu untersuchen, inwiefern die häufig postulierte Inflation und Diffusion des Mythischen durch Prozesse der Selektion, der Stabilisierung oder gar der Kanonisierung in der Moderne begrenzt und reduziert werden: Antike Mythen erscheinen möglicherweise nur deshalb als profilierbarer und besser fassbarer Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung und von ‚anderer‘ mythischer Qualität, weil sie in der Kulturgeschichte bereits Kanonisierungsverfahren durchlaufen haben, die manchen (aber vermutlich nicht allen) nachantiken und v.a. modernen Mythen noch bevorstehen, weil sie anders funktionieren oder weil sie zu rezent sind, um sie ohne systematische Untersuchung zu erkennen. Inwiefern, so lautet vor diesem Hintergrund die Grundfrage der Beiträge, ist die von Roland Barthes konstatierte
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Zum Verhältnis von Mythos und Moderne vgl. Karl-Heinz Bohrer, Mythos und Moderne (1983); Vietta/Uerlings, Moderne und Mythos (2006); und Krämer, Mythos und Ankunft (2014).
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Drei Forschungsfelder zum Mythos haben sich in den letzten Jahrzenten als besonders produktiv erwiesen: Untersuchungen zu kollektivem Gedächtnis und Erinnerungskulturen, die vor allem Dynamik und Transformation mythischer Erzählungen in den Fokus stellen, Medien- und kulturwissenschaftliche Zugriffe, die die Medialität des Mythischen hervorheben sowie diskursspezifische Untersuchungen, unter denen die politische Funktionalisierung und Funktionalisierbarkeit von Mythen besondere Beachtung findet.
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‚Allgegenwart‘ moderner Mythen strukturiert, und inwiefern lassen sich Formen der Selektion und Reduktion beschreiben, die der ‚Inflation‘ neuer Mythen entgegenwirken? Wie verhält sich die scheinbare Inflation und Diffusion des Mythischen zu dessen ‚Kristallisationen‘ bis hin zur Dauerhaftigkeit? Die Suche nach Formen der Strukturierung, Vernetzung und Permanenz moderner Mythen soll diese als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung greifbarer machen und ihre oftmals festgestellte und beklagte Diffusion als Phänomen wie als Forschungsgegenstand konstruktiv in Frage stellen. Das von uns herausgegebene Metzler Lexikon moderner Mythen (2014) verfolgte das Ziel, exemplarisch Mythen der Moderne in ihren konkreten Erscheinungsweisen sichtbarer werden zu lassen – Mythen, die in der Moderne bzw. in einer der Modernen (v.a. Frühe Neuzeit, Aufklärung, Industrialisierung, 20. Jahrhundert) besondere kulturelle Relevanz erlangt haben. Auch im vorliegenden Band sollen in diesem Sinne mythische Personen und Figuren (Marilyn Monroe, Napoleon, Asterix), Dinge (Leonardos Gemälde Mona Lisa), Ereignisse (Spanischer Bürgerkrieg, Entdeckung Amerikas), Orte (Alpen), Institutionen (Europa und die Europäische Union) sowie Konzepte (Fortschritt, Surrealismus, Demokratie) in den Blick kommen.
Der vorliegende Band ist von einem auf dem Metzler Lexikon moderner Mythen aufbauenden Interesse geleitet: von dem Versuch einer systematisch-binnenstrukturellen Beschreibung moderner Mythen. Dabei soll der Fokus erstens auf deren Vernetzung und möglichen Strukturierung liegen, und zweitens, damit zusammenhängend, auf dem Verhältnis zwischen Inflation des Mythischen einerseits und dessen selektiver Persistenz – bis hin zur Kanonisierung? – andererseits. Der vorliegende Band will Perspektiven kulturwissenschaftlicher Mythosforschung aufzeigen und Roland Barthes’ mythentheoretische Überlegungen werden sich dabei als wichtiger Ausgangspunkt, aber nicht als Endpunkt der Überlegungen erweisen. Für Barthes war der Mythos falsches, bürgerliches Bewusstsein, und er war so sehr selbst „consommateur de mythe“, dass er nicht sehen konnte, dass sich das Mythische in der Moderne nicht auf ein politisches oder ideologisches Lager beschränken lässt, und dass es nicht diffus als bürgerlichimperialistische Bedrohung ‚richtigen‘ Bewusstseins unübersichtlich aus den Poren der Moderne emergiert. Der vorliegende Band lenkt seinen Blick genau dorthin, wo die blinden Flecken der ‚Mythen des Alltags‘ auszumachen sind: dorthin, wo das Mythische nicht inflationär, sondern auf spe-
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zifische Weise organisiert und restriktiv strukturiert erscheint. Barthes exemplifiziert seine Thesen an verschiedenen Phänomenen des Alltags und führt mit ihnen den ideologiekritischen Nachweis der fausseté bürgerlichen Denkens. Auch wenn der Wert seiner Überlegungen, das Mythische als Wahrnehmungsmodus profiliert zu haben, kaum zu überschätzen ist, so finden sie dennoch Grenzen, die es zu überschreiten gilt: Seine Sicht auf die Dinge ist weder diachron noch synchron differenziert, seine Mythen des Alltags folgen zwar einem (semiologischen) Schema, aber sie kommen kaum als System in den Blick. Barthes’ Verdienst ist es, die Aufmerksamkeit auf die grundsätzliche Medialität des Mythos als Zeichen zweiter Ordnung bzw. als sekundäres semiologisches System gelenkt zu haben.5 Er beschreibt den Mythos als Aussage-Form, die – wie jede Aussage – primäre Zeichensysteme wie die Sprache, Bilder oder Rituale benutzt, um als sekundäres Zeichensystem transportiert zu werden. Der Mythos deformiere dabei den Sinn eines Zeichens des primären Zeichensystems, indem er es parasitär als Form benutze, um dem „Verbraucher des Mythos“ eine bestimmte Bedeutung nahe zu bringen. Darüber hinaus beschreibt Barthes ein Phänomen, das man als „Evidenz“ des Mythos bezeichnen könnte und das die grundsätzliche Ähnlichkeit des Funktionierens ‚alter‘ Mythen (griechisch-römische Mythologie, z.B. Venus) und ‚neuer‘ Mythen (z.B. ‚Mythen des Alltags‘ wie Michael Jackson) vor Augen führt. Nicht ihre tatsächliche Verortung im zeitlichen Fernhorizont im Sinne eines objektiv messbaren Abstandes, sondern das sich ihnen gegenüber manifestierende subjektive Zeitbewusstsein ist für die Qualität des Mythischen entscheidend. Der Mythos erscheine dem Rezipienten nicht als geschichtlich bedingt, sondern entfalte eine so genannte „naturalisierende Wirkung“. Der Mythos, so Barthes, „transforme l’histoire en nature“ – er lässt Geschichte als Natur, als schon immer und für immer so gewesene Tatsache erscheinen. Dadurch werde der Mythos sozusagen entzeitlicht: „[…] le temps ni le savoir ne lui ajouteront rien, ne lui enlèveront rien […]“.6 Allerdings gilt diese Wirkung des Mythos nur für den, der an ihm teilhat: Die „naturalisierende“ Zeitstruktur des Mythos existiert nur
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Barthes, Mythologies (1957), S. 228ff.
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Ebd., S. 237f.
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als subjektive Wahrnehmung, der Mythos ist ein Wahrnehmungsphänomen,7 das den Eindruck von Evidenz erzeugt: „Indem er von der Geschichte zur Natur übergeht, bewerkstelligt der Mythos eine Einsparung. Er schafft die Komplexität der menschlichen Handlungen ab und leiht ihnen die Einfachheit der Essenzen, er unterdrückt jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare hinaus, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in der Evidenz ausgebreitete Welt, er begründet eine glückliche Klarheit. Die Dinge machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein.“8
Indem Mythen zeitlich-menschliche Geschichte in überzeitlich-gegebene „Natur“ überführen, reduzieren sie Komplexität: Sie setzen sinnlichkonkrete Wahrnehmungen an die Stelle von Abstraktionen, sie bedeuten scheinbar unmittelbar und heben Gegensätze auf. Auf ihrer unmittelbaren Wirksamkeit ohne dialektische Tiefe basiert auch ihr hohes Identifikationspotential – Gegensätze werden nicht expliziert, sondern in „glücklicher Klarheit“ unterdrückt9 – dem Verbraucher des Mythos erscheint die Semantik des sinnlichen Eindruckes eindeutig, konkurrierende Bedeutungen sind aus seiner subjektiven Wahrnehmung ausgeblendet. Umberto Eco formulierte im Jahr 1964 ganz in diesem Sinne: „Mythisierung [bedeutet] unbewusste Symbolisierung, [...] Identifikation des Objektes mit einer Gesamtheit von nicht immer bewussten Zielen“.10 Der Mythos als Zeichen ist demnach charakterisiert durch seine scheinbare Evidenz mit ambivalenter Tiefenstruktur. Seine „naturalisierende Wirkung“ verweist darauf, dass der Mythos als kollektivitätskonstitutive kulturelle Praxis letztlich immer auf individuell-subjektive Wahrnehmungsprozesse rekurriert: Erst die individuelle semantische Aufladung ermöglicht die scheinbare Evidenz-Erfahrung.11
7
Ebd., S. 265f.
8
Barthes, Mythen des Alltags (2000), S. 131f.
9
Vgl. auch Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik (1995), S. 67, der in der Schaffung der Optik einer einheitlichen Realitätserfahrung eine der wesentlichen Kommunikationsfunktionen von Mythen sieht.
10 Eco, Nachschrift zum Namen der Rose (1984), S. 187. 11 Vgl. die Formulierung Cassirers: „Jeder noch so alltägliche Daseinsinhalt kann den auszeichnenden Charakter der Heiligkeit gewinnen, sobald er nur in die
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Eine stärker systemische Betrachtungsweise lieferte im Folgejahr 1958 der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, und auch diese lässt sich als Ausgangspunkt für die Überlegungen zum Verhältnis von Inflation und Persistenz des Mythischen nutzen. Lévi-Strauss definiert die bleibende, allen Mythen zugrunde liegende Struktur bekanntlich in Anlehnung an das de saussuresche Sprachmodell als ein System, das aus sogenannten Mythemen als konstituierenden Einheiten besteht, die durch Oppositionsstrukturen und durch ihr Verhältnis untereinander Bedeutung generieren. Unter Mythemen versteht er Beziehungsbündel, die durchaus auch in sich widersprüchliche semantische Einheiten umfassen – der Begriff „Mythem“ ist daher nicht mit einem Plot-Element zu verwechseln, dessen Struktur eindimensional gedacht ist, und nicht wie das Mythem zweidimensional. Das Mytheminventar ist insofern diachronisch ‚offen‘, als es die Gesamtheit aller Fassungen des Mythos bzw. deren Mytheme umfasst. Die Mytheme werden bei jeder Mythosaktualisierung neu aus dem Mytheminventar selektiert und kombiniert, so dass sich eine mythische modifizierte Rekonfiguration ergibt, die – vergleichbar mit einer Orchesterpartitur, die ebenfalls auf vertikalen und horizontalen Beziehungen beruht – zugleich diachron und synchron dimensioniert ist: „Wir behaupten nunmehr, daß die wirklichen konstitutiven Einheiten des Mythos keine isolierten Beziehungen sind, sondern Beziehungsbündel, und daß jene nur in Form von Kombinationen solcher Bündel eine Bedeutungsfunktion erlangen. Beziehungen, die zum selben Bündel gehören, können in weiten Zwischenräumen erscheinen, wenn man sich auf einen diachronischen Standpunkt stellt; wenn wir sie aber in ihre ‚natürliche‘ Gruppierung eingliedern können, gelingt es uns, den Mythos aufgrund eines zeitlichen Bezugssystems anderer Art zu organisieren [...]. Dieses System hat somit zwei Dimensionen: eine diachronische und eine synchronische, und es vereinigt so die charakteristischen Eigenschaften der ‚Sprache‘ und des ‚Gesprochenen‘.“12
spezifische mythisch-religiöse Blickrichtung fällt – sobald er, statt in den gewohnten Umkreis des Geschehens und Wirkens eingespannt zu bleiben, das mythische ‚Interesse‘ von irgendeiner Seite her ergreift und es in besonderer Stärke erregt.“ (Cassirer, Der Mythos als Anschauungsform (2002), S. 89). 12 Lévi-Strauss, Die Struktur der Mythen (1991), S. 232.
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Der im Unterschied zu Roland Barthes von Claude Lévi-Strauss etablierte systemische Blick bezieht sich also auf die zugleich synchrone und diachrone Dimension eines Mythos in der Gesamtheit seiner narrativen Varianten, nicht auf das systemische Verhältnis verschiedener Mythen zueinander. Dennoch impliziert sein ‚orchestrales‘ Mythoskonzept mit seiner potentiellen Unbegrenztheit (offenes Inventar) eine spezifische Theorie der mythischen Persistenz: Diese wird nicht als Bewahrung von ‚Etwas‘ gedacht, sondern als performativer Prozess, der Bekanntes und Neues, Dynamik und Stabilität in ein bestimmtes Verhältnis setzt. Darin liegt das Potential seiner Mythostheorie: Sie rückt die Dynamik und Variabilität mythischer Erzählungen und zugleich die dadurch bewirkte Stabilität des Mythos in den Blick. Hans Blumenberg richtet bei seinen mythentheoretischen Überlegungen der 1970er Jahre den Fokus auch auf den Ursprung der mythischen Erzählung – und ob von diesem überhaupt zutreffend zu sprechen ist. Für uns sind diese Überlegungen von Interesse, weil die Orientierung am Ursprung des Mythos ein Streben zum Original hin, ein Stabilitätsfaktor des Mythischen sein könnte. In seiner Schrift „Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos“ behandelt Blumenberg die Frage nach den binnenstrukturellen Hie-
rarchieverhältnissen eines Mythos und seiner diachronen wie synchronen Varianten. Doch er macht die Ursprungslosigkeit des Mythischen plausibel: „[...] Mythen haben keinen Vorrang vor den Resultaten ihrer Wirkung, weil und sofern es keine besondere Dignität ihres Ursprunges [...] gibt. Produktion und Rezeption sind äquivalent [...]. Das Ursprüngliche bleibt Hypothese, deren einzige Verifikationsbasis die Rezeption ist“.13
Es gibt also keine „Originalversion“ eines Mythos, die der „Arbeit am Mythos“14 vor- oder übergeordnet wäre. Der Mythos lebt nicht nur in der Rezeption weiter, sondern er lebt von der widerstreitenden Rekonstruktion seines hypothetischen Ursprungs und ist ausschließlich als Rezeptionsphänomen zu konzeptualisieren. Daran anschließend lässt sich mit Ludwig Jä-
13 Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos (1971), S. 28. 14 Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos (1979).
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gers Transkriptionstheorie15 argumentieren, dass es bei Mythen ein durch ‚Ursprünglichkeit‘ mit besonderer Dignität ausgestattetes Original nicht geben kann: Jede Fortschreibung modifiziert das Vorangegangene mit. Stabilität des Mythos ergibt sich allenfalls durch das vitalisierende Streben aller „Arbeiten am Mythos“, als optimale Repräsentation des hypothetischen Ursprunges zu gelten, der sich im Sinne von Jacques Derridas dissémination stetig entzieht. Diese Befunde erklären den gefühlten Inflationscharakter des Mythischen in der Moderne: Nicht nur, dass nach Roland Barthes alles „zum Mythos werden“ kann, sondern der Mythos scheint sich durch seine von Blumenberg und Jäger zutreffend konstatierte Ursprungs-Hierarchieresistenz auch aller restriktiven Vorstellung von Persistenz und Kanonisierung zu widersetzen. Kann man dennoch von einer „neuen Mythologie“ im Sinne eines – den antiken Mythen entsprechenden – „mythischen Systems“ sprechen, das nicht nur durch Inflation und Fluktuationen, sondern auch durch Stabilität und Dauerhaftigkeit geprägt ist?
A UF DEN S PUREN ‚ STABILER ‘ M YTHEN : B ELIEF SYSTEM , INTERNE UND EXTERNE F AKTOREN Inwiefern können moderne Mythen ‚stabil‘ sein? Zunächst ist hier an die von Claude Lévi-Strauss vorgebrachte Idee ihrer Systemhaftigkeit anzuschließen. Seine Vorstellung einer orchestralen, Synchronie und Diachronie verzahnenden Struktur wird dabei durch die Betrachtung einer anderen, gleichsam sozialen Struktur des Mythischen modifiziert: Mythos soll hier vorgestellt werden als ein ‚belief system‘, das subjektive und kollektive Überzeugungen (beliefs) miteinander verzahnt und dadurch Stabilität gewinnt. Nicolas Woltersdorff geht im Anschluss an Wittgenstein von der Existenz subjektiv-individueller belief systems aus, die jeweils in verschiedenen Dimensionen strukturiert sind, z.B. durch die unterschiedliche ‚Tiefe‘ individueller Überzeugungen: „Consider the totality of a person’s beliefs at a given time […]. Such a totality is not just a collection. It’s structured, organized: it’s a system. It’s structured in various
15 Vgl. Jäger, Transkription (2011) und Ders., Gedächtnis als Verfahren (2006).
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dimensions, one such dimension being this: A given person’s beliefs differ from each other with respect to the depth of ingression, of entrenchment, in the totality of that person’s beliefs.“16
Dem stehen kollektive Überzeugungen gegenüber, die durch kognitive Grundmuster des Menschen (z.B. personales Identitätsbewusstsein) oder durch Erfahrung (Sicherheitsgefühl durch Gemeinschaft) interpersonal gelten.17 Mythen sind – folgt man dieser Vorstellung – konzeptuell auf einer mittleren Ebene zwischen individuellen und interpersonalen Überzeugungen anzusiedeln: Sie verknüpfen individuelle und interpersonale beliefs zu einem belief system mittlerer Abstraktionsebene. Stabilität gewinnen Mythen – auch in der Moderne – demnach durch das Schaffen relativer Kohärenz zwischen individuellen und kollektiven Überzeugungen. Im Unterschied zur Ideologie stellt der Mythos als belief system dabei aber nur eine relative und partielle, keine absolute Kohärenz der Überzeugungen her – oder anders gesagt: Je stärker die ideologische Funktionalisierung eines Mythos ist, desto intensiver wird er zur Kohärenzschaffung im Set der kollektiven Überzeugungen genutzt.18 Ein weiterer Ansatzpunkt für die Fokussierung des Stabilitätspotentials des Mythischen in der Moderne ist neben dessen Betrachtung als belief system die Kanonforschung. Die Rede von einem Kanon antiker Mythen würde wenig überraschen – aber weist auch das Mythische der Moderne Kanonisierungsphänomene auf, woran wären solche überhaupt erkennbar? Bei der Suche nach einer zweckdienlichen Definition von Kanonisierung ist eine Orientierung an literarischen Kanones sinnvoll, hier zentriert sich auch die Forschung. Ein literarischer Kanon kodiert prägnante Formen von Wissen, bedeutet Orientierungshilfe, setzt ästhetische und ethische Wertmaßstäbe für Gesellschaft und ist ein explizit gemachter Teil von Bildungs- und Wissenskulturen; seine Funktionen sind die Begründung kollektiver Identität, die Legitimation der jeweiligen Trägergruppe und Handlungsorientierung. Literarische Kanones sind nicht zuletzt Ausdruck und Resultat der
16 Woltersdorff, Thomas Reid and the Story of Epistemology (2001), S. 235. 17 Ders., Practices of belief (2010), Bd. 2, S. 283f. 18 Zur Bedeutung von systemischen Überzeugungs-Sets auf individueller und kollektiver Ebene siehe Sandkühler, Wissen als wahre gerechtfertigte Überzeugung? (2008), S. 20f.
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Aushandlung von Deutungsmacht.19 Auffällig ist schon hier, dass sich die kulturellen Funktionen von Kanones und Mythen offensichtlich in vielen Punkten treffen: Beide werden verstanden als Weltdeutungsinstrument und Orientierungshilfe, Vermittler von Wertmaßstäben, bedeutend für die Konstruktion kollektiver Identität. Wenn Mythen Teil des kulturellen Gedächtnisses sind, sind kanonisierte Mythen bzw. ein Mythenkanon so verstanden kulturelles Gedächtnis in Potenz. Gabriele Rippl und Simone Winko beschreiben in der Einleitung zu ihrem Handbuch Kanon und Wertung (2013) Kanones als historisch und kulturell variable Ergebnisse komplexer Selektions- und Deutungsprozesse, als Arbeit des Wertens.20 Sie bezeichnen und beschreiben literarische Kanones als Resultate des Zusammenwirkens interner und externer Charakteristika der kanonisierten Phänomene.21 Die Perspektive der hier zusammengeführten Überlegungen ist in diesem Sinne darauf gerichtet, ob es auch bei modernen Mythen spezifische stabilisierende externe oder interne Faktoren gibt, die besondere kulturelle Relevanz und Haltbarkeit versprechen oder gar die Rede von Kanonisierung ermöglichen. Gabriele Rippl zeigt in ihrem Beitrag zum vorliegenden Band, wie Walter Paters Mona Lisa-Ekphrase deren Rezeption als transkulturelles, intermediales und mit zahlreichen weiteren Mythen vernetztes Phänomen begründete, indem er bestimmte interne Charakteristika des Gemäldes ekphrastisch profilierte. Paters Essay ist als kanonisierender Text zu begreifen, der die Mythisierung der Mona Lisa reflektiert und zugleich mit begründet hat. Er beschreibt interne Merkmale wie die Ambivalenz des rätselhaften Gesichtsausdruckes und das palimpsestartige Zusammenwirken ‚vergangener‘ und ,moderner‘ ästhetischer Prinzipien, die seiner mythentheoretischen Auffassung zufolge die Mona Lisa zum modernen Mythos prädestinieren. Auch Sebastian Büttner und Jan Weyand können anhand des Fortschrittsmythos zeigen, inwiefern interne Charakteristika die Wirkmächtigkeit und Omnipräsenz jener Erzählung begünstigen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Leitbild gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen wird. Ihre Stabilität gewinnt die mythische Fortschrittserzählung vor allen Dingen durch ihre Funktion als Weltdeutungs-
19 Vgl. von Heydebrand, Kanon – Macht – Kultur (1998), S. 617-25. 20 Vgl. Rippl/Winko, Handbuch Kanon und Wertung (2013). 21 Ebd., S. 2.
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muster und soziale Praxis einer permanenten (Selbst-)Optimierung, die ein wesentlicher Bestandteil verschiedener, sich gegenüberstehender Ideologien wie dem Faschismus, dem Kommunismus und dem Finanzkapitalismus sind. Auch Gegenentwürfe wie „Entschleunigung“, „Nachhaltigkeit“ und „Postwachstum“, die die Optimierungslogik ablehnen und vor Bedrohungen warnen, können sich der Semantik des Fortschritts nicht entziehen, denn auch sie zielen letztlich auf eine Verbesserung der Lebenswelt ab: Der Fortschrittsmythos stabilisiert sich somit von innen heraus selbst. Mithilfe des mediensemiotischen Konzeptes des Starimages, welches Jan-Oliver Decker mit dem Konzept des „Tricksters“ von Lévi-Strauss in Verbindung bringt, zeigt dieser, dass die Harmonisierung von kulturellen Widersprüchen einen wesentlichen Aspekt moderner Mythen darstellt und deren Persistenz in der Moderne garantiert. Das interne Charakteristikum der „Trickster“ ist es, in Opposition stehende zentrale Werte, Normen und Mentalitäten in ihrer Widersprüchlichkeit zu repräsentieren: Michael Jackson, der zwischen Mensch und Monster schwankt, Marlene Dietrich, die für erotische Erfüllung, aber auch Abweichung steht, Marylin Monroe, deren Idealbild der Frau und Status als Sexsymbol ihrem Unglück auf privater Ebene gegenübersteht, und Madonna, die sich in ihrer Musik immer wieder neu erfindet und in die unterschiedlichsten Rollen schlüpft. Dabei kommt es zu einer starken Vernetzung der drei letztgenannten weiblichen Starimages, in denen sich zum einen die Selbstverständlichkeit changierender Identitäten bestätigt und zum anderen das dennoch weiterhin bestehende Bedürfnis nach dem stabilen Rollenbild eines auf Erotik basierenden Weiblichkeitsentwurfes offenbart. Auf die Bedeutung nicht interner, sondern externer Faktoren für die Stabilität des Myhischen in der Moderne verweist der Beitrag von Yves Bizeul mit Blick auf die moderne Demokratie, die nur scheinbar ein ungünstiger Kontext für das Mythische ist und sogar selbst durch ein stark vernetztes, medial geprägtes Mythensystem stabilisiert wird. Die zentralen Mythen des Demos und des Sozialvertrages stehen in einer engen Wechselbeziehung zu nationalen Mythen und mythischen Narrationen des „nichtkontroversen Sektors“, zu denen beispielsweise die Menschenrechtserklärung als kanonisierter, kultureller Text zählt. Ebenso wichtig sind jedoch auch die Gegen- bzw. Konkurrenzmythen, die für eine Pluralisierung politischer Symbolik sorgen und somit integrativ und demokratiefördernd wirken. Insgesamt konstatiert Bizeul, dass Variabilität und Ambivalenz der
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modernen Mythen sowie der (mediale) Kampf der Inszenierungen machtregulierende Funktionen übernehmen: Demokratien ermöglichen die Pluralität politischer Mythen, und umgekehrt können politische Mythen die Demokratie stabilisieren. Weiterhin untersucht der Band exemplarisch, welches Konzept von Persistenz oder gar Kanonisierung für moderne Mythen überhaupt zutreffend sein könnte: Kann es bei modernen Mythen um prägnante Formen von Wissen gehen? Inwiefern ist bei literarischen Kanones von Handlungsorientierung und Legitimation von Trägergruppen zu sprechen? Welche Bedeutung haben für sie Akzeptanz, Absolutheit und Relativität, wie sie von Renate von Heydebrandt für literarische Kanones geltend gemacht werden?22 Bedeutet ‚Kanonisierung‘ bei modernen Mythen die Erfahrung und Prognose einer zeitlichen Dauerhaftigkeit?23 Antike Mythen erbringen retrospektiv den Beweis ihrer Kanonisierung, moderne Mythen sind deutlich stärker angewiesen auf ihren prognostischen Wert. Doch verläuft bei modernen Mythen die Behauptung kultureller Relevanz über die identitätsstabilisierende Langzeitkommunikation? Spielt eine zeitliche Tiefendimension (retrospektivisch oder prospektivisch) für die kulturelle Relevanz moderner Mythen überhaupt eine Rolle? Kann ihre Persistenz bis hin zur Kanonisierung – wenn es sie gibt – überhaupt getragen sein von der Idee der relativen Zeitlosigkeit und der tendenziellen Maßlosigkeit, wie Jan und Aleida Assmann in „Kanon und Zensur“24 postulieren? „Eine kanonisierte Tradition versteht sich niemals als Ausdruck einer Epoche, als Ausdruck einer spezifischen Zeit“, so Assmann/Assmann. Sie schreiben dem Kanon einen „kristallisierten, milieu- und situationstranszendenten Stil“ zu,25 ein Kanon sei immer unmäßig, überzeitlich gedacht. Verträgt sich das mit Konzepten des Mythischen einer Moderne, zu deren existentiellen Selbstbeschreibungen die Einsicht in ihre eigene Relativität gehört?
22 Vgl. von Heydebrandt, Kanon – Macht – Kultur (1998). 23 Vgl. Wodianka, Zeit, Literatur und Gedächtnis (2005). 24 Assmann/Assmann, Kanon und Zensur (1987), S. 16. 25 Ebd.
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M ETAMYTHOS
ALS
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S TABILITÄTSFAKTOR
Moderne Mythen gehen nicht in ihrer aktuellen Funktionalisierbarkeit auf: Gerade im Mythischen der Moderne werden funktionale Aktualisierbarkeit und tendenzielle Maßlosigkeit vereint, und die Kristallisationsform dieses Zusammentreffens ist die metamythische Selbstmarkierung. Das Mythische wird in der Moderne selbstreflexiv, ohne sich dadurch selbst zu zerstören. An diesem Punkt unterscheiden sich Roland Barthes und Hans Blumenberg in ihren Diagnosen zum Mythischen in der Moderne grundlegend – und es spricht einiges für das den Mythos stabilisierende Potential des Metamythischen.26 Stefan Matuschek zeigt in seinem Beitrag, dass der Mythos in der Moderne keines naiven Glaubens und Für-wahr-Haltens bedarf, um seine Wirkung zu entfalten. Er verträgt sich durchaus mit der expliziten Markierung seines mythischen Charakters. Matuschek untersucht am Beispiel von Goethes Faust und Wagners Sigfried, wie sich die metamythische Stabilisierung wechselseitig zwischen Mythen vollziehen kann und die Zeitverhältnisse des Mythischen neu bestimmt. Wagners mythostheoretische Positionen, mit denen er seinen Siegfried erklärt, übertragen sich in der kulturellen Herausforderungslage der Zeit auf die Erwartungen gegenüber der Faust-Figur. Wer den Mythos vom faustischen Deutschen schuf, ist somit nicht mehr sicher: Wagners metamythisch polierter Siegfried hat entscheidenden Anteil an der goetheschen Mythopoiesis. Im Zeichen der Frage nach den Funktionen des Metamythischen legt auch Wolfgang Asholt die binnenstrukturellen Verflechtungen moderner Mythen dar, indem er die konkurrierenden mythentheoretischen Positionen der Surrealisten und der Existentialisten in Bezug zu den strukturalistisch geprägten barthesschen Mythologies setzt. Die von Asholt aufgezeigten Binnenstrukturen und gegenseitigen Bezugnahmen tragen zur Stabilisierung der Vorstellung einer modernen Mythologie bei, auch wenn das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als „modern“ gilt, sehr stark variieren kann und auch immer wieder in Frage gestellt wird. Das reflexive Mythosverständnis des als Klassiker kanonisierten Roland Barthes scheint in seiner extremen Abgrenzung von dessen Vorgängern gerade durch diese eine besondere Legitimation zu erfahren.
26 Siehe dazu Wodianka, Reflektierte Erinnerung (2005) und Dies., Moderne Mythen (2013), S. 334 und 337.
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Fernand Hörner beschreibt die Stabilisierung des Mythischen in der Moderne durch metamythische Verfahrensweisen im Rückgriff auf Roland Barthes, der die Frage nach der Vereinbarkeit von „Verbrauch“ des Mythos und Reflexion des Mythos durch den „mythologue“ zum ersten Mal stellte – und negativ beantwortete. Hörner widerspricht Barthes unter Nutzung von dessen Beschreibungskategorien: Er zeigt, inwiefern im Falle des Mythos Asterix nicht nur von einem sekundären, sondern von einem tertiären und quartären Zeichensystem im Sinne metamythischer Verfahrensweisen zu sprechen ist. Die Selbstthematisierung des Mythos in seinem Funktionieren macht seine Vernetzung mit anderen Mythen möglich und erzeugt einen Echo-Effekt zwischen unterschiedlich hohen Reflexionsebenen, der Persistenz begünstigt. Einiges deutet darauf hin, dass die Orte und Trägerschaften des Mythischen in der Moderne diffuser sind als die alter Mythen: Träger sind nicht oder nicht nur Bildungseliten und ihre auf Exklusion ausgerichteten Institutionen, sondern öffentliche, auf Integration ausgerichtete Diskurse sind hier relevant – moderne Mythen repräsentieren Wissensbestände, die auch außerhalb von Wissenskulturen im Sinne von „Bildung“ liegen. Andererseits – schon bei einem Blick in die Lemmaliste des Metzler Lexikon moderner Mythen –: Nichtantike Mythen sind durchaus auch Teil von Bildungskanones, man denke etwa an Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven sowie Michel Foucault, bei denen das deutlich ist, an Mythen wie die Alpen, Jeanne d’Arc, Rhein, Résistance und Elite. Moderne Mythen sind nicht diskursbeschränkt, sie sind in elitären Wissenskulturen und in Populärkulturen verankert, und ihre extreme Diskursheterogenität zeichnet sie geradezu aus und bleibt nicht folgenlos für die Strategien oder Voraussetzungen ihrer Persistenz: Diskursüberschreitende Vernetzung verleiht modernen Mythen Stabilität – und stützt die Choralität ihrer Stimme.
D ISKURSTRANSGRESSIVE M YTHENCLUSTER – D IE CHORALE S TIMME DES M YTHISCHEN IN DER M ODERNE Die Beiträge dieses Bandes machen deutlich, dass die Frage nach einer relativen Stabilisierung oder gar Kanonisierung des Mythischen auf zwei Ebenen zu untersuchen und systematisch getrennt zu betrachten ist: im
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Hinblick auf einzelne Mythen (Binnenstruktur und Stabilisierung eines Mythos), aber auch den Einzelmythos überschreitend im Sinne des Verhältnisses moderner Mythen zueinander. Auf diese Weise kompensieren sie durch eine breite Verankerung ihre mangelnde zeitliche Tiefe und sind ähnlich vernetzt wie antike Mythen, die über Familienverhältnisse der Götter, Ereignisse und Orte miteinander im Zusammenhang stehen. Die von uns im Metzler Lexikon moderner Mythen erarbeiteten Kategorien ‚Personen/Figuren‘, ‚Ereignisse‘, ‚Orte‘ sowie ‚Ideen/Konzepte/Institutionen‘27 markieren nicht die Grenzen von Mythenclustern im Sinne eng aufeinander bezogener Mythen (z.B. Hollywood mit seinen Schauspieler-Mythen, Film-Mythen und Konzept-Mythen): Mythencluster können ganz im Gegenteil diese Kategoriegrenzen mit Leichtigkeit überschreiten (z.B. Jeanne d’Arc – Résistance – Nation; oder Paris – Flaneur – Chanson). Insofern impliziert das Erkenntnisinteresse an Vernetzungen moderner Mythen die Frage, welche Verbindungslinien zwischen modernen Mythen bestehen und wie sie sich manifestieren: Durch welche Verweisdichte sind sie charakterisiert, wie selbstständig sind sie jeweils überhaupt zu denken? Der Band zeigt Beispiele mythischer Erzählungen, die miteinander verwoben sind und ganze Mythenkomplexe bilden, die den scheinbar in der Moderne abhanden gekommenen Großerzählungen nahekommen. Die diskursüberschreitende Stabilisierung eines modernen Mythos durch seine Verknüpfung mit verschiedenen antiken und modernen Mythen veranschaulicht Partick Stoffel am Beispiel von Napoleons Alpenüberquerung. Durch das monumentale Gemälde Bonaparte franchissant le GrandSaint-Bernard von Jacques-Louis David wird Napoleon in die Ahnenfolge der Alpenbezwinger Herkules, Hannibal und Karl der Große eingereiht und erhält dadurch den mythischen Status eines Halbgottes. Davids Gemälde beglaubigt Napoleon als Mythos zudem durch eine im Gemälde angelegte Mythenvernetzung mit der Französischen Revolution, deren durch den Berg symbolisierter Schrecken (vgl. „die Montagnards“) gebändigt wird. Der selbst zum modernen Mythos gewordene Goethe beglaubigt Napoleon schließlich als mythisches Ideal künstlerischer Schaffenskraft, sodass ein dichtes Mythencluster um diesen entsteht.
27 Siehe unser Vorwort im Metzler Lexikon moderner Mythen (2014), S. V-VIII und S. XIff.
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Roland Ißler untersucht das Zusammenwirken des antiken Europamythos und der modernen, politisch-geographischen Idee Europas. Der Mythos der antiken Europa hat insbesondere als allegorische visuelle Repräsentation einen wesentlichen Anteil an der Konstitution des modernen Europamythos und scheint das Fehlen einschlägiger Gründungserzählungen und entsprechender Symbole zu kompensieren – hier zeigt sich in besonderer Weise die Bedeutung des Ikonischen oder besser: der Ikonisierbarkeit für die Persistenz mythischer Erzählungen. In diesem Fall wird die Kanonisierung des neuen Mythos wesentlich durch den kanonischen Status des antiken Mythos gefestigt. Eine weitere Facette der Inflations-Begrenzung moderner Mythen zeigt Heike Paul. Im Zentrum ihres Beitrages stehen personenbezogene amerikanische Gründungsmythen wie die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, Pocahontas und die Gründerväter der amerikanischen Demokratie. Diese stehen zum einen im Dienst der amerikanischen Perspektive und beglaubigen diese durch ihre affektive Besetzung im „public feeling“. Zum anderen nehmen revisionistische Betrachtungen mittlerweile ebenfalls einen großen Raum ein und stellen kanonisierte Versionen kritisch infrage. Dabei erweitern sie deren Deutungsspektrum und bewirken sogar deren Stabilisierung: Kolumbus ist nun gleichzeitig US-amerikanische Gründungsfigur und Nationalheld, gilt aber auch als Ur-Mythos der Kolonialisierung und des Eurozentrismus; Pocahontas ist einerseits die Protagonistin einer harmonischen Ursprungserzählung und Liebesgeschichte, mit der die angloamerikanischen Beziehungen beginnen, andererseits wird sie in feministischen Deutungen zur antipatriarchalischen founding mother. Intendierte Destabilisierung führt in diesen Fällen letztlich zu einer funktionalen Stabilisierung des Mythos, dessen Narrative sich ändern mögen, dessen affektiver Kern im Sinne der „structures of feeling“ aber bleibt. Der synergetische Effekt von mytheninterner und mythenexterner Vernetzbarkeit ist Thema von Claudia Jünkes Beitrag zum Spanischen Bürgerkrieg. Schon zum Zeitpunkt des historischen Ereignisses bilden sich zwei komplementäre Mythencluster heraus, jenes der Franquisten, in dem der Spanische Bürgerkrieg die Verteidigung des ‚ewigen‘ konservativ-katholischen Spaniens bedeutet, und jenes der Antifranquisten, für die der Bürgerkrieg die Werte der Republik und das fortschrittliche Spanien repräsentiert. Diese Mythencluster auf der Binnenebene werden durch deren hohe Anschließbarkeit an andere moderne Mythen potenziert, durch ihr hohes
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externes Vernetzungspotential. Die Verteidigung von Madrid, Buenaventura Durruti, die Sprachformel „No pasarán!“ und Capas sterbender Soldat erfahren eine Verknüpfung mit modernen Mythen wie ‚Freiheit‘, ‚Fortschritt‘ und ‚Widerstand‘, die den Mythos Spanischer Bürgerkrieg transdiskursiv und transkulturell relevant machen. Er erlangt eine weltdeutende Perspektive, für die Picassos Gemälde Guernica ikonisch steht. Der auf Strukturierung und Organisation moderner Mythen ausgerichtete Band verfolgt das Erkenntnisinteresse, zu zeigen, inwiefern (in Analogie zu antiken Mythen) von einer neuen Mythologie im Sinne eines ‚mythischen Systems‘ zu sprechen ist, deren Figuren, erzählte Ereignisse, Orte, Dinge und Konzepte aufeinander verweisen oder miteinander vernetzt sind – und auf welche Weise diese Relationen als wechselseitige Stabilisierung moderner Mythen wirksam werden. Auch für die Evidenzerfahrung des Mythischen und für sein Potential zur ‚Naturalisierung von Geschichte‘ sind solche Strukturen und Organisationen moderner Mythen konstitutiv: Zum kollektiven, identitätsstiftenden Erinnerungsprozess wird diese jeweils subjektiv-evidente Bedeutung bei modernen Mythen erst durch die kulturelle bzw. interkulturell verlaufende Strategie der wechselseitigen Beglaubigung, des wechselseitigen Verweises, der die individuelle Evidenzerfahrung als kollektiv verbindlich und überindividuell ausweist. Auf dieser Überlegung baut die sich mit diesem Band erhärtende These auf, dass ein moderner Mythos etabliert und stabilisiert werden kann durch andere (verwandte, ähnliche, affirmativ oder konterkarierend anschließbare) moderne Mythen, die im Echo-Effekt seine über das Individuelle-Subjektive hinausgehende kollektive Bedeutsamkeit belegen. Dieses Phänomen lässt sich beschreiben als performative Gleichrichtung jeweils subjektiv zugeschriebener Bedeutsamkeiten.28 Hier ist die Schnittstelle zwischen Mythos als subjektivem Wahrnehmungsmodus und Mythos als kultureller Praxis zu verorten. Wechselseitige Beglaubigung durch Vernetzung kann individuelle Evidenzerfahrung als kollektiv verbindlich und ‚überindividuell‘ ausweisen. Durch die Clusterbildung von Mythen entsteht eine Mehrstimmigkeit scheinbarer Evidenz, eine ‚chorale Stimme‘ des Mythischen, die den Erzähler als vermittelnde
28 „Bedeutsamkeit“ wird hier im Sinne von Chiara Botticis Rede von „significance“ in seiner affektiven Dimension verwendet. Siehe dazu Bottici, A Philosophy of political myth (2007), insbesondere S. 116-30.
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Instanz zum Verschwinden bringt29 und den Mythos zur erzählerlosen Erzählung macht – in diesem Sinne ist die scheinbare Inflation, Diffusion und Beliebigkeit des Mythischen in der Moderne zu relativieren.
L ITERATUR Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Kanon und Zensur. In: Dies. (Hg.): Kanon und Zensur: Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. München 1987, S. 7-27. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Orig. Mythologies [1957]. Üb. von Helmut Scheffel. Frankfurt a.M. 2000. Barthes, Roland: Mythologies. Paris 1957. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 1979. Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos. In: Fuhrmann, Manfred (Hg.): Poetik und Hermeneutik IV: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971, S. 11-66. Bohrer, Karl Heinz (Hg.): Mythos und Moderne: Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a.M. 1983 Bottici, Clara: A Philosophy of political myth. New York 2007. Cassirer, Ernst: Der Mythos als Anschauungsform. Aufbau und Gliederung der räumlich-zeitlichen Welt im mythischen Bewußtsein, Kap. I. Der Grundgegensatz. In: Ders.: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken. Hg. von Claus Rosenkranz. Hamburg 2002, S. 87-97.
29 Dieser narratologische Begriff ist der italianistischen Verismus-Forschung entlehnt – dort bezeichnet er das scheinbar ‚gemeinschaftliche‘ Sprechen von Figuren, deren Rede z.B. durch Nutzung von Floskeln und Spruchweisheiten der Dorfgemeinschaft den Status einer Kollektivrede erlangt. Hösle spricht vom „Magma des kollektiven Erzählstroms“ und vom „Verschwinden des Erzählers hinter seinem Werk“ (Hösle, Kleine Geschichte der italienischen Literatur (1995), S. 162), der Unterschied zwischen auktorialem und personalem Erzählen und deren jeweiligen Fokalisierungen wird zum Verschwinden gebracht.
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Dörner, Andreas: Politischer Mythos und symbolische Politik: Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos. Opladen 1995. Eco, Umberto: Nachschrift zum Namen der Rose. Orig. Postille a „Il nome de la rosa“ [1964]. Üb. von Burkhart Kroeber. 5. Aufl. München 1984. Gottwald, Herwig: Wiederkehr von Mythen in der Moderne? Eine mythostheoretische Gegenperspektive. In: Krüger, Brigitte/Stillmark, HansChristian (Hg.): Mythos und Kulturtransfer. Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien. Bielefeld 2013, S. 45-57. Hösle, Johannes: Kleine Geschichte der italienischen Literatur. München 1995. Jäger, Ludwig: Transkription – Überlegungen zu einem interdisziplinären Forschungskonzept. In: Kailuweit, Rolf/Pfänder, Stefan/Vetter, Dirk (Hg.): Migration und Transkription – Frankreich, Europa, Lateinamerika. Berlin 2011, S. 15-36. Jäger, Ludwig: Gedächtnis als Verfahren – Zur transkriptiven Logik der Erinnerung. In: Rieger, Dietmar/Wodianka, Stephanie (Hg.): Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform. Berlin/New York 2006, S. 57-79. Jamme, Christoph: „Gott an hat ein Gewand“: Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1991. Krämer, Thomas: Mythos und Ankunft: Mythisches Sprechen in der Moderne. Bonn 2014. Lévi-Strauss, Claude: Die Struktur der Mythen. In: Strukturale Anthropologie I. Orig. Anthropologie structurale [1958]. Üb. von Hans Neumann. Frankfurt a.M. 1991, S. 26-54. Rippl, Gabriele/Winko, Simone (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart 2013. Sandkühler, Hans Jörg: Wissen als wahre gerechtfertigte Überzeugung? Plädoyer für eine wahrheitstheoretisch bescheidene Philosophie. In: Ders. (Hg): Philosophie, wozu? Frankfurt a.M. 2008, S. 128-67. Vietta, Silvio/Uerlings, Herbert (Hg.): Moderne und Mythos. Paderborn 2006. von Heydebrand, Renate: Kanon – Macht – Kultur: Versuch einer Zusammenfassung. In: Dies. (Hg.): Kanon, Macht, Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart 1998, S. 612-25.
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Wodianka, Stephanie/Ebert, Juliane (Hg.): Metzler Lexikon moderner Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse. Stuttgart 2014. Wodianka, Stephanie: Moderne Mythen – Organisationsformen eines inflationären Phänomens. In: Brigitte Krüger/Hans-Christian Stillmark (Hg.): Mythos und Kulturtransfer. Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien. Bielefeld 2013, S. 325-44. Wodianka, Stephanie: Zeit, Literatur und Gedächtnis. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin/New York 2005, S. 179-202. Wodianka, Stephanie: Reflektierte Erinnerung: Metamythische Renarrationen des Jeanne-d’Arc-Mythos. In: Klaudia Knabel/Dietmar Rieger/Dies. (Hg.): Nationale Mythen – Kollektive Symbole: Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung. Göttingen 2005, S. 37-66. Woltersdorff, Nicolas: Practices of Belief. Selected Essays. 2 Bde. Cambridge 2010. Woltersdorff, Nicolas: Thomas Reid and the Story of Epistemology. Cambridge 2001.
Mythenbildung und Kanonisierung: Walter Paters Mona Lisa als Mythos der Moderne – transkulturell, intertextuell und intermedial G ABRIELE R IPPL
1. E INLEITUNG Als fester Bestandteil des kulturellen Archivs der Menschheit wurde Leonardo da Vincis spätes Gemälde Mona Lisa im 19. Jahrhundert kanonisiert. Mona Lisa kann als Sinnbild des Kanonischen selbst gelten, denn auf dieses Gemälde wird seit der Moderne äußerst häufig transkulturell, intertextuell und intermedial Bezug genommen, das Bild also endlos recycelt und remediatisiert. Mona Lisa wird in diesem Beitrag als Beispiel für das Mythische in der Moderne dienen, anhand dessen sich Aspekte der Haltbarkeit sowie der Formen und Prozesse einer möglichen Kanonisierung moderner Mythen untersuchen lassen. Während literarische Kanones trotz zahlreicher Versuche der Entnationalisierung bis heute stark an nationalen Konzepten ausgerichtet sind, waren die Kanones der bildenden Kunst1 und Musik2 von Anfang an stärker trans-
1
Vgl. Locher, Kunstwissenschaft (2013), S. 364-71 und Halbertsma, The Call of the Canon (2007), S. 16-30.
2
Vgl. Wald-Fuhrmann, Musikwissenschaft (2013), S. 371-9.
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national und transkulturell ausgerichtet. Auch in heutigen pluralistischen Gesellschaften und unter den Bedingungen der neuen Medien besteht nach wie vor großes Interesse an Kanones und Kanonisierungsprozessen, und zwar sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit. So sind seit den 1980er Jahren die Mechanismen und die Kriterien, nach denen sich in bestimmten historischen und kulturellen Situationen Kanones ausbilden, auf verschiedene Weise beschrieben und zum Teil auch erklärt worden. Heute besteht weitgehend Konsens darüber, dass Kanones als die historisch und kulturell variablen Ergebnisse komplexer Selektions-, Wertungs- und Deutungsprozesse zu verstehen sind, an denen unterschiedliche Kanonisierungsinstanzen wie Schulen und Universitäten mit ihren Curricula, sowie Wissenschaftler und Verlage, Literaturgeschichten und Anthologien beteiligt sind, die von verschiedenen Gruppen getragen werden und in denen ästhetisch-formale wie kontextuelle Faktoren, d.h. soziale (z.B. politische Konstellationen, sexual politics etc.), kulturelle und ökonomische Bedingungen der Entstehungs- und Rezeptionszeit zusammenwirken.3 Diese Selektions-, Wertungs- und Deutungsvorgänge gelten, so die These, auch für Mythisierungsprozesse. In ihrem Vorwort zum Metzler Lexikon moderner Mythen beschreiben die Herausgeberinnen Stephanie Wodianka und Juliane Ebert zentrale Merkmale des modernen Mythos und halten zunächst fest: „In der Moderne kann alles zum Mythos werden – aber nicht alles wird in der Moderne zum Mythos“.4 Die Romantiker des 19. Jahrhunderts mit ihrer Forderung nach einer neuen Mythologie sowie Roland Barthes’ Beobachtungen zu „Mythen des Alltags“ zeugen von einer Moderne, „die sich selbst in ihrem Verhältnis zum Mythischen hinterfragt und definiert“,5 und auch in den letzten Jahrzehnten ist „das Interesse am ästhetischen Funktionieren und an möglichen Funktionalisierungen von Mythen“ in den Vordergrund getreten.6 Wodianka und Ebert schlagen vor, solche Mythen als moderne und damit als neue Mythen zu verstehen, die „aus der Moderne selbst hervorgehen, in der Moderne erzählt werden und zur Erzählung der Moderne gehören“ und dabei
3
Vgl. Rippl/Winko, Einleitung (2013), S. 1-5.
4
Wodianka/Ebert, Vorwort (2014), S. V.
5
Ebd.
6
Ebd.
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die Grenze zwischen ,Hochkultur‘ und ,Alltags-‘ bzw. ,Popkultur‘ häufig überschreiten.7 Wodianka und Ebert verstehen das Mythische generell als „einen subjektiven Wahrnehmungsmodus von überindividueller, kollektiver Bedeutung im Sinne des kulturellen Gedächtnisses, der sich auf verschiedenste Phänomene beziehen kann. Dazu zählen historische Personen und fiktive Figuren, Ereignisse, Orte, aber auch Konzepte, Ideen und Institutionen“, die eine mythische Qualität aufweisen, d.h. sie bergen „ein mehr oder weniger entfaltetes narratives Potential in sich […], das einen als subjektiv erlebten, aber kollektiv gültigen und verbindenden Sinn stiftet. Als Mythen funktionieren sie […] als Mittel zur Weltdeutung, die Widersprüche in scheinbare Evidenz verwandeln und damit Komplexität reduzieren und Identitätskonstruktionen ermöglichen. Sie vermitteln und tradieren Normen und Werte, obwohl oder gerade weil sie erzählerlose Erzählungen sind, in diesem naturhaften Sinne ‚einfach da‘ – wer könnte schon sagen, wer sie zum ersten Mal erzählte? All dies haben moderne Mythen mit der antiken Mythologie gemein.“8
Roland Barthes hat mit seinem Buch Mythen des Alltags (1957) ein Mythoskonzept begründet, laut dem alles, was als Diskurs ausgedrückt werden kann, auch zum Mythos werden kann. Moderne Mythen sind dabei genauso wie die klassischen antiken Mythen scheinbar erzählerlose Erzählungen, welche kollektiven Sinn stiften und Welt deuten. Da sich die Werte und Normen von Kulturen, Gesellschaften oder Gemeinschaften wandeln können, sind Mythisierungsprozesse samt ihren Stabilisierungsmechanismen ebenso wie Kanonisierungsprozesse generell als komplexe, variable Prozesse zu denken. Für die Diskussion des paterschen Beitrages zur Mythisierung der Mona Lisa und ihrer Kanonisierung – und hier sind sowohl das Gemälde als auch das weibliche Modell gemeint – ist deshalb auch ein Verständnis moderner Mythen als „transkulturelle und internationale Phänomene“9 wichtig. Auch die als widerlegt geltenden älteren Auffassungen, nach denen literarische Texte, Kunstwerke oder Musikstü-
7
Ebd.
8
Ebd., S. VI.
9
Ebd.
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cke allein aus Gründen ästhetischer Qualität kanonischen Status erlangen, lassen sich auf Mythisierungs- und anschließende Stabilisierungsprozesse wie denen im Falle von Leonardos Mona Lisa übertragen. Gegen diese ältere Auffassung, nach der allein die ästhetische Qualität eines Kunstwerks oder literarischen Textes für die dynamischen Prozesse der Kanonisierung und Mythisierung verantwortlich sei, sprechen die vielen Beispiele für Deund Rekanonisierung, der De- und Remythisierung sowie die zahlreichen Austauschbeziehungen zwischen den offiziellen ‚hochkulturellen‘ und den gruppenspezifischen bzw. populärkulturellen Kanones und Mythen. Aber auch solche Erklärungsmodelle, welche ausschließlich kontextuelle Kriterien wie Machtkonstellationen für Mythisierungs- und Stabilisierungsprozesse in der Moderne veranschlagen, können als überholt gelten. Mit Blick auf die Mona Lisa hat auch Martin Kemp darauf hingewiesen, dass es unmöglich ist, die Frage zu beantworten, warum gerade dieses Gemälde so berühmt wurde. Er spricht von vielschichtigen, ineinandergreifenden Faktoren: Neben der „extraordinary quality of the painting in its own right“, dem „sense of presence“, der „intensity of human communication between the sitter and the spectator“ werden „something endlessly enigmatic about an image hovering between the particularity of a portrait, as a likeness of an individual, and the archetype of woman that operates in some generalized kind of way“ genannt.10 Bei der Diskussion möglicher Haltbarkeits- und Kanonisierungsprozesse moderner Mythen sind neben verschiedenen Kanonakteuren wie Institutionen (Museen, Universitäten, Galerien etc.), Medien, wissenschaftliche Diskurse und nicht-kunstwissenschaftliche, populäre Deutungsweisen, ästhetische Strategien und historische Konstellationen insbesondere auch transkulturelle, intertextuelle und intermediale Übersetzungen von Mythen sowie die Rolle von Vernetzungsstrukturen und wechselnden Bezugnahmen der Mythen untereinander als mögliche Quelle von Stabilisierungs- und Kanonisierungsprozessen zu berücksichtigen. Der folgende Beitrag geht diesen Fragen mit Fokus auf Walter Paters Rezeption von Leonardo da Vincis Mona Lisa-Gemälde nach. Paters Lesart der Mona Lisa hat im 19. Jahrhundert ganz wesentlich zur Mythisierung des Gemäldes und der dargestellten Frauenfigur und ihrer Varianten – Medusa, Sphinx, femme fatale – in der
10 Kemp, Christ to Coke (2012), S. 163f.
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europäischen Kultur und Literatur beigetragen und so im 20. Jahrhundert die Stabilisierung dieses modernen Mythos angestoßen, was schließlich zum Status der Mona Lisa als ‚global icon‘ geführt hat. Wie sich zeigen wird, lässt sich anhand der Mona Lisa nachweisen, dass neben ästhetisch-formalen Kriterien, ökonomischen Aspekten und Machtkonstellationen insbesondere intertextuelle Bezugnahmen sowie transkulturelle und intermediale Grenzüberschreitungen bei der Stabilisierung moderner Mythen eine wichtige Rolle spielen. Mit Blick auf die Mona Lisa kann bei den Stabilisierungsprozessen sicherlich von Kanonisierung gesprochen werden – als kanonisiertes Bild ist die Mona Lisa längst zur Repräsentantin eines globalen kulturellen Gedächtnisses geworden.11
2. W ALTER P ATER : O XFORDER Ä STHET , A LTPHILOLOGE UND M YTHENTHEORETIKER Walter Pater (1839-1894) war nicht nur ein wichtiger Autor, Literatur- und Kunstkritiker des englischen Ästhetizismus,12 sondern prägte als Oxforder Altphilologe das Griechenlandbild von Modernisten wie Hilda Doolittle und Hugo von Hofmannsthal. Mythen standen im Zentrum von Paters Interesse: Er entwickelte eine Mythentheorie, erforschte den Einfluss der paganen Antike auf die christliche Renaissance in seinen Essays (die 1873 unter dem Titel The Renaissance. Studies in Art and Poetry erschienen) und verfasste mythosaktualisierende, mythopoietische literarische Texte, etwa in seinen ‚imaginary portraits‘, in denen alte griechische Götter nördlich der
11 Zum Mythischen als Modus des Erinnerns bzw. kulturelles Gedächtnis vgl. Wodianka, Einleitung (2006), S. 1-13 sowie Dies., Zwischen Mythos und Geschichte (2009), S. 13-43. Zum Zusammenhang zwischen Kanon und kulturellem Gedächtnis vgl. Assmann, Theorien (2013), S. 76-84. Vgl. auch Jäger, Gedächtnis als Verfahren (2006), S. 57-79. 12 Die englische Fin de Siècle-Epoche, auch Aestheticism genannt, erfuhr jüngst – nach Jahren der Vernachlässigung – wieder große Aufmerksamkeit durch die anglistische und komparatistische Literatur- und Kulturwissenschaft, was zu einer Neubewertung zentraler Autoren und Werke der Zeit führte. Vgl. Comfort, Art and Life in Aestheticism (2008). Vgl. auch Rippl, Culture as Continuum (2011), S. 333-61.
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Alpen zur Zeit des Spätmittelalters bzw. der Frührenaissance wiederkehren. Gemäß Paters genetischem Mythos-Konzept13 unterläuft der Mythos drei Entwicklungsstadien: Zunächst ist er ein natürliches Phänomen, das sich dann in eine menschliche Figur verwandelt und schliesslich in ein höheres ethisches Prinzip transformiert wird. Für Pater sind Mythen im Fin de Siècle zu einem ästhetischen Phänomen geworden, sie helfen Menschen, die Welt zu erklären und zu ordnen.14 Im Vorwort und dem Schlussteil von The Renaissance. Studies in Art and Poetry formulierte Pater die zentralen Ideen seiner anthropologisch ausgerichteten Ästhetik: Mythen, Literatur und bildende Kunst erlauben es, ekstatische Erfahrungen zu machen, indem sie eine „hard, gem-like flame“ anzünden.15 Die Suche nach Ekstase – so Pater – ist tief in jedem Menschen verwurzelt, und diese Ekstase findet sich am besten in „the poetic passion, the desire of beauty, the love of art for its own sake“.16 Insbesondere die autonome und ästhetische Kunst hilft dem modernen Menschen, sein Leben zu intensivieren, denn im Leben wird das
13 Paters Mythenkonzept basiert auf dem Mythenkonzept von Karl Otfried Müller; vgl. Müllers The History and Antiquities of the Doric Race, das 1830 auf Englisch erschien (deutsches Original 1820 Bd. 1 und 1824 Bde. 2-3). Während diese genetische Vorstellung des Mythos im viktorianischen England weit verbreitet war, so unterschied sich Paters Mythenkonzept und Griechenlandbild (das er in seinen einflussreichen Greek Studies, einer Essaysammlung zur altgriechischen Kunst und Kultur, die 1895, also ein Jahr nach Paters Tod erschien, seinem historischen Roman Marius the Epicurean, publiziert 1885, und in seinen Vorlesungen zu Plato and Platonism, publiziert 1893, entwickelt hatte) von den idealisierten Vorstellungen seiner Zeitgenossen. Während Friedrich Nietzsche z.B. an die Wiedergeburt der griechischen Antike und attischen Tragödie glaubte und den Mythos als ein Mittel verstand, das die Menschen und die Welt erneuern kann, hatte Pater eher Zweifel an einer solchen Erneuerung. Er liefert dagegen eine umfassende dunkle Vorgeschichte der alten prähistorischen griechischen Kultur mit ihren Gegentraditionen, ihren Konflikten und ihrer Gewalt, die nicht mehr viel zu tun hatte mit der im 19. Jahrhundert noch immer gültigen berühmten Antikenformel Johann Joachim Winckelmanns der „edlen Einfalt und stillen Größe“. 14 Vgl. Iser, Walter Pater (1987). 15 Pater, Renaissance (1986), S. 152. 16 Ebd., S. 153.
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Streben nach Schönheit durch das Wissen um den eigenen Tod angespornt: „the desire of beauty [is] quickened by the sense of death“.17 Da Pater Kultur als Kontinuum verstand, interpretierte er zentrale kulturelle Formen wie Mythen, Riten, Religion und Kunst als Manifestationen transhistorischer und transkultureller anthropologischer Fakten, nämlich die Angst des Menschen vor dem Tod und sein Trauern ob der Gewissheit menschlicher Vergänglichkeit: „This pagan sentiment measures the sadness with which the human mind is filled, whenever its thoughts wander far from what is here, and now. [...] He [man, G. R.] makes gods in his own image, gods smiling and flower-crowned, or bleeding by some sad fatality, to console him by their wounds, never closed from generation to generation. It is with a rush of home-sickness that the thought of death presents itself. He would remain at home for ever on the earth if he could. [... B]ut since the mouldering of bones and flesh must go on to the end, he is careful for charms and talismans, which may chance to have some friendly power in them, when the inevitable shipwreck comes. Such sentiment is a part of the eternal basis of all religions, modified indeed by changes of time and place, but indestructible, because its root is so deep in the earth of man’s nature.“18
Das Wissen um die Unvermeidbarkeit des Todes ist die Triebkraft hinter allen Mythen, Ritualen und kulturellen Errungenschaften, und Kunst nichts anderes als die menschliche Antwort auf den Tod. Während die ‚serenity‘, die Gelassenheit griechischer Skulpturen, dazu diente, den anthropologischen Konflikt zu neutralisieren, drücken spätere Kunstwerke Angst und Trauer direkter aus. Für Pater waren sowohl die griechische Antike als auch das christliche Mittelalter durch starke Abwehrmechanismen gegen das Wissen um den Tod geprägt, aber diese Mechanismen differierten stark: Während die griechische Bildhauerei den schönen menschlichen Körper feiert und so dem Zerfall des Körpers das marmorne Duplikat engegenstellt, versucht das Christentum den Tod dadurch zu überwinden, dass es
17 Ders., Aesthetic Poetry (1973), S. 102. 18 Ders., Renaissance (1986), S. 129. Pater sieht im Ritual die gemeinsame Basis aller Religionen, auch die der Griechen. Das Ritual mit seiner Struktur der Wiederholung und Ordnung hilft den Menschen Stabilität zu schaffen in einer extrem unsicheren Welt.
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die Unsterblichkeit der Seele propagiert und Sterblichkeit so nur dem Körper zugesteht. In einer Welt, die zur Vergänglichkeit verdammt ist, kann nur die Kunst Kontinuität und Intensität schaffen, weshalb Paters größte Aufmerksamkeit kulturellen Artefakten gilt.19 Wenn man Paters Texte heute liest, dann überrascht, wie leicht sie sich an laufende akademische Debatten zu Transkulturalismus,20 zum kulturel-
19 „As a prophet of art, Pater has the highest reference for cultural artifacts. [...] Works [of art] are invested with a semi-religious aura and consecrated as objects for reference with a perpetual abode in the cultural memory.“ Vgl. Assmann, From the End of the World to the Fin de Siècle (2001), S. 214. 20 Wolfgang Welsch hat das Konzept der Transkulturalität mit dem traditionellen separatorischen, partikularistischen Konzept der einzelnen nationalen Kulturen sowie mit den neueren Konzepten Interkulturalität und Multikulturalität verglichen, wobei auch letztere noch in traditionellen Konzeptionen kulturellen Partikularismus‘ wurzeln und sich folglich kaum von diesen unterscheiden. Vgl. Welsch, Transculturality (1999), S. 194-213. Welsch betont, dass „the description of today’s cultures as island or spheres is factually incorrect and normatively deceptive. Cultures de facto no longer have the insinuated form of homogeneity and separateness. They have instead assumed a new form, which is to be called transcultural in so far as it passes through classical cultural boundaries“ (S. 197). Während kulturelle Hybridisierung und globale Vernetzung zentrale Merkmale heutiger Transkulturalitäts-Definitionen sind, so ist es Paters Verdienst, dass er diese transkulturelle Qualität bereits früheren Epochen zuschrieb, z.B. wenn er künstlerische und architektonische Stile diskutiert, die sich „across countries and nations“ entwickelten (Ebd., S. 200). Laut Welsch zeigt sich historische Transkulturalität insbesondere in der europäischen Kultur- und Kunstgeschichte: „Styles developed across the countries and nations, and many artists created their best works far from home. The cultural trends were largely European and shaped a network linking the states“ (S. 200). Heute wird die „imaginary notion of homogeneous national cultures“ (S. 199), die politisch instrumentalisierte, angebliche Homogenität von nationalen Kulturen von Welsch und anderen Kulturhistorikern wie Peter Burke hinterfragt, weil es eine solche proklamierte Homogenität der Kultur nie gab. Aber Walter Paters Arbeiten, und insbesondere seine Essays und ‚imaginary portraits‘, zeichnen sich dadurch aus, dass sie dies bereits vor 100 Jahren betonten und gerade deshalb für unsere heutigen Transkulturalismusdebatten von großem Interesse sind.
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len Gedächtnis und zu Intermedialität oder eben an Diskussionen zu modernen Mythen anschließen lassen. Paters komparativer, transkultureller, transnationaler und transhistorischer Ansatz, sein Überschreiten disziplinärer Grenzen, seine Gattungsexperimente und die moderne mythopoietische, hochgradig intertextuelle und intermediale Qualität seiner Texte attestieren ihm Aktualität. Sein Konzept von ‚Tradition‘, ‚kollektivem‘ und ‚kulturellem Gedächtnis‘, die heute in der Literatur- und Kulturwissenschaft Leitkonzepte darstellen, entwickelte Pater unter Berücksichtigung der damals neuesten archäologischen Erkenntnisse zum prähistorischen Griechenland und der griechischen Mythologie. Pater sah sich selbst als melancholischen ‚late age‘ Künstler-Gelehrten, voller Reminiszenzen vergangener Kulturen. Kritische Rezeption und Evaluation dieses kulturellen Erbes sind folglich die literarischen Aktivitäten des ‚late age‘. Pater versuchte immer, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verbinden und glaubte fest an eine transhistorische Kontinuität – bis hin zum Konstrukt anthropologischer Konstanten. Aber er verstand sich weder als Historizist noch als Antiquar; er war weniger an präzisen historischen Fakten interessiert als vielmehr daran, mittels intertextueller und intermedialer Anspielungen und Zitate eine suggestive intellektuelle Atmosphäre zu schaffen und so ästhetische Impressionen früherer Zeiten zu vermitteln. Das Überschreiten disziplinärer Grenzen, das sich an allen Texten Paters ablesen lässt, lädt seine Leser dazu ein, Verbindungslinien zu ziehen zur Malerei, der Bildhauerei, der Fotographie, der Musik, dem Theater, der Anthropologie, der Altphilologie, der Komparatistik, der Mythographie, der Philosophie etc.21
3. W ALTER P ATERS M ONA L ISA Walter Paters berühmte Diskussion der Mona Lisa befindet sich in seinem Leonardo da Vinci-Essay,22 der zuerst 1869 in der Novemberausgabe der Fortnightly Review und dann erneut 1873 in der Essaysammlung The Renaissance. Studies in Art and Poetry23 publiziert wurde. In diesem Essay –
21 Vgl. Clements/Higgins, Introduction (2010), S. 1-10. 22 Pater, Leonardo da Vinci (1986), S. 63-82. 23 Paters The Renaissance (1986) löste aufgrund homoerotischer, hedonistischer und atheistischer Anspielungen innerhalb wie ausserhalb der Universität Oxford
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so meine These – legt Walter Pater mit seiner Mona Lisa-Ekphrase den Grundstein für das Entstehen eines modernen Mona Lisa-Mythos, an dem sich besonders gut die transkulturellen, intertextuellen und intermedialen Aspekte von Mythenbildung in der Moderne sowie Kanonisierungsprozesse moderner Mythen aufzeigen lassen. Leonardo da Vincis spätes Gemälde Mona Lisa, das zwischen 1503 und ca. 1506 entstand, mit Ölfarbe auf dünnem Pappelholz gemalt wurde und recht klein ist (77 cm x 53 cm), hängt heute im Louvre und ist dort seit 1974 nur noch hinter Panzerglas zu bewundern. Das Modell des Porträts ist allem Anschein nach die Florentinerin Lisa Gherardini, die Frau des wohlhabenden Seidenhändlers Francesco del Giocondo. Kunsthistoriker wie Martin Kemp und Frank Zöllner24 haben auf den innovativen Charakter des Gemäldes hingewiesen, zum einen weil die Mona Lisa den Betrachter direkt anschaut (es handelt sich um die sog. contrapposto-Position, bei der man eine ¾-Ansicht hat, der Kopf der Figur jedoch in eine andere Richtung schaut), zum anderen weil auch die sfumato-Technik (ital. = ‚neblig‘, ‚verschwommen‘)25 und die Darstellung der Landschaft im Hintergrund neuartig sind; letztere, weil sie nicht zur Identifizierung der Figur beiträgt, genauso wenig wie die Hände der Mona Lisa eine symbolische Funktion übernehmen, wie dies sonst bei Porträts der Renaissance der Fall war.26 In Frankreich ist das Bild als La Joconde, in Italien als La Gioconda und überall sonst als Mona Lisa bekannt, wobei es sich bei der Rede von „der Mona Lisa“ um „eine sprachliche Personalisierung bzw. Feminisierung des Gegenstandes“27 handelt, die die Grenzen zwischen dem Bild und der Person bzw. dem Modell verwischt. Unter dem Blick des ‚late-age‘-Betrachters werden Mona Lisa und ihr unergründliches Lächeln bei Pater zu einer kondensierten Metapher für sein Konzept von Kultur und kulturellem Gedächtnis und damit auch zu einem modernen Mythos, dessen transkulturelle, intertextuelle und intermediale Qualität we-
einen Skandal aus, weil die spätviktorianische englische Gesellschaft gerade diese Strömungen zu unterdrücken versuchte. 24 Vgl. Kemp, Leonardo (2004); Ders., Christ to Coke (2012); und Zöllner, Leonardo (1994). 25 Die sfumato-Technik produziert in Leonardos Gemälde ein weiches Antlitz und lässt den Hintergrund im Dunst verschwimmen. 26 Vgl. Sassoon, Mona Lisa (2001), S. 34-8. 27 Vgl. Serles, Mona Lisa (2013), S. 194, Fn. 2.
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sentlich zu seiner Dauerhaftigkeit beigetragen haben. Hier die mit Hinblick auf mythisierendes Potential zentralen ekphrastischen Passagen aus Paters Leonardo-Essay: „La Gioconda is, in the truest sense, Leonardo’s masterpiece, the revealing instance of his mode of thought and work. In suggestiveness, only the Melancholia of Dürer is comparable to it; and no crude symbolism disturbs the effect of its subdued and graceful mystery. We all know the face and hands of the figure, set in its marble chair, in that circle of fantastic rocks, as in some faint light under sea. [… T]he unfathomable smile, always with a touch of something sinister in it, which plays over all of Leonardo’s work. Besides, the picture is a portrait. From childhood we see this image defining itself on the fabric of his dreams; and but for express historical testimony, we might fancy that this was but his ideal lady, embodied and beheld at last.“ (Hervorhebungen G.R.)28
Pater führt mit „Leonardo’s masterpiece“ und „suggestiveness“ zunächst ästhetische Kriterien und Ideale an, die bei Kanonisierungs- und Mythisierungsprozessen immer eine Rolle spielen, aber nicht die einzigen oder wichtigsten Auslöser für die genannten Prozesse darstellen. Genau so wichtig wie ästhetische Kriterien sind kontextuelle Faktoren, die sich hier in der männlichen, spätviktorianischen Aufladung des Bildes und der dargestellten Frauenfigur zeigen: Pater macht Mona Lisa zu der Fin de SiècleVerkörperung einer idealen, da rätselhaften Frau, deren Lächeln unergründlich und sinister ist und den männlichen Phantasien einer Traumfrau entspricht. Auch das folgende Zitat weist verschiedene Mythisierungsstrategien auf, neben dem ästhetischen Kriterium ,beauty‘ sind es im ersten Satz und weiter unten in der kursivierten langen Passage Naturalisierungsgesten, die das Gegebene als das ‚schon immer‘-Gegebene präsentieren: „The presence that rose thus so strangely beside the waters, is expressive of what in the ways of a thousand years men had come to desire. Hers is the head upon which all ,the ends of the world are come‘, and the eyelids are a little weary. It is a beauty wrought out from within upon the flesh, the deposit, little cell by cell, of strange thoughts and fantastic reveries and exquisite passions. Set it for a moment beside one of those white Greek goddesses or beautiful women of antiquity, and how would
28 Pater, Leonardo da Vinci (1986), S. 79.
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they be troubled by this beauty, into which the soul with all its maladies has passed! All the thoughts and experience of the world have etched and moulded there, in that which they have of power to refine and make expressive the outward form, the animalism of Greece, the lust of Rome, the mysticism of the middle age with its spiritual ambition and imaginative loves, the return of the Pagan world, the sins of the Borgias. She is older than the rocks among which she sits; like a vampire, she has been dead many times, and learned the secrets of the grave; and has been a diver in deep seas, and keeps their fallen day about her; and trafficked for strange webs with Eastern merchants: and, as Leda, was the mother of Helen of Troy, and, as Saint Anne, the mother of Mary; and all this has been to her but as the sound of lyres and flutes, and lives only in the delicacy with which it has moulded the changing lineaments, and tinged the eyelids and the hands.29 The fancy of a perpetual life, sweeping together ten thousand experiences, in an old one; and modern philosophy has conceived the idea of humanity as wrought upon by, and summing up in itself, all modes of thought and life. Certainly Lady Lisa might stand as the embodiment of the old fancy, the symbol of the modern idea.“ (Hervorhebungen G.R.)30
Neben den bisher betonten Naturalisierungsgesten zeigt insbesondere der letzte Satz dieses Zitats, dass gerade die überzeitliche, Evidenz produzie-
29 Diese lange kursiv gesetzte Passage wurde von William Butler Yeats als modernes vers-libre Gedicht präsentiert, das seine 1936 erschienene, stark kanonbildende Anthologie The Oxford Book of Modern Verse, 1892-1935 eröffnete: „Mona Lisa/She is older than the rocks among which she sits;/Like a Vampire,/She has been dead many times,/And learned the secrets of the grave;/And has been a diver in deep seas,/And keeps their fallen day about her;/And trafficked for strange webs with Eastern merchants;/And, as Leda,/Was the mother of Helen of Troy,/And, as St Anne,/Was the mother of Mary;/And all this has been to her but as the sound of lyres and flutes,/And lives/Only in the delicacy/With which it has moulded the changing lineaments,/And tinged the eyelids and the hands.“ (Yeats, The Oxford Book of Modern Verse (1936), S. 1). Mona Lisa ist also nicht nur, wie Pater sagte, „the symbol of the modern idea“ (Leonardo da Vinci (1986), S. 80) und somit als moderner Mythos aufzufasssen, sondern Yeats inszeniert sie hier als Ursprungsmythos der literarischen Moderne, indem der Text als Eingangsgedicht die erste Sammlung modernistischer Lyrik eröffnet. 30 Pater, Leonardo da Vinci (1986), S. 79f.
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rende Zusammenführung von Altem und Modernem in der Mona Lisa Mythisierungspotential aufweist und Mythisierungsprozesse befördert. Paters Beschreibung von Leonardos Gemälde ist eine Ekphrase, also eine Gattung, die ihre Wurzeln in der klassischen Antike und Rhetorik hat und seit den 1990er Jahren große literatur-, kultur- und kunstwissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat.31 Paters Mona Lisa-Ekphrase liefert jedoch weder eine ausführliche Diskussion von Leonardos delikater Maltechnik – sieht man einmal von der Bemerkung „and lives only in the delicacy with which it has moulded the changing lineaments, and tinged the eyelids and the hands“ ab – noch präsentiert er eine anschauliche Beschreibung des Gemäldes, also ein lebendiges verbales Äquivalent dessen, was auf dem Bild zu sehen ist. Anstatt das Gemälde detailliert zu beschreiben, dispersiert Paters Ekphrase vielmehr Bedeutung, indem es eine intensive Atmosphäre schafft und eine breite Palette von Assoziationen anbietet. Die Beschreibung von Leonardos Gioconda als Palimpsest liest sich wie eine fotographische oder filmische Metapher für Überblendungstechniken, so dass das Bild nicht mehr als ein bloßes Porträt eines Individuums, also in einer referentiellen Weise gelesen werden kann, sondern sich in ein imaginäres Porträt verwandelt. Paters transhistorisch-transkultureller Ansatz erlaubt es ihm, weit auseinanderliegende Kulturen miteinander zu verknüpfen. Schon in den ersten Sätzen der kursivierten Passage wird Mona Lisa als „older than the rocks among which she sits“ beschrieben, sie ist eine Vampirin, eine Wiedergängerin,32 die bereits mehrere Male tot war und deshalb die Geheimnisse des Grabes und der Tiefen kennt, aber auch das vitale okkulte Potential besitzt, jederzeit wieder aufzuerstehen. Pater beschreibt Mona Lisa als das Lagerhaus und die Schatzkammer vergangener Zeiten, die all diesen historischen Epochen ähnelt: der Antike, dem Mittelalter, der Re-
31 Vgl. Klarer, Mario: Ekphrasis. Bildbeschreibung als Repräsentationstheorie bei Spenser, Sidney, Lyly und Shakespeare. Tübingen 2001; Krieger Murray: Ekphrasis. The Illusion of the Natural Sign. Baltimore 1992; Heffernan, James A. W.: Museum of Words. The Poetics of Ekphrasis from Homer to Ashbery. Chicago 1993; Rippl, Gabriele, Beschreibungs-Kunst Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte (1880-2000). München 2005; sowie Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995. 32 Vgl. Eastham, Aesthetic Vampirism (2008), S. 79-95.
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naissance und Paters eigenem ‚late age‘; die müden Augenlider der Frauenfigur symbolisieren ihre ewige, simultane Präsenz. Für ihn vermag Leonardos Kunst das wiederzubeleben, was einmal für Menschen wichtig war.33 Er sieht in Leonardos Mona Lisa das ganze kulturelle Gedächtnis der Menschheit und somit sämtliche kulturellen Leistungen früherer Epochen versammelt: Nichts geht jemals verloren. Kunstwerke wie die Mona Lisa sind für Pater archäologische Stätten, deren Schichten freigelegt werden müssen. Sein archäologisch interessierter ‚scholar-artist‘, der sich durch eine spezielle ‚susceptibility‘ (Empfänglichkeit) auszeichnet, kann das Palimpsest der Kultur lesbar machen, indem er die verschiedenen Schichten beleuchtet. Die Renaissance beschrieb Pater als doppelte Bewegung, einmal als Rückbesinnung auf die Antike, zum anderen als „the coming of what is called ‚the modern spirit‘“, der die Natur ins Zentrum rückt.34 Diesen modernen Geist verkörpern Leonardo und sein Mona Lisa-Gemälde. Für Pater wird es zum Symbol für die Wiedergeburt, die Renaissance selbst, die das Vergessen besiegt und die Moderne, ‚the modern spirit‘, verkündet.35 Sein männlicher Blick und seine männliche ekphrastische Kunst lesen das Bild nicht nur als Palimpsest des kulturellen Gedächtnisses und kulturellen Unbewussten, die wie ein individuelles Gedächtnis viele abgelagerte Schichten von Epochen und Kulturen umfassen; er sieht in ihm auch das Bild einer rätselhaften, undurchschaubaren und unerforschlichen Frau, deren rätselhaftes Aussehen und enigmatisches Lächeln ein Geheimnis bergen.36 Mit
33 Iser, Walter Pater (1987), S. 46. Vgl. auch Williams, Transfigured World (1989), S. 111-23. 34 Pater, Leonardo da Vinci (1986), S. 70. 35 Vgl. Assmann, Erinnerungsräume (1999), S. 229-40. 36 Wie Vasari, so übersetzte auch Pater Leonardos Gemälde ekphrastisch in das Medium geschriebener Text und betonte darin nicht nur die enigmatische, vampir- und medusenhafte Qualität der Mona Lisa, sondern beschrieb auch ihren Schöpfer, den ‚genius‘ Leonardo da Vinci selbst als „possessor of some sanctified and secret wisdom“ (Leonardo da Vinci (1986), S. 63), als „sorcerer“ und „magician possessed of curious secrets and hidden knowledge“ (S. 68), der sich einem „refined and graceful mystery“ verliert und „it is still by a certain mystery in his work, and something enigmatical beyond the usual measure of great man, that he fascinates, or perhaps half repels“ (S. 63). Leonardos Herkunft, sein Le-
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seiner Ekphrase gibt Pater die viktorianische Lesart der Mona Lisa vor: Der von ihm beschriebene geheimnisvolle Ausdruck der Mona Lisa fasziniert die späten Viktorianer und führte dazu, dass sie in die Galerie anderer, ebenfalls als rätselhaft empfundener Frauenfiguren wie der Medusa und Salomé eingereiht wurde. Pater selbst sah in dem Leonardo zugeschriebenen Medusa-Bild in den Uffizien samt seiner Dialektik von Terror und Schönheit einen Vorläufer der Mona Lisa („the fascination of corruption penetrates in every touch its exquisitely finished beauty“).37 Wie die Mona LisaEkphrase, so verweist auch seine Beschreibung des Medusa-Gemäldes auf die wichtige Rolle, die insbesondere in der späteren viktorianischen Epoche Geheimnissen, Mysterien und okkultem Wissen zukam: „He [Leonardo, G. R.] learned […] the art of going deep, of tracking the sources of expression to their subtlest retreats, the power of an intimate presence in the things he handled. […] Two ideas were especially confirmed in him, as reflexes of things that had touched his brain in childhood beyond the depth of other impressions – the smiling of women and the motion of great waters. […S]ome interfusion of the extremes of beauty and terror shaped itself […].“38
Die Isotopien Tiefe, weibliche (Un-)Tote und Wasser sowie das Zusammenspannen von Schönheit und Terror und die Faszination am Verfall verbinden Paters Medusa-Ekphrase mit jener der Mona Lisa: „All these swarming fancies unite in the Medusa of the Uffizii. […] The subject has been treated in various ways; Leonardo alone cuts to its centre; he alone realises it as the head of a corpse, exercising its powers through all the circumstances of death. What may be called the fascination of corruption penetrates in every touch its exquisitely finished beauty. […] The delicate snakes seem literally strangling each other in terrified struggle to escape from the Medusa brain. The hue which violent death always brings with it is in the features; features singularly massive and grand,
ben und seine sexuelle Orientierung sind wie die Mona Lisa selbst mit Geheimnissen belegt und von Mysterien umhüllt. 37 Pater, Leonardo da Vinci (1986), S. 68. 38 Ebd., S. 66f.
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as we catch them inverted, in a dexterous foreshortening, crown foremost, like a great calm stone against which the wave of serpents breaks.“39
Auch Paters Verweis auf Dürers Melancholia teilt die Isotopie Tiefe (der Gedanken und des Blicks) und Wasser und damit auch die des Geheimnisses und des Mysteriums, so dass hier ein Cluster dreier Frauenfiguren konstruiert wird, die sich alle durch ihre zahlreichen Bedeutungsschichten, also ihren komplexen Verweischarakter auszeichnen und zudem alle drei einen zentralen Platz im Repertoire moderner Mythen einnehmen. Meist wurden Götter der antiken Mythenwelt im 19. und frühen 20. Jahrhundert als binär gedachte Mythenpaare diskutiert. Dionysus und Apollo dürften das bekannteste gewesen sein (nicht zuletzt durch Pater und Nietzsches (divergierende) Diskussion der beiden antiken Götter), aber auch Aphrodite und Artemis gehören zu den berühmten Mythenpaaren. Paters Mona Lisa-Ekphrase ruft ebenfalls weibliche mythologische und christliche Mutter-TochterPaare wie Leda und Helena von Troja oder die Hl. Anna und Maria auf und ist gerahmt mit zwei weiteren bekannten Figuren: mit Albrecht Dürers Melancholia I und der mythologischen Medusa.40 Für Pater und das Fin de Siècle verkörpert Mona Lisa Weiblichkeit als femme fatale, sie ist nicht nur zum männlichen Projektionsbild von Weiblichkeit, sondern gleichzeitig zum „Projektionsbild [des] modernen Mythenbedürfnisses geworden“.41 Wie der Mythos so inszeniert auch Pater eine Sprechsituation, die den Erzähler ausblendet und die ästhetizistischmännliche Lesart der Mona Lisa quasi naturalisiert. Die Deutungshoheit und Festschreibung der Geschlechterverhältnisse obliegt im viktorianischen England der männlichen intellektuellen Elite, sie haben die Macht, in diesem Sinne Mythisierungen vorzunehmen und durch Rezeptionsketten zu kanonisieren. Die affektive Dimension des Mythischen42 liefert Pater den Zeitgenossen in seiner mythenbegründenden Ekphrasis mit, indem er von 39 Ebd., S. 67f. 40 Das berühmte Medusa-Gemälde hängt in den Uffizien und wurde im 19. Jahrhundert (auch von Pater) noch Leonardo, heute jedoch einem unbekannten flämischen Maler um 1600 zugeschrieben. 41 Vgl. Renner, Mona Lisa (1989), S. 139. Vgl. auch McMullen, Mona Lisa (1975). 42 Siehe dazu auch den Beitrag von Heike Paul in diesem Band.
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den von altersher gebrachten „exquisite passions“43 spricht, die Mona Lisa als femme fatale auszulösen vermag. Das Bild wird bei ihm zum Mythenbehälter: Im Bild steckt die Mythengeschichte der Menschheit. Und schließlich ist es wie beim antiken Mythos auch mit Blick auf die Mona Lisa schwierig von einem Originalbild, dem Werk, zu sprechen, denn von Anfang an scheinen mehrere Kopien des Gemäldes im Umlauf gewesen zu sein, was sich an den Unterschieden in den Bildbeschreibungen ablesen lässt. Schon von Leonardo selbst soll es zwei gemalte Versionen gegeben haben, und erst 2012 ist im Prado eine weitere Mona Lisa aufgetaucht, so dass niemand so recht weiß, welches Bild nun das ,Original‘ ist, auch wenn an der Idee eines ,Originals‘ und einem affirmativen Werkbegriff weiterhin festgehalten wird. Die Pluralisierung der Bedeutungen und Lesarten der Mona Lisa kann ihrem Status als moderner Mythos nichts anhaben – ganz im Gegenteil: Er wird durch sie mit konstituiert und lebendig gehalten.
4. D AS N ACHLEBEN
DER PATERSCHEN
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Die bisherige Diskussion von Paters berühmter Mona Lisa-Ekphrase hat gezeigt, dass das Gemälde wie die dargestellte Frauenfigur mehrfach kodierte Zeichen sind, die auf ein ganzes Mythencluster verweisen. Als Vampirin und Wiedergängerin verkörpert die Mona Lisa für Pater die Renaissance und ist ein Teil des kulturellen Gedächtnisses, das viele synchrone und diachrone transkulturelle Vernetzungen in sich birgt.44 Mona Lisa funktioniert als moderner Mythos aber auch hochgradig intertextuell und intermedial, und es sind die intertextuellen Verweisketten und intermedialen Grenzüberschreitungen, die zu ihrer Mythisierung wesentlich beigetragen und sie als Mythos schließlich verfestigt und auf Dauer gestellt haben. Im Falle der Mona Lisa existierten intermediale Grenzüberschreitungen von Anfang an: Giorgio Vasari lieferte in seiner Leonardo-Biographie bereits im 16. Jahrhundert die erste Ekphrase des Gemäldes und übersetzte das Öl-
43 Pater, Leonardo da Vinci (1986), S. 79f. 44 Zu den verschiedenen Lesarten der Mona Lisa vgl. Zöllner, Kanon und Hysterie (2010), Absätze 10-17. Zur Rezeption der Mona Lisa im Fin de Siècle vgl. Hüttinger, Leonardo-Kult (1978), S. 41-9.
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bild damit in das Medium Text;45 seine Ekphrase hat zu zahlreichen weiteren geführt. Solche intertextuellen und intermedialen Transpositionen haben in der Entwicklung der Mona Lisa zum modernen Mythos eine wichtige Rolle gespielt. Vermutlich hat Vasaris erste Ekphrase auch dazu beigetragen, dass es bereits im 16. und 17. Jahrhundert nur wenige andere Gemälde gab, die so oft kopiert wurden.46 Die beeindruckende Rezeptionsgeschichte hat zweifelsohne mit der mangelhaften Informationslage und den entsprechenden narrativ zu füllenden Leerstellen zu tun, die mit Vasaris erster Identifizierung des Porträts beginnt, der selbst das ,Original‘-Bild nie gesehen hatte. Neben den intertextuellen und intermedialen Transpositionen dürfte auch der bereits im 16. Jahrhundert einsetzende transnationale Status der Mona Lisa eine wichtige Rolle gespielt haben: sie war zunächst in Italien angesiedelt, Leonardo verkaufte das Bild jedoch kurz vor seinem Tod an den französischen König François I., und es blieb in Frankreich, wo es heute im ehemaligen königlichen Palast, dem Louvre, als nationales französisches Kulturgut präsentiert und vermarktet wird. Neben Théophile Gautier hat Walter Pater eine oft misogyne und „phantasmatische Auf- und Überladung“47 des Gemäldes samt der geheimnisvollen Geschichte um das weibliche Modell mit dem enigmatischen, sphinxgleichen, z.T. auch als spöttisch-gefährlich beschriebenen, satanischen Lächeln eingeleitet, in dessen Folge es nicht mehr nur als Renaissance-Portrait einer schönen Italienerin rezipiert wurde sondern als archetypische femme fatale des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.48 Als Männer bedrohende femme fatale war sie nun in Gesellschaft anderer mythologischer und biblischer Frauenfiguren wie Kleopatra, Medusa, Helena von Troja und „Medea, the Sphinx, or Delilah, who seduces and ruins Samson; and, above all, Salomé, the woman who had John the Baptist decaptivated because he resisted her“.49 In den zahlreichen späteren, häufig misogynen literarischen Fortschreibungen von Paters Mona Lisa-Rezeption lässt sich deutlich die Magie ausmachen, die das ,Rätsel Mona Lisa‘ samt dem enigmatischen Lächeln des Modells La Gioconda ausübte, die dann als „Leer-
45 Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler (1983), S. 31-4. 46 Vgl. Sassoon, Mona Lisa (2001), S. 278. 47 Serres, Mona Lisa (2013), S. 194. 48 Vgl. Sassoon, Mona Lisa (2001), S. 92. 49 Ebd., S. 98.
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formel, als ,Frau ohne Eigenschaften‘“50zur Projektionsfläche für Männerphantasien, zum Frauenphantom der erotisch-satanischen femme fatale wurde, die Männer in Versuchung führt und ins Verderben stürzt. Hier lässt sich eine Funktionalisierung des Mythischen beobachten: Männliche Lesarten der Frau und der Geschlechterverhältnisse werden in „überzeitlich gegebene ‚Natur‘“ überführt und Komplexität so reduziert – erzählerlos scheint sich Natur hier selbst zu erzählen.51 Walter Pater war derjenige Kunstkritiker, der die Renaissance in England einer breiteren Öffentlichkeit nahe brachte; er war es auch, der die Mona Lisa außerhalb von Frankreich bekannt machte, und dank ihm dürften zahlreiche britische Louvre-Besucher ihr zum ersten Mal gebührend Aufmerksamkeit geschenkt haben. Zwar hatten auch Gautier, Flaubert und Swinburne literarische Porträts dämonischer Frauen geliefert und Oscar Wildes Gedicht The Sphinx beschreibt ebenfalls eine rätselhafte Frauenfigur, halb Katze, halb Mensch, die zunehmend Kleopatra ähnelt und das Lächeln der Gioconda trägt, jedoch war es Paters Verdienst, seine „große Entdeckung“,52 im berühmten Lächeln der Gioconda die Geschichte der dämonischen Frau zu lesen: „Der Typus der dämonischen Frau (mit seinen räumlichen und zeitlichen Perspektiven und dem Lächeln der Gioconda) wurde auf Grund von Paters Beschreibung so populär, daß es während der achtziger Jahre in bestimmten Pariser Kreisen bei den Animierdamen Mode wurde, das rätselhafte Lächeln zur Schau zu tragen.“53
Der Erfolg von Paters Mona Lisa-Ekphrase lag nicht nur in seiner eleganten Prosa und den vielen heraufbeschworenen literarischen wie visuellen Assoziationen. Er lässt sich wesentlich zurückführen auf den spezifischen Blick Paters auf Mona Lisa (die zur Rezeptionsanleitung für viele Betrachter werden sollte), der die vergangene Ästhetik ‚alter Zeit‘ und die Ästhetik der
50 Renner, Mona Lisa (1989), S. 150. 51 Vgl. Wodianka, Zwischen Mythos und Geschichte (2006), S. 17 und 18. 52 Praz, Liebe, Tod und Teufel (1960), S. 220. 53 Ebd., S. 221. Praz diskutiert den Einfluss Paters auf verschiedene europäische Schriftsteller des Ästhetizismus im Detail (s. Kap. 5, S. 220-50). Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Paters auch Sassoon, Mona Lisa (2001), Kap. 6, S. 136-72.
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Moderne in diesem Bild kulminieren ließ – und in diesem Sinne einen ‚modernen Mythos‘ begründete: „The quality of Pater’s prose […] acted as an amplifier of themes already existing in the culture. […] Pater’s great achievement was to devise resonant words with which to capture this Zeitgeist and link them to a specific painting representing an unknown woman, already mythologised, painted against a landscape equally mysterious and unknown. This achievement conferred great fame on Pater. […] Mona Lisa helped Pater to establish his own fame, while he in turn inscribed her in the decadent literature of the fin-de-siècle. […] Pater understood, in spite of all the references he made to the past, that his way of looking at the Mona Lisa was dramatically modern. The Lady Lisa, he had written, might be ,the embodiment of the old fancy‘ […] but she was also ,the symbol of the modern idea‘. This Oxford aesthete, in love with the past, was at one with the Zeitgeist.“54
Die Mona Lisa war zu Paters Zeiten noch nicht als das berühmteste Gemälde der Welt kanonisiert, aber Pater bereitete dafür den Weg: „He made the painting known to readers who had never seen it. What’s more, he made them want to see it.“55 Autoren der Moderne wie Henry James, Hugo von Hofmannsthal, E. M. Forster, Aldoux Huxley und Gabriele d’Annunzio beziehen sich auf Paters Mona Lisa-Ekphrase, Sigmund Freud zog sie in seinem Essay Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910) für seine Androgynitätsthese heran und betonte mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte ebenfalls, dass das unheimliche und rätselhafte Lächeln der Mona Lisa „zwei verschiedene Elemente“ vereinigt: „hingebungsvolle […] Zärtlichkeit“ und Verführung, „rücksichtslos heischende […], den Mann wie etwas Fremdes verzehrende […] Sinnlichkeit“.56 Dass der Italiener Vincenzo Peruggia am 21. August 1911 die Mona Lisa aus dem Louvre stahl und das Gemälde schließlich unter der großen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dem Museum zurückgegeben wurde, trug ebenfalls wesentlich dazu bei, dass es noch berühmter wurde, und zwar nicht nur unter Intellektuellen, sondern auch in der breiten Bevölkerung. Im 20. Jahrhundert sollte es nicht lange dauern bis sich die Populärkultur der Mona Lisa annahm. Der nun
54 Sassoon, Mona Lisa (2001), S. 139 und 140f. 55 Ebd., S. 147. 56 Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1982), S. 133.
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stark einsetzende Tourismus, die Verbreitung der Medien Radio und Fernsehen, die Rezeption der Mona Lisa durch zahlreiche bildende Künstler wie Marcel Duchamp (der ihr einen Schurrbart verpasste), Kasimir Malevich, Fernand Léger, Salvador Dalí und Andy Warhol, aber auch die immer wichtiger werdende Werbung, trugen zum immer größeren Ruhm der Mona Lisa bei.57
5. M ONA L ISA ALS MODERNER M YTHOS UND , GLOBAL ICON ‘ Im 20. Jahrhundert haben die „Textualität des Bildes“,58 die im 16. Jahrhundert begonnenen intermedialen Grenzgänge zwischen Bild und Schrift, aber auch der Entzug des Bildes durch den Diebstahl 1911 aus dem Louvre dazu beigetragen, dass die Mona Lisa noch bekannter wurde. Entzug und Geheimnis waren und sind ihrem Status als moderner Mythos zweifelsohne zuträglich. Die bislang besprochenen transkulturellen, intertextuellen und intermedialen Transpositionen bildeten jedoch nur den Anfang der geographisch und zeitlich erstaunlich breitgefächerten visuellen, textuellen und transmedialen Erfolgsgeschichte des Gemäldes im 20. und 21. Jahrhundert.59 Im 20. Jahrhundert ist Mona Lisa definitiv zum Inbegriff nicht nur des idealen Kunstwerks, sondern auch zum Symbol eines Kulturfetischismus unseres kommerzialisierten Kunstmarktes geworden, der alles zur Ware macht. Die Wiener Germanistin Katharina Serles fasst zusammen: „Die Laut- und Zeichenkette ‚Mona Lisa‘[…] ruf[t heute] sofort kulturgeschichtliche Narrative auf“ und produziert „sich verselbständigende ,Rezeptionskettenreaktionen‘, die das Bild selbst nicht notwendigerweise im Blick haben“.60 Mona Lisa ist zum Superzeichen geworden, das ein großes narrati-
57 Vgl. dazu McMullen, Mona Lisa (1975), S. 217-37, der die Rezipienten der Mona Lisa in ,Giocondoclasts‘ und ,Giocondophiles‘ einteilt; siehe auch Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg, Mona Lisa (1978). 58 Serles, Mona Lisa (2013), S. 226. 59 Allein in der deutschen Literatur sind Mona Lisa-Zitate laut der Wiener Datenbank literarischer Bildzitate seit 1880 mit 100 Einträgen vertreten, siehe Serles, Mona Lisa (2013), S. 194. 60 Serles, Mona Lisa (2013), S. 195.
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ves Potential besitzt und kollektiven Sinn zu stiften vermag. Sie veranschaulicht das Kunstwerk an sich, das Funktionieren von modernen Mythen und die Prozesse, die diese auf Dauer stellen. Ihre ununterbrochene Überquerung geographisch-nationaler61 wie medialer Grenzen – vom Bild zur Ekphrase, zum Gedicht, zum Drama und narrativem Motiv, zur Fotographie, Installation und Performance – hat sicherlich dazu beigetragen, dass sie ein einflussreicher moderner Mythos bleibt, der die Moderne nicht nur repräsentiert, sondern auch mitprägt. Neben Paters weit über England hinaus einflussreicher Ekphrase und neben den Fachdebatten in kunstwissenschaftlichen Institutionen wie universitären Departments und Museen sowie dem Kunstmarkt haben insbesondere die medialen Grenzüberschreitungen zur flächendeckenden internationalen Verbreitung und Kanonisierung des Gemäldes beigetragen und haben schließlich, nach der Entdeckung der Mona Lisa durch die Popkultur, Werbung und Product Placement, zum Status des Gemäldes als ,global icon‘ geführt, was sie weiter stabilisierte und in kulturelitären wie populären Kanones verankerte. Martin Kemp spricht in seiner jüngsten Publikation von Mona Lisa als einem ‚icon‘, ohne den Begriff genauer zu definieren.62 Eingehender hat sich Bishnupriya Ghosh mit dem Begriff ‚icon‘ auseinandergesetzt, der es als ein „recursive image dense with symbolic accretions“63 definiert. Ghosh versteht ein ‚global icon‘ als ein Bild, welches sich durch Proliferation auszeichnet und häufig intensive Affekte auslöst, ein Spektakel heraufbeschwört und Kollektivität herstellt. Man kann sagen, daß Ghoshs Begriff ‚global icon‘ wie der im vorliegenden Band verwendete Begriff ‚moderner Mythos‘ interkulturelle Transmissionen von „symbolically dense images“64 beschreibt. Das Gemälde Leonardos kann in diesem Sinne als ‚global icon‘ verstanden werden, weil es die radikalste Komprimationsform des ‚Mythos Mona Lisa‘
61 Nicht nur reist die Mona Lisa ursprünglich von Italien nach Frankreich in den Palast des französischen Königs, sie kam 1963 auch in die Hauptstadt der USA, nach Washington DC, wo sie unter dem Beisein von Jackie Kennedy im National Museum und später in New York ausgestellt wurde. 1974 reiste sie nach Tokio ins japanische Nationalmuseum um dann auf dem Rückweg noch in Moskau Halt zu machen. 62 Kemp, Christ to Coke (2012).
63 Ghosh, Global Icons (2011), S. 1. 64 Ebd., S. 4.
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und seiner Narrationen ist. Im Vergleich zum Mythosbegriff fehlt dem Begriff ‚global icon‘ wie ihn Ghosh verwendet allerdings der transhistorische Aspekt; er betont eher die ultraschnellen transnationalen und globalen Transmissionen der „symbolically dense images“ durch digitale Mediennetzwerke. Zweifelsohne ist Mona Lisa zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Teil eines elitär-künstlerischen Kanons gewesen, heute jedoch zu einem massenkulturellen Bild geworden, das dank neuer Technologien wie des Internets von Millionen Menschen auf der Welt sofort erkannt wird. Mona Lisa ist als moderner Mythos nach wie vor lebendig und als transmedialer Star des Kunst- und Kulturbetriebs ein kultiges Konsumgut, das als Konterfei auf Tassen, Tellern, T-Shirts, Kalendern, Schokolade-, Zigarren-, Haarnadel-, Streichholz- und Kondompackungen endlos zirkuliert. In seiner Mona Lisa-Studie von 2001 fasst Donald Sassoon noch einmal die zahlreichen Akteure zusammen, die halfen, Mona Lisa in einen modernen Mythos zu verwandeln, der dann auf Dauer gestellt wurde und ihr schließlich den Status eines ,global icon‘ bescherten: „Nothing has a single cause. The present status of the Mona Lisa is the result of a complex historical process in which many people had a role to play: Leonardo, who painted it; Francesco il Giocondo, who commissioned it; François I., who brought Leonardo to France. Then there were those who transformed the Louvre from a royal palace into a public museum; the intellectuals who wrote enticing things about Mona Lisa and propagated the idea of her mysterious powers and smile. Then there was Vincenzo Peruggia, who stole it; Malraux and de Gaulle, who used it to represent French culture; the press that never grew tired of writing about it; all those who sang about her, drew her, distorted her and made fun of her; all the ,solversʻ of enigma; all those who visited her and told their friends that her eyes follow you everywhere; and all those who exploited her fame, not realising or caring that in so doing they were adding to it.“65
In unserer digitalen „convergence culture“, um Henry Jenkins’ Begriff zu verwenden,66 werden Mona Lisas endlose Remediationen, ihre globalen inter- und transmedialen Text-, Bild-, Installations- und Warenketten sicherlich auch in Zukunft nicht arretiert werden. Neben transkulturellen und in-
65 Sassoon, Mona Lisa (2001), S. 278. 66 Vgl. Jenkins, Convergence Culture (2006).
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tertextuellen sind insbesondere intermediale Transfers und plurimediale Netzwerke (Internetpräsenz, Museum, Presse, Gebrauchsartikel), welche das Gemälde umgeben und dessen mediale Distributionsweite potenzieren, zentrale Faktoren in der Kanonbildung moderner Mythen, deren Geschichte heute nicht mehr ohne Verweis auf unsere Medienwelten erzählt werden kann.
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Zöllner, Frank: Leonardo da Vinci, Mona Lisa. Das Porträt der Lisa del Giocondo. Legende und Geschichte. Frankfurt a.M. 1994.
Fortschritt – ein zentraler Mythos der Moderne Zur Genese, Veränderung und eigentümlichen Stabilität einer modernen Semantik J AN W EYAND UND S EBASTIAN M. B ÜTTNER
Die Soziologie ist ein Kind der Moderne, das in einer Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche und Transformationen nach dem Beginn der Industrialisierung und nach den Wirren der Französischen Revolution im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich aus der Nationalökonomie und aus der Philosophie der europäischen Aufklärung hervorgegangen ist.1 Mit dieser Entstehungsgeschichte verbindet sich in der Soziologie und auch weit darüber hinaus die Vorstellung, dass das Fach als wissenschaftliche Disziplin ganz entscheidend zur Entmythologisierung der modernen Sozialwelt beigetragen hat. Das heißt, die Beschäftigung mit ‚dem Mythos‘ beziehungsweise mit dem mythologischen Erbe der menschlichen Kultur steht gerade nicht im Zentrum des soziologischen Interesses, sondern die Reflexion und Analyse der Bedingungen der Möglichkeit von sozialer Ordnungsbildung im säkularen, vermeintlich postreligiösen und ‚nachmythologischen‘ Zeitalter. Dieses Zeitalter scheint gerade dadurch gekennzeichnet zu sein, dass alles Mythische umfassend dekonstruiert und „entzaubert“ ist.2 Oder wie es Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns anhand der Unter1
Vgl. Tenbruck, Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie (1981), S. 342-7 und Wagner, A History and Theory of the Social Sciences (2001).
2
Weber, Wissenschaftslehre (1982), S. 594.
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scheidung von mythischen und modernen Weltbildern charakterisiert hat: ein Zeitalter, das nicht mehr durch eine Fokussierung auf große Erzählungen und Traditionen geprägt ist, sondern von einer umfassenden „Dezentrierung“ (Piaget) von Weltbildern und symbolischen Ordnungen sowie von einer Entwertung religiöser, kosmologischer und metaphysischer Denkfiguren.3 Auf der anderen Seite ist zu konstatieren, dass weder der Begriff des Mythos noch die Mythenanalyse völlig aus der Soziologie verschwunden sind. Gerade im französischen Strukturalismus sowie in der historiographisch und wissenssoziologisch orientierten Soziologie nimmt die Mythenanalyse, insbesondere die Analogiebildung zwischen mythischem Denken und dem mythischen Gehalt nachmythischer (moderner) Denkmuster, traditionell einen breiten Raum ein.4 Entsprechend prägte Norbert Elias in diesem Zusammenhang auch die Vorstellung der Soziologie als „Mythenjäger[in]“, die soziale Verhältnisse und Prozesse nüchtern analysiert und die Mythen der modernen Gesellschaft offenlegt und seziert.5 Dabei verwendet er den Mythenbegriff in einer dezidiert ideologiekritischen Absicht.6 An die wissenssoziologische Tradition der Analyse von symbolischen Sinnstrukturen und Denkmustern schließen wir an, wenn wir in diesem Beitrag die Persistenz mythischer Sinnstrukturen im modernen Weltverständnis betonen und die Semantik des Fortschritts in Anlehnung an Ernst Cassi-
3
Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), S. 72-113.
4
Vgl. Mannheim, Ideologie und Utopie (1930); Barthes, Mythen des Alltags (1964); Eliade, Mythen, Träume und Mysterien (1961); Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I (1967); Berger, The Sacred Canopy (1967); Luckmann, The Invisible Religion (1967); und Meyer/Rowan, Institutionalized Organizations (1977).
5
Vgl. Elias, Der Soziologe als Mythenjäger (1986).
6
Dies ist jedoch nicht mit der vorherrschenden Verwendung des Mythenbegriffs in der Alltagswelt zu verwechseln, nach der ‚Mythen‘ hauptsächlich als ‚falsches‘ Wissen oder als ‚Irrglaube‘ verstanden werden. Ein Beispiel aus der aktuellen Medienwelt wäre hier etwa die Reihe „Mythos oder Medizin“ auf Spiegel-Online, abrufbar unter URL: http://www.spiegel.de/thema/mythos_oder_me dizin/ (24.03.2015).
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rers Philosophie der symbolischen Formen7 als einen zentralen Mythos der Moderne bezeichnen. Denn auch wenn das „mythische Denken“ (LéviStrauss) weitgehend aus dem Alltag und aus den Denkmodellen der Gegenwartsgesellschaft verbannt wurde, heißt das nicht, dass Heilserwartungen und mythologisch anmutende Heilsversprechen völlig verdrängt wurden. Im Gegenteil: die alten sinnstiftenden Mythen sind durch neue ‚große Erzählungen‘ beziehungsweise neue umfassende ‚Mythen‘ der Welterklärung abgelöst worden, die durch die immensen Erfolge der Naturwissenschaften und der industriellen Technikentwicklung in den vergangenen zwei Jahrhunderten eine hohe kulturelle Bedeutungsaufladung und eine breite soziale Basis erhalten haben.8 Einer der zentralen Mythen unserer hochgradig technisierten Moderne, dies ist die Hauptthese dieses Beitrages, ist die Semantik des Fortschritts, die in einer bestimmten historischen Situation wirksam und handlungsleitend geworden ist und seitdem in unterschiedlichen narrativen Formen und Variationen bis heute eine dominante Denkform der Moderne darstellt. Wo der Glaube an den Fortgang der Geschichte und an die Machbarkeit der Veränderung der Welt aufhört, dort liegen auch die Grenzen der technisierten Moderne und des Selbstverständnisses der Moderne, so wie wir sie kennen. Fortschrittsdenken und Fortschrittsglaube sind somit tief in der Kultur der Moderne verankert.9 Und an diesem Zusammenhang hat sich grundlegend bisher nichts verändert, auch wenn der ungebrochene Fortschrittsglaube im Alltag und in der Populärkultur der westlichen Moderne seit Jahrzehnten erschüttert ist und kritisch hinterfragt wird. Wir werden im Folgenden zunächst die Begriffe ‚Selbstbeschreibung‘, ‚Semantik‘ und ‚Mythos‘ (1) erörtern. Anschließend diskutieren wir den
7
Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil (2010).
8
Vgl. Meyer, Weltkultur (2005).
9
Ähnlich argumentiert auch der Philosoph Friedrich Rapp in seiner Abhandlung zur Entwicklung und zum Sinngehalt der Fortschrittsidee: „Die ‚Mythen‘ unserer Zeit sind der Fortschrittsgedanke und die Idee der Machbarkeit der Geschichte, der Glaube an Naturwissenschaft und Technik und die Erwartung einer beständigen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse. Sie bilden das allgemein akzeptierte, distanzlos und unbefragt als selbstverständlich gültig vorausgesetzte Bezugssystem, das unserem Denken und Handeln Sinn verleiht“. (Rapp, Fortschritt (1992), S. 117).
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modernen Mythos des Fortschritts (2), seine Genese (3), Stabilisierung (4) und Veränderung (5). Wir schließen mit einer Überlegung zur gegenwärtigen Bedeutung dieses Mythos (6).
1. S EMANTIK , S ELBSTBESCHREIBUNG , M YTHOS In Fortschrittserzählungen beschreiben und verstehen wir uns selbst. Wie alle Erzählungen folgen auch Fortschrittserzählungen bestimmten Regeln, nach denen die Elemente der Erzählung geordnet und verknüpft werden. Fortschrittserzählungen etwa beschreiben nicht ein Ereignis, sondern grundsätzlich einen Prozess, d.h. sie bringen mindestens zwei Ereignisse in eine zeitliche Ordnung und in eine sachliche Ordnung, in der sich das spätere als Steigerung, als Verbesserung des früheren verstehen lässt. Uns sind solche Verknüpfungsregeln vertraut, wir verstehen Erzählungen, die sie anwenden, und wir selbst wenden sie in unseren Erzählungen an. Diese Art und Weise, durch die Verknüpfung von Ereignissen in Fortschrittserzählungen regelhaft Sinn zu verarbeiten und zu erzeugen, funktioniert relativ unabhängig von Situation und Thema, d.h. es handelt sich um ein stabiles, etabliertes und verbreitetes Muster der Erzählung. Solche Muster bezeichnet Niklas Luhmann als „Semantiken“. Semantiken sind in diesem Verständnis stabile Regeln, in denen wir Sinn verarbeiten.10 Was für uns normal ist, ist demnach nicht schon immer normal gewesen. Das bedeutet auch, dass die Regeln, in denen wir Sinn verarbeiten, sich von den Regeln unterscheiden, in denen vergangene Sozialordnungen Sinn verarbeitet haben. Soziale Ordnungen haben sich nicht schon immer als fortschreitend verstanden und beschrieben. Soziologisch spannend ist also die Frage, wie die Semantik des Fortschritts aussieht, warum sie sich zu einer gesellschaftlichen Leitsemantik entwickelt und wie sie sich verändert. In Fortschrittserzählungen beschreiben wir Welt und uns selbst im Rahmen von Entwicklungsprozessen. Solche Erzählungen verwandeln wie alle anderen Erzählungen auch die Ordnung der historischen Ereignisse nach Regeln in eine Ordnung der Erzählung. Deren Logik ist nicht die der Ereignisse, sondern die Logik der symbolischen Form. Doch nicht schon diese Verwandlung macht eine Erzählung zum Mythos. Auch wenn Mythen
10 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition (1993), S. 19.
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sicher „erzählte Geschichte“11 sind, so ist doch nicht alle erzählte Geschichte mythologisch. Nach Roland Barthes wird eine Erzählung zum Mythos, wenn sie selbst in ihrer Bedeutung für etwas anderes steht, sie sozusagen zweitcodiert wird, in ein „sekundäres semiologisches System“12 eingebettet wird. Weil jede Erzählung in ihrer Bedeutung auch für etwas anderes stehen kann, kann nach Barthes auch jede Erzählung zum Mythos werden. Aber nicht jede Erzählung wird zum Mythos. Wann also wird eine Erzählung zum Mythos, wann werden Erzählungen in ein „sekundäres semiologisches System“ eingebettet? Im Fall der Fortschrittserzählungen scheint uns das der Fall zu sein, wenn diese nicht nur Prozesse in der Welt beschreiben, sondern durch diese Beschreibungen uns auch in der Welt verorten. Dazu müssen sie die Schranken unserer Erfahrung überschreiten. In dieser Weise hat Ernst Cassirer den Begriff des Mythos bestimmt. „Aber im Mythus beginnt der Mensch eine neue und seltsame Kunst zu lernen, die Kunst auszudrücken, und das bedeutet, seine am tiefsten verwurzelten Instinkte, seine Hoffnungen und seine Furcht zu organisieren. Diese Kraft der Organisation erscheint in ihrer größten Stärke, wenn der Mensch vor seinem größten Problem steht – dem des Todes.“13
Ein Mythos, so schließt Cassirer das Kapitel Was ist Mythus in seiner Abhandlung Der Mythus des Staates, macht „das Mysterium des Todes […] verständlich und erträglich“, indem er das „unerträgliche“ Faktum unserer Endlichkeit in einen symbolischen Ausdruck verwandelt.14 Doch der Mythos ist mehr als eine Objektivierung unserer Endlichkeit in einer Erzählung. Die Erfahrung der Endlichkeit der menschlichen Existenz ist nicht vor allem ein intellektuelles Problem, sondern ein emotionales. Deshalb begreift Cassirer als „eines der wesentlichsten Elemente des Mythus“,15 Aus-
11 Segal, Mythos (2007), S. 11. 12 Barthes, Mythen des Alltags (1964), S. 92. 13 Cassirer, Der Mythus des Staates (1985), S. 66f. 14 Ebd., S. 68f. 15 Ebd., S. 60.
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druck von Gefühlen zu sein. Der Mythos ist eine „Metamorphose der Furcht“.16 Mythische Erzählungen unterscheiden sich demnach erstens von anderen Erzählungen wesentlich dadurch, dass sie Welt nicht nur kognitiv, sondern auch emotional symbolisieren. Sie unterscheiden sich zweitens durch einen anderen Zeitbezug. Ihr Bezugspunkt ist die Einbettung der Weltzeit in eine transzendente Zeit. Durch die Überschreitung der Grenzen unseres Erfahrungsraums verorten Mythen uns in der Welt, sie geben unserem Sein eine klare, in Ursprungserzählungen durch die Orientierung auf den Anfang, in Untergangsmythen durch Orientierung zum Ende hin definierte zeitliche Struktur. Das Beispiel macht schon deutlich, dass Mythen kein Privileg vormoderner Sozialordnungen darstellen. Zu den wichtigsten Ursprungsmythen der Gegenwart dürften einerseits die mit milliardenschweren Forschungsprogrammen gestützten ‚Erzählungen‘ vom Ursprung der Welt gehören, in denen wir nicht nur die zeitlich letzten Ursprungsfragen zu beantworten suchen, sondern uns auch selbst in der Welt verorten, andererseits auch die lange Zeit mit millionenschwereren Forschungsmitteln gestützten Nationalerzählungen, in denen sich moderne Staaten als Einheiten von Völkern legitimieren.17 Soziologisch betrachtet handelt es sich bei solchen Erzählungen um Formen des Wissens, die unser Handeln und Erleben strukturieren. Darüber hinaus sind Erzählungen an der Grenze von Immanenz und Transzendenz wesentlicher Teil unseres Selbstverständnisses; sie sind identitätsrelevant, weil sie uns einen Ort und eine Stellung in der Weltzeit und der Weltordnung geben. Das scheint uns der Kern von Cassirers Einsicht zu sein, der zufolge der Mythos wesentlich ein symbolischer Ausdruck von Gefühlen ist. Mythische Erzählungen sind in diesem Verständnis nicht unvernünftig oder unaufgeklärt. Das Gegenteil ist der Fall. Mythen sind, wie Blumenberg sagt, weltenerschließend: Jede Ursprungserzählung macht uns unsere Stellung in der Welt verständlich und erschließt sie uns eben dadurch.18 Schon der Mythos, um eine bekannte Formulierung von Horkheimer und
16 Ebd., S. 66. 17 Vgl. Eliade, Mythen, S. 31f. und Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen (2010), S. 9-30. 18 Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos (2006), S. 12.
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Adorno zu zitieren, ist Aufklärung,19 aber eben eine Aufklärung, die unseren Erfahrungsraum überschreitet. Aufklärung und Mythos sind nicht, wie häufig angenommen, Gegenbegriffe. Aufklärung ist keine Entzauberung des Mythos durch wissenschaftliches Wissen. Denn auch das wissenschaftliche Wissen muss mit seiner selbst auferlegten Grenze, dem menschlichen Erfahrungsraum, umgehen. Damit hat es diese Grenze aber schon überschritten. Das wissenschaftliche Wissen ist nicht das Andere des Mythos, sondern ein anderes Wissen, ein Wissen, in dem das in jeder Erzählung enthaltene Bekenntnis zur Legitimität der Erzählperspektive nicht geglaubt werden muss, sondern bestritten werden kann. Das, was unbestritten außer Frage steht, der unhinterfragte common sense, ist dann das Element im wissenschaftlichen Wissen, das selbst mythischen Charakter hat. In der aufklärerischen Erzählung von der „Entzauberung der Welt“ (Weber) ist ein solches Element die Semantik des Fortschritts.
2. D ER M YTHOS
DES
F ORTSCHRITTS
Unter Fortschritt als Mythos verstehen wir ein grundlegendes Verständnis der Welt und ein grundlegendes Selbstverhältnis, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als kontinuierlicher Prozess der Verbesserung gedacht werden, und zwar so, dass dieser Prozess ohne zeitliches oder sachliches Ende ist.20 Die Semantik des Fortschritts, also die Regel, Ereignisse in der Zeit so aufeinander zu beziehen, dass sich das spätere als Verbesserung eines früheren und das darauf folgende als seine Verbesserung verstehen lässt, ist sicher kein exklusiver Besitz soziologischer Beschreibung sozialer Ordnungsbildung. Wir wüssten erst einmal keinen Bereich modernen Lebens, in dem solche Erzählungen nicht dominant oder wenigstens prominent vertreten wären – wir erinnern nur an die schon genannten Mythen vom Anfang der Welt oder die Nationalerzählungen, an den Darwinismus oder ganz allgemein an die menschliche Geschichte, wie sie an den Schulen und Universitäten gelehrt wird. Diese Geschichte wird als eine des Fortschritts erzählt. Wir verstehen fast alles als Fortschrittsgeschichte, die Entwicklung der Technik und der politischen Systeme, die Entwicklung der
19 Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (1987), S. 21. 20 Vgl. Rapp, Fortschritt (1992).
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Künste und der Wissenschaft, die Entwicklung der Strafsysteme und der psychiatrischen Behandlungsmethoden. Es sind allesamt Erzählungen einer Entwicklung im Sinne einer fortschreitenden Verbesserung. Das gilt auch für die Techniken des Tötens, die so weit optimiert worden sind, dass die Menschheit heute gleich mehrfach ausgelöscht werden kann. Das eigentümliche an der modernen Semantik des Fortschritts ist, dass das Ziel des Fortschreitens, das Ziel der Verbesserung, im Zuge der Entwicklung dieser Semantik zusehends unbestimmt wird. Der Prozess des Fortschreitens selbst tritt in den Vordergrund. Die moderne Semantik des Fortschritts zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nicht zuerst auf die Objekte bezieht, deren Verbesserung diagnostiziert wird, sondern auf den Prozess der Verbesserung selbst. Aber Fortschritt ist nicht nur eine Weise, Welt zu verstehen, nicht nur eine Semantik, eine Regel des Erzählens. Fortschritt ist auch eine Weise, sich zu sich selbst zu verhalten. Das heißt, Fortschritt ist auch eine Praxis. Wir verstehen die Welt nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Verbesserung, sondern wir verhalten uns auch so. Wir können unseren Geist durch ‚lebenslanges Lernen‘ kontinuierlich optimieren, unseren Körper durch medizinische Eingriffe etablierten Schönheitsidealen annähern, unsere Beziehungen durch ‚Beziehungsarbeit‘ verbessern, unsere Fremdsprachkenntnisse angeblich durch ‚Lernen im Schlaf‘ auffrischen usw. Und wir können es nicht nur, wir tun es auch. Was uns treibt, ist weniger die Sorge um unser Selbst, sondern die Furcht, zurückzufallen, d.h. sozialen Anforderungen nicht zu genügen. Der Semantik des Fortschritts korrespondiert subjektiv das Ideal einer durch Willen und Leistung erreichbaren Selbstoptimierung. Für diese Praxis der Selbstoptimierung gilt, was auch die Semantik des Fortschritts auszeichnet: Die Optimierung hat kein erreichbares Ziel, jede erreichte ‚Verbesserung‘ wird zur Grundlage weiterer Optimierung. Weil auch im Selbstverhältnis jede erreichte Veränderung zum Durchgangsstadium weiterer Optimierung wird, ist das Charakteristikum eines solchen Selbstverständnisses die Rastlosigkeit. Das ist anstrengend, zumal sich mit der Konzentration auf den Fortschritt um des Fortschritts willen der Blick weg vom Sinn und Zweck dieser Veranstaltung hin zu der zeitlichen Taktung des Fortschritts richtet, also auf die Optimierung des Fortschreitens selbst. Fortschreiten ist gut, schneller fortschreiten noch besser. Man stellt dann fest, dass der Fortschritt selbst eine zeitliche Struktur hat, die nicht linear, sondern exponentiell ist: Der
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Fortschritt beschleunigt sich.21 Dies macht sich in allen Lebensbereichen bemerkbar: Wissen veraltet nicht nur, es veraltet immer schneller, das gleiche gilt für technische Geräte und Verfahren usw. In der Folge wird das Alter, das ja in Agrargesellschaften aufgrund seines Erfahrungswissens hoch geschätzt ist, massiv abgewertet. Dieses Verständnis von Fortschritt als Prozess unendlicher Verbesserung, die auf ein zukünftiges, nicht erreichbares Ziel gerichtet ist, ist historisch recht neu, es kommt etwa im 18. Jahrhundert auf und setzt einen tiefgreifenden Wandel der Zeiterfahrung im Übergang zu modernen Sozialordnungen voraus, der in einer Auffassung kulminiert, der zufolge Geschichte ohne Ende ist. Diesen Erfahrungswandel werden wir nun näher skizzieren.
3. G ENESE
DES
F ORTSCHRITTSMYTHOS
Die Vorstellung linearen Fortschreitens ist nicht neu, schon bei den Griechen hat man Kulturentstehung als langsame Überwindung primitiver Zustände thematisiert. Aber die Art und Weise der Thematisierung ist nicht auf die Zukunft, sondern auf die Vergangenheit gerichtet, und wo das nicht der Fall ist, etwa in der Medizin oder der Wissenschaft, handelt es sich um besondere Ausschnitte der Lebenswelt, nicht aber um diese Lebenswelt insgesamt.22 Auch das Christentum kennt die Idee des Fortschritts auf Erden, aber diese Idee bleibt eingebunden in ein heilsgeschichtliches Weltbild, dessen oberstes Ziel die Vereinigung mit Gott ist. Die Weltzeit hat Anfang und Ende, und beides ist durch göttlichen Willen festgelegt. Die Zukunft ist nicht offen, sondern geschlossen. Das ändert sich im Übergang zur Moderne. Zukunft gilt nicht länger als ein Ende oder ein Ziel, sondern als ein prinzipiell offener Raum von Möglichkeiten. Dieser Raum wird selbst weltlich gedacht, d.h. er wird nicht durch Gott, sondern durch Vergangenheit und gegenwärtige Entscheidungen bestimmt. Mit dieser Temporalisierung von Zukunft verliert die Idee des Fortschreitens ihren Zielpunkt und ihre Begrenzung auf bestimmte Sektoren der Lebenswelt. Hinzu kommt, dass Zeit traditionell objektbezogen und an Tätigkeiten gebunden ist: Schlafenszeit, Erntezeit, Essenszeit usw.
21 Vgl. Rosa, Beschleunigung (2005). 22 Vgl., auch zum Folgenden: Meier/Koselleck, Fortschritt (1994).
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Diese objektbezogene Zeit ist nicht abstrakt und gleichförmig getaktet, sondern an der Tätigkeit ausgerichtet. Erst mit der Etablierung abstrakter Zeit und ihrer einheitlichen Messung durch öffentliche Uhren kann der Fortschritt zur Universalmetapher der Entwicklung von allem und jedem werden. Aus den Geschichten von Fortschritten etwa der Naturbeherrschung, der Baukunst, der Malerei, der Musik usw. wird der Fortschritt der Geschichte. Vor dem 19. Jahrhundert gibt es diese Weise der Deutung von Welt zwar schon, aber sie wird nicht unter dem Titel ‚Fortschritt‘ verhandelt. Doch auch mit Begriffen wie Progressus, ‚Perfektibilität‘ oder ‚Vervollkommnung‘ ist ein Weltverstehen bezeichnet, in dem Weltgeschichte als Entwicklungsgeschichte gedacht ist. Der Clou an dieser Entwicklungsgeschichte ist, dass sie der heilsgeschichtlichen Auffassung, man bewege sich auf ein göttliches Ziel hin, verhaftet bleibt. Die Genese des modernen Fortschrittsmythos ist wesentlich eine Säkularisierung dieses Ziels. Der Fortschrittsmythos ist nicht das Andere der Heilsgeschichte, er baut vielmehr auf ihr auf und wandelt sie um. Der Fortschrittsmythos wird nicht in einem leeren semantischen Raum erfunden, sondern entwickelt sich – wie andere Mythen auch – aus vormodernen Mythen, die in der fortlaufenden Gegenwart umgeschrieben werden. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an Kant, bei dem ein Verständnis von fortschreitender Verbesserung, die sich auf die Geschichte selbst bezieht, voll ausgeprägt ist. In der kurzen geschichtsphilosophischen Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) geht Kant davon aus, dass die politische Ordnung sich in Richtung einer bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. Damit meint Kant eine Gesellschaft, in der die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller anderen zusammen bestehen kann. Aber dieses Ziel ist unerreichbar. Wir können uns ihm nach Kant nur annähern, wir sind ewig Strebende. Menschliche Geschichte wird in diesem Verständnis zu einem Prozess fortschreitender Verbesserung der jeweiligen Gegenwart.23 Der heilsgeschichtliche Rest dieses Geschichtsverständnisses besteht in der Formulierung des unerreichbaren Ziels, also der regulativen Idee einer bürgerlichen Gesellschaft, die dem ewigen Fortschreiten Maß und Richtung gibt. Zukunft ist in diesem Verständnis radikal verzeitlicht, jede neue Zukunft wird als Gegenwart zum Ausgangspunkt
23 Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte (1973), S. 12.
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weiterer Verbesserung. Das gilt natürlich auch für die Vergangenheit, die im Lichte der Gegenwart grundsätzlich weniger hell strahlt. Diese Bindung der Fortschrittsidee an ein Ziel des Fortschritts ist noch im 19. Jahrhundert alles andere als unüblich. Das bekannteste Beispiel ist sicher die Geschichtstheorie von Marx und Engels, welche Geschichte als Fortschrittsgeschichte denkt, die dann in der klassenlosen Gesellschaft ein Ende findet.24 Mit der im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmenden Kritik an zwar säkularen, aber doch teleologischen Geschichtsvorstellungen wird es zunehmend fragwürdig, den geschichtlichen Fortschritt zielorientiert zu denken. In den soziologischen Zeitdiagnosen ist ein solches Ziel zwar nicht verschwunden (auch wenn es sicher nicht als der Geschichte immanentes Telos gedacht wird), aber an die Stelle der Zielorientierung ist die Prozessorientierung getreten. Die Erzählung sozialer Ordnungsbildung wird weiter als Fortschrittsgeschichte begriffen, aber nun als eine Fortschrittsgeschichte, in der das Fortschreiten selbst zum Maß wird. Dieser Prozess kulminiert in der postmodernen Kritik der ‚großen Erzählungen‘ im ausgehenden 20. Jahrhundert bei Lyotard,25 die die letzten Reste der Gerichtetheit von Entwicklung als Mystizismus entlarvt. Übrig bleibt indes der Zentralmythos der Moderne, der sich selbst als Aufklärung versteht: Alles ist als Fortschreiten zu denken, jeder Endpunkt immer nur neuer Ausgangspunkt. Geschichte wird als ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess gedacht, in dem die Gegenwart als das verbesserte Produkt der Vergangenheit verstanden wird und die Zukunft als das verbesserte Produkt der Gegenwart. Als Selbstverständnis und Selbstverhältnis ähnelt der Mythos des Fortschritts einerseits dem antiken Mythos des Sisyphos: Rastlosigkeit und Unerreichbarkeit eines Ziels sind sein Programm. Andererseits zeichnet der Mythos des Fortschritts kein Bild unnützer Tätigkeit, sondern ein Bild fortwährend optimierter Tätigkeit. Im Mythos des Fortschritts besteht die Aufgabe zuerst darin, den Felsblock mit eigenen Händen den Berg hinauf zu wälzen. Bald wird diese Aufgabe mit Hilfe von Maschinen erledigt. An die Stelle der Maschinen tritt dann ein Lastauto. Nur das Ankommen, das will und kann nicht gelingen, aber eben nicht, weil die Aufgabe immer von neuem wieder begonnen werden muss, sondern weil ihre Optimierung nie
24 Vgl. Marx/Engels, Manifest (1990). 25 Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen (1986).
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zu einem Ende kommt. Das ist im modernen Mythos des Fortschritts jedoch kein Fluch, sondern ein Segen: Das Bemühen, den Fels den Berg hinaufzubekommen, ist zwar so aussichtslos wie schon für Sisyphos. Aber die fortschreitende Optimierung der Techniken, mit denen der Fels bewegt wird, verwandelt die endlose Mühsal in einen Prozess endloser Verbesserung, den Fluch in Erfüllung. Stellt man sich Sisyphos im Modus des Fortschritts vor, ist er kein verfluchter, sondern ein glücklicher Mensch. Es ist mit Sicherheit alles andere als ein Zufall, dass sich die Semantik des Fortschritts in einer Zeit etabliert, in der der Kapitalismus zur dominanten Wirtschaftsform wird. Der Kapitalismus zeichnet sich als Wirtschaftsweise gegenüber allen anderen bekannten Wirtschaftsformen dadurch aus, dass er nur bestehen kann, indem er durch Reinvestition von Kapital wächst. Ziel des Wachstums ist: Wachstum. Kapital wird verwertet, um mehr Kapital verwerten zu können.26 Wachstum ist grundsätzlich nach zwei Richtungen möglich, nach Außen und nach Innen. Nach Außen ist die Begrenztheit des Globus eine harte Schranke. Wachstum nach Innen nennt die Soziologie Kommodifizierung. Damit ist gemeint, dass fortwährend Handlungsfelder, die es bisher nicht gab oder die es gibt, die aber nicht warenförmig organisiert sind, der Kapitalverwertung zugeführt werden. Beispiele sind etwa die Kommodifizierung der Haushalte im 20. Jahrhundert oder des Mobilfunkmarktes. Die Folge von Kommodifizierung ist eine permanente Veränderung unserer Lebenswelt, und zwar nicht nur in technischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Kommodifizierung bedeutet fortschreitende Individualisierung, da warenförmige soziale Beziehungen grundsätzlich auf die vorgängige Entscheidung von Individuen, einen Tauschakt einzugehen, zurückverweisen. Auch das illustrieren wir an einem Beispiel: Individualisierte Liebesbeziehungen, so wie wir sie heute kennen, mit individualisierten Partnerschaftsritualen wie Paartänzen, dem gemeinsamen Essen im Restaurant usw., basieren auf einer massiven Kommodifizierung der romantischen Liebe, also darauf, dass Paare sich durch den Einsatz von Geld private Räume in der Öffentlichkeit schaffen können, z.B. das Kino, das Tanzlokal, das Restaurant usw.27 Diese fortschreitende technische und soziale Verän-
26 Vgl. dazu Marx, Kapital (1993), Kapitel 4. 27 Dazu Illouz, Der Konsum der Romantik (2007). Dieser permanente Wandel der Lebenswelt mag durch die Logik des Kapitalismus induziert sein, wir selbst er-
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derung unserer Lebenswelt macht die Semantik des Fortschritts in einer großen Erzählung verständlich, der Erzählung unserer fortschreitenden Individualisierung, d.h. der Befreiung aus ‚vormodernen‘ Abhängigkeitsverhältnissen. Man könnte also sagen, dass die Semantik des Fortschritts eine soziale Praxis der permanenten Veränderung unserer Lebenswelt aufnimmt und in die symbolische Form einer Erzählung transformiert. Dafür spräche auch, dass das 19. Jahrhundert die Phase der Festigung optimistischer Fortschrittserzählungen ist.
4. S TABILISIERUNG UND I NFLATION DER F ORTSCHRITTSSEMANTIK IM Z EITALTER DER TECHNOLOGISCHEN E XPANSION Die Phase der Industrialisierung, die Etablierung von Nationalstaaten und die damit einhergehende Mobilisierung von Gesellschaften unter dem Banner des ‚Aufstiegs‘ und der ‚Blüte‘ der Nation und auch der Aufstieg der modernen Natur- und Technikwissenschaften ab Mitte des 19. Jahrhunderts läuten ein Zeitalter allgemeiner Fortschrittseuphorie und Fortschrittsgläubigkeit ein, das es vorher in dieser Form nicht gegeben hat.28 Die ersten Weltausstellungen in London, Paris und New York in den 1850er bzw. 1860er Jahren sind Festivals des technischen Fortschritts und der technologischen Modernisierung.29 Die großen Erfinder dieser Zeit, die berühmtesten Physiker, Mediziner und Biologen des 19. Jahrhunderts, die Architekten und Baumeister der sogenannten ‚Gründerzeit‘ gelten uns als Pioniere des Fortschritts und werden als Wegbereiter von Wohlstand und Entwicklung verehrt. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch an der Benennung von Straßennamen und von ehrwürdigen Organisationen und Institutionen in Gedenken
leben ihn nicht nur als Wandel, sondern ebenso als Zunahme an Entscheidungsmöglichkeiten. Das mag irgendwann auch zu einer Last werden, aber erst einmal meint Warenförmigkeit ja immer auch, dass sich Individuen entscheiden müssen, etwas zu erwerben oder eben nicht (sofern sie zahlungskräftig sind). 28 Vgl. Kaschuba, Die Überwindung der Distanz (2004) und Osterhammel, Die Verwandlung der Welt (2011). 29 Vgl. Trischler/Kohlrausch, Building Europe on Expertise (2014), S. 5ff.
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und als Verehrung der berühmtesten Pioniere des Fortschritts.30 Der Siegeszug der Wissenschaften und die Etablierung immer neuer Disziplinen und wissenschaftlicher Forschungszweige ist vor allem auch der für alle zur damaligen Zeit greif- und sichtbaren Symbiose von wissenschaftlichtechnischem ‚Fortschritt‘ und gesellschaftlicher Entwicklung geschuldet. Die Erfolge der modernen Medizin und der Hygienebewegung des späten 19. Jahrhunderts können hier als paradigmatisch angesehen werden. Die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Disziplinen wie der Psychologie oder der modernen Managementwissenschaft stand im Lichte der Fortschritts- und Verbesserungseuphorie der ‚neuen Zeit‘. Aber auch über den Bereich des technologischen Wandels hinaus ist der Mythos des Fortschritts zum Leitbild gesellschaftlicher Entwicklung und sozialer Mobilisierung avanciert. Die neuen politischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die Nationalbewegungen wie die sozialistisch orientierten Arbeiterbewegungen – und später auch die Ideologien des Faschismus und des Kommunismus – setzten alle gleichermaßen die Mythen des Fortschritts gegen die alten, zunehmend als hinderlich und überkommen erscheinenden Erzählungen der Monarchie bzw. des aristokratisch geprägten (Groß-)Bürgertums.31 Das ‚alte‘ Europa und die alte monarchistisch geprägte Welt galt es zu überwinden, die ‚neue Welt‘ und insbesondere die Zentren und Keimzellen des neuen Industrie- und Finanzkapitalismus in ‚Amerika‘ galten als Referenz für Fortschritt und Entwicklung. Daran hat
30 Man denke etwa – um nur einige Beispiele zu nennen – an die weit verbreitete Benennung von Straßen und von Forschungsinstitutionen nach herausragenden Forscherpersönlichkeiten dieser Zeit, etwa nach Louis Pasteur (1822-1895) und Robert Koch (1843-1910), die Begründer der modernen Bakteriologie und Mikrobiologie, oder nach Max Planck (1858-1947), den Nobelpreisträger und Begründer der Quantenphysik. Auch die Einrichtung des Nobelpreises fällt genau in jene Periode. Der Nobelpreis wurde erstmals im Jahr 1901 durch Vollstreckung des Testaments des schwedischen Erfinders und Industriellen Alfred Nobel (1833–1896) ins Leben gerufen, und er gilt bis heute als die weltweit prestigeträchtigste und höchste Auszeichnung für zentrale Fortschritte und Meilensteine im Bereich der Naturwissenschaften, der Ökonomie und in der Kultur (zumindest im Bereich der Literatur). 31 Vgl. Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation (2011) und Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme (1998).
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sich auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach den beiden Weltkriegen zunächst nicht grundlegend etwas verändert, auch wenn diese mit ihrem unermesslichen menschlichen Leid und ihren Verwerfungen eine erste große Zäsur im Fortschrittsoptimismus der modernen Welt markieren.32 Die Nachkriegszeit war geprägt von einer neuen Phase der Entwicklungs- und Fortschrittseuphorie – wenn auch im Wettstreit zweier sich antagonistisch gegenüberstehender politischer Systeme. In der ‚westlichen‘ bzw. ‚westlich geprägten‘ Welt setzte sich das US-amerikanische Entwicklungsmodell mit seiner starken Fokussierung auf industriekapitalistische Entwicklung durch Massenkonsum vollends durch. Auch in den sowjetkommunistisch geprägten Ländern wurde der Mythos des Fortschritts durch wissenschaftlich-technologische Innovation und durch Industrialisierung stark befördert. Im Mittelpunkt der kommunistischen Fortschrittsutopie standen jedoch nicht nur die ständige Verbesserung und Verfeinerung der materiellen Lebensbedingungen, sondern die Schaffung einer neuen (klassenlosen) Gesellschaftsordnung und damit die Verwirklichung einer vom Westen abweichenden Vorstellung von ‚Fortschritt‘ und ‚Gerechtigkeit‘.33
5. K RITIK UND V ERÄNDERUNG DER MODERNEN F ORTSCHRITTSSEMANTIK IM 20. J AHRHUNDERT : R EVISION UND V ERNETZUNG MIT GEGENLÄUFIGEN E RZÄHLUNGEN Eine soziologische Darstellung und Diskussion des Fortschrittsmythos der Moderne wäre unvollständig, wenn sie dessen andere Seite, die Kritik und Ablehnung des emphatischen Fortschrittsglaubens, nicht thematisieren würde. Denn der vorherrschende Fortschrittsglaube wurde und wird immer wieder in Frage gestellt und fortlaufend dekonstruiert. Bestehende Modelle des Fortschritts werden durch andere (bessere) Vorstellungen und Modelle des Fortschritts ersetzt, oder die Idee des Fortschritts wird – wie etwa in heutigen Diskursen über Post-Development oder Post-Wachstum – von ei32 Vgl. Horkheimer/Adorno, Die Dialektik der Aufklärung (1987); Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen (1957); und Bauman, Moderne und Ambivalenz (1992). 33 Vgl. Meyer, Weltkultur (2005) und Arnason, The Future that Failed (1993).
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nigen Kritikern gänzlich dekonstruiert. Hier stellt sich also die Frage, wie zentral und wie stabil der Fortschrittsmythos noch ist. Hat sich der Mythos des Fortschritts durch dessen Kritik und Dekonstruktion in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert? Was überwiegt: Kontinuitäten oder Brüche? Und bedeuten die heutigen Diskurse über die Abkehr vom Wachstumsmodell tatsächlich eine Abkehr vom ursprünglichen Fortschrittsmythos? Dies sind Aspekte, die im Nachdenken über die Stellung des Fortschrittsbegriffs angesichts einer wachsenden Fortschrittsmüdigkeit und Fortschrittskritik insbesondere in den ehemaligen Hochburgen der Fortschrittseuphorie in Europa und Nordamerika heute in besonderem Maße zur Debatte stehen. Dabei ist zunächst zu betonen, dass die Kritik der Moderne und vor allem auch die Kritik des Fortschrittsmythos im Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Beherrschung nicht erst im 20. Jahrhundert aufkamen, sondern spätestens seit Beginn der Moderne ‚diskursiv‘ immer schon mitgelaufen sind. Man denke etwa an die großen romantischen Gegenbewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts, an die Kulturkritik des beginnenden 20. Jahrhunderts, die nicht nur die Widersprüche und die „Krisis“ der modernen Kultur (Georg Simmel) deutlich herausarbeitete, sondern auch den „Untergang“ (Oswald Spengler) der westlichen Zivilisation insgesamt heranbrechen sah.34 Diese Kritik erhielt durch die sozialen Verwerfungen, die der Industriekapitalismus hervorbrachte und vor allem auch durch die Erfahrungen der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusätzlich Nahrung. Aber auch die neu entstandene Fortschrittseuphorie der Nachkriegszeit hatte in keinem der beiden Systeme lange Bestand, wie die Studentenproteste rund um 1968 und die daran anschließende Phase der Systemkritik in West und Ost eindrücklich belegen.35 Die real existierenden kommunistischen Systeme und ihre Fortschrittsversprechen wurden von aufkeimenden Oppositionsbewegungen vehement hinterfragt und bekämpft. Aber auch in der westlichen Welt macht sich spätestens in den 1970er Jahren eine allgemeine Kritik am westlichen Entwicklungsmodell breit. Soziale Bewegungen kritisieren die Verwerfungen westlicher Entwicklungspolitik in Afrika und
34 Vgl. Simmel, Die Krisis der Kultur (2000) und Spengler, Der Untergang des Abendlandes (1922). 35 Vgl. Negt, Achtundsechzig (1995).
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Lateinamerika und die verheerenden Auswirkungen wissenschaftlichtechnischer Modernisierung auf Mensch und Umwelt. Natur- und Sozialwissenschaftler diskutieren „Strukturprobleme“ (Offe) sowie einseitige und eindimensionale Entwicklungsvorstellungen des westlichen Industriekapitalismus.36 Die Rede von den Grenzen des Wachstums wird populär – effektvoll und strategisch in Szene gesetzt durch eine Gruppe von Wissenschaftlern des sogenannten Club of Rome.37 Und auch in der New Age-Bewegung machten sich vor allem junge Menschen aus den Zentren der westlichen Industriegesellschaften auf die Suche nach nicht-westlichen Lebensentwürfen. Die Diskurse der siebziger Jahre bilden die Grundlage für die daran anschließenden Nachhaltigkeitsdiskurse und die Etablierung und Durchsetzung von Umweltstandards und Umweltpolitiken in den 1980er und 1990er Jahren.38 Sie bilden auch die Grundlage für die gegenwärtigen Diskurse rund um ‚Entschleunigung‘, ‚Ressourceneffizienz‘ und ‚Postwachstum‘. Im Kern geht es in diesen Debatten um eine grundlegende Reflexion und Revision einseitiger ökonomischer Entwicklungs- und Wachstumsvorstellungen. Ein stärkerer Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie wird eingefordert, zum Teil auch eine radikale Abkehr von der Wachstums- und Steigerungslogik des Industriezeitalters.39 Von einem emphatischen Fortschrittsoptimismus oder gar von einer Fortschrittseuphorie, wie es sie im 19. Jahrhundert und zum Teil auch Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben haben mag, ist heute in Deutschland und auch in anderen Teilen der westlichen Welt kaum mehr etwas zu spüren. In der Gegenwart ist der Fortschrittsbegriff weitgehend aus dem etablierten Kanon politischer Kommunikation und Mobilisierung verschwunden. Heute wird in der Politik anstelle einer
36 Vgl. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates (1973) und Senghaas, Peripherer Kapitalismus (1974). 37 Meadows u.a., Die Grenzen des Wachstums (1972). 38 Der Nachhaltigkeitsbegriff selbst und die Debatte um Nachhaltigkeit sind freilich schon viel älter. Sie lassen sich bis in das 18. Jahrhundert zurück verfolgen. In den achtziger und neunziger Jahren wurde der Nachhaltigkeitsbegriff jedoch von sozialen Bewegungen aufgegriffen und erhielt Eingang in offizielle politische Programme und Verlautbarungen. Zum Nachhaltigkeitsbegriff siehe Grunwald/Kopfmüller, Nachhaltigkeit (2012). 39 Vgl. Welzer, Selbst denken (2013).
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emphatischen Verwendung des Fortschrittsbegriffs eher mit Begriffen wie ‚Erneuerung‘ (vgl. ‚New Labour‘ oder ‚Neue Soziale Marktwirtschaft‘), Innovation, Modernisierung (im Sinne von kontinuierlicher Verbesserung) oder gar nur von ‚Bewahrung‘ (etwa der ‚Wettbewerbsfähigkeit‘, des ‚Wachstums‘ oder des materiellen ‚Wohlstands‘) hantiert. Und auch der Mythos des Fortschritts selbst hat im Laufe der Zeit einige Transformationen und Veränderungen erfahren. Er weist eigentümliche Vernetzungen mit anderen, zum Teil gegenläufigen Mythen und Erzählungen auf, etwa dem Mythos der Nachhaltigkeit, der Endlichkeit von Ressourcen oder gar dem Untergangsmythos einer drohenden ökologischen Katastrophe. Aber deutet sich hier tatsächlich ein grundlegender Wandel des alten Fortschrittsmythos oder gar eine Abkehr von etablierten Fortschritts- und Entwicklungsvorstellungen an? Diese Frage wird abschließend genauer erörtert. Unsere Antwort fällt dabei ambivalent aus. Denn wir können einerseits eine klare Tendenz zu einer grundlegenden Revision und Transformation bestehender Fortschrittsvorstellungen feststellen, die mit handfesten sozialen Entwicklungen und sozialstrukturellen Veränderungen korrespondiert. Andererseits sehen wir keine Anzeichen dafür, dass der Mythos des Fortschritts trotz einer starken Veränderung der Fortschrittssemantik grundlegend an Gewicht und an Bedeutung verliert.
6. E NDE ODER K ONTINUITÄT F ORTSCHRITTSMYTHOS ?
DES MODERNEN
Die soeben beschriebene Transformation des modernen Fortschrittsmythos gegen Ende des 20. Jahrhunderts korrespondiert einerseits in der Tat mit einem grundlegenden Wertewandel, der in der einschlägigen soziologischen Forschungsliteratur üblicherweise als Übergang von überwiegend materialistischen hin zu einer stärkeren Betonung und Durchsetzung von postmaterialistischen Wertorientierungen beschrieben wird. Dieser Wertewandel ist verbunden mit einer massiven Veränderung der Sozialstruktur hochindustrialisierter westlicher Gesellschaften in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten, die schlagwortartig mit den Stichworten ‚Bildungsexpansion‘, ‚Fahrstuhl-Effekt‘, ‚Enttraditionalisierung‘, ‚Individualisierung‘ zusammen-
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gefasst werden kann. 40 Getragen wird dieser Wandel, der eine massive Kritik der früheren Fortschrittsideen und -utopien und Prozesse des Nachdenkens über Alternativen und alternative Modelle in Gang setzt, von akademisch gebildeten, meist links-liberalen Milieus. Die Idee des Fortschritts und der Verbesserung wird hier nicht grundlegend abgelehnt, aber der bisherige Weg und die bisherige Utopie einer Verbesserung der Lebensverhältnisse (und insbesondere der Lebenszufriedenheit und des allgemeinen Wohlbefindens) durch Steigerung des materiellen Wohlstands wird in Frage gestellt: Es geht nicht mehr um die Steigerung des Wohlstands, sondern um Werte wie Selbstverwirklichung oder Umweltschutz. Dem entspricht auch eine Veränderung in den politischen Programmen der westlichen Sozialordnungen, in denen etwa auf ‚Nachhaltigkeit‘ gesetzt wird. Vor diesem Hintergrund läge es nahe, den Niedergang, wenn nicht gar die Auflösung, des etablierten Fortschrittsmythos der Moderne zu konstatieren. Allerdings sollten wir hier nicht allzu vorschnelle Schlüsse ziehen. Denn wir meinen, dass auch hier die der Semantik des Fortschritts eigene Steigerungslogik nicht in Frage gestellt wird, sondern nur anders akzentuiert und pointiert wird. Der Nachhaltigkeitsdiskurs etwa denkt nachhaltige Entwicklung dominant als einen unabschließbaren fortschreitenden Prozess, in dem jede erreichte Verbesserung zur Grundlage erneuter Verbesserung wird. Wie sonst könnte man an der Vorstellung einer ‚besseren Welt‘ festhalten und entsprechende Verhaltensänderungen einfordern, wenn man nicht prinzipiell an der Idee einer Verbesserung der Lebensverhältnisse in der Zukunft festhielte? Doch das postmaterialistische Fortschrittsverständnis hat das traditionelle nicht einfach abgelöst, es steht vielmehr in Konkurrenz zu diesem und es ist alles andere als ausgemacht, welches am Ende dominieren wird. So erleben wir spätestens seit Beginn der achtziger Jahre eine starke Ausweitung des Steigerungs- und Wachstumsdenkens, nicht zuletzt durch die Durchsetzung neoklassischer Modelle in der Wirtschaftspolitik. Dies wird heute gemeinhin als eine Phase der ‚Neoliberalisierung‘ bezeichnet.41 Aber auch weit über das Wirtschaftsleben hinaus zeichnet sich seit den achtziger Jahren eine neue Phase der Mobilisierung und Aktivierung von ‚Humanka-
40 Vgl. Beck, Risikogesellschaft (1986); Schulze, Erlebnisgesellschaft (1992); und Inglehart, Modernisierung und Postmodernisierung (1998). 41 Vgl. Streeck, Gekaufte Zeit (2013).
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pital‘ im Zeichen einer Erhöhung der Wirtschaftsleistung und der Verbesserung von materiellen Lebensbedingungen ab. Dies gilt für die Aktivitäten von staatlichen Akteuren ebenso wie für die Aktivitäten von nichtstaatlichen Akteuren von NGOs bis zu Wirtschaftsunternehmen. Die Politik der Nationalstaaten ist allen Umweltschutz- und Klimawandeldiskursen zum Trotz ganz auf die Mehrung von Wirtschaftswachstum und auf die Fortschreibung der Strategie der Entwicklung durch technologische Modernisierung ausgerichtet. Sie etablieren Freihandelsabkommen und regionale Wirtschaftsblöcke, um den Austausch von Kapitel, Waren und Dienstleistungen zu erleichtern und damit immer wieder neue Wachstumsoptionen zu erzielen.42 In den angewandten Organisations- und Managementwissenschaften setzen sich neue Semantiken und Praktiken der Steuerung von Menschen und sozialen Prozessen durch.43 Alles, was das Verhalten von individuellen Akteuren, aber auch die ‚Performance‘ von Teams, Organisationen und Wirtschaftsunternehmen beeinflusst, wird heute systematisch unter dem Gesichtspunkt möglicher Optimierung erforscht. In den Konzepten des ‚lebenslangen Lernens‘ und der ‚lernenden Organisation‘ ist die Fortschrittsutopie einer ständigen Weiterentwicklung und Verbesserung schon sprachlich angelegt. Und die umfassende und überall um sich greifende Digitalisierung des Lebens verspricht neue Möglichkeiten der Optimierung, Verbesserung und Weiterentwicklung des individuellen und des sozialen Lebens: vom intelligenten Heim bis zum selbstfahrenden Auto, vom ressourcenschonenden Kühlschrank bis zur digital überwachten Gesundheitsvorsorge und algorithmisch optimierten Partnersuche. All diese Entwicklungen deuten – trotz aller Abgesänge auf den Fortschritt – auf eine bemerkenswerte Kontinuität des Fortschrittsmythos der Moderne hin. Wir haben es hier also mit einer eigentümlichen Gleichzeitigkeit und Konkurrenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklungsvorstellungen und Zukunftsentwürfe von sehr unterschiedlichen Sozialmilieus und sozialen Gruppen zu tun. Das Besondere an diesen Entwürfen scheint zu sein, dass sie einer Logik der Verbesserung und Steigerung folgen. Die in vielen gegenwärtigen Entwürfen präsente Erzählung einer dunklen und bedrohlichen Seite des Fortschritts, etwa in Form der Thematisierung der Folgen der ‚Klimakatastrophe‘, soll durch einen anderen, besseren, grüneren,
42 Vgl. Büttner, Mobilizing Regions, Mobilizing Europe (2012). 43 Vgl. Boltanski/Chiapello, Der neue Geist (2006).
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nachhaltigeren ‚Fortschritt‘ bewältigt werden. Die Semantik des Fortschritts kommt auf beiden Seiten vor. Es scheint sich hier nicht nur um eine tief in der modernen Kultur verankerte Semantik zu handeln, sondern auch um eine Semantik, die sich selbst stabilisiert, indem sie das Kritisierte, also etwa die fatalen Folgen des technisches Fortschrittsoptimismus, und das Gegenmittel, also etwa nachhaltige Verbesserung, der gleichen Regel der Steigerung unterwirft. Aus dieser Regel gibt es anscheinend kaum ein Entrinnen.
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Starmythen – mythische Stars. Stars als ‚Trickster‘ im 20. und 21. Jahrhundert am Beispiel von Michael Jackson, Marlene Dietrich, Marilyn Monroe und Madonna J AN -O LIVER D ECKER
1. T HEORETISCH - METHODISCHE V ORÜBERLEGUNGEN : M EDIENSEMIOTIK – M YTHOS – S TARIMAGE In der Mediensemiotik wird jede Form von Kultur als Produkt multimodaler Kommunikation in einem Mediendispositiv betrachtet.1 Auf der Ebene des konkreten medialen Artefakts bedeutet dies die Kombination unterschiedlicher Zeichensysteme wie Sprache, Gestik, Mimik, Schrift, Bild, bewegtes Bild, Musik etc., die durch unterschiedliche audiovisuelle Informationskanäle transportiert werden.2 Die unterschiedlichen medialen Formate und konkreten Texte bilden als Kontext füreinander die medial in Texten archivierte Kultur aus, die sich als Semiosphäre organisiert.3 Kultur manifestiert sich damit als flüchtiger oder gespeicherter Text, der auf der Basis der Kodes, welche die Zeichensysteme definieren, gelesen werden
1
Vgl. Decker/Krah, Mediensemiotik und Medienwandel (2011) und Krah/Titz-
2
Vgl. Gräf u.a., Filmsemiotik (2011), S. 24-70, besonders 27.
3
Vgl. Lotman, Über die Semiosphäre (1990), Decker/Krah, Mediensemiotik und
mann, Medien und Kommunikation (2013).
Medienwandel (2011) und Koschorke, Explosion und Peripherie (2012).
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kann.4 Dabei sind selbstverständlich nicht alle Texte und Textsorten gleichrangig. Vielmehr strukturiert sich nach Jurji Lotman die Semiosphäre – das ist der auf Kommunikation mittels Zeichen beruhende Raum der Kultur – nach gruppen- und epochenspezifischen, also kulturell synchron und diachron variablen Regeln in ein stabiles Zentrum und eine dynamische Peripherie. An der Peripherie werden durch Kontakt zwischen kulturellen Teilräumen Übersetzungsleistungen und in ihrer Folge Wandelprozesse motiviert (bspw. zwischen Sub- und Hochkultur, zwischen unterschiedlichen National- oder Medienkulturen), die neue Kodes, kanonische Texte, kulturelle Praxen, Dispositive und Diskurse als Zentrum der Semiosphäre verfestigen und sich als kulturelles Wissen stabilisieren, während anderes an die Peripherie verdrängt wird.5 Das Verhältnis zwischen kulturellem Wissen und Texten ist dabei durch Lotmans Prinzip des sekundären modellbildenden semiotischen Systems beschreibbar.6 Nach Lotman bedienen sich audiovisuelle und andere Texte primärer Zeichensysteme wie Sprache, Schrift, Musik, Filmbilder etc., die selber schon primäre Modellbildungen darstellen, also kulturelle Wirklichkeit abbilden und formen. Durch die Verwendung dieser primären Zeichensysteme etablieren Medien in konkreten Texten aber ganz eigene, sekundäre Modellbildungen, die zu unserer primären Vorstellung von Wirklichkeit in eine spannungsgeladene Beziehung treten können: Filme, Videos und Texte können kulturelle Standards relativieren und kommentieren, sie können Bezug auf kulturelle Probleme nehmen und Lösungen vorschlagen oder vielleicht auch schon denken, was noch nicht von der Mehrheit einer Kultur akzeptiert werden kann. Medien bilden also unsere kulturelle Wirklichkeit nicht einfach ab. Vielmehr übersetzen sie eine zuerst vorgängige kulturelle Wirklichkeit in ihre eigene mediale Wirklichkeit zweiter Ordnung. Auf diese Weise leisten Medienprodukte eine Komplexitätsreduktion unserer primären Wirklichkeit und ermöglichen damit eine Verhandlung von kulturellen Problemen. Medien sind also nicht Abbild einer Wirklichkeit, sondern
4
Vgl. Posner, Kultursemiotik (2003), S. 39-71.
5
Vgl. Lotman, Über die Semiosphäre (1990).
6
Vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte (1972) und Krah, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen (1999).
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eine kulturelle Selbstreproduktion, die einzelne Mentalitäten einer Kultur reflektiert.7 Wichtig für die kulturelle Funktion von Stars als Gegenstand des kulturellen Wissens sind in diesem Zusammenhang vor allem solche sekundären semiotischen Systeme wie Spielfilm, Biographie, Pressebericht, die im popkulturellen Raum mit der Starpersona kulturelle Werte und Normen verknüpfen. Durch den Star und mit dem Star werden kulturelle Einstellungen und Haltungen sichtbar, werden Mentalitäten verkörpert und Werte und Normen personifiziert.8 Im Folgenden soll am Beispiel mythischer Film- und Popstars gezeigt werden, wie paradigmatische Werte und Normen, Mentalitäten und Einstellungen durch mythische Stars verkörpert werden.9 Dabei findet das von Claude Lévi-Strauss entwickelte Verfahren der Mythemanalyse Anwendung, indem sein Begriff des ‚Tricksters‘ mit dem mediensemiotischen Konstrukt des Starimages verknüpft wird.10 Durch dieses Verfahren soll das
7
Vgl. die Analyse der Wissenschaftsgeschichte und die programmatische Forderung, Literaturwissenschaft als Mentalitätsgeschichte zu betreiben in Nünning/Sommer, Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft (2004), S. 9-29. Vgl. die Umsetzung dieser Programmatik für die neuere deutsche Literaturwissenschaft in Krah, Einführung in die Literaturwissenschaft (2006).
8
Vgl. zu dieser Art der Analyse von Stars als Zeichengeflecht in sozialen, kulturellen und politischen Kontexten als Begründung der modernen Analyse von Starimages Dyer, Stars (1979) und Dyer, Heavenly Bodies (1987). Vgl. auch die Adaption dieser Analyseverfahren aus semiotischer Perspektive für den deutschen Sprachraum in Lowry, Stars und Images (1997) und ihre Anwendung am Beispiel Madonna in Decker, Where’s That Girl? (2005).
9
Vgl. zu diesem funktionalen, kulturwissenschaftlichen Ansatz der Analyse von Mythen Ebert/Wodianka, Vorwort (2014), S. VI.
10 Vgl. Lévi-Strauss, Die Struktur der Mythen (1977), der Mythen wie eine Partitur liest und syntagmatisch verknüpfte Elemente der Ereignisfolge eines Mythos, die von ihm so benannten Mytheme, nach paradigmatischen Aspekten sortiert, um die Tiefenstruktur der mythischen Erzählung heraus zu präparieren, nämlich die Überformung grundlegender Werte- und Normenkonflikte der Ursprungskultur des jeweiligen Mythos. Während Lévi-Strauss noch davon überzeugt war, grundlegende anthropologische Strukturen zu identifizieren, die alle Kulturen umfassen, ist heute sicher zu relativieren, dass zwar das mythische Erzählen als
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Verhältnis von fiktionalem und faktualem Image in der Entwicklung von Starimages untersucht und dargestellt werden, dessen Dynamik dazu dient, im Sinne von Lévi-Strauss kulturelle Oppositionsstrukturen so miteinander zu harmonisieren, dass Starimages als Mythen der Moderne fungieren. Gezeigt werden soll dabei, dass die Harmonisierung kultureller Oppositionen eine grundlegende Eigenschaft von Starimages im 20. Jahrhundert ist, die durch Vernetzung unterschiedlicher Starimages ihre mythischen Dimensionen wechselseitig verstärkt und beglaubigt. Auf diese Weise sind Starmythen in ihrer Entwicklung einerseits dazu in der Lage, zentrale Konfliktfelder einer Kultur wie bspw. Geschlechterrollen im 20. Jahrhundert symbolisch variabel zu verarbeiten. Andererseits erklärt sich die Stabilität von Starmythen als mythischem Phänomen der Moderne. Lévi-Strauss verdanken wir die Erkenntnis, dass Mythen, besser: mythische Erzählungen, die Funktion haben, für eine Kultur relevante Werte und Normen zu begründen, indem Widersprüche zwischen diesen Werten und Normen durch ein wiederholtes und fortlaufendes mythisches Geschehen temporalisiert werden. Lévi-Strauss stellt fest, dass sich Kulturen durch miteinander kombinierte Dichotomien definieren. Was auf einer Skala allen möglichen menschlichen Verhaltens als roh, barbarisch oder inhuman bewertet wird und was nicht, ist immer Ergebnis eines komplexen Aushandlungsprozesses auf der Ebene der primären Wirklichkeit und letztlich Folge einer konventionalisierten Setzung. Für eine Kultur lassen sich also paradigmatische Werte und Normen feststellen. Diese können aber als Setzungen nicht extern letztbegründet werden, so dass ihre Verbindlichkeit in einer Kultur immer in der Schwebe bleibt. Mythische Erzählungen, so die These von Lévi-Strauss, projizieren die Konflikte zwischen relevanten Werten und Normen einer Kultur auf eine Erzählung und unterschiedliche Figuren. Durch den Verlauf der Handlung werden diese paradigmatisch unterschiedlichen Werte einer zeitlichen Abfolge unterworfen und sind mal gültig, mal nicht. Der paradigmatische Widerspruch wird syntagmatisch im Verlauf des mythischen Erzählens aufgelöst. Da die Temporalisierung den eigentlichen Wertekonflikt aber nicht lösen kann, entwickeln Kulturen fortlaufend weitere mythische Erzählungen, die den ursprünglichen Mythos und seinen Konflikt weiterführen. Durch die Analyse der einzelnen mythi-
universale Kategorie erscheint, die jeweiligen Werte- und Normenkonflikte aber an ihre jeweilige Kultur gebunden und damit historisch variabel sind.
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schen Erzählungen gelangt man zu den paradigmatischen Konflikten in der Tiefenstruktur des Mythos. So untersucht Lévi-Strauss den Ödipus-Mythos und führt alle Aspekte wie Herkunft und Erschaffung des Menschen, Hinken und aufrechter Gang, Inzest und Verwandtenmord auf die Kernfrage zurück, ob der Mensch und sein Wesen extern durch äußere Faktoren und Norminstanzen oder aber intern, also autochthon und aus sich selbst heraus begründet sind. Dieses Verständnis des Mythos als fortlaufende Erzählung zur Auflösung kultureller Widersprüche soll nun im Folgenden auf das Konzept des Starimages bezogen werden. Abbildung 1: Konzeption von Starimages
faktuales Image
Konzept der ‚privaten‘ Person
referiert auf
reale Starpersona
verkörpert
Texte über den Star (Rezensionen, Biographien, Home-Stories)
Texte mit dem Star (Spielfilme, Musikvideos, Inszenierungen)
Starimage medienübergreifendes Zeichengeflecht
fiktionales Image
vs./≈
Konzept des ‚Rollenfachs‘
Unter einem Starimage versteht die Medienwissenschaft das rein mediale Konzept einer Person im kulturellen Wissen, das sich intertextuell, intermedial und interdiskursiv aus allen veröffentlichten Texten verschiedener medialer Provenienz mit dem Star und über den Star speist. Die Texte mit dem Star formen das innerfiktionale Image, das analytisch vom faktualen Image zu trennen ist und aus Filmen, Musikvideos und Konzertmitschnitten gespeist wird.11 Das faktuale Image ergibt sich aus Texten über den Star und konstituiert sich aus Biographien, Fanbüchern und Presseberichterstattungen. Das aus beiden Images zusammengesetzte, plurimedial gespeiste Starimage wird dabei im kulturellen Wissen mit einer realen, es verkör11 Vgl. zur Terminologie und ihrer Weiterentwicklung Lowry, Stars und Images (1997) und Decker, Where’s That Girl? (2005), S. 91-139.
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pernden Starpersona identifiziert. Das Starimage ist im kulturellen Gedächtnis als auf diese reale Person referenzialisierendes, gerichtetes Wissen gespeichert. Im Unterschied zum klassischen Mythos können wir die Starpersona als real existierende Person identifizieren, aber ähnlich wie im mythischen Erzählen werden um den Star fortlaufend Geschichten auf vielen Kanälen und in vielen Formaten erzählt. Starimages ermöglichen dadurch die Standardisierung von Medienprodukten, weil sie bestimmte Erwartungen des Zuschauers und damit bestimmte visuelle Erscheinungsformen und Geschichten mit und über den Star reglementieren. Auf diese Weise soll der Erfolg der Produkte mit dem Star gezielt gelenkt und kalkuliert werden. Um diese Standardisierung des Starimages zu erreichen werden homogene paradigmatische Werte mit dem Star verbunden, die an der syntagmatischen Oberfläche variieren. Einerseits soll der Zuschauer seinen Star in einer neuen Rolle sehen wollen, um das Medienprodukt mit dem Star zu kaufen. Andererseits soll die paradigmatisch mit dem Star verbundene Erwartung nicht enttäuscht werden, um den Absatz des Medienproduktes mit dem Star zu garantieren. Im innerfiktionalen Image werden dazu bestimmte Genremuster, Rollenfächer und Figurenstereotype, aber auch bestimmte audiovisuelle Inszenierungsformen sowie körperliche, gestische und mimische Muster mit dem Star verbunden, die bestimmte kulturelle Werte und Normen repräsentieren. Im faktualen Image werden dann zum anderen diese im innerfiktionalen Starimage kodierten Werte und Normen zum Teil aufgegriffen und der jeweilige Star mit einer konkreten, individuellen Biographie versehen. Dabei kann in der Regel auch dann eine Binnen-Stabilisierung von Starmythen im Wechselverhältnis von faktualem und innerfiktionalem StarImage vermutet werden, wenn sich fiktionales und faktuales Image partiell widersprechen.12
12 Beispielsweise wandelt sich das Starimage von Joan Crawford (eigentlich Lucille LeSueur), die zunächst fiktional und faktual als Flapper-Girl in Tanzfilmen vermarktet wird, fiktional zur ‚Femme fatale‘, die dann faktual in den prüden USA der späten 1930er und 1940er Jahre aufgrund des mit den Frauenverbänden abgesprochenen Produktionskodes als treusorgende Mutter und gute Hausfrau inszeniert wird. Deutlich wird für die Kultur also die Fiktionalität des Rollenfachs markiert, die als Heterotopie im Focaultschen Sinne als Projektionsfläche für Wünsche weiblicher Unabhängigkeit und Macht durch das faktuale
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Demzufolge ergeben sich auf einer Skala verschiedene, variable Grade der Beziehung von innerfiktionalem und faktualem Image: Auf der einen Seite der Skala herrscht eine weitgehende Identität. Hier schimmert in einer fiktionalen Figur zugleich die vermeintlich konkrete Person durch (und umgekehrt sind in einem faktualen Text Rollenmerkmale erkennbar wie bspw. in den Filmen mit Elvis Presley in den späten 1950er Jahren). Auf der anderen Seite der Skala können innerfiktionales Image und faktuales Image weitgehend auseinander treten, wenn bspw. ein Star in einer Enthüllungsbiographie demontiert wird oder aber wenn er sich als Schauspielstar wie Dustin Hoffman gerade dadurch auszeichnet, als konkrete Person hinter den unterschiedlichsten Rollen zu verschwinden. Ganz ähnlich wie beim mythischen Erzählen werden also fortlaufend fiktionale und faktuale Geschichten über den Star erzählt, die unterschiedliche oder kohärente paradigmatische Werte und Normen mit der Starpersona verknüpfen und variieren. Dabei kann das Starimage je nach soziokulturellem Funktionskontext, in dem es durch Marketingmaßnahmen gebraucht und von Fans angeeignet wird, synchron und diachron unterschiedliche mentalitätsgeschichtliche Bedeutungen aufweisen, sich wandeln oder an kultureller Bedeutung verlieren.
2. M ICHAEL J ACKSON UND DIE PROTOTYPISCHE F UNKTION DES S TARS ALS ‚T RICKSTER ‘ Am Ende der 1970er Jahre begründet Michael Jackson zusammen mit seinem Produzenten Quincy Jones seine Weltkarriere als globaler Popmusikstar und vereint mit seinem Album Thriller (1982) und Songs wie Billy Jean schwarze und weiße Musikstile in einer neuen Form der Popmusik.13 Damit überwindet er in den USA grundlegend die bis dahin noch geltende Aufteilung in (schwarze) R&B-Musik und (weiße) Rockmusik und zeigt hier schon eine prototypische Funktion von Stars, nämlich die Harmonisie-
Image kontextualisiert wird. Vgl. zu Crawford einführend Dyer, Heavenly Bodies (1987), S. 1-16, der ihr Bild auf das Cover seines Buches setzt und dieses in seiner Einleitung nutzt, um das Phänomen von Starimages aus filmwissenschaftlicher Sicht zu entwickeln. 13 Vgl. zum Folgenden auch Decker, Michael Jackson (2014), S. 201-3.
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rung kultureller Widersprüche in einer Person. Jackson bezeichnet sich selbstbewusst als ‚King of Pop‘ und ist weltweit auch über seinen Tod hinaus mit dem postum erschienen Album Xscape (2014) der aktuell erfolgreichste Popmusikstar aller Zeiten. Dieser Erfolg gelingt vor allem auch dadurch, dass Michael Jackson das Genre des Videoclips weiterentwickelt, das durch das Musikvideo zum Titelsong Thriller erst eigentlich als eigenständiges Genre wahrgenommen wird (Sendestart von MTV in den USA 1981).14 Jackson und sein Regisseur John Landis drehen 1982 mit Thriller einen 14-minütigen Kurzfilm mit aufwändiger Montage und Mise-en-scène, Maske und Requisite, Tanzeinlagen und Choreographien. Gekonnt adaptiert das Video Spielfilmkodes des Horrorfilms: Zunächst sieht der Zuschauer einen schwarzen jungen Mann und ein schwarzes junges Mädchen im weißen HighschoolKleidungsstil der 1950er Jahre, die allein spazieren gehen. Als er ihr eine Liebeserklärung macht und sich ihrer Liebe versichert hat („I’m not like other guys. I mean, I’m different.“), verwandelt er sich in einen Werwolf. Anstatt einer erotischen Erfüllung wird das Mädchen erschreckt und vom Werwolf gejagt. Nach einem harten Schnitt sieht der überraschte Zuschauer das Mädchen und den jungen Mann in modischer Lederkleidung der 1980er Jahre in einem Kinosaal sitzen. Während er sich amüsiert, ist sie vom Geschehen auf der Leinwand angewidert und verlässt mit ihm das Kino. Der Film im Video verschmilzt dabei nicht nur die Genres, Kinospielfilm und Musikvideo im Fernsehen, sondern als selbstreflexive ‚Mise-en-abyme‘ auch die Realitätsebenen.15 Die Pointe des Videos ist dabei die Ambivalenz des besungenen „Thrill“, der sowohl die sexuelle Erregung des angesungenen Mädchens durch die Liebe des singenden Mannes als auch den Grusel vor den Monstern wie Werwölfen und anderen Untoten meinen kann. Dieses Spiel treibt das Video dann auf die Spitze, als schließlich in der vermeintlichen Realität der 1980er Jahre Zombies dem jungen Mann und dem Mädchen auflauern und sich der Mann analog zu der Geschichte im Film im Video selbst in einen Zombie verwandelt. Schon zu Beginn der Karriere als Solokünstler schreibt sich Michael Jackson damit im Video Thriller zu, kulturelle Widersprüche zu verkörpern und diese als Gestaltwandler, der mehrere widersprüchliche Rollen verkörpern kann, durch ein Narrativ zu
14 Vgl. Decker/Krah, Videoclip (2003). 15 Vgl. zur Terminologie Kuhn, Filmnarratologie (2011), S. 357-66.
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harmonisieren. Dabei verwandelt er sich vom Menschen zum Monster in einer Situation, in der auf der Leinwand im Kino und in der Realität des Videos eigentlich Sexualität zwischen Mann und Frau thematisiert wird. An die Stelle der expliziten Sexualität tritt dafür die symbolische Show der choreographierten, tanzenden Untoten, die sich dem tanzenden und singenden Michael Jackson unterwerfen: Die zunächst verdrängte Sexualität kehrt in symbolischer, transformierter Form als monströses, bedrohliches ‚Anderes‘ zurück und wird vom Superstar Michael Jackson als seine Projektionsfläche verkörpert. Michael Jackson adaptiert damit in der Popmusik eins zu eins die Rolle des Monsters im klassischen Horrorfilm.16 Michael Jackson realisiert in seinem Video Thriller also nach LéviStrauss (s.o.) einen Trickster und fungiert somit als Vermittler zwischen kulturellen Widersprüchen. Abbildung 2: Konzeption des Künstlers Michael Jackson als ‚Trickster‘ in Thriller
Der Trickster harmonisiert – gern als Gestaltwandler, der unterschiedliche Rollen und sogar auch Geschlechter verkörpern kann – kulturelle Oppositionen in der Handlungsfolge einer mythischen Erzählung genau auf die gleiche Weise, wie Michael Jackson Monster und Mann nacheinander im gleichen Text verkörpern kann. Der kulturelle Konflikt zwischen lustvoller und bedrohlicher Sexualität kann nicht logisch gelöst werden. Wohl aber versucht man den Konflikt dadurch zu lösen, dass seine Teilaspekte, also die Einzelglieder der kulturellen Opposition, wiederholt auf eine Handlungs16 Vgl. Pabst, Das Monster als genrekonstituierende Größe im Horrorfilm (1995).
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folge in einer Erzählung projiziert werden, hier das Musikvideo mit seiner Adaption von Spielfilmkodes und der Vermischung der Realitätsebenen. Der kulturelle Konflikt zwischen der Rolle des unschuldig liebenden Teenagers und des sexuell aggressiven Liebhabers kann durch den Kunstgriff der Inszenierung gelöst werden, indem Jackson als Gestaltwandler diesen Konflikt während eines Gesangsaktes in einer als inszeniert markierten Simulation eines Monsters verkörpert. Von Thriller aus wird in den weiteren Videoproduktionen mit Michael Jackson (bspw. Moonwalker aus dem Jahr 1988, Ghosts aus dem Jahr 1996) und in der Presseberichterstattung auf seinen Starkörper im Laufe seiner Karriere das Merkmal der monströsen Abweichung auf allen Ebenen im kulturellen Wissen übertragen: Abbildung 3: Michael Jacksons Starimage als ‚Trickster‘
1. Gesanglich vereint Michael Jackson in seiner Stimme durch den kieksenden Falsett-Gesang weibliche und männliche Aspekte. 2. Mit seinem Moonwalk-Tanzschritt harmonisiert er Vorwärts- und Rückwärtsbewegung, also genau gegensätzliche Bewegungsrichtungen, in einer gemeinsamen Choreographie. 3. Die zahlreichen kosmetischen Operationen nähern sein Aussehen immer stärker dem Äußeren seiner Schwester Janet Jackson an; seine Hautfarbe wird immer blasser. Körperlich überschreitet der ‚Trickster‘ Michael Jackson als Gestaltwandler fundamentale kulturelle Oppositi-
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onen von Rasse und Geschlecht.17 In der gemeinsamen Betrachtung des fiktionalen Images in seinen Videos und seines faktualen Images in der Berichterstattung vermengt Michael Jackson als Trickster zusätzliche kulturelle Oppositionen in den Bereichen soziales Verhalten, Lebensphasenmodelle und Geschlechterrollen. 4. Während er auf der Bühne aggressive Performances aufführt, tritt er als Privatperson schüchtern und zurückhaltend auf. 5. Einerseits agiert er als erfolgreicher Geschäftsmann und damit erwachsene Person, andererseits inszeniert er auf seiner Ranch Neverland eine vermeintlich paradiesische Utopie von Kindheit als Peter Pan.18 6. Seine in der Presse und in Gerichtsprozessen19 kolportierten, pädophilen Neigungen kontrastieren mit seinen beiden Ehen (1994-1995 mit Lisa Marie Presley, 1996-1999 mit Debbie Rowe) und der Geburt seiner – wohl nicht leiblichen – Kinder (1997 Prince Michael Jr., 1998 Paris Michael Katherine, 1999 Prince Michael II).20 Michael Jackson ist damit ein Beispiel dafür, wie ein fiktionales Image zu Beginn der Karriere, nämlich die monströse Grenzüberschreitung in Thriller, zum Ordnungsmuster grundlegender Paradigmen wird, die in der Populärkultur und im kulturellen Wissen als mit der realen Person Michael Jackson identisch verknüpft werden. Zwischen der konkreten Person und den künstlerischen Medienprodukten wird in der Presseberichterstattung kaum noch unterschieden.21 Im Verlauf der Presseberichterstattung eignet sich Michael Jackson nun genau diesen faktualen Diskurs über sich an und versucht ihn künstlerisch und damit fiktional zu verarbeiten. Mit seinem Best-of-Album HIStory (1995), das seine größten Hits mit neuen kombiniert, rechnet er zeichenhaft mit seinen Kritikern und Verfolgern aus Medien und Justiz ab. Die Werkgeschichte, das fiktionale Lebenswerk als Popmusik-Künstler, wird mit der im Album eigenen, künstlerisch überformten
17 Vgl. hier den frühen und bis heute grundlegenden Artikel von Mercer, Monster Metaphors (1986). 18 Vgl. Living with Michael Jackson (BBC 2003, Martin Bashir), vgl. auch Taraborrelli, Michael Jackson (2009), S. 617-26. 19 Der erste Prozess (1993-1994) wird nach einem außergerichtlichen Vergleich eingestellt; der zweite (2003-2005) endet mit einem Freispruch in allen Anklagepunkten. Vgl. Taraborrelli, Michael Jackson (2009), S. 501-62 und 687-707. 20 Vgl. Taraborrelli, Michael Jackson (2009). 21 Vgl. Lohr, Das Fan-Star-Phänomen (2008), S. 65-147.
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Version des eigenen Lebens zu den Episoden einer autobiographischen Geschichte stilisiert. In dieser doppelten Selbstreferenz auf sich als Popmusikkünstler und als private Person liegt begründet, dass Michael Jackson nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen kann. Denn er historisiert sich selbst dabei sowohl als Künstler als auch als Person und orientiert sich an der Aufarbeitung einer Vergangenheit, die verarbeitet und abgeschlossen wird, aber keine Perspektive in die Zukunft wagt. Michael Jackson macht sich ausschließlich selbst zur Geschichte, die von ihm selbst bewältigt werden muss. Er mutiert daraufhin in der Berichterstattung durch seine Haltung zu sich selbst als zu bewältigende Geschichte, durch seinen schwindenden Erfolg, durch seine Prozesse und durch seinen Rückzug ins Private im kulturellen Gedächtnis zu einem metaphorischen Untoten oder aber zu einem außerirdisch anmutenden Freak. Dem kommerziellen und künstlerischen Erfolg bis in die 1990er Jahre steht sein Absturz nach seinem Album HIStory 1995 und dem Abschluss der gleichnamigen Welttournee nach 1997 gegenüber.22 Ab diesem Zeitpunkt steht Jacksons privates Leben als kosmetisch operierter Freak und möglicherweise pädophiler Kinderschänder im Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Nach seinem Tod wird seine kulturelle Funktion als ‚monstre sacré‘, als Außenseiter und Symbol für bizarre Abweichung immer deutlicher.
3. Z UR G ESCHICHTE
DES S TARS ALS GRENZÜBERSCHREITENDER ‚T RICKSTER ‘ AM B EISPIEL WEIBLICHER S TARS
Die prototypische Eigenschaft des Starimages von Michael Jackson, der als plurimedial präsenter Popstar im 20. und 21. Jahrhundert in allen seinen Medienprodukten mit sich und über sich simultan kulturelle Gegensätze vereint, entwickelt sich mit dem Studiosystem Hollywoods in der so genannten ‚Goldenen Ära‘ der 1930er Jahre: Die fiktionalen Rollen der Stars führen in den Filmen oft eine Wandlung vor, bei der individuelle Wünsche nach Autonomie und Selbstverwirklichung zu Gunsten familiärer und altruistischer Werte umgelenkt werden.23 Diese Wünsche nach Autonomie und 22 Vgl. Halperin, Unmasked (2009). 23 Vgl. Gledhill, Stardom (1991) und MacDonald, The Star System (2000).
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Selbstverwirklichung werden aber in den Filmen zugleich massiv artikuliert. Ebenso zeichnen die Presseberichte über die Stars einerseits das abweichende glamouröse Luxusleben nach, andererseits betonen sie die moralische Integrität der Schauspieler, die sich in von den Studios inszenierten Homestories familiären und kleinbürgerlichen Werten verpflichten, von denen man meint, dass sie auch vom kleinbürgerlichen Publikum geteilt werden.24 Sowohl innerhalb des fiktionalen Images, also des Rollenfachs in einer Geschichte, als auch in der Zusammenschau von fiktionalem und faktualem Image manifestieren sich in fortlaufenden Erzählungen der Studios über und mit dem Star Eigenschaften des Tricksters in Starimages des frühen 20. Jahrhunderts. 3.1 Marlene Dietrich als Verkörperung eines sich wandelnden Images in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Marlene Dietrich verkörpert das Starsystem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als deutscher, US-amerikanischer, französischer und schließlich als Weltstar in besonderem Maße.25 Nacheinander wechselt sie mehrfach ihre Rollen: Zunächst ist sie in den 1920er und 1930er Jahren eine deutsche Schauspielerin im Theater und in Stummfilmen der Weimarer Republik, dann ein US-amerikanischer Filmstar zu Beginn des ‚golden age of cinema‘ in Tonfilmen der 1930er und 1940er Jahre. Als solche ist sie eine Ikone in der US-Truppenbetreuung im Zweiten Weltkrieg und tritt zuletzt von den 1950ern bis in die 1970er Jahre international als Sängerin auf.26 Heutzutage verkörpert sie 1. den Typus der modernen, emanzipierten, erotisch offensiven Frau und 2. die engagierte Weltbürgerin, die sich, im preußischen Bürgertum und in deutscher Bildung verwurzelt, konsequent nicht vom Nationalsozialismus korrumpieren ließ.27 Nach langem Exil in den USA und Pa-
24 Vgl. Kracauer, Die kleinen Ladenmädchen (1977), der seine Serie knapper Analysen zeitgenössischer Filme der Weimarer Republik einleitend auf die Widerspiegelung neuer gesellschaftlicher Wirklichkeiten des Kleinbürgertums orientiert. 25 Vgl. Decker, Marlene Dietrich (2014), S. 90-2. 26 Vgl. Riva, Meine Mutter Marlene (1994). 27 Vgl. Salber, Marlene Dietrich (2001).
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ris wird sie in Berlin bestattet. Ihr Vermächtnis bildet später den Grundstock des Filmmuseums Berlin. Nach Mauerfall, Wiedervereinigung und Umzug der bundesdeutschen Regierung von Bonn nach Berlin wird sie endgültig zum wieder heimgeholten Star. Als solcher kann sie 3. wie keine andere das gespaltene Verhältnis der Deutschen im Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945 und somit zeichenhaft den Abschluss der Kriegs- und Nachkriegszeit verkörpern.28 Dietrichs Weltkarriere wird wesentlich vom Regisseur Josef von Sternberg durch Der blaue Engel (D 1930) noch in der Weimarer Republik begründet, dann aber sofort in Hollywood u.a. mit den Filmen Morocco (USA 1930), Shanghai Express (USA 1932), Blonde Venus (USA 1932), The Scarlet Empress (USA 1934) und The Devil Is a Woman (USA 1935) ausgebaut.29 Nach ihrer letzten Hauptrolle 1961 in Judgement at Nuremberg (USA, Stanley Kramer), ihrer anschließenden Gesangskarriere mit Arrangements von Burt Bacharach, bis sie 1975 in Sydney von der Bühne fällt und sich die Hüfte bricht, und nach ihrem letzten Filmauftritt 1979 in Schöner Gigolo, armer Gigolo (BRD, David Hemmings) neben David Bowie, zieht Marlene Dietrich sich vollständig aus der Öffentlichkeit zurück, um nicht das Kunstprodukt Marlene zu zerstören („I’ve been photographed to death!“, Zitat aus Marlene von Maximilian Schell, BRD 1984). Marlene hält – zwar noch nicht tot, aber bis zum Ende ihres Lebens nicht mehr öffentlich präsent – bettlägerig, alkoholkrank und tablettenabhängig via Telefon Kontakt zu den Stars und den Mächtigen der Welt wie Madonna und Ronald Reagan.30 In dieser gewählten Selbstisolation entsteht unter der Regie von Maximilian Schell mit Marlene (BRD 1984) eine Dokumentation, bei der alte Filmaufnahmen von Marlene Dietrich und fiktionale Szenen in ihrem im Studio nachgebauten Appartement in der Rue Montaigne mit einem neu aufgenommenen Interview durch Schell so konfrontativ montiert werden, dass Marlene Dietrich einerseits sich selbst als Person und andererseits die von ihr verkörperten Figuren in ihren Filmen dekonstruiert. Auf diese Weise dekonstruiert Schells Film sowohl Marlenes fiktionales als auch ihr faktuales Image. Am Ende der Dokumentation wird dabei die Fik-
28 Vgl. Wieland, Dietrich & Riefenstahl (2011). 29 Vgl. Sudendorf, Marlene Dietrich (2001). 30 Vgl. Redaktion Spiegel-Online, Marlene Dietrichs letzte Jahre (2012) und Bosquet, Marlene Dietrich (2007).
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tion aufgebaut, dass hinter den medial konstruierten Fassaden die authentische Person in ihrem konkreten Gefühl indiziert wird. Unter Tränen zitiert Marlene mit Schell zusammen ein Gedicht von Ferdinand Freiligrath (O lieb, so lang Du lieben kannst von 1829, das von Liszt 1845 vertont und als Liebestraum Nr. 3 weltberühmt wird). Damit offenbart sich die Person – im Sinne postmoderner Ästhetik – selbst wiederum nur durch einen verkörperten medialen Text im filmischen Medium. Marlene entzieht sich am Lebensende scheinbar dem Zugriff durch das Medium, so wie sich auch der alternden und kranken Diva die Kontrolle über ihr Image und damit ihr Leben entzieht: Der Versuch, (s)eine Identität zu konstruieren oder diese Person zu dokumentieren, verliert sich in der Bricolage vorgefertigter Prätexte, hinter denen sich ein autonomes Ich verliert. An die Stelle des eigenen Selbst tritt das Zitat. Schell entwirft damit ein letztes Image der Dietrich auf der Folie einer modernen Konzeption der Person. Diese kann im Laufe ihres Lebens in temporaler Reihung viele changierende und miteinander konfligierende Rollen in unterschiedlichen sozialen, kulturellen und epochalen Kontexten verkörpern, bleibt aber ihren Emotionen und damit einem als solchen postulierten, konstanten ‚Kern‘ der Person treu. Diese Konzeption der Person zeigt in ihren Merkmalen damit immer noch eine Nähe zum Trickster und seiner gestaltwandlerischen Verkörperung unterschiedlicher Werte und Normen auf einem gemeinsamen Wertefundament im fiktionalen und medialen Bezugsrahmen des Starimages. Zu Beginn ihrer Weltkarriere verkörpert Marlene einen völlig neuen Frauentypus. Durch Lola Lolas Erotik wird der bürgerliche Mann demontiert (Emil Jannings als Gymnasialprofessor Unrat verfällt ihr und geht als Clown in den Tingel-Tangel). Doch Unrat hätte es besser wissen können, denn Lola Lola offenbart freimütig: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, denn das ist meine Welt und sonst gar nichts. Das ist, was soll ich machen, meine Natur, ich kann halt Liebe nur und sonst gar nichts. Männer umschwirr’n mich wie Motten um das Licht und wenn sie verbrennen, ja, dafür kann ich nicht.“
Damit wird der Frau eine weibliche Erotik, die sich ihrer selbst bewusst ist und offensiv vertreten wird, als natürliche, anthropologische Rolle zugewiesen. Gerade weil das Wesen der Frau damit – traditioneller Weise – auf ihre Erotik festgeschrieben wird, leitet der Film hier – innovativ – einen
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Anspruch der Frau auf ihre Verwirklichung und Erfüllung ohne strafende Sanktion ab. Am Filmende hat sich Lola Lola von der Halb-Prostituierten im Tingel-Tangel zur Diva vor einer Chorus-Line entwickelt und feiert mit einem Leoparden-Mantel nicht nur sichtbar materiellen, sondern mit dem Artisten Mazeppa (Hans Albers) auch in einer funktionierenden erotischen Beziehung Erfolg. Wo Der blaue Engel die Rolle von Marlene Dietrich als ‚Vamp mit Herz‘ in ihrem fiktionalen Image begründet, deutet sich mit Morocco, der ersten Hollywood-Produktion, optisch die Perfektionierung dieses fiktionalen Images an. Marlene unterwirft sich dem Star- und Studiosystem, das damals um eine Kongruenz von fiktionalem und faktualem Image bemüht ist.31 Die Filme versuchen im Studiosystem also einerseits, das aufregende Leben der Stars mehr oder weniger direkt widerzuspiegeln, und die Berichterstattung über die Stars gibt andererseits vor, das Leben der von den Stars verkörperten Figuren aus den filmischen Welten in der Realität fortzuführen. Marlenes Ehemann Rudolf Sieber und ihre Tochter Maria Riva werden dementsprechend zunächst der Öffentlichkeit nicht präsentiert, um Marlene als erotische Projektionsfläche der Zuschauer aufzubauen. Berühmt ist Morocco heute vor allem für eine Szene, in der Marlene Dietrich den von Gary Cooper verkörperten Soldaten verführt, indem sie als Sängerin bei einem Bühnenauftritt in einem Frack mit Zylinder rauchend und singend zuerst eine andere Frau umwirbt und diese sogar küsst. Danach wählt sie dann den eigentlich begehrten Mann als nächstes Liebesobjekt aus, indem sie ihm eine Blume zuwirft, die sie der Frau bei ihrem Kuss aus dem Haar genommen hat.32 Das Cross-Dressing zeigt hier eine vom weiteren Filmverlauf als abweichend bewertete weibliche Dominanz und erotische Aktivität an, die im Filmverlauf domestiziert wird. Am Ende folgt die Sängerin ihrem Soldaten in die Wüste und wird als vollständig auf den geliebten Mann orientierte, liebende Gefährtin schließlich ihrer in der Filmlogik emotionalen Bestimmung als Frau zugeführt. In Morocco zeigt sich damit ein wesentlicher ideologischer Regulationsmechanismus des Filmstars Marlene Dietrich: Wünsche nach erotischer Erfüllung und Abweichung werden durch scheinbare Harmonisierung kultureller Oppositionen wie Mann vs. Frau auf den Körper des Stars im Film projiziert und stellver-
31 Vgl. Sudendorf, Marlene Dietrich (2001), S. 67-96. 32 Vgl. Spoto, Marlene Dietrich (1992), S. 87-104, besonders 94-6.
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tretend durch den Star artikuliert. Der Star wird hier als Trickster zu einer mythischen Person, die sich kulturelle Gegensätze aneignet und damit außerhalb konventioneller Werte und Normen steht. Im Rahmen dieses Potentials im Starimage der Dietrich, sich eine Männerrolle anzueignen, gelingt ihr dann im Film der Wechsel in ein neues Rollenfach: In Destry Rides Again (Der große Bluff, USA 1939) verkörpert sie als Bardame eine nahbare, kameradschaftliche Frau, die mit den Cowboys rauft, raucht und trinkt. Genau diese Rolle spielt sie dann auch in der Berichterstattung über ihren Einsatz für die USO (United Service Organizations) im Krieg, wenn sie – mittlerweile US-amerikanische Staatsbürgerin – bspw. in den Ardennen zur Unterhaltung der Truppen auftritt.33 Für diesen Einsatz wird Marlene 1947 von Major General Maxwell D. Taylor mit der Medal of Freedom ausgezeichnet, für sie angeblich die größte Ehre.34 Von Teilen der deutschen Bevölkerung wird Marlene dennoch für ihre konsequent anti-nationalsozialistische Haltung während des Krieges als Verräterin verunglimpft. Ein mit einem „Marlene go home“-Plakat protestierender Deutscher wird am 03. Mai 1960, bei ihrer ersten BRD-Tournee nach 1945, vor dem Titania-Palast in Berlin, in dem sie auftritt, fotografiert und bringt unfreiwillig eine Ironie auf den Punkt, denn Marlene singt: „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“ (1954) und bekennt sich damit vermeintlich authentisch zu ihrer deutschen Heimat.35 Bedeutsam ist für ihre Bühneninszenierung als Diseuse dabei der Kontrast zwischen der brüchigen Stimme und der aufsehenerregenden Oberfläche durch den zusammen mit Jean Louis entworfenen Schwanenfedermantel und das Nacktkleid in ihrem Hautton (so genanntes ‚see thru‘). Dieses Kleid erzeugt über einem Figur formenden Mieder den Eindruck, dass Marlenes nackter Körper mit Glitzersteinen bestreut ist. Als maskierte Sängerin inszeniert Marlene ein kalkuliertes Spiel mit Erotik. Sie legt sich bis ins hohe Alter auf die Rolle der erotisch offensiven Frau fest, die sich nicht unterkriegen lässt.36 Ihre Songs kodieren dabei sozusagen die verschiedenen Stationen ihres Lebens, die in der Summe ihre Persönlichkeit durch-
33 Vgl. Wieland, Marlene Dietrich (2011). 34 Vgl. Bach, Marlene Dietrich (2000), S. 385f. 35 Vgl. Kreutzer/Runge, Ein Koffer in Berlin (2001). 36 Vgl. Bemmann, Marlene Dietrich (2000).
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schimmern lassen.37 Die glamouröse Camouflage der Oberfläche korreliert dabei mit der Intonation und den Texten, die zusammen suggerieren, dass hier echte Emotionen einer authentisch fühlenden, aber äußerlich disziplinierten Person vermittelt werden. Diese offenbart zwar nichts Konkretes aus ihrem Privatleben, führt aber ihre allgemeine Haltung als fühlender Mensch vor. Auch hier offenbart sich wieder die Eigenschaft des Tricksters, kulturelle Oppositionen zu harmonisieren: Erkennbar ist die Bühnenperson ein inszeniertes Konstrukt in den Konventionen eines eigentlich schon vergangenen Starimages; in diesem schimmert aber so etwas wie die Vorstellung einer Persönlichkeit und ihre Haltung zur Welt durch. 3.2 Mythisierte Weiblichkeit: Das Beispiel Marilyn Monroe Marilyn Monroe ist vielleicht das prominenteste Beispiel für die Mythisierung eines Filmstars im 20. Jahrhundert durch fortlaufende Arbeit an ihrem Mythos in Form von anhaltenden Nach- und Weitererzählungen ihres Lebens,38 die alle um ihre angeblich widersprüchliche Persönlichkeit kreisen, die Männern eine erotische Erfüllung verspricht, sich dem endgültigen Zugriff des Mannes aber entzieht.39 Diese widersprüchliche Konzeption der Person beruht auf dem Bruch in Marilyns Starimage, der durch ihren Tod ausgelöst wird. In den Zeitungsberichten erscheint ihr Tod als Rätsel, als Unfall, Selbstmord oder später gar in Verschwörungstheorien als Mord, weil ihr Rollenfach als naive, erotische Blondine und der reale Tod durch Schlaftabletten und Psychopharmaka nicht widerspruchsfrei im kulturellen Wissen vereint werden kön-
37 Vgl. Bach, Marlene Dietrich (2000). 38 Vgl. bspw. My Week with Marilyn (UK/USA 2011, Simon Curtis), der aus der Perspektive eines Regieassistenten Marilyns ambivalenten, nämlich verführerischen und zugleich labilen, Charakter dokumentiert und ihren Mythos als Inbegriff weiblicher Erotik, die sich als Persönlichkeit jedem (männlichen) Zugriff entzieht, für die Gegenwart fortschreibt. Vgl. aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Paige, American Monroe (1995), deren Studie systematisch die mediale Konstruktion von Monroes Starimage aufbereitet. 39 Vgl. Decker, Marilyn Monroe (2014), S. 266-70.
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nen.40 Marilyns Tod schafft ad hoc ein neues faktuales Image, das ihr fiktionales Image widerlegt. Die bis heute anhaltende Rezeptionsgeschichte von Marilyns Image nach ihrem Tod kann im Grunde als ein Versuch gelesen werden, durch Mythisierung der Person ihr fiktionales und faktuales Image in Einklang zu bringen und sie als Ausdruck universaler weiblicher Konflikte der modernen Frau zu begreifen. Marilyns Mythos kann im Sinne von Roland Barthes damit als Naturalisierung kulturell konstruierter Konflikte verstanden werden.41 Die umfassende Mythisierung der Person Marilyn Monroe in der Alltags- und Hochkultur erfolgt dabei wieder mit Hilfe des ‚Trickster‘Narrativs, das in allen Erzählungen über Marilyn Monroes Image nach ihrem Tod realisiert wird und versucht, Widersprüche der Kultur in Bezug auf die Konzeption wünschenswerter und normativer Weiblichkeit in einer Erzählung miteinander zu harmonisieren: Marilyns Mythisierung beruht auf der Opposition von Fremd- und Selbstbild, von Rolle und Person. Ihre Karriere beginnt mit ersten Aufnahmen als Pin Up 1945. Ein Jahr später wird sie erstmals bei der 20th Century Fox unter Vertrag genommen und ihr Künstlername erfunden. Weil sie sich zunächst als Schauspielerin nicht durchsetzen kann, posiert sie 1949 der Legende nach für 50 US-$ nackt für zwei Aufnahmen vor einem roten Samthintergrund. 1952 wird eine dieser Aufnahmen als Kalenderfoto veröffentlicht und löst einen weltweiten Sexskandal der als Nebendarstellerin und aufstrebendes Starlet bekannten Marilyn aus.42 Die Presseberichterstattung in diesem Skandal kann als Ursprungsmythos für Marilyns fiktionales Image gedeutet werden: Angeblich begründet sie die Aufnahmen damit, Geld für die Miete gebraucht zu haben. Als ein Reporter nachfragt, ob sie denn wirklich nichts auf dem Foto anhabe, antwortet sie schlagfertig: „I had the radio on!“43 Diese Anekdote zeigt, wie später die hier anknüpfende Werbeaussage, im Bett nur einen Tropfen Chanel No. 5 zu tragen, schon grundlegende Eigenschaften des Tricksters Marilyn an: Ihre Antwort ist ambivalent, denn sie kann entweder als unglaub-
40 Vgl. die Titelgeschichten der Daily News und des New York World-Telegram, beide vom 06. August 1962. 41 Vgl. Barthes, Der Mythos heute (1984) und Wodianka/Ebert, Vorwort (2014). 42 Vgl. Churchwell, The Many Lives of Marilyn Monroe (2004), S. 35-70. 43 Ebd. S. 50.
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lich naive, spontane Reaktion und/oder als selbstbewusst kalkulierte Frechheit gedeutet werden und zeugt damit von einer als selbstverständlich zum eigenen weiblichen Wesen gehörenden Sexualität. Damit bricht Marilyn ein Tabu, denn Aktaufnahmen einer Schauspielerin in den 1950er Jahren schließen in den sittenstrengen USA und ihren durch die Frauenverbände durchgesetzten Produktionskodes eigentlich eine Karriere als Schauspielerin in Hollywood aus. Diese Grenzüberschreitung macht Marilyn weltberühmt. 1953 erscheint das Kalenderblatt als erster Centerfold im allerersten Playboy, sie ist das erste Playmate. Ihre Filme in den 1950er Jahren knüpfen nun genau an dieses Stereotyp an. Marilyn inkarniert vor allem die durch ihren Körper und seine Erotik definierte, sexy-naive, intellektuell aber begrenzte Blondine.44 In den Filmen wird dabei vor allem ihr Körpereinsatz vorgeführt: Singend und tanzend (Diamonds Are a Girls Best Friend, I Want to Be Loved by You) beeindruckt sie die Männer gerade nicht als komplexe Persönlichkeit mit differenzierten Ansprüchen an emotionale Erfüllung und fordert gerade keine gleichberechtigten Beziehungsformen, die einer traditionellen Männerrolle gefährlich werden könnten. Auffällig ist dabei in den Filmen und der sie begleitenden Presseberichterstattung die hyperbolische Inszenierung ihres weißen Haares, ihres weißen Körpers und ihrer oftmals auch weißen Kleidung. Marilyn wird damit einerseits zur Verkörperung der weißen (Haut-) Farbe und zur fast überwirklichen, idealen Frau.45 Andererseits semantisiert sie sich als im Kern unverdorbene, unschuldige Frau, die ihren Körper nicht instrumentalisiert, um außer einer genussvollen, erfüllten Sexualität damit noch andere Ziele zu erreichen. Beispielhaft für diese Inszenierung ist die Kampagne für The Seven Year Itch. Im Film, der im heißen New Yorker Sommer spielt, versucht das von Marylin verkörperte, namenlos bleibende Mädchen über einem Schacht durch den Luftzug einer durchfahrenden UBahn Abkühlung zu erlangen. Das Werbefoto zeigt sie in einer ambivalenten Pose: Der Betrachter sieht einerseits, wie sie ihren Rock gegen den Luftzug nach unten vor ihr Becken drückt und einen Blick auf ihre Unter-
44 Diese spielt sie insbesonders in den Filmen Gentlemen Prefer Blondes (USA 1953, Howard Hawks), The Seven Year Itch (USA 1955, Billy Wilder), Some Like It Hot (USA 1959, Billy Wilder). Als gefährliche Blondine erscheint sie in Niagara (USA 1952, Henry Hathaway). 45 Vgl. Dyer, White (1997
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wäsche verweigert. Andererseits zeigen die Bilder sie in einer tänzerischen, selbst inszenierten Pose und einer Gestik, die einen vorausgesetzten Betrachter adressiert und diesem den Spaß an der kalkulierten Teilhabe an einem erotisch aufgeladenen Selbstgenuss selbstbewusst vermittelt.46 In Marilyns Rollenfach vereinigen sich also die widersprüchlichen Rollen von naiver, auch fragiler Kindfrau einerseits und selbstvergessener weiblicher Erotik andererseits. Auf der einen Seite verspricht sie eine ungezügelte, gesunde, Spaß machende Sexualität um ihrer selbst willen, die auf der anderen Seite auch in gewissen kulturellen Grenzen erfolgen und domestiziert werden muss, damit sie nicht die Sexualmoral der 1950er Jahre in ihren Grundfesten erschüttert. Marilyn wird in den 1950er Jahren zum Sexsymbol aufgebaut, das – gerade nach dem 2. Weltkrieg – dem amerikanischen Mann weibliche Sexualität als Spaß und Genuss, aber nicht als Gefährdung seiner Macht und Position in der Gesellschaft präsentiert.47 In nuce zeigt sich in der amerikanischen Filmgeschichte dabei eine Zurücknahme der Gefahr durch die erotische Blondine im Vergleich einer Ikonografie, die einmal auf Rita Hayworth als gefährliche Blondine und das andere Mal auf Marilyn Monroe als naive Blondine angewendet wird. In Orson Welles ‚film noir‘ Lady From Shanghai (USA 1947) wird Elsa als ‚femme fatale‘ in einem Spiegelkabinett zwischen Reflexionen ihrer selbst als mörderische, sich im Wahn unkontrollierter Affekte selbst verlierende Blondine inszeniert. Die quantitative Vervielfältigung der Frau durch Spiegel soll hier gerade die Qualität der Gefahr durch weibliche Erotik im Bild hyperbolisch übersteigern. In Jean Negulescos How to Marry a Millionaire sechs Jahre später wird fast die gleiche Ikonografie genutzt, um die erotische Gefahr vollständig zu nivellieren. Hier sieht man die kurzsichtige Pola, die sich als erotische Frau vor ihrem in Spiegeln vervielfältigten Abbild in Pose wirft, um die Inszenierung ihres verführerischen Potentials zu überprüfen. Als sie die Brille abnimmt, läuft sie gegen eine Tür und zerstört damit die verführerische Oberfläche, die sie als bloße Inszenierung enttarnt. Genau an diesem, in den Filmen oft mit inszeniertem Bruch zwischen Rolle und Person der von Marilyn verkörperten Figuren, knüpfen nach ihrem Tod zahlreiche Biografien und Biopics an, indem sie Marilyn als eine sensible Künstlerpersönlichkeit darstellen, die versucht, sich selbst auto-
46 Vgl. Bronfen, Marilyn (2011). 47 Ebd. S. 150.
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nom als Charakterdarstellerin und ernsthafte Schauspielerin zu verwirklichen.48 Ihr Starimage wandelt sich, so dass heute im kulturellen Wissen die selbstbewusste Inszenierung der erotischen Körperoberfläche der Rolle Marilyn Monroe im fiktionalen Film und in seiner Vermarktung der vermeintlich nach ihrem Tod offenbar gewordenen psychischen Verletzlichkeit und der Suche nach Anerkennung und Liebe als Streben der ‚wirklichen‘ Person Norma Jean Baker entgegensteht. Diese Differenz von Rolle und Person wird genutzt, um den Widerspruch ihres beruflichen Erfolgs als berühmte Schauspielerin in der Öffentlichkeit auf der einen Seite, mit ihrem privaten Scheitern in drei unglücklichen Ehen (mit James Dougherty 1942-1946, mit Joe DiMaggio Januar bis November 1954, mit Arthur Miller 1956-1961), mit unzähligen Fehlgeburten bis hin zu Tablettenabhängigkeit, Alkoholmissbrauch und Selbstmord mit Schlafmitteln auf der anderen Seite aufzulösen. Die kulturelle Funktion des Tricksters Marilyn, zu ihren Lebzeiten Sexualität in ideologisch wünschenswerte Bahnen umzuleiten, dient nach ihrem Tod als Basis für die Temporalisierung des Widerspruchs von weiblicher Anpassung und Emanzipation im Weitererzählen ihres Lebens als Mythos. Einerseits repräsentiert Marilyns Schauspielkarriere den Versuch, sich mit den Umständen zu arrangieren, sich als Frau bestehenden Strukturen der patriarchalen Gesellschaft anzupassen und in den bestehenden kulturellen Rahmenbedingungen anerkannt zu werden. Andererseits beginnt mit Marilyns Tod und ihrem offenbaren Scheitern als Person in den USA die zweite Welle des Feminismus, prominent mit Betty Friedans Studie The Feminine Mystique (1963). Friedan stellt traditionelle Reduktionen der Frau auf ihre Körperlichkeit und Sexualität in Frage, um für die Frauen gleiche gesellschaftliche Rechte einzufordern. Wo Marilyn als Individuum scheitert, da geht nach ihrem Tod ihr individuelles Streben nach Emanzipation und Autonomie im schrittweise erfolgreichen kulturellen Kampf der Frauen um Gleichberechtigung bis heute auf. Marilyn Monroes Image wird damit nach ihrem Tod anhaltend zum zitierten Prätext für Inszenierungen weiblicher Sexualität und ihrer soziokulturellen Bewertung in der Populärkultur und in den Künsten (durch Richard Hamilton, Andy Warhol, Richard Serra,
48 Vgl. exemplarisch Mellen, Marilyn Monroe (1983), S. 7-44 („Das MonroeImage“) und S. 45-72 („Eine Identitätskrise“), die diese Differenz zwischen Image und Person psychologisch als scheiternden weiblichen Emanzipationsversuch ausdeutet.
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Joyce C. Oates, Madonna). Sie tendiert so zur Verkörperung außerzeitlicher und universeller Muster von Weiblichkeit in der westlichen Kultur, die sie als Ikone anzeigt.
4. D ER T RICKSTER ALS MYTHISCHES N ARRATIV IM 20. UND 21. J AHRHUNDERT Direkt nach den Berichten über Marilyns Tod fertigt Andy Warhol 1962 im Rahmen seiner Werkreihe Death and Disaster sein berühmtes Marilyn diptych an. Warhol druckt dabei einen Ausschnitt aus einem Filmstill zum Film Niagara, der einen Bericht zu Marylins Tod illustriert hat. Das Foto von Marilyn wird auf zwei Leinwänden, eine vielfarbig, die andere monochrom, immer wieder mittels Siebdruck auf dem Bildträger in Registern untereinander und nebeneinander gedruckt. Auf der linken Tafel wird im Stil eines Memorialbildes in einem mehrfarbigen Druck das Foto in einer guten Qualität reproduziert. Auf der rechten Tafel verschlechtert sich das prinzipiell immer wieder identisch reproduzierbare Foto als immer schlechterer Siebdruck nur mit schwarzer Farbe. Auf diese Weise vermittelt Warhol mit der rechten Tafel, dass Marilyn als reale, konkrete Person hinter ihrem Image verschwindet. Dieses Image wird auf der linken Tafel als immer gleiche Reproduktion eines Stereotyps erschaffen. Genauso wie im Siebdruck des immer gleichen Fotos der rechten Tafel an der Oberfläche die ikonischen Zeichen der dargestellten Person verwischen, so verwischt sich symbolisch auf der linken Tafel die konkrete Person hinter den visuellen Zeichen durch die die Person fremdbestimmende Kulturindustrie.49 Die gedruckten Fotos bezeichnen nur eine Rolle der Schauspielerin Marilyn Monroe, die als konkrete Person schließlich hinter Bildern verschwindet, von ihnen erdrückt wird und sich unter dem Druck ihres Images, das über sie dominiert, das Leben nimmt. Marilyns Bild wird endgültig und bis heute zur Projektionsfläche der modernen Frau, die mit ihren Rollenanforderungen in Konflikt geraten ist. Mit dieser Interpretation zeigt Warhol in der künstlerischen Verarbeitung der medialen Prätexte paradigmatisch einen abstrakten Werte- und Normenkonflikt, der m. E. den Kern des Mythos von Weiblichkeit im 20.
49 Vgl. Crow, Die Kunst der sechziger Jahre (1997), S. 83-92.
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und 21. Jahrhundert ausmacht. In Anlehnung an die Mythemanalyse von Lévi-Strauss lassen sich die sich wandelnden medialen Images von Marlene Dietrich und Marilyn Monroe durch einen gemeinsamen paradigmatischen Kern motivieren. Die mythischen Erzählungen über die Trickster Marlene Dietrich und Marilyn Monroe können als eine gemeinsame, fortlaufende mythische Erzählung gelesen werden, die sich auf einen für unsere Kultur relevanten Werte- und Normenkonflikt bezieht. Wenn man sich das paradigmatische Narrativ anschaut, das den Images von Marlene Dietrich und Marilyn Monroe zu Grunde liegt, kann man formulieren: Ähnlich, wie der Ödipus-Mythos nach dem Ursprung und Wesen des Menschen und insbesondere nach der Autonomie des Mannes als dem prototypischen Menschen der Antike gefragt hat, so fragen die mythischen Erzählungen über und mit Marlene Dietrich und Marilyn Monroe nach dem Wesen der Frau. Im Kern geht es in den Mythisierungen beider Schauspielerinnen um die Frage, ob sich die Frau von bestehenden Strukturen emanzipieren und Hindernisse überwinden muss, um sie selbst zu sein, oder ob sie auch dann autonom zu sich finden kann, wenn sie sich in bestehende (patriarchale) Strukturen integriert. Hiermit zeigt sich beispielhaft an den Images von Marilyn Monroe und Marlene Dietrich, dass sich ihre Starmythen als fortlaufende Arbeit am Mythos der weiblichen Geschlechterrolle in der Medienkultur der Moderne lesen lassen. Die eigentlich kulturell konstruierte, weibliche Geschlechterrolle wird durch variable Harmonisierung kultureller Oppositionen in unterschiedlichen Starmythen und Erzählungen wechselseitig beglaubigt und verstärkt. Auf diese Weise wird diese Rolle für unsere Kultur, trotz aller Problematisierung, als universelle Rolle mythisch stabilisiert. Aus dieser Perspektive sei abschließend ein Seitenblick auf Madonna gewagt, die sicher der wichtigste weibliche Star der letzten vier Jahrzehnte ist. Madonnas audiovisuelles Werk als Popikone revolutioniert von ihren Anfängen an die Populärkultur, indem verschiedene, kulturell eigentlich oppositionelle Zeicheninventare wie Erotik und Religion, soziale Probleme wie Teenagerschwangerschaften und Rassismus sowie eine Hochkultur und Filmgeschichte explizit zitierende Ästhetik an Madonnas Körper als Figur und Sängerin gebunden werden.50 Madonna schafft es dabei ähnlich wie Michael Jackson im medialen Raum des Videoclips, mit Popmusik kultu-
50 Vgl. generell Decker, Where’s That Girl? ( 2005) und Decker, Madonna (2011).
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relle Widersprüche miteinander zu harmonisieren. Dies gelingt ihr, indem sie dem Zuschauer exklusiv eine von ihr als Künstlerin inszenierte Sicht auf die Welt präsentiert. Dabei eignet sich Madonna das Verfahren der Pastichebildung im Sinne Genettes an:51 Mediale Prätexte werden ernsthaft in einer Neuschöpfung nachgeahmt und auf die Weise kombiniert, dass die Kopien und Zitate als solche markiert und als Inszenierung gekennzeichnet werden.52 Damit haftet Madonnas Werk von Anfang an das Merkmal der Simulation und der Erschaffung medialer Simulakren der Simulation im Sinne Baudrillards an.53 Schon ihr erster Hit aus dem Jahr 1984 zeigt dies an: „like a virgin“, wie eine Jungfrau fühlt sich das weibliche Sprecher-Ich durch die Liebe des angesungenen männlichen Du. Sie ist aber keine Jungfrau mehr und möchte ihre erfüllende Liebe auch sexuell ausleben. Dieser selbstbewusste weibliche Umgang mit Erotik und Sexualität soll dann auch an das Publikum vermittelt werden: „Come on, girls, do you believe in love? Cause I’ve got something to say about it and it goes something like this: Don’t go for second best, Baby, put your love to the test […] Express yourself!“
Damit bedient sich Madonna einer postmodernen Ästhetik, indem sie munter die Zeicheninventare mischt und die mediale Konstruktion selbstbewusst als ihr künstlerisches Werk ausstellt.54 Auf diese Weise ist sie in ihrer permanenten optischen Neuerfindung aktuell der Inbegriff des weiblichen Tricksters und der Gestaltwandlerin in unserer Populärkultur geworden.55 Dabei verwendet Madonna multiple Zeicheninventare durchaus zur Vermittlung klarer Bedeutungen und mit einer didaktischen Absicht. Denn als Star will sie verstanden werden, um erfolgreich Musikstücke zu verkaufen. Sie drückt modern aggressiv eine selbstbewusste weibliche Erotik und
51 Vgl. allgemein Genette, Palimpseste (1993), S. 9-47, zur literarischen Pastiche insbesondere S. 130-81. 52 Vgl. Curry, Madonna von Marilyn zu Marlene (1993). 53 Vgl. generell Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod (1982). 54 Vgl. zu Express Yourself Grigat, Madonnabilder (1995), S. 57-71, besonders 70f., und allgemein Weiß, Madonna revidiert (2007), S. 141-67, besonders S. 159ff. 55 Vgl. Decker, Madonna (2014), S. 243-6.
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weiblichen Spaß an der Selbstinszenierung aus.56 Mit ihren 56 Jahren definiert Madonna weibliche Erotik als alterslos und nicht mehr an die Lebensphase der jungen Frau gebunden und schreibt damit den Mythos erotischer weiblicher Selbstbestimmung im 21. Jahrhundert fort.57 Madonnas Starimage bestätigt für die Popkultur der Moderne damit die Stabilisierung einer weiblichen Geschlechterrolle, die auf Erotik begrenzt bleibt, nicht trotzdem, sondern gerade auch weil Madonna diese spielerisch in auch oppositionellen Entwürfen inszeniert. Dabei realisieren die einzelnen Starimages von Marlene Dietrich, Marilyn Monroe und Madonna im Umgang mit Erotik jeweils das Konzept des Tricksters, der kulturelle Oppositionen harmonisiert. Und auch die Abfolge der drei in ihrer Zeit jeweils dominierenden Starimages lässt sich als eine Abfolge zeitspezifisch partiell oppositioneller Weiblichkeitskonzeptionen lesen. Wenn man nun diese zeitliche Abfolge der drei Starimages als fortlaufende Arbeit an der Erzählung des Weiblichkeitsmythos wahrnimmt, dann zeigt uns Madonna, dass die selbstbewusste Inszenierung von Erotik den Mythos einer sich selbst ermächtigenden, machtvollen Weiblichkeit in unserer Populärkultur als ein Ideal installiert werden kann und partiell auch die anderen beiden Starimages überschreibt und synchron neben ihnen präsent ist: In der heutigen Präsenz aller drei Starimages in unserer Populärkultur durch die andauernde Verfügbarkeit, Ausstrahlung und sonstige Verwertung der Filme und Musikvideos auf Medienträgern und im Internet sowie durch die fortlaufende Presseberichterstattung und Buchproduktion über Marlene Dietrich, Marilyn Monroe und Madonna werden die fiktionalen und faktualen Images fortgeschrieben, weiterentwickelt und immer wieder aufs Neue in unsere Populärkultur eingespeist. Dies mag einerseits darin begründet liegen, dass aus unserer heutigen Perspektive auf Geschlechterrollen gerade die gleichzeitige Präsenz widersprüchlicher Rollen und ihr prinzipiell sozialer Konstruktcharakter längst die Norm sind, die Mentalität unserer Populärkultur aber andererseits trotzdem das Bedürfnis nach einer stabilisierten Ordnung und hier nach einer mythisierten, durch Erotik definierten Weiblichkeit noch nicht aufgegeben hat, die wechselseitig durch die Starimages von Marlene Dietrich, Marilyn Monroe und Madonna bestätigt und verstärkt wird.
56 Vgl. Decker, Madonna (2011), S. 244-51. 57 Vgl. Guilbert, Madonna as Postmodern Myth (2002).
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Vernetzte und kanonisierte politische Mythen in der modernen Demokratie Y VES B IZEUL
Mithilfe politischer Mythen bezeugen die Mitglieder einer sozialen Gruppe bzw. einer Gesellschaft die Bedeutsamkeit ihrer politischen Erfahrungen und Handlungen. Sowohl historische Figuren wie auch Gemeinschaften, Ereignisse, Gebäude, Gegenstände und sogar politische Regime bzw. Staatsformen können zu Gegenständen politischer Mythen werden, vorausgesetzt, sie werden mit der Entstehung einer neuen politischen Ära in Verbindung gebracht. Der Mythos ist hier nicht als Fabel oder gar Lüge zu verstehen, sondern als ein Narrativ, das sehr wohl reale Fakten zum Gegenstand haben kann, jedoch stets durch eine „konstitutive Maßlosigkeit“ gekennzeichnet ist.1 Die realen Fakten werden im politischen Mythos „zerlegt, verkettet und ihre Abfolge so interpretiert“, dass sie als Gründungsakt bzw. als Heilsgeschichte einer politischen Gemeinschaft gedeutet werden können.2 Ein mythisches politisches Narrativ ist prinzipiell für unterschiedliche Deutungen offen. In der Ersten Moderne stand der Mythos meist im Dienst einer Ideologie und tendierte dementsprechend dazu, deren Entwederoder-Prinzip zu unterliegen.3 Der politische Mythos verlor demgemäß die Sowohl-als-auch-Struktur4 und die „Liberalität“ der mythischen Erzählun1
Pouillon, Die mythische Funktion (1984), S. 82.
2
Ebd., S. 69.
3
Vgl. Claviez, Grenzfälle (1988), S. 333.
4
Zur Sowohl-als-auch-Struktur der reflexiven Moderne siehe u.a. Beck/Bonß/ Lau, Entgrenzung erzwingt Entscheidung (2004), S. 16.
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gen der Urgesellschaften5 und übernahm den binären Code der politischen Trennung von Freund und Feind.6 Meist beinhalteten die politischen Mythen ursprünglich religiöse ‚Mytheme‘: so z.B. den ewigen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen oder die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Reinen und dem Unreinen, dem Verbotenen und dem Gebotenen. Das Böse und Unreine musste folglich, wenn nötig, durch Kampf und Gewalt, häufig durch eine Schlacht oder einen revolutionären Ansturm, beseitigt werden. In der reflexiven Moderne haben die meisten politischen Mythen erneut eine Sowohl-als-auch-Struktur, da sie sich weitgehend von den angeschlagenen großen Ideologien emanzipiert haben. Die politischen Mythen bieten gegenwärtig eine Alternative zu den Utopien des 20. Jahrhunderts. Die Bedeutung und Funktion des Mythos in der Spätmoderne wurde vom Autor bereits untersucht,7 dennoch ist die Frage, ob es einen demokratiespezifischen Umgang mit dem politischen Mythos gibt, immer noch ein Desiderat der Forschung. Möglicherweise steht dies im Zusammenhang damit, dass politische Mythen der Theorie nach in der modernen liberalen Demokratie keine besondere Stellung innehaben sollten. Stattdessen sollte in dieser Staatsform der zwanglose Zwang des besseren Arguments und der vernünftigen Kompromisse politische Mythen überflüssig machen. Doch greift diese Lesart zu kurz und ist selbst teilweise als mythische Annahme zu bezeichnen. Gerade Jürgen Habermas hat in jüngerer Zeit darauf hingewiesen, dass der demokratische Verfassungsstaat zwar nicht unter einem Begründungsdefizit, wohl aber im Zeitalter des Neoliberalismus unter einem Motivationsdefizit leide,8 wobei die praktische Vernunft auf ein-
5
Vgl. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos (1971), S. 27.
6
Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen (1927).
7
Weiterführende Literatur zur Bedeutung und Funktion des Mythos in der Spätmoderne finden sich in: Bizeul, Mythos, Ideologie und Utopie im heutigen französischen Republikanismus (2011) und Ders., Struktur und Funktion patchworkartiger politischer Mythen in den hochmodernen Gesellschaften (2006). Zur Rolle der großen Erzählungen in der Spätmoderne siehe auch: Rohgalf, Jenseits der großen Erzählungen (2015).
8
Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? (2005), S. 22-5.
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sichtige Weise egalitär-universalistische Begriffe begründen könne. Ein solidarisches Handeln sei aber nur begrenzt das Ergebnis von Einsicht. Des Weiteren sind Mythen heute noch wichtige Legitimationsinstrumente. Auch in den modernen Demokratien findet man miteinander vernetzte und kanonisierte Mythen, die diese Funktion erfüllen, was im Folgenden näher erläutert wird.
K ANONISIERTE M YTHEN ALS L EGITIMATIONSINSTRUMENT IN
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In seinen Vorlesungen zur Ideologie und Utopie hat Paul Ricœur in Anlehnung an Max Weber darauf hingewiesen, dass es einen ausschließlich rationalen Weg politischer Legitimation nicht geben kann. Zwischen dem Legitimitätsanspruch der Regierenden und der Akzeptanz seitens der Regierten klafft stets eine Glaubwürdigkeitslücke, die nur dadurch zu schließen ist, dass die Regierten an bestimmte Axiome des Legitimitätsanspruchs ohne Gewähr glauben.9 Zum anderen hat Ricœur in der Auseinandersetzung mit Clifford Geertz dargelegt, dass das, was die moderne Gesellschaft ausmacht, auf eine symbolische Vermittlung angewiesen ist. In den Vorlesungen zur Ideologie und Utopie handelt es sich entweder um die Ideologie mit ihrer integrativen Funktion oder um die Utopie mit ihrer Störleistung,10 wobei der Mythos in dieser Schrift keine Erwähnung findet. Doch Ricœur hatte ihn in einer früheren Abhandlung als Träger einer bedeutenden symbolischen Funktion erklärt, als ein Entschleierungsinstrument bezüglich der Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Heiligen und als ein Mittel zur Wahrnehmung des Seins im Ganzen. Der Mythos habe zwar seinen Erklärungsanspruch verloren, bleibe jedoch aufgrund dieser symbolischen Funktion heute noch relevant.11 Gerade die Demokratie benötigt den Mythos zu Legitimationszwecken, denn er erfüllt einen für diese Staatsform unentbehrlichen stabilisierenden Auftrag. Demokratische Gesellschaften sind durch eine grundsätzliche
9
Ricœur, L’Idéologie et l’utopie (1997), S. 32f.
10 Ebd., S. 350. 11 Ricœur, Symbolik des Bösen (2002), S. 192.
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Unbestimmtheit charakterisiert.12 Sie sind „grundlos“, zumal sie sich selbst nicht begründen können und eine religiöse Begründung der politischen Ordnung an Überzeugungskraft weitgehend verloren haben. Demokratie geht im Sinne Leforts mit einer „Auflösung der Grundlagen aller Gewissheit“, mit einer radikalen Kontingenz des Sozialen und mit einer Verwischung aller Identitätsmerkmale einher.13 In ihr herrscht eine unaufhebbare Unbestimmtheit bezüglich der Grundlagen der Macht, des Gesetzes, des Rechts, des Wissens und der Beziehungen zwischen dem Einen und den Anderen. Es gibt in dieser Staatsform keine unbestrittene symbolische Repräsentation eines Zentrums respektive Grenzen der Gesellschaft. Dort bleibt der symbolische Ort der Macht leer. Es kommt daher zu einer Entkörperung der Gesellschaft, die früher durch die quasi körperliche Repräsentation des Nationalstaats teilweise kompensiert wurde, sich aber heute in unserer angeblich postnationalen Zeit in ihrer ganzen Radikalität zeigt. Die moderne demokratische Gemeinschaft ist nach Roland Reichenbach „konstitutiv unvollständig“, eine „ewige Baustelle“.14 Jede freie Wahl stellt eine Art Selbstinstituierung und Neugründung der Gesellschaft dar. Zur Entstehung und Stabilisierung der modernen Demokratie haben vor allem die von den Republikanern, Demokraten und Liberalen kanonisierten Mythen des Demos und des Sozialvertrages einen entscheidenden Beitrag geleistet. Beim Demos-Mythos handelt es sich insofern um eine teilweise fiktive Erzählung, als dass das Volk der Staatsbürger „unauffindbar“ ist.15 Der Demos, das Staatsvolk, ist das Ergebnis der Fiktion einer Übereinstimmung von ideellem und empirischem Volk. Der DemosMythos impliziert jedoch keinesfalls, dass das ‚Volk‘, wie auch immer man diesen Begriff definieren mag,16 unmittelbar herrschen könnte bzw. würde, auch wenn die Begriffe Demos bzw. Citoyens gerade dies implizie-
12 Vgl. Lefort, L’Invention démocratique (1981); Ders., Die Frage der Demokratie (1990); Ders./Gauchet, Über die Demokratie (1990); und Derrida, Schurken (2003). 13 Lefort, Démocratie et avènement d’un ‚lieu vide‘ (1982), S. 463. 14 Reichenbach, Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt (2001), S. 408f. 15 Ebd. 16 Zu den zahlreichen Bedeutungen dieses Begriffs siehe u.a.: Sartori, Demokratietheorie (1992), S. 29ff.
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ren und Wunschträume in Richtung Selbstregierung und Räte- bzw. Direktdemokratie immer wieder aufs Neue entstehen lassen.17 Der DemosMythos besagt vielmehr, dass es in einer liberalen repräsentativen Demokratie kein vom ‚Volk‘ bzw. von den Citoyens unabhängiges Machtzentrum geben soll, und dass politische Teilhabe sowie die Kontrolle der gewalthabenden Staatsapparate durch die kritische Öffentlichkeit zwei maßgebliche Voraussetzungen moderner Demokratien sind. Nach Pierre Rosanvallon haben wir es in der Demokratie mit zwei „Gründungsfiktionen“ zu tun: mit der Fiktion des Gründungsaktes der Nation als Einheit und mit demjenigen des demokratischen Verfahrens der Mehrheitsentscheidung, welcher die ursprüngliche Einheit zwangsläufig zerstört und politische Mehrheiten und Minderheiten erzeugt.18 Die erste der beiden Gründungsfiktionen ist mythischer Natur und setzt die Vorstellung des Sozialvertrages voraus,19 wobei diese in der politischen Theorie lange Zeit nicht mehr bemüht wurde, jedoch von den neuen Kontraktualisten John Rawls, David Gauthier, James M. Buchanan und Robert Nozick wieder reaktiviert worden ist.20 Die zweite Gründungsfiktion zeugt wiederum von der Unmöglichkeit einer Selbstbegründung der Demokratie. Mit der Theorie des Gesellschaftsvertrages hat man in der Neuzeit die Quelle der Legitimität der politischen Ordnung in der gegenseitigen Verpflichtung von Freien und Gleichen angesiedelt. Legitimität entsteht in diesem Narrativ aus dem freiwilligen Abschluss eines politischen Vertrages und nicht, wie früher angenommen, aus dem Willen Gottes oder aus einer natürlichen Werteordnung. Diese Wandlung im Ursprung der politischen Legitimität entsprach dem damaligen Übergang der Gesellschaft „von der geburtständischen Privilegienordnung zu einer vertraglich geregelten Ordnung freier und gleicher Rechtssubjekte“,21 folglich vom Zeital-
17 So hat der rumänische Historiker Lucian Boia ein Buch mit dem Titel Der Mythos der Demokratie veröffentlicht, wobei hier Mythos mit Illusion und Schwindel gleichgestellt wird. Vgl. Boia, Le Mythe de la démocratie (2002). 18 Rosanvallon, Demokratische Legitimität (2010), S. 8f. 19 Vgl. Frye, Varieties of Literaty Utopias (1965), S. 323, 332, 336f. und 341. 20 Vgl. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts (1987) und Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags (2005). 21 Ballestrem, Vertragstheoretische Ansätze in der politischen Philosophie (1983), S. 2.
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ter der moralischen Heteronomie zum Zeitalter der moralischen Autonomie und des normativen Individualismus. Der Sozialvertragsmythos ist Träger einer klaren aufklärerischen Botschaft. Heutzutage wird dieser in der politischen Philosophie hauptsächlich zu Rate gezogen, um Prinzipien der Gerechtigkeit zu begründen. Allerdings zeigt sich sowohl in Frankreich als auch in den USA, dass weder der Demos- noch der Sozialvertragsmythos ausreichend sind, um Republiken dauerhaft zu etablieren. In beiden Ländern liefern Nationalmythen ein wichtiges Fundament des dortigen republikanischen Glaubens.22 Die Idee der ‚Nation unter Gott‘ (one nation under God), die in den Vereinigten Staaten sowohl von den Puritanern, den ‚Pilgervätern‘ als auch vom ‚Föderalist‘ vertreten wurde und die man heute noch im Gelöbnis Pledge of Allegiance findet, ist Mythos und Utopie zugleich. Nach dieser Kernvorstellung der identitätsstiftenden US-amerikanischen politischen Zivilreligion hat Gott, wie einst mit den Israeliten, mit dem amerikanischen Volk einen Bund geschlossen, weshalb diese ein ‚Volk von Auserwählten‘ bilden. Der Mythos des ‚Gründungsaktes‘ der Nation wird hier mit der im Bund enthaltenen Utopie des Aufbaus eines ‚Neuen Jerusalems‘ und eines Sendungsgedankens für die zukünftigen Generationen verbunden.23 Die US-amerikanischen republikanischen Mythen sind das Ergebnis eines tiefen religiösen Glaubens und weisen vier Grundeinstellungen auf: einen ontologisch-ethischen Manichäismus (die Guten bzw. Reinen müssen sich vor den Bösen und Unreinen innerhalb und außerhalb der nationalen Gemeinschaft wehren), eine matriarchale Erzählung der Entstehung der USA (die USA als Ergebnis der Rebellion der emigrierten Söhne gegen ihre Väter bzw. die europäischen Könige), die Sehnsucht nach einer FusionsGemeinschaft (in der die formale Gleichheit aller Gläubigen und Nationsangehörigen herrschen soll) und der Kult des Geldes (als Ersatz für das Fehlen einer certitudo salutis im Calvinismus und im Puritanismus).24
22 Zum Nationalmythos in Frankreich siehe u.a.: Nora, Les Lieux de mémoire, Bd. 1, La République (1984); Duclert/Amalvi, Dictionnaire critique de la République (2007); Citron, Le Mythe national (2008); Nicolet, La Fabrique d’une nation (2006); und Schubert, Nation und Modernität als Mythen (2004). 23 Vgl. u.a. Monneyron, Au cœur des Etats-Unis (2011). 24 Vgl. Wunenburger, L’Imaginaire (2003), S. 101-4.
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In Frankreich haben die Republikaner Ende des 19. Jahrhunderts mit Hilfe des Nationalmythos dem frischgebackenen französischen Nationalstaat Beständigkeit verliehen, denn aufgrund der industriellen Revolution, der damit verbundenen Landflucht und der zahlreichen politischen Umbrüche war die neue kollektive Identität in eine Krise geraten. Im Kontext des damaligen Säkularisierungsprozesses des Landes, nahm außerdem der einheitliche Nationalmythos die Form eines Religionsersatzes an. Nicht ohne Grund betrachtete Jules Michelet Frankreich als ein „Dogma“, eine „Legende“, einen „Glauben“ und eine „Religion“.25 Die Schulen der Dritten Republik wurden zu den Hauptvermittlungsstellen der Weitertradierung des einheitlichen, die politischen Lager übergreifenden Nationalmythos – mit dem Ziel des politischen Systemerhalts sowie der Verbreitung und Festigung der Vorstellungen der Souveränität des Demos und des für alle Bürger verpflichtenden republikanischen Sozialvertrages. Auch große charismatische Persönlichkeiten können in der Demokratie Gegenstand eines Mythenbildungsprozesses werden. Churchill, De Gaulle, Roosevelt, Adenauer, Brandt oder Kennedy wurden nicht nur in ihren je-
25 Das 6. Kapitel von Michelets Le Peuple (1846) lautet: „La France supérieure, comme dogme, et comme légende – la France est une religion“. Michelet hierzu: „Le jour où, se souvenant qu'elle fut et doit être le salut du genre humain, la France s'entourera de ses enfants et leur enseignera la France, comme foi et comme religion, elle se retrouvera vivante, et solide comme le globe.“ (Ebd., S. 330). Ernest Lavisse stellte in seinem Beitrag Histoire im Dictionnaire pédagogique et d’instruction primaire, herausgegeben 1886 von Ferdinand Buisson, fest: „[...] puisque la religion ne sait plus avoir prise sur les âmes [...] cherchons dans l’âme des enfants l’étincelle divine; animons-la de notre souffle, et qu’elle échauffe ces âmes réservées à de grands devoirs. Les devoirs, il sera d’autant plus aisé de les faire comprendre que l’imagination des élèves, charmée par des peintures et par des récits, rendra leur raison enfantine plus attentive et plus docile. Tout l’enseignement du devoir patriotique se réduit à ceci: expliquer que les hommes qui, depuis des siècles, vivent sur la terre de France, ont fait, par l’action et par la pensée, une certaine œuvre, à laquelle chaque génération a travaillé; qu’un lien nous rattache à ceux qui ont vécu, à ceux qui vivront sur cette terre“ (zitiert in: Saly/Gérard/Gervais/Rey, Nations et nationalismes en Europe 1848-1914 (1996), S. 133).
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weiligen Ländern als Lichtgestalten mit einem Heilsauftrag dargestellt.26 Wie Tocqueville bemerkt, sind solche großen Persönlichkeiten allerdings im demokratischen Alltagsgeschäft selten und tauchen vor allem dann auf, wenn tiefgreifende Krisen das Gemeinwesen erschüttern.27 In einem Kommentar zum 50. Jahrestag der Ermordung John F. Kennedys betont Richard Herzinger: „Im ‚Mythos Kennedy‘ erkennt sich die demokratische Gesellschaft in ihrem Glanz ebenso wie in ihrer Tragik, in ihren gewaltigen Möglichkeiten wie in ihrer Beschränktheit und Endlichkeit, in ihren märchenhaften Erfolgen wie in ihren verhängnisvollen Irr- und Abwegen. Einen Mythos wie Kennedy braucht die Demokratie, um sich ihrer Maßstäbe und Ideale zu versichern – nicht in dem hybriden Glauben, diesen jederzeit entsprechen zu können, wohl aber in der Entschlossenheit, weiter danach zu streben, ihnen nahe zu kommen. Und in einigen Sternstunden gelingt ihr das sogar“.28
Die meisten großen politischen mythischen Figuren sind in der Tat, ebenso wie die mythischen Trickster,29 ambivalente Gestalten. Sie vereinen Gegensätze und haben gleichzeitig eine helle und eine dunkle Seite. Diese Tatsache wird in der breiten Öffentlichkeit nicht immer wahrgenommen, aber in der wissenschaftlichen bzw. kritischen Literatur häufig thematisiert.30 Politische Mythen können helfen, die demokratischen Prozesse der Entsubstantialisierung, Entkörperung und Teilentbindung von Macht zu begleiten und erträglicher zu gestalten. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Demokratie nach den Demokratisierungswellen der Nachkriegszeit mittlerweile selbst zu einer der wirksamsten mythischen Me-
26 Vgl. Waechter, Der Mythos des Gaullismus (2006); Agulhon, De Gaulle (2000); und Schild, John F. Kennedy (1997). 27 Tocqueville, De la démocratie en Amérique (1992), S. 222 und 225f. 28 Herzinger, Warum der ‚Mythos Kennedy‘ zu Recht weiterlebt (2013). 29 Zur Rolle des Tricksters siehe den Beitrag von Jan-Oliver Decker in diesem Band. 30 Vgl. das Vorwort in: Addison, Churchill on the Home Front, 1900-1955 (2013). Siehe auch: Agulhon, Ist de Gaulle in die nationale Mythologie eingegangen? (2000), S. 216f.
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taerzählungen unseres Zeitalters geworden ist, wie es der ‚Arabische Frühling‘ noch einmal eindrücklich verdeutlicht hat.
M YTHOS UND „ NICHTKONTROVERSER S EKTOR “ IN DER D EMOKRATIE Aber wodurch entsteht in Demokratien das für eine nachhaltige Politik notwendige Minimum an Stabilität? In dieser Staatsform kann prinzipiell alles auf den Prüfstand gestellt und zum Gegenstand politischer Entscheidungen gemacht werden.31 Gerade deshalb braucht die Demokratie einen beständigen „nichtkontroversen Sektor“, der auch auf einer Transzendenz32 und einem Fundus mythischer Narrationen beruht.33 Selbstverständlich ist dieser ‚Sektor‘ nicht gegen Veränderungen immun, aber er besteht aus zählebigen Spielregeln und ‚Grundwerten‘ einer Gesellschaft, die unabhängig von allen (Interessen-)Konflikten weite Akzeptanz genießen. Die Anerkennung und Wertschätzung des ‚nichtkontroversen Sektors‘ kann nicht im eigentlichen Sinne erzwungen werden, wenngleich Sanktionen dessen ‚Heiligkeit‘ untermauern können. Weder die Menschenrechtserklärungen noch die Verfassungen liefern eine endgültige, naturrechtlich verankerte Absicherung von Demokratie und Freiheit. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, die Öffentlichkeit dazu zu bringen, sich für die Freiheit, die Gleichheit und die Gerechtigkeit zu engagieren. Es geht letztendlich bei den Menschenrechten um das „Recht, Rechte zu haben“, wie Hannah Arendt feststellte.34 Sie weisen auf ein transzendentes Recht hin. Doch im politischen Alltag tendieren sowohl die Menschenrechte als auch die Verfassungen – in erster Linie das deutsche Grundgesetz – dazu, die Gestalt eines Mythos mit sakralem Charakter zu erhalten. Laut Hans Vorländer machen „Riten, Kulte, Mythen und Legenden […] das Unvordenkliche und Unsagbare, das Faszinierende und Erschreckende durch performative und narrative Akte erzählbar und in die-
31 Vgl. Greven, Die politische Gesellschaft (2009). 32 Vgl. Vorländer, Demokratie und Transzendenz (2013). 33 Vgl. Fraenkel, Demokratie und öffentliche Meinung (1991), S. 246ff. 34 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (2001), S. 614.
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sem Sinne partiell auch verfügbar“.35 Ein mythisches Narrativ trägt somit dazu bei, die Kontinuität der Achtung unverfügbarer Werte, wie die der Menschenwürde, abzusichern. Es festigt den Glauben an diese Werte und liefert starke Handlungsmotive. Denn es spricht seine Rezipienten vor allem affektiv und emotional an, spitzt die Komplexität der Realität auf einen einzelnen Gegensatz zu und verlangt von den Rezipienten, sich zu positionieren. Folglich existiert sehr wohl ein demokratieaffiner Umgang mit dem politischen Mythos, wie es Hans Vorländer formuliert: „Kultische Praktiken und mythische Narrationen können auch der Stabilisierung partizipativer und demokratisierender Formen des politischen Lebens dienen“.36 Selbst die konservative Dimension mancher politischer Mythen und ein Teil der politischen Symbolik erweist sich nach Gilbert Morris Cuthbertson in der Demokratie von Vorteil, wenn es darauf ankommt, altbewährte Traditionen zu erhalten, Jugendliche mit Hilfe von Übergangsriten als aktiv Handelnde in die Gemeinschaft einzuweisen oder eine friedliche Rotation der Eliten zu sichern. Cuthbertson räumt aber zugleich ein, dass ein übertriebener Konservatismus im Falle einer Krise zu einer Reduzierung der Anpassungsfähigkeiten des gesellschaftlichen Systems führen kann, indem er die Durchsetzung unkonventioneller Lösungen verhindert.37 Innerhalb des ‚nichtkontroversen Sektors‘ muss der politische Mythos nicht zwangsläufig Veränderungen blockieren und Strukturen erstarren lassen. Nach Ricœur kann die narrative Struktur des Mythos Kontingenz/Veränderung und Kontinuität, Offenheit für Veränderungen und Selbstbeschränkung der Politik miteinander verbinden. Der politische Mythos hat nicht selten einen derartigen Januskopf.38 Der israelische Politologe und Historiker Zeev Sternhell hat sich mit der konservativen und zugleich emanzipatorischen Funktion des sozialistischen Mythos der PionierBauern in den israelischen Kibbuzim beschäftigt.39 Claude Rivière betont
35 Vgl. Vorländer, Demokratie und Transzendenz (2013), S. 25. 36 Ebd., S. 27. 37 Vgl. Cuthbertson, Political Myth and Epic (1975). 38 Vgl. Bizeul, Politische Mythen, Ideologien, und Utopien (2006), S. 10-29 und Ders., Politische Mythen (2006), S. 3-16. 39 Vgl. Sternhell, The Founding Myths of Israel (1999).
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in Anlehnung an David Apter die anfänglich befreiende Rolle der Mythen in den neugegründeten Staaten der sogenannten Dritten Welt nach der Dekolonisierung. Diese halfen bei der individuellen und kollektiven Regeneration und stellten einen Zustand der Reinheit her, der die notwendige Basis für die neue politische Ordnung bildet. Rivière belegt jedoch mit zahlreichen Beispielen aus Afrika auch, dass dieselben Befreiungsmythen kurze Zeit später missbraucht wurden, um Machtpositionen von Potentaten und Einheitsparteien zu untermauern.40
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Neben dem ‚nichtkontroversen Sektor‘ findet man in der Demokratie auch einen breiten ‚kontroversen Sektor‘. Interessenkonflikte sind zwar in jedem politischen System vorhanden, in der Demokratie werden sie jedoch offen ausgetragen und sollen dabei gewaltlos bleiben.41 Chantal Mouffe und Ernesto Laclau betonen zu Recht die Agonalität des Demokratischen. Sie beschreiben und begrüßen zugleich die Tatsache, dass die moderne pluralistische Demokratie geradezu von antagonistischen Konflikten lebt.42 Nach Mouffe ermöglichen Äquivalenzketten-Strukturen (identitätsstiftende geteilte Negationen) und die gemeinsame Anerkennung von Freiheit und Gleichheit als unverfügbare Leitwerte den Zusammenhalt der Gesellschaft trotz einer großen Vielfalt an Dissensen.43 Politische Mythen spielen meist bei gesellschaftlichen Konflikten eine wichtige Rolle. Sie tragen dazu bei, die politischen Auseinandersetzungen zwischen Identitäten, Klassen, Akteuren der Zivilgesellschaft, Ethnien bzw. Religionsgemeinschaften sichtbar zu machen und somit auch zu ge-
40 Vgl. Rivière, Les Liturgies politiques (1988), S. 16ff. und 126ff. 41 Vgl. Aron, Démocratie et totalitarisme (2005), S. 1333; Lefort, Démocratie et avènement d’un ‚lieu videʻ (2005), S. 478; und Sarcinelli, Demokratische Streitkultur (1990). 42 Vgl. Laclau/Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy (2001) und Mouffe, Über das Politische (2007). 43 Vgl. Mouffe, The Return of the Political (2005), S. 52.
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stalten. Außerdem können sie auf Probleme innerhalb der Gesamtgesellschaft hinweisen. In der reflexiven Demokratie stellt man eine Zunahme der mit Hilfe von Mythen ausgetragenen Deutungsmachtkonflikte fest. Politische Mythen generieren ‚Gegen‘- bzw. ‚Konkurrenzmythen‘. Marie-Agnès Combesque und Ibrahim Warde weisen in ihrer Untersuchung der Mythen in den USA darauf hin, dass man sich dort seine mythische Erzählung à la carte aussuchen könne, von den Mythen der Gründerzeit bis zum Mythos der Beat Generation.44 Die politischen mythischen Narrationen kleinerer Reichweite, die nicht selten als Waffen in den Interessenkonflikten unserer Zeit und in den kulturellen Konflikten zwischen ethnischen und religiösen Gruppen benutzt werden, setzen den immer wiederkehrenden Versuchen der Ballung von Macht enge Grenzen. Die Pluralisierung der politischen Symbolik ist demokratiefördernd und verhindert gleichermaßen eine Konzentration von Macht. Zwar bedroht sie prinzipiell den gesellschaftlichen Zusammenhalt, jedoch hat die Demokratie andere soziale Bindemittel parat, darunter den friedlich ausgetragenen Interessenkonflikt selbst.45 Bis zu einem gewissen Grad können Konflikte auch integrativ wirken. Integration entsteht, wenn mythische Narrative sich im agonistischen Deutungskampf um Macht, Interessendurchsetzung und Einfluss aufeinander beziehen. So sind in Frankreich die in den 1980er und 1990er Jahren erneut mit viel Pathos erzählten Gründungsmythen der Protestanten (die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 und der darauffolgende Widerstand der Hugenotten) zugleich wichtige mythische Erzählungen des republikanischen Frankreichs und werden heute selbst von den meisten Katholiken als solche angesehen. Sie dienen nicht nur der Festigung der Identität einer durch die Vermehrung von Mischehen und durch die Ökumene bedrohten kleinen re-
44 Vgl. Combesque/Warde, Mythologies Américaines (1996). 45 Vgl. Simmel, Der Streit (1908); Coser, Theorie sozialer Konflikte (1965); Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt (1992); und Dubiel, Integration durch Konflikt? (1999). Die Kommunitarier bestreiten allerdings, dass der Konflikt ausreicht, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten. Sie legen Wert auf die Existenz geteilter Wertesysteme und erzeugen demzufolge selbst ein mythisches Narrativ. Vgl. Bizeul, Politische Mythen im Zeitalter der „Globalisierung“ (2005), S. 27.
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ligiösen Minderheit, sondern erweisen sich zudem als bindende Elemente für die Gesamtgesellschaft.46 Sogar die Mythen des ‚nichtkontroversen Sektors‘ stehen heutzutage im Sog der Agonistik. Wie oben erwähnt, haben früher die Mythen des Nationalismus und des Republikanismus in Demokratien eine zentrale integrative Funktion erfüllt. Die Narration des nationalen Mythos erfolgt jedoch im Europa der Gegenwart kritisch und moralisierend, aber immer seltener einheitlich, sodass von einer Einheitserzählung kaum die Rede sein kann. Die heutige nationale Erzählung entspricht vielmehr dem vierten Typus des Geschichtsbewusstseins Jörn Rüsens, dem postmodernen „genetischen Typus“.47 In diesem letzten Typus erhalten Wandel und Vielfalt der Interpretation einen zentralen Stellenwert. Dass dies jedoch nicht zum Relativismus führt, ist auf die moralischen Urteile zurückzuführen, die gefällt werden. Selbst der Republikanismus, der früher dazu beitrug mit Hilfe zahlreicher Symbole und Mythen eine geglaubte Einheit entstehen zu lassen,48 ist im postnationalen Zeitalter, das sich vor allem in Westeuropa durchgesetzt hat, in eine Krise geraten. Von der alten nationalen und republikanischen Mythologie sind nur noch hinterfragte Mythenbruchstücke geblieben, welche die überzeugten Republikaner durch Schrift und Wort zusammenzuhalten versuchen, indem sie diese immer wieder aufs Neue reproduzieren. So befindet sich Frankreich derzeit in einem schmerzlichen Prozess der Neugestaltung und Neudeutung althergebrachter republikanischer Erzählungen. Daraus entspringt Frust, und im Land macht sich eine tiefe Unsicherheit breit.49 Intellektuelle mit Deutungsmacht von Links und Rechts versuchen mehr oder weniger vergeblich, durch eine narrativ konstituierte Identität das Problem zu bewältigen. Andere greifen das französische „republikanische Modell“ an und beschreiben es negativ als „Mythos“, hier im Sinne einer Legende.50
46 Vgl. Bizeul, Gemeinschaften mit Eigenschaften? (1993), S. 82-94 und Ders., Le huguenot résistant et Luther, le colosse aux pieds d'argile (2010). 47 Vgl. Rüsen, Historische Vernunft (1983). 48 Vgl. u.a. Bizeul, Mythos, Ideologie und Utopie im heutigen französischen Republikanismus (2011). 49 Vgl. Schnapper, L’échec du ‚modèle républicain‘? (2006). 50 Vgl. Genestier/Laville, Au-delà du mythe républicain (1994).
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Mit Mythen, die von den Einzelnen selbst weitgehend als solche erkannt werden, lässt sich nur eine brüchige Kollektividentität bilden. Freilich stellt man gegenwärtig gerade in Frankreich eine verstärkte Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis und eine Vermehrung von lokalen bzw. nationalen Gedenkfeiern aller Art fest. Tzvetan Todorov spricht angesichts dieses Phänomens sogar von einem „abus de la mémoire“,51 von einem Missbrauch des Gedenkens. Gerade die intensive Beschäftigung mit den Gedächtnis- bzw. Erinnerungsorten ist jedoch ein sicheres Zeichen des Verlustes der alten Erinnerungsmilieus infolge von Globalisierung, Demokratisierung und der Massen- bzw. Mediengesellschaft.52 Man kann zwar mit Jean-William Lapierre in der heutigen Abwesenheit eines einheitlichen religiösen bzw. ideologischen Gründungsmythos einen Grund für die derzeit wachsende Politikverdrossenheit sehen,53 andererseits lässt sich diese Entwicklung jedoch auch als demokratischer Gewinn deuten, zumal in der modernen pluralistischen Demokratie die symbolische Benennungsmacht nicht nur im Staat zu finden ist. Sie wird vielmehr an verschiedenen Orten ausgeübt: Oppositionelle Parteien, unabhängige Richter, auf Investigation bedachte Journalisten, einflussreiche neokorporatistische Lobbyisten, Wirtschaftsunternehmer und Vertreter der Bürgergesellschaft bzw. der NGOs können auf eine solche symbolische Macht rekurrieren, um ihre jeweiligen Ansichten bzw. Interessen durchzusetzen. Dadurch entsteht aber auch eine Art provisorischer Kanon gesellschaftlich wahrgenommener und mehr oder minder anerkannter Mythen, der dazu beiträgt, den demokratischen Pluralismus zu reduzieren. Die Bandbreite dieser Mythen reicht von mythischen Großerzählungen (Globalisierung, Klimawandel, Kampf der Kulturen) bis zu mythischen Gebrauchsgegenständen – wie z.B. im Fall des von Roland Barthes untersuchten Citroën DS-Mythos, ein Symbol der damals aufsteigenden Mittelschicht und des französischen Wirtschaftswunders,54 – zu Alltagsmythen – so James Dean oder die Beatles als Symbole von Jugendrevolten in einer
51 Vgl. Todorov, Les Abus de la mémoire (2004). 52 Vgl. Nora, Entre Mémoire et Histoire (1984), S. XVIIf. 53 Lapierre, Le fondement mythique de la légitimité du pouvoir politique (1995), S. 197. 54 Barthes, Mythen des Alltags (2012), S. 196-8.
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sich rasch verändernden Welt – und zu Kinofilmen, die potentielle Bedrohungen anprangern (Star Wars, Minority Report, Matrix etc.).55
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Im Kontext eines allgegenwärtigen Pluralismus kann die epochale Unbestimmtheit der „demokratischen Abenteuer“56 leicht unerwünschte Folgen zeitigen. Denn sie sorgt in der Bevölkerung für eine Sehnsucht nach Gewissheiten, nach klaren Trennlinien, Identitäten und Entscheidungen und nach scheinbar unwiderlegbaren politischen Überzeugungen. Das Phantasma mit klarem Mythos-Charakter des einen „Einheits-Volkes“ lässt sich dann leicht populistisch instrumentalisieren.57 In Krisenzeiten verlangen viele nach verfestigten Kollektividentitäten, entweder durch den Rekurs auf den Mythos der Blutgemeinschaft oder auf den der ethnischen oder religiösen Gemeinschaft bzw. der Klassengemeinschaft. Dies erklärt die heutigen (bisher vergeblichen) Bemühungen nationale Mythen selbst in etablierten westeuropäischen Demokratien zu reaktivieren.58 Myriam Revault d’Allonnes hat auf die pathologischen Auswirkungen des demokratischen Experiments nach dessen Triumph in Osteuropa 1990 hingewiesen, in einer Zeit also, die durch politische Impotenz, mangelnde Marktförderung bzw. -regulierung (Stichwort: Neoliberalismus) und durch die Gefahr eines identitären Rückzugs in Form eines Clash of civilizations bzw. von Ängsten vor einer angeblichen „Überfremdung“ gekennzeichnet war.59 In einem solchen Umfeld können politische Mythen leicht die Dysfunktionen der Demokratie akuter machen. Im liberalen Globalisierungsmythos wird wie selbstverständlich von einem selbstregulierenden Markt60 und im u.a. von Chiara Bottici und Benoît Challand untersuchten konservativen Mythos des Clash of civilizations von Konflikten zwischen ver-
55 Vgl. Wodianka/Ebert, Metzler Lexikon moderner Mythen (2014). 56 Lefort, La question de la démocratie (1986), S. 26. 57 Vgl. Lefort, La logique totalitaire (1981), S. 105. 58 Vgl. Bizeul, Rekonstruktion des Nationalmythos? (2013). 59 Vgl. Revault d’Allonnes, La Crise sans fin (2012). 60 Vgl. Bizeul, Politische Mythen im Zeitalter der „Globalisierung“ (2005).
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feindeten Zivilisationen ausgegangen, wobei die Handlungsfähigkeit von Demokratien untergraben wird.61 Populisten aller Art bedienen sich heute gerne Verschwörungstheorien, um ihre Ziele zu erreichen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um echte Theorien, sondern eher um Mythen besonderer Art. Solche Narrative übertreiben nicht nur stark in ihrer Darstellung der Realität wie andere politische Mythen auch, sondern sie verändern zusätzlich die Wirklichkeit fast vollständig, so dass diese den Wunschvorstellungen des Erzählers und der Rezipienten entspricht. Eine solche Strategie bringt den freiwilligen und dankbaren Gläubigen mehrere Vorteile. Sie ermöglicht die Übertragung von Schuldgefühlen auf ‚böse‘ Sündenböcke und vermittelt den Menschen, die sich als angeblich „Wissende“ und „Reine“ betrachten,62 ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber der breiten Masse der ‚Verblendeten‘ und der kleinen Gruppe der unreinen Verschwörer. Erst im Zeitalter des kritischen Verdachts (ère du soupçon, Nathalie Sarraute) konnten sich Verschwörungen zu festen Denksystemen etablieren. Mit Aufklärung und Moderne entstanden radikale Umwälzungen, welche die alten Gewissheiten und Traditionen in Frage stellten. Die verunsicherten Massen suchten daraufhin nach Schuldigen für die Erschütterung der alten vertrauten Ordnung und nach Orientierung. Bestimmte Gruppen von angeblichen Profiteuren festigten dabei die Dämonisierung der sich vollziehenden Transformationsprozesse. Daniel Pipes hat darauf hingewiesen, dass paradoxerweise „das Verschwörungsdenken gerade in einer Zeit an Auftrieb [gewann], als es an Glaubwürdigkeit verlor“.63 Verschwörungsmythen sind Bestandteil eines Machtkampfes, der auch mit unlauteren Mitteln ausgefochten wird. Für manche Sozialwissenschaftler sind sie nachvollziehbare Reaktionen auf undurchsichtige Machtverhältnisse. So sieht Mark Fenster in derartigen Populärmythen fantasiereiche Narrationen, die aus einem „hyperaktiven semiotischen Vorgang“ ent-
61 Vgl. Bottici/Challand, Rethinking Political Myth (2006); Dies., The Myth of the Clash of Civilizations (2010); und Bizeul, Der Kampf um die Deutungsmacht in der Spätmoderne am Beispiel des Mythos des Clash of Civilizations (2014). 62 Moscovici, The conspiracy mentality (1987), S. 154. 63 Pipes, Verschwörung (1998), S. 112.
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stehen.64 Sie seien Ausdruck einer populären Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie eines tiefen Skeptizismus gegenüber der herrschenden politischen Ordnung.65 Diese These ist aber insofern bedenklich, als dass viele Verschwörungsmythen zunächst nicht von Schwachen, sondern von Herrschenden in die Welt gesetzt wurden – so beispielsweise die Protokolle der Weisen von Zion (1903), die von ultrakonservativen Russen mit der festen Absicht eine Modernisierung Russlands zu verhindern entworfen und verbreitet wurden. Nach Hans Jürgen Krysmanski könne allein eine Stärkung der Demokratie dazu führen, die Verschwörungstheorien überflüssig zu machen.66 Eine gewagte These, zumal solche Narrationen in erster Linie das Ergebnis von Transformationsprozessen sind. Da die Demokratisierung einen tiefgreifenden Wandel impliziert, ist davon auszugehen, dass ein solcher Vorgang die Zahl der Verschwörungstheorien zunächst eher erhöhen als verringern würde. Die meisten Verschwörungsmythen werden heute in den Mediendemokratien durch die Massenmedien erzeugt oder zumindest weitertransportiert. Da die alten Medien jedoch dazu tendieren, extreme Meinungen auszufiltern, ist in unserem heutigen digitalen Zeitalter das Internet zum wichtigsten Ort der Verbreitung von Verschwörungstheorien geworden.67 Allerdings hat Pascal Froissart anhand der Debatten um das Buch Thierry Meyssans Effroyable imposture aufgezeigt, wie eng heute noch alle Medienarten in diesem Kontext zusammenarbeiten. Große Teile des Buches Meyssans, in dem die These eines inszenierten Terrorismus am 11. September 2001 vertreten wird, wurden zunächst im Internet publik gemacht und von einzelnen Internetnutzern konsultiert, bevor diese auch für die traditionellen Medien interessant wurden. Erst ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich das Buch zum Bestseller.68
64 Ebd., S. 78. 65 Ebd., S. 67. 66 Arte-Thema „Verschwörungstheorien“. Interview mit Prof. Dr. Hans Jürgen Krysmanski, Soziologe (Universität Münster) (2008). 67 Vgl. Freyermuth, Das Internet der Verschwörer (1996). 68 Arte-Thema „Verschwörungstheorien“. Gerüchte im Internet von Pascal Froissart, Dozent für Informations- und Kommunikationswissenschaften, Universität Paris VIII (2008).
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DER M YTHEN IN DER CONTRE - DÉMOCRATIE Im Unterschied zu totalitären Regimen treten in den heutigen Demokratien zivilgesellschaftliche Kräfte untereinander sowie zivilgesellschaftliche Kräfte und Staat in einen analogen Wettstreit. Pierre Rosanvallon beschreibt die spätmodernen Demokratien aufgrund des hohen kritischen Potentials der Öffentlichkeit als contre-démocraties (Gegendemokratien). Sie funktionieren mittlerweile auf der Grundlage einer intensiven Interaktion von Staat und Zivilgesellschaft.69 Die modernen Demokratien stehen nunmehr im Zeichen einer „Gesellschaft der Singularitäten bzw. der Partikularitäten“.70 In diesem Kontext sehen sich die Politiker zusehends dazu gezwungen ihre Legitimität – anstatt durch die Verpflichtung auf geteilte Visionen für das Gemeinwohl – durch Vertrauenswürdigkeit und durch Nähe zu den Bürgern und zu ihren Anliegen unter Beweis zu stellen, d. h. durch das Eingehen auf und die Moderation von möglichst vielen spezifischen Anliegen. Dadurch rücken die Momente der Überwachung, des (Be-) Urteilens und des Verhinderns, über die vor allem die Zivilgesellschaft als Waffen gegen das politischen System verfügt, ins Zentrum der Auffassung von Demokratie.71 Als Reaktion auf die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, aber eben auch in Anlehnung an den ‚Arabischen Frühling‘, haben sich kurzlebige, aber öffentlichkeitswirksame Bewegungen formiert, die auf öffentlichen Plätzen kampieren und gewillt sind, diese in Orte einer gelebten direkten Demokratie zu verwandeln. Mit der Piraten-Partei-Bewegung hat 2006 ein Akteur zumindest kurzfristig die politische Bühne betreten, welcher eine ‚Verflüssigung‘ der repräsentativen Demokratie einforderte (liquid democracy), die sich an Modi der Meinungs- und Entscheidungsfindung orientierte, wie sie in der Netzkultur gepflegt werden. Ähnliches findet man bei der Occupy-Bewegung. Deren Mitglieder versuchen den Demos neu als eine Multitude zu denken. Anstelle der rousseauschen Vorstellung des einheitlichen Volkskörpers wird die Multitude von dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt und dem italienischen Philo-
69 Vgl. Rosanvallon, La Contre-démocratie (2006). 70 Vgl. Ders., Die Gesellschaft der Gleichen (2013), S. 309. 71 Vgl. Ders., Demokratische Legitimität (2010).
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sophen Antonio Negri in ihrem Bestseller Empire (2000) als Menge von Singularitäten betrachtet.72 Die Autoren bestreiten damit die Existenz eines rousseauschen einheitlichen Allgemeinwillens und versuchen stattdessen direktdemokratische Beteiligungsformen mit dem heutigen Pluralismus kompatibel zu machen.73 Zu den Inszenierungen und Mythen der politischen Machthaber kommen in der contre-démocratie zahlreiche Gegeninszenierungen und Gegenmythen hinzu. Es entsteht daraus eine Art ‚Kampf‘ der Inszenierungen und Mythen, der auch zur Entschleierung von Machenschaften und zur Aufdeckung von Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen beitragen kann. Selbst das ‚Politainment‘, die Vermittlung von Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, kann in dieser Hinsicht als Chance für die Demokratie betrachtet werden.74 Demzufolge kann in der heutigen Zeit keinesfalls von einem Leben in der Postdemokratie, geschweige denn von einem Ende der Demokratie die Rede sein.75 Wir haben es im Gegenteil mit einer höchstlebendigen ‚Polyarchie‘ (Robert Dahl) zu tun. Die Unterscheidung von kontroversem und nichtkontroversem Sektor findet eine Entsprechung in Pierre Rosanvallons Abgrenzung von empirischem Wahlvolk und ideellem Volk der Staatsbürger. Bei Wahlen werden Dissense thematisiert und ausgetragen, wodurch das Wahlvolk in sich gespalten wird. Der Staatsbürger ist hingegen das Ergebnis eines Grundkonsenses über den Wert, die Werte und die Spielregeln der Republik.76 In der Gegendemokratie werden neben der Anerkennung von Differenz noch weitere Werte wie Volksnähe, Vertrauen, Authentizität und vor allem Transparenz hervorgehoben. In erster Linie hat der Ruf nach Transparenz in der Politik mittlerweile eine mythische Dimension erlangt, was sich mit einer Grundeigenschaft der Demokratie erklären lässt. Denn Transparenz ist eng mit dem Ideal einer ‚Gesellschaft von Gleichen‘ (Tocqueville) verbunden. Gerade die Machthaber dürfen dieses Prinzip nicht in Frage stellen. Wikileaks und Transparency International wollen uns vor der staatli-
72 Vgl. Hardt/Negri, Multitude (2004). 73 Vgl. Rohgalf, Democracy of the Many? (2013). 74 Vgl. Dörner, Politainment (2001). 75 Vgl. Crouch, Postdemokratie (2009) und Guéhenno, Das Ende der Demokratie (1996). 76 Vgl. Rosanvallon, Le Peuple introuvable (1998).
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chen Zensur und einer Geheimpolitik schützen, die auch Herrschaftsverhältnisse zementieren. Die Verfügbarkeit von beispiellosen Datenmengen in digitalen Netzwerken sowie die Möglichkeit der computerisierten Auswertung der Beziehungen zwischen Datensätzen beflügeln den Mythos der Transparenz auf äußerst ambivalente Weise. Durch die Existenz der Big Data scheint buchstäblich alles bis zum individuellen Verhalten mit Hilfe großer Datensätze kalkulierbar zu sein. Die Datensammlungen können sowohl als Waffe gegen die Mächtigen als auch als Instrument zur Demokratisierung verwendet werden,77 ebenso können sie der Überwachung, Lenkung und Manipulation von Bürgern und Konsumenten dienen.78 Régis Debray spricht im Bezug zur heutigen Transparenzforderung von einer „demokratischen Obszönität“.79 Obszön ist nach ihm der mit dem Transparenzmythos verbundene Wille, jede Art von Transzendenz abzuschaffen und die Welt in einer vorgestellten Nacktheit wahrnehmen zu wollen. Wie Rousseau verzweifelt nach Authentizität und der Ablegung gesellschaftlicher Masken strebte, versucht man in der heutigen Demokratie die meist mediale Inszenierung von Macht zu überwinden und zerstört somit ihr Fundament, vor allem die notwendige Vertikalität der Politik, die nicht nur über eine horizontale Dimension disponieren kann. Byung-Chul Han bestätigt diese Diagnose, wenn er betont, dass eine völlige Transparenz einer vollständigen Entpolitisierung und Gleichschaltung der Gesellschaft gleichkommen würde.80 Das Ideal der Transparenz stünde letztendlich im Einklang mit einer neoliberalen, das Politische aufhebenden Sicht der Gesellschaft. Eine Hyperinformation und Hyperkommunikation würde am Ende zu einem Mangel an Wahrheit und zu einem Defizit an Sein führen. Aufschlussreich ist auch die Parallele, die Byung-Chul Han zwischen der Transparenzgesellschaft, der Pornografie sowie der Leistungs- und Beschleunigungsgesellschaft zieht. Alle vier seien für unsere Gesellschaft kennzeichnend und ihre Vermengung könne leicht zu einer völligen Überwachung und Kontrolle des Einzelnen führen. Der demokratische Mythos der Transparenz ist aus diesem Grund nach Byung-Chul Han eines der ge-
77 Vgl. z.B. Gray, Five ways open data can boost democracy around the world (2015). 78 DeZwaart, Surveillance, Big Data and Democracy (2014). 79 Vgl. Debray, L’Obscénité démocratique (2007). 80 Han, Transparenzgesellschaft (2013), S. 7 und 15.
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fährlichsten Narrative unserer Zeit für die Demokratie selbst,81 jedoch bewertet er die Transparenzforderung zu einseitig negativ, denn durchaus gehört zur Kontrolle der Macht ein Minimum an Transparenz und die Möglichkeit der Einsichtnahme seitens der Bürger. Wie der Transparenzmythos zeigt, finden sich heutzutage neben den zahlreichen Mythen kleinerer Reichweite auch einige politische mythische Erzählungen größerer Reichweite. Sie liefern der Politik und der Öffentlichkeit bzw. Zivilgesellschaft Erklärungsmuster und Handlungsbegründungen. Das ist beim Mythos der Globalisierung offensichtlich der Fall, denn dieser leistet zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft gegen die Kräfte des mythischen ‚Empire‘ einen wichtigen Beitrag. Selbst der Mythos des Kampfes der Kulturen kann mit Bassam Tibi und französischen Vertretern der Laizität als Verteidigung der westlichen Werte und als Apologie der Republik gedeutet werden. Wie das sogenannte ‚wilde Denken‘ ist auch das heutige mythische Denken bestrebt, „auf dem kürzesten Wege zu einem allgemeinen Verständnis des Universums zu gelangen, und zwar nicht nur zu einem allgemeinen, sondern auch zu einem totalen bzw. ganzheitlichen“.82 Es gibt nach Lévi-Strauss einen „totalitäre[n] Anspruch des wilden Denkens“.83 Ähnliches lässt sich in den großen politischen mythischen Erzählungen unserer Zeit wie dem Globalisierungsmythos, dem Mythos der Netzwerkgesellschaft bzw. dem Mythos des Kampfes der Kulturen, finden. Sie berichten von der Schaffung einer Einheitswelt voller Konflikte, aber auch voller Verheißungen. Die neueren Metaerzählungen sind ähnlich strukturiert wie die Mythen der Urgesellschaften. Es ist zu vermuten, dass dies mit dem Ende der Dominanz der politischen Ideologien der Moderne zusammenhängt. In den großen politischen Narrationen der Mediengesellschaft spielen politische Ideologien zwar weiterhin eine Rolle, so die neoliberale Ideologie, die Ideologie der Kapitalismuskritik oder die Ideologie einer weltweiten Demokratisierung – nur treten sie hinter dem ganzheitlichen Anspruch der neuen großen politischen Mythen zurück. Dies erklärt, wieso diese Erzählungen ambivalent sind. Dieselben Mythen, so z.B. der Globalisierungs-
81 Vgl. Han, Transparenzgesellschaft (2013). 82 Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung (1995), S. 28. 83 Ebd., S. 29.
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mythos, können von Links und Rechts gleichermaßen und gleichzeitig beansprucht werden, auch wenn die damit intendierten Ziele selbstverständlich unterschiedlicher Natur sind. Sie können für den Prozess der Demokratisierung förderlich sein und dabei zugleich rechtstaatliche Freiheiten bedrohen. Die heutigen großen mythischen Erzählungen dienen nicht nur, wie die lévi-straussschen Mythen, dazu, die Welt so zu erhalten wie sie ist und Orientierung und Sinn zu stiften, sondern weisen auch auf Gefahren und Chancen hin und wollen somit einen Ausweg aus der aktuellen Datenflut, der Unübersichtlichkeit und letztendlich auch der Resignation angesichts der Zunahme schwer kontrollierbarer Kräfte und Entwicklungen bieten. Insofern sind sie eine Herausforderung für die Demokratie in einer Zeit funktionaler Ausdifferenzierung und limitierter Gestaltungsmöglichkeiten der Politik als Folge der „Glokalisierung“ (der Globalisierung und Lokalisierung).84
S CHLUSSFOLGERUNGEN Die politische Symbolik hat sich in unserer scheinbar durchrationalisierten Welt, in der das stark vereinfachende Bild des homo oeconomicus vorherrscht, keinesfalls zu einer inhaltsleeren Hülse entwickelt, wie David Kertzer irrtümlich behauptet.85 Dies ist nicht einmal in unserer Mediendemokratie der Fall, in der die Kraft der Bilder eine Entpolitisierung des Politischen herbeizuführen droht.86 Die politische Symbolik und der politische Mythos erfüllen heute noch wichtige Funktionen in der Demokratie
84 Vgl. Robertson, Glokalisierung (1998). 85 Kertzer, Ritual, Politik und Macht (1998), S. 365. 86 Vgl. Jarren/Schatz/Weßler, Massenmedien und politischer Prozess (1996); Röttger, PR-Kampagnen (1997); Arnold/Fuhrmeister/Schiller, Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert (1998); Sarcinelli, Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft (1998); Jarren/Sarcinelli/Saxer, Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft (1998); Schatz/Nieland, Politische Akteure in der Mediendemokratie (2001); und Sarcinelli/Tenscher, Machtdarstellung und Darstellungsmacht (2003).
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und zwar über die in allen politischen Regimen vorhandenen Integrations-, Legitimations- und Mobilisierungsfunktionen hinaus. In der Demokratie sind die politischen Mythen gleichermaßen prägend und präsent. Sie gehen Verknüpfungen untereinander, aber auch mit anderen virulenten Narrativen ein. Ähnlich wie nach Michael Freeden die Ideologie,87 beinhalten auch die politischen Mythen einen Pool an Bedeutungen und Bildern, welche immer neue Konfigurationen bringen können und so die jeweilige Aussage des Mythos ausmachen. Die Variabilität und Ambivalenz der demokratischen Symbolik erklärt ihre Anpassungsfähigkeit. Die demokratischen Mythen bedienen sich sowohl antiker Mythen (Perikles, Herkules, dem Demos, Athen, des republikanischen Rom, der germanischen Wälder als Ursprungsort der Demokratie) als auch religiöser bzw. quasireligiöser Bilder (dem Bund, der Vernunft, der Nation, dem Volk bzw. der Multitude als Gottesersatz, der Gleichheit, der Transparenz usw.). Sie werden in zahlreichen Narrationen hermeneutisch wiederbelebt, sind Gegenstand einer mythologischen Bricolage und einer ‚barocken‘ Verwandlung. Darunter versteht Wunenburger in Anlehnung an Monneyron eine spielerische Neudeutung der Mythen mittels Umkehrungen, Parodien und optischer Täuschungen (trompe-l’œil), die im Einklang mit der Spätbzw. Postmoderne und den heutigen pluralistischen Gesellschaften steht.88 Es wäre illusorisch, eine die Demokratie fördernde politische Mythologie durch eine voluntaristische Lenkung von Oben hervorbringen zu wollen. Wenn Thomas Meyer eine Veränderung des Mediensystems verlangt, um dieses an die Anforderungen der modernen Demokratie anzupassen, äußert er nur fromme Wünsche.89 Die Entstehung politischer mythischer Narrationen lässt sich, wenn überhaupt, nur begrenzt in liberalen Staaten steuern. Realistischer ist es, auf die Heilkräfte und auf die Dynamik des pluralistischen demokratischen Systems selbst zu setzen. In der Demokratie sollte allerdings Emmanuel Lévinas’ Grundunterscheidung zwischen dem Sakralen und der Heiligkeit ernst genommen werden,90 ernster als dies bei Régis Debray der Fall ist, wenn er ohne kriti-
87 Vgl. Freeden, Ideology (2003). 88 Vgl. Wunenburger, L’Imaginaire (2003), S. 60f. und Monneyron/Thomas, Mythes et littérature (2002). 89 Vgl. Meyer, Mediokratie (2001). 90 Vgl. Lévinas, Vom Sakralen zum Heiligen (1998).
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sche Distanz von Sakralität im Bezug zur Politik spricht und diese pauschal befürwortet.91 Die Heiligkeit kennzeichnet tatsächliche Transzendenz, die radikale Alterität des ‚ganz Anderen‘. Nur sie öffnet die politische Gemeinschaft für ein wirkliches Außen und kann so deren innere Schließung verhindern. Sie unterminiert die Verkörperung der politischen Gemeinschaft in einem Führer, einem ‚Volk‘ oder einer Partei. Das Sakrale zerstört die Transzendenz und setzt Innerweltliches an die Stelle des ‚ganz Anderen‘. Die politische Gemeinschaft wird dann, wie schon Emile Durkheim bemerkte, zum sakralen Gegenstand und erhält dadurch eine symbolische Dimension,92 die ihr nicht gebührt. Sie muss in diesem Fall mühsam entzaubert werden. Hier findet man den Grund für eine in regelmäßigem Abstand notwendige reinigende Dekonstruktion politischer Mythen. Diese Dekonstruktion ist aber nicht mit einer illusionären Aufhebung jeglicher politischer Mythologie in der Demokratie gleichzusetzen.
L ITERATUR Addison, Paul: Churchill on the Home Front, 1900-1955. 2. Aufl. London 1993. Agulhon, Maurice: De Gaulle. Histoire, symbole, mythe. Paris 2000. Agulhon, Maurice: Ist de Gaulle in die nationale Mythologie eingegangen? In: Bizeul, Yves (Hg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen. Berlin 2000, S. 213-18. Arnold, Sabine R./Fuhrmeister, Christian/Schiller, Dietmar (Hg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht. Wien/Köln/Weimar 1998. Aron, Raymond: Démocratie et totalitarisme. In: Ders.: Penser la liberté, penser la démocratie. Paris 2005, S. 1217-465. Arte-Thema „Verschwörungstheorien“. Interview mit Prof. Dr. Hans Jürgen Krysmanski, Soziologe (Universität Münster). In: Arte.tv (online), URL: www.arte.tv/de/geschichte-gesellschaftverschwoerungstheorien/ interview/420000.html (07.03.2008).
91 Vgl. Debray, Jeunesse du sacré (2012). 92 Vgl. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1994).
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Vom Surrealismus bis zu Roland Barthes: Transformationen moderner Mythen W OLFGANG A SHOLT
In einem kurzen programmatischen Essay mit dem Titel, „L’activité structuraliste“ (1963), den er im folgenden Jahr in die Essais critiques (1964) aufnimmt, vergleicht Roland Barthes diese ‚Aktivität‘ relativ unerwartet und unerklärt mit jener der Surrealisten: „[L]e structuralisme est essentiellement une activité, c’est-à-dire la succession réglée d’un certain nombre d’opérations mentales: on pourrait parler d’activité structuraliste comme on a parlé d’activité surréaliste (le surréalisme a peut-être, d’ailleurs, produit la première expérience de littérature structurale, il faudra y revenir un jour).“1
Abgesehen davon, dass durch den Verweis auf den Surrealismus die ‚activité structuraliste‘ mit der künstlerisch-literarischen gleichgesetzt und zur Theorie-Avantgarde nobilitiert wird, erstaunt dieser Vergleich angesichts der Zurückhaltung Roland Barthesʼ den ‚historischen‘ Avantgarden gegenüber; er wird übrigens auf die in Anspruch genommene Homologiestruktur nicht zurückkommen. Doch angesichts der Bedeutung der ‚activité structuraliste‘ für die Mythologies suivi de Le Mythe, aujourd’hui (1957) hat dieser Vergleich wahrscheinlich eine größere Bedeutung als die Anspielung auf die mit der Vergangenheitsform historisierte surrealistische Bewegung erahnen lässt. In der Aufführungsrezension einer Barrault-Inszenierung (Le songe des prisonniers von Christopher Fry) des Jahres 1955 verdeutlicht 1
Barthes, L’Activité structuraliste (1993), S. 1329.
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Roland Barthes unter dem schönen Titel „La vaccine de l’avant-garde“, was er unter Avantgarde versteht bzw. wie er Avantgarde verstanden wissen will: wenn er Jean-Louis Barrault vorwirft, seinem Publikum „quelques signes d’avant-garde“ zu geben, um es gegen diese, nämlich „la véritable avant-garde, la révolution des langues et des mythes“2 zu immunisieren. Julia Kristeva hat in barthesscher Tradition La révolution du langage poétique (1974) in einer anderen die ‚véritable avant-garde‘ erblickt, doch im Ziel einer ‚révolution des langages et des mythes‘ hätte sich auch der Surrealismus wiedererkannt. André Breton schreibt in einem Dada-Manifest des Jahres 1920, „avant tout nous nous attaquons au langage qui est la pire convention“,3 vertritt also die ‚véritable avant-garde‘, die Roland Barthes mehr als 30 Jahre später proklamiert. Mit den Mythologies will Barthes die ‚révolution des mythes‘ zugleich praktizieren und theoretisch rechtfertigen. Ottmar Ette bemerkt zu recht, dass in dem der Buchausgabe beigefügten Le Mythe, aujourd’hui „aus dem Mythenschreiber der Strukturalist“ wird.4 Eben jener Strukturalist, der diese neuen Positionen auch in „L’activité structuraliste“ (1963) vertritt, wo er den Surrealismus als ‚première expérience structuraliste‘ avant la lettre bezeichnet. Wenn Strukturalismus und Surrealismus also in einer Weise zusammenhängen, dass der Autor meint, darauf zurückkommen zu müssen, und wenn die Mythologies eigentlich nur mit und im Strukturalismus ihre Erfüllung finden können, liegt zumindest die Frage nahe, warum in den Mythologies und ihrer theoretischen Grundlegung der Surrealismus keine Erwähnung findet, sei es als Produzent von Mythen, sei es, weil er selbst zum Mythos geworden ist; schon 1949 hatte Maurice Blanchot konstatiert: „Le surréalisme s’est-il évanoui? C’est qu’il n’est plus ici ou là: il est partout. C’est un fantôme, une brillante hantise.“5 Im Unterschied zu Barthes weist Claude Lévi-Strauss in La Pensée sauvage (1962) zumindest auf diese Beziehung hin, wenn er den für die ‚réflexion mythiqueʻ charakteristischen „compromis entre la structure de l’ensemble instrumental et celle du projet“ mit dem „effet que les surréalistes ont nommé avec bonheur ‚hasard
2
Ders., La vaccine de l’avant-garde (1993), S. 472.
3
Breton, Deux manifestes Dada (1988), S. 231.
4
Ette, Roland Barthes (1999), S. 39.
5
Blanchot, Réflexions sur le surréalisme (1949), S. 90.
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objectif‘“ vergleicht.6 Bei der Absenz des Surrealismus in den Mythologies handelt es sich also um das, was Juri Lotman als „Minus Prijam“, das (intendierte) „Fehlen bestimmter Merkmale“ qualifiziert.7 Wenn Barthes zwar auf die surrealistische Vor- oder Frühgeschichte des Strukturalismus eingeht, diese jedoch, obwohl zumindest ähnlich naheliegend, für den Komplex Mythos/Mythologie unberücksichtigt lässt, so liegt es nahe, die Gründe dafür in der unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Konzeption des Mythos zu sehen. Denn im Vergleich zur ‚Mythologie‘ des Surrealismus vollzieht Barthes jene ‚révolution des mythes‘, die er propagiert und die er als das entscheidende Merkmal der ‚véritable avant-garde‘ bezeichnet. Ohne dies direkt zu proklamieren, beansprucht diese Theorie-Avantgarde, die künstlerisch-literarische Avantgarde der Zwischenkriegszeit überwunden zu haben und bestätigt deren „Scheitern“ (Peter Bürger) auch in Bezug auf den Mythos durch eine neue, aktuellere und wissenschaftlichere Mythologie. Wie sich der Transformationsprozess dessen, was zum jeweiligen Zeitpunkt als „mythologie moderne“ (Louis Aragon) verstanden wird, vollzieht, soll im folgenden anhand der Positionen des Surrealismus, des Collège de Sociologie und des Existentialismus untersucht werden, um Entwicklungen, Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den Mythen der Moderne aufzuzeigen und ihre Haltbarkeit zu hinterfragen.
E IN „G RÜNDUNGS -M YTHOS DES S URREALISMUS “: L OUIS A RAGONS M YTHOLOGIE Die Rezeption der (zunächst französischen und dann deutschen) Romantik spielt für die surrealistische Mythologie eine entscheidende Rolle. Louis Aragon leitet seinen Paysan de Paris (1926) mit einer „Préface à une mythologie moderne“ ein und bezieht sich damit ebenso auf die „neue Mythologie“ Novalis’ und die Neu-Erfindung einer mythischen Welt, wie André
6
Lévi-Strauss, La pensée sauvage (2008), S. 581. Die Verbindung zwischen dem lévi-straussschen Strukturalismus und Bretons Surrealismus verdeutlicht auch Lévi-Strauss’ „Note sur les rapports de l’œuvre d’art et du document, écrite et remise à André Breton à bord du Capitaine Paul-Lemerle en mars 1941“ und die „Réponse d’André Breton“ (ebd., S. 1581-3 und 1583-5).
7
Lotman, Die Struktur literarischer Texte (1972), S. 405.
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Breton dies mit einem Verweis auf Novalis im Manifeste du Surréalisme (1924) tut,8 auch wenn die Bedeutung und die Konzeption des deutschen Romantikers erst mit Albert Béguins L’Âme romantique et le rêve (1937) wirklich bekannt werden. Vor allem in der deutschen Romantik und im entsprechenden Idealismus finden die Surrealisten das Modell dafür, in der modernen auch eine mythische Welt zu entdecken (Aragon) oder für die moderne Welt einen „mythe collectif“ (Breton) zu postulieren. Und Breton nimmt diese Verbindung im Sinne der ‚Ahnengalerie‘ des Ersten9 im Second manifeste du surréalisme explizit ‚greifbar‘ in Anspruch: „[C]e romantisme dont nous voulons bien, historiquement, passer aujourd’hui pour la queue, mais alors la queue tellement préhensible“.10 Die beiden Surrealisten setzen sich jedoch zu unterschiedlichen Momenten und mit anderen Zielsetzungen mit einem (zeitgemäßen) Mythos auseinander. Louis Aragons ‚mythologie moderne‘ fällt in die Gründungszeit des Surrealismus (1924-1926) und ihre Benennung ist durchaus programmatisch zu verstehen. „Les dieux de sa mythologie moderne“, schreibt Michel Murat, „saisissent parfaitement le style d’une époque, celle des années vingt.“11 Mit anderen Vorzeichen trifft das auch für Bretons ‚mythe collectif‘ zu: In der immer schwierigeren und bedrohlicheren Situation der 1930er Jahre erblickt er im Mythos ein Instrument, sich der kommenden Katastrophe zu widersetzen. Jacqueline Chénieux-Gendron ist also zuzustimmen, wenn sie von einer „imprégnation foncière du surréalisme par la pensée mythique“12 spricht. Der Mythos-Begriff Aragons, wie er ihn in der 1924 erstmals veröffentlichen „Préface à une mythologie moderne“ entwickelt, verbindet sich aufs Engste mit dem „merveilleux moderne“, den er erstmals in einem Artikel
8
Vgl. Breton, Manifeste du surréalisme (1988), S. 339. Breton zitiert aus den Fragmenten Novalis’: „[I]l y a des séries idéales d’événements qui courent parallèlement avec les réelles“, und diese ‚ideale Folge‘ weist durchaus Parallelen zum Mythosbegriff des späteren Breton auf.
9
Vgl. ebd., S. 328f.
10 Ders., Second manifeste du surréalisme (1988), S. 803. 11 Murat, Le Surréalisme (2013), S. 107. 12 Chénieux-Gendron, Rhétorique et écriture mythique (1966), S. 35.
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des Jahres 1919 als Signatur der Moderne propagiert.13 Wenn ‚merveilleux‘ und ‚mythologie moderne‘ also quasi identisch sind, kann davon ausgegangen werden, dass Aragons Mythologie zumindest in nuce schon vor der ‚Erfindung‘ des Surrealismus existiert. Es handelt sich freilich um eine Mythologie, die sowohl ein Lebensgefühl zum Ausdruck bringt als auch einen Diskurs vertritt, mit dem die Moderne den Mythos als das Andere ihrer selbst versteht. Was bei Aragon schon 1919 angelegt ist, ist die Kritik der Vernunft (die sich dort gegen das von Apollinaire [L’Esprit nouveau et les poètes (1918)] propagierte wissenschaftlich-technische ‚merveilleux‘ richtet), einer Vernunft, die Aragon in der „Préface“ mit der „fameuse doctrine cartésienne de l’évidence“ identifiziert und die er verurteilt: „Nous n’avons pas fini de découvrir les ravages de cette illusion.“14 Demgegenüber vertritt Aragon eine ‚mythologie moderne‘, in der sich Vernunft und Instinkt gegenseitig aufheben: „A toute erreur des sens correspondent d’étranges fleurs de la raison“15. Hans Freier hat dies als eine „Rückholung des Mythischen aus dem von Geschichte und Utopie erzeugten Strom der Irrealisierung“ 16 und zugleich einen „Verlust des utopischen Potentials“17 bewertet, insofern grundlegend von der ‚neuen Mythologie‘ der Romantik geschieden. Doch die von ihm so genannte „Banalisierung des Mythischen und Poetisierung des Banalen“18 bildet sozusagen das ‚Systemprogramm‘ der aragonschen Mythologie und ihre Tragik: „Caractère tragique de toute mythologie. Il y a un tragique moderne: c’est une espèce de grand volant qui tourne et qui n’est pas dirigé par la main.“19 In manchen Aspekten nimmt dies die Position der barthesschen Mythologies vorweg. Das Sich-Einlassen auf den ‚merveilleux quotidien‘ hat seinen Preis, einen Preis der Selbstaufgabe, den auch die ‚mythologie moderne‘ verlangt. Die ‚mythologie moderne‘ repräsentiert also einerseits den Epochenstil der 1920er Jahre, zugleich verbindet sich Aragons mythologisches Programm mit einer
13 Aragon, Du Sujet (1998), S. 43: „Mais il se propose à notre fantaisie un fantastique, un merveilleux moderne autrement riche et divers.“ 14 Ders., Le Paysan de Paris (1979), S. 10. 15 Ebd., S. 15. 16 Freier, Odyssee eines Pariser Bauern (1983), S. 163. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Aragon, Le Paysan de Paris (1979), S. 146.
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(Selbst-)Kritik der Mythologie, durch die Aragon dieser Epochenstimmung mit kritischer Distanz gegenübertreten kann.
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Der ‚merveilleux‘ spielt für André Bretons Konzeption des Surrealismus eine ebenso große Rolle wie für Aragon.20 Es ist bezeichnend, dass Breton im Kontext seiner Erklärung des ‚Grand Mystère‘ des Surrealismus im Manifeste du surréalisme21 eine Apologie des ‚merveilleux‘ für notwendig hält: „le merveilleux est toujours beau, n’importe quel merveilleux est beau, il n’y a même que le merveilleux qui soit beau“.22 Der ‚merveilleux‘ findet sich sowohl in Kunst und Literatur, aber auch und vor allem, wie Nadja (1928) illustriert, im alltäglichen Leben und weist somit Analogien zu Aragons ‚merveilleux quotidien‘ auf. Die bretonsche Mythologie sollte sich jedoch nicht im Zusammenhang mit dem ‚merveilleux‘ entwickeln; in einer ersten Phase bleibt sie auf Kunst und Literatur begrenzt. Zum ersten Mal taucht der Begriff ‚mythologie moderne‘ bei Breton in einem kurzen Text zu Giorgio de Chirico auf, der im Januar 1920 in der von Aragon, Soupault und ihm selbst herausgegebenen Littérature erscheint: „J’estime qu’une véritable mythologie moderne est en formation“, und diese wird als Revision „[des] données sensibles du temps et de l’espace“23 definiert. Mit seinen Werken der 1920er und der beginnenden 1930er Jahre trägt Breton selbst zu dieser literarisch-künstlerischen Revision im Sinne einer ‚mythologie moderne‘ bei, doch es sollte 15 Jahre dauern, bis er die nun anders qualifizierte Mythologie erneut und explizit propagiert. Sie taucht in der „Préface“ zur Position politique du surréalisme auf, der Bilanz der Beziehungen zum (sowjetischen) Kommunismus nach dem Eklat beim „Congrès international des écrivains pour la défense de la culture“ (22.-25. Juni 1935), denn zu Ende dieses Vorworts bekennt sich Breton zu der Verpflichtung, „de conci-
20 Vgl. Collani, Le merveilleux dans la prose surréaliste européenne (2010.) 21 Breton, Manifeste du surréalisme (1988), S. 319: „[L]a résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité“. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 251.
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lier le surréalisme comme mode de création d’un mythe collectif avec le mouvement beaucoup plus général de libération de l’homme.“24 Der Surrealismus ist zu dieser aufhebenden ‚Versöhnung‘ des Künstlerischen und des Politischen in der Lage, weil es ihm nicht um die künstlerisch-literarische Subjektivität des (genialen) Individuums geht, sondern weil mit den surrealistischen Verfahren „il [der Künstler] est brusquement mis en possession de la clé d’un trésor, mais ce trésor ne lui appartient pas, il lui devient impossible, même par surprise, de se l’attribuer: ce trésor n’est autre que le trésor collectif.“25
Michael Sheringham spricht in dieser Hinsicht von einem „glissement, au niveau du mythe et de l’inconscient, de l’individuel au collectif“.26 Eine solche Transformation ist auch der damaligen politisch-sozialen Situation geschuldet und mit der neuen Bedeutung, die ‚mythe collectif‘ und ‚trésor collectif‘ für Breton gewinnen, zweifelsohne gegeben. Historisch greift Breton auf den „mythe social“ Georges Sorels27 zurück, der schon die italienischen Futuristen beeinflusst hatte, und den Hans Blumenberg als „das Minimum dessen, was noch den Titel Mythos tragen könnte“,28 bezeichnet. Breton kann zu Recht den von Beginn an kollektiven Charakter des Surrealismus in Anspruch nehmen. Wenn sich der Surrealismus, wie es das Seconde Manifeste (1930) formuliert, „s’est mis en devoir de soulever [un problème plus général] et qui est celui de l’expression humaine sous toutes ses formes“,29 wird ein „glissement de l’individuel au collectif“ geradezu (wenn auch nicht exklusiv) notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Deshalb ist es für Breton auch unverzichtbar, dem „mythe personnel“, den André Malraux beim „Ersten Kongress des sowjetischen Schriftstellerverbandes“ (1934) als Charakteristikum des westlichen Schriftstellers bezeichnet hat,30 eben jenen ‚mythe collectif‘ entgegenzusetzen. Denn die surrea-
24 Ders., Position politique du surréalisme (1992), S. 414f. 25 Ebd., S. 439. 26 Sheringham, Subjectivité et politique chez Breton (2007), S. 117. 27 Sorel, Réflexions sur la violence (1908). 28 Blumenberg, Arbeit am Mythos (2006), S. 248. 29 Breton, Second manifeste du surréalisme (1988), S. 802. 30 Ders., Position politique du surréalisme (1992), S. 437.
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listischen Techniken, von denen Breton spricht, und das unterscheidet den Surrealismus im Sinne des „Kunst in Leben rückführen“ (Peter Bürger) von ‚literarischen‘ Bewegungen oder Autoren, „sont à la portée de tous“,31 können also zu Recht beanspruchen, der Schlüssel zu einem ‚trésor collectif‘ zu sein. Dass Breton die Position politique du surréalisme mit dem ContreAttaque-Manifest vom 7. Oktober 1935 schließt, weist schon gattungsbedingt auf ein kollektives Unternehmen hin. Zwar taucht der Begriff des Mythos in dem vor allem von Georges Bataille inspirierten Text nicht auf, doch interessieren sich Bataille und Masson schon in den 1920er Jahren „für die tragischsten und düstersten Mythen“,32 und Massons Titelillustration für die Zeitschrift Acéphale bildet die visuelle Illustration dieser Orientierung. Welche Bedeutung dem Mythos vom Netzwerk zwischen Surrealismus und der Bataille-Gruppe beigemessen wird, zeigen auch die Arbeiten Roger Caillois’. Der ehemalige Surrealist und Protagonist des Collège de sociologie veröffentlicht 1936 einen Essay, „Fonction du mythe“, den er 1937 als Einleitungsbeitrag in sein Werk Le mythe et l’homme aufnimmt. Welche Hoffnungen und Gefahren Mitte der 1930er Jahre mit einer neuen Mythologie verbunden sind, deutet einer der letzten Sätze dieses Essays an: „Des mythes humiliés aux mythes triomphants, la route est peut-être plus courte qu’on ne l’imagine. Il suffirait de leur socialisation.“33 Es ist nicht unwahrscheinlich, darin eine (kritische) Anspielung auf den ‚mythe collectif‘ Bretons zu sehen, mit dem Caillois Ende 1934 gebrochen hatte. Caillois nimmt nicht an Contre-Attaque teil, und über die von Bataille u.a. vertretene Konzeption des ‚surfascisme‘ kommt es relativ rasch zum Bruch des Zusammenschlusses, auch wegen der Batailleschen Strategie, den Faschismus mit seinen eigenen Mitteln zu übertreffen und deshalb einen aggressiven und heterodoxen zeitgenössischen Mythos zu benötigen. Stephan Moebius wertet die unterschiedlichen Mythos-Konzeptionen folgendermaßen: „Während die Surrealisten allerdings noch von einem modernen Mythos sprachen, rief Bataille den Mythos mit Acéphale ins Leben.“34 Unabhängig von der Einschätzung der Geheimgesellschaft Acéphale und ihrem kurzen
31 Ebd., S. 438. 32 Clébert, Gesammelte Schriften. Bd. 1 (1990), S. 48. 33 Caillois, Fonction du mythe (2008), S. 245. 34 Moebius, Die Zauberlehrlinge (2006), S. 238.
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‚Leben‘ widerspricht der von Bataille eingeschlagene Weg, Du Cercle communiste démocratique à Acéphale (1932-1939), mit seinem Ziel einer „fin religieuse (mais anti-chrétienne, essentiellement nietzschéenne)“35 der Offenheit des Surrealismus und den mit dem ‚mythe collectif‘ verbundenen sozialen und politischen Hoffnungen, die Breton nicht aufzugeben bereit ist, wie etwa seine gemeinsame Erklärung mit Trotzki „Pour un art révolutionnaire indépendant“ (1938) verdeutlicht. Wenn Breton in den 1942 im amerikanischen Exil veröffentlichten „Prolégomènes à un troisième manifeste“ vom „souci“ der „plus lucides et les plus audacieux d’aujourd’hui“ spricht, nämlich „de fournir une prompte réponse à la question: Que penser du postulat ‚pas de société sans mythe social‘; dans quelle mesure pouvons nous choisir ou adopter, et imposer un mythe en rapport avec la société que nous jugeons désirable?“,36
und in diesem Zusammenhang die Namen von Bataille, Caillois oder Masson nennt, so zeigt dies trotz des Bruches mit Bataille und seiner Gruppe eine gewisse Kontinuität in Hinblick auf Bedeutung und Notwendigkeit des Mythos, wobei das ‚imposer‘ den sozialen oder kollektiven Charakter des Mythos nicht unproblematisch erscheinen lässt. Und wenn Breton abschließend die ‚Grands Transparents‘ als einen solchen ‚Mythos‘ erwähnt, und in diesem Zusammenhang auf eine Stelle in den Tagebüchern von Novalis verweist37 und die „Prolégomènes“ mit der Frage schließt: „Un mythe nouveau?“38, dann illustriert dies die angesichts der Kriegssituation fast schon ‚verzweifelte‘ Hoffnung, im ‚neuen Mythos‘ eine die Situation überwindende Perspektive zu gewinnen. Angesichts dieser Kontinuität ist es konsequent, dass Breton zum Katalog der berühmten Surrealismus-Ausstellung in New York (14. Oktober - 17. November 1942) „De la survivance de certains mythes et de quelques autres mythes en croissance ou en formation“ beisteuert, eine von wenig Text begleitete Visualisierung von Mythen, vom Âge d’or bis zu den ‚Grands Transparents‘. Zwar wird hier kein ‚mythe collectif‘ oder ‚mythe social‘ explizit erwähnt, aber in ihrer Gesamtheit
35 Bataille, L’Apprenti sorcier (1999), S. 508. 36 Breton, Prolégomènes à un troisième manifeste (1999), S. 10. 37 Ebd., S. 14. 38 Ebd., S. 15.
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bilden die Beispiele eine Entwicklungsgeschichte solcher Mythen. Auch in der 1947 veröffentlichten Ode à Charles Fourier taucht die ‚mythische‘ Begrifflichkeit nicht auf, doch zum einen belegt die Identifizierung Bretons mit der zum Mythos gewordenen Figur des utopischen Sozialisten, wie groß die Notwendigkeit für den entsprechenden Mythos geworden ist, zum anderen repräsentieren die zwölf Leitgedanken, die Breton zusammenfasst, mythische Versatzstücke der fourierschen Utopie. Wenn Breton den Text eines Vortrags aus dem Jahre 1936, „Limites non-frontières du surréalisme“, in dem er bekennt, „[a]ucune tentative d’intimidation ne nous fera renoncer à la tâche que nous nous sommes assigné et qui est [...] l’élaboration du mythe collectif propre à notre époque“,39
1953 in La clé des champs aufnimmt, dann wird aus dem ‚mythe collectif‘ ein Definitionsmerkmal des Surrealismus. Und die Tatsache, dass Breton in Interviews nach dem Krieg im Zusammenhang mit Fourier auf den „mythe nouveau“40 zurückkommt, bestätigt die zentrale Rolle, die ihm seitdem zukommt.41 Die ‚mythologie moderne‘ des Surrealismus hat sich in zahlreichen literarisch-künstlerischen Mythen oder Mythemen manifestiert (von den „paramythes“ Max Ernsts über die „mythologie naturelle“ André Massons bis zu den „Vitreurs“ Roberto Mattas), doch die Arbeit am Mythos selbst repräsentieren die Mythenkonzeptionen von Aragon und Breton. In gewisser Weise bildet die „Préface à une mythologie moderne“ Aragons den surrealistischen Aufbruch. Die ‚neuen Mythen‘ bewirken einen Modernisierungsschub, sie tragen dazu bei, wie es Walter Benjamin formuliert, „[d]ie Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen.“42 Die Befreiung durch eine moderne Mythologie ist immer auch eine literarisch-künstlerische, im Sinne der ‚révolution des langues et des mythes‘ Roland Barthes’. Doch mit
39 Ders., Limites non-frontières du surréalisme (1999), S. 667. 40 Ebd., S. 598. 41 In diesem Interview des Jahres 1946 deutet Breton auch eine Wiederannäherung an Georges Bataille an: „[J]’estime que Bataille, en tout ce qui concerne l’élaboration de ce mythe, est qualifié pour jouer un rôle capital.“ (Ebd., S. 599). 42 Benjamin, Der Sürrealismus, S. 307.
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der (unvermeidlichen) Politisierung des Surrealismus Ende der 1920er Jahre kann sich die neue Mythologie nicht mehr auf Kunst und Literatur beschränken. Aragon findet im Mythos des Sowjetkommunismus eine die Widersprüche der ‚mythologie moderne‘ aufhebende Lösung. Umso stärker entwickelt sich in den politischen Auseinandersetzungen der 1930er Jahre für den bretonschen Surrealismus die Notwendigkeit, einen auch politischsozialen Mythos zu propagieren, der einerseits die Kritik gegenüber dem stalinistischen Modell vertreten und andererseits mobilisieren kann. Doch der bretonsche ‚mythe collectif‘, der sich zu Recht auf die Forderung, die Dichtung zu praktizieren, berufen kann, vermag ebenso wenig wie die Avantgarde insgesamt lebens- oder sozialverändernd bedeutsam zu werden. Daran ändert auch das kurzfristige Contre-Attaque-Bündnis mit der späteren Acéphale-Gruppe Georges Batailles nichts, eher im Gegenteil. Bretons Insistieren auf dem ‚mythe collectif‘ im amerikanischen Exil und nach der Rückkehr aus den USA zeugt somit eher von Nachhut- als von AvantgardeKämpfen. Der Surrealismus ist dabei, ‚historisch‘ zu werden; andere Mythenkonzeptionen dominieren die französische Debatte.
D IE R E -M YTHOLOGISIERUNG
IM
E XISTENTIALISMUS
Diese Historisierung wird explizit von Jean-Paul Sartre in „Situation de l’écrivain en 1947“ unternommen. Wenn er die Generation der Zwischenkriegszeit von den Surrealisten bis zu späteren Kollaborateuren insgesamt als gescheitert qualifiziert,43 so macht er in einer vielseitigen Fußnote dem Surrealismus den Prozess: „[L]e surréalisme entre en période de repli […], son propos ne peut être que négatif: détruire dans les esprits des bourgeois qui forment son public les derniers mythes chrétiens qui s’y trouvent encore. C’est-ce que je voulais démontrer.“44
43 Sartre, Situations II (1948), S. 228: „Tous ont été hanté par ce point imaginaire gamma, seul immobile dans un monde en mouvement, où la destruction, parce qu’elle est pleinement destruction et sans espoir, s’identifie à la construction absolue.“ 44 Ebd., S. 326.
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Nun kann man fragen, ob diese Rezeptionssituation nicht auch für den sartreschen Existentialismus zutrifft. Vor allem repräsentiert Sartres Essay des Jahres 1947 auch den Anspruch, eine dominierende Position im literarischen Feld zu etablieren, d.h. die ältere Bewegung des Surrealismus zu marginalisieren. Dies ist mit gravierenden Folgen für die surrealistische Konzeption des Mythos verbunden. Denn Sartre und in anderer Weise Camus praktizieren in ihren Dramen (und Camus in Le mythe de Sisyphe [1942]) eine Wiederaneignung und Instrumentalisierung von Mythologie, die keine neuen Mythen propagierte, sondern mit Hilfe des ‚Alten‘ das ‚Neue‘, die Gegenwart, besser verstehen will. Diese Re-Mythologisierung des Theaters hatte schon in den 1930er Jahren (mit Giraudoux und Cocteau) begonnen, und die während der Okkupationszeit aufgeführten oder veröffentlichten Stücke (Sartre: Les Mouches [1943], Huis clos [1944] und Camus: Caligula [1944]) stehen als ‚théâtre de contrebande‘ in dieser Tradition. Mit einer solchen Aktualisierung des ‚Alten‘ realisieren die sogenannten Existentialisten ihr Programm, wie es Sartre in einem (in den USA gehaltenen) Vortrag mit dem Titel „Forger des mythes“ erläutert, „de porter à la scène certaines situations qui éclairent les principaux aspects de la condition humaine et de faire participer le spectateur au libre choix que l’homme fait dans ces situations.“45
Die Mythen dienen als Repertoire, um immer wiederkehrende Situationen in ihrem aktuellen Kontext zu präsentieren. Nur so kann das Theater verwirklicht werden, auf das die Existentialisten in der unmittelbaren Nachkriegszeit ihre Hoffnungen setzen: „car s’il doit s’adresser aux masses, le théâtre doit leur parler de leurs préoccupations les plus générales, exprimer leurs inquiétudes sous la forme de mythes que chacun puisse comprendre et ressentir profondément.“46
Auch wenn das intendierte Massenpublikum mit diesem Theater wohl kaum erreicht wird, führt sein Erfolg in der literarisch-intellektuellen Öffentlichkeit dazu, dass die klassischen Mythen in einer solchen Weise do-
45 Ders., Un théâtre de situations (1992), S. 59. 46 Ebd., S. 63.
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minieren, dass für eine ‚mythologie moderne‘, von einem ‚mythe collectif‘ ganz zu schweigen, kein Platz bleibt. Insofern trifft die Einschätzung Sartres, die ehemalige surrealistische Avantgarde sei auf dem Rückzug begriffen, auch für deren Hoffnung zu, eine neue, möglichst performative Mythologie zu entwickeln.
R OLAND B ARTHES ʼ D EKONSTRUKTION MODERNEN M YTHEN
DER
Mit dem deutschen Titel seiner zum ‚Klassiker‘ gewordenen Mythen des Alltags (1964) befindet sich Roland Barthes zumindest terminologisch in der Nähe des ‚merveilleux quotidien‘ und der Mythenkonzeption des frühen Surrealismus. Doch während das ‚Wunderbare‘ den Alltag transformieren sollte, wie Aragons Paysan de Paris und Bretons Nadja illustrieren, legt es der erste Teil von Barthesʼ Mythologies, die einzelnen Mythologemen gewidmete Analyse von „Alltagsmythen“, darauf an, diese zu ‚entzaubern‘; Mythenkritik ist für Barthes immer auch „Fortsetzung der Ideologiekritik mit anderen, strukturalistischen Mitteln“.47 Nicht ohne Grund verweist er in „Le mythe est une parole dépolitisée“ des theoretischen Teils auf die Deutsche Ideologie (1845-1846) Karl Marx’.48 Dies wird dadurch bestätigt, dass er sich kurz zuvor, in der Auseinandersetzung mit Camus um seine Rezension von La Peste (1947), diesem gegenüber als Vertreter des „matérialisme historique“49 bezeichnet hat. Wenn Barthes seinen theoretischen Essay mit den Worten beginnt, „Le mythe est une parole“50, so kann fast jedes Alltagsphänomen („la photographie, le cinéma, le reportage, le sport, le spectacle [...])“51 zum Gegenstand solcher Mythisierungen werden. Wenig später jedoch sieht er in seinem berühmten Schema52 im Mythos zwei semiologische Systeme wirken, den „langage-objet“ und den „méta-
47 Ette, LebensZeichen (2011), S. 55. 48 Barthes, Le mythe, aujourd’hui (1993), S. 708. 49 Ders., Réponse de Roland Barthes à Albert Camus (1993), S. 479. 50 Ders., Le mythe, aujourd’hui (1993), S. 683. 51 Ebd., S. 684. 52 Vgl. ebd., S. 687.
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langage“.53 Folglich erweist sich die Behandlung des Mythos als „système sémiologique second“ zwar als ausgesprochen produktiv und innovativ, zeigt aber auch – und die Gleichsetzung von „langage, discours, parole etc.“ als „toute unité ou toute synthèse significative“ bestätigt dies – dass Barthes zwar gern auf die strukturale Linguistik seit Saussure zurückgreift, diese aber zugleich mythenkritisch adaptiert und kreativ für seine Mythenanalyse weiterentwickelt. Dank dieses Verfahrens gewinnt Barthes große Freiheit und Disponibilität im Umgang mit und der Interpretation von Einzelmythen, auf die er in „Le mythe comme système sémiologique“ auch deutlich hinweist: „La sémiologie [...] est une science parmi d’autres, nécessaire mais non suffisante. [...] Il en va ainsi de la mythologie: elle fait partie à la fois de la sémiologie comme science formelle et de l’idéologie comme science historique: elle étudie des idéesen-forme.“54
In dieser Doppelgesichtigkeit der Mythologien liegt die Möglichkeit permanenter Umkodierungen begründet. Nun sind „Der Semiologe und seine Mythen“, so das entsprechende Kapitel bei Ottmar Ette,55 in Hinblick auf strukturalistisch-poststrukturalistische und kulturwissenschaftliche Theoriebildung zwar häufig analysiert worden,56 der Ideologiekritiker Barthes hingegen wird allenfalls gelegentlich erwähnt. Für die historische Situierung und die lang andauernde Wirkung seiner Mythologie ist der ideologische Standpunkt jedoch nicht unerheblich, auch wenn er ihn nicht so explizit formuliert wie in seinem Brief an Camus. Camus hatte sich gegen den Vorwurf der mangelnden Solidarität57 verwahrt, den Barthes in seiner Peste-Rezension zumindest indirekt erhoben hatte: „son auteur, premier témoin de notre Histoire présente, a fi-
53 Ebd., S. 688. 54 Ders., Le mythe, aujourd’hui (1993), S. 685. 55 Vgl. Ette, Roland Barthes (1999), S. 107-29. 56 Neben Ette jüngst in dem wichtigen Sammelband von Mona Körte/AnneKathrin Reulecke (Hg.): Mythen des Alltags – Mythologies. Roland Barthes’ Klassiker der Kulturwissenschaften. Berlin 2014. 57 Barthes, Lettre d’Albert Camus à Roland Barthes sur La Peste (1993), S. 458: „[S]on auteur refuse la solidarité avec notre histoire présente.“
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nalement préféré récuser les compromissions – mais aussi la solidarité – de son combat.“58 Mit diesen Worten schließt Barthes bewusst seinen Artikel. Barthes nimmt also einen marxisierenden ‚linken‘ Standpunkt ein. Zwar widmet er sich auch dem „mythe, à gauche“,59 doch die Auseinandersetzung mit „Le mythe, à droite“60 ist ungleich intensiver. Auch wenn er einräumt, „[o]ui, le mythe existe à gauche, mais il n’a pas du tout les mêmes qualités que le mythe bourgeois“,61 und den Stalinismus als Mythos qualifiziert,62 stellt er doch apodiktisch fest: „Le mythe de gauche est inessentiel.“63 Zugleich vertritt er damit eine quasi-mythische Konzeption des Proletariats, denn „[l]a parole de l’opprimé est réelle [,...] c’est une parole transitive. […] Elle est quasi impuissante à mentir [...]“.64 Damit bedarf die ‚Linke‘ eigentlich keiner Mythen:65 „[P]artout où l’homme parle pour transformer le réel et non plus pour le conserver en image, partout où il lie son langage à la fabrication des choses, le méta-langage est renvoyé à un langage-objet, le mythe est impossible.“66
Barthes unterscheidet also zwischen der Alltagssprache des Proletariats und dem méta-langage, und dieser charakterisiert seit der Inanspruchnahme der Autonomie auch die Literatur: „[L]a littérature s’est mise à se sentir double: à la fois objet et regard sur cet objet, parole et parole de cette parole, littérature-objet et méta-littérature.“67 Und neben Flaubert, Mallarmé und Proust bildet der Surrealismus in dieser Entwicklung eine wichtige Eatppe: „[E]n multipliant volontairement, systématiquement, à l’infini, les sens du mot-
58 Ebd. 59 Vgl. Ders., Le mythe, aujourd’hui (1993), S. 709-11. 60 Vgl. ebd., S. 712-7. 61 Ebd., S. 711. 62 Ebd., S. 710: „Un jour est venu, par exemple, où c’est le socialisme lui-même qui a défini le mythe stalinien.“ 63 Ebd., S. 711. 64 Ebd. 65 Ebd.: „[C]’est un mythe approprié à une commodité, non à une nécessité.“ 66 Ebd., S. 710. 67 Ders., Littérature et méta-langage (1993), S. 1245.
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objet sans jamais s’arrêter à un signifié univoque (surréalisme).“68 Er repräsentiert also eine entscheidende Etappe im Kampf gegen die von Mythologien praktizierte Naturalisierung der Sprache. Die Konzeption Sartres hingegen wird ausgesprochen kritisch gesehen: auf die Frage „Qu’est-ce que la littérature?“(1947), „Sartre y a répondu de l’extérieur, ce qui lui donne une position littéraire ambiguë.“69 Sartre unterbricht die Jahrhundertentwicklung des ‚méta-langage‘, „où la littérature fait mine de se détruire comme langage-objet sans se détruire comme méta-langage“.70 Für Camus ist dies aufgrund der dem Étranger schon 1944 attestierten „écriture blanche“ (in deren Zusammenhang er erstaunlicherweise mit den Surrealisten verglichen wird)71 anders.72 Die sartresche wie die Camussche Mythenkonzeption, und der Briefwechsel zwischen Barthes und Camus bestätigen dies, können angesichts der Alternative eines inessentiellen ‚mythe à gauche‘ oder der „parole [...] plénière, intransitive, gestuelle, théâtrale“ des „mythe à droite“, von dem es heißt: „c’est le Mythe“,73 allenfalls eine ambige Position einnehmen. Immerhin und signifikanterweise erblickt Barthes „de remarquables [mythologies artificielles] dans l’œuvre de Sartre.“74 Obwohl die Dramen der Re-Mythologisierung bei Sartre und Camus nicht umstandslos als ‚mythe à droite‘ verbucht werden können, so weisen sie mit diesem doch erhebliche Parallelen auf. Da Sartre seinem Theater die Aufgabe zuweist, „[…] – s’il doit s’adresser aux masses – , le théâtre doit leur parler de leurs préoccupations les plus générales, exprimer leurs inquiétudes sous la forme de mythes que chacun puisse comprendre et ressentir profondément“,75
68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Barthes findet bei ihm Bilder, die dem entsprechen „dont ce mot s’est enrichi depuis les expéditions surréalistes“. (Ders., Réflexions sur le style de L’Étranger“ (1993), S. 60). 72 Vgl. dazu Dominique Rabaté/Dominique Viart (Hg.): Ecritures blanches. Saint Etienne 2009. 73 Barthes, Le mythe aujourd’hui (1993), S. 712. 74 Ebd., S. 703. 75 Sartre, Un théâtre de situations (1992), S. 59.
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entspricht dies zumindest teilweise dem, was Barthes als ‚mythe à droite‘ resümiert: „Les mythes ne sont rien d’autre que cette sollicitation incessante, infatigable, cette exigence insidieuse et inflexible, qui veut que tous les hommes se reconnaissent dans cette image éternelle.“76
Es ist eben die Form des Mythos, von der Sartre spricht, dank derer Umkodierungen jeder Art möglich sind, und die Barthes solche Mythen als „langage volé“77 bezeichnen lassen. Wenn „die Funktionsweise des Mythos“, folgt man Ottmar Ette, „auf eine Umwandlung von Geschichte in Natur [zielt], wobei diese Enthistorisierung mit einer Entpolitisierung einhergehe“,78 so kann es allenfalls „artifizielle“ Mythen geben, die dies mehr oder weniger erfolgreich zu vermeiden suchen.79 Auch wenn Barthes Sartre oder Camus konkret nie den Vorwurf bürgerlicher Mythologien macht,80 ist er doch implizit präsent. Deutlicher kann man seinen Anspruch im literarisch-intellektuellen Feld nicht anmelden. So wenig wie die dramatische Re-Mythologisierung des Existentialismus erwähnt Barthes die surrealistischen Mythenkonzeptionen oder die Diskussionen im Umkreis von Contre-Attaque und des Collège de Sociologie. Was die sprachkritisch-zerstörerische Tendenz des Surrealismus angeht, erkennt Barthes gelegentlich die Verdienste des Surrealismus an, auch wenn er ihm nie einen eigenen Essay widmet. Bei Aragon gibt es so etwas wie eine „Rückverwandlung von Kultur in Natur“, wie das vor bald einem
76 Barthes, Le mythe, aujourd’hui (1993), S. 716. 77 Ebd., S. 699-703. 78 Ette, Roland Barthes (1999), S. 123. 79 In Hinblick auf die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit neuer Mythen wäre ein Vergleich der barthesschen Mythologies mit Luhmanns Aufsatz „Brauchen wir einen neuen Mythos?“ (in: Ders.: Soziologische Aufklärung 4. Opladen 1987, S. 254-74) aufschlussreich, gerade weil Luhmann die EntparadoxierungsKompetenz von Mythen nicht mehr gegeben sieht. 80 Das einzige Sartre-Werk, mit dem sich Barthes ausführlicher auseinandersetzt, ist das Stück Nekrassov, das er gegen politische Angriffe verteidigt. (vgl. Barthes, Editorial (1993), S. 494f.)
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halben Jahrhundert Ginka Steinwachs genannt hat.81 Seine Mythenkonzeption würde also dem Verdikt Barthesʼ verfallen: „Nous sommes ici au principe même du mythe: il transforme l’histoire en nature.“82 Die Frage ist, ob dies auch für Bretons ‚mythe collectif/social‘ gelten kann, zumal dessen Funktion darin besteht, auf die Geschichte einzuwirken. Im barthesschen Sinne könnte man fast von einem „Diebstahl des Mythos“ sprechen, auch wenn dieser, historisch gesehen, nicht sehr erfolgreich war. Mit der Intention, durch einen neuen, kollektiv-sozialen Mythos auf den Alltag einzuwirken, widerspricht die bretonsche Mythenkonzeption allerdings radikal jener von Roland Barthes. Das „Herzstück von Barthes’ kulturellem Projekt“ bezeichnet Ottmar Ette zu Recht als „in seiner rationalen, ideologiekritischen Stoßrichtung letztlich ein auch im Habermasschen Sinne aufklärerisches, auf eine Demaskierung des (bürgerlichen) Mythos abzielendes gesellschaftskritisches Projekt“.83
Bekanntlich hat auch Habermas in Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1990) dem Surrealismus jede Beteiligung am Projekt der Aufklärung abgesprochen.84 Die bretonsche Mythologie kann als ein Umkodierungsversuch des Mythos und im Zusammenhang des surrealistischen Gesamtprojekts des „Kunst in Leben rückzuführen“ (Peter Bürger) als eine Umkodierung von Kunst und Literatur in Hinblick auf die Veränderung des Lebens bewertet werden. Das barthessche Konzept, das proklamiert, „[l]e mythe est une parole dépolitisée“85 und für das der „mythe de gauche est inessentiel“,86 hat für eine solche (surrealistische) Mythologie keinen Platz. Hier handelt es sich wohl um eine jener „Exklusionen [,…] die mit der Anwendung dieses Modells verbunden sind.“87
81 Vgl. Steinwachs, Mythologie des Surrealismus (1971). 82 Barthes, Le mythe, aujourd‘hui (1993), S. 698. 83 Ette, Roland Barthes (1999), S. 123f. 84 Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1990), S. 32-54, spricht von der „falschen Aufhebung der Kultur“ und der „aussichtslosen surrealistische[n] Revolte“. 85 Barthes, Le mythe, aujourd’hui (1999), S. 707-9. 86 Ebd., S. 711. 87 Ette, LebensZeichen (2011), S. 56.
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Barthesʼ Mythologie ist heute dank ihres vor allem kulturwissenschaftlichen Erfolges in einer Situation, die der des Surrealismus zur Zeit ihres Entstehens ähnelt, als Blanchot schreiben konnte: „Le surréalisme s’est-il évanoui? C’est qu’il n’est plus ici ou là: il est partout.“ Damit vertritt dieser Klassiker einen Paradigmenwechsel von der Literatur- zur Kulturwissenschaft und von den literarisch-künstlerischen Avantgarden zur ‚veritablen‘ Theorie-Avantgarde. Wenn Barthes für die Mythologies die Ko-Präsenz von (formaler) Semiologie und (historischer) Ideologie proklamiert hat,88 so ist das Werk vor allem mit seiner semiotischen Funktionsanalyse wirksam und zum Klassiker geworden. Damit wäre die ideologische, Leben und Welt verändernde Mythologie des Surrealismus historisch geworden und hätte nichts mehr zu sagen. Ob deshalb allerdings die Fragen, die diese Mythologie gestellt hat, ‚beantwortet‘ sind, ist nicht so sicher. Es könnte sein, dass die Frage, mit der Hans Blumenberg seine Arbeit am Mythos (1979) schließt, auch auf die Mythologie des Surrealismus zutrifft: „Wie aber, wenn doch noch etwas zu sagen wäre?“89
L ITERATUR Aragon, Louis: Du Sujet, in „Le Film“, 22.01.1919. In: Chroniques 19181932. Hg. von Bernard Leuillot. Paris 1998, S. 39-42. Aragon, Louis: Le Paysan de Paris. Paris 1979. Barthes, Roland: Réflexions sur le style de L’Étranger. In: Ders.: Œuvres complètes, Bd. I (1942-1965). Hg. von Éric Marty. Paris 1993, S. 60-3. Barthes, Roland: La vaccine de l’avant-garde. In: Ders.: Œuvres complètes, Bd. I (1942-1965). Hg. von Éric Marty. Paris 1993, S. 471f. Barthes, Roland: Réponse de Roland Barthes à Albert Camus. In: Ders.: Œuvres complètes, Bd. I (1942-1965). Hg. von Éric Marty. Paris 1993, S. 479f. Barthes, Roland: Éditorial. In: Ders.: Œuvres complètes, Bd. I (1942-1965). Hg. von Éric Marty. Paris 1993, S. 494f.
88 Vgl. Barthes, Le mythe, aujourd’hui (1993), S. 685. 89 Blumenberg, Arbeit am Mythos (2006), S. 689.
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Beflügelte Fantasie. Asterix, die unbeugsamen Gallier und der Widerstandsmythos F ERNAND H ÖRNER
Astérix ist nicht nur mit insgesamt 325 Millionen verkauften Exemplaren und Übersetzungen in 107 Sprachen einer der erfolgreichsten und langlebigsten Comics überhaupt,1 die unbeugsamen Gallier sind auch weit über das Comic hinaus ein in den unterschiedlichsten Kontexten bemühter Mythos für sperrige Individualität und fantasievollen Widerstand. Es ist auffällig, dass die Autoren René Goscinny (Text) und Albert Uderzo (Zeichnungen) mehrere Comicfiguren geschaffen haben, die allesamt auf mythische Figuren gesellschaftlicher Marginalität und individueller Rebellion zurückgreifen, etwa den Piraten Jehan Pistolet, den gegen die Kolonisatoren kämpfenden Indianer Oumpah-Pah le Peau Rouge oder im Falle von Goscinny in Zusammenarbeit mit Morris den einsamen Cowboy Lucky Luke.2 Der Kampf von Asterix dem Gallier gegen den römischen Imperialismus hatte indes als einziger einen so durchschlagenden und nachhaltigen Erfolg, dass sich die beiden bald auf diese Figur konzentrierten. Wobei sie sich ihren Durchbruch selber kaum erklären konnten, wie im Dokumentarfilm über französische Comics De Tintin à Titeuf3 deutlich wird.4 Hatte der 1
Vgl. Hörner, Asterix (2014), S. 26-8.
2
Vgl. Beer, Wilder Westen/Cowboy und Indianer (2014) und Nell, Piraten
3
Regie: Olivier Delcroix und Patricia Lepic (2003).
4
Vgl. Hörner, René Goscinny/Albert Uderzo (2010).
(2014).
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erste Band Astérix le Gaulois 1961 noch eine Auflage von 6.000, ging 1964 der vierte Band Astérix Gladiateur schon mit 60.000 Exemplaren an den Start, und der siebte Band Le combat des chefs begann 1966 mit 600.000 Exemplaren in der Erstauflage.5 Eine mögliche Erklärung für diesen Erfolg ist der Rückgriff auf den weit verbreiteten Topos des Sieges des eigentlich Schwächeren gegen den Stärkeren, ein Motiv, das sich in den unterschiedlichsten Geschichten, von David gegen Goliath6 bis hin zu Märchen in immer wieder neuen Varianten zeigt. Dies wird auch visuell insofern deutlich, als Asterix tatsächlich körperlich kleiner ist als die meisten seiner Widersacher – in der Regel die Römer. Zusammen mit dem großen und wohlbeleibten Obélix ergibt sich ein groteskes Paar, wobei sich in der Figur von Obélix Referenzen auf Rabelaisʼ Gargantua oder den antiken Herkules erkennen lassen.7 Die Kombination von beiden wiederum ist als komisches Paar zu bezeichnen, wie es sich etwa auch in der Zirkustradition von weißem Clown – seriös, rational, intelligent, verkörpert von Astérix8 – und rotem Clown oder dummem August – warmherzig, ungeschickt und instinktgeleitet, verkörpert von Obélix – zeigt. In der Populärkultur verbreitete sich diese Kombination spätestens seit den 1920er Jahren durch Laurel und Hardy (deutsch „Dick und Doof“).9 Der Artikel untersucht das Vernetzungspotential des ‚Asterix‘-Mythos und geht mit Roland Barthes von dem Mythos der unbeugsamen Gallier als einem semiotischen System aus. Der Mythos ‚Asterix‘ – oder besser die Mythisierungen in den Bänden und der Figur werden als ein sekundäres Zeichensystem verstanden, in welchem Bedeutungen entkernt und selbst wieder zu neuen Bedeutungsträgern in neuen Bedeutungskontexten gemacht werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass der ‚Asterix‘-Mythos nicht nur im Sinne Barthesʼ als sekundäres Zeichensystem funktioniert, sondern dieses wiederum auf eine tertiäre und sogar quartäre Ebene hebt.
5
Vgl. Barraud/de Sède, La mythologie d’Astérix (1969), S. 35.
6
Vgl. 1. Buch Samuel, Vers 17. 1-58, Die Bibel (1982), S. 293-5.
7
Vgl. Stoll, Astérix. Das Trivialepos Frankreichs (1975), S. 41 und 137.
8
Vgl. Ebd., S. 37.
9
Vgl. Barraud/de Sède, La mythologie d’Astérix (1969), S. 38 und Forest, Astérix (1999), S. 92.
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1. T ERTIÄRE
UND QUARTÄRE E BENEN DES SEKUNDÄREN Z EICHENSYSTEMS
Barthes bezeichnet den Mythos als Aussage und Botschaft10 und analysiert ihn als sprachliche Struktur. Dem saussureschen Zeichenmodell folgend geht er davon aus, dass ein Zeichen aus dem Zusammenspiel von Signifikant und Signifikat entsteht.11 Der Mythos ist insofern ein sekundäres semiologisches System, als er aufbauend auf dem Sinn ein neues semiologisches System errichtet, indem der Sinn wiederum, zu einem einfachen neuen Signifikanten reduziert, zu einer bloßen Form ausgehöhlt wird: „Indem er Form wird, verliert der Sinn seine Beliebigkeit; er leert sich, verarmt, die Geschichte verflüchtigt sich, es bleibt nur noch der Buchstabe“.12 Dieser ausgehöhlte Sinn ermöglicht zusammen mit einem neuen Signifikat sowie einem neuen Konzept bzw. einer neuen Vorstellung13 einen neuen Sinn; die Bedeutung des Mythos. Die Reduzierung des Sinns zur Form veranschaulicht Barthes an einem lateinischen Satz („quia ego nominor leo“), der in einem Grammatikbuch mit dem didaktischen Konzept der Regelvermittlung von seiner Geschichte und seinem Bedeutungsreichtum, also dem Großteil seiner inhaltlichen Aussage, gelöst wird (aber immer noch eine Spur davon enthält), um ein grammatikalisches Prinzip zu verdeutlichen.14 Der Begriff (mit der Konnotation von ‚Konzept‘) ist deshalb „determiniert: er ist geschichtlich und intentional zugleich; er ist das Motiv, das den Mythos hervortreibt“.15 Als Beispiel führt Barthes das Foto eines die französische Fahne grüßenden Farbigen an. Dieses Foto wird aus seinem Kontext gerissen, der Fotografierte seiner Geschichte beraubt, in eine bloße Geste verwandelt und zusammen mit dem Konzept, die Rechtfertigung des fran-
10 Vgl. Barthes, Mythen des Alltags (1964), S. 85. Auch wenn die neue Übersetzung von Barthesʼ Mythen des Alltags das Verdienst hat, die erste vollständige Übersetzung aller Analysen zu sein, wird sich hier auf die erste Übersetzung von Tobias Scheffel bezogen. 11 Vgl. Ebd., S. 90. 12 Ebd., S. 97. 13 Das verwendete französische Wort concept beinhaltet beide Bedeutungen, Konzept sowie Idee und Vorstellung (vgl. Petit Robert, S. 429). 14 Vgl. Barthes, Mythen des Alltags (1964), S. 97. 15 Ebd.
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zösischen Imperialismus, zu dem Mythos gemacht, demzufolge alle – auch die kolonialisierten – Franzosen gern ihrem Vaterland dienen würden.16 Ausgangspunkt dieses Artikels wird es sein, diese Mythisierung auf mehreren aufeinander aufbauenden Ebenen zu beschreiben. ‚Asterix‘ stellt sich nicht nur als ein Mythos im Sinne eines sekundären Zeichensystems dar, sondern baut vielmehr auf solchen sekundären Zeichensystemen auf und ergänzt diese um ein tertiäres Zeichensystem im Sinne Barthesʼ. Dabei beruht die Rezeption von ‚Asterix‘ als Mythos des Widerstandes auf einer weiteren Mythisierung im Sinne Barthesʼ, also auf einem quartären Zeichensystem. Die kultursemiotische Analyse soll sich aber nicht auf den rein sprachlichen Gehalt des Mythos konzentrieren, sondern auch die spezifische Medialität des Comics ins Auge fassen und so die Rhetorik des Bildes berücksichtigen, wie es Barthes selbst in dem gleichnamigen Artikel formuliert hat.17 Um eine profunde Analyse zu gewährleisten, werden hauptsächlich die jeweiligen Anfangsseiten der ersten beiden Asterix-Bände Astérix, le Gaulois und Astérix et la Serpe d’Or18 betrachtet.
2. S EKUNDÄRE M YTHISIERUNG : V ON H ÄHNEN UND M ÄNNERN Zumindest für einen französischen Leser ist es eine Binsenweisheit, dass in den Astérix-Comics der französische Nationalmythos aufgenommen wird, demzufolge die Franzosen von den Galliern abstammen. Zu dieser Erzählung gehören deren Anführer Vercingétorix samt Flügelhelm sowie der Hahn als nationales Wappentier. 2.1 Die Gallier Die Gallier wurden erst Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Französischen Revolution 1789 als Vorfahren der Franzosen und Alternative zu den Franken in ihrer Bedeutung für die „imagined community“ etabliert.19 Die 16 Vgl. Ebd., S. 107. 17 Vgl. Barthes, Rhétorique de l’image (1964). 18 Goscinny/Uderzo, Astérix le Gaulois (1961) und Dies., La serpe d’or (1962). 19 Vgl. Anderson, Imagined communities (2006).
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in diversen Stämmen verstreuten Gallier mit ihren flachen gesellschaftlichen Hierarchien galten in ihrem (vergeblichen) Kampf gegen die römischen Eindringlinge als Verkörperung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.20 Dass etwa 2000 Jahre nach den ersten Erwähnungen der Gallier in Julius Caesars De Bello Gallico diese als literarische Figuren wieder auftauchen, ist kein Zufall. Dies wurde insbesondere von Napoleon III. vorangetrieben, der nicht nur archäologische Ausgrabungen finanzierte, sondern auch eine (ihm verblüffend ähnelnde) Vercingétorix-Statue in Alésia aufstellte – mit dem aus De Bello Gallico entnommenen Ausspruch von Vercingétorix, dass ein vereintes Gallien allen Mächten des Universums standhalten könne.21 Hier zeigt sich bereits paradigmatisch die politische Funktion, mithilfe des gallischen Nationalmythos nationale Einheit heraufzubeschwören. Durch die Einführung des obligatorischen Geschichtsunterrichts 1867 durch Victor Duruy (zwei Jahre nach Errichten der VercingétorixStatue)22 sowie den allgemeinen Ausbau des französischen Schulsystems seit den 1880er-Jahren konnte dieser Gründungsmythos in den Geschichtsbüchern der Schüler nachträglich, aber mit erstaunlicher Einheitlichkeit festgeschrieben werden.23 Erstmalig vermutlich in einem Geschichtsbuch von G. Bruno 1877 verwendet,24 wurde die Formel nos ancêtres, les gaulois zu einem geflügelten Wort.25 Neben der politischen Aufladung der Gallier mit dem Ziel der nationalen Einigung gegenüber dem politischen Feind Deutschland diente dieser Mythos auch der Selbstvergewisserung
20 Vgl. dazu ausführlich Hörner, Asterix (2014). Zur französischen Revolution vgl. Lüsebrink, Französische Revolution (2014). 21 Caesar, De Bello Gallico (1998), Siebtes Buch, Kapitel 29, S. 346f. Die Inschrift auf der Statue lautet in französischer Übersetzung: „La Gaule unie formant une seule nation, animée d'un même esprit, peut défier l’univers.“ Zit. n. Agulhon, Le mythe gaulois (1998), S. 298. Vgl. Dietler, Our Ancestors the Gauls (1994), S. 584. 22 Vgl. Amalvi, Vercingétorix dans l’enseignement primaire (1982), S. 350 und Dietler, Our Ancestors the Gauls (1994), S. 590. 23 Vgl. Agulhon, Le mythe gaulois (1998), S. 297. 24 Vgl. Vigner, Astérix: lieu de mémoire (1999), S. 66. 25 Vgl. ausführlich Amalvi, Vercingetorix. Ein Held (1981); Ders., Vercingétorix dans l’enseignement primaire (1982); und Lohse, Ironie, Caesar und Asterix (1998), S. 57.
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französischer Identität. So fasst etwa Ernest Lavisse 1900 die römischen Darstellungen der Gallier zusammen und findet seine Landsleute in folgenden „traits qui caractérisent notre tempérament national“ wieder: „Une bravoure poussée jusqu’à la témérité, une intelligence ouverte, l’humeur sociable, communicative, le goût et le talent même de la parole, voilà pour les qualités“.26 Ohne den späteren Ausführungen etwas vorwegzunehmen sei bereits an dieser Stelle erwähnt, dass sich genau diese beiden unterschiedlichen und fast widersprüchlichen Charaktereigenschaften, Intelligenz und Tollkühnheit, bei Asterix (klug) und Obélix (draufgängerisch) wiederfinden. Neben Mut und Soziabilität, die auch im politischen Kontext der kriegerischen Konflikte mit Deutschland zu sehen sind, diente diese Mythisierung der Festschreibung allgemeiner ‚unpolitischer‘ Charaktereigenschaften. Lavisse schreibt in einem Schulbuch für die ersten Jahre im Lycée: „Les Gaulois [...] aimaient à se réunir dans des banquets, où ils riaient, criaient et souvent finissaient par se battre“.27 So diente die Mythisierung der Gallier dazu, nationale Stereotypen wie Geselligkeit, Vorliebe für gutes Essen, aber auch die Reizbarkeit und Impulsivität zu festigen. Dem Tenor der Geschichtsbücher nach waren die Gallier damals noch Barbaren28 bis sie durch die Römer zivilisiert und später christianisiert wurden. Lavisse attestiert den Galliern allerdings, genügend Intelligenz gehabt zu haben, um die Errungenschaften der römischen Zivilisation auf Anhieb erkennen zu können.29 2.2 Vercingétorix: Signifikanten-Reduktion Relativ früh, bereits mit der Revolution von 1848, wurde Vercingétorix zum paradigmatischen gallischen Häuptling erhoben. Historisch gesehen waren die Gallier keineswegs ein einheitliches Volk, sondern eine Vielzahl
26 Lavisse, Histoire de France depuis les origines jusqu’à la Révolution (1900), S. 61. 27 Lavisse, La Première année dʼHistoire de France (1903), S. 6. 28 Eigentlich ein Terminus, den Julius Cäsar für alle nicht ursprünglich römischen Völker verwendet hatte. 29 Vgl. Lavisse, Histoire de France depuis les origines jusqu’à la Révolution (1900), S. 75-81 und 104, sowie Amalvi, Vercingétorix dans l’enseignement primaire (1982), S. 354.
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unterschiedlicher Stämme, die wenig gemeinsam hatten außer der Tatsache, dass sie von den Römern unterworfen wurden. Vercingétorix hatte tatsächlich versucht, die Stämme im Kampf gegen die Römer zu einen, unterlag aber schließlich in Alésia. Der Mythos der Gallier lässt also viele historische Begebenheiten verblassen und reduziert diese Vielzahl an Völkern (von denen freilich ohnehin schon wenige Quellen überliefert sind, da die Gallier keine Schriftkultur besaßen) auf den heldenhaften Vercingétorix als Inbegriff aller Gallier. Doch auch dieser wird der meisten seiner Charakteristika beraubt und auf ein neues Signifikat, seine Rolle in der Schlacht um Alésia, reduziert, um die Tapferkeit der Franzosen und ihr Auflehnen gegen einen großen übermächtigen Feind zu unterstreichen.30 Schließlich wird auch die gesamte Kampfhandlung auf jene stellvertretende Szene der Kapitulation verkürzt, in der Vercingétorix Caesar seine Waffen zu Füßen legt. Christian Amalvi zufolge ist der Grund für die Mythisierung von Vercingétorix und deren Erfolg im Schulunterricht gerade diese visuell eindrückliche Szene, in der es gelingt, die gesamte komplexe Situation und die Jahre andauernden Kämpfe sowie die komplexe Gemengelage (tatsächlich waren nicht alle gallischen Stämme gegen die Römer) auf den Punkt zu bringen: „La reddition dramatique de Vercingétorix à César cristallise en effet tous les éléments du cliché, du stéréotype scolaire: un événement essentiel réduit à une anecdote à grand spectacle: un dénouement épique qui, à défaut de paroles immortelles, comprend néanmoins un geste particulièrement théâtral (Vercingétorix jetant ses armes aux pied de César), dans un décorum imposant“.31
30 Vgl. ausführlich Amalvi, Vercingétorix dans l’enseignement primaire (1982), S. 349-55; Pageaux, De l’imagerie culturelle au mythe politique (1982), S. 427-44; Amalvi, Vercingetorix. Ein Held auf der Suche nach der nationalen Identität (1981); Agulhon, Le mythe gaulois (1998), S. 298; Dietler, Our Ancestors the Gauls (1994), S. 584; und Stoll, Astérix. Das Trivialepos Frankreichs (1975), S. 29. 31 Amalvi, Vercingétorix dans l’enseignement primaire (1982), S. 355.
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2.3 Der Flügelhelm In dieser mythologischen Zuspitzung auf eine Szene wiederum spielen Vercingétorixʼ Flügelhelm, der casque ailé, und sein Schild die zentrale Rolle. Auf einem Bild von Alphonse Marie Adolphe de Neuville etwa wird die zentrale Bedeutung des Flügelhelms schon in der Bildkomposition erkennnbar.32 Einzelne archäologische Belege von gallischen Helmen mit metallenen Applikationen, die an Flügel erinnern, – so etwa im Musée Rolin33 – existierten bereits im 19. Jahrhundert und können als Ausdruck des dort einsetzenden nation building gesehen werden. Die Darstellung des Flügelhelms mit echten Federn hingegen scheint eine Erfindung des 19. Jahrhunderts zu sein, eine Aktualisierung aus der griechischen Mythologie, der zufolge schon der Götterbote Hermes Flügel an Schuhen und Helm trug. Interessant hierbei ist die interkulturelle Vernetzung dieses Symbols. Denn auch wenn diese Mythisierung des Flügelhelms im Sinne Barthesʼ die Freiheitsliebe der Franzosen veranschaulicht und ihr Nationalgefühl zementieren soll, war dieses Symbol im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bei anderen Nationen ebenso verbreitet. In der schwedischen Mythologie wurden damit die Wikinger ausgestattet, in Deutschland zeigt sich der Helm u.a. beim 1875 fertiggestellten Hermannsdenkmal. Der Cheruskerfürst Hermann hat ein halbes Jahrhundert nach Vercingétorix, allerdings mit mehr Erfolg, gegen die römischen Besatzer gekämpft. Anders als bei Barthes haben wir es beim Flügelhelm streng genommen nicht mit einer Struktur zu tun, welche vorhandene historische Tatsachen aushöhlt um etwas Neues zu bedeuten, sondern eher mit einer Transformation des symbolischen Sinns. Symbolisieren die geflügelten Füße bei Hermes seine Schnelligkeit, so steht der Flügelhelm bei Vercingétorix für den Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit, der Fähigkeit, sich wie ein Vogel über die herrschenden Zustände zu erheben. Anders noch als bei Ikarus, bei dem
32 Vgl. Trom, Die gespaltene Erinnerung (1998), S. 132. 33 Vgl. den Helm im Musée Rolin, http://www.musees-bourgogne.org/les_musees/ musees_bourgogne_gallerie.php?lg=fr&id=69&theme=archeologie&id_ville=& id_gallerie=55177#haut (14.08.2015). Vielen Dank an Sissy Härtel und Jörg Frase für diesen Hinweis.
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die Flügel Übermut und Anmaßung implizieren,34 bleiben aber Vercingétorix und Herrmann im tatsächlichen Wortsinn bodenständig. Der Flügelhelm fand Eingang in die einschlägigen Schulbücher. Interessant bei Ernest Lavisse ist zudem, dass der Flügelhelm eben nur dem Anführer Vercingétorix vorbehalten ist,35 und auch bei Astérix tragen ihn nur die Anführerfiguren. Als nationales Symbol für politische Freiheit ersetzte der Flügelhelm den bonnet phrygien, wie er in der Ikonographie der Französischen Revolution zentral war, natürlich auch als Kopfbedeckung der allegorischen Figur der Marianne.36 Hier zeigt sich also eindeutig die „Variabilität mythologischer Figurationen, die im Geschichtsprozeß und in der kulturellen Evolution einer Gesellschaft diversen Veränderungen und Re-akzentuierungen unterliegen“.37 Kommerziell und über die Grenzen Frankreichs hinaus wurde der Flügelhelm als Symbol für französische Lebensart dann durch die Gauloise-Zigarette verbreitet, gerade auch in Deutschland, obwohl sich die Firma Gauloises, offizieller Ausrüster der französischen Armee seit dem ersten Weltkrieg, einstmals als patriotische (und folglich auch) deutschlandfeindliche Marke etabliert hatte.38 Die Federn des Flügelhelms verschmelzen mit einem anderen Symbol: dem Hahn als Wappentier der Franzosen, dessen Herkunft sich aus dem lateinischen Wort gallus ableitet. Aufgrund der Homonymie von gallus für Gallier und Hahn wurde der Vogel von den Römern zum Wappentier gekürt.39 Julius Caesar wiederum verglich die Widerständigkeit der Gallier mit der Kraft, die ein Hahn aufbietet, um seine Hennen zu verteidigen. Dabei war der Hahn ursprünglich ein römisches Wappentier, das mit dem Gott Merkur verbunden war und den Anbruch des Tages verkündete.40 Daran zeigt sich erstens, dass nicht nur ein Zeichen wie der römische Hahn zu ei-
34 Vgl. Ovid, Metamorphosen (1996), 8, 4, Vers 223-30. 35 Vgl. Lavisse, Histoire de France, cours élémentaire (1913), S. 5. 36 Vgl. Eugène Delacroix: La Liberté guidant le peuple, 1830, Musée du Louvre. http://www.musees-bourgogne.org/les_musees/musees_bourgogne_gallerie.php ?lg=fr&id=69&theme=archeologie&id_ville=&id_gallerie=55177#haut (14.08.2015). 37 Simonis, Mythen als kulturelle Repräsentationen (2004), S. 12. 38 Vgl. Hörner, Die Gauloise (2012). 39 Vgl. Agulhon, Le mythe gaulois (1998), S. 297. 40 Vgl. Pastoureau, Les emblèmes de la France (1998), S. 62.
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ner neuen Form reduziert wird um die Gallier zu bezeichnen, sondern dass dafür auch rhetorische Figuren wie das Wortspiel verwendet werden, das wiederum neue Vergleiche wie etwa bei Caesar provoziert. Zweitens zeigt sich auch die Unverwüstlichkeit dieses Mythos, denn das Altfranzösische jal, etymologisch mit dem gallus verwandt, wurde bereits im 12. Jahrhundert durch coq ersetzt,41 und dennoch hat sich dieser Konnex erhalten. Ausgerechnet François I., der 1539 das Französische als Standardsprache einführte, entwickelte eine politische Programmatik, die auf der Symbolik des Hahns als Inbegriff von Stolz und Mut basiert.42 Auf der anderen Seite wird der Hahn aber nicht nur als monarchisches Symbol für Frankreich gesehen, sondern im Zuge der Französischen Revolution auch als Nationalsymbol etabliert, um hier u.a. die Rückbesinnung auf die Gallier als Vorfahren zu verfestigen. Im ersten Weltkrieg wurde er als Gegenmodell zum deutschen Adler präsentiert und schmückte viele Soldatengräber, brachte aber so auch die Unterlegenheit des Hahns gegenüber dem stärkeren und majestätischeren deutschen Adler zum Ausdruck,43 ganz im Gegensatz zu seiner Mythisierung bei Caesar. So widersprüchlich das mythische Deutungspotential des Hahns auch ist, er bleibt dennoch das unumstrittene Nationalsymbol und ziert mittlerweile auch das Trikot der französischen Fußballnationalmannschaft. In Bezug auf Barthes ließe sich sagen, dass das ursprüngliche Zeichen vielleicht seiner historischen Bedeutungsvielfalt zu einem Großteil entledigt wird, dass aber im Laufe der mehr als 2000-jährigen Geschichte, die hier nur grob umrissen werden kann, einzelne Aspekte je nach Bedarf wieder in den Vordergrund gerückt und neu mit Bedeutung versehen werden können.
3. T ERTIÄRE M YTHISIERUNGEN Barthesʼ Auseinandersetzung mit dem Mythos hat offenkundig auch eine politische Stoßrichtung. Barthes zufolge steht der Mythos hauptsächlich für eine konservativ-bürgerliche Bedeutungs- und Verschleierungspolitik, die es aufzudecken und zu entlarven gilt. Diese Art der Aufklärung ist aber
41 Vgl. Ebd., S. 65. 42 Vgl. Ebd., S. 70. 42 Vgl. Ebd., S. 83.
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dadurch erschwert, dass der Mythos immer noch ein Körnchen Wahrheit besitzt, sodass ihm nicht einfach widersprochen werden kann. Als einzige Strategie beschreibt Barthes deshalb das Programm, den Mythos selbst wieder zu mythologisieren, d.h. selbstreflexiv werden zu lassen. Eine ähnliche Strategie ist auch bei ‚Asterix‘ zu erkennen, wobei hier allerdings, wie nun zu zeigen ist, Humor und Ironie eine viel größere Rolle spielen als bei Barthes. Der Erfolg von Astérix in Frankreich erklärt sich sicherlich auch durch den ironisch-kritischen, aber stets spielerischen Umgang mit den Nationalmythen, wie sie insbesondere im französischen Schulsystem Anfang des 20. Jahrhunderts transportiert wurden. Goscinny selbst schien sich der Mythologisierung der Gallier durchaus bewusst zu sein, die er folgendermaßen erklärt: „Les Français ont une tendresse secrète pour les Gaulois, cʼest bien connu. Pourquoi? Jʼy vois deux raisons. Tout dʼabord, le Français dʼaujourd'hui se trouve plus à l'aise dans son passé que dans lʼavenir. Ensuite, les Gaulois nous ramènent à nos premières connaissances scolaires. Les adultes se retrouvent dans un bain d’enfance. Ils revivent leurs premières classes dʼhistoire“.44
Demnach ist eine zweifache nostalgische Erinnerung für die den Galliern entgegengebrachte Faszination verantwortlich: ein rückwärtsgewandter Konservatismus einerseits sowie andererseits die Erinnerung an die Schulstunden, in denen dieser Konservatismus durch den Mythos der Gallier indoktriniert wurde. Deutlich spielt Astérix auf diese Gallier-Nostalgie an, was sich bereits an den Namensendungen auf -ix erkennen lässt, die eine erste Hommage an Vercingétorix sind.45 Zugleich lässt sich eine ironisch-kritische Distanz zu diesem Konservatismus feststellen. Diese zeigt sich vielleicht paradigmatisch im Spiel mit den Namen, der Hund Idéfix etwa ironisiert die starren Vorstellungen, die idées fixes, bereits mit seinem Namen – auf den er hört bzw. in der Regel meistens nicht hört. Der Barde Assurancetourix (assurance tout risque, also Vollkaskoversicherung) bildet einen komischen
44 Zit. nach Marny, Le monde étonnant des bandes dessinées (1968), S. 174. Vgl. auch Barraud/de Sède, La mythologie d’Astérix (1969), S. 38. 45 Die römischen Namen enden wiederum alle auf -us. Für eine komplette Analyse der Namenssystematik vgl. Antonelli, Sémiotix le Gaulois (1979).
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Anachronismus. So entsteht eine ironische Distanz, die sich biografisch auch mit dem Außenseiterstatus der beiden Autoren erklären lässt. Goscinny ist als Franzose 1926 in Buenos Aires geboren und in Argentinien und den USA aufgewachsen. Er hat Frankreich, wie er selbst schreibt, nur als wundersames Land, in welchem man die Ferien verbringt, erlebt.46 Uderzo ist 1927 als Sohn italienischer Einwanderer in Frankreich geboren und wurde dort in der Schule, insbesondere in einschlägigen Geschichtsbüchern, mit der Bedeutung der Gallier für die französische Identität bekannt – allerdings mit einer etwas anderen Einstellung zu den Römern, die für den italienischen Teil seiner Identität ja die gleiche Funktion hatten wie die Gallier für den französischen. Der Mythos ‚Asterix‘ lässt sich folglich insofern als tertiäres System auffassen, als er eine kritische Metaposition zu anderen Mythen einnimmt, anders als beispielsweise die auch mit Abbildungen ausgestatteten Schulbücher. Ähnlich wie Claude Lévi-Strauss, der von seiner Untersuchung Mythologiques meinte, sie sei „le mythe de la mythologie“,47 mythologisiert Astérix die Mythen. Barthes selbst beschreibt das Schaffen eines Mythos tertiärer Ordnung, also eines Metamythos, als einzige Möglichkeit der Mythenkritik. Der Mythos lässt sich nur schwer dekonstruieren, da er in einer ambivalenten Spannung zwischen Beispiel- und Symbolstatus steht. Barthes spricht von einem unaufhörlichen Kreisen, einer Drehscheibe, auf der der Mythos ständig zwischen Objektsprache und Metasprache wechselt und sich „rein bedeutendes Bewußtsein und ein rein bilderschaffendes miteinander abwechseln“.48 Man kann dem Mythos also weder das Herausreißen seines Signifikanten (z.B. bei dem Foto des Soldaten) aus dem Kontext vorwerfen, denn er operiert auf einer übertragenen Ebene, noch kann man seine Symbolik
46 Vgl. Pinet, Myths and Stereotypes (1977) und Screech, Masters of the ninth art (2005), S. 75f. 47 Lévi-Strauss, Mythologiques (1964), S. 20: „Comme les mythes reposent euxmêmes sur des codes du second ordre (les codes du premier ordre étant ceux en quoi consiste le langage), ce livre offrirait alors l’ébauche d’un code du troisième ordre, destiné à assurer la traductibilité réciproque de plusieurs mythes. C’est la raison pour laquelle on n’aura pas tort de le tenir pour un mythe: en quelque sorte, le mythe de la mythologie.“ 48 Barthes, Mythen des Alltags (1964), S. 104.
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als unpassend entlarven, da der ursprüngliche Inhalt des zur Form degradierten Sinns immer noch, wenn auch nur ansatzweise, vorhanden ist. Zur Revision des Mythos muss man nach Barthes also einen „mythe artificiel“ schaffen, das heißt, den Mythos selbst zu einer Form entleeren und so ein Zeichensystem dritten Grades schaffen.49 Barthes hält fest: „Die beste Waffe gegen den Mythos ist in Wirklichkeit vielleicht, ihn selbst zu mythifizieren, das heißt einen künstlichen Mythos zu schaffen. Dieser konstruierte Mythos würde eine wahre Mythologie sein. Da der Mythos die Sprache entwendet, warum nicht den Mythos entwenden? Dazu genügt es, ihn selbst zum Ausgangspunkt einer dritten semiologischen Kette zu machen, seine Bedeutung als ersten Terminus eines zweiten Mythos zu setzen.“50
3.1 Die interpretative Offenheit der tertiären Mythologisierungen: zwei Beispiel-Panels In eben diesem Sinne ist von einer ‚tertiären‘ Mythisierung von Nationalmythen durch Astérix zu sprechen. Mit Bedacht werden auf den Anfangsseiten der beiden ersten Comics sämtliche einschlägigen Mythen verhandelt. Eine exponierte Rolle kommt dabei Vercingétorix zu, dessen Geschichte in den ersten Panels von Astérix le gaulois explizit beschrieben wird: „En 50 avant J.-C., nos ancêtres les gaulois avaient été vaincus par les romains après une longue lutte.“ Goscinny und Uderzo übernehmen nicht nur das Syntagma nos ancêtres les gaulois, sondern auch der Rest des Satzes ist eine nahezu wörtliche Übernahme von Lavisse, bei dem es heißt: „Cinquante ans avant Jésus-Christ, toute la Gaule était soumise aux Romains.“51 Insofern lesen sich Panel 4 „Toute la gaule est occupée“ und Panel 5, „Toute?... Non! Car une région résiste victorieusement à l’envahisseur. Une petite région entourée de camps retranchés romains.“ wie eine Replik auf Lavisse. Auf diese Weise entsteht ein im Sinne Michael
49 Vgl. Ebd., S. 121 50 Ebd., S. 123. 51 Lavisse, Histoire de France (1913), zit. nach Forest, Astérix (1999), S. 94 und Screech, Masters of the ninth art (2005), S. 77f.
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Bachtins dialogischer Beginn,52 in dem zunächst die fremde Stimme Lavisses mitklingt, die dann aber von einer anderen Stimme korrigiert wird. Panel 1 und 2 erzählen uns zuvor, dass die Gallier im Jahre 50 vor Christus von den Römern besiegt wurden und Vercingétorix als Anführer der Gallier seine Waffen Caesar zu Füßen legen musste. Auffällig dabei ist, dass der Ort der Schlacht, Alésia, nicht explizit benannt wird: Seine NichtNennung wird als running gag in Le bouclier arverne wieder aufgenommen, in dem die Gallier sich weigern, diesen Ort auszusprechen bzw. so tun, als würden sie ihn nicht kennen. So empfiehlt der Häuptling Asterix eine Besichtigung von Georgovie und wird ausfallend, als er nach Alésia gefragt wird.53 Auf diese Weise wird ein ‚wunder Punkt‘ und die paradoxe Einstellung des französischen Gründungsmythos ironisiert: Einerseits soll diese Schlacht konstitutiv gewesen sein für den französischen Nationalstolz, anderseits bedeutet sie eine Niederlage, die man lieber verdrängt, so dass die Erinnerung ambivalent ist. Schon immer erinnert man sich gern an Vercingétorix, aber nicht an seine Niederlage. Alle Astérix-Comics spielen im Jahre 50 vor Christus, der Beginn des ersten Comics fungiert in leicht veränderter Fassung als Einleitung auf Seite 3 jedes weiteren Comics. Das dritte Panel von Astérix le Gaulois enthält einen ironischen Seitenhieb auf das deutsch-französische Verhältnis. Denn dort heißt es, dass Frieden einkehrte, nachdem die Germanen zurückgedrängt wurden. Ein Germane kommentiert: „Mais addentzion! On reviendra!“, und kündigt sozusagen schon die weiteren deutsch-französischen Kriege an. Dabei wird auf das gängige Stereotyp des kriegstreibenden Deutschen verwiesen.54 Auf der ersten Seite wird bereits der Flügelhelm eingeführt. Im ersten Panel herrenlos auf dem Boden liegend, symbolisiert er die Niederlage gegen die Römer, welche im Begriff sind ihn zu zertrampeln. Ein Federbüschel hebt sich müde vom Boden ab, als würde ein verletzter Krieger kurz vor seinem Tod die Hand heben. Im letzten Bild des Panels schmückt er dann den Kopf von Asterix, dieses Mal sind seine Federn selbstbewusst aufgestellt. Der Flügelhelm nimmt so nicht nur Bezug auf den Mythos der
52 Vgl. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs (1985), S. 206. 53 Goscinny/Uderzo, Le Bouclier Arverne (1968), S. 12, Panel 8-9. 54 Vgl. Röseberg, Kulturwissenschaft Frankreich (2001), S. 140 und Hörner, Helmut und Françoise (in Vorbereitung).
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Gallier, sondern wird darüber hinaus Teil von Asterix. Denn in der Tat symbolisiert der Helm dessen Gemütslage und wird zum Bestandteil seiner Mimik. Nimmt die erste Seite von Astérix le gaulois also die kriegerischpolitische Seite des Galliermythos aufs Korn, widmet sich die erste Seite von La serpe d’or eher dem Mentalitätsaspekt der Gallier. Das allererste Panel lässt sich wie ein Panoramabild lesen und begründet ebenfalls den Beginn einer Serie, da fast alle Astérix-Bände fortan mit einer Zeichnung des gallischen Dorfes beginnen. Im Panel 1 von La serpe d’or werden allerlei französische Stereotypen zitiert: Die Liebe zum Wein in der Kneipe Le vin gaulois, der Müßiggang in Form des Galliers, der auf dem Dach seines Hauses schläft, während seine Frau ihn mit dem Nudelholz sucht, sowie ein Gallier, der mit einer Frau flirtet und so als allegorische Verkörperung der ‚Gauloiserie‘ fungiert, ein kaum zu übersetzender Begriff, der Lüsternheit, Frivolität und savoir-vivre verbindet.55 Auch der gallische Hahn darf natürlich nicht fehlen. Er ist – wenn auch klein – direkt im Zentrum des Bildes zu sehen. In den folgenden Comics wird er zu einem vollwertigen Protagonisten des gallischen Dorfes, der zumeist dann in Erscheinung tritt, wenn er die Dorfbewohner morgens wecken soll, was ihm in der Regel aus diversen Gründen misslingt.56
55 Vgl. Agulhon, Le mythe gaulois (1998), S. 297. 56 Vgl. Goscinny/Uderzo, La Rose et le Glaive (1991), S. 12, Panel 1-3; Dies., Astérix et le chaudron (1969), S. 10, Panel 8-10; und Dies., Le domaine des dieux (1971), S. 11, Panel 9-11.
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Abbildung 1
Quelle: Goscinny, René/Uderzo, Albert: La serpe d’or. Paris 1962, S. 5, Panel 1.
Auffällig ist bei Asterix, dass sich der Erzähler direkt zu erkennen gibt. Durch die Wahl der ersten Person Plural bezieht er so den Leser in das Geschehen ein, wenn er von „nos ancêtres les gaulois“ spricht. Auch im siebten Panel heißt es: „C’est ici que nous faisons connaissance“. Erst im zehnten Panel wird diese Identifikation von Erzähler und Leser aufgebrochen: „Nous vous le disons“. Kann man das nous noch unbestimmt als chorales Spechen im Sinne einer erzählerlosen Erzählung lesen, wird mit dem vous der Leser zumindest rhetorisch direkt angesprochen und somit nicht mehr zum wir gezählt. Dafür wechselt der Erzähler zum u.a. in wissenschaftlichen Abhandlungen gebräuchlichen pluralis auctoris, was dem Comic einen semi-seriösen Ton gibt – oder sich auf das Autorenpaar Goscinny/Uderzo beziehen kann. Der narrative und fiktive Charakter der Erzählung wird deutlich gemacht und markiert zusätzlich die tertiäre Mythisierung.
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Abbildung 2
Quelle: Goscinny, René/Uderzo, Albert: Astérix le Gaulois. Paris 1961, S. 5, Panel 10.
Das Spiel mit den Mythen und die versteckte Reflexion der Art und Weise, wie sie erzählt und weitererzählt werden, verdeutlicht auch ein genauerer Blick auf das Panel 10. Nachdem Astérix eine römische Patrouille vermöbelt hat, heißt es: „Nous vous le disons: les romains y perdent leur latin!“ Ein Römer kommentiert „Vae victis!“, also Wehe den Besiegten, während ein anderer malträtierter Römer diesen nicht mehr versteht und seinen Kollegen fragt „Qu’est-ce qu’y dit?“ Der Kontrast zwischen Umgangssprache (qu’y anstatt qui) und (zumindest aus französischer Sicht) hochkulturellem Latein sorgt für einen grotesken Kontrast, welcher das Wortspiel noch unterstreicht: Denn perdre son latin lässt sich durch die Unterhaltung einerseits wörtlich verstehen – sie können nicht mehr Latein sprechen; andererseits auch im übertragenen Sinne entsprechend dem deutschen Sprichwort, mit seinem Latein am Ende sein. Dies würde allerdings bedeuten, dass die Römer eigentlich französischsprachig sind und nur Latein sprechen um sich im Sinne der Bourdieuschen Distinktionstheorie abzuheben. Eine andere Deutung wäre eben, dass dies ein metafiktionaler Kommentar zu dem Pakt zwischen Erzähler und Leser ist, demzufolge die Römer fortan französisch sprechen. Goscinny, der die lateinischen Redewendungen aus dem Dictionnaire Larousse entnommen hat (den sogenannten pages roses, die sich in der Mitte befinden),57 wählt dabei mit „vae victis“ ein Zitat, das unterschiedlich interpretiert werden kann. Erstens als Überlegenheit der französischen gegenüber der römischen Kultur, zweitens als karnevalistische Verkehrung, der zufolge die Römer (und alle anderen Imperialisten) – dank des Zauber57 Vgl. Pageaux, De l’imagerie culturelle au mythe politique (1982), S. 442.
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tranks der Gallier – eigentlich die Unterlegenen sind, oder drittens als Ausdruck für den Zusammenbruch des römischen Imperiums durch babylonische Sprachverwirrung. War bei den Turmbauern zu Babel das Sprechen in unterschiedlichen Sprachen eine Strafe für ihren Versuch, Gott zu erreichen, so wäre es hier die Strafe für den Ehrgeiz des römischen Imperiums, alle Völker zu unterwerfen.58 Durch diese Mehrdeutigkeit bleiben die Astérix-Comics also offen für weiterführende Interpretationen, und sichern so das Fortdauern der Popularität von Asterix,59 da die Comics durch ständig neue Interpretationen immer wieder aktualisiert und neuen Umständen angepasst werden können. Die Astérix-Comics erfüllen in dieser Hinsicht die Kriterien Barthes eines „nachdenklichen Textes“, „immer einen Sinn, den er nicht ausdrückt, in Reserve zu haben“.60 3.2 Von der Induktion zur Deduktion: ‚Asterix‘ als ‚mythologue‘ Ein zentraler Aspekt des Mythos ist Barthes zufolge dessen Vermögen, einen Einzelfall so darzustellen, als sei er paradigmatischer Ausdruck einer Gesetzmäßigkeit, auch wenn dies gar nicht der Fall ist. Der ‚unschuldige‘ Leser ziehe daraus Schlüsse, die ihn zum ‚consommateur‘ des Mythos machen. Barthes führt aus: „Was dem Leser ermöglicht, den Mythos unschuldig zu konsumieren, ist, daß er in ihm kein semiologisches, sondern ein induktives System sieht. Dort, wo nur eine Äquivalenz besteht, sieht er einen kausalen Vorgang. Das Bedeutende und das Bedeutete haben in seinen Augen Naturbeziehungen. Man kann diese Verwirrung auch anders ausdrücken: jedes semiologische System ist ein System von Werten. Der Verbraucher des Mythos faßt die Bedeutung als ein System von Fakten auf. Der Mythos wird als ein Faktensystem gelesen, während er doch nur ein semiologisches System darstellt.“61
58 Vgl. 1. Mose 11.1-9, Die Bibel (1982) S. 25. 59 Vgl. Speth, Nation und Revolution (2000), S. 144. 60 Barthes, S/Z (1976), S. 214. 61 Barthes, Mythen des Alltags (1964), S. 115.
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Im Gegensatz dazu lässt sich für Goscinny/Uderzo festhalten, dass der Mythos ‚Asterix‘ eben nicht wie ein System von Tatsachen gelesen werden soll, wie es der ‚unschuldige‘ Leser tut, sondern ganz im Gegenteil als ein System von Werten. Die Arbitrarität dieses Systems wird ihm durch absurde Überspitzungen bewusst gemacht. Dies geschieht bei ‚Astéerix‘, indem die Induktion in Deduktion umgedreht wird. Barthes zufolge erhält der Mythos seine Wirkmächtigkeit durch sein induktives Vorgehen, d.h. der Mythos beleuchtet einen einzelnen Aspekt, ein herausragendes Beispiel (z.B. Vercingétorix), von dem auf die Allgemeinheit (die Gallier, also ‚wir‘ Franzosen) geschlossen wird. Ein solcher induktiver Schluss verläuft nach dem Muster: „Vercingétorix ist ein Gallier, die Gallier sind unsere Vorfahren, also sind wir alle wie die Gallier.“ ‚Asterix‘ dreht diese Verallgemeinerung um, indem er deduktiv diese Regel in einem Syllogismus wieder auf sich selbst anwendet: „Wenn wir also wie die Gallier sind, waren die Gallier auch wie wir und folglich haben sie auch schon all die Probleme gehabt, die wir jetzt haben.“ So wird die französische ‚Check-Liste‘ nationaler Identität auf die Gallier rückübertragen62 und eine „Homologie“63 zwischen beiden etabliert. Gerade im Band La serpe d’or, in welchem Asterix und Obélix nach Paris (Lutèce) reisen, wird diese durchdekliniert und so ins Absurde geführt: Wenn die Gallier unsere Vorfahren sind, so müssen sie schon unter Zentralismus, Staus, Umweltverschmutzung etc. gelitten haben. Auf der Straße nach Paris, welche Asterix und Obélix nehmen, staut es sich aufgrund einer Baustelle. Was Obélix hier „amphorisage“ nennt, also embouteillage im Sinne von ‚im Flaschenhals stecken bleiben‘, ist deshalb ein so bezeichnendes Wortspiel, weil die Gallier noch keine Flaschen (bouteilles), sondern nur Amphoren kannten.64 Gewiss hat Pageaux Recht, wenn er über das Verhältnis von Anachronismus und Stereotyp sagt: „Tous deux contribuent à bloquer l’histoire en un temps immémorial dans lequel passé et présent s’annulent par équivalence (in illo tempore... équivaut à toujours).“65 Aber der Deutung in Richtung eines rückwärtsgewandten Konservatismus bei Astérix entgeht, dass die Achronismen gerade die Absurdi-
62 Vgl. Thiesse, Des fictions créatrices: les identités nationales (2000), S. 52 (Fn.) und Screech, Masters of the ninth art (2005), S. 86. 63 Pageaux, De l’imagerie culturelle au mythe politique (1982), S. 440. 64 Goscinny/Uderzo, La serpe d’or (1962), S. 23, Panel 4. 65 Pageaux, De l’imagerie culturelle au mythe politique (1982), S. 442f.
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tät dieser Homologie aufdecken. Erst durch das Bewusstwerden der Inkongruenz von Galliern und Franzosen entsteht der Humor. Dieses Prinzip wird auch auf andere Völker übertragen, denen Asterix begegnet: Im Band Astérix chez les Bretons etwa bereist er Großbritannien, wo dann Beatlesähnliche Figuren auftreten und es rote doppelstöckige Kutschen nach Vorbild der Imperials gibt.66 Desgleichen beschwert sich ein Angler über die leeren Amphoren (anstatt heutiger Plastikflaschen), die er aus der Seine fischt,67 und Asterix lamentiert über die verpestete Luft in Lutèce68 und äußert beim Anblick eines Aquädukts erbost: „Avec leurs constructions modernes, les romains gâchent le paysage“.69 Hier wird das Mythos entlarvende Spiel von Deduktion und Induktion auf die Spitze getrieben. Auf dem Panel ist ein Aquädukt zu sehen, das dem Pont du Gard in der Provence ähnelt (obwohl Asterix geographisch auf seiner Route dort nicht vorbeikommt). Einerseits entspricht es also keineswegs dem heutigen Status dieses Aquädukts, welches ein Tourismusmagnet ist und nicht als Verschandelung gilt, andererseits bedient diese Skepsis gegenüber modernen Bauten einen Diskurs, der in Frankreich auch heutzutage vorherrscht, wie später noch zu zeigen sein wird. Abbildungen 3 und 4
Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/02/Pontdugard.jpg (02.03.2015) und Goscinny, René/Uderzo, Albert: La serpe d’or. Paris 1962, S. 10, Panel 4.
66 Goscinny/Uderzo, Astérix chez les Bretons (1966), S. 19, Panel 10 und S. 24, Panel 6. Vgl. zu den Anachronismen ausführlicher Kauffmann, Les jeux de l’humour et du temps (1998), S. 327-36. 67 Vgl. Goscinny/Uderzo, La serpe d’or (1962), S. 10, Panel 4. 68 Vgl. Ebd., S. 11, Panel 2 und 7. 69 Ebd., S. 10, Panel 4.
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3.3 Umgekehrter Mythos: Achronie und Re-Entry Entsteht die Ironisierung des Mythos im Falle des Pont du Gard durch die Übertragung historischer Ansichten in die Gegenwart, ist auch die umgekehrte Strategie, die Rückübertragung aktueller Fragestellungen in die Gegenwart der Gallier, erkennbar. Dies lässt sich als eine Strategie der Relativierung des Mythos sehen, wie Barthes sie fordert: „Man erkennt, daß die politische Bedeutungslosigkeit des Mythos von seiner Situation abhängt. Es genügt, seine Umgebung zu verändern, das allgemeine (und widerrufliche System), in dem er seinen Platz innehat, um seine Tragweite aufs genaueste zu regulieren.“70
In diesem Sinne fragt in La Serpe d’or der Barde einen Schüler: „Alors jeune homme, qui étaient nos ancêtres?“ (Abbildung 5). Hier wird einerseits auf die Schulbücher zurückgegriffen, nach denen die Barden eine intellektuelle Autorität waren.71 Andererseits wird durch die Achronie die Erzählung der Gallier als Vorfahren der Franzosen ad absurdum geführt. In einem analogen deduktiven Schluss zu den zuvor erwähnten ergibt sich folgende Erkenntnis: Wenn wir uns ständig Gedanken machen, wer unsere Vorfahren waren, müssten unsere Vorfahren sich das also auch gefragt haben. Allerdings zeigt die Ratlosigkeit des Schülers, ausgedrückt durch ein stummes Fragezeichen, die Absurdität dieser re-entry und macht so deutlich, dass sich die Gallier weder Gedanken um ihre Vorfahren noch um die Tatsache gemacht haben, dass sie einmal als solche mythisiert werden könnten. Ein weiteres Spiel mit dem Mythos der Barden ist das Festbankett. Lavisse schreibt über die Barden, dass sie einen Ehrenplatz bei den Banketten innehatten.72 Dies ist beim ersten Asterix-Band noch der Fall, wobei schon erste Beschwerden der Gallier über den von Lavisse hochgelobten
70 Barthes, Mythen des Alltags (1964), S. 133. 71 Lavisse, Histoire de France depuis les origines jusqu’à la Révolution (1900), S. 60. 72 Ebd., S. 61: „Ils [...] occupaient une place d’honneur à la table du banquet“.
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Gesang laut werden73 – in allen folgenden Bänden wird der Barde dann vom Bankett ausgeschlossen.74 Abbildungen 5 und 6
Quelle: Goscinny, René/Uderzo, Albert: La serpe d’or. Paris 1962, S. 5, Panel 3, Panel 2.
Eine weitere Strategie, durch Achronismen den Mythos als solchen kenntlich zu machen, zeigt sich, wenn Obélix beim Behauen von Hinkelsteinen „Douce Gaule“ singt.75 Dies ist für jeden Franzosen ein offensichtlicher Verweis auf Charles Trenets Chanson Douce France, in dem es heißt: „Oui je tʼaime/Dans la joie ou la douleur/Douce France“. Dieses patriotische, implizit zum Widerstand aufrufende Lied hat Trenet 1943 während der deutschen Besatzung geschrieben. Dass Obélix France mit Gaule ersetzt, verfolgt die deduktive Logik der ‚Asterixschen‘ Mythologie und zieht gleichzeitig die Parallele zwischen römischer und deutscher Besatzung. Allerdings hier unter anderen Vorzeichen, denn Obélix leidet nicht unter der Besatzung, sondern arbeitet voller Freude.76 Analog dazu singen Asterix und Obélix am Ende von La serpe d’or das Lied von Mistinguett Ça, cʼest 73 Vgl. Goscinny/Uderzo, Astérix le gaulois (1961), S. 48, Panel 9. 74 Vgl. Dies., La serpe d’or (1962), S. 46, Panel 9. 75 Ebd., S. 5, Panel 2. 76 Vgl. Ebd.
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Paris, entstanden 1926, ersetzen aber in der Zeile „Paris, c’est une blonde qui plaît à tout le monde“ Paris durch Lutèce.77 Barthes schreibt, „daß der Mythos eine gestohlene und zurückgegebene Aussage ist. Nur ist die zurückgegebene Aussage nicht mehr ganz dieselbe, die man entwendet hat: beim Zurückgeben hat man sie nicht genau wieder an ihren Platz gestellt“.78
In diesem Sinne ‚stehlen‘ die Anspielungen auf „douce France“ und „Paris, c’est une blonde“ die Aussagen von Trenet oder Mistinguett und stellen sie nicht genau an ihren Platz, sondern sie verändern sie nachhaltig, indem sie sie 2000 Jahre nach vorn rücken. Allerdings ist auch eine genau umgekehrte Lesart möglich: Wenn die Gallier unsere Vorfahren sind, so haben sich Trenet oder Mistinguett bei ihren Liedern sicherlich alter gallischer Lieder bedient. Diese Idee wird insbesondere beim Barden Assourancetourix immer wieder variiert. Er macht Musik, für welche seine Dorfbewohner noch nicht bereit sind, die sich aber, so hofft er, später durchsetzen wird.79 Das Prinzip der angeblichen Pionierleistung wird bei Astérix häufig verwendet. So stellt sich heraus, dass die zentralen Errungenschaften fremder Kulturen durch die Erfindungsgabe des kleinen Galliers entstanden sind. Die Briten haben ihm die Erfindung des Tees zu verdanken,80 die Indianer den Marterpfahl und die Freiheitsstatue,81 die Spanier die Corrida,82 die Belgier das Gericht Moules Frites,83 die Ägypter die zerstörte Nase der Sphinx etc.84 Durch die Absurdität der jeweiligen Herleitungen wird allerdings eine kulturchauvinistische Lesart dieser Pionierleistung unmöglich gemacht, es bleibt ein reines Spiel mit der Achronie; etwa auch, wenn der
77 Ebd., S. 46, Panel 1. 78 Barthes, Mythen des Alltags (1964), S. 107. 79 Vgl. dazu Hörner, René Goscinny/Albert Uderzo (2010), S. 231-3. 80 Vgl. Goscinny/Uderzo, Astérix chez les Bretons (1966), S. 45, Panel 1-10. 81 Vgl. Dies., La grande traversée (1975), S. 35, Panel 7 und S. 40, Panel 5. 82 Vgl. Dies., Astérix en Hispanie (1969), S. 46, Panel 1-9. 83 Vgl. Dies., Astérix chez les Belges (1979), S. 46, Panel 11. 84 Vgl. Dies., Astérix et Cléopâtre (1965), S. 21, Panel 6-9 und Pageaux, De l’imagerie culturelle au mythe politique (1982), S. 439.
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von Asterix ausgeknockte Indianer Sterne sieht – in Form des star sprangled banner.85 Barthes Ausführungen treffen auf dieses Phänomen zu: „Der Mythos wird durch den Verlust der historischen Eigenschaften der Dinge bestimmt. Die Dinge verlieren in ihm die Erinnerung an ihre Herstellung. [...] Ein Kunststück ist vor sich gegangen, bei dem das Reale umgewendet, es von Geschichte entleert und mit Natur angefüllt worden ist“.86
Im Gegensatz dazu zeigt sich in der Mythologie von ‚Asterix‘ eine gegenläufige Strategie, sodass man in Abwandlung der These formulieren könnte, dass bei ‚Asterix‘ die Dinge einem Kunststück gleich durch die mythologische Fiktion sowohl eine Geschichte bekommen, als auch eine Erinnerung an ihre Entstehung hervorgerufen wird. Dies gilt nicht nur für die erwähnten Anekdoten, sondern auch für den zentralen gallischen Mythos von Vercingétorixʼ Kapitulation. Wird im ersten Astérix-Band noch gezeigt, wie Vercingétorix Caesar seine Waffen vor die Füße wirft, machen sich Asterix und Obélix in Le bouclier arverne auf die Suche nach dem Schild. Und natürlich stellt sich heraus, dass durch eine unglaubliche Verkettung von Zufällen dieser Schild im Besitz ihres Häuptlings Abraracourcix ist. Der Band endet mit einem Triumphzug des gallischen Oberhauptes auf dem Arvernerschild – vor den Augen Caesars.87 Asterix, am Anfang des Zuges, macht aus dem symbolischen Vorgang wieder einen Gegenstand mit seiner Geschichte. Wenn der Mythos Geschichte in Natur verwandelt,88 so verwandelt Astérix ihn wieder in eine fiktionale Geschichte zurück. Aus den virtuellen Objekten des Mythos89 macht Astérix greifbare Gegenstände, wie den Schild des Häuptlings. Gleichzeitig unterstreicht die Unglaubwürdigkeit der Geschichte die Fikti-
85 Vgl. Goscinny/Uderzo, La grande traversée (1975), S. 23, Panel 6. 86 Barthes, Mythen des Alltags (1964), S. 130. 87 Vgl. Goscinny/Uderzo, Le bouclier arverne (1968), S. 46, Panel 1. 88 Vgl. Barthes, Mythen des Alltags (1964), S. 113. 89 Vgl. Lévi-Strauss, Mythologiques (1964), S. 25.
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onalität jeder Geschichtsschreibung, wie sie auch Lévi-Strauss andeutet und etwa Hayden White ausführlich beschreibt.90
4. Q UARTÄRE M YTHOLOGISIERUNGEN Zum Abschluss soll gezeigt werden, inwiefern Astérix selbst durch die Rezeption in Frankreich und in anderen Ländern einer Mythologisierung im Sinne Barthesʼ unterworfen ist. Schon zu Beginn der 1960er-Jahre, also direkt mit dem Erscheinen der ersten Astérix-Bände, zeigt sich, dass die französische Rezeption von Astérix insoweit mythologisierend verfährt, als sie ihn auf einen einzelnen Aspekt, die Verkörperung des französischen Nationalcharakters, reduziert und diesen für politische Zwecke instrumentalisiert. Goscinnys eigenen Aussagen zufolge hat nahezu jede Partei versucht, Asterix für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.91 Nicht zuletzt aufgrund der Namensähnlichkeit war indes die wirkmächtigste Gleichsetzung diejenige mit De Gaulle. Als Anknüpfungspunkt dienten De Gaulles Widerstand im Zweiten Weltkrieg, aber auch dessen eher amerikakritische Außenpolitik der 1960er Jahre92 sowie eine allgemeine kulturkonservative Identitätspolitik. Der damalige Minister Alain Peyrefitte bringt diese mythische Identität zum Ausdruck, wenn er vom „invariant national“ der Franzosen spricht, die von Asterix dem Gallier bis zu De Gaulle reiche.93 Der Philosoph Alain Duhamel schreibt in seiner Analyse der politischen Befindlichkeit Frankreichs mit dem Titel Le complexe d’Astérix: „Goscinny et Uderzo ont su, mieux que quiconque depuis Tocqueville, résumer en leur héros tous les traits qui forment le tempérament politique français.“94 In gewisser Weise kehrt die Mythisierung wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück, sodass sich der Kreis schließt. Die Gallier wurden zu den Vorfahren der Franzosen mythisiert,
90 Ebd., S. 21. Vgl. auch White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen (1986), insbesondere S. 101-22 und 145-60. 91 Zit. nach Glénat/Sadoul, Entretien avec René Goscinny (1973), S. 16. 92 Vgl. Screech, Masters of the ninth art (2005), S. 82. 93 Zit. nach ebd. 94 Duhamel, Le complexe d’Astérix (1985), S. 10.
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Astérix mythisiert die Gallier und repräsentiert das französische Temperament als mythische Figur. Diese steht somit für die Geburt der französischen Nation und symbolisiert das Aufbegehren der französischen exception culturelle gegen die Gleichmacherei der Globalisierung, gegen den Hegemonieanspruch der USA oder (dies vor allem in den 1960er Jahren) gegen die Bedrohung durch die Deutschen. Offen bleibt die Frage, warum dieses Werk weltweit, von Norwegen bis Neuseeland, übersetzt und bis in die letzten Winkel der Erde verbreitet ist, auch dort, wo die Frage nach der französischen Befindlichkeit allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt – und warum es insbesondere auch in Deutschland sehr erfolgreich ist. Anstelle einer Zusammenfassung seien dazu drei Thesen aufgestellt. Die erste Erklärung ist eher dialektisch: Dass der französische Nationalheld weltweit bekannt ist, stellt ein Paradox dar, das sich aus der zentralen Spannung von lokaler Identität und Globalisierung speist. Marshall McLuhans Diagnose vom globalen Dorf, in dem wir aufgrund der Beschleunigung durch elektronische Medien leben, stammt aus dem Jahr 1964,95 also aus der Zeit, in der der Erfolg von Astérix begann. Demnach entspricht Astérix einem Bedürfnis, sich angesichts der Globalisierung dem Lokalen hinzugeben – versinnbildlicht im idyllischen Dorf –, ohne den Blick auf die Moderne durch Achronismen etc. zu blockieren. Diese Spannung wird schon auf der ersten Seite der Astérix-Comics deutlich, wenn links die vielen Übersetzungen aufgeführt werden und rechts die Karte mit dem kleinen gallischen Dorf inklusive des bereits untersuchten Schriftzugs „Nous sommes en 50 avant Jésus-Christ“96 gezeigt wird. Das in Astérix kultivierte paradoxe Verhältnis zwischen lokalem und globalem Dorf, zwischen Regionalismus (ein kleines Dorf in der Bretagne), Zentralismus (Paris) und Imperialismus (das römische Imperium) manifestiert sich letzten Endes auch darin, dass ein Nationalmythos global erfolgreich wird. Eine zweite Erklärung für diesen Erfolg ist, dass Asterix in jedem Band neue interkulturelle Begegnungen macht und das Bedeutungspotential des Mythos sich dadurch ausweitet. Konzentriert sich der erste Band noch auf
95 Vgl. McLuhan, Die magischen Kanäle (1992), S. 113. 96 Dieser ist im Übrigen mittlerweile auch auf einem Straßenschild in der Rue René Goscinny im XIII. Arrondissement von Paris zu sehen.
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die Auseinandersetzung der Gallier mit den Römern, wird dieser Dialog bereits im zweiten Band La Serpe d’Or erweitert, wenn Asterix das Leben in der Großstadt Lutèce kennenlernt (die Pariser sind ja ein Volk für sich). Im dritten sind Asterix und Obélix bei den Goten, dann als Gladiatoren in Rom, machen eine Tour durch ganz Frankreich, bevor es sie nach Ägypten, England, Spanien, in die Schweiz etc. zieht. Es ist also der Dialog zwischen Eigenem und Fremden, zwischen Galliern und Römern, aber auch zwischen Galliern und anderen Völkern, welcher die Faszination von Astérix ausmacht und die Bände somit auch für Nicht-Franzosen attraktiv werden lässt. Die Funktionsweise ist hierbei recht ähnlich, mit dem Unterschied, dass die Mythen weniger detailreich in die jeweilige Geschichtsschreibung hineinragen, sondern eher auf allgemeinen Stereotypen fußen. Dabei ist auffällig, dass alle Völker ihre spezielle Art des Widerstandes gegen die Römer kultivieren: die kriegerischen Deutschen, die furchtlosen, aber immer höflichen Briten, die stolzen Spanier, die reizbaren Korsen, die starken aber zerstrittenen Belgier, die sich nur im Kampf gegen die Römer vereinen lassen, die peniblen Schweizer, welche die Römer durch ihre Langsamkeit zermürben etc. Dies führt zur dritten Erklärung. Demnach bleibt Astérix für nichtfranzösische Leser deswegen lesbar, weil die Figur des Asterix in seiner Funktion als nationaler Gründungsmythos soweit ausgehöhlt wurde, dass er gar nicht mehr als Nationalmythos wahrgenommen, sondern nur noch als rebellische Figur gelesen wird. So kann er wahlweise als Ausdruck eines globalen Widerstandes gegen die pax romana97 und vulgo auch andere Ordnungsmächte wie die NATO, die EU98 oder die USA,99 als links, rechts oder als Jakobiner100 etc. gelesen werden. Ein derart mythologisierter Asterix taucht in allen möglichen Kontexten auf, in denen es um den Widerstand eines Einzelnen, eines David, gegen das System oder gegen den Goliath geht. Nicht nur im globalen Maßstab, sondern auch, wenn sich Leverkusener Stadtbewohner gegen die Bauvorhaben ihrer Gemeinde oder Attac gegen Bauvorhaben in Notre-Dame-des-Landes richten wollen, wird As-
97
Vgl. Stoll, Asterix, das Trivialepos Frankreichs (1975), S. 58 und 63.
98
Vgl. Agulhon, Le mythe gaulois (1998), S. 300.
99
Vgl. Clark, Imperialism in Asterix (2004).
100 Vgl. Barraud/de Sède, La mythologie d’Astérix (1969), S. 35.
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terix bemüht.101 Analog zu Barthesʼ Mythos wird hier Astérix selbst seiner Geschichte und seiner Geschichten beraubt und auf das neue Signifikat des Widerständlers reduziert, um einen gänzlich neuen Sinn zu bilden. Sobald sich ein Fußballverein in der Rolle des Außenseiters wähnt, kann man gewiss sein, dass er als das gallische Dorf inszeniert wird, das die Großen ärgern möchte.102 Abschließend bleibt das Rätsel der Langlebigkeit und des fortwährenden Überdauerns verschiedener Epochen, sowie der offenbar nahezu allgemeingültigen Übertragbarkeit des Mythos des Galliers. Festhalten lässt sich jedenfalls, dass Astérix die Mythen der Gallier verwendet, sie zu neuen tertiären und quartären Mythen macht und die induktive Logik des Mythos umdreht, indem er deduktiv auf komische Weise die Eigenschaften der Gallier als Vorfahren der Franzosen ableitet. Würde man den Astérix-Comic losgelöst von der kulturgeschichtlichen Aufarbeitung des Mythos der Gallier betrachten, ließe sich vielleicht mit Barthes folgern, dass dieses eine erfolgreiche Strategie sein könnte, den Mythos als solchen zu entlarven. Betrachtet man aber insbesondere die Langlebigkeit und Variabilität des Mythos Hahn/Gallier, so ließe sich vielleicht eher darauf schließen, dass der ironische Umgang mit Astérix letzten Endes doch stattdessen zur Kanonisierung und Stabilisierung des Mythos beigetragen hat – und vor allem auch zum globalen Export des Mythos der widerständigen Gallier. Die tertiäre und quartäre Verwendung des Mythos erweist sich so letzten Endes als eine weitere Vernetzung des Mythos; Barthesʼ Idee, einen tertiären „künstlichen Mythos“ als Waffe gegen den sekundären Mythos einzusetzen,103 ist insofern eher programmatisch als realistisch zu sehen. Vielmehr scheint seine eigene Diagnose, „[d]er Mythos kann alles erreichen, alles
101 Vgl. https://france.attac.org/actus-et-medias/les-videos/videos/notre-dame-deslandes-operation-asterix-docu-54-min
und
www.gallier-leverkusen.de/
(04.05.2015). 102 Vgl. „Neben Ingolstadt sieht der Trainer Vereine wie Kaiserslautern, Karlsruhe, Braunschweig, Nürnberg oder Düsseldorf in der Favoritenrolle. Darmstadt sieht Schuster daher als das „kleine gallische Dorf“, dessen Aufgabe es sei, die anderen zu ärgern.“, http://www.kicker.de/news/fussball/2bundesliga/startsei te/622127/artikel_schuster-26-co-_bescheiden-in-die-bundesliga.html (14.08.2015). 103 Vgl. Barthes, Mythen des Alltags (1964), S. 122.
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korrumpieren, sogar die Bewegung, durch die sich etwas ihm gerade entzieht“,104 eben auch für die Mythologisierung des Mythos zu gelten. Demnach wäre der barthessche Mythos von Vornherein bereits auf tertiäre, quartäre und folgende Mythologisierungen angelegt und von diesen auch nicht zum Schweigen zu bringen, sondern nur zu weiterer Resonanz und Persistenz.
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Pathostransfer: Wagners Beitrag zum Faust-Mythos S TEFAN M ATUSCHEK
Die Rede von modernen Mythen, so wird allgemein beklagt, ist inflationär und tendenziell beliebig geworden. Die ideologiekritische Absicht, mit der Roland Barthes vor mehr als einem halben Jahrhundert den Mythos-Begriff auf Alltagsphänomene und journalistische Kommunikation ausweitete, scheint sich dabei bis heute ins Gegenteil gewendet zu haben. Barthes1 verstand seinen neuen Gebrauch des Mythos-Begriffs als Diagnose und Therapie des bürgerlichen Denkens, dem er damit die Verschleierung historischer Schuld und Verantwortung vorwarf. Eben darin sah er die Funktion der modernen Mythen: dass sie als naturgegeben und unabänderlich darstellen, was eigentlich eine Sache machtpolitischer und materieller Unterdrückung sei. Der Zusammenhang, den Barthes damit zwischen dem Mythos-Begriff und der Publizistik der bürgerlich-kapitalistischen Gegenwart herstellte, hat sich seitdem als fruchtbar erwiesen. Allerdings weniger in der ursprünglichen Intention, die auf kritische Entmythisierung aus war, sondern im Gegenteil. Journalismus und Werbung haben den Ausdruck Mythos ganz affirmativ aufgenommen, um damit das Interesse an ihren Gegenständen zu wecken. Wenn im Kulturhauptstadtjahr 1999 ein Buchtitel Mythos Weimar2 erfolgreich um Käufer und Leser warb und wenn ein so angesehenes wie erfolgreiches Magazin wie National Geographic 2012 eine Reportage Mythos „Titanic“3 herausbrachte, dann zielte der Begriff weniger auf Kritik 1
Vgl. Barthes, Mythologies (1957).
2
Merseburger, Mythos Weimar: zwischen Geist und Macht (1999).
3
Sides, Mythos „Titanic“ (2012); auch als DVD vermarktet.
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als auf Aufmerksamkeit. Die Abweichung von den historischen Fakten, die ‚Unwahrheit‘ des Mythos, ist in diesen Titeln nicht einfach das Falsche, das durch Richtigstellung zu beseitigen wäre, sondern im Gegenteil das, was die Sache erst interessant macht. Gerade weil es nicht nur um historische Fakten, weil es zudem um große Deutungserzählungen geht (über die deutsche kulturelle Identität zwischen Provinzialismus, Humanismus und Buchenwald; über die Hybris der modernen Technik), gerade deshalb werden Weimar und Titanic interessant. Ihre Mischung aus geschichtlichen Tatsachen und überhöhender erzählerischer Deutung macht das Faszinosum aus, wofür der Ausdruck Mythos jetzt steht. So ist die Rede von modernen Mythen entgegen ihrer anfänglichen Intention zum Werbewort in eigener Sache geworden. Daraus resultiert der inflationäre und tendenziell beliebige Gebrauch. Eine präzisere Begriffsverwendung, die Barthesʼ kritische Intention beerbt, zeigt sich dagegen in der Politik- und Geschichtswissenschaft.4 Sie verstehen Mythen als Deutungserzählungen, die zwar unüberprüfbar oder nachweislich falsch und dennoch als kollektive Sinnstiftungen wirksam sind. Barthesʼ Entlarvungsgeste der bürgerlichen Ideologie bleibt dabei erhalten, bekommt aber durch die gleichzeitige Anerkennung narrativer Orientierungsleistungen ein Gegengewicht. Politische Mythen werden in der neueren Forschung nun nicht mehr nur ideologiekritisch als gefährliche Mobilmachung des Irrationalismus gesehen, sondern auch positiv als emotional wirksames Deutungs- und Integrationsangebot. Das hat wohl auch mit der wachsenden Distanz zum Nationalsozialismus zu tun, der im vergangenen Jahrhundert die politische Mythen-Diskussion als monströses Beispiel dominierte. Unter diesem Eindruck erscheinen moderne politische Mythen als tödliche Propagandalügen. Indem die Dominanz dieses Beispiels vergeht, gewinnt die Einschätzung Raum, dass Mythen auch in freien, demokratischen Gemeinschaften relevante Orientierungsfunktionen übernehmen. Exemplarisch zeigt sich das in der vielfach zu hörenden Sorge, dass dem aktuellen Europa genau diese Orientierung fehle. Was die Gründergeneration der EU noch in der unumkehrbaren Versöhnungsgeschichte der einstigen Kriegsgegner hatte: eine narrative, sinnstiftende Gesamtperspektive, scheint in der aktuellen Generation bloßer Verwaltungstechniker verloren. Der Wunsch nach einer großen Erzählung, an der sich
4
Vgl. zuletzt z.B. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen (2009).
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Europa jenseits der Vertrags- und Rechtstechnik neu integrieren könne, gibt Zeugnis von einem konstruktiven Mythos-Verständnis. Das Mythische gilt damit nicht mehr nur als Skandalon der aufgeklärten Welt, sondern als deren normaler, funktional wichtiger Bestandteil. Vor diesem Hintergrund hat Stephanie Wodianka drei Kriterien benannt, mit denen sich das funktionale Verständnis moderner Mythen präzisieren lässt: 1. die „kulturgeschichtliche Bedarfslage“, auf die Mythen antworten, 2. deren „metamythische Selbstmarkierung“ und 3. deren „wechselseitige Stabilisierung“ untereinander.5 Das zweite Kriterium enthält den wichtigen Hinweis, dass auch moderne Mythen (wie die antiken) ihre Wirksamkeit nicht dadurch verlieren, dass man sie als solche erkennt und kenntlich macht. Die Rede von der Entmythisierung, von der Aufklärung als Austreibung der Mythen, sorgt hier für Missverständnisse. Denn die Bezeichnung einer Erzählung als Mythos ist ja nur in selteneren Fällen (so allerdings bei Roland Barthes) deren Disqualifizierung und Entwertung, sondern oftmals gerade umgekehrt die Anerkennung ihrer besonderen Wirksamkeit; die Diagnose einer ästhetisch-emotionalen Überzeugungskraft, die ganz unabhängig von historischer Überprüfbarkeit oder Richtigkeit besteht. Insofern bedarf der Mythos keines naiven Glaubens und Für-wahr-Haltens, um seine Wirkung zu entfalten. Er verträgt sich durchaus mit der expliziten Markierung seines mythischen Charakters. Zusammengenommen lässt sich aus Wodiankas Kriterien ein Forschungsprogramm entwerfen, das ein funktionales Verständnis moderner Mythen kulturgeschichtlich konkretisiert und in der je zugehörigen Programmatik wie Vernetzung rekonstruiert. Wie das aussehen kann, möchte ich an einem Beispiel zeigen, das sich an Bekanntestes hält und gerade dadurch die neue Leistungsfähigkeit der drei Kriterien vermitteln kann. Es geht um Goethes Faust und Wagners Siegfried, die beiden seit der Reichsgründung 1871 am meisten und intensivsten verwendeten Figuren mythischer Identitätsstiftung der Deutschen. Nun sind Goethes Faust-Tragödie und Wagners Musikdrama Siegfried sehr verschieden, insbesondere auch in der praktischen wie programmatisch-konzeptionellen Mythenverwendung. Inwiefern diese so differenten Beispiele in funktionaler Hinsicht dennoch eines sind und wie dabei die metamythische Selbstmarkierung und die (in diesem Fall einseitige) Stabilisierung eine
5
Vgl. Wodianka, Moderne (2013), S. 334 und 337.
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entscheidende Rolle spielen, will ich nach den drei genannten Kriterien darstellen.
1. K ULTURGESCHICHTLICHE B EDARFSLAGE : DAS „ DEUTSCHE W ESEN “ Über das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sind Siegfried und Faust die beiden Hauptfiguren mythischer Identitätsbildung der Deutschen. Der erste steht im Zentrum der Wiederentdeckung, in vieler Hinsicht Neuerfindung einer germanischen Mythologie, die seit der Napoleonischen Besatzung und dann den Befreiungskriegen zur antifranzösischen Profilierung deutscher Kultur und deutschen Heldentums verwendet wurde. Die wichtigsten literarischen Wegmarken sind die Tragödientrilogie Der Held des Nordens (1810) von Friedrich de la Motte Fouqué, Friedrich Hebbels Trilogie Die Nibelungen. Ein deutsches Trauerspiel (1861) und Richard Wagners Siegfried aus dem Ring des Nibelungen (Textveröffentlichung 1852, Bayreuther Uraufführung 1876). Weitere Etappen der Popularisierung und politischen Instrumentalisierung sind Fritz Langs Nibelungen-Film von 1924 und die nach dem Ersten Weltkrieg verbreitete ‚Dolchstoßlegende‘, die den deutschen Soldaten als jungen Helden verherrlicht, der nicht im Kampf, sondern heimtückisch, hinterrücks durch internen Verrat zu Fall gebracht worden sei. Siegfrieds mythische Rollen als Schmied und Drachentöter machen ihn in der Mobilmachung und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges dann zum Idealtypus der germanisch-deutschen Arbeiter- und Soldatenidentität.6 Die andere Figur, Faust, bezieht ihre Popularität und Geltung aus dem Prestige der goetheschen Tragödie. Ihre Karriere verläuft diskontinuierlich: So groß die Begeisterung (vor allem im jüngeren akademischen Publikum) über die Sturm-und-Drang-Figur des ersten Teils (1790) zunächst war, so groß waren die Enttäuschung und die Verlegenheit über den postum veröffentlichten zweiten Teil (1832). Dessen ästhetische und konzeptionelle Vielfalt, die ganz verschiedene Theaterformen und ebenso verschiedene Ausrichtungen der Hauptfigur versammelt, bricht radikal mit der Sturm-
6
Vgl. knapp dazu meinen Beitrag Sigurd/Siegfried (2014); dort auch weitere Literaturhinweise.
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und-Drang-Ästhetik des ersten Teils und widersprach damit den Erwartungen, die das Publikum mit der Fortsetzung dieses Werks verband.7 Die Vollendung des goetheschen Hauptwerks, so sah man es, leide an Altersschwäche. Diese Einschätzung änderte sich erst mit der Reichsgründung 1871. In der allgemeinen Konjunktur nationalstolzer Selbstdarstellung wurde Goethes Faust als Nationalgedicht mit eindeutiger identitätsstiftender Botschaft interpretiert. Es zeige dem Deutschen seine Identität als ‚faustischer Mensch‘: des ewig strebsamen Erkenntnissuchers und Tatmenschen, der trotz der Opfer, die seinen Lebensweg säumen, eben durch seine unermüdliche Strebsamkeit gerechtfertigt und erlöst werde. Mit dieser Botschaft half man sich über die Heterogenität und auch die Negativität der goetheschen Figur hinweg und baute sie affirmativ und eindeutig zum positiven Nationalcharakter auf, der dann gemäß der politischen Entwicklung zunehmend chauvinistische Züge annahm.8 Heute erscheint die Botschaft vom faustischen Nationalcharakter der Deutschen als eines der eklatantesten Beispiele, wie sich eine textfremde Ideologie einen literarischen Text zunutze macht. Dass sie sich so resonanzstark verbreiten konnte, hat sicher damit zu tun, dass Goethes Drama, zumal der zweite Teil, komplex und schwierig, die Idee das Faustischen dagegen einfach ist und sich überdies mit den griffigsten Dramenversen verbinden lässt („Den lieb ich, der Unmögliches begehrt“, Vers 7488; „Wer immer strebend sich bemüht/ Den können wir erlösen“, Vers 11936f.). Seit der Reichsgründung verbinden sich Siegfried und Faust als mythische Antworten auf dieselbe kulturgeschichtliche Bedarfslage. Der neue Nationalstolz braucht Leitbilder, die den aktuellen militärischen Triumph und den aus ihm hervorgegangenen Staat schicksalhaft absichern. Genau dies leistet das mythische Identitätsangebot. Es lässt den deutschen Sieg und das auf ihn gegründete Kaiserreich als folgerichtige, ja notwendige Verwirklichung einer nationalcharakterlichen Stärke deuten. Siegfried und
7
Exemplarisch zeigt sich dies in Friedrich Theodor Vischers Parodie Faust. Der Tragödie Dritter Theil. Treu im Geiste des zweiten Theils des Götheschen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky. 2. Aufl. Tübingen 1886 [1862].
8
Vgl. dazu immer noch: Schwerte, Faust und das Faustische (1962); zuletzt Münkler, Der Pakt mit dem Teufel (2009), S. 109-39; und knapp dazu meinen Beitrag Faust (2014), S. 123-8.
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Faust ergänzen sich in dieser Hinsicht als ältere und neuere, als germanisch urtümliche und modern christliche Verkörperung des deutschen Volksgeistes. So sah und schrieb es der Philologe Ferdinand Brockerhoff schon im Jahr 1853 im Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Diese Zeitschrift (nach ihrem Herausgeber auch kurz Herrigs Archiv genannt) war damals kein Organ nur für akademische Spezialisten, sondern erreichte ein weite Berufsgruppe von Neuphilologen an Schulen und Hochschulen. Eine Rezension zu einer Faust-Studie endet dort mit der Auskunft: „Faust hat unserer Erachtens für die neuere, mit der Reformation anhebende Epoche der deutschen Bildungsgeschichte eben dieselbe Bedeutung, welche Siegfried, der Held des Nibelungenliedes, für eine frühere Periode derselben in Anspruch nehmen darf. Der Eine wie der Andere ist ein treuer und scharfer Ausdruck des spezifisch deutschen Volksgeistes; in beiden ist das ihn beseelende Prinzip der freien, unendlichen Persönlichkeit in verschiedenen Formen ausgeprägt worden. Faust ist im Wesentlichen nichts als eine höhere Potenz des Siegfried, […] der tiefe Grund, die eigentliche Wurzel des deutschen Wesens […].“9
Dass der Faust-Rezensent im Jahr 1853 an Siegfried denkt, ist vielleicht nicht nur durch das Nibelungenlied motiviert, sondern auch durch die aktuellere dramatische Fassung, die Richard Wagner dieser Figur gab. Sie war im Jahr zuvor im Druck erschienen. Durch die Analogie zum germanischen Jüngling, Schmied und Drachentöter fasst diese Rezension den Interpretationsgedanken, der dann Konjunktur haben und Goethes Faust zum Nationalgedicht erheben wird: den Gedanken, dass dieses Drama eigentlich auch vom deutschen Nationalcharakter handle. Anlässlich der Reichsgründung schreibt Wagner selbst seiner Siegfried-Figur eine nationalmythologischimperialistische Botschaft zu, so dass diese Politisierung des mythischen Siegfried nicht erst von den späteren nationalistischen Wagner-Verehrern stammt, sondern schon von Wagner selbst. In den Jahren der bürgerlichen Revolution floh er als steckbrieflich gesuchter Aufrührer aus Dresden in die Schweiz; im Kontext der Reichsgründung stimmt er und reiht er seine Sieg-
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Brockerhoff, [Rezension zu] Die Literatur der Faustsage bis Ende des Jahres 1850 (1853), S. 474f.
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fried-Figur in den neu erstarkten Nationalismus ein.10 Zur selben Zeit erscheint die Faust-Ausgabe von Gustav von Loeper, deren Einleitung die Faust-Sage als germanisch deutsche Mission neben die Siegfried-Sage stellt.11 Diese Goethe-Ausgabe findet weite Verbreitung und mit ihr die Strategie, der Mehrdeutigkeit der goetheschen Faust-Figur durch die Siegfried-Analogie eine eindeutige Richtung zu geben: die Richtung affirmativer Nationalcharakteristik. Der Bedarf nach nationaler Selbstversicherung gibt den Anlass, sich aus der Verlegenheit angesichts des goetheschen Alterswerks hinaus zu helfen und ihm mit dem Prestige des Nationalgedichts eine zugehörige und angemessene nationale Botschaft zuzuschreiben. So tritt die Ideologie des Faustischen gegen die modernekritische Negativität von Goethes Dramenfigur an und setzt sich als Aneiferung zu nationaler Strebsamkeit für lange Zeit in der populären Vorstellung dieses Nationalklassikers durch. Die durch Wagner erneuerte Siegfried-Figur wirkt dabei als Parallelfall auf doppelte Weise. Denn zusammen mit dem nationalen Thema setzt sie auch das ästhetische Muster für das Mythische in der modernen Kunst. Wagners mythostheoretische Selbsterklärungen und das Beispiel, das er mit seiner Siegfried-Figur gibt, übertragen sich auf die Erwartungen gegenüber der Faust-Figur. Die metamythische Selbstmarkierung in Wagners Musikdrama wirkt damit über sich selbst hinaus und prägt, man kann auch sagen: überformt den Faust-Mythos.
2. M ETAMYTHISCHE S ELBSTMARKIERUNG : W AGNERS M YTHOSKONZEPT Wagners Ring des Nibelungen ist von einer engagierten Selbsterklärung zu Qualität und Funktion des Mythos begleitet. Seine Abhandlung Oper und Drama sowie seine veröffentlichten Mittheilungen an meine Freunde, beide aus dem Jahr 1851, sind die dafür aussagekräftigsten Dokumente. Sie zeigen die eigentümliche Gestalt der Wagnerschen Mythostheorie: Sie ist von der Bühnenpraxis aus gedacht, fokussiert auf deren Affekterregungsstrategien und wendet sie ins Politische. Wagners Mythosverständnis ist, kurz
10 Vgl. dazu Brackert, „Wir haben keine Mythologie (1995), S. 17-25, insbesondere S. 20. 11 Vgl. Goethe’s Werke (1870), S. XXX.
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gesagt, die sinnliche Überwältigungsbotschaft des multimedialen Affekterregungskünstlers. Das politische Interesse gehört hier wesentlich dazu, setzt das eigentliche Ziel. Wagner folgt darin den Frühromantikern, deren ‚Neue Mythologie‘ ihrerseits politisch motiviert ist: „Wir müßen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.“12 So steht es schon im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, in dem die Idee einer ‚Neuen Mythologie‘ zum ersten Mal greifbar ist. Die politische Botschaft des Neuen Mythos liegt darin, dass er den Staat überflüssig mache. Und zwar dadurch, dass er auf lebendig würdevolle Weise die Gemeinschaft der freien Menschen herbeiführen solle, die der Staat dagegen nur als abstraktes, würdeloses Regelwerk organisiere. Genau das ist auch Wagners Perspektive. Er formuliert sie, indem er das ‚Reinmenschliche‘ gegen das Staatsbürgerliche ausspielt. Das ‚Reinmenschliche‘ ist dabei Inhalt und Botschaft des Mythos, in dem die natürlichen Bedürfnisse freier Menschen zum Ausdruck kommen; das Staatsbürgerliche wird dagegen als entwürdigende Beschneidung dieser Bedürfnisse verunglimpft. In Oper und Drama interpretiert Wagner den Antigone-Mythos in diesem Sinne: Antigone setze die natürlichen Bedürfnisse der Blutsverwandtschaft (die Beerdigung ihres Bruders) gegen die Kreonsche Staatsraison durch. Insofern gilt ihm Antigone als Symbolfigur seiner eigenen Botschaft: der Durchsetzung des ‚Reinmenschlichen‘ gegen alle Staatsinteressen. Wagners AntigoneInterpretation endet in dem Ausruf: „Heilige Antigone! Dich rufe ich nun an! Laß Deine Fahne wehen, daß wir unter ihr vernichten und erlösen! --.“13 Vernichten will Wagners Mythos alle Vorstellungen staatlicher Ordnung und Interessen, wofür insgesamt der nur polemisch gebrauchte Begriff ‚Politik‘ steht („Antigone verstand nichts von Politik – sie liebte.“);14 erlösen will er die natürlichen menschlichen Bedürfnisse. Wohin solche Politikverachtung im Namen des Mythos und der menschlichen Natur in der deutschen Geschichte geführt hat, braucht man niemandem zu sagen; auch nicht, dass die Wagner-Rezeption dabei eine
12 Jamme/Schneider, Mythologie der Vernunft (1984), S. 11f. 13 Wagner, Oper und Drama (1994), S. 199. Die gesamte Antigone-Interpretation dort S. 189-99, das ‚Reinmenschliche‘ S. 194. 14 Ebd., S. 197.
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tragende Rolle spielte und dass diese Rolle kein bloßes Missverständnis war. Wagners Herkunft aus der 48er-Revolution gibt zu dem Urteil Anlass, dass „kaum etwas seinen ursprünglichen Absichten weniger angemessen war als seine Vereinnahmung durch die nationalistische Rechte“.15 In seiner weiteren Entwicklung aber verknüpft Wagner selbst, wie gesagt, die Siegfried-Figur im Kontext der Reichsgründung mit einer nationalmythologisch-imperialistischen Botschaft,16 die seine nationalistischen Rezipienten also nicht erst hineinlesen mussten. Und auch die ursprüngliche Absicht ist ja nichts, was als politische Perspektive zu retten wäre. Denn es ist die Verdrängung aller politischen Rationalität durch einen Künstlermessianismus. Man hat darin eine typisch deutsche Eigenschaft sehen wollen, die von den Romantikern über Wagner bis zu Hitler reicht: eine Deutungslinie, die zum ersten Mal in einer Harvard-Dissertation aus dem Jahre 194217 gezogen wurde. Thomas Mann hat mit mehreren Essays und dann seinem Doktor Faustus-Roman diese Perspektive bestätigt, sie allerdings auch – insbesondere im Roman – in ihrer eigenen mythenbildenden Suggestivität kritisch reflektiert.18 Deutlicher wird das Wagnersche Mythos-Konzept dann, wenn man darauf schaut, wie es aus der Bühnenpraxis entsteht. Der Theoretiker Wagner hat einen zweifelhaften Ruf. Seine Abhandlungen neigen zur Großsprecherei. Was aber bei all seinen ausgreifenden kunsttheoretischen Erörterungen überzeugt, ist die Klarheit, sobald es um konkrete Fragen der künstlerischen Darstellung geht. Der Theoretiker Wagner wird dort am interessantesten, wo er als Praktiker spricht und an die Umsetzung auf der Bühne denkt. Das gilt auch für seine Ausführungen zum Mythos. Denn der Begriff, den sich Wagner vom Mythos macht, ergibt sich aus der praktischen Anforderung, in der er sich als Verfasser eines mythischen Dramas sieht. Diese Anforderung bestehe darin, heißt es in Oper und Drama, Inhalt und Gestalten des Mythos „in dichteste gedrängteste Form“ zu bringen.19 Konkret: Was im Nibelungenlied oder in den Edda-Liedern in breiter epischer Darstellung vorliegt, müsse im Drama zu prägnanten Ge-
15 Münkler, Richard Wagner (2001), S. 555. 16 Vgl. dazu Brackert, „Wir haben keine Mythologie“ (1995). 17 Vgl. Viereck, Metapolitics (2007). 18 Vgl. dazu meinen Beitrag Perspektivische Amerikanisierung (2015), S. 63-81. 19 Vgl. Wagner, Oper und Drama (1994), S. 163.
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stalten und Handlungsmotiven konzentriert werden. Ein Beispiel: So plastisch-plakativ, wie Wagner seine Siegfried-Figur auftreten lässt („in wilder Waldkleidung, mit einem silbernen Horn an der Kette, kommt mit jähem Ungestüm aus dem Walde herein; er hat einen großen Bären mit einem Bastseile gezäumt und treibt diesen mit lustigem Übermute gegen Mime an: Hoiho! Hoiho! Hau ein! Hau ein!“),20 so plastisch-plakativ findet er sich an keiner Stelle in den epischen Überlieferungen. Das Drama verdichtet, was in der mythischen Tradierung zerstreut liegt. Das Entscheidende ist nun, dass Wagner diesen Verdichtungsprozess nicht nur als Geschäft des Dramatikers, sondern zugleich auch als Prinzip des Mythos versteht. Die Anforderung, in der er sich als Dramendichter sieht, projiziert er in die Entstehungsgeschichte des Mythos zurück. Im Sinne Jacob Grimms versteht Wagner den Mythos als anonyme Volksdichtung; im ganz eigenen Sinne aber versteht er diese Volksdichtung als den ersten sinnlichen Verdichtungsprozess, der sich im Geschäft des Dramatikers dann wiederholt. Die mythische Volksdichtung verhält sich dabei gegenüber der Wirklichkeit so, wie sich der mythische Dramendichter gegenüber der Volksdichtung verhält. So ergibt sich ein doppelter Verdichtungsprozess. In Wagners Worten: „Aller Gestaltungstrieb des Volkes geht im Mythos somit dahin, den weitesten Zusammenhang der mannigfaltigsten Erscheinungen in gedrängtester Gestalt sich zu versinnlichen […]. Wie in diesem Mythos der weitverzweigteste Umfang der Erscheinungen zu immer dichterer Gestalt zusammengedrängt wurde, so führte das Drama diese Gestalt wieder in dichtester, gedrängtester Form vor.“21
Das ist der Mythos-Begriff des Praktikers. Er erklärt die Sache aus dem Herstellungsprozess. Die Frage: Was ist der Mythos? beantwortet sich aus dem Verfahren, wie man ihn macht. So versteht Wagner den Mythos aus seiner eigenen künstlerischen Praxis heraus. Damit liefert er zugleich die Selbstvergewisserung seiner Praxis, insofern er den Dramatiker zum Vollender des Mythos erklärt. Dessen Geschäft ist die Potenzierung des mythischen Prinzips. Der Mythos ist Verdichtung der Wirklichkeit, das mythische Drama die Verdichtung dieser Verdichtung, ist also Mythos hoch zwei. Konkret vorgestellt: Der mythische Siegfried entstand, indem sich die
20 Wagner, Siegfried (1995), S. 12f. (1. Aufzug, 1. Szene). 21 Wagner, Oper und Drama (1994), S. 162f.
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vielen, in der Wirklichkeit hier und da begegnenden Eigenschaften männlichen Heldentums zu einer Figur konzentrierten; der Wagnersche Siegfried entsteht, indem sich diese Konzentration noch einmal in typischer Gestalt und Situation, in typischem Ausdruck verdichtet. Es ist wie ein doppelter Destillationsvorgang. Es geht um den reinsten Extrakt der Eigenschaften dieser Welt. Die Passagen aus Oper und Drama, die dieses Mythosverständnis entwickeln, sind von dieser Vorstellung ganz eingenommen. Immer wieder ist hier von „Verdichtung“, von „gedrängter, deutlicher plastischer Gestaltung“, von „plastischer Dichtheit“, von „vollster Gedrängtheit“, von „dichtgedrängter Beschaffenheit“ die Rede.22 Ideengeschichtlich ist Wagners Mythosbegriff als radikal naturalistisch zu kennzeichnen. Nach diesem Verständnis eröffnet der Mythos keine transzendenten Perspektiven. Er ist vielmehr der prägnanteste Ausdruck der irdisch-menschlichen Natur. Der mythische Gott erklärt sich dabei als Destillation der Vaterrolle. Man weiß, dass Wagner sich in solchen Fragen an Feuerbach orientiert hat. Die Ideengeschichte ist jedoch nicht die Dimension, mit der Wagners Beitrag zur modernen Mythosvorstellung relevant wird. Relevant wird er vielmehr durch seine praktische Dimension, durch seine Präsentation des Mythos als sinnliche Überwältigung. Die Verdichtung, auf die es Wagner ankommt, führt zu einer Intensivierung und Anreicherung der sinnlichen Erscheinung des Mythos. Und zwar in multimedial synästhetischer Inszenierung. Wagners mythisches Drama ist ja kein bloßer Text, sondern Musikdrama, das aufgeführt sein will. Es besteht aus Instrumentalmusik und Gesang, aus Bühnenbild, Kostümen, Requisiten, das Ganze in einer das Publikum über Tage einnehmenden Festspielsituation. Auch hier sind nicht die Idee des Gesamtkunstwerks und dessen religiöse und politische Dimensionen interessant. Wichtiger ist die besondere praktische Umsetzung, die Wagner anstrebt. Entsprechend seinem Verdichtungs-Konzept geht es ihm hier um die Zusammenführung aller verschiedenen sinnlichen Eindrücke zu einem konzentrierten – „gedrängtesten“, wie er sagt – Ganzen. Siegfrieds Kostüm („wilde Waldkleidung“), seine Requisiten („Horn an einer Kette“), sein Verhalten („mit jähem Ungestüm aus dem Wald herein“ mit einem „großen Bären“ am Band in „lustigem Übermute“) und sein Gesang („Hoiho! Hoiho!“): Das alles schießt zu einem einzigen, gleichgerichteten
22 Vgl. ebd., S. 162-4.
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Gesamteindruck zusammen. Es zielt auf sinnliche Überwältigung. In der Wagner-Diskussion macht dafür bis heute das Wort vom ‚Generalangriff auf alle Sinne‘ die Runde. Es kommt darauf an, meine ich, darin nicht einfach den großen Effekt und das Wirkungsbedürfnis Wagners zu sehen, sondern seinen durchschlagenden Beitrag zum modernen Mythosverständnis. Dass der Mythos die sinnliche und emotionale Überwältigung und Überbietung der Vernunft sei: Das ist Wagners neues Konzept. Es ist kein Rückgriff auf das ganz Alte, keine Wiederkehr des alten Mythos in die moderne bürgerliche Gesellschaft. Es ist ein modernes Konzept, das sich dem multimedialen Künstler des 19. Jahrhunderts verdankt. Wie entschieden Wagner seiner eigenen künstlerischen Gegenwart verpflichtet ist, zeigt sich darin, wie konsequent er in seinen Inszenierungen alle quellenkundlichen Rücksichten abweist. Historisierende Germanenkostüme etwa in der Art, wie sie Peter Corneliusʼ Illustrationen zu Volksausgaben des Nibelungenliedes oder Julius Schnorr von Carolsfelds Nibelungen-Fresken in der Münchner Residenz bieten, lehnt Wagner als „ethnographischen Unsinn“23 ab. Das sind für ihn bloße „Kuriositäten“24 und gerade nicht das ‚Reinmenschliche‘, auf das sein Mythosverständnis zielt. Schon die mittelalterliche epische Überlieferung des Nibelungenlieds fällt für ihn unter die Kategorie der Kuriosität. „So lange ich ihn nur aus dem mittelalterlichen Nibelungenliede kannte“, sagt Wagner über Siegfried, wäre ihm „nie eingefallen“, ihn „zum Helden eines Dramas zu machen“.25 Der mythische Siegfried in seinem Sinne war daraus erst zu extrahieren, wie es in Wagners Selbstbeschreibung heißt, zu konstruieren, wie wir genauer sagen müssten. Das Entscheidende dieser Konstruktion liegt allerdings darin, dass sie gerade nicht als Konstruktion gelten will, sondern als Freilegung urtümlichster Wahrheit. Den „reinen Mythos“26 nennt Wagner das, oder auch „Urmythos“.27 Mit Jacob Grimm hält er das Volk für dessen anonymen kollektiven Schöpfer. In einer paradoxen Überbietungsfigur aber sieht er seine eigene Rolle darin, dass er selbst als moderner Dichter diesen Mythos in ei-
23 So hält es Cosima Wagners Tagebuch am 13. Juli 1873 fest. Zitiert nach Bauer, Ferne und Nähe (1995), S. 90f. 24 Vgl. Wagner, Epilogischer Bericht (1907), S. 263. 25 Vgl. Wagner, Eine Mittheilung an meine Freunde (1907), S. 312. 26 Ebd., S. 314. 27 Wagner, Oper und Drama (1994), S. 170.
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ne Reinheit bringe, wie ihn die volkstümlichen Überlieferungen ihrerseits doch nicht erreichen. Das verträgt sich insofern mit der Grimmschen Volkspoesie-These, als auch die zwischen dem Ideal der reinen Volkspoesie und deren späteren, durch einzelne Bearbeiter geprägten Fassungen unterscheidet. Je älter, desto volkstümlicher, also besser, heißt entsprechend die Devise, die sich beispielhaft in der äußersten Hochschätzung des Hildebrandlieds zeigt. Wagner nimmt für sich in Anspruch, das Grimmsche Ideal zu realisieren. So stellt er das als ‚Ältestes Gedachte‘ und ‚Geschätzte‘ als aktuell ‚Eigenes‘ her. Deshalb auch der Stabreim, in dem die Grimms das großartigste Zeugnis der urtümlichen volkspoetischen Kraft sehen.28 Wagners Mythos ist ideologisch wie in seiner multimedialen Praxis ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Wie eng sich dabei Ideologie und Medienpraxis verbinden, lässt sich etwa an Wagners Motivation des Stabreims ablesen. Sie folgt sowohl der Grimmschen ideologischen Hochschätzung des volkspoetisch Ursprünglichen („der Stabreim“, heißt es in Oper und Drama, ist „die urälteste Eigenschaft aller dichtenden Sprache“)29 als auch ganz konkreten Überlegungen der Versvertonung. Wagner denkt hier an die Vorteile, die kurze Stabreimverse für die Atemphysiologie der Sänger haben, und an die Möglichkeit, durch die Koordination von Alliteration und Tonarten semantische Solidaritäten und Antithesen doppelt hörwirksam herauszustellen; nach dem Schema, semantisch solidarische Wörter („Liebe, Leben, Lust“) in derselben Tonart, semantisch antithetische Wörter („Lust und Leid“) dagegen mit Tonartwechsel zu singen.30 Was dieses Beispiel zeigt, beherrscht Wagners Mythoskonzept insgesamt: Es geht ihm um die konsequente Gleichrichtung möglichst vieler sinnlicher Eindrücke auf einen überwältigenden Gesamteindruck. Das Vorwort, mit dem Wagner noch vor der Komposition und vor allen Realisierungsaussichten seine Ring-Dichtung veröffentlicht hat, ist ein geradezu musterhaftes Strategiepapier für eine konzertierte Aktion. Es ist ein Aufruf zur Ausrichtung aller Kräfte „auf einen Styl und eine Aufgabe“,31 wobei nicht nur an die von allen Beteiligten (Dichter, Komponist,
28 Vgl. Grimm/Grimm, Vorrede und Kommentar (1812), S. 36. 29 Wagner, Oper und Drama (1994), S. 234. 30 Vgl. ebd., S. 235 und 305f. 31 Wagner, Vorwort zur Herausgabe der Dichtung des Bühnenfestspieles „Der Ring des Nibelungen“ (1907), S. 274.
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Theaterarchitekt, Kulissenmaler, Bühnenausstatter und -techniker, Sänger, Musiker etc.) gemeinsam hervorzubringenden Effekte gedacht wird, sondern auch daran, wie jede denkbare Ablenkung möglichst zu vermeiden sei. Deshalb soll das Orchester unter der Bühne versteckt spielen, damit das Publikum nicht optisch vom Bühnengeschehen oder akustisch durch Nebengeräusche der Instrumente abgelenkt werde. Deshalb soll das Ganze fernab der Städte und des Alltagslebens stattfinden, damit sich der ganze Lebensvollzug auf das Kunstgeschehen konzentriere.32 Nichts veranschaulicht dieses Wagnersche Strategiedenken besser als folgende anekdotische Mitteilung: Er habe, erzählt Wagner, als ihm die Realisierung seines Vorhabens in Deutschland noch ganz unmöglich erschien, einmal ernsthaft über das ihn überraschende Angebot nachgedacht, in Brasilien aus dem Nichts eine Oper aufzubauen. Wie sollte das angesichts der zu erwartenden geringeren Qualität der dortigen Sänger möglich sein? Wagners Antwort: „durch ein sehr eingehendes spezifisch-konkretes, stets nur das Pathos des Vortrages bloßlegendes Einstudieren dieser einen besonderen Partie.“ Durch solch ein Training erübrige sich jedes „abstrakte Universal-Studium der Musik“.33 Das ist wohl die prägnanteste Auskunft, wie Wagner die moderne Auffassung auch des Mythos neu ausrichtet: weg von allem Universal-Studium, hin zum strategischen Effekt. Dessen Ziel ist die sinnliche Überwältigung. In Wagners Worten: „Dinge, die Ihr mit Eurem Verstande nie begreifen könnt, sind in ihm [dem Mythos], mit einzig so zu ermöglichender, für das Gefühl deutlich greifbarer, sinnlich vollendeter Gewißheit dargethan.“34 Es ist diese Strategie der sinnlichen Überwältigung, mit der Wagners künstlerische Praxis die Auffassung vom Mythos und vom Mythischen durchgreifend verändert, man kann auch sagen: revolutioniert. Der größte Multiplikator Wagners ist in diesem Zusammenhang Nietzsche. Er findet dafür die markige Formel, dass Wagner den in der Kulturgeschichte verweichlichten Mythos „in’s Männliche zurückgeschaffen“ habe. Die vorausliegende Verweichlichung stellt Nietzsche dabei polemisch so dar: „der Mythos war tief erniedrigt und entstellt, zum ‚Märchen‘, zum spielerisch beglückenden Besitz der Kinder und Frauen des verkümmerten Volkes um-
32 Vgl. ebd., S. 275f. 33 Wagner, Epilogischer Bericht (1907), S. 269. 34 Wagner, Eine Mittheilung an meine Freunde (1907), S. 290.
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geartet, seiner wundervollen, ernst-heiligen Mannes-Natur gänzlich entkleidet.“35 Nietzsche bleibt dieser Auffassung vom Mythos treu, auch in seiner Abkehr von Wagner. Denn es ist ja nicht die Vorstellung von der „ernst-heiligen Mannes-Natur“ des Mythos, von der Nietzsche Abschied nähme. Er erhebt vielmehr den Vorwurf, dass Wagner selbst dieser Vorstellung nicht entspreche, sondern seinerseits dem zugehöre, was Nietzsche polemisch als vorausliegende Verweichlichung beschrieben hat. Auch wenn er damit Wagner im Nachhinein abspricht, was er doch selbst von ihm erworben hat: Es ist und bleibt Wagner, der dem Mythosverständnis die Wendung ins Pathetische gibt, indem er das Mythische als eine auf eine Botschaft konzentrierte sinnlich-überwältigende Präsenz fasst. In dieser pathetischen Richtung ist nach Nietzsche als ebenso großer Multiplikator Oswald Spengler zu sehen. Ganz im Sinne des wagnerisch inspirierten Nietzsche kontrastiert Spengler dieses Mythosverständnis gegen die kulturelle Verweichlichung. Die zahlreichen Leser vom Untergang des Abendlandes konnten dort den Hinweis finden: „Wir wissen heute gar nicht mehr, was ein Mythos ist, nämlich nicht ein ästhetisch bequemes Sichvorstellen, sondern ein Stück leibhaftigster Wirklichkeit, das ganze Wesen durchwühlend und das Dasein bis ins Innerste erschütternd.“36 Ähnlich wie Nietzsche sieht auch Spengler Wagners Werk dabei im Zwielicht. Nur vereint er als ambivalentes Urteil, was sich bei Nietzsche in Zustimmung und Ablehnung zeitlich verteilt. So spricht Spengler einerseits affirmativ von der „bewußten Wucht, Größe und Erhabenheit“ Wagners, wirft ihm andererseits aber einen „Mangel an innerer Kraft“ vor. Zusammen ergibt das die Formel von der „rücksichtslosen Massenwirkung auf die Nerven“37 oder, im letztlich negativen Resümee, Spenglers Rede von der „Lebenslüge […] Bayreuth, das etwas sein wollte“, ohne etwas zu sein.38 Nietzsche und Spengler belegen, wie man Wagners Programmatik gegen sein eigenes Werk kehren kann. Ästhetische Gebilde sind häufig komplexer und in sich viel weniger eindeutig, als es die Selbsterklärung ihrer Schöpfer will. Das gilt auch für Wagners Musikdrama. Was für diese Wagnersche Gattung indes ganz exklusiv gilt, ist, dass ihr Schöpfer sie mit ei-
35 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen (1980), S. 477. 36 Spengler, Der Untergang des Abendlandes (1980), S. 914. 37 Ebd., S. 374. 38 Vgl. ebd., S. 466f.
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nem wirkungsgeschichtlich durchschlagenden Mythoskonzept verbunden hat. Es hat in Nietzsche und Spengler Anhänger von solch programmatischer Entschlossenheit gefunden, dass ihnen Wagners eigene Ausführung als zu schwach erschien. Und noch in einer zweiten Hinsicht zeigt sich diese durchschlagende Wirkung: darin, dass alternative Mythoskonzepte und verwendungen polemisch in Verruf geraten. Was der „ernst-heiligen Mannes Natur“ oder der ‚Daseinserschütterung’ nicht entspricht, gilt als Verrat am Mythos, als dessen tiefste Erniedrigung und Entstellung, wie Nietzsche, oder als ästhetische Bequemlichkeit, wie Spengler sagt.
3. E INSEITIGE S TABILISIERUNG : S IEGFRIED EROBERT F AUST Es ist also nicht nur Wagner, es sind auch Nietzsche und Spengler, die dieses pathetische Mythosverständnis durchsetzen. Wagners metamythische Selbstmarkierung hat durch sie emphatischen Zuspruch und vielgelesene Verbreitung gefunden. Spengler überträgt dieses Konzept explizit auf die Faust-Figur. Wenn er von der „faustischen Mythologie“39 spricht, verbindet er damit die eindeutige, sinnlich überwältigende Gewissheit von der „unbändigen faustischen Überwinder- und Entdeckersehnsucht“.40 Das lässt vor allem an Goethes ersten Tragödienteil denken. Spengler sieht in dessen Titelfigur eine der kulturhistorisch letzten Verkörperungen des „faustischen Menschen“,41 den er als germanisch-nordischen Grundtypus bis in die „Eddazeit“,42 d.h. die germanischen Helden- und Göttersagen zurückreichen sieht. Die von Goethes Sturm-und-Drang-Figur abgeleitete Anschauung und Idee des Faustischen ist überhaupt die Zentralgestalt seiner von ihm selbst so genannten morphologischen Kulturgeschichte, und in der Entwicklung vom ersten zum zweiten Tragödienteil will er prophetisch ihren bevorstehenden Untergang ablesen.43 Auch er teilt also die allgemeine Vorliebe für den Sturm-und-Drang-Faust. Unabhängig davon aber, wie er im
39 Ebd., S. 514. 40 Ebd., S. 413. 41 Ebd., S. 18. 42 Ebd., S. 239. 43 Vgl. ebd., S. 149.
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Einzelnen mit der Verlegenheit gegenüber Goethes Alterswerk umgeht, besteht Spenglers grundsätzlicher Beitrag zur Faust-Interpretation doch darin, dass er diese Figur nach dem pathetischen Mythoskonzept Wagners deutet. Fragt man dagegen nach der eigenen metamythischen Markierung von Goethes Faust, kommt man weit ab von der Wagnerschen Überwältigungsästhetik. Der zweite Tragödienteil liegt Wagners Ring kaum zwei Jahrzehnte voraus und doch stellt er, was die Verwendung und Auffassung des Mythos betrifft, den pointierten Gegensatz dar: statt konzentrierter Gleichrichtung die heterogene Vervielfältigung und Diversifizierung des künstlerischsinnlichen Ausdrucks. Die Art, wie Goethe sein mythisches Drama verfasst, bietet, vor allem in der Fortentwicklung vom ersten zum zweiten Teil, das genaue Gegenteil zur Wagnerschen Verdichtung. Ausweitung und Pluralisierung sind Goethes Maxime. Sie zeigen sich in der Rollenvielfalt der Hauptfigur. Im ersten Akt ist Faust der Zauberer am Kaiserlichen Hof, im zweiten Akt der antike Hadeswanderer, im dritten Akt erst der mittelalterliche Ritter und dann der bürgerlich empfindsame Ehemann und Vater, im vierten Akt wieder der Zauberer in Kaisers Diensten, im fünften Akt schließlich der Lehnsherr von Kaisers Gnaden, der allerdings als moderner Unternehmer erscheint, bis er am Ende in barocker Anschauung als erlöste Seele gen Himmel fährt. Und das sind nur die groben Orientierungen. Im Einzelnen ist die Faust-Figur noch variantenreicher. Sie verliert dadurch nicht nur aufs ganze Drama gesehen ihre personale Einheit, sie erscheint vielmehr schon in einzelnen Szenen in disparater Aspektvielfalt. Die erste Szene des zweiten Teils zeigt Faust als Schützling einer shakespearschen Elfenwelt, die ihn durch Schlaf und Vergessen von seinen bisherigen Erlebnissen erlösen soll. Was der in dieser Welt erwachte Faust aber dann sagt, hat mit dieser Elfenwelt und mit dem Schicksal des zuvor Eingeschlafenen nichts zu tun, sondern steht außerhalb von allem Handlungszusammenhang als philosophisches Lehrgedicht da. Lediglich über das Motiv des Sonnenaufgangs ist es mit der Szene, in der es gesprochen wird, verbunden. Sein Versmaß erinnert an Dante als den großen poeta doctus, sein Inhalt exemplifiziert die antiplatonischen Überzeugungen des Naturforschers Goethe. Wer eine solche Szene komponiert, hat es nicht auf einen stimmigen Gesamteindruck abgesehen. Er nutzt seine Dramenfigur vielmehr als Medium für vielfältige Themen und Bezüge. Nichts liegt dieser Ästhetik ferner als die Absicht, sinnlich überwältigende Gewissheit zu stiften. Kein Generalangriff auf alle Sinne also, wiewohl der mediale Aufwand nicht ge-
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ringer ist als der des Wagnerschen Musikdramas. Faust ist ebenso ein Werk für die Bühne. Auch wenn sein Schöpfer vorrangig am Text gearbeitet hat, so hat dieses Werk als Theaterstück natürlich eine multimediale Ästhetik. Zu ihr gehört auch Musik, nicht nur in den Liedern, die gesungen werden, sondern etwa auch in der Euphorion-Szene am Ende des dritten Aktes, die laut Szenenanweisung „durchaus mit vollstimmiger Musik“44 zu geben ist. Fertiggestellt, wissen wir, hat Goethe nur das Manuskript. Alles weitere bleibt Späteren überlassen. Die multimediale Präsenz aber ist die Absicht des Autors. So wie Goethe sie verfolgt, zeigt sie eine einfache, doch grundlegende Differenz gegenüber dem Wagnerschen Musikdrama: Setzt dieses auf wechselseitige Verstärkung, so setzt Goethe immer wieder auf die ironische Relativierung der verschiedenen Ausdrucksmittel. Schon die erwähnte Eingangsszene des zweiten Teils belegt das, indem sie das Bekenntnis zur Wahrnehmungswelt des Naturforschers in eine elfenbevölkerte Märchenwelt bettet. Im Auftritt von Paris und Helena wird die erhabene antike Schönheit durch die eifersüchtigen, missgünstigen Kommentare der modernen Geschlechtsgenossen und -genossinnen unterlaufen. Grundsätzlich trägt auch die Kombination der verschiedenen Mythen, des christlich-satanischen und des heidnisch-antiken, zur Ironisierung bei, dort etwa, wo der christliche Teufel in der Klassischen Walpurgisnacht vor den antiken Hexen wie ein überforderter, desorientierter Freier dasteht. Die Art, wie der Prolog im Himmel den metaphysischen Rahmen des Stücks, den christlichen Stufenkosmos von Himmel, Welt und Hölle öffnet, markiert gleich zu Beginn die charakteristische Ästhetik dieses Dramas. Die Tradition des christlichen ‚Welttheaters‘ wird hier nicht renoviert, sondern aus künstlerischer Distanz zitiert und verwendet. Denn die Stufung „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“45 entfernt sich, so wie sie im Faust zur Sprache kommt, vom religiösen Ernst, den sie vom mittelalterlichen Mysterienspiel bis zum spanischen Barocktheater hat. Im Munde des Theaterdirektors erscheint sie vielmehr als eine technische Konvention des Schauspielgewerbes. Anstatt selbst der sinnstiftende Rahmen zu sein, wird sie ihrerseits in das „enge Bretterhaus“,46 d.h. in ein materielles Bewusst-
44 Goethe, Faust (1994), S. 375 (vor Vers 9679). 45 Goethe, Faust (1994), Vers 242. 46 Ebd., Vers 239.
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sein vom Illusionsapparat eingepasst. Bevor sich also der Himmel in Goethes Stück öffnet, wird er als Theatereffekt gekennzeichnet. Dieser künstlerischen Distanz entspricht die Unbekümmertheit, mit der Goethes Mephistopheles gegenüber allen dogmatisch-systematischen Ansprüchen an die Teufelsfigur dargestellt ist. Von der eigenen Hierarchie der Hölle ist im Stück gelegentlich die Rede: „Ich bin keiner von den Großen“,47 sagt Mephisto. Doch wie es sich damit genauer verhalten soll, lässt der Text ebenso sorglos im Unklaren, wie er in einer Reihe von anderen Stellen in Mephistopheles unteilbar den Teufel schlechthin vorführt. Auch mit den Teufelsnamen ist er großzügig. In der literarischen Stoffgeschichte des Faust benennen Satan und Mephistopheles verschiedene Rangplätze. In Goethes Text dagegen wird auch Mephisto Satan genannt.48 Zwar weist er diesen Namen zurück, doch nicht, weil damit die Hierarchie verletzt wäre, sondern weil er ihn für unzeitgemäß hält. Goethes Mephistopheles ist eine Kunstfigur, die die bewusste Reflexion traditioneller Teufelsvorstellungen und des Teufelsglaubens ausdrücklich in sich aufnimmt. Auch mit den volkstümlich zugehörigen Attributen (Pferdefuß, Hörner, Schweif und Klauen) werden Scherze geboten, die kulturgeschichtlichen Wandel in die Perspektive modischer Eitelkeit rücken: „Auch die Kultur, die alle Welt beleckt, Hat auf den Teufel sich erstreckt; Das nordische Phantom ist nun nicht mehr zu schauen; Wo siehst Du Hörner, Schweif und Klauen? Und was den Fuß betrifft, den ich nicht missen kann, Der würde mir bei Leuten schaden; Drum bedienʼ ich mich, wie manch junger Mann, Seit vielen Jahren falscher Waden.“49
Bei solchen Scherzen mit der zeitgenössischen Mode (‚Falsche Waden‘ waren in der Zeit der höfischen Kniehosen, der culottes, vor allem bei spindelbeinigen Männern ein beliebtes Verschönerungsmittel) fehlt allerdings auch nicht die ernste Perspektive auf die psychische und soziale Realität dessen,
47 Ebd., Vers 239. 48 Ebd., Vers 2504. 49 Ebd., Verse 2495-502.
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was die Teufelsfigur verkörpert: „Er ist schon langʼ in’s Fabelbuch geschrieben; / Allein die Menschen sind nicht besser dran, / Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“50 Die metamythologische Ironie, mit der die Teufelsfigur Mephisto so in der Szene Hexenküche ihre kulturgeschichtliche Varianz reflektiert, bekommt in der Tragödie zweitem Teil breiten Raum. Die Klassische Walpurgisnacht im zweiten und insgesamt der dritte Akt, der die Helena-Figur von der antiken Königin zunächst in eine mittelalterlich minnesänglich verehrte Frau und dann zur bürgerlichen Gattin und Mutter verwandelt: Die mythopoetische Ästhetik dieses Dramas zielt ganz im Gegensatz zu Wagner nicht auf die sinnliche Verdichtung, sondern auf die Vervielfältigung und kontrastive Variationen. Sie führen immer wieder zu kultur- und epochenkombinatorischen Grotesken (Helena als empfindsame Gattin und Mutter in der Euphorion-Szene) und Anachronismen (etwa der Kentaur Chiron, der, von Faust nach Helenas Alter befragt, mit den diesbezüglichen Rechenkünsten der goethezeitlichen Altphilologen witzelt).51 Was man als Faust-Zuschauer im Theater sieht und hört, fügt sich nicht zu einem gleichgerichteten, stimmigen Gesamteindruck, sondern unterhält und provoziert als Spannungsgefüge. Der krasseste Beleg für dessen intermediale Ironie ist schließlich Fausts Schlussmonolog, dessen freiheitsverheißende Welterschließungs- und -bevölkerungsvision szenisch als Grablegung ausgewiesen wird. Was das Publikum von Faust hört, wird durch das verspottet, was es zur gleichen Zeit auf der Bühne sieht. Dass man diesen Monolog, wie Walter Ulbricht es in einer resonanzstarken Staatsrede der DDR getan hat, ganz unironisch als positive Verheißung eines Arbeiterstaats hat lesen können, liegt daran, dass man Goethes Faust, besonders dessen zweiten Teil, zumeist liest und nicht auf dem Theater sieht. Wer diesen Monolog nicht als Lektüre, sondern als Theaterszene wahrnimmt, käme wohl nie – oder nur als Zyniker – auf die Interpretationsidee, dass sich hier die Zukunft eines freien Arbeiterstaats darstellt. Macht man sich das Mythoskonzept und die ironische metamythische Selbstmarkierung von Goethes Faust bewusst, wird zweierlei deutlich: erstens, wie unpassend das Wagnersche Mythosverständnis ihm gegenüber ist,
50 Ebd., Verse 2507-9. 51 „FAUST Erst sieben Jahr!... CHIRON Ich seh’, die Philologen / Sie haben dich so wie sich selbst betrogen.“ (Verse 7426f.)
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und zweitens, wie es gerade deshalb dazu beitragen konnte, das FaustDrama auf die Idee des Faustischen zu bringen. Die an Wagner geschulte Erwartung sucht und erfindet mit dieser Idee einen dramatisch dichten „Urmythos“ dort, wo der Autor Goethe etwas strukturell vollkommen anderes anbietet. Angesichts der vielen, oft ironischen Variationen ist es überhaupt unangemessen, im Zusammenhang mit Goethes Faust das Wort Mythos im Singular zu verwenden. In diesem Drama werden verschiedene Mythen verarbeitet und spielerisch kombiniert, ohne dass sie zu einem neuen Mythos zusammenschössen. Grundsätzlich hat der Autor des zweiten Faust, was die Auffassung des Mythos betrifft, mehr mit Hederichs altem Lexikon zu tun als mit der Idee einer Neuen Mythologie. Das Wort muss dabei im Plural stehen: Es geht um Mythen als Anschauungsformen, nicht um den Mythos als Programm. Wer vom Faust-Mythos im Singular spricht, ist im Blick auf Goethe nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell auf der falschen Fährte. Was die Faust-Tragödie jedoch ihrerseits (auf ganz andere Weise als Wagner) mit den Frühromantikern verbindet, ist die ästhetische Struktur. Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie bestimmt den Mythos formal als „künstlich geordnete Verwirrung“, als „reizende Symmetrie von Widersprüchen“, als „Wechsel von Enthusiasmus und Ironie“.52 Das passt recht genau zum goetheschen Faust; aber gar nicht zum Interpretationsgedanken des Faustischen. Dass der sich dennoch hat durchsetzen können, hat mit der eingangs genannten Bedarfslage zu tun.
4. F AZIT Die durch Wagner aktualisierte Siegfried-Figur wirkt als Parallelfall auf die Faust-Interpretation: und zwar nicht so sehr inhaltlich, sondern formal durch ihre metamythische Selbstmarkierung, wie sie in Wagners Selbsterklärungen und in seiner Ästhetik des Musikdramas vorliegt. Sie gibt der Auffassung vom Mythos eine entscheidende neue Wendung, indem sie ihre künstlerisch-praktische Strategie der sinnlichen Verdichtung und Überwältigung zur Eigenschaft des Mythischen selbst erklärt. Die neue Praxis des multimedialen Künstlers schlägt als vermeintlich urtümliche Idee des My-
52 Vgl. Schlegel, Gespräch über die Poesie (1967); die Rede über die Mythologie dort S. 311-22, die Zitate S. 318f.
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thos durch und überlagert als Erwartungs- und Deutungsschema auch die Wahrnehmung des mythenästhetisch ganz anders beschaffenen FaustDramas. Dessen Vieldeutigkeit, Ironie und Negativität, mit denen der zweite Tragödienteil so gar nicht zum Propagandaformat des Nationalgedichts passt, waren auf diese Weise zu überblenden. Gustav von Loepers Rede von Faust als germanisch-deutscher Sagenfigur, Oswald Spenglers Rede vom faustischen Grundtypus, der in der Eddazeit wurzele, belegen konkret, wie die affirmativ monumentalisierende Goethe-Interpretation an Wagner geschult ist. Denn nur er, und nicht der Weimarer Autor, verbindet den mythischen Helden mit der Erwartung, dass er eine kompakte, erhabene Botschaft tragen müsse. Der Mythos eines ‚deutschen Wesens‘, der im nationalen Identitätsdiskurs mit der Siegfried- und der Faust-Figur beschworen wurde, ist damit strukturell das Konzept des multimedial avantgardistischen Musikdramatikers. Der von Wagner erneuerte Siegfried-Mythos liefert das Modell, nach dem Faust zum mythischen Deutschen werden konnte. Die „wechselseitige Stabilisierung“53 moderner Mythen erscheint hier als Grenzfall der Einseitigkeit. Wagner, nicht Goethe begründet den Mythos vom faustischen Deutschen.
L ITERATUR Barthes, Roland: Mythologies. Paris 1957. Bauer, Oswald Georg: Ferne und Nähe. Inszenierungsprobleme des Mythos. In: Bermbach, Udo/Borchmeyer, Dieter (Hg.): Richard Wagner – „Der Ring des Nibelungen“. Ansichten eines Mythos. Stuttgart/Weimar 1995, S. 87-97. Brackert, Helmut: „Wir haben keine Mythologie“. Die nationalen Nibelungen-Leitbilder des 19. und 20. Jahrhunderts und Richard Wagners „Ring“-Tetralogie. In: Schleussner, Hans/Rudolph, Dieter (Hg.): Rund um den Ring. Ein Frankfurter Vortragszyklus zu Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“. Frankfurt a.M. 1995, S. 17-25. Brockerhoff, Ferdinand (1853): Die Literatur der Faustsage bis Ende des Jahres 1850, systematisch zusammengestellt von Franz Peter. In: Ar-
53 Vgl. Wodianka, Moderne (2013), S. 334 und 337.
W AGNERS B EITRAG
ZUM
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chiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 12 (1853), S. 473-5. Goethe’s Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen revidierte Ausgabe. Zwölfter Theil: Faust. Theil 1. Hg. von Gustav von Loeper. Berlin 1870. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Texte [1790/1832]. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a.M. 1994 (= Birus, Hendrik/Apel, Friedmar (Hg.): Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 7/1. Frankfurt a.M. 1994). Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Vorrede und Kommentar. In: Dies. (Hg.): Die beiden ältesten deutschen Gedichte aus dem achten Jahrhundert: Das Lied von Hildebrand und Hadubrand und das Weißenbrunner Gebet zum erstenmal in ihrem Metrum dargestellt und hg. durch die Brüder Grimm. Cassel 1812. Jamme, Christoph/Schneider, Helmut (Hg.): Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“. Frankfurt a.M. 1984. Matuschek, Stefan: Perspektivische Amerikanisierung. Thomas Mann, Peter Viereck und die deutsche Romantik. In: Ewen, Jens u.a. (Hg.): Im Schatten des Lindenbaums. Thomas Mann und die Romantik. Würzburg 2015, S. 63-81. Matuschek, Stefan: Sigurd/Siegfried. In: Jamme, Christoph/Ders.: Handbuch der Mythologie. Darmstadt 2014, S. 199-204. Matuschek, Stefan: Faust. In: Wodianka, Stephanie/Ebert, Juliane (Hg.): Metzler Lexikon moderner Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse. Stuttgart 2014, S. 123-8. Merseburger, Peter: Mythos Weimar: zwischen Geist und Macht. Stuttgart 1999. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 2009. Münkler, Herfried: Der Pakt mit dem Teufel. Doktor Johann Georg Faust. In: Ders. (Hg.): Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 2009, S. 10939. Münkler, Herfried: Richard Wagner. In: François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte III. München 2001, S. 549-66. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth [1876]. In: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino
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(Hg.): Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 1. München 1980, S. 429-510. Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie [1800]. In: Eichner, Hans (Hg.): Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 2. Bd.: Charakteristiken und Kritiken I. München/Paderborn/Wien/Zürich 1967, S. 284-351. Schwerte, Hans: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1962 Sides, Hampton (2012): Mythos ‚Titanic‘. In: National Geographic Deutschland 4 (2012), S. 46-85. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 1980. Viereck, Peter: Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler. 3. Aufl. New Brunswick/London 2007. Wagner, Richard: Epilogischer Bericht über die Umstände und Schicksale, welche die Aufführung des Bühnenfestspieles „Der Ring des Nibelungen“ bis zur Veröffentlichung der Dichtung desselben begleiteten [1871]. In: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 6. Bd. 4. Aufl. Leipzig 1907, S. 257-72. Wagner, Richard: Vorwort zur Herausgabe der Dichtung des Bühnenfestspieles „Der Ring des Nibelungen“ [1852]. In: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 6. Bd. 4. Aufl. Leipzig 1907, S. 272-81. Wagner, Richard: Eine Mittheilung an meine Freunde [1851]. In: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 4. Bd. 4. Aufl. Leipzig 1907, S. 230-344. Wagner, Richard: Oper und Drama [1851]. Hg. von Klaus Kropfinger. 2. Aufl. Stuttgart 1994. Wagner, Richard: Siegfried. Zweiter Tag aus dem Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“. Vollständiges Buch, Wortlaut der Partitur [1852]. Hg. von Wilhelm Zentner. Stuttgart 1995. Wodianka, Stephanie: Moderne Mythen – Organisationsformen eines inflationären Phänomens. In: Krüger, Brigitte/Stillmark, Hans-Christian (Hg.): Mythos und Kulturtransfer. Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien. Bielefeld 2013, S. 325-44.
Napoleon in den Alpen: Der moderne Halbgott tritt in Erscheinung P ATRICK S TOFFEL
Sonntag, 18. Mai 1800, Martigny-Ville, am Nordfuß des Großen SanktBernhard. Napoleon erhält gegen Mittag die Nachricht, dass die Vorhut den Pass überschritten und den am Südfuß gelegenen Ort Aosta eingenommen hat. Unmittelbar darauf diktiert er seinem Privatsekretär Bourrienne einen Brief an seine beiden Mitkonsuln: „Nous luttons contre la glace, la neige, les tourmentes et les avalanches. Le SaintBernard, étonné de voir tant de monde le franchir si brusquement nous oppose quelques obstacles. Dans trois jours toute l’armée aura passé.“1
Um das politisch-symbolische Potential einer Alpenüberquerung wissend, leitet Napoleon die künftigen Repräsentationsmechanismen in die Wege, noch bevor er selbst den Großen Sankt-Bernhard begeht. Seine Alpenüberquerung möchte er als erfolgreichen Kampf gegen die elementare Gewalt des Berges repräsentiert sehen. Damit initiiert Napoleon die „mythische Rede“ – verstanden als eine bestimmte Form der Äußerung, des Bedeutens, der Repräsentation mit dem Ziel, Geschichte in Natur zu verwandeln, wie Roland Barthes sie in Mythen des Alltags entwarf2 – um seine eigene Per-
1
Tulard/Garros, Itinéraire de Napoleon au jour le jour 1769-1821 (2002), S. 190.
2
Vgl. das Kapitel „Der Mythos heute“ in: Barthes, Mythen des Alltags (2013), S. 249-316.
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son, die dazu führt, dass die historische Gestalt Napoleon unauflösbar mit der mythischen Gestalt Napoleon verschmilzt – bis auf den heutigen Tag.3 Ziel dieses Beitrages ist es, die anlässlich der Alpenüberquerung Napoleons auf den Weg gebrachte mythische Rede, die zur Naturalisierung und Entpolitisierung des historischen Ereignisses des Überschreitens des Großen Sankt-Bernhard führte und aus Kalkül Genie, aus politischen Ambitionen göttlichen Ratschluss machte, zu entziffern. Der Beitrag sucht überdies eine Antwort auf die Frage, warum gerade Napoleon zu einem (Vor-)Bild für künstlerisches Schaffen avancierte, was dazu führte, dass der NapoleonMythos in der Moderne immer weitererzählt und zu einem elementaren Bestandteil der mythischen Erzählung von der Moderne selbst wurde. Jacques-Louis David hat auf Wunsch Napoleons das Ereignis des Überschreitens des Großen Sankt-Bernhard in den Jahren 1800-1803 in einem in fünf Versionen gemalten Bild festgehalten und damit die von Napoleon angestoßene mythische Rede nicht nur mit den der bildenden Kunst eigenen visuellen Strategien und Repräsentationslogiken fortgeführt, sondern insbesondere auch multipliziert und in der Öffentlichkeit implementiert. Abbildung 1: Jacques-Louis David, Bonaparte franchissant le Grand-Saint-Bernard, 1800, Öl auf Leinwand, 259x221cm
Quelle: Château de Malmaison, Musée national des châteaux de Malmaison & Bois-Préau. 3
Vgl. Petiteau, Napoleon, de la mythologie à l’histoire (2004), S. 7.
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Das Bild – es handelt sich hierbei um die erste Version, die heute im Château de Malmaison hängt – zeigt im Vordergrund Napoleon, wie er sicher auf dem Rücken eines wild sich aufbäumenden Schimmels sitzt.4 Während das aufgebäumte Pferd im Profil abgebildet ist, dreht sich der Reiter in einer ruhigen en-face-Wendung zum Betrachter – eine Komposition, die sich Davids Gemälde mit Berninis Reiterstatue von Louis XIV. am Pièce d’eau des Suisses in Versailles teilt.5 Sein ruhiger und fester Blick, der auffallend stark mit dem weit aufgerissenen Auge des panischen Pferdes kontrastiert, fällt auffordernd auf den Betrachter. Mit seiner entblößten Rechten weist er in die Marschrichtung der hinter ihm, im Bildmittelgrund, auf einem schmalen, steil abfallenden Gebirgspfad der Passhöhe entgegenstrebenden Armee. Er trägt eine zeitgenössische Uniform. Ein starker Wind lässt seine Haare und seinen Umhang, Mähne und Schweif seines Pferdes sowie die am rechten Bildrand im Bildmittelgrund sichtbare Trikolore in Marschrichtung wehen. Inmitten der am linken Bildrand und im Bildhintergrund unter einem wolkenverhangenen, stürmischen Himmel sich abzeichnenden schroffen und kahlen Hochgebirgslandschaft ist Napoleon, und mit ihm die Armee, von einer auf die Passhöhe gerichteten Bewegung erfasst, die der im Bild sich manifestierende Wind anzeigt. Zu Napoleons Füßen sind in Großbuchstaben die Namen „BONAPARTE“, „ANNIBAL“ und „KAROLUS MAGNUS IMP“ in den Fels geritzt. Ein „chronologische[s] Crescendo“6 berühmter Alpenbezwinger – Napoleons Name findet sich mit denen von Hannibal und Karl dem Großen
4
„[C]alme sur un cheval fougueux“ verlangte Napoleon von Jacques-Louis David gemalt zu werden (zitiert nach Telesko, Napoleon Bonaparte (1998), S. 74). Dabei hatte er offensichtlich das von Etienne-Maurice Falconet geschaffene, 1782 in St. Petersburg eingeweihte bronzene Reiterstandbild Peters des Großen vor Augen, über das Diderot in einem Brief vom 6. Dezember 1773 an seinen Freund Falconet anlässlich eines Atelierbesuchs in St. Petersburg, während dessen er einen Blick auf die im Entstehen begriffene Skulptur werfen konnte, schrieb: „Le héros est bien assis. Le héros et le cheval font ensemble un beau centaure, dont la partie humaine et pensante contraste merveilleusement par sa tranquillité avec la partie animale et fougueuse.“ (Diderot, Œuvres complètes, Bd. 4 (1818), S. 748).
5
Vgl. Traeger, Kaiserliche Inkarnationen (1990), S. 145.
6
Ebd.
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am Großen Sankt-Bernhard in den Fels gemeißelt – verstärkt das kontrastreiche Wechselspiel von Historisierung und Aktualisierung, indem es eine Ahnenreihe herstellt, worin Napoleon als letztes Glied und in zeitgenössischer Uniform zum legitimen Nachfolger seiner beiden Vorgänger am Großen Sankt-Bernhard wird.7 Dabei eröffnet insbesondere der Verweis auf Hannibal der mythischen Rede eine zusätzliche Tiefendimension und verknüpft bereits hier moderne mit antiker Mythologie. Als Napoleon am frühen Abend des 20. Mai 1800, zwei Tage nach Erhalt der Nachricht, seine Vorhut habe den Großen Sankt-Bernhard erfolgreich überschritten, in persona das auf der Passhöhe gelegene Hospiz der Augustiner-Chorherren erreicht, macht er sich in deren Bibliothek auf die Suche nach der Passage aus Ab urbe condita, in der der römische Geschichtsschreiber Livius (64/59 v. Chr. - 12/17 n. Chr.) von Hannibals Alpenüberquerung im Jahre 218. v. Chr. berichtet.8 Hat Napoleon bereits am Fuß des Großen Sankt-Bernhards begonnen, seine Überquerung in mythische Rede zu kleiden, so wirft er auf der Passhöhe einen Blick in jene Geschichte, die der Alpenüberquerung im kulturellen Imaginaire ihre anhaltend mythische Dimension und Form verlieh, und in die sich auch Napoleon einschreiben wird. Livius hatte die Alpen anlässlich Hannibals Alpenüberquerung im Zweiten Punischen Krieg aus politischen Beweggründen als lebensfeindlichen (Nicht-)Ort der topographischen und klimatischen Extrembedingungen beschrieben und damit den Topos der foeditas Alpium geprägt, in dem ‚historische Fakten‘ von fiktionalen Erzählungen, von Mythen, Fabeln und Gerüchten nicht zu unterscheiden sind. Metaphorisch mit der römischen Stadtmauer verschränkt bilden Livius’ Alpen eine natürliche, zweite Stadtmauer und fungieren damit als politische Grenze, die Partei ergreift für den politischen Körper, deren Peripherie sie ist: das Römische Reich. Hannibals Heer hat es in den Alpen nicht primär mit den dort ansässigen Bergstämmen zu tun, sondern mit den elementaren Gewalten der Bergwelt. Die eisige Kälte, worin alles Leben nur kümmerlich dahinvegetiert, hat die überlebenden Soldaten in den nur 14 Tagen, die sie in den Alpen verbracht haben,
7
Vgl. ebd.
8
Vgl. Tulard/Garros, Itinéraire de Napoleon au jour le jour 1769-1821 (2002), S. 191.
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beinahe ihrer Menschlichkeit beraubt: verwahrlost und fast verwildert kommen sie in der Po-Ebene an.9 Als sich am Ticinus das karthagische und das römische Heer zur ersten Schlacht auf italienischem Boden aufstellen, sind sich sowohl Hannibal als auch Publius Cornelius Scipio bewusst, dass die entscheidende Schlacht bereits in den Alpen geschlagen wurde. Scipio erinnert seine Soldaten vor der Schlacht daran, dass sie nurmehr gegen die „letzten Überreste“ des bereits von den Alpen vernichtend geschlagenen karthagischen Heeres kämpfen: „Es [Hannibals Soldaten] sind nur noch Gespenster, menschliche Schatten, von Hunger, Kälte, Schmutz und Unrat zu Tode erschöpft, zerschunden und zerschlagen von Stein und Felsen; zudem sind ihre Finger und Zehen erfroren, ihre Muskeln durch den Schnee steif geworden, ihre Glieder durch den Frost erstarrt, ihre Waffen verbeult und zerbrochen, ihre Pferde lahm und schwach. Gegen eine solche Reiterei, gegen solche Fußsoldaten habt ihr anzutreten; die letzten Überreste eines Feindes, nicht einen Feind habt ihr vor euch und so fürchte ich nichts so sehr wie dies: dass es nach der Schlacht so aussehen könnte, dass (nicht ihr, sondern) die Alpen Hannibal besiegt hätten.“10
Wenn es, wie es die Geschichte lehrt, Hannibal dennoch gelungen ist, erst die Alpen und im Anschluss Scipio zu besiegen, lässt dies, so legt es Livius in seiner Römischen Geschichte nahe, auf göttliche Intervention schließen: Herkules, der mythische erste Bezwinger der Alpen, hat ihm den Weg gewiesen, wo der Mensch scheitern muss.11 Wie schon die Römische Geschichtsschreibung inszeniert auch David mit seinem Bild die Alpen als eigentliches Schlachtfeld, wo Napoleon, wie vor
9
Vgl. Livius, Ab urbe condita (1999), S. 105 (XXI, 39, 2).
10 Livius, Ab urbe condita (1999), S. 109 (XXI, 40, 9-10). 11 Die griechischen Geschichtsschreiber Diodoros (1. Jh. v. Chr.) und Dionysios von Halikarnassos (ungefähr 60/54 v. - 8 n. Chr.) wissen über Herkulesʼ Rückkehr aus Iberien, das er im Anschluss an die zehnte von ihm verrichtete Aufgabe, die ihn nach Erytheia führte, eroberte, zu berichten, dass er auf seinem Weg nach Italien die Alpen überquerte, wobei er die dort ansässigen Bergstämme besiegte und eine begehbare, sichere Straße anlegte. (Vgl. Diodoros, Griechische Weltgeschichte, IV, 19, 1-4; und Dionysios, Geschichte Roms, I, 41-42).
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ihm Hannibal, die Elementargewalten der feindlichen Berge bezwingt. Napoleons Sieg in der Schlacht von Marengo vom 14. Juni 1800 gegen die Österreicher wird in diesem Bild bereits antizipiert, ist er doch, wie Hannibals Sieg in der Schlacht am Ticinus, nur ein Folgeereignis des weitaus größeren Sieges über die Alpen – so suggerieren es sowohl die Römische Geschichtsschreibung als auch David. Das historische Ereignis von Napoleons Alpenüberquerung wird von David mythisch überhöht und im Wechselspiel von Historisierung und Aktualisierung ins Politisch-Programmatische gewendet. Das historische Ereignis, die im Bildmittelgrund nur skizzenhaft, in den blassen Farben der umgebenden Gebirgslandschaft ausgeführte, dem Pass entgegenstrebende Armee, steht im stilistischen Kontrast mit der im Vordergrund präzise konturierten und in kräftigen Farben ausgeführten Reitergruppe, wo Napoleon, der mit seiner entblößten Rechten sowohl die im Bildmittelgrund agierende Armee als auch den Wind zu befehligen scheint, gleichzeitig diesem historischen Geschehen enthoben ist. Fern von seinen Soldaten kämpft er siegreich mit den entfesselten Naturgewalten, die der Große Sankt-Bernhard ihm entgegensetzt, wobei er eine geradezu überirdische Ruhe und Standfestigkeit zeigt, die durch den Kontrast zu den Anzeichen von Panik, die das unter ihm wild aufgebäumte Pferd zeigt, noch hervorgehoben werden.12 Beim hierbei entworfenen Bildtypus des romantisch-genialischen Helden, der einsam auf einem Felsen den alpinen Naturgewalten trotzt,13 orientierte sich David offensichtlich an Falconets Reiterstandbild Peters des Großen in St. Petersburg. Der steile Felsen steht – wie auch der monumentale Felsen, der dem Reiterstandbild Peters des Großen als natürlicher Sockel dient – emblematisch für die Schwierigkeiten, die Mensch und Natur vergebens dem Genie Napoleons bzw. des Zaren entgegensetzen.14 Der
12 Vgl. Telesko, Napoleon Bonaparte (1998), S. 75-7. 13 Vgl. Schoch, Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts (1957), S. 55f. 14 Falconet äußerte sich in einer Antwort auf einen Brief von Diderot aus dem September 1766 zum Felsen, der dem Reiterstandbild Peters des Großen als Sockel dient, folgendermaßen: „Il franchit ce rocher qui lui sert de base; emblème des difficultés quʼil surmonta. […] La nature et les hommes lui opposaient les difficultés les plus rebutantes; la force et la ténacité de son génie les surmontèrent […]“ (Diderot, Mémoires, correspondance et ouvrages inédits, Bd. 3 (1834), S.
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Große Sankt-Bernhard selbst wird zum gigantischen Denkmalsockel für den der Sphäre des Irdischen entrückten Helden. Als Wiedergänger Herkules’, der als Fluchtpunkt des chronologischen Crescendos berühmter Alpenbezwinger auftaucht, tritt Napoleon als ein am Großen Sankt-Bernhard siegreich mit den Naturgewalten ringender Halbgott in Erscheinung. Diese Allusion auf Herkules als Teil der Bildsprache wurde in einem im Journal des Arts im Jahr 1801 veröffentlichten Beitrag weiter verstärkt: „Le manteau de ce dernier [Bonaparte] est jeté de manière qu’il ressemble, ainsi que me le disait l’artiste, aux ailes qui soutiendraient un demi-Dieu planant dans l’espace.“15
Damit wurde für die Zeitgenossen Napoleons dessen Einschreibung in einen bestehenden Mythos nachvollziehbar: Der Napoleon-Mythos wurde von Beginn an durch antike Mythen beglaubigt. Neben diesen mythisch-geschichtlichen Implikationen hält das Bild von Napoleon, wie er am Großen Sankt-Bernhard siegreich mit den Naturgewalten ringt, auch noch dezidiert politisch-zeitgenössische Implikationen bereit. Nicht nur, dass David in seinem Gemälde eine unterschwellig funktionierende, suggestive imperiale Bildsprache nutzt, die Napoleons politische Ambitionen offen zur Schau stellen und diesen als zukünftigen Kaiser
372). Der Felsen wurde eigens hierfür unter schwierigsten Bedingungen in einem Stück aus Finnland nach St. Petersburg geschafft. Die widerständige Natur bezeichnet wohl insbesondere das Sumpfland an der Newa-Mündung, das Peter der Große entgegen den denkbar ungeeigneten Bedingungen, so erzählt es zumindest die politische Mythenbildung, zum Standort seiner künftigen Hauptstadt St. Petersburg auserkoren und trockenlegen lassen hat. Dieser mythische Konnex von Reiterstandbild und Stadtgründung wider die Natur wurde von Puschkin in seinem 1833 veröffentlichten Gedicht „Der eherne Reiter“, welches nebenbei dem Reiterstandbild seinen charakteristischen Beinamen beschert hat, ausformuliert und weiter gefestigt. 15 Chaussard, Journal des Arts, 17. Sept. 1801, S. 421, zitiert nach: Bordes, Jacques-Louis David (2005), S. 90.
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Frankreichs ins Bild setzten;16 Davids Gemälde offenbart auch, woraus sich dieser Anspruch ergibt: Napoleon weiß die Schrecken der Revolution, repräsentiert durch die elementare Gewalt des Berges (der montagne), zu bändigen. Die Partei der montagne oder montagnards, wie ihre Mitglieder genannt wurden, ging aus den radikalen Mitgliedern des Club des Jacobins und des Club des Cordeliers hervor, die als Abgeordnete im Nationalkonvent in den höchstgelegenen Sitzreihen oben links saßen. Der Begriff montagne fungierte zuerst als unscharfe Bezeichnung und gewann erst an Bedeutung, als die montagnards, eine lose Gruppierung keineswegs homogene Ansichten vertretender Abgeordneter, die vor der Entmachtung der Girondins im April und Mai des Jahres 1793 vor allem durch die gemeinsame Front gegen ebendiese Girondins zusammengehalten wurden, in Opposition zu den verbliebenen, zahlenmäßig aber noch immer weit überlegenen Abgeordneten im Nationalkonvent gingen. Diese, die in den unteren Sitzreihen saßen, wurden lose als plaine (Ebene) oder marais (Sumpf) bezeichnet. Um eine stabile Opposition zu erreichen und sich damit eindeutig zu positionieren, musste die montagne als politische Einheit auftreten und ihrem Gegner, der plaine, eine ebenso homogene Politik zuschreiben. Hierzu brauchte die montagne – die bald schon nur noch aus den Jacobins bestehen sollte – nur an die im Verlauf des 18. Jahrhunderts naturalisierten politischen und kulturkritischen Diskurse anknüpfen, um sogleich ein aussagekräftiges antithetisches Bildpaar zur Hand zu haben: La montagne und – abwertender noch als la plaine – le marais.17 Damit wurde der Topos des Berges auch Symbol und Träger eines parteipolitischen Machtanspruchs.18 Über das 18. Jahrhundert hinweg bildete sich ein gelehrter Diskurs über die gesundheitsschädigende Wirkung des Sumpfes aus; dieser solle sowohl die physische als auch moralische Konstitution seiner Anwohner beeinträchtigen. Das stehende Wasser und die darüber hängende sauerstoffarme Luft galten als Brutstätte von Seuchen und anderen Krankheiten, von Fatalismus und Unterwürfigkeit. Damit verschärfte sich eine über das 17. und 18. Jahrhundert auch in Frankreich zu beobachtende Tendenz, Sumpf- und
16 Vgl. Traeger, Kaiserliche Inkarnationen (1990), insbesondere S. 139 und 145. 17 Vgl. Miller, A Natural History of Revolution (2011), insbesondere S. 123-33. 18 Vgl. Warnke, Politische Landschaft (1992), S. 119f.
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Moorlandschaften samt ihren Bewohnern als durchweg negativ konnotiert wahrzunehmen.19 Jacques-Antoine Boudin, Abgeordneter des Departements Indre im Nationalkonvent, veröffentlichte eine vom Komitee für öffentliche Gesundheit autorisierte Schrift, worin er für die Austrocknung der Sümpfe zum Wohle der Republik plädierte. Er hielt die schädigende Wirkung des Sumpfes auf seine Anwohner mit folgenden Worten fest: „[O]n ne voit sur les bords des rivières stagnantes & des marais fangeux, que des visages livides, des corps débiles, anéantis par toutes sortes de maladies incurables & sans cesse renaissants.“20
Dabei, so Boudin, ist der Sumpf keine Plage der Natur, sondern das Resultat eines fehlgeleiteten Zivilisationsprozesses. Sich auf Rousseau berufend zeigt er auf, wie die Etablierung sozialer Ungleichheit mit einem Prozess der zunehmenden Stagnation von zuvor frei fließenden Gewässern einherging, der mit der Errichtung von Wasserrädern zu einer flächendeckenden Versumpfung des Landes führte. Weil Wasserräder im Feudalsystem des Ancien Régime aber exklusives Eigentum der Aristokratie waren, ist die von den Sümpfen ausgehende Gefährdung der Gesundheit des französischen Volkes das direkte Resultat der politischen Zustände vor der Revolution. Die von Boudin geforderte Trockenlegung der Sümpfe stellt demnach nicht nur einen weiteren, natürlichen Schritt zur Beseitigung der vom Ancien Régime geschaffenen Missstände dar, sie würde der Republik auch ihre ursprünglich-natürliche, d.h. sumpflose Gestalt wiedergeben. Wie anders hingegen die Berge, die im physiologisch-moralischen Komplex des am Zusammenhang von Klima und Gesellschaft interessierten 18. Jahrhunderts die Funktion des Gegenparts zum Sumpf übernehmen. Ihre von den giftigen Ausdünstungen der Erde unbelastete, reine Luft macht ihre Bewohner, wie die Encyplopédie weiß, zu den gesündesten und robustesten Menschen überhaupt.21
19 Blackbourn, Die Eroberung der Natur (2007), S. 58 und 64. 20 Boudin, Du dessèchement des marais et terreins submergés (o. J.), S. 12. 21 „[L]‘air que lʼon respire au sommet de ces montagnes est très-pur, moins gâté par les exhalaisons de la terre, ce qui, joint à lʼexercice, rend les habitans plus
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Berge sind das Heilmittel zur Wiederherstellung der von den toxischen Dämpfen des Sumpfes beeinträchtigten Gesundheit. Der Gang in die Berge verläuft, spätestens seit St. Preux’ Brief aus den Walliser Alpen, als physiologischer Reinigungs- und Kräftigungsprozess: Die montane Natur reinigt den Menschen von den schmerzhaften Begierden und quälenden Leidenschaften, die eine fehlgeleitete gesellschaftliche Entwicklung in ihm hervorgerufen hat, und führt ihn zu seiner ursprünglich gesunden Verfassung zurück.22 Die Partei der montagne brauchte also nur an die in der Dichotomie von Berg und Sumpf zirkulierende Energie anzuschließen, um in den Wirren der Revolution eine stabile politische Antithesis herzustellen und sich selbst als die einzig wahren Revolutionäre in Szene zu setzen, ist doch mit dem revolutionären Berg das Versprechen auf Regeneration des vom Sumpf des Ancien Régime schwer geschädigten Volkskörpers verbunden. Als das Volk von Paris am 10. August 1793 die vierte Station der von Jacques-Louis David inszenierten Fête de l‘Unité et de l‘Indivisibilité de la République an der Esplanade des Invalides erreichte, fand es dort einen Berg vor. Auf dessen Gipfel verteidigte ein kolossaler, das französische Volk verkörpernder Herkules die Einheit der Nation gegen das Monster des Föderalismus, das aus dem übel riechenden Sumpf zu Füßen des Berges kriecht.23 Die Revolution agiert vom Gipfel eines Berges aus. Aber gerade weil der Berg zum Symbol und Träger eines parteipolitischen Machtanspruchs wurde, entbrannte nach dem Sturz Robespierres und der Entmachtung der Jacobins eine heftige Debatte um diese Symbole ihrer Herrschaft. In der Sitzung des Nationalkonvents vom 20. Februar 1795 forderte die Pariser Sektion Halle au Blé die Zerstörung des anlässlich der Fête de lʼUnité et de lʼIndivisibilité de la République vom 10. August 1793 an der
sains & plus robustes.“ (Art. „Montagnes (Hist. nat. Geographie, Physique & Minéralogie)“, S. 673). 22 Vgl. den 23. Brief des ersten Buches von Rousseaus Briefroman Lettres de deux amans, habitans dʼune petite Ville au pied des Alpes (1761). 23 Siehe den offiziellen Bericht des Nationalkonvents zur Feier vom 10. August 1793: Procès-verbal des monumens, de la marche, et des discours de la fête consacrée à lʼinauguration de la Constitution de la République Française, le 10 août 1793 (1793).
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Esplanade des Invalides errichteten, von einer Herkules-Statue gekrönten Berges. Er, nach dessen Vorbild so viele andere Berge errichtet wurden, soll mitsamt den schmerzlichen Erinnerungen, die er wachhält, verschwinden. Nach dem abschließenden, mit großem Applaus bedachten Beitrag des Abgeordneten Mathieu, der erklärte, er könne im Berg kein Symbol der Einheit, sondern nur einen Gegenstand der Entzweiung („discorde“) entdecken, denn was sei ein Berg anderes, als eine ewige Auflehnung gegen die Gleichheit („une protestation éternelle contre l‘égalité“), beschloss der Nationalkonvent ein Gesetz zur Zerstörung nicht nur dieses an der Esplanade des Invalides errichteten Berges, sondern sämtlicher Berge republikweit. Im Jahr III der Republik wurden die im Jahr zuvor errichteten Berge als Monumente des Terrors und der Ungleichheit wieder beseitigt. Jacques-Louis David, der als künstlerischer Intendant der Pariser Revolutionsfeste im Auftrag der montagnards für die Errichtung und Inszenierung zahlreicher Berge verantwortlich war, wusste sehr genau Bescheid um das symbolische Potential, das sich mit Napoleons Überquerung des Großen Sankt-Bernhard entfalten lässt. Sein Gemälde zeigt einen Napoleon, der die Schrecken der Revolution, repräsentiert durch die elementare Gewalt des Berges, der montagne, zu bändigen weiß. Napoleon, selbst ehemaliger Parteigänger Robespierres, wird zum Erretter stilisiert, der die Wirren der Revolution, die das Land zuletzt in eine desolate wirtschaftliche Lage gebracht haben, beendet und der Nation den Weg in eine lichte Zukunft weist, von deren Ankunft das helle Blau kündet, das in Marschrichtung in der Ferne durch den ansonsten wolkenverhangenen Himmel bricht. Verkörperte während der Fête de lʼUnité et de lʼIndivisibilité de la République am 10. August 1793 der kolossale, vom Berggipfel hinab die Einheit der Nation gegen das Monster des Föderalismus verteidigende Herkules noch das französische Volk, tritt am Großen Sankt-Bernhard Napoleon als Wiedergänger Herkules’ in Erscheinung. Er, das göttliche Genie, verkörpert nunmehr die Nation und lenkt ihr Schicksal. Die mythische Rede, die im Gemälde in und durch die Bildsprache entfaltet wird, macht aus dem historischen Ereignis eine Naturgewalt, aus Napoleons Kalkül sein Genie, aus seinen politischen Ambitionen göttlichen Ratschluss. Die Naturalisierung und Entpolitisierung des historischen Er-
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eignisses des Überschreitens des Großen Sankt-Bernhard „verrät“, um mit Barthes zu sprechen, „den voll entfalteten Mythos“.24 Ein Indiz, das auf die erfolgreiche Einsetzung der mythischen Rede schließen lässt, findet sich in Heinrich Heines Erinnerung an Napoleon, wie er sie anlässlich des von ihm im November 1811 selbst erlebten Einzugs des Kaisers in Düsseldorf in Ideen. Das Buch Le Grand (1827) schildert. Wenn dort das Ereignis der Alpenüberquerung zum „Zug über den Simplon“ wird, ist das kein Anzeichen eines Scheiterns der von Napoleon und David initiierten mythischen Rede, sondern demonstriert im Gegenteil deren erfolgreiche Verbreitung und Durchsetzung: Die Historizität und Singularität des Ereignisses, das in den Tagen vom 18. bis zum 20. Mai 1800 stattfand, mussten zugunsten eines mythischen Bildes, worin der Kaiser, allen voran, siegreich mit den Naturgewalten ringt, weichen: „Ich sah den Zug über den Simplon – der Kaiser voran und hintendrein klimmend die braven Grenadiere, während aufgescheuchtes Gevögel sein Krächzen erhebt und die Gletscher in der Ferne donnern […]“.25
Heines Schilderung von Napoleons Einzug in Düsseldorf schwankt zwischen religiöser Epiphanie und Blasphemie, wie überhaupt das in seinen Texten gestaltete Verhältnis zu Napoleon ein gebrochenes ist, das oft zugleich bewundernd und ironisch ist. Insofern dürfte die Ersetzung des Großen Sankt-Bernhard durch den Simplon auch eine gezielte Anspielung auf eine gescheiterte Alpenüberquerung Napoleons sein. 1800 beging Napoleon nicht nur den Großen Sankt-Bernhard, sondern erteilte auch den Befehl zum Bau einer befestigten und befahrbaren Strasse über den Simplon. Gedacht als eine auch für das Militär samt Artillerie begehbare direkte Verbindung zwischen Frankreich und Italien spielte der Simplon in seinen strategischen Überlegungen eine zentrale Rolle. Napoleons Plan, nach seiner Krönung zum König von Italien im Mailänder Dom im Mai 1805 über den Simplon nach Paris zurückzukehren, ging allerdings nicht auf. Die Passstraße konnte mit einigen Monaten Verspätung erst im
24 Barthes, Mythen des Alltags (2013), S. 301. 25 Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 6 (1973), S. 193.
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Herbst 1805 eröffnet werden. Napoleon selbst ist nie über den Simplon gezogen. Anlässlich der Schilderung seines Besuchs in Mailand, den Heine in Die Reise von München nach Genua (1829) festhält, werden Napoleons Erfolg und Scheitern erneut ironisch gebrochen miteinander verwoben. Unter österreichischer Herrschaft wurde weiter am Triumphbogen gebaut, der die Simplonstraße beschließen sollte, und der wie diese auch nicht (rechtzeitig) fertig wurde. Ursprünglich zum Ruhme Napoleons gedacht, erinnert der Arco della Pace, wie er heute heißt, an den Wiener Kongress und den dort verhandelten Europäischen Frieden von 1815, und damit auch an die finale Niederlage Napoleons. Wiewohl Heine diese Umdeutung der von Napoleon begonnenen Arbeit mit feiner Ironie schildert, ist er sich dennoch sicher, dass dieser ein Bild hinterlassen habe, das beständiger ist als Marmor: „Immerhin, der große Kaiser hat ein Standbild hinterlassen, das viel besser ist und dauerhafter als Marmor, und das kein Oestreicher unseren Blicken entziehen kann. Wenn wir Anderen längst von der Sense der Zeit niedergemäht und wie Spreu des Feldes verweht seyn werden, wird jenes Standbild noch unversehrt dastehen; neue Geschlechter werden aus der Erde hervorwachsen, werden schwindelnd an jenes Bild hinaufsehen, und sich wieder in die Erde legen; – und die Zeit, unfähig solch Bild zu zerstören, wird es in sagenhafte Nebel zu hüllen suchen, und seine ungeheure Geschichte wird endlich ein Mythos.“26
Die Form der mythischen Rede verlieh auch Goethe seiner Begegnung mit Napoleon vom 2. Oktober 1808 in Erfurt, die er viele Jahre später in Unterredung mit Napoleon festhielt. Ein Ereignis, das von ihm im Nachhinein zur genuinen Erfahrung der neuen Zeit, der Moderne, stilisiert wurde. Der Napoleon-Mythos wird durch Goethe in die mythische Erzählung der Moderne eingeschrieben. Zwischen ihm und Napoleon, schreibt Goethe, sei lediglich das „Nothwendigste“ und das „[N]aturgemäß[e]“ gewechselt worden.27 Die vielen Worte, die Goethe verliert, um den eigentlichen Wortwechsel zu verschweigen, verstärken das initiatorische Moment dieser Unterredung, in welcher Goethe von höchster Stelle die Weihen des Genies
26 Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 7/1 (1986), S. 67. 27 Goethe, Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 17, S. 379f.
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erhält: „vous etes un homme“, soll Napoleon Goethe begrüßt haben.28 Bereits im Dezember 1808, also nur kurze Zeit nach der Begegnung in Erfurt, schrieb Goethe an seinen Verleger Cotta, ohne sich „auf das Detail der Unterredung einzulassen“, könne er doch so viel sagen, als dass Napoleon ausdrücklich zu verstehen gab, dass „mein [Goethes] Wesen ihm gemäß sei“.29 Über die neue Zeit erfährt der Leser dann doch soviel, als dass sie sich von der alten, „dunklern Zeit“ dadurch unterscheide, dass anstelle des Schicksals die Politik getreten sei, ja, dass die Politik neuerdings selbst Schicksal sei.30 Die direkten, auch Goethes Lebensumstände unmittelbar beeinflussenden Folgen dieser Politik hinterlassen in den Räumlichkeiten, in denen Napoleon empfängt, ihre Spuren. Während Napoleon sich dem eintretenden Marschall Soult widmet, findet Goethe Zeit, sich „im Zimmer umzusehen u. der Vergangenheit zu gedenken“.31 An den Wänden der ihm bekannten Räumlichkeiten finden sich zwar noch die alten Tapeten, aber das Portrait der Herzogin Amalia und die der Familienmitglieder sind allesamt abgehangen. An dieser Stelle ist bereits die Bedeutungsspanne zu erahnen, die dem Diktum „die Politik ist das Schicksal“ in Goethes Schriften und auch in Zukunft zukommen wird.32 Aus der Perspektive Napoleons handelt es sich, insofern das Schicksal durch die Politik abgelöst wird, diese aber dem menschlichen – in diesem Falle seinem ganz eigenen – Handeln unterliegt, eigentlich um einen Prozess der Entmythisierung des Schicksals. Aus Sicht der Herzogin und ihrer Familie wie auch für Goethe wurde die Politik hingegen zum ihnen verhängten Schicksal, avancierte somit zur modernen Schicksalsgöttin. Die Begegnung mit Napoleon markierte für Goethe den Anfang einer lebenslänglichen Auseinandersetzung
28 Ebd., S. 379. 29 Ebd., II. Abt., Bd. 6 (33), S. 414. 30 Ebd., I. Abt., Bd. 17, S. 381. 31 Ebd., S. 382. 32 Zur Bedeutungsspanne und Wirkungsgeschichte des Diktums „die Politik ist das Schicksal“ vgl. Bischof, „…die Politik ist das Schicksal“ – Napoleons Diktum und seine Wirkungsgeschichte (1992) und Werner, Illusionslos (2006), S. 23-5.
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mit sowie Selbsterhebung an und durch Napoleon, an deren Ende Goethe sich „selber mythisch vor[kommt]“.33 In den von Eckermann überlieferten Gesprächen mit Goethe finden sich einige detailliertere Ausführungen Goethes zu Napoleon, die unmittelbar an die von Napoleon selbst initiierte mythische Rede anknüpfen und die die wechselseitige Stabilisierung des Napoleon-Mythos und des ‚Mythos Goethe‘34 deutlich machen. Das Neue, mit dem es Goethe in Erfurt zu tun hatte, sei das „Dämonische“, d.h. „dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist“. In seiner, Goethes Natur liege das Dämonische zwar nicht, aber er sei ihm „unterworfen“. Napoleon hingegen sei von solch „dämonischer Art“. „Dämonische Wesen“, wie Napoleon eines ist, seien von den Griechen, so führt Goethe aus, noch „unter die Halbgötter“ gerechnet worden.35 Goethes Begriff des Dämons partizipiert am antiken Begriff des Halbgottes und ist doch programmatisch von diesem geschieden. Vielleicht helfen Goethes Überlegungen, die mythisch-heroische Gestalt des modernen Halbgottes Napoleon, der am Großen Sankt-Bernhard in eine zeitgenössische Uniform gekleidet seine Schwingen ausbreitet, in ihrer spezifischen Modernität zu fassen und zu bestimmen, inwiefern sie sich vom antiken Mythos unterscheidet. Nun: Der Dämon bzw. das Dämonische unterscheidet sich vom Halbgott der antiken Mythologie zuvorderst durch das Fehlen familiärer Bande. War der Halbgott Halbgott qua Geburt und Abstammung, so ist das Vorhandensein einer dämonischen Natur, wie Goethe emphatisch ausführt, gerade nicht auf „Geburt und Anciennetät“ zurückzuführen. Das Dämonische äußert sich, wenn es denn vorhanden ist, in einer „durchaus positiven Tatkraft“, und ist mit „der Jugend und der Produktivität im Bunde“.36 Produktion und Produktivität bezeichneten bis ins 18. Jahrhundert hinein Prozesse der Umgestaltung und Weiterbildung eines bereits vorhandenen Stoffes und waren damit dem Begriff der creatio, der den Prozess der Schöpfung von
33 Goethe anlässlich des Todes von Großherzogin Luise am 14. Februar 1830, aufgezeichnet von Jenny von Gustedt (geb. Pappenheim), zit. nach: Braun, Im Schatten der Titanen (1909), S. 91. 34 Siehe dazu den Beitrag von Matuschek in diesem Band. 35 Goethe, Sämtliche Werke, II. Abt., Bd. 12 (39), S. 455. 36 Ebd. und S. 652.
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etwas Neuem zumeist aus dem Nichts bezeichnete, entgegengesetzt.37 Im Kontext der Genieästhetik des Sturm und Drang erfuhr der Begriff der Produktivität eine Umdeutung und entfaltete seine Wirkung als Gegenentwurf zum Mimesisgedanken der klassizistischen Regelpoetik, d.h. als Gegenentwurf zum Prinzip der künstlerischen Nachahmung der Wirklichkeit. Der Begriff Produktivität bezeichnete gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Vermögen, unabhängig aus sich selbst heraus Neues zu schaffen, und gehörte nicht nur zum Grundinventar der literarisch-ästhetischen Selbstbeschreibung, sondern auch zur Beschreibung eines neuen, bürgerlichen Selbstbewusstseins.38 Goethe nutze, wie Eckermann feststellte, den Begriff Produktivität synonym zu Genie. Und Goethe stimmte zu: „Denn was ist Genie anders, als jene produktive Kraft, wodurch Taten entstehen, die vor Gott und der Natur sich zeigen können, und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind.“39
Produktivität avancierte zu einem Wert an und für sich: es kommt hierbei „gar nicht auf das Geschäft, die Kunst und das Metier an, das Einer treibt, es ist alles dasselbige.“40 Dadurch gewinnt die Figur Napoleons mit Goethe auch an poetologischer Dimension; über das tertium comparationis des Genies bzw. der Produktivität wird Napoleon dem Künstler vergleichbar und sein Handeln zum (Vor-)Bild für künstlerisches Schaffen.41 Goethe richtet sich mit dem Ideal der dämonischen Produktivität und Tatkraft, die nun nicht mehr auf den Bereich der Kunst beschränkt ist, wie vor ihm Rousseau in dessen Discours sur les sciences et les arts (1750) gegen die zeittypische Form der léthargie – „gegen jene Tatenlosigkeit, die, wie auch Bacon und Voltaire gelehrt hatten, die neue Zeit nicht mehr zuläßt und die deshalb überwunden werden muß“.42 In Napoleon sieht Goethe eine dezidiert mo-
37 Vgl. Art. Produktion, Produktivität (1989) und Laude/Heß, Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit (2008). 38 Vgl. Bulang, Literarische Produktivität (2008), S. 89. 39 Goethe, Sämtliche Werke, II. Abt., Bd. 12 (39), S. 652. 40 Ebd., S. 652f. 41 Vgl. Beßlich, Der deutsche Napoleon-Mythos (2007), S. 155. 42 Konersmann, Kulturkritik (2008), S. 77.
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derne Form einer tatkräftigen Produktivität am Werk, die Idealgestalt eines Ruhestörers, der gegen die Tatenlosigkeit der Menschen vorgeht: „Da war Napoleon ein Kerl! – Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vorteilhaft und notwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen. Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg“.43
Was, wie Rita Bischof schreibt, Goethe so unwiderstehlich zu Napoleon zog, war offenbar die Möglichkeit, durch seine mythische Gestalt die Selbstermächtigung auch des künstlerischen Subjekts voranzutreiben.44 Damit diese Mythisierung Napoleons und damit auch seines schreibenden Selbst gelingen konnte, musste Goethe Napoleons Handeln und Wirken der menschlichen Urteilskraft entziehen – das „Dämonische“ Napoleons gründet in seiner Natur und ist „dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist“.45 Die mythische Gestalt eines Halbgottes der Moderne wurde mit der Naturalisierung und Entpolitisierung der historischen Figur Napoleon erkauft. Die mythische Rede hat die Geschichte Napoleons, einsetzend mit der Überquerung des Großen Sankt-Bernhards, in ein Naturereignis verwandelt. Ein Naturereignis, das auch deswegen zu einem modernen Mythos avancieren konnte, weil die Figur des modernen Künstlers zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Interesse daran hatte, Napoleon in mythische Rede zu kleiden. Die Stabilität des Napoleon-Mythos verdankt sich einer Mythenverkettung, die antike und moderne Mythologie verbindet und Hannibal, Herkules, die Französische Revolution, Goethe und Moderne stabilisierend aneinander bindet.
L ITERATUR Art. Produktion, Produktivität. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Darmstadt 1989, Sp. 1418-38.
43 Goethe, Sämtliche Werke, II. Abt., Bd. 12 (39), S. 651. 44 Vgl. Bischof, „…die Politik ist das Schicksal“ (1992), S. 310. 45 Goethe, Sämtliche Werke, II. Abt., Bd. 12 (39), S. 455.
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Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Orig. Mythologies [1957]. Üb. von Horst Brühmann. 2. Aufl. Berlin 2013. Beßlich, Barbara: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800-1945. Darmstadt 2007. Bischof, Rita: „…die Politik ist das Schicksal“ – Napoleons Diktum und seine Wirkungsgeschichte. In: Rohloff, Heide N. (Hg): Napoleon kam nicht nur bis Waterloo. Die Spur des gestürzten Giganten in Literatur und Sprache, Kunst und Karikatur. Frankfurt a.M. 1992, S. 305-27. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. Orig. The Conquest of Nature. Water, Landscape and the making of Modern Germany [2006]. Üb. von Udo Rennert. München 2007. Bordes, Philippe: Jacques-Louis David. Empire to Exile. New Haven u.a. 2005. Boudin, Jacques-Antoine: Du dessèchement des marais et terreins submergés, par J. A. Boudin, Député par le département de lʼIndre à la Convention Nationale, imprimé par autorisation du Comité de Salut Public. Paris [o. J.]. Braun, Lily: Im Schatten der Titanen. Ein Erinnerungsbuch an Baronin Jenny v. Gustedt. 4., verb. Aufl. Braunschweig 1909. Bulang, Tobias: Literarische Produktivität – Probleme ihrer Begründung am Beispiel Johann Fischarts. In: Laude, Corinna/Heß, Gilbert (Hg): Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Berlin 2008, S. 89-118. Diderot, Denis: Mémoires, correspondance et ouvrages inédits de Diderot. Publiés d‘après les manuscrits confiés, en mourant, par l‘auteur à Grimm. Hg. von Friedrich Melchior von Grimm. Bd. 3. 2. Aufl. Paris 1834. Diderot, Denis: Œuvres complètes de Denis Diderot. Bd. 4. Paris 1818. Diodoros [Diodorus Siculus]: Griechische Weltgeschichte. Hg. von Thomas Nothers. Üb. von Gerhard Wirth (Buch I-III) und Otto Veh (Buch IVX). 10 Bde. Stuttgart 1992-2009. Dionysius of Halicarnassus: The Roman Antiquities. Bd. 1. Books I-II. Hg. und Üb. von Earnest Cary. Reprint [1937]. Cambridge MA/London 1990. Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, mis en ordre & publié par M.
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Diderot, de lʼAcadémie Royale des sciences & des Belles-Lettres de prusse; & quant à la Partie Mathematique, par M. dʼAlembert, de lʼAcadémie Royale des Sciences de Paris, de celle de Prusse, & de la Societé Royale de Londres. 35 Bde. Paris 1751-1780. Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. von Hendrik Birus und Friedmar Apel. Frankfurt a.M. 1985-1999. Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. 16 Bde. Hamburg 1973-1997. Konersmann, Ralf: Kulturkritik. Frankfurt a.M. 2008. Laude, Corinna/Heß, Gilbert: Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Eine Einleitung. In: Dies. (Hg): Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Berlin 2008, S. 7-25. Livius, Titus [Titus Livius Patavinus]: Ab urbe condita. Liber XXI. Römische Geschichte. 21. Buch (Der Zweite Punische Krieg I), lateinisch/deutsch. Üb. und hg. von Ursula Blank-Sangmeister. Stuttgart 1999. Miller, Mary Ashburn: A Natural History of Revolution. Violence and Nature in the French Revolutionary Imagination, 1789-1794. Ithaca/London 2011. Petiteau, Natalie: Napoleon, de la mythologie à lʼhistoire. Paris 2004. Procès-verbal des monumens, de la marche, et des discours de la fête consacrée à lʼinauguration de la Constitution de la République Française, le 10 août 1793, imprimé par ordre de la convention nationale. Paris 1793. Schoch, Rainer: Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts. München 1975. Telesko, Werner: Napoleon Bonaparte. Der ‚moderne Held‘ und die bildende Kunst 1799-1815. Wien u.a. 1998. Traeger, Jörg: Kaiserliche Inkarnationen. Napoleon-Bilder, von JacquesLouis David zu Heinrich Heine. In: Mai, Ekkehard (Hg.): Historienmalerei in Europa. Paradigmen in Form, Funktion und Ideologie. Mainz 1990, S. 135-72. Tulard, Jean/Garros, Louis: Itinéraire de Napoleon au jour le jour 17691821. Hg. von Jacques Jourquin und Jean Tulard. Paris 2002.
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Warnke, Martin: Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur. München/Wien 1992. Werner, Birte: Illusionslos. Hoffnungsvoll. Die Zeitstücke und Exilromane Anna Gmeyners. Göttingen 2006.
Zur Persistenz des Mythos. Europa im Bildinventar der europäischen Staatengemeinschaft R OLAND A LEXANDER I SSLER
1. „D’ UNE
EXISTENCE FERMÉE [...] À UN ÉTAT OUVERT “: E INLEITUNG UND P ROBLEMATISIERUNG
Einsteins Gehirn, Striptease, Beefsteak und Pommes frites, das Pariser Hochwasser von 1955, Plastik oder der neue Citroën – vor sechs Jahrzehnten konnte Roland Barthes die Geisteswelt noch provozieren, als er diese und weitere Alltagsphänomene zu Mythen erklärte.1 Inzwischen ist die Erkenntnis des mythogenen Potentials alles Seienden gemeinhin anerkannt: „Il y a des limites formelles au mythe, il n’y en a pas de substantielles. Tout peut donc être mythe? Oui, je le crois, car l’univers est infiniment suggestif. Chaque objet du monde peut passer d’une existence fermée, muette, à un état oral, ouvert à l’appropriation de la société, car aucune loi, naturelle ou non, n’interdit de parler des choses. [...C]ertains objets deviennent proie de la parole mythique pendant un moment, puis ils disparaissent, d’autres prennent leur place, accèdent au mythe.“2 1
Vgl. Barthes, Mythologies (1957); zu den genannten Beispielen vgl. „Le cerveau d’Einstein“, S. 91-3, „Strip-tease“, S. 147-50, „Le bifteck et les frites“, S. 77-9, „Paris n’a pas été inondé“, S. 61-4, „Le plastique“, S. 171-3 und „La nouvelle Citroën“, S. 150-2.
2
Ebd. „Le mythe, aujourd’hui“, S. 193f. (Hervorhebungen R.I).
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So können denn auch James Bond und Derrick, Lady Diana, Fußball, 9/11, AIDS und das Ozonloch ihren Platz neben Napoleon, der Wiener Klassik, dem Mittelalter und dem Mauerfall im 2014 erschienenen Metzler Lexikon moderner Mythen behaupten; die mehr als zehn Dutzend darin versammelten Mythen prägen das Zeitintervall vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart auf je eigene Weise.3 „In der Moderne kann alles zum Mythos werden“, so hebt das Vorwort des Lexikons folgerichtig an, um sogleich ebenso folgerichtig zu konzedieren: „– aber nicht alles wird in der Moderne zum Mythos.“4 Wenn der vorliegende Band nun in einem nächsten Schritt eine ganze Reihe moderner Mythen analysiert und sie „nicht nur als inflationäres Phänomen zu betrachten, sondern den Fokus auf ihre Haltbarkeit zu legen“ sucht,5 so geschieht dies aus einem allgemeinen Interesse am Mythischen, am Prozess der Verbreitung und Generalisierung von Mythen, an ihrer Stabilisierung, Diskurswerdung und Kanonisierung. Welche Kräfte aber tragen zu alledem bei, verhelfen einem geschlossenen Dasein zu seiner Öffnung und machen aus Dingen und Ereignissen zeitweilige oder gar dauerhafte mythische Aussagen? Vielleicht hilft der Blick auf Europa in seiner ambivalenten mythischen Begrifflichkeit, dieser rätselhaften ‚Erbeutung durch das mythische Wort‘ auf die Spur zu kommen. Die Ambivalenz des Europabegriffs liegt in der Zuordnung seiner konstitutiven Elemente zum Feld des antiken Mythos bzw. des Mythos der Moderne. Als ‚alter‘ Mythos, ein Narrativ ohne Erzähler, vermittelt er tradierte Einsichten, trägt zur Deutung der Welt bei, löst Widersprüche auf, stiftet Sinn und schafft scheinbare Evidenz, reduziert Komplexität und ermöglicht so die Konstruktion von Identität.6 Dieser Zeitlosigkeit hingegen entbehrt er als neuer Mythos; als solcher ist er „gebunden an das Bewusstsein, der Moderne zuzugehören und diese mit zu prägen und zu repräsentieren“.7 Für den Mythos von Europa muss gleichwohl zumindest fraglich bleiben, inwieweit er für die Menge der (im Lexikon und im Tagungsband ver-
3
Vgl. Wodianka/Ebert, Vorwort (2014), S. V.
4
Ebd.
5
Vgl. Wodianka/Ebert, „Mythen der Moderne: Inflation, Vernetzung, Kanon“,
6
Vgl. Wodianka/Ebert, Vorwort (2014), S. VI.
7
Ebd.
Tagungsankündigung 2014.
Z UR P ERSISTENZ DES M YTHOS E UROPA
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sammelten) modernen Mythen repräsentativ sein kann und ob es gelingt, anhand des speziellen Phänomens dieses konkreten Mythos allgemeine Aussagen über Mythen schlechthin zu treffen. Denn ‚Europa‘ ist insofern singulär, als es – vermutlich als einziger unter den hier untersuchten Mythen – der klassischen Mythologie angehört und doch zugleich auch als einer jener neuen, von der Moderne hervorgebrachten Mythen zu begreifen ist. Was aber passiert mit dem alten Mythos in dem von Barthes beschriebenen Moment, in dem ein neuer ins Licht des Mythos tritt? Löst der eine den anderen schlichtweg ab und wird unabhängig, gibt es also einen vom antiken ‚losgelösten‘ Mythos Europa? Tritt der neue zum alten hinzu? Koexistieren demnach beide? Oder muss der alte Mythos erst ganz verstummen, um dem neuen Raum zu geben? – Im Falle des doppelten Mythos von Europa, den sich der vorliegende Beitrag zu untersuchen vorgenommen hat, spricht vieles dafür, dass ausgerechnet der antike Mythos in seiner Überzeitlichkeit zu der Langlebigkeit des modernen Mythos beiträgt. Tatsächlich ist Europa heute als antiker und als moderner Mythos präsent. Es steht geradezu in einem spezifischen Spannungsfeld zwischen den antiken und modernen Mythen, je nachdem, ob man sich ihm über das klassische Narrativ vom Raub der Prinzessin Europa auf dem Rücken des stiergestaltigen Zeus nähert8 oder ihn auf die politische Staatengemeinschaft und kulturelle Idee bezogen versteht: „Wo fängt Europa an und wo hört es auf? Was gehört dazu und was nicht? Was macht es aus und wodurch unterscheidet es sich von dem, was nicht Europa ist? Als moderner Mythos ist Europa gleichermaßen eine geografische wie eine kulturelle, eine politische wie eine ökonomische Größe.“9
Auf einer abstrakteren Ebene berührt er das Verhältnis zwischen Mythos und Geschichte, das Ineinandergreifen zweier Modi der Weltbetrachtung. Zu hinterfragen ist dabei, inwieweit beide – das Europa und die Europa – einander bedingen, inwieweit sie aufeinander bezogen und aufeinander an-
8
Vgl. hierzu ausführlich Renger, Europa (2008) und Ißler, Europa Romanica (2015).
9
Kraume, Europa (2014), S. 115.
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gewiesen sind, inwieweit der eine aus dem anderen hervorgeht oder ihm als Projektionsfläche dient.10 Der Terminus ‚Europa‘ sei im Folgenden zunächst in seiner mindestens doppelten Dimension durch die Jahrhunderte hindurch skizziert. Da beide Wahrnehmungen Europas zur Mythisierung des Begriffs wesentlich beitragen, sollen Tendenzen seiner mythologisch und historisch motivierten Rezeptionsgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart wenigstens in groben Zügen verfolgt werden.11 Der chronologische Überblick dient dabei als Folie, vor deren Hintergrund anschließend der gegenwärtige Umgang des modernen Europadiskurses mit dem antiken Mythos untersucht werden soll. Dabei wird sich zeigen, dass zwischen Mythos und Kontinent als zunächst separaten Entitäten, d.h. wesentlich zwischen der mythischen Figur Europa und dem geographischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Begriff Europa, schon erstaunlich früh Interferenzen bestehen, die zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich deutlich hervortreten und produktiv werden. Wenn das moderne Europa als institutionalisierte Staatengemeinschaft einen eigenen, gegenwartsbezogenen Mythos hervorzubringen sucht, so konzentriert sie sich auf den Kontinentaldiskurs, knüpft mithin ausdrücklich nur an einen der beiden Rezeptionsstränge an. Doch der antike Mythos holt diese Bestrebungen immer wieder ein und überlagert mit seinen raumgreifenden Bildelementen beharrlich viele der modernen Remythisierungsversuche Europas.
10 Vgl. hierzu Renger/Ißler, Stier und Sternenkranz (2009). 11 Vgl. Renger/Ißler, Europa (2012).
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Abbildung 1: Michèle Grosjean, „Princesse qu’inspire le désir / Emportée dans les flots vibrants du Dieu solaire / Te voilà dans ta superbe blancheur, / sur l’autre rive / Investie du songe auroral des grands royaumes étoilés / Présage d’un monde nouveau marqué du nom d’Ereb / A la gloire de la fraternité“, 2010.
Quelle: Collection Alain Roba, Bruxelles.
2. Z UR A MBIVALENZ DER W AHRNEHMUNG VON E UROPA : G ESCHICHTE DER Ü BERBLENDUNG ZWEIER R EZEPTIONSSTRÄNGE Tatsächlich ist die historische Dimension des Europabegriffs seit dem Aufkommen der geographischen Bezeichnung neben dem mythologischen Namen virulent. Schon früheste Quellen differenzieren zwei Rezeptionsstränge, die sich seither immer weiter miteinander verflechten und heute nur mehr schwer auseinanderzuhalten sind. Dem antiken Erdteilverständnis sind nur drei Kontinente bekannt: Neben Asia und Libya (Afrika) tritt zuletzt Europa.12 Von Europa existiert jedoch keine politische Idee im modernen Sinne; ein symbolischer Wert kann dem Namen ‚Europa‘ folglich noch nicht zugesprochen werden. Zu einer 12 Vgl. Herodot, 3, 37-42. (Übers. August Horneffer) Die Abkürzungen antiker Quellen folgen den Konventionen des Neuen Pauly.
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ideologischen Verwendung des Terminus kommt es ab dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., als die Griechen sich von den Barbaren abgrenzen.13 Interessanterweise fallen diese Tendenzen mit der frühen Geschichtsschreibung zusammen. Herodot ist nicht nur einer der ersten Historiker, die Europa als territoriale Einheit zur Kenntnis nehmen, sondern zugleich auch einer der ersten Bedenkenträger hinsichtlich der womöglich nach der mythischen Prinzessin erfolgten Namensgebung des Erdteils. Von dem Historiographen sind aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. die folgenden Worte überliefert: „Von Europa aber weiß kein Mensch, weder ob es vom Meer umflossen ist, noch wonach es benannt ist, noch wer es war, der ihm den Namen Europa gegeben hat. Oder sollen wir annehmen, dass es seinen Namen nach der Europa von Tyros hat und vor deren Zeit namenlos war wie die anderen Erdteile? Aber diese Europa stammt doch aus Asien und ist nie in das Land gekommen, das man heute in Hellas Europa nennt. Sie ist nur von Phoinikien nach Kreta und von Kreta nach Lykien gekommen. Doch genug davon! Wir wollen bei den überlieferten Namen bleiben.“14
Entgegen allem frühen Zweifel an der Auffassung, beide Namen hingen ursächlich zusammen, steht angesichts der Namensgleichheit des Erdteils und der von Zeus in Stiergestalt aus ihrer phönizischen Heimat geraubten Königstochter ein mythisches Bildfeld bereit, auf welches Ethnien oder den Kontinent berührende Fragen übertragen werden. Die wirkmächtigsten Werke des Altertums sind der Traum der Europa in einem nach ihr benannten Epyllion des Moschos aus Syrakus (2. Jh. v. Chr.), ferner eine horazische Ode (Hor. carm. 3, 27) sowie schließlich Ovids Fasti (Ov. fast. 5, 60718) und Metamorphosen (Ov. met. 2, 836-3, 2). Bevor die weitere Wirkungsgeschichte in Mittelalter und Neuzeit den Europabegriff noch komplexer erscheinen lässt, kann hier als wichtige Tatsache festgehalten werden: Der Transfer der Kontinentalvorstellung auf den Mythos ist eine bereits antike Übertragungsleistung. Zwar folgt die Verwendung der Bezeichnung ‚Europa‘ im Sinne eines Kontinentalbewusstseins auch im Mittelalter keiner allgemeinen Verbindlichkeit,15 doch enthält der Name nun bereits eine Fülle sprachlicher Refe-
13 Vgl. z.B. Aischyl. Pers. 186f. und Anth. Pal. Epigr. 7, 296. 14 Herodot, 4, 45, 4f. 15 Vgl. ausführlich Oschema, Bilder von Europa (2013).
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renzen auf Gegebenheiten und Vorstellungen, die über die bloße geographische Bedeutung hinausweisen. Hieran knüpfen sich nachträgliche historische Bewertungen, wie sie etwa infolge der Bildung des weströmischen und des oströmischen Reichs auf der Grundlage der Differenzierung zwischen ‚Okzident‘ („Abendland“) und ‚Orient‘ („Morgenland“) verbreitet sind. Der Begriff „Europenses“ für Krieger aus Reichsgebieten des heutigen West- und Mitteleuropas fällt zuerst im 8. Jahrhundert in der Mozarabischen Chronik. Unter Karl dem Großen sind mit Respublica christiana, Papsttum und Imperium Romanum römisch-lateinische und romanischgermanische Traditionen zusammengeführt. Die in der spätmittelalterlichen Literatur lange nachhallende Karlsverehrung befördert die Verbreitung des Europabegriffs auf indirektem Wege. Papst Urban II. stilisiert „Europa“ bereits als „patria nostra“, als er 1095 zum Ersten Kreuzzug aufruft, und noch Enea Silvio Piccolomini, der spätere Renaissancepapst Pius II., wählt ähnliche Worte: Mit „Europa, id est in patria, in domo propria, in sede nostra“ beschwört er die Einheit des Kontinents gegenüber der seinerzeit wachsenden türkischen Bedrohung herauf.16 Volkssprachliche Texte des späten Mittelalters übernehmen die spätantike Lehrmeinung, die Benennung des Erdteils von der im antiken Mythos entführten Europa abzuleiten, wie sie wirkmächtig etwa Isidor von Sevilla verbreitet (Isid. orig. 14 ,4, 1): Neben dem Roman de Thèbes (um 1160; V. 9193f.) ist in diesem Zusammenhang der Ovide moralisé (1316-28), eine mit christlichen Allegorien augmentierte Fassung der Metamorphosen, zu nennen. Der mythischen Europa wird darin von Jupiter der dritte Teil der Welt („la tierce partie / Dou monde“) als Geschenk überbracht.17 Auch der italienische Humanist Giovanni Boccaccio festigt die Verknüpfung zwischen der mythischen Europa und dem Erdteil18, und ebenso leitet Christine de Pizan im frühen 15. Jahrhundert den Namen ‚Europa‘ von der mythischen Prinzessin ab.19 Dadurch, dass solche Aussagen weite Verbreitung finden, wird die vermeintliche Eponymie der mythischen Figur und des
16 Rede vom 15. Oktober 1454, zit. nach Moeglin, Hat das Mittelalter europäische lieux de mémoire erzeugt? (2002), S. 25. 17 Ovide moralisé, 2, 5081-4. 18 Vgl. Boccaccio, De claris mulieribus (1995), darin „De Europa Cretensium regina“, S. 38-41. 19 Vgl. de Pizan, Livre de la Cité des Dames (1986), 2, 61, S. 226f.
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Erdteils weithin konsolidiert. Spätestens die mediale Revolution des Buchdrucks schreibt die scheinbar ursächliche Namensverbindung der Neuzeit als Gewissheit ein. Mit dem Humanismus häufen sich folglich die Überblendungen der Königstochter Europa mit dem Kontinent. Eigenschaften und Charakteristika übertragen sich ebenso wie spezifische bildkünstlerische Attribute wechselseitig von dem Europa auf die Europa und umgekehrt. So werden Repräsentationen Europas beispielsweise Qualitäten wie Fruchtbarkeit, Nobilität und Kampfgeist zuerkannt, deren Symbolwert traditionell mit dem Erdteil bzw. dessen allegorischen Darstellungen assoziiert werden, wie sie seit der Neuzeit aufkommen. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist eine Ode des französischen Renaissancedichters Pierre de Ronsard, in der „Europe“ ein merkwürdiges Hybridwesen aus Prinzessin und Allegorie darstellt. Ihre äußere Erscheinung als Frauengestalt ist mit geographischen und zivilisatorischen Attributen wie Häfen, Flüssen, Inseln und Städten durchsetzt, und der ihr beigegebene bestimmte Artikel deutet zugleich auf den Erdteil hin: L’Europe avoit les cheveus blonds, Son teint sembloit aus fleurs descloses, Les yeus verds, & deus vermeillons Couronnoient ses levres de roses. Sur sa robe furent portrais Mains ports, mains fleuves, maintes isles, Et de ses plis sourdoient espais Les murs d’un milion de viles.20
Ikonographisch und literarisch anregend wirkte die Allegorie der Europa aus Cesare Ripas Iconologia (1593, illustriert 1603). Die darin beschriebene Europa ist mit Attributen der Kriegsführung und Religion (Krone, Pferd, Waffen, Trophäen, Tempel) sowie der Künste und Wissenschaften (Malerwerkzeuge und Musikinstrumente, Buch, Eule) versehen und wird als „Regina di tutto il Mondo“ und als „prima, & principale parte del Mondo“ stilisiert.21 Darstellungen von Europa innerhalb im Zuge der Entdeckung Ame-
20 Ronsard, A Monsieur d’Angoulesme (1934 [1555]), S. 67f. 21 Ripa, Iconologia (1603), darin „Europa“, S. 332-4.
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rikas aufkommender Kontinentalallegorienensembles der Frühen Neuzeit assoziieren oftmals die mythische Königstochter und weisen ihr die Führungsrolle in der Welt zu. Auch die Kartographie bedient sich des antiken Mythos, indem sie die Konturen des Erdteils als Umrisse eines weiblichen Körpers deutet. Und auch in der Literatur finden sich Spuren solcher allegorischer Personifikation Europas als imperialer Hoheit. Der portugiesische Nationaldichter Camões etwa stellt in den Lusíadas (1553-70) die Seemacht seiner Nation als symbolisches Haupt Europas dar,22 und die französische Außenpolitik unter Richelieu zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges findet eine dramatisierte allegorische Abbildung in der sogenannten Comédie héroïque Europe (1642) von Jean Desmarets de Saint-Sorlin.23 Als Hort der Vernunft und weltbürgerlichen Offenheit stellt die Aufklärung Europa dar.24 Sie amalgamiert den Gedanken der Einheit Europas mit der Vorstellung einer Gelehrtenrepublik (République des Lettres), mit kosmopolitischen Visionen und internationalen Friedensutopien von kontinentaler und globaler Reichweite; als Vorläufer hierfür lassen sich im 17. Jahrhundert Sullys Le Grand Dessein (1632) und Penns Essay towards the Present and Future Peace of Europe (1692) nennen, später u.v.a. Rousseaus Extrait du Projet de paix perpétuelle de Monsieur l’Abbé de SaintPierre (1761) oder Wielands Gespräche unter vier Augen (1799). Die Romantik wiederum stilisiert eine durch das Christentum hergestellte Verbundenheit Europas, die allein im Mittelalter verwirklicht worden, mit dem Heiligen Römischen Reich zerfallen sei und noch immer ihrer Wiederherstellung harre.25 Die Utopie einer politisch-christlichen und kulturellen Einheit des europäischen Kontinents wird gerade angesichts der Wiederkehr imperialistischer Europasymbolik im Zuge der napoleonischen Eroberungen unter französischer Führung virulent, wie sie etwa Jean Chas’ Parallèle de Napoleon Ier, avec Charlemagne (1805) betont. An das Konzept des Empire anknüpfend, prägt Victor Hugo in Analogie zu den United
22 Vgl. Camões, Os Lusíadas (1992) 3, 6 und 3, 20, S. 60 und 64. 23 Vgl. Ißler, Der Dreißigjährige Krieg (2014) und Ders., Europa Romanica (2015), S. 526-60. 24 Vgl. Steinkamp, L’Europe éclairée (2003). 25 Vgl. z.B. Novalis, Die Christenheit oder Europa (1799) oder Friedrich Schlegel, Zeitschrift Europa (1803).
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States of America den Begriff der „États unis de l’Europe“,26 die er später – zeitgenössischen Nationalismen und bevorstehenden Kriegen zum Trotz – als friedensstiftende Zukunftsvision („Vision majestueuse“) und Fundament für das Zusammenwachsen der gesamten Menschheit weiterentwickelt: „Cette nation [...] s’appellera l’Europe au vingtième siècle, et, aux siècles suivants, [...] elle s’appellera l’Humanité. [...] Le continent fraternel, tel est l’avenir.“27 Die europäische Politik und Identität stehen auch nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches und in der Friedensphase bis 1913 sowie während und zwischen den beiden Weltkriegen immer wieder im Zentrum öffentlicher Debatten, von denen Europa auf vielfältige Weise in Dienst genommen wird. Friedrich Nietzsche skizziert den „guten Europäer“ als antinationalistische und antichristliche Zukunftsgestalt; indem er zugleich vor einer möglichen Wiederholung der Entführungsgeschichte Europas in der Moderne und durch diese warnt, harmonisiert auch er Mythos und Erdteil: „Oh Europa! Europa! Man kennt das Thier mit Hörnern, welches für dich immer am anziehendsten war, von dem dir immer wieder Gefahr droht! Deine alte Fabel könnte noch einmal zur „Geschichte“ werden, – noch einmal – könnte eine ungeheure Dummheit über dich Herr werden und dich davon tragen! Und unter ihr kein Gott versteckt, nein! Nur eine „Idee“, eine „moderne Idee“!“28
Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts finden vielfach kontrastive Betrachtungen Eingang in den literarischen Europadiskurs, die dem Kontinent außereuropäische Gesellschaften und Kulturen gegenüberstellen. An Afrika faszinieren die Moderne wilde, primitive und archaische Lebensformen,29 an Indien und Ostasien stille Einkehr und Intaktheit.30
26 Hugo, Congrès de la Paix à Paris (1985). 27 Hugo, Introduction (1867), S. IV. Vgl. dazu auch Kraume, Das Europa der Literatur (2010), S. 51-63 und 109-26. 28 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 7, 239 (1988), S. 178. 29 Vgl. z.B. Claire Goll, Der Neger Jupiter raubt Europa (1926). 30 Vgl. z.B. Alfred Döblin, Die drei Sprünge des Wang-lun (1915), Hugo von Hofmannsthal, Die Idee Europa. Notizen zu einer Rede (1917), Hermann Keyserling, Reisetagebuch eines Philosophen (1918) und Hermann Hesse, Siddharta (1922).
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Nachdem die sogenannte Paneuropa-Idee (Richard Nicolas Coudenhove-Kalergi) dem Einheitsgedanken wieder eine Stimme in der Debatte über Europa verliehen hat, zersetzt ihn jäh die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Durch dessen Verheerungen bedingt, wird die Figur Europa in Literatur und Bildender Kunst bald zum Sinnbild der Zerstörung, des Verfalls und Untergangs der europäischen Zivilisation.31 Die mythische Europa, vor und während des Krieges zu Propagandazwecken sogar von den Nationalsozialisten instrumentalisiert (so zum Tag der Deutschen Kunst 1937 in München oder zum Europäischen Jugendkongress 1942 in Wien), wird von Schriftstellern des Widerstandes zugleich gegen Hitlers Usurpation von Ländern und Kulturerbe gewendet und erscheint nach dem Krieg als Vergewaltigungsopfer.32 Die Erschütterung über die Selbstzerstörung des Kontinents im Zuge der Weltkriege wirkt in der Literatur nach 1945 lange nach, und selbst wenn die europäische Geschichte und Kultur hier ihre wohl tiefste Krise erlebt, bleibt die Kraft des Mythos noch immer ungebrochen und erweist sich als höchst produktiv. In der vom Wiederaufbau geprägten Phase nach dem Zweiten Weltkrieg erstarkt auch wieder die supranationale Idee ‚Europa‘ und findet über politische und ökonomische Wiederannäherungsbestrebungen zunehmende Verbreitung. Über die Konstituierung zunächst des Europarats (1949), sodann der Westeuropäischen Union (1954), weiterhin der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft (EWG, EURATOM, Römische Verträge 1957) und ferner der Europäischen Gemeinschaft (EG, 1993) gewinnt die Idee der Staatengemeinschaft sukzessive an Bedeutung und gipfelt schließlich in ihrer Institutionalisierung im Projekt der Europäischen Union (Vertrag von Lissabon, 2009). Diesen ‚Aufbruch‘ begleiten Literaten wie Alfred Döblin (Das permanente geistige Europa, 1952) oder Rudolf Pannwitz (Beiträge zu einer europäischen Kultur, 1954 und Aufgaben Europas, 1956). Mit der geistigen Aufarbeitung der unseligen und verstörenden nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren katastrophalen Folgen koinzidiert in der literarischen Europa-Diskussion ab den 1960er Jahren die Bedrohung durch den sogenannten Kalten Krieg.33 Akzentuiert Heinrich Böll
31 Vgl. z.B. Klaus Mann, Die Heimsuchung des europäischen Geistes (1949). 32 Vgl. z.B. Richard P. Blackmur, The Rape of Europa (1947) und Johannes Bobrowski, Europa (1950). 33 Vgl. insbesondere Lützeler, Die Schriftsteller und Europa (1992), S. 442-82.
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explizit die osteuropäischen Staaten als Teile Europas (Europa – aber wo liegt es? [1978]), so greift beispielsweise der tschechisch-französische Exilschriftsteller Milan Kundera auf den antiken Mythos vom Raub der Europa zurück, indem er Teile Westeuropas als von Russland „verschleppt und einer Gehirnwäsche unterzogen“ bezeichnet.34 Trotz des politischen Einigungserfolgs steht das institutionelle Europa in der Postmoderne immer wieder auch in der Kritik. Hans Magnus Enzensberger etwa verkehrt das traditionelle Einheitssymbol Europas im Diktum „Uneinigkeit macht stark“ in sein Gegenteil (Eurozentrismus wider Willen) und wendet sich gegen den „riesigen supranationalen Wasserkopf“ EU-Brüssels: [„…W]ir haben jahrzehntelang eine Chimäre verfolgt: die europäische Einheit. Diese Idee stammt noch aus Zeiten, in denen alle Welt an den technischen Fortschritt, an Wachstum und Rationalisierung glaubte.“35 Die hier in kondensierter Form präsentierte Darstellung kann sich zwangsläufig nur an einzelnen exemplarischen Stationen orientieren. An diesen jedoch lässt sich gleichwohl zeigen, wie beide Stränge der Rezeption an der Prägung eines modernen Mythos ‚Europa‘ teilhaben. – Was aber geschieht mit dem antiken Mythos von Europa, wenn der neue Mythos mit der Gründung der Europäischen Union aus seiner ‚geschlossenen, stummen Existenz‘ heraustritt? Gelingt es der Moderne, den neuen Mythos vom alten zu scheiden – eine Distinktion, die seit der Antike immer wieder übertreten und umgangen wurde?
3. M YTHENÜBERSCHUSS , M YTHENDEFIZIT UND M YTHENRESERVE : E UROPA IN DER M ODERNE Anders, als man auf den ersten Blick meinen könnte, ist die Gründung der Europäischen Union mitnichten mit dem expliziten Anschluss an eine klassische Mythentradition verbunden. Trotz des, wie oben gezeigt, reichlich vorhandenen und seit Jahrhunderten bewährten Bildinventars wird der Mythos vom Raub der Europa gerade nicht bemüht, als die politischökonomische Staatengemeinschaft ins Leben gerufen wird. Vor dem Hin-
34 Kundera, Die Tragödie Mitteleuropas (1986), S. 134. Zur osteuropäischen Europawahrnehmung vgl. weiterhin Hanshew, Europa (2006). 35 Enzensberger, Ach Europa!, „Böhmen am Meer“, S. 481.
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tergrund der enormen Fülle von Überblendungen der mythischen Europafigur mit der ihr angenäherten Kontinentalidee wird es merkwürdig still, wenn man nach mythischen Identifikationsmustern der Europäischen Union fragt. Tatsächlich gibt es keine offizielle politische Symbolik, die einen Bezug zum antiken Europamythos aufwiese: Das „Europa der Gegenwart“, so drückt es treffend der Rechtswissenschaftler Roland Bieber aus, „versteht sich nicht als der Hafen, in dem der seltsame Stier seine Bürde abgeworfen hat. Viel eher will das moderne Europa selbst Vehikel von Ideen und Interessen sein.“36 Repräsentiert der Neuanfang der europäischen Einigungsidee also einen Neuanfang mit neuen Mythen? – Es gibt, so konstatiert der Rechtshistoriker Markus Göldner, „keine Ideale, welcher Natur auch immer, die es sich leisten könnten, ohne Symbole auszukommen.“37 Die offiziellen „Symbole der Union“ sind in aller Kürze nachzulesen in der vor einem Jahrzehnt fixierten, seinerzeit gleichwohl nicht ratifizierten EU-Verfassung vom 29. Oktober 2004. Dort heißt es in Artikel 8: „Die Flagge der Union stellt einen Kreis von zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund dar. Die Hymne der Union entstammt der „Ode an die Freude“ aus der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Der Leitspruch der Union lautet: „In Vielfalt geeint“. Die Währung der Union ist der Euro. Der Europatag wird in der gesamten Union am 9. Mai gefeiert.“38
Kein Wort also von der mythischen Europa auf dem Stier. Die öffentliche Symbolgebung, gleichsam ein Neuanfang auf einer tabula rasa, scheint geradezu ostentativ auf den alten Mythos zu verzichten. Sucht die Europäische Union – so könnte man annehmen – mit der Verweigerung dem Mythos gegenüber das Eingeständnis innerer Widersprüche zu verbergen, wie sie im antiken Mythos durchaus mitschwingen, gleichwohl aber auch im Leitspruch der Union aufscheinen?39
36 Bieber, Auf dem Stier (2009), S. 415. 37 Göldner, Politische Symbole (1988), S. 29. 38 Zit. nach Bieber, Auf dem Stier (2009), S. 421. Aktuell zur Euro-Währung s.u.; die Hintergründe der Einführung der Symbole werden ausführlich beschreiben und diskutiert von Markus Göldner, Politische Symbole (1988). 39 „Die Konstruktion Europas wird gleichzeitig durch Integrations- und Abgrenzungsbedürfnisse bestimmt und ist nicht selten von kontinentalhegemonialen
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„Zum einen erzählt bereits der antike Mythos von der Schwierigkeit, klare Grenzen zwischen Europa und Nicht-Europa zu ziehen; zum anderen weist er mit seinem Subtext von Begehren, Verschleppung und Gewalt auf eine Reihe von Elementen voraus, die im Kontext der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung auch die wechselvolle Geschichte des Kontinents über die Jahrhunderte hinweg prägen werden.“40
Der Historiker Wolfgang Schmale diagnostizierte bereits vor der Jahrtausendwende Europas „Mythendefizit“ und fragte unter anderem resigniert nach dem modernen ‚Kuschelfaktor‘ der antiken Königstochter: „Warum kommt unter den populären Mythen, die, um es kurz zu machen, vom VWKäfer bis zu Bismarck reichen, kein Europamythos vor? [...] Wer will schon mit der mythischen Europa kuscheln? Das verspricht nichts.“41 Indes ist das Bedürfnis nach einer Bebilderung des modernen Europas in der Tagespresse längst evident geworden. Vor einigen Jahren wurde der Leidensdruck der Journalisten so groß, dass sich die französische Presse in Ermangelung einer ikonographischen Referenz auf die Suche nach einem (neuen) Symbol für Europa begab. Diese Initiative der Wirtschaftszeitung La Tribune vom Januar 2009 deutet an, dass die Europäische Union ohne eine motivische Umsetzung – und sei es, dass man auf die SternenkranzFlagge, auf Abbildungen der Kongressgebäude oder klassische Gruppenfotos von EU-Abgeordneten zurückgreift – für Berichterstatter nur schwer darstellbar ist: „[…I]l est vraiment difficile pour les journaux d’illustrer les Vingt-Sept quand ils veulent montrer autre chose que des drapeaux, des bâtiments officiels ou des ‚photos de famille‘!“42 Die Feststellung des offenkundigen Symbol- oder Emblemmangels der EU („l’Union européenne souffre d’un déficit d’incarnation évident“) brachte die Tageszeitung auf
Ansprüchen motiviert. Der Wahlspruch der Europäischen Union In varietate concordia drückt das Bewusstsein für die dauerhaft schwierige Gratwanderung zwischen dem Wunsch nach Einheit und den diesem Wunsch eigentlich entgegenstehenden Bestrebungen nach Distinktion aus.“ (Kraume, Europa (2014), S. 115). 40 Ebd. 41 Schmale, Scheitert Europa? (1997), S. 13. 42 Noghès, Quel animal? (2009). Auf diese Quelle stützen sich auch alle nachfolgenden Zitate des Artikels.
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die Idee, mittels einer Umfrage unter den EU-Abgeordneten zu ermitteln, welches Wappentier Europa am ehesten repräsentiere, wollten sie anstelle des schlichten Abstraktums, das die amtliche Europaflagge mit dem Sternenkranz auf blauem Grund darstellt, der heraldischen Tradition mit ihrer in den europäischen Staaten verbreiteten Tiersymbolik – man denke etwa an den Löwen, den Adler oder das Pferd – folgen. Die Auswertung der Zuschriften mag vor dem Hintergrund der offiziellen EU-Symbolik überraschen – und überrascht doch letztendlich nicht, denn sie stützt die hier zugrundeliegende Hypothese von der Persistenz des alten Mythos von Europa. Sieht man von der Taube ab, die als Friedenssymbol immerhin an zweiter Stelle genannt wurde, so bricht hier tatsächlich eine mythische Tradition hervor, die in der europäischen Bevölkerung ganz offenbar auch jenseits der offiziellen Institutionen ikonisch präsent ist: Das meistgenannte und am bestimmtesten verfochtene Wappentier war der Stier. Als der verwandelte Zeus bzw. Jupiter gedeutet, beglaubigt ihn – und hier keimt das alte Missverständnis erneut auf – der vermeintlich mythische Ursprung des europäischen Kontinents, wie die Zeitung expliziert: „[Il] tire donc sa légitimité des origines onomastiques de notre continent“. Für den Stier als Symboltier der Europäischen Union plädiert ausgerechnet der Historiker und Symbolforscher Michel Pastoureau, den die Zeitung dazu befragt. Dem (mythischen) Stierattribut verweigern könne man sich nur um den Preis der Ignoranz einer zweieinhalb Jahrtausende umfassenden europäischen Kulturtradition, bekräftigt er: „Je ne peux imaginer un autre choix que le taureau […]. Ce serait tourner le dos à vingt-cinq siècles d’histoire qui ont constamment donné à l’Europe un taureau pour attribut.“ Dem wäre gleichwohl die kaum weniger alte Einsicht Herodots entgegenzuhalten, nach welcher der Erdteilname mit dem Mythos von der Entführung der Europa gerade nicht kausal verbunden sei. Sind der zitierte Presseartikel und Pastoureaus Eintreten für den Stier mithin als sensationslustige oder lückenfüllende Zeitungsmeldung bzw. als vorschnelles Urteil zu relativieren? Ist die inkorrekte Ineinssetzung der mythischen mit dem historischen Europa schlicht einer ungenauen Recherche oder mangelnder Skepsis kulturhistorischen Quellen gegenüber geschuldet? Das Problem ist komplexer, der Urgrund der Verwicklung vermutlich tiefer. Das Beispiel offenbart auf paradigmatische Weise, was sich gleichermaßen an vielen weiteren beobachten lässt: Sei es durch die Evokation des Stiers, sei es durch die Personifizierung der Europa als geraubte Kö-
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nigstochter – der alte Mythos dringt immer wieder wie von selbst an die Oberfläche. Der in dem Beispiel offengelegte Ermessensspielraum selbst bezeugt auf luzide Weise den latenten und stets aufs Neue hervorbrechenden Zusammenhang zwischen dem antiken Mythos vom Raub der phönizischen Prinzessin Europa und der Kontinentalbezeichnung; selbst dann, wenn er historisch nicht belegt werden kann. In dieser künstlichen Herleitung liegt zugleich ein Schlüssel für die Faszination, die nach wie vor in ästhetischer Perspektive, speziell in literarischen Texten, aber auch in der Bildenden Kunst, von der Entführungsgeschichte auszugehen scheint. Ist diese Konstruktion selbst nicht gerade Teil des modernen Mythos von Europa? Tatsächlich wird die offizielle EU-Symbolik in Schrift und Bild auf verschiedenen Ebenen unterlaufen, und nicht allein die literarische, sondern gerade auch publizistische und selbst (kultur)wissenschaftliche Aussagen tragen allenthalben dazu bei. Schier unermüdlich wird die phönizische Königstochter – wider bessere Einsicht oder auch unbewusst – nach wie vor zur Namensgeberin des europäischen Kontinents stilisiert. Nicht nur, dass Bucheinbände oftmals mit der mythischen Europa auch dann illustriert werden, wenn allein der Kontinent oder die Staatengemeinschaft als Politikum gemeint sind. Nicht selten steht die Wiedergabe des Frauenraubs am Beginn von Einführungen, wenn der Mythos gar nicht zentraler Gegenstand der Betrachtung ist. Die Persistenz des Mythos äußert sich oftmals sogar in nachträglichen Interpretationen des Mythos im Hinblick auf den Kontinent Europa. Selbst Darstellungen zur europäischen Kulturgeschichte, die den antiken Mythos sogar ausdrücklich auszublenden vorgeben, beginnen bisweilen mit unhaltbaren Sätzen über den zumindest nominellen Zusammenhang der mit dem Europa und nehmen eine rhetorische Vermengung der mythischen Entführung mit der historischen Genese und politischen Entwicklung des Erdteils Europa, seiner Nationen und der Europäischen Union in Kauf. „Wer den Ursprung Europas sucht“, so suggerieren W. Christian Lohse und Josef Mittlmeier im Vorwort zu einer Festschrift der Regensburger Universität anlässlich des 50. Jahrestags der Römischen Verträge (2007), „findet ihn im griechischen Gründungsmythos über die Entführung der na-
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mensgebenden phönizischen Königstochter Europa durch den Göttervater Zeus in Stiergestalt.“43 „[U]nser Erdteil […] verdankt seinen Namen einem kleinasiatischen Mädchen, deren Geschichte in der griechischen Mythologie erzählt wird“, behauptet Carsten Peter Thiede im Auftrag des Presse- und Informationsamts der deutschen Bundesregierung.44 „Europe fut d’abord une personne humaine ou divine imaginée par les Grecs, puis devint l’éponyme d’un continent et ce continent lui-même“, bekräftigt Émile Lavielle in einem einschlägigen Aufsatz,45 und der Petit Larousse konstatiert in Bezug auf den Raub der Europa: „Telle est l’origine mythique de l’Europe“.46 Von der „histoire des origines divines de l’Europe, l’histoire du dieu amoureux d’une fille de roi qu’il [sic] se changea en taureau et l’enleva sur son dos“ spricht auch der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom.47 Und in einer Darstellung zum politischen System der Europäischen Union liest man: „Die Idee eines vereinten Europa war keineswegs neu – wenn auch nicht so alt wie der Name des Kontinents. Der Mythos von der phönizischen Prinzessin, die von Zeus entführt und aus ihrer asiatischen Heimat in ein Land gebracht wurde, dem sie ihren Namen gab, deutet auf die Herkunft Europas aus Asien.“48 Die Fabulierlust, mit der selbst ein seriöser Historiker wie Norman Davies die Kontinentalgeschichte ausdeutet und mit dem antiken Entführungsmythos zu vereinbaren sucht, lässt sich besonders deutlich an seiner gesamteuropäischen Geschichtsdarstellung ablesen: „The legend of Europa has many connotations. [...] But in carrying the princess to Crete from the shore of Phoenicia (now south Lebanon) Zeus was surely transferring the fruits of the older Asian civilizations of the East to the new island colonies of the Aegean. […] Europa’s ride also captures the essential restlessness of those who followed in her footsteps. […] The unknown waited in the west, in destinations still to
43 Lohse/Mittlmeier, Europas Ursprung (2007), S. 7. (Hervorhebungen R.I.). 44 Thiede, Wir in Europa (1995), S. 13. (Hervorhebungen R.I.). 45 Lavielle, Europe (1993), S. 13. (Hervorhebungen R.I.). 46 L’Europe (2003), S. XLIX. 47 Nooteboom, L’Enlèvement d’Europe (1994), S. 13. (Hervorhebungen R.I.). 48 Herz/Jetzlsperger, Die Europäische Union (2008), S. 15f. (Hervorhebungen R.I.).
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be discovered. Europa’s curiosity may have been her undoing. But it led to the founding of a new civilization that would eventually bear her name and would spread to the whole Peninsula.”49
Die Liste ähnlicher Aussagen über die vermeintliche Geburt des Erdteils aus dem Mythos lässt sich beliebig erweitern und wird sich vermutlich auch in künftigen Abhandlungen über Europa variantenreich fortsetzen.50 Dies erstaunt umso mehr vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die offizielle EU-Symbolik selbst auf die Inszenierung des antiken Entführungsmythos verzichtet. Im allgemeinen Bewusstsein der Europäer charakterisiert jedoch bis in die jüngste Zeit hinein eine Verkettung und Vermischung das Verhältnis zwischen dem Kontinent und Politikum Europa auf der einen, dem Mythos von der geraubten Königstochter auf der anderen Seite. Immer wieder wird diese Verbindung und Überblendung der beiden Rezeptionsstränge im Umkreis der Gründung, Institutionalisierung und (Selbst-)Inszenierung der Europäischen Union, etwa anlässlich von Gedenktagen und Vertragsjubiläen, im öffentlichen Diskurs aufgerufen und aktualisiert. Allein in einer Anthologie französischer Gedichte, die 1993 anlässlich der Feierlichkeiten zu Unterzeichnung und Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages erschien, weisen nicht weniger als elf Texte einen expliziten antiken Mythosbezug auf51. Auch in der Darstellenden Kunst ist der Mythos im Kontext der Europäischen Union nach wie vor präsent. Skulpturen und Monumente an öffentlichen Plätzen, welche die eingängige Entführungsszene der auf dem Stierrücken übers Meer reitenden Königstochter tableauartig nachstellen, bezeugen vielerorts, der inhaltlichen Entmythisierung im realpolitischen Zusammenhang zum Trotz, den ikonischen Bezug zur klassischen Mythologie. Von dem belgischen Künstler Olivier Strebelle stammen beispielsweise zwei vom Raub der Europa inspirierte Brunnenskulpturen im Stadtzentrum von Brüssel und auf dem Europaplatz in Moskau. Auch die Statue Abduction of Europa vor dem Straßburger Europaparlament greift den Mythos nicht allein im Titel auf. 2005 von den aus Kreta stammenden Brüdern So-
49 Davies, Europe (1997), S. xviiif. (Hervorhebungen R.I.). 50 Weitere Beispiele siehe auch in Ißler, Europa Romanica (2015), S. 34ff. 51 Vgl. Grassin, Les Poètes et l’Europe (1993).
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tiriadis geschaffen, stellt sie eine – übrigens verkehrtherum – auf einem Stier reitende Frau dar.52 Dass das antike Paar zunehmend für Inhalte der Europäischen Union in Dienst genommen und auf wundersame Weise mit der Staatengemeinschaft assoziiert wird, lässt sich nicht nur in literarischen und bildkünstlerischen Werken, sondern besonders eingängig auch an der (politischen) Karikatur ablesen. Die immense Materialfülle, welche die tägliche europapolitische Berichterstattung in der politischen Publizistik ikonographisch in Form von Karikaturen begleitet, macht die Persistenz der Verbindung der Europa mit dem Europa besonders augenfällig. Die Karikatur ermöglicht es, tagespolitische Ereignisse in kondensierter Form und auf humorvolle Weise darzustellen. Ein pointiertes Bild bündelt und verdichtet dabei skizzenhaft komplexe Zusammenhänge von aktualpolitischer Relevanz und europäischer Tragweite. Tatsächlich werden der Kontinent und die politische Einheit Europa, seit den 1990er Jahren die Europäische Union, mit Vorliebe mit der Prinzessin Europa auf dem Stier in Verbindung gebracht.53 So scheint geradezu eine gegenläufige Tendenz die amtliche Mythenfeindlichkeit bzw. Mythenreserve der Europäischen Union zu unterwandern, die auch hier ein latentes Bedürfnis, zumindest eine Empfänglichkeit für mythische Narrative zum Vorschein bringt. Auffällig ist dabei, dass diese Empfänglichkeit nicht selten mit einer ikonischen Wahrnehmung des Entführungsmythos einhergeht; der Mythos verdichtet sich im Bild und verbindet sich in dieser Form implizit mit identifikatorischen Mustern, über welche die Europäische Union sich zu definieren sucht und stilisiert. Mit dem EU-Europa, und vermutlich proportional dazu, geht gleichsam eine populäre und künstlerische Remythisierung des alten Mythos einher, die sich jenseits der institutionellen Aussagen und Europabekenntnisse vollzieht. Wo dem institutionalisierten Europa eine offizielle Symbolik abgeht, springen Karikatur, Bildkunst und Literatur ein. Alle Beispiele, insbesondere im Bereich der Karikatur, arbeiten mit dem Wiedererkennungs-
52 Abbildungen beider Skulpturen in Renger/Ißler, Europa – Stier und Sternenkranz (2009), S. 449 (Taf. XXVI) und 452 (Taf. XXXII). 53 Das Interesse der Karikaturisten an Europa erwacht gleichwohl nicht erst mit der Entstehung der EU, sondern besaß im 19. Jahrhundert bereits große Aktualität. Zu internationalen Beispielen aus der Gegenwart vgl. u.a. Roba, Princess Europe (2010); Jones, Europa in der Karikatur (2008); und Lohse, Zeitreise (2007).
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wert, der unweigerlich dem Raub der Europa im Portrait der Prinzessin auf dem Stier eignet und aufgrund dessen Ikonizität die überlieferte mythische Begebenheit immer wieder mobilisiert zu werden vermag, selbst dann, wenn der Rezeptionsstrang des Mythos inhaltlich vollständig ausgeblendet bleibt und hinter den politischen Europadiskurs zurücktritt. Das jeweils gemeinte Politikum Europa erschließt sich im Motiv des Mythos, gerade weil die Verbindung der Rezeptionsstränge seit der Antike weit genug fortgeschritten ist. So bietet die auf dem Rücken eines Stiers reitend dargestellte weibliche Figur dem schwer dinglich fassbaren Abstraktum der Europäischen Union noch immer ein vielfältig aufgeladenes, eindringliches Bild. Abbildung 2: Wasserzeichen der 5-Euro-Banknote und Ausschnitt aus dem neuen Design der 20-Euro-Banknote der Europa-Serie.
Quelle: EZB, Der Mythos der Europa (o. J.).
4. E IN
NEUES
G ESICHT
FÜR
E UROPA ?
Ein emblematisch seit jeher besonders aussagekräftiger Bereich, der sich traditionell ebenfalls oftmals mythischer Darstellungen bedient, wurde bisher ausgespart: das Feld der Philatelie und Numismatik. Tatsächlich ist die EU-Symbolik gerade hier in der letzten Zeit besonders in Bewegung geraten. Der Blick auf Briefmarken und Ersttagsstempel, Medaillen und Sonderprägungen, vereinzelt auch auf Banknoten einzelner europäischer Staaten, enthüllt eine ganze Reihe von Darstellungen der geraubten mythischen Europa. Während sich insbesondere die Gestaltung philatelistischer Zeug-
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nisse ähnlich dem obigen Beispiel dem offiziellen Mythenmangel der Europäischen Union gegenüber unbeugsam gezeigt hat – es finden sich zahlreiche Belege von Darstellungen des Europamythos auf Briefmarken zu allen Zeiten, die einen Kontinentalbezug durchaus implizieren –, waren Münzen und Banknoten der Europäischen Zentralbank (EZB) bislang der amtlichen Symbolik der Europäischen Union verpflichtet, der die mythische Europa bislang nicht als Repräsentantin des Kontinents diente. Der Euro, im Jahr 2002 auf der Grundlage der seit 1999 zwischen elf Europäischen Staaten bestehenden Europäischen Währungsunion (EWU) als international gültiges Zahlungsmittel eingeführt, greift – zunächst unabhängig vom antiken Mythos – den Erdteilnamen auf. Die Gestaltung des Münzgeldes folgt dem Leitspruch der Europäischen Union, in varietate concordia: Liegt allen Euromünzen die gleiche Vorderseite mit den kartographischen Umrissen der Mitgliedsländer zugrunde, so zeigt die Rückseite länderspezifische Variationen. Die meisten Euro-Länder bedienen sich des mythischen Motivs allein auf Sonderprägungen und Medaillen. Als einziges der an der Währungsunion beteiligten Länder hat Griechenland die Prägung eines Raubs der Europa auf einer Umlaufmünze eingeführt und zeigt auf der 2-Euro-Münze die Entführungsszene unter Verwendung eines spartanischen Mosaiks aus dem 3. Jahrhundert.54 Um einen neuen Mythos ‚Europa‘ zu etablieren und seine Akzeptanz zu befördern, wäre es für die EZB ein Leichtes, den alten Mythos als ahistorisch zu entlarven. Doch vielmehr hängt auch diese Institution an der antiken Überlieferung: Mit der erst vor kurzer Zeit in Umlauf gekommenen zweiten Generation der Euro-Banknoten scheint die mythische Europa in die Europäische Union allmählich offiziell Einzug zu halten. Ausgerechnet die Königstochter des Mythos erhält hier im Kontext der EU ein offizielles Gesicht und erobert die Euro-Banknoten, auf denen sie seit deren Einführung nie präsent war: Seit dem 2. Mai 2013 sind in der gesamten EuroWährungszone die 5-Euro-, seit dem 23. September 2014 die 10-Euro-, ab dem 25. November 2015 auch die 20-Euro-Noten der sogenannten „Europa-Serie“ im Umlauf, die in gestaffelter Einführung künftig auch alle weiteren Banknoten ersetzen soll: Auf ihnen allen prangt ein stilisiertes Wasserzeichen-Portrait (vgl. Abbildung 2) der von Zeus entführten Prinzessin, die
54 Abbildung vgl. in Renger/Ißler, Europa – Stier und Sternenkranz (2009), S. 93 (Abb. 11).
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einem rotfigurigen Krater aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. nachempfunden wurde.55 Die wechselvolle Geschichte der Vase und ihrer Reise durch den europäischen Kulturraum bis zu ihrer Musealisierung wird dabei zum Bild für den charakteristischen Kulturtransfer des modernen Kontinents, wie die EZB in einer Präsentation der Noten erläutert. Demnach „kommt in der komplexen Geschichte der Vase der kulturelle Austausch zum Ausdruck, der die europäische Identität formte. Die Vase entstand um 360 v. Chr. in der süditalienischen Region Tarent. Dort lebten damals Griechen und Italiener Seite an Seite. Die griechischen Wurzeln der Vase verdeutlichen die Bedeutung der Antike bei der Prägung einer gemeinsamen Kultur. Diese Vase ist das Werk eines Griechens [sic], der in Süditalien lebte. Sie wurde Anfang des 19. Jahrhunderts vom Louvre erworben und ist heute auch dort ausgestellt.“56
In einem mehrsprachigen Kurzfilm der EZB, der die Einführung der neuen Notenserie begleitet57, beschreibt die Kunsthistorikerin Anne Coulié, Kuratorin der Abteilung Griechische Keramik des Louvre, das dort ausgestellte Stück mit den folgenden Worten: „Ce vase est un cratère qui servait au mélange, au mélange du vin et de l’eau. Au centre de l’image et au premier plan se trouvent les deux protagonistes. Donc à gauche cette jeune femme, bouclée, parée de bijoux, donc un collier, des bracelets, vêtue d’un vêtement finement plissé et devant elle un taureau, d’une blancheur éclatante, nous disent les textes, et qui semble s’incliner devant elle dans un geste de révérence. Il s’agit bien donc d’Europe et de Zeus métamorphosé en taureau.“58
Auch die Darstellung der Zentralbank betont ausdrücklich den erotischen Kontext des Mythos und hebt – ganz entgegen vieler anderslautender Deutungen mit Blick auf den Frauenraub und die unfreiwillige Verschleppung
55 Vgl. die Beschreibung dieser sogenannten „Europa-Serie“ in: EZB, Der Mythos der Europa (o. J.). 56 Ebd. 57 Vgl. EZB, The new face of the euro (o. J.). 58 Ebd.
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der Königstochter – die Verführungs- und Liebesszene zwischen Zeus und Europa deutlich hervor: „Warum wurde gerade diese Figur als Symbol Europas ausgewählt? Ein Grund ist die innovative Ikonografie, die Darstellung der Liebesgeschichte zwischen Zeus und Europa. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern vor ihm konzentrierte sich der Maler bei seiner Darstellung nicht auf die Entführung Europas durch Zeus in Gestalt eines Stiers, sondern auf die vorangehende Verführungsszene. Durch die Liebesgöttin Aphrodite und ihren Sohn Eros fügt sich diese Szene in die Liebesmythologie ein. Gut erkennbar sind die Koketterie der reich geschmückten Europa, deren Abbild sich im Teich spiegelt, und die Geste der Ehrerbietung des prächtigen weißen Stiers, von dem die Mythologie kündet. Wir sehen hier also eine verführerische Europa.“59
Die Europäische Zentralbank distanziert sich mit der Einführung der neuen Notenserie auf bemerkenswerte Weise von der politischen EU-Symbolik, die, wie gezeigt, den antiken Mythos weiterhin offiziell ausspart. Der Leiter der EZB selbst, Mario Draghi, bezieht in dem Kurzfilm dazu Stellung und legitimiert die Wahl der Darstellung mit den folgenden Worten: „Portraits have long been used in bank notes all over the world and research has shown that people tend to remember faces. That’s why we chose to include a face in the second series of euro bank notes. The hologram and the water mark include an image of Europa, a figure from greek mythology.”60
Auch Draghi revitalisiert bemerkenswerterweise in der Folge die jahrhundertelang überlieferte Auffassung, nach der die Kontinentalbezeichnung auf die Protagonistin des Mythos zurückgehe: „Our continent was named after her and we found a perfect illustration in the Louvre of how she was depicted over 2000 years ago.“61 Durch die Reprise des Namens in der Wäh-
59 EZB, Der Mythos der Europa (o. J.). Vgl. dagegen kritisch Widmann, Europa ist nicht zu retten (2012): „Man geniert sich ein wenig, aber dieses Europa ist die Geschichte einer Vergewaltigung. Vielleicht auch einer Verführung. Aber es ist keine Liebesgeschichte. Das Europa, in das wir nach dem Krieg hineingeboren wurden, ist eine Erfolgsgeschichte. Und darum verführerisch.“ 60 EZB, The new face of the euro (o. J.). 61 Ebd. (Hervorhebung R.I.).
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rungsbezeichnung kehrt die EZB den Namensgebungsprozess um: Nicht etwa Europa (der Kontinent) ist nach Europa (der Königstochter) benannt, sondern diese verleiht dem Euro (der Währung) ihr Gesicht: „We chose Europa because these are euro bank notes after all. So is there any figure better than Europa to serve as the new face of the euro?“62 Abbildung 3: Tomas Schats, Europa, 2010.
Quelle: Collection Alain Roba, Bruxelles.
5. F AZIT : D IE P ERSISTENZ IN DER M ODERNE
DES ALTEN
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Die Frage nach Europa ist – zumal innerhalb der Grenzen des geographischen Raums Europa selbst – großenteils eine Beschäftigung mit dem eigenen Ursprung und eine Suche nach der eigenen Identität. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Aktualität, welche die Europäische Union besitzt und durch welche sie spätestens seit der symbolischen Hochzeit ihrer Staaten im Maastrichter Vertrag (1993) und der Währungsunion (1999) international im Zentrum der öffentlichen Diskussion steht, kann das kontinuierliche, seit Jahrzehnten anhaltende Interesse der Öffentlichkeit an dem Gegenstand kaum verwundern. Europapolitische Ereignisse wie der turnusmäßige Wechsel der Ratspräsidentschaft, Aufnahmeverhandlungen, größere Jubiläen wie 2007 der 50. Jahrestag der Römischen Verträge mit ihren transnationalen Feier- und Gedenkveranstaltungen, aber auch Krisen wie EU-kritische Referenda, die Haushaltsrettung Griechenlands oder die 62 Ebd. (Hervorhebung R.I.).
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Unabhängigkeitsbestrebungen Schottlands tragen dabei zur öffentlichen Wahrnehmung Europas bei, strahlen länderübergreifend auf das allgemeine Europabewusstsein aus und befördern ein internationales und vernetztes Denken in der affirmativen wie kritischen Reflexion über die Staatengemeinschaft. Gilt die Ursprungs- und Identitätssuche ohne Einschränkung für den modernen Alltags-Mythos vom geographisch-politisch-juristisch-ökonomischen Europa, im engeren Sinne für die Europäische Union und ihre vormaligen internationalen Bündnisse, so wird auch die mythische Wurzel des Namens nachhaltig von ihr berührt. Ganz entgegen der zweieinhalb Jahrtausende alten Mahnung Herodots, den einst unbenannten dritten Erdteil mit dem Namen der geraubten phönizischen Königstochter nicht zu vermischen, drängt sich die Suche nach der mythischen Herkunft immer wieder in die historische Ursprungsfrage hinein. Das Bild einer jungen Frau auf dem Rücken eines Stiers, wie Françoise Létoublon es beschreibt, scheint in einem auf kulturelle Identifikationsangebote angewiesenen Europa einen besonderen Nerv zu treffen und nachhaltiger zu wirken als die Neuschöpfung eines modernen Mythos ‚Europäische Union‘: „L’image d’une jeune fille traversant, sur le dos d’un taureau, la Méditerranée, de Phénicie jusqu’en Crète, représentation mythologique d’Europe enlevée par Zeus, ancêtre de la prestigieuse race ‚minoenne’, semble avoir retrouvé une sorte de vitalité moderne dans une Europe à la recherche de valeurs culturelles fortes.“63
Identitätszuweisungen infolge von Selbst- und Fremdbeobachtungen, der Erdteilstatus und nicht zuletzt die europäische Geschichte selbst tragen dazu bei, dass der alte Name Europa, nicht nur die mit ihm verbundene weibliche Person, zu verschiedenen Zeiten als Mythos wahrgenommen wurde und bis heute als moderner Mythos fortlebt. Als solcher steht er, je nach Blickwinkel, bald für die abendländisch-humanistische Kultur, für die Einheit, aber auch für die hegemoniale Weltmacht und zivilisatorische Überlegenheit, bald für Vernunft und Kosmopolitismus. In allen diesen Funktionen wird er bis heute nicht müde, an die Königstochter des antiken Mythos zu gemahnen, die im offiziellen Bildinventar der europäischen Staatengemeinschaft so auffallend unauffällig ist.
63 Létoublon, Europe et l’Europe (2000), S. 315.
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Europa ist ein kultureller Mythos, nicht ein Gründungsmythos im klassischen Sinne. Anders ausgedrückt: Der Raub der Europa durch Zeus ist weder die historische noch die mythologische Grundlage für die Europäische Union, die Landnahme und Kolonisierung Kretas im Mythos steht nicht am Anfang einer Entwicklung, die – wenn überhaupt einer historischen Chronologie folgend darstellbar – Jahrtausende später bruchlos in die Etablierung einer politisch-ökonomischen Staatengemeinschaft mündete. Die Europa, die Europa des Mythos, kommt problemlos aus ohne die Aktualisierung ihres Namens im Zeichen des Sternenkranzes. Ob das Europa des Staatenverbunds umgekehrt tatsächlich auf den Mythos verzichten kann, ist fraglich. Die Persistenz des Europamythos im Bildinventar der europäischen Staatengemeinschaft verweist jedenfalls auf ein offenkundiges Charakteristikum der Moderne und unserer nachmodernen Gegenwart: auf den Fortbestand des Bedürfnisses nach Mythen – im Sinne von ikonisierbaren Narrativen, die, zumal in ihren bildlich verdichteten Repräsentationen, ein spezifisches Identifikationspotential bereithalten und wachrufen. Nur so ist erklärlich, dass sowohl der Stier als auch der Sternenkranz bis heute kaum trennbar mit Europa verbunden sind. Die doppelte Rezeption ermöglicht dabei ein Nebeneinander des alten und des neuen Mythos von ‚Europa‘. Das Bemerkenswerte an gerade diesem modernen Mythos ist seine nur scheinbare Unabhängigkeit von dem jahrhundertelang tradierten Narrativ, die nur bedingt aufrechterhalten zu werden vermag. Die politische Symbolik ist kulturgeschichtlich im Grunde folgerichtig, solange sie zu dem mythischen Raub der Europa auf Distanz geht. Die Persistenz des Mythos jedoch zwingt sie bisweilen zu Konzessionen, die in der Moderne gleichwohl immer wieder höchst produktiv werden und zur Verfestigung und Kanonisierung eines neuen, mit dem alten verbundenen Mythos ‚Europa‘ beitragen.
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Nach Kolumbus: Das Figurenarsenal amerikanischer Gründungsmythen im Kontext von Kanondebatten und ‚Culture Wars‘ H EIKE P AUL
1. E INLEITUNG Der Mythos von Kolumbus und der ‚Entdeckung‘ Amerikas ist eine Erzählung der ‚alten Welt‘ über die vermeintlich ‚neue‘. Im Zuge europäischer Vorstellungen über den ‚Rest‘ der Welt und Expeditionen in außereuropäische Erdteile wurden im sogenannten Zeitalter der Entdeckungen vielfach andere und ‚neue‘ Welten zunächst imaginiert und dann auch ‚gefunden‘.1 Kolumbus griff die Vorstellungen und Sehnsüchte seiner Zeit auf und thematisierte sie in seinen Schriften in wirkmächtiger Weise.2 Später wird das von ihm und seinen Zeitgenossen erstellte und verwendete rhetorische Repertoire in vielfältigen (auch nationalen) Kontexten mit unterschiedlichen Intentionen fortgeschrieben. Es ist von einem starken Machtgefälle zwischen europäischer Selbst- und amerikanischer Fremdbeschreibung geprägt und inauguriert nach François Hartog eine „rhetoric of otherness“ des Wes-
1
Vgl. hierzu Holloway, Heavens on Earth (1966) und Greene, The Intellectual
2
So zu finden im Brief des Kolumbus, der als „Erster Brief aus der Neuen Welt“
Construction of America (1993). betitelt ist. Vgl. Wallisch, Kolumbus (2000).
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tens über den ‚Rest‘ der Welt.3 Als transatlantischer Held und als Symbol eines Neu-Anfangs wird Kolumbus auch zu einer US-amerikanischen Gründerfigur und zu einem frühen Nationalhelden der Amerikaner gemacht, der vermeintliche (weiße) amerikanische Nationaltugenden, sozusagen avant-la-lettre, vereint. ‚Columbia‘ wird zum poetischen Namen der USA, deren Hauptstadt, benannt nach George Washington, im District of Columbia liegt.4 Es sind amerikanische Gründungsmythen wie die des Kolumbus, ihre oftmals kuriose Genese und ideologische Indienstnahme, die hier im Folgenden von Interesse sind und denen ich im Hinblick auf Strategien der Fundierung, ihre Kulturspezifik und die Prozesse ihrer Kanonisierung und Revision nachgehe.5 Dabei ist das Augenmerk auf die Implementierung und Sedimentierung zivilreligiöser Vorstellungen der Nation als „imagined community“ (Anderson) gerichtet, die sich bereits im 18., aber insbesondere im 19. Jahrhundert mit einer „usable past“ (Commager) versorgt, die weit vor ihren eigenen Beginn und ihre eigene Zeitrechnung zurückreicht und, wie im Fall von Kolumbus, auch jenseits ihres nationalen Territoriums liegt. Solche Vorstellungen einer ‚brauchbaren Vergangenheit‘ dienen der Kontingenzbewältigung und Kohärenzbildung von national verbindlichen Sinnkonstruktionen, sind jedoch stets auch notwendigerweise gekennzeichnet von Ironien und Paradoxien, und zudem ist ihre Verbindlichkeit (im doppelten Sinne) nie unumstritten. Dies zeigt sich auch am amerikanischen
3
Vgl. Hartog, The Mirror of Herodotus (1988), S. 258, Gieben/Hall, Formations of Modernity (1992), S. 275 und Todorov, The Conquest of America (1984), S. 17.
4
Sowohl Claudia Bushman, America Discovers Columbus (1992) als auch Emory Elliott, Revolutionary Writers (1986) zeigen die Prominenz der Figur des Kolumbus in der amerikanischen Revolutionslyrik auf. Beispiele finden sich bei Joel Barlow, The Columbiad (1825) und Philip Freneau, The Pictures of Columbus (1963); für das 19. Jahrhundert dann beim Kolumbus-Biografen Washington Irving, History of the Life and Voyages of Christopher Columbus (1828).
5
Ausführlicher noch als im Rahmen dieses Aufsatzes habe ich mich mit den USamerikanischen Gründungsmythen in The Myths That Made America: An Introduction to American Studies (2014) beschäftigt. Im vorliegenden Text steht der komparative Aspekt im Vordergrund sowie die Dimension von Ideologie und Affektivität.
N ACH K OLUMBUS : K ANONDEBATTEN UND ‚C ULTURE W ARS ‘
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Kolumbus-Mythos, der einen Seefahrer als Vorfahr der Amerikaner verehrt, der bloß den im imperialistischen US-Jargon so genannten ‚Hinterhof‘, nicht aber den Boden der USA betreten hat. Der Ort, an dem man der staatstragenden US-amerikanischen nationalen Mythologie quasi in Reinform begegnet, ist die Mall in Washington, D.C., der vermeintlich auf dem Reißbrett entstandenen Hauptstadt mit ihren repräsentativen Bauten und vielfältigen nationalen, häufig neoklassizistisch gestalteten ‚Tempeln‘ der Erinnerungskultur. Der Kuppelbau des Kapitols kann als eine Art amerikanisches Pantheon mit einer ‚nationalen Hagiografie‘ betrachtet werden, denn hier finden wir das Personenarsenal der amerikanischen Gründungsmythen von der ‚Entdeckung‘ Amerikas bis zur Unabhängigkeitserklärung und zur Staatsgründung der USA, auf das ich im Folgenden eingehen werde. Dieser Kanon umfasst Christoph Kolumbus, den ‚Entdecker‘, in Szene gesetzt von John Vanderlyn in seinem Gemälde Landing of Columbus at the Island of Guanahaní (1846); Pocahontas, die ‚indianische Prinzessin‘ (die einzige Frau und die einzige indigene Figur unter den Capitol-Heroen) wird von John Gadsby Chapman in The Baptism of Pocahontas (1839) dargestellt; die Pilgrim Fathers als religiöse Flüchtlinge aus England sind auf Robert W. Weirs Gemälde Embarkation of the Pilgrims (1843) abgebildet; und die politischen Gründerväter um Benjamin Franklin und Thomas Jefferson, die sogenannten founding fathers als demokratische Rebellen stellen den Mittelpunkt eines Bildes von John Trumbull, The Declaration of Independence (1818), dar.6 Doch bereits ein Blick auf die mythisierende Visualisierung dieser historischen Figuren zeigt einige der implizierten Widersprüche: Christoph Kolumbus landet, wie bereits angedeutet, in der Karibik. Er fährt unter spanischer Flagge, ist Italiener und überzeugter Katholik, dennoch wird er im dominant protestantischen Amerika lange als Held verehrt.7 Das CapitolBild zeigt seine Landung als göttliche Fügung und stattet ihn mit allen Insignien weltlicher und geistlicher Macht aus. Auf dem ihr gewidmeten Bild wird Pocahontas getauft – dies ist sicher nicht der Teil ihrer Geschichte, der sie letztlich berühmt gemacht hat – und sie sieht zudem kaum noch india-
6
Von John Trumbull stammen noch drei weitere Bilder in der Rotunda. Insgesamt sind dort acht Gemälde angebracht. Vgl. http://www.aoc.gov/capitolbuildings/capitol-rotunda.
7
Vgl. hierzu Bushman, America Discovers Columbus (1992).
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nisch aus –, umrahmt von weißen, männlichen Autoritäten geistlicher und weltlicher Art. Die Pilgrims sind auf dem Bild von Weir noch in Holland und machen sich gerade auf den Weg in die ‚neue Welt‘ und in eine ungewisse Zukunft – und das, obwohl sie in Holland keiner religiösen Verfolgung ausgesetzt sind. Das Gemälde der Gründerväter zeigt ein Treffen in relativer Eintracht, auch wenn viele der Anwesenden dagegen waren, das vorgestellte Dokument zu unterzeichnen und auch die historische Akkuratheit dieses Treffens in Zweifel gezogen werden muss – die Unabhängigkeitsresolution wurde bereits am 2., nicht am 4. Juli 1776 beschlossen.8 Diese Art der Visualisierung nationaler Mythen, wie wir sie in der Rotunda des Capitols finden, bändigt die Kontingenz des historischen Moments und die spannungsreiche Uneindeutigkeit der Erinnerung an ihn vornehmlich über die Vermittlung von Präsenzerfahrungen von Landung (und Abfahrt), von religiöser Konversion, und vom Akt des Deklarierens und Signierens;9 Präsenzerfahrungen, deren Repräsentationen die Gründung iterieren, die Existenz der Nation im zivilreligiösen Sinne sakralisieren und an einem speziellen Ort der nationalen Selbstpräsentation und Selbstrepräsentation zur Anschauung bringen. Die Visualisierung des Mythos, wie diese Beispiele zeigen, ist eine Form, in der wir ihm begegnen und die über die Ikonisierung einen hohen Wiedererkennungseffekt ermöglicht. Weitere Formen sind die der Narration (Mythos als Geschichte bzw. Erzählung) und die des Rituals (Mythos als kulturelle Praxis und rituelle Handlung).10 Unterschiedliche Mythentheorien haben unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, wie diese hier tentativ genannten Formen und Aspekte von Mythenbildungen benannt und korreliert werden können, und ich folge hier Herfried Münklers Begrifflichkeit, wenn er in der Aufarbeitung der deutschen politischen Mythen und ihrer Komponenten von der „ikonischen Verdichtung“, der „narrativen Variati-
8
So geht auch John Adams in einem Brief an seine Frau davon aus, dass „[t]he second day of July, 1776, will be the most memorable epoch in the history of America. I am apt to believe that it will be celebrated by succeeding generations as the great anniversary festival“ (Adams, The Quotable Abigail Adams (2009), n. p.).
9
Vgl. hierzu Derrida, Declarations of Independence (1986).
10 Vgl. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen (2009).
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on“ und ihren Präsentifzierungen in der kulturellen Praxis spricht.11 In der Summe ergibt sich daraus jedoch noch ein weiterer Aspekt, der bei allen drei Formen eine zentrale Rolle spielt, nämlich eine affektive Besetzung, die mit Raymond Williams als „structure of feeling“ bezeichnet werden kann. Diese affektive, aber weitgehend implizite Dimension des Mythos macht dessen Verankerung im von Fredric Jameson analysierten politischen Unbewussten aus; eine solche Sedimentierung in der Affektökonomie (Sara Ahmed spricht von „affective economies“ in ihrem gleichnamigen Aufsatz von 2004) ist wiederum als Voraussetzung seiner Wirkmächtigkeit zu betrachten.12 Die Betrachtung des Mythos als Produzent eines öffentlichen Gefühls („public feeling“) bringt einen im American exceptionalism verankerten ‚Staatsbürgersentimentalismus‘ hervor, dessen hegemoniale Gefühlsstrukturen das Individuum als patriotisch-affiziertes nationales Subjekt interpellieren. Mythos und Affekt finden sich somit im öffentlichen Gefühl und im Staatsbürgersentimentalismus verknüpft.13 Die hier betrachteten Beispiele können allesamt nicht nur als moderne Mythen bzw. als Mythen des modernen Nationalstaates, sondern auch als „fundierende Mythen“ der Nation betrachtet werden, die Jan Assmann im Gegensatz zu „kontrapräsentischen“ Mythen wie folgt beschreibt: „Mythos ist der (vorzugsweise narrative) Bezug auf die Vergangenheit, der von dort Licht auf die Gegenwart und Zukunft fallen lässt. Solcher Vergangenheitsbezug steht typischerweise im Dienste zweier entgegengesetzter Funktionen. Die eine Funktion des Mythos wollen wir ‚fundierend‘ nennen. Sie stellt Gegenwärtiges in das Licht einer Geschichte, die es sinnvoll, gottgewollt, notwendig und unabänder-
11 Der Begriff der Präsentifizierung findet sich bei Gumbrecht, geht aber auch auf Susanne Langers Studie zurück. Vgl. Langer, Philosophy in a New Key (1942). 12 Der ‚turn to affect‘ ist für die Mythenkritik relevant und bietet neue Perspektiven auch für die interdisziplinäre Mythenforschung an der Schnittstelle von Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie. 13 Eine Aufarbeitung der „Public feeling“-Forschung u.a. von Ahmed, Berlant und Cvetkovich findet sich bei Paul, Tacit Knowledge, Public Feeling, and the Pursuit of Happiness (2015). Darüber hinaus beschäftige ich mich in einem aktuellen Projekt derzeit mit Formen und Funktionen des Staatsbürgersentimentalismus in der US-amerikanischen Populärkultur an der Schnittstelle von Zivilreligion und implizitem Wissen.
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lich erscheinen lässt […]. Die andere Funktion könnte man ‚kontrapräsentisch‘ nennen (G. Theißen: Tradition und Entscheidung. Der Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis. In: Assmann, J./Hölscher, T.: Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988, S. 170-96.). Sie geht von Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart aus und beschwört in der Erinnerung eine Vergangenheit, die meist die Züge eines Heroischen Zeitalters annimmt. Von diesen Erzählungen her fällt ein ganz anderes Licht auf die Gegenwart: Es hebt das Fehlende, Verschwundene, Verlorene, an den Rand Gedrängte hervor und macht den Bruch bewusst zwischen ‚einst‘ und ‚jetzt‘.“14
Der fundierende Mythos hat immer auch eine politische Funktion, die es, etwa nach Roland Barthes, nötig macht, die Mythisierungsprozesse ideologiekritischen Befragungen zu unterziehen. Mythenkritik und Ideologiekritik sehe ich dabei nicht als Opposition, sondern als notwendigerweise aufeinander bezogen.15 Für die American Studies und ihre Disziplingeschichte ist dies umso bedeutsamer, als die erste methodisch-theoretische ‚Schule‘ des Faches, die als die sogenannte „myth-and-symbol school“ firmiert, sich v.a. mit amerikanischen Mythen beschäftigt hat, und insofern die fundierenden Mythen auch fundierend für die Disziplin sind.16 In der Abkehr von einem normativen Mythenbegriff, in dessen Namen in der Vergangenheit oftmals Werturteile gefällt und simplifizierende Dichotomien (wie mythos versus logos) behauptet wurden, hin zu einem diskursiven, lässt sich die Wirkmächtigkeit des Mythos in seiner paradoxen Struktur beschreiben, die Kontinuität und Wiederholung ebenso beinhaltet wie Flexibilität und Elastizität. Die Konstruktion und Indienstnahme der fundierenden Mythen durch den hegemonialen politischen Diskurs wurde mittlerweile vielfach kritisch hinterfragt und ihre Beschreibungen sind mit revisionistischen Brechungen durchwirkt. Dennoch ist die Langlebigkeit und Verbreitung solcher Mythen außerordentlich – auch wenn die Stadt Berkeley nun am Columbus-Day den Indigenous People’s Day begeht, so lernen amerikanische (wie auch deutsche) Schüler spätestens im GeografieUnterricht der 5. Klasse von der ‚Entdeckung‘ Amerikas durch niemand
14 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (1997), S. 280f. 15 Bereits Sacvan Bercovitch, The Rites of Assent (1993), S. 358 hat auf diesen ‚falschen‘ Gegensatz hingewiesen. 16 Vgl. hierzu Smith, Virgin Land (1950).
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anderen als Christoph Kolumbus. Diese Diskrepanz zwischen „elite revisionism“ und „popular belief“ ist zentral für die Betrachtung von Mythen.17 Oder anders gesagt, die Pluralisierung und spannungsvolle Verzweigung des Bedeutungskanons können dem der fundierenden Funktion des Mythos scheinbar nichts anhaben (auch wenn er damit partiell als eine Art AntiMythos erscheint). Im Gegenteil. Und es ließe sich in Anlehnung an Paul Veyne fragen: „Glauben die Amerikaner an ihre Mythen?“ Die verschiedenen Varianten nationaler Mythen stehen durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinander; sie verfügen zu unterschiedlichen Zeiten über unterschiedliches kulturelles Kapital und haben versetzte Konjunkturen. In den USA galt die Geschichte von Pocahontas der politischen Elite Virginias lange als Gründungsmythos des Südens, während die Landung der Pilgrim Fathers von Neuengland, d.h. den neuenglischen Staaten um Boston, als fundierender Mythos hochgehalten wurden.18 Als Präsident Lincoln in der Hochphase des amerikanischen Bürgerkrieges (Nord gegen Süd) Thanksgiving 1863 zum nationalen Feiertag erhob, tat er dies auch, um die Gründungsmythen des Südens in ihrem Geltungsanspruch zu schwächen und eine indigene Präsenz in den neuenglischen Mythos zu integrieren. Mythische Figuren werden dabei auch als Figuren der Krisenbewältigung kommemoriert; dies ist die kulturelle Arbeit, die sie leisten. Für die Beschäftigung mit ihrer Kanonisierung und Sakralisierung ist es unerlässlich, sich mit Fragen der Macht zu befassen. Denn der Mythos dient nicht nur der Kontingenzbewältigung und der Legitimation, er bedeutet immer auch Ermächtigung der einen und Exklusion der anderen. Letzteres lässt sich für den US-amerikanischen Diskurs gut nachvollziehen, wenn man die nationale Perspektive, die den Mythos als staatstragend affimiert, von kritisch-revisionistischen subnationalen und transnationalen Interventionen und Appropriationen unterscheidet. Dies soll im Folgenden anhand der eingangs vorgestellten Figuren – dem zentralen Figurenarsenal USamerikanischer Gründungsmythen – näher erläutert werden.
17 Vgl. Schumann/Schwartz/D’Arcy, Elite Revisionists and Popular Beliefs (2005), S. 2. 19 Vgl. Uhry Abrams, The Pilgrims and Pocahontas (1999).
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2. D ER M YTHOS VON K OLUMBUS ‚E NTDECKUNG ‘ A MERIKAS
UND DER
Abbildung 1: John Vanderly, Landing of Columbus (1846), Öl auf Leinwand, 366x549cm
Quelle: Rotunda, U.S. Capitol.
Die Entwicklung des Kolumbus-Mythos ist in vielerlei Hinsicht geradezu paradigmatisch hinsichtlich der Affirmation, Re-Appropriation und Delegitimierung einer mythischen Gestalt und der mit ihr verknüpften fundierenden Narration. Heute gehen wir davon aus, dass ‚Amerika‘, wenn überhaupt, mehrfach und von unterschiedlichen Personen und Personengruppen entdeckt wurde. Jüngst hat Annette Kolodny ein Buch vorgelegt, In Search of First Contact: The Vikings of Vinland, the Peoples of the Dawnland, and the Anglo-American Anxiety of Discovery (2012), welches die Obsession mit dem kulturellen Erstkontakt auf beiden Seiten des Atlantiks noch einmal minuziös aufrollt. Wenn die Zeit der nationalen Gründung in den USA Kolumbus als Helden vorstellt (eine Figur, die als ‚erster‘ Entdecker, als anti-monarchisch, individualistisch und v.a. als nicht-britisch attraktiv scheint), finden wir ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch seine Re-Appropriation als Held der italienischen Immigranten,19 eine Aneignung, die bis heute nachwirkt. Im Zuge der sozialen Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre erfolgt eine Thematisierung der weniger ‚schönen‘ Aspekte der ‚Entdeckung‘: Gewalt und Genozid. Das Jahr 1992 (und 19 Vgl. hierzu Loock, Kolumbus in den USA (2014).
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damit die 500-Jahr-Feier der Entdeckung) wird zu einem Kristallisationspunkt für die komplexen Aushandlungsprozesse zur Bedeutung und anhaltenden Relevanz des Mythos.20 In kaum einem Jahr sind die Thematisierungen von Kolumbus so zahlreich – und so kritisch: So wird anlässlich der Planungen der 500-Jahr-Feier konstatiert: „For many Native Americans, to be asked to celebrate Columbus is the equivalent of asking Jews to celebrate Hitler“.21 In der jüngeren Rezeption und Kommentierung des Kolumbus-Mythos finden sich Kulturkritik und konkurrierende Bedeutungsproduktionen unterschiedlicher ethnischer Gruppen im Zeichen von ‚culture wars‘, Identitätspolitik und einer postkolonialen Perspektive auf die US-amerikanische Geschichte, die auch für amerikanische Bildungsinstitutionen relevant sein sollte, wie James Loewens Buch Lies My Teacher Taught Me about Christopher Columbus (1992) und Ella Shohats und Robert Stams Unthinking Eurocentrism (2001) fordern. Kolumbus wird in der revisionistischen Kritik vielfach zum Ur-Mythos einer kolonialen, eurozentrischen, neuzeitlichen Weltanschauung: „The Columbus story is crucial to Eurocentrism, not only because Columbus was a seminal figure within the history of colonialism, but also because idealized versions of the story have served to initiate generation after generation into the colonial paradigm. For many children in North America and elsewhere, the tale of Columbus is totemic; it introduces them not only to the concepts of ‚discovery‘ and the ‚New World‘ but also to the idea of history itself.“22
Die Zahl der kulturellen Produktionen, welche versucht haben diese Vorstellung aufzubrechen, ist so groß, dass hier kaum näher auf alle eingegangen werden kann, die zum ‚Jubiläumsjahr‘ 1992 erschienen sind.23 Zwei
20 Vgl. hierzu Summerhill/Williams, Sinking Columbus (2000). 21 Shohat/Stam, Unthinking Eurocentrism (2001), S. 60. 22 Ebd. S. 62. 23 Unter diesen Publikationen und Produktionen finden sich prominent die Romane, Gedichte, Kurzgeschichten und Performances von Gerald Vizenor, The Heirs of Columbus (1991); Joseph Bruchac, Returning the Gift (1994); Louise Erdrich und Michael Dorris, The Crown of Columbus (1991); Jimmie Durham,
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Beispiele neueren Datums sollen hier exemplarisch genannt werden. Als Intervention in eine städtische Erinnerungskultur ist für New York City die Installation des japanischen Künstlers Tatzu Nishi anzuführen, die den vielsagenden Titel „Discovering Columbus“ trägt. 2012 wurde die ColumbusSäule am Columbus Circle in New York City am Central Park (zum Jahrestag 1892 von der Italian-American community der Stadt errichtet) mit einem hohen Gerüst umbaut. Das Standbild besteht aus einer Marmor-Statue, die auf einer etwa 20 Meter hohen Granit-Säule steht. Die Figur von Kolumbus an der Spitze der Säule wurde durch die Installation Teil einer provisorischen Inneneinrichtung, wodurch man ihr nun quasi ‚auf Augenhöhe‘ begegnen und näher kommen konnte.24 Mit dieser Installation wurde die Erhöhung der mythischen Figur infrage gestellt, zugleich der Blick auf sie im ‚close-up‘ neu ausgerichtet und damit der Entdeckungsdiskurs symbolisch invertiert. Noch neueren Datums ist ein Neologismus in der englischen Sprache, der sich hinter dem Begriff ‚Columbusing’ verbirgt, der wie folgt definiert wird: „It pokes fun at the idea of white people stumbling across things known to others for many years and then claiming ownership and therefore discovery of them. In honour of the fabled Christopher, this practice is known as ‘Columbusing’.“25
Die hier nach Kolumbus benannte kulturelle Praxis bezeugt einen kritischen Blick auf den Mythos – auf die Vorstellungen von der europäischen Entdeckung ‚anderer‘ Erdteile im Speziellen sowie der daraus resultierenden dominanten Narrative der westlichen Moderne im Allgemeinen. Die revisionistischen Neubetrachtungen von Kolumbus stellen den kanonischen Status der Figur des vermeintlichen Entdeckers infrage, und sie erweitern zugleich den Bedeutungskanon über ihn: die Ursprungserzählung seiner Kanonizität findet sich weitgehend dekonstruiert. Und so wie auch die kulturelle Arbeit des Mythos um Kolumbus sich in zahllosen Schul-
Columbus Day (1983); und Coco Fuscound Guillermo Gómez-Peña, Radio Pirata (1995). 24 Vgl. http://www.nytimes.com/2012/09/22/arts/design/tatzu-nishis-discoveringcolumbus-installation.html?_r=0. 25 http://wordability.net/tag/columbusing/.
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und Geschichtsbüchern fortsetzt, die häufig immer noch die Gewalt der ‚Entdeckung‘ dethematisieren, geht auch die Arbeit am Mythos weiter.
3. D ER P OCAHONTAS -M YTHOS TRANSATLANTISCHE L IEBE
UND DIE
Abbildung 2: John Gadsby Chapman, Baptism of Pocahontas (1839), Öl auf Leinwand, 366x549cm
Quelle: Rotunda, U.S. Capitol.
Für den Pocahontas-Mythos ist bereits die Ausgangslage eine andere, denn anders als Kolumbus hat Pocahontas selbst keine ‚Stimme‘ im kolonialen Diskurs, sondern wird von anderen beschrieben, ihr werden Worte in den Mund gelegt, und auch die Beweggründe für ihr Handeln werden gemutmaßt. Mythisiert wurde sie von (weißen, männlichen) Zeitgenossen aufgrund der Rolle, die sie 1607 und in den darauffolgenden Jahren in der frühen Besiedlungsgeschichte um Jamestown, Virginia gespielt hat. Auch sie hat alle Arten von ideologischer Besetzung und Umbesetzung erfahren. Pocahontas und der Engländer Captain John Smith sind die Protagonisten einer Erzählung, die die angloamerikanischen Anfänge als transatlantische Liebesgeschichte imaginiert, die andere, weniger schmeichelhafte und harmonische Erzählungen überlagert. In dieser Version, die mittlerweile in vielerlei Hinsicht als fiktional gilt (d.h. so historisch nicht verifizierbar
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ist),26 wird Smith von Powhatan, dem Anführer der in und um Jamestown ansässigen Algonquin-Stämme gefangen genommen und seine Tochter, Pocahontas, rettet ihm das Leben, indem sie sich im Augenblick seiner vermeintlichen Exekution schützend über ihn wirft. Aus Liebe wohlgemerkt. Kurz darauf kehrt John Smith nach England zurück; Pocahontas, die ihn für tot hält, wird von den Engländern gefangen genommen um Zugeständnisse von ihrem Vater zu erpressen. Im Zuge dieser Gefangenschaft ‚findet sie‘ zum Christentum, sie konvertiert und heiratet John Rolfe, einen anderen Engländer, der sich ebenfalls in Virginia angesiedelt hat. Mit ihm hat sie einen Sohn. Steht Kolumbus für Abenteuer und Entdeckung, dann steht Pocahontas für Liebe und Romantik – was nicht zuletzt auf deutliche geschlechtsspezifische Akzentuierungen der Gründungsmythologie verweist, wie sie im 19. Jahrhundert kanonisiert wird. Auch ist die mythische Figur ‚Pocahontas‘ merkwürdig gespalten: ist sie zunächst die indianische Prinzessin (die „forest princess“, wie Charlotte Barnes sie nennt), d.h. Repräsentantin des Anderen, die ein Herz für den Engländer John Smith hat und ihn vor der Verurteilung durch ihren Vater rettet, wird sie dann im Zuge der Gefangennahme durch die Engländer, die Taufe und Heirat mit John Rolfe gleichsam de-indigenisiert und zum Teil der neuen, modellhaften new world-family, die auf ‚promotion tour‘ für die Kolonie Virginia nach England gehen muss, wo sie dann auch nach dem Empfang am königlichen Hof prompt stirbt.27 Ihre Mythisierung steht im Kontext und in der Tradition der Mythisierung der neuen Welt als fremde Frau und zahlreicher entsprechend personi-
26 Vgl. hierzu Hulme, Colonial Encounters (1986) und Mackenthun, Metaphors of Dispossession (1997). 27 Die zentrale Quelle für die Pocahontas-Geschichte im 17. Jahrhundert sind nach wie vor die Aufzeichnungen von John Smith selbst. Im 19. Jahrhundert werden diese vom Engländer John Davis neu verarbeitet und seine Erzählungen begründen den neuen Pocahontas-Ruhm. Wichtige Aufarbeitungen der Stoffgeschichte und der verschiedenen ideologischen Indienstnahmen der Pocahontas finden sich bei Barbour, Pocahontas and her World (1969); Hulme, Colonial Encounters (1968); Mackenthun, Metaphors of Dispossession (1997); und Tilton, Pocahontas (1994).
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fizierter Darstellungen.28 Bis heute gilt Pocahontas als einmalige ‚Erfolgsgeschichte‘ der gelungenen Assimilation. Sie erlangte im Verlauf des 19. Jahrhunderts in dem Maße mythischen Status, in dem die Vertreibung und Vernichtung der Ureinwohner fortschritt.29 Daher muss sie auch als Legitimationslegende angeblich zivilisierender weißer Kolonialherrschaft verstanden werden. Sie verkörpert die Figur des ‚noble savage‘ – der edlen Wilden – und des von der Zivilisation und dem Fortschritt verdrängten ‚vanishing Indian‘ – der indigenen Präsenz in Absenz zugleich.30 Es sind die frühen amerikanischen Feministinnen, die Pocahontas im Zuge der ersten Frauenbewegung (wieder)entdecken und sie als antipatriarchalen Mythos von der Entstehung Amerikas interpretieren und aneignen.31 Pocahontas wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur founding mother, und diese Funktion hat sie auch noch in den zeitgenössischen Texten von Paula Gunn Allen, einer indigenen Autorin, die sich zum Teil der Konventionen früher puritanischer Dichtkunst bedient, um der historischen Pocahontas eine Stimme zu geben: „Had I not cradled you in my arms Oh beloved perfidious one, You would have died. And how many times did I pluck you From certain death in the wilderness – My world through which you stumbled as though blind? […] Still you survived, oh my fair husband,
28 Vgl. Fleming, The American Image as Indian Princess (1965); Hulme, Colonial Encounters (1986); und Schülting, Wilde Frauen, fremde Welten (1997). 29 Vgl. Jaroff, Opposing Forces (2006), S. 486 und Loeffelholz, Miranda in the New World (1990) S. 59. 30 Vgl. Hulme, Colonial Encounters (1986), S. 141. 31 Auf das feministische Potential des Pocahontas-Mythos wird bis heute verwiesen. Ann Uhry Abrams, The Pilgrims and Pocahontas (1999) hat die Pilgrims und Pocahontas – auch aufgrund ihrer zeitlichen Nähe – als konkurriende Mythen analysiert, als Affirmation (Pilgrims) und Kritik (Pocahontas) an partriarchaler Ideologie.
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And brought them gold Wrung from a harvest I taught you To plant. Tobacco. […] I’m sure You wondered at my silence, saying I was A simple wanton, a savage maid, Dusky daughter of heathen sires Who cartwheeled naked through the muddy towns Who would learn the ways of grace only By your firm guidance, through Your husbandly rule: No doubt, no doubt. I spoke little, you said. And you listened less […] I saw you well I understood your ploys and still Protected you, going so far as to die In your keeping – a wasting, Putrefying Christian death – and you, Deceiver, whiteman, father of my son, Survived, reaping wealth greater Than you had ever dreamed From what I taught you and from the wasting of my bones.“32
Paula Gunn Allens Gedicht nimmt die Perspektive Pocahontasʼ ein, die ihren englischen Ehemann anklagt. Sie beschuldigt ihn der Ignoranz, der Arroganz, der Habgier und des Verrats. Die Ehe zwischen ihr und John Rolfe ist von klaren Asymmetrien durchzogen, denn er fühlt sich ihr überlegen, erzieht sie wie ein Kind („husbandly rule“). Indem die Sprecherin ihn wiederholt als „husband“ anspricht, bedient sie einerseits lyrische Konventionen des 17. Jahrhunderts, stellt aber andererseits auch die englische Institution der Ehe kritisch infrage.
32 Allen, Pocahontas (1997), S. 8f.
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Die Hochkonjunktur des Pocahontas-Mythos in den letzten Dekaden ist deutlich und ablesbar an mindestens drei großen Filmproduktionen: Walt Disney’s Pocahontas (1995), Terence Malicks The New World (2005) und James Camerons Avatar (2009). Diese Hochkonjunktur ist sicherlich multifaktoriell bedingt und verdankt sich unter anderem der Hegemonie des gemeinschaftsbildenden Topos der romantischen Liebe, die eine Version des Mythos bedient: die Liebe der Pocahontas zu Smith überwindet kulturelle und alle andere Arten von Differenzen und ist auch noch in Zeiten plausibel, in denen vielfach vom Clash of Civilizations (einem anderen modernen Mythos) die Rede ist; den kulturellen Überlebenskampf, so lässt sich sarkastisch feststellen, haben Pocahontas und die ihren jedenfalls damals verloren.33 Bei Cameron findet man sogar eine partielle Kritik am amerikanischen empire und der civilizing mission, da am Ende der männliche weiße Held einer inter-planetaren Liebesgeschichte indigenisiert wird, und nicht umgekehrt. Die globale Kommodifikation und Vermarktung des PocahontasMythos gibt ihm eine neue, transnationale Dimension, die die indigene Perspektive, die in den vergangenen Dekaden mühsam eingeschrieben wurde, wieder überlagert. So können Kanonisierungsprozesse sowohl des Mythos als auch seiner unterschiedlichen Deutungen nicht nur im Mittelpunkt von ‚culture wars‘ stehen, sondern auch eine weitreichende Entpolitisierung in der Beschäftigung mit dem Mythos zur Folge haben. Die Popularisierung der Pocahontas durch die Walt Disney-Produktion hatte diesen Effekt. Gleichzeitig zeigt die Pocahontas-Erzählung als Liebesgeschichte zwischen der alten und der neuen Welt die affektive Besetzung des Mythos in Zeiten, in denen Vorstellungen der großen Liebe nach wie vor glaubwürdiges utopisches Potential haben. Pocahontas als indigene, weibliche Hauptfigur einer romantischen Gründungsgeschichte kann daher auch als eine nostalgische Verklärung gelten, die sich ideologisch wirksam, sprich ‚heilsam‘, von den „cold intimacies“ (Illouz) unserer Zeit abzuheben scheint.
33 Im Disney-Film erscheint Pocahontas als multikulturelle Ikone. Kritische Betrachtungen des Films finden sich bei Edgerton/Jackson, Redesigning Pocahontas (1996); Tillotson, Cartoons and Indians (1995); sowie Edwards, The United Colors of Pocahontas (1999). Das Erscheinen des spektakulär erfolgreichen Films wurde von einer ganzen Produktpalette begleitet, u.a. der Pocahontas-Barbie.
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4. D ER M YTHOS DER P ILGRIMS & P URITANS IM ‚G ELOBTEN L AND ‘ Abbildung 3: Robert W. Weir, Embarkation of the Pilgrims (1843), Öl auf Leinwand, 366x549cm
Quelle: Rotunda, U.S. Capitol.
Die Pilgrims, die sich 1620, und die Puritaner, die sich 1630 an der Küste Neu-Englands ansiedeln und die Plymouth Colony und die Massachusetts Bay Colony gründen, stehen für die wirkmächtige Präsenz Neu-Englands in der nationalen Mythenbildung und dem Bemühen, sich als pars pro toto für die Nation zu präsentieren. Ihre Selbstdarstellung bedient sich von Anfang an (also schon vor ihrer Ankunft in Nordamerika) der biblischen ExodusGeschichte: England ist ihr Ägypten, wo sie aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden, der Atlantik ist ihr rotes Meer (‚vast sea‘), die Anfangsschwierigkeiten in Amerika sind die Hindernisse der ‚wildernes‘ bzw. Wüste. Konsequent installieren sie sich als ‚God’s Chosen People‘ im Gelobten Land.34 Es ist insbesondere das Auserwähltheitsdenken der puritanischen 34 Einschlägige Arbeiten zu diesem Vergleich sind Bercovitch, The Rites of Assent (1993) und Heimert, Puritanism, the Wilderness and the Frontier (1953). Jan Assmann, Exodus (2015) hat die Exodus-Geschichte und deren vielfältige Anverwandlungen kürzlich neu aufgerollt und verweist dabei auch die Puritaner und die ‚Spätfolgen‘ ihrer Exegese: Er sieht das emanzipatorische Moment der Geschichte im ‚Auszug‘ der Puritaner, während der ‚Einzug‘ in das vermeintlich ‚Gelobte Land‘ wiederum neue Unterdrückungsszenarien hervorbringt.
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Immigranten, das auch heute noch in der politischen Kultur und Rhetorik der USA nachhallt und ein Fundament des American exceptionalism darstellt. Um die historischen Wurzeln dieses Auserwähltheitsdenkens zu belegen, wird in der Regel John Winthrops Rede an Bord des Schiffes, das die Puritaner nach Amerika bringt, angeführt: „For we must consider that we shall be as a city upon a hill. The eyes of all people are upon us.“35 John Winthrop, William Bradford und die Mathers gehören zur religiösen Elite der Kolonien und verfügen über die Wortgewalt ebenso wie auch über andere Formen der Gewalt. Mark Holloway hat die zahlreichen utopischen religiösen Gemeinden in Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert untersucht und spricht von „heavens on earth“ in deren Selbstkonstruktion. Es sind die Puritaner, die die ehemals utopischen Fremdbeschreibungen des Kontinents bzw. der neuen Welt und ihrer ‚Verheißungen‘ erfolgreich und nachhaltig ummünzen in die Beschreibung ihres eigenen Unterfangens. Sie selbst beanspruchen die exzeptionalistische Sonderstellung des auserwählten Volkes und geben diesen Anspruch weiter. Und es ist die religiöse Analogie mit den Bezügen zum Buch Exodus, die auch noch knapp 300 Jahre später aufgenommen wird, um die jüdische Einwanderungserfahrung in die USA zu beschreiben, wie in der Erzählung z.B. The Promised Land (1912) von Mary Antin. Antin und andere Einwanderer mit ihr nehmen die Suche nach dem gelobten Land als Modell ihrer eigenen Geschichte, auch um mit den ehrwürdigen Puritanern auf Augenhöhe zu sein, als „latter-day pilgrims“ (Sollors) sozusagen. Und auch Laila Halaby nimmt jüngst in ihrem Roman Once in a Promised Land (2007) auf diesen Topos Bezug, wenn sie die Geschichte eines arabischamerikanischen Paares in den USA nach 9/11 erzählt. Aber wo und was ist das gelobte Land in Nordamerika? Die kulturspezifischen Bezugnahmen auf den religiösen Mythos reichen nicht nur von den Pilgrims des 17. Jahrhunderts bis zu den Immigranten der Gegenwart, sondern werden auch von anderen Gruppen appropriiert. Es sind die als Sklaven ausgebeuteten Afroamerikaner, die im Zuge ihrer christlichen Belehrung selbst Analogien der biblischen Geschichte und ihrer eigenen bondage erkennen. Eine herausragende Gospel-Tradition belegt dies ebenso wie von Sklaven und ehemaligen Sklaven verfasste Texte, die John Blas-
35 Winthrop, A Model of Christian Charity (2013)
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singame ausgewertet hat und in denen „Canaan“ zum Codewort für Flucht und Entkommen wird: „The escape motif appears in hundreds of songs: the slaves are always sailing, walking, riding, rowing, climbing, and crossing over into Canaan“.36 Der durch seine Verbindung zu Barack Obama einer breiten Öffentlichkeit bekannt gewordene afroamerikanische Theologe Jeremiah Wright hat die biblische Fundierung afroamerikanischer Befreiungs- und Emanzipationsnarrative untersucht und sie in zahlreichen Varianten gefunden. Auch Martin Luther King greift diese Suche nach dem gelobten Land im Zuge der Proteste des Civil Rights Movement gegen Rassentrennung und Rassismus auf: „I’ve been to the mountain top, I have seen the Promised Land“37 lautet seine letzte Rede am Tag vor seiner Ermordung, in der das gelobte Land eine diesseitige und jenseitige Bedeutung hat. Nicht so sehr nur individueller Heroismus, sondern auch Bedingungen und Normen der Gemeinschaftsbildung werden in der puritanischen Rede vom Promised Land mythisiert und damit religiös legitimiert. Die damit einhergehende religiös-mythische Überhöhung geht von den Puritanern und ihren Nachfahren sukzessive über in zivilreligiöse Redeweisen und bringt uns am Ende des 18. Jahrhunderts, im Zuge der Staatsgründung, zum Mythos der founding fathers, mit denen diese Entwicklung zum Abschluss kommt und der Exzeptionalismus auch als staatstragende Ideologie einer ‚holy union‘ (wie sie auch George Washington in seiner Abschiedsrede an das amerikanische Volk beschreibt) fest inthronisiert wird. Der Mythos der founding fathers stellt zu diesem Zeitpunkt bereits eine Vernetzung der religiösen und säkularen Gründungsmythologie dar (sozusagen in diachroner Perspektive), während er in synchroner Perspektive die Heroisierung der staatstragenden Einzelindividuen (Washington, Franklin, Jefferson) ebenfalls zu einem Kollektivmythos des Neuanfangs verbindet. Die puritanische Rede vom Gelobten Land bleibt auch in semi-religiösen, zivilreligiösen und säkularen Schwundstufen bzw. Variationen das affektiv besetzte Fundament eines US-amerikanischen Patriotismus, der sich bis heute in populären Ritualen ‚zu Ehren‘ der Nation manifestiert.38 Als nationales „structure of
36 Blassingame, The Slave Community (1979) S. 142. 37 King, „I’ve Been to the Mountaintop“ (1968). 38 So lassen sich beispielsweise Independence Day-Feierlichkeiten sehr gut im Kontext von amerikanischem Auserwähltheitsdenken, Zivilreligion und public feeling analysieren.
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feeling“ lässt er sich mit allen anderen nationalen Mythen verkoppeln, und er ist selbst in der Artikulation von Kritik und gesellschaftlichem Dissenz die rhetorische Figur, die Verbesserung, ‚Umkehr‘ und Regeneration beschwört.39
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DER F OUNDING F ATHERS UND DIE AMERIKANISCHE U NABHÄNGIGKEIT Abbildung 4: John Trumbull, Declaration of Independence (1818), Öl auf Leinwand, 366x549cm
Quelle: Rotunda, U.S. Capitol.
Geprägt wurde der Begriff der founding fathers erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem Präsidenten, Warren Harding, der in seiner Rede zur Amtseinführung den Geist der Gründungsväter für seine eigene Amtsausübung heraufbeschwört. Diese Beschwörung wurde von H. L. Mencken scharfzüngig als die schlechteste Amtsantrittsrede in der Geschichte der USA bewertet,40 aber der Begriff hatte Bestand. Zuvor war von den founders und framers die Rede und Alexis de Tocqueville hat im 19. ebenso wie Hannah Arendt im 20. Jahrhundert an der Herausbildung dieses Mythos mitgewirkt. 39 Vgl. Bercovitch, The Rites of Assent (1993). 40 Bernstein, The Founding Fathers Reconsidered (2009), S. 3. Vgl. hierzu auch Lepore, The Whites of Their Eyes (2010).
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Es ist dieser Mythos der Gründungsväter, der im letzten Jahrzehnt – seit der ersten Wahl Barack Obamas zum US-amerikanischen Präsidenten – erneut enorme Konjunktur hatte, da die Präsenz eines Afroamerikaners im Weißen Haus in einer anderen Rolle als der des Butlers o.ä. heftige Reaktionen hervorrief; es waren insbesondere die Anhänger des Tea Party Movement (oft auch in Koalition mit evangelikalen Gruppen), die als AntiObama-Heilmittel die Gründungsväter als fundierendes, paternalistisches, uramerikanisches und v.a. weißes Kollektiv heraufbeschwört und ihre Anhänger wiederum darauf eingeschworen haben. Die Vaterschaft Amerikas wird in der hegemonialen Version des Mythos einer Gruppe von etwa sieben Personen zugeschrieben – Benjamin Franklin, George Washington, Thomas Jefferson, James Madison, John Jay, Alexander Hamilton, John Adams (Morris nennt sie in seinem Buchtitel recht pathetisch „the seven who shaped our destiny“). Es sind v.a. die Autoren zentraler fundierender Dokumente wie der Declaration of Independence (von Pauline Meier in sakralisierender Weise als „American Scripture“ bezeichnet), der Verfassung und der Federalist Papers.41 In der subnationalen Kritik dieses Mythos und seiner Implikationen wird gern darauf verwiesen, dass die Rhetorik der Emanzipation und der Freiheit der founding fathers über die Maßen scheinheilig ist. Drei der Gründungsväter (Jefferson, Madison und Washington) waren Sklavenhalter und sprachen somit nicht allen basale Menschenrechte zu, was für Edmund Morgan das zentrale Paradox der Unabhängigkeitserklärung darstellt: „The simultaneous development of slavery and freedom is the central paradox of American history. […] George Washington […] led Americans in battle against British oppression. Thomas Jefferson […] led them in declaring independence. Virginians drafted not only the Declaration, but the Constitution and its first ten amendments as well. […] They were all slaveholders.“42
41 Für Robert Ferguson, We Hold These Truths (1986) sind die Gründerväter v.a. Autoren – angefangen von John Adamsʼ Notes on Government bis hin zu den berühmten Gründungsdokumenten, die eine substantielle Leserschaft hatten und mit denen bzw. über die eine öffentliche Debatte geführt wurde. 42 Morgan, American Slavery, American Freedom (1965), Klappentext.
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So lautet es im Klappentext zu Morgans Buch American Slavery, American Freedom (1965) und in ähnlicher Weise haben auch Eric Foner und Paul Finkelman auf diesen besonderen Umstand hingewiesen.43 Insbesondere die Erforschung von Thomas Jeffersons Privatleben hat hier in den letzten Dekaden den von Morgan identifizierten Widerspruch in noch drastischerer Weise hervortreten lassen, denn nach dem Tod seiner Frau unterhielt er eine langjährige Beziehung zu seiner Sklavin Sally Hemings, mit der er mehrere Kinder hatte. Annette Gordon-Reed hat dies eingehend untersucht und begibt sich dabei gelegentlich auf dünnes Eis, wenn sie über diese Beziehung als Liebesbeziehung spekuliert.44 Dabei haben sich afroamerikanische Intellektuelle bereits früh auf jeffersonsche Maßstäbe berufen und deren Einhaltung auch für die schwarze Bevölkerung im Süden und Norden des Landes eingefordert – David Walker’s Appeal und Frederick Douglass’ Rede What to the Slave is the Fourth of July?45 sind eindrückliche Zeugnisse afroamerikanischer Rhetorik im Zeichen von Protest und Widerstand gegen den Mythos einer heroischen ‚white paternity‘ der USA. Auch andere Gruppen sind zunächst von dem Freiheitsversprechen ausgeschlossen, dessen vermeintliche Verfechter (dennoch) nachhaltig mythisiert wurden, darunter auch die Frauen. Trotz protofeministischer Ansätze im Kontext der amerikanischen Aufklärung und Revolution, die in den Briefen einer Abigail Adams an ihren Mann („Remember the Ladies“) oder den Pamphleten einer Judith Sargent Murray („On the Equality of the Sexes“) artikuliert werden, sind die sogenannten founding mothers v.a. eine nachträgliche Konstruktion, die auf eine berechtigte Aufwertung der Rolle der Frau bei der Staatsgründung zielt.46 Für den historischen Kontext identifiziert Linda Kerber die „Republican Motherhood“ als partiell emanzipatorisches weibliches Ideal, da in der frühen Republik zumindest der Bildung und Erziehung von Frauen größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde als
43 Vgl. Foner, The Story of American Freedom (1998) und Finkelman, Slavery and the Founders (2001). 44 Vgl. Gordon-Reed, The Hemingses of Monticello (2008). 45 Vgl. Wilentz, David Walker’s Appeal (1829-1830) und Douglass, What to the Slave Is the Fourth of July? (1999). 46 Vgl. Roberts, Founding Mothers (2004).
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zuvor und anderswo, auch wenn dies nicht mit einer Institutionalisierung und Codifizierung ihres Status und ihrer Rechte einherging.47 Der bereits o.g. Revisionismus, der eine Re-Inthronisierung der founding fathers zum Ziel hat, kann als Reaktion auf die Kanondebatten und die revisionistische Mythenkritik der vorherigen Dekaden betrachtet werden, die die founding fathers entweder als nicht besonders heroisch betrachteten oder, im Zuge der sozialhistorischen Ansätze, strukturelle und ökonomische Aspekte der Revolution in den Vordergrund stellten, und sieht hier das Erbe der Gründungsväter in Form der Gültigkeit und Konsensfähigkeit des Mythos bedroht; in einer Art „historischem Fundamentalismus“ (Lepore) der Anhänger des Tea Party Movements wurden die Ansichten und Absichten der Gründerväter zu ‚Argumenten‘ in einer erbitterten politischen Auseinandersetzung. Es ist die kulturelle Arbeit der Kontingenzbewältigung dieses Mythos, die hier von den Aktivisten quasi naturalisiert wird und somit die US-amerikanische Staatengründung nicht als von Zufällen, Unsicherheiten und auch zwischenstaatlichem Zwist, sondern von Weitsicht und Fügung geprägt sieht. Der Umstand, dass Sarah Palin sich in einem zu trauriger Berühmtheit gelangten Fernseh-Interview wortreich auf die Gründungsväter beruft, dann aber zunächst keinen einzigen nennen kann und auf ein Stichwort von Moderator Glenn Beck angewiesen ist, lässt den Mythos in der Tat als Glaubens-, nicht als Wissensfrage erscheinen. In der von Richard Hofstadter konstatierten „anti-intellectual tradition“ ist auch der politische Mythos eine Sache des Glaubens und Fühlens, nicht des Wissens;48 und in just diesem Sinne spricht auch Lauren Berlant von einer „sentimental nation“: Die häufig polarisierende affektive Besetzung überlagert und verbrämt die politische Auseinandersetzung.49 Somit erschöpft sich Mythenkritik nicht in einer bloßen Repräsentationskritik, da die Bedeutung von Affektökonomien für die Wirksamkeit des Mythos zentral ist.50
47 Vgl. dazu auch Norton, Liberty’s Daughters (1996). 48 Vgl. Hofstadter, Anti-Intellectualism in American Life (1963), S. 5. 49 Vgl. Berlant, The Female Complaint (2008). 50 Eine ähnliche Dynamik konstatiert Sean Wilentz, America Made Easy (2001) nicht nur für die massenkulturelle Thematisierung der Gründungsväter, sondern auch im populärwissenschaftlichen Diskurs, wenn er David McCulloughs Adams-Biografie im Speziellen und das Phänomen des founders‘ chic im All-
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6. S CHLUSSBETRACHTUNG Wie hier gezeigt wurde, ist das Bündel von Narrationen US-amerikanischer Gründungsmythen von zahlreichen internen Widersprüchen gekennzeichnet; die Mythen um die genannten Figuren spannen ein dichtes bedeutungsstiftendes Netz, das immer wieder auch in zivilreligiösen Manifestationen in Erscheinung tritt, die amerikanische Auserwähltheit (American exceptionalism) bekräftigt und im Modus eines ‚Staatsbürgersentimentalismus‘ gepflegt wird. Die Rekonstruktion ihrer ‚Karrieren‘ von Begründung bzw. Erfindung (im Sinne einer „invention of tradition“, nach Hobsbawm/Ranger),51 Affirmation bzw. Kanonisierung, Appropriation (im Sinne einer Erweiterung des Deutungskanons) und Dekonstruktion verweist auf die je spezifische kulturelle Arbeit der fundierenden Mythen in konkreten kulturellen Kontexten und in bestimmten historischen Momenten. Durch das In-den-Blick-Nehmen mehrerer personen-basierter Gründungsmythen tritt auch die Konkurrenz verschiedener Gruppen um die Deutungsmacht und die Konjunkturen zutage, die die verschiedenen Varianten in ihrer Fixierung amerikanischer Ursprünge auf die Jahre 1492, 1607, 1620 und 1776 hatten und haben. Den hier vorgestellten personenbezogenen Mythen könnte man für die USA noch andere hinzufügen: Mythen, die sich auf Land und Topografie beziehen und einen geografischen Determinismus heraufbeschwören (wie der ‚Westen‘ und die frontier) oder auch Mythen, die sich deskriptiv, normativ oder auch kritisch auf gesellschaftliche Kohärenzmodelle beziehen (wie etwa der melting pot). Sie alle basieren auf spezifischen kulturellen Skripten und stehen auch in Beziehung zu den erwähnten Figuren: Kolumbus als erster ‚Westerner‘, der auf dem Weg nach Asien die westward expansion vorantreibt; Pocahontas als vermeintliche frühe Befürworterin des melting pot u.s.w. Die Tauglichkeit und Wirksamkeit dieser Mythen lässt sich auch heute noch nachvollziehen, jedoch wurde auch wiederholt auf die Krise der amerikanischen Mythen hingewiesen und damit auch auf die Krise der Gesellschaft, die sie fundieren, und diese Krise kann in mehrfacher Hinsicht be-
gemeinen kritisiert. Zum Begriff des ‚founders chic‘, vgl. Thomas, Founders Chic (2001). 51 Vgl. Hobsbawm/Ranger, The Invention of Tradition (2009).
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schrieben werden. Wie eingangs von Jan Assmann erwähnt, können Mythen eine fundierende aber auch eine kontra-präsentische Funktion inne haben. In jüngster Vergangenheit ist diese Krise im Sinne der kontrapräsentischen Funktion des Mythos häufig mit dem Terroranschlag am 11. September 2001 und dessen Auswirkungen auch in Form von neuen ‚culture wars‘ verknüpft worden. Der Mythenkritiker Richard Slotkin, der wiederholt auf die gewaltsame Geschichte der USA verwiesen hat, die den Gründungsmythen eingeschrieben ist und die lange Zeit ignoriert wurde, analysiert in diesem Zusammenhang die amerikanischen Reaktionen dahingehend, ob und wie Folter Teil der nationalen Mythologie der USA geworden ist oder werden kann.52 Donald Pease argumentiert, dass die „state fantasy“ (die Vorstellung, die die Amerikaner von ihrem Staat haben und die von einem starken libidinösen ‚investment‘ getragen wird und affektiv besetzt ist) die Diskrepanz zwischen Mythos und der Wahrnehmung drastischer Defizite quasi überbrückt: „Myths normally do the work of incorporating events into recognizable national narratives. But traumatic events precipitate states of emergence that become the inaugural moments in a different symbolic order and take place on a scale that exceeds the grasp of the available representations from the national mythology. Before a national myth can narrate events of this magnitude, the state fantasy that supplies the horizon of expectations orienting their significance must have already become symbolically effective.“53
Aber auch die Überbrückungsleistung der „state fantasy“ kann Diskussionen über das Ende des amerikanischen empire nicht gänzlich überdecken, dessen Erstarken im 19. Jahrhundert mit der mythischen Fundierung einherging. Es mag symptomatisch anmuten, dass nicht nur die hier skizzierten mythischen Figuren in den letzten Dekaden wieder Hochkonjunktur hatten, sondern dass auch die klassischen Mythen des Altertums in einem antikisierenden Hollywood wieder neue Aufmerksamkeit finden und uns diese Beobachtung noch einmal die Frage nach den modernen und anderen Mythen stellt: Gladiator (2000), Troy (2004), Rome (2005-2007), um nur einige Beispiele zu nennen; in gewisser Weise ist natürlich auch Russell Crowe
52 Vgl. Slotkin, Regeneration Through Violence (1973.) 53 Pease, The New American Exceptionalism (2009), S. 5.
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ein Cowboy, wie Amy Kaplan aufzeigt, und passt damit wieder in das amerikanische Repertoire. Im Angesicht der klassizistischen Krisenbewältigung liest Kaplan diese Produktionen jedoch auch als symptomatisch und stellt die diffusen kulturellen Ängste, die sie artikulieren, in den Mittelpunkt ihrer neuhistoristischen Beschäftigung mit diesen Produktionen antiker Stoffe und konstatiert „Roman fever“ und „imperial melancholy“.54 Das amerikanische Imperium, ‚entdeckt‘ in den Fußstapfen von Kolumbus im Sinne einer translatio imperii, besiedelt in christlicher Mission und göttlicher Auserwähltheit und als Staat gegründet im Geiste eines demokratischen Neuanfangs als „first new nation“ (Lipset) hat sich lange in antikisierendem Gewand repräsentiert, was sich auch am epigonalen Klassizismus der Mall in Washington und der Weltausstellungen zeigt. „Are We Rome?“ lautet nun die ängstliche Frage, die Cullen Murphy stellt, wohlwissend, was in der Vergangenheit mit Mythen-fixierten Imperien passiert ist.55 Und auf eine weitere Aporie weist Amy Kaplan in ihrer Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Auserwähltheitsdenken hin: „A key paradox informs the ideology of American exceptionalism: it defines America’s radical difference from other nations as something that goes beyond the separateness and uniqueness of its own particular heritage and culture. Rather, its exceptional nature lies in its exemplary status as the apotheosis of the nation-form itself and as model for the rest of the world. American exceptionalism is in part an argument for boundless expansion, where national particularism and international universalism converge […]. If the fantasy of American imperialism aspires to a borderless world where it finds its own reflection everywhere, then the fruition of this dream shatters the coherence of national identity, as the boundaries that distinguish it from the oustide world promise to collapse.“56
Die fundierenden Mythen des Kolumbus, der Pocahontas, der Pilgrims und der Gründungsväter produzieren das identitätsstiftende Gefühl der amerikanischen Auserwähltheit jeweils auf unterschiedliche Weise: als Abenteuerlust, als Liebe, als Erlösung und Befreiung; dieses Gefühl ist umso intensiver je deutlicher die Konturen des ‚Außens‘ zutage treten, das im Zuge
54 Vgl. Kaplan, Roman Fever (2008). 55 Vgl. Murphy, Are We Rome? (2007). 56 Kaplan, The Anarchy of Empire in the Making of U. S. Culture (2003), S. 16.
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der Selbsterhöhung vehement alterisiert, gar dämonisiert wird, auch wenn es gleichzeitig, so Kaplan, eigentlich auch ‚konvertiert‘ werden soll. Angesichts dieses zentralen Widerspruchs und der kognitiven Dissonanzen, die er hervorbringt, kann gerade das öffentliche Gefühl die mythische Fundierung der USA auch dann noch plausibilisieren und stabilisieren, wenn andere Kanäle nicht (oder nicht mehr) zugänglich sind. Mit und nach Kolumbus zeigt das Figurenarsenal der amerikanischen Gründungsmythen, dass die Kanonrevision zwar die Narrative, die Visualisierung und die kulturellen Praktiken partiell verändert und modifiziert haben mag und auch der Bedeutungskanon pluralistischer und elastischer scheint, nicht aber notwendigerweise die eingangs beschriebenen hegemonialen „structures of feeling“ (Williams); somit erfährt das Archiv der fundierenden Mythen im Zuge revisionistischer Ansätze nicht notwendigerweise tiefgreifende Veränderungen, wenn nicht auch neue demokratischere oder emanzipatorischere Figurationen eine starke affektive Besetzung evozieren können. Daher sind es insbesondere die affektiven Energien der US-amerikanischen ‚state fantasy‘ (nach Pease), deren mögliche Umleitungen und Neu-Affizierungen noch weiteres Augenmerk erfordern. Welche ‚neuen‘ Mythen von Heldentum und Gemeinschaft sich womöglich daraus entwickeln werden, bleibt abzuwarten.
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Der Spanische Bürgerkrieg – Vernetzung und Haltbarkeit moderner Mythen am Beispiel eines Mythenkomplexes C LAUDIA J ÜNKE
1. E INLEITUNG Für die diesem Band zugrunde liegende Frage nach der Haltbarkeit, Kanonisierung und Vernetzung moderner Mythen kann der Spanische Bürgerkrieg als Musterbeispiel herangezogen werden.1 Zum einen hat sich der Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ als ausgesprochen persistent erwiesen, da seine Strahlkraft bis in die Gegenwart hinein reicht. Zum anderen weist er eine ausgeprägte Vernetzungsstruktur auf – sowohl intern, da es sich streng genommen weniger um einen Mythos als vielmehr um einen Mythenkomplex handelt, der aus einer Vielzahl von Teilmythen besteht, als auch extern, da er eine Reihe von Schnittstellen und Berührungspunkten zu anderen mythischen Bildern und Erzählungen der Moderne und Gegenwart aufweist und mit diesen verknüpft ist. Wie zu zeigen sein wird, stehen die beiden genannten Aspekte in einem Zusammenhang: Die Vernetzung des Mythos garantiert seine Stabilität und Fortdauer, da sie dazu beiträgt, ihn in die Textur der vom Menschen selbst gesponnenen Bedeutungsgewebe2 ein1
Der vorliegende Text basiert auf dem von mir verfassten Lemma „Spanischer Bürgerkrieg“ in Wodianka/Ebert, Metzler Lexikon moderner Mythen (2014), dessen Überlegungen hier aufgegriffen und weiterentwickelt werden.
2
Im Sinne des Kulturbegriffs von Clifford Geertz; vgl. Geertz, Dichte Beschreibung (1983), S. 9.
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zuflechten und ihn somit kulturell zu verankern. Die interne Verweisstruktur des Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass er gleichsam das Gesamt einer Reihe von mythischen Ereignissen, Erzählungen, Figuren, Orten und Bildern darstellt, die sich in ihm kristallisieren beziehungsweise sich unter seinem Dach zu einem Mythencluster zusammenfinden. Die externe Vernetzung resultiert aus der Anschlussfähigkeit zentraler Inhalte dieses Mythos an andere Mythen des 20. und 21. Jahrhunderts – etwa die Mythen ‚Fortschritt‘, ‚Widerstand‘ oder ‚Bruderkonflikt‘. Im Folgenden sollen einige wesentliche Aspekte des Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ skizziert und auf die im vorliegenden Sammelband verhandelten Problemstellungen hin untersucht werden. Im Vergleich zu einer ganzen Reihe anderer moderner Mythen, die in dem von Stephanie Wodianka und Juliane Ebert 2014 herausgegebenen Metzler Lexikon moderner Mythen verzeichnet sind (wie etwa ‚Pippi Langstrumpf‘, ‚Romeo und Julia‘ oder ‚American Dream‘), weist der Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ ein Spezifikum auf, das ihn andererseits aber auch mit anderen dort verzeichneten Lemmata (wie etwa ‚Verdun‘, ‚Stalingrad‘ oder ‚Kalter Krieg‘) verbindet: Gegenstand der Mythisierung ist ein Ereignis der historischen Realität – neben dem Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ existiert der Spanische Bürgerkrieg als geschichtliches Geschehen und erlebte Wirklichkeit.
2. D ER S PANISCHE B ÜRGERKRIEG : G ESCHICHTE – E RINNERUNGSORT – M YTHOS Als geschichtliches Ereignis bezeichnet der Spanische Bürgerkrieg einen Geschehenskomplex, der am 17./18. Juli 1936 mit dem Militärputsch rechtsgerichteter Kräfte um Francisco Franco gegen die gewählte Volksfrontregierung der Zweiten Republik beginnt – ein Militärputsch, der den Anfang eines fast dreijährigen Krieges markiert. Den Aufständischen gelingt es in den folgenden Monaten und Jahren, immer mehr Teile des spanischen Territoriums unter ihre Kontrolle zu bringen, auch aufgrund der wachsenden Konflikte im antifranquistischen Lager. Am 1. April 1939 erklärt Franco den Krieg für beendet und errichtet ein autoritär-repressives Regime, das bis zu seinem Tod im Jahr 1975 Bestand haben wird. In den Kampfhandlungen kommen zwischen 100.000 und 150.000 Menschen ums
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Leben, etwa ebenso viele fallen den Repressionen der Nachkriegszeit zum Opfer, knapp 500.000 Personen gehen aus politischen Gründen ins Exil.3 Obwohl der Krieg von Anfang an eine internationale Dimension hat – vor allem durch die Unterstützung der Kriegsparteien durch die Sowjetunion beziehungsweise durch die faschistischen Staaten Deutschland und Italien – ist er „in seinem Ursprung und seiner historischen Bedeutung […] ein primär innerspanischer Konflikt“,4 der aus den ins 19. Jahrhundert zurückreichenden sozialen Konflikten (v.a. der ungelösten Agrarfrage), den Spannungen zwischen der Zentralregierung und den Regionen, dem Antagonismus von Kirche und Staat sowie der wachsenden politischen Polarisierung während der republikanischen Jahre resultiert. Von dieser geschichtlichen Realität ist nicht allein der Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ abzugrenzen, sondern auch der Erinnerungsort ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ im Sinne des von Pierre Nora geprägten geschichtswissenschaftlichen Konzepts.5 Das historische Ereignis ist nicht nur zu einem Mythos geworden, sondern auch zu einem Erinnerungsort – eine Differenzierung, die für andere auf historische Geschehnisse bezogene moderne Mythen ebenfalls relevant sein könnte. Ulrich Winter unterscheidet die beiden Konzepte folgendermaßen: „Mythos und Erinnerungsort sind nicht identisch, aber funktional kompatibel. Ist der Mythos universell, zirkulär und ermöglicht semantisches Recycling, so ist der Erinnerungsort historisch und kulturräumlich individuiert: er bezieht sich auf einzelne genau verortete Ereignisse – eben ‚Orte‘ –, die Metaphern für typische Konflikte und Verlaufsformen nationaler Geschichte sind.“6
Als Mythos wird der Spanische Bürgerkrieg tendenziell aus seinem unmittelbaren und konkreten historischen und politischen Kontext herausgelöst und hat sowohl eine inter- und transnationale als auch eine universellabstrakte Dimension. Dekontextualisierung, Universalisierung und Abstraktion sind zentrale Operationen, die im Kontext der mythentypischen
3
Vgl. Bernecker/Brinkmann, Kampf der Erinnerungen (2006), S. 96.
4
Bernecker, Wiederkehr der ‚zwei Spanien‘? (2007), S. 145.
5
Vgl. Nora, Entre Mémoire et Histoire (1997).
6
Vgl. Winter, Erzählen, Beschreiben, Argumentieren (2007), S. 237.
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Reduktion von Komplexität und Steigerung von Bedeutsamkeit wirksam sind.7 Während der Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ bereits während des Krieges selbst entsteht, wo er eine prospektive Funktion hat und der politisch-ideologischen Mobilisierung dient, ist seine Funktionalisierung als Erinnerungsort notwendig an eine retrospektive Wahrnehmung gebunden und zielt darauf, über das Gedenken an das geschichtliche Ereignis Identität zu stiften. Als Erinnerungsort ist der Spanische Bürgerkrieg auf die konkreten historischen und politischen Kontexte der Vergangenheit und die besonderen erinnerungskulturellen Konstellationen in der Gegenwart bezogen. Ihm ist also im Unterschied zum Mythos eine partikulare, kulturspezifische Dimension eigen, die auf einen Schlüsselmoment der nationalen spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verweist. Im Fall des Spanischen Bürgerkrieges macht die Differenzierung zwischen Mythos und Erinnerungsort somit die Überlagerung unterschiedlicher Funktionalisierungen des historischen Geschehens sichtbar: Hat das Ereignis heute im inter- und transnationalen Kontext eine polyvalente mythische Dimension, so dominiert im nationalen Kontext eine bedeutende erinnerungspolitische Funktion, die auf nationale Erinnerungsbedürfnisse fokussiert ist und die transnationalen und transkulturellen mythischen Konnotationen überlagert. Bemerkenswert ist dabei, dass der Bürgerkrieg in Spanien kein einvernehmlicher Erinnerungsort ist und keine einheitliche nationale Identität stiftet;8 es gibt keinen Konsens darüber, wie die Geschichte des Spanischen Bürgerkrieges zu erzählen sei. Das Geschehen verweist vielmehr gerade auf die erinnerungskulturellen Bruchstellen, die zwischen den unterschiedlichen Gedächtnistraditionen der Sieger und Verlierer von Krieg und Diktatur und zwischen den erinnerungskulturellen Bedürfnissen der spanischen Nation und der regionalen Nationalitäten (vor allem Kataloniens und des Baskenlandes) existieren.
7
Zur Bestimmung des Mythos als Reduktion von Komplexität und Steigerung von Bedeutsamkeit vgl. Jünke, Erinnerung – Mythos – Medialität (2012), S. 515.
8
Dies wird etwa in der Tatsache deutlich, dass für Spanien, anders als für andere europäische Nationen, kein Großprojekt samt entsprechender Publikation zu den nationalen Erinnerungsorten existiert.
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3. D IE E NTSTEHUNG DES M YTHENKOMPLEXES WÄHREND DES B ÜRGERKRIEGES Betrachtet man die Entstehung und Herausbildung des Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘, so sind vier Dinge festzustellen. Erstens – darauf wurde bereits hingewiesen – handelt es sich um einen Mythenkomplex, der sich aus verschiedenen Teilmythen (das heißt mythischen Ereignissen, Personen, Orten, Sprachformeln usw.) zusammensetzt, die teilweise auch abgelöst vom Gesamt des Mythenclusters eine eigene Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte aufweisen. Zweitens setzt die Mythisierung gleichzeitig mit dem historisch-politischen Geschehen ein, auf die sie sich bezieht; sie ist also kein ausschließlich nachträgliches, sondern bereits ein zeitgenössisches Phänomen. In der Kriegszeit steht die Mythenbildung im Zeichen von politischer Propaganda und Legitimation der jeweiligen militärischen Ziele. Damit verbunden ist drittens, dass zwischen der Mythenbildung auf den beiden kriegsführenden Seiten zu unterscheiden ist, es also gleichsam zu einer Parallelität zweier sich entwickelnder Mythencluster – einem franquistischen und einem antifranquistischen – kommt. Und viertens ist festzustellen, dass während des Krieges in Bezug auf die Mythenkonstruktion die nationale sowie die inter- und transnationale Perspektive weitgehend zusammenfallen, das heißt dass man auf beiden kriegsführenden Seiten nur schwer zwischen spanischen und außerspanischen Deutungen unterscheiden kann. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Ereignisse dieser Jahre Spanien in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt haben. Auf antifranquistischer Seite reflektiert dies vor allem das Engagement vieler ausländischer Künstler und Intellektueller wie zum Beispiel George Orwell, Ernest Hemingway, John Dos Passos, Robert Capa, Gerda Taro, André Malraux, Antoine de Saint-Exupéry, Simone Weil, Arthur Koestler, Carl Einstein, Klaus und Erika Mann – um nur einige prominente Akteure zu nennen. Sowohl aus nationaler als auch aus internationaler Perspektive erscheint Spanien in dieser Zeit als der Schauplatz, an dem der globale Kampf der Ideologien, der Konflikt zwischen Faschismus und Antifaschismus ausgetragen wird. Auf der franquistischen Seite werden der Militärputsch zum Glorioso Alzamiento Nacional, zur ‚ruhmreichen nationalen Erhebung‘, und der Krieg zur Cruzada, zu einem ‚Kreuzzug‘ stilisiert, der der Verteidigung des christlichen Abendlandes und des vermeintlich ‚ewigen‘ und ‚wahren‘,
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nämlich konservativ-katholischen Spaniens gegen die als ‚Rote’ und ‚Antispanier‘ diffamierten Gegner dient. Dies reflektiert einer der zentralen franquistischen Kriegsmythen,9 der Mythos von der Verteidigung des Alcázar von Toledo. Unter Verzerrung der historischen Tatsachen spricht die franquistische Version der mythischen Erzählung von der mehr als zwei Monate (Juli bis September 1936) dauernden heroischen Verteidigung des Gebäudes, in dem sich seinerzeit eine Militärakademie befand, durch Anhänger der Aufständischen, darunter der Militärkommandant der Stadt, der bereit war, das Leben seines von den Republikanern als Geisel festgehaltenen Sohnes für das Vaterland zu opfern. Der propagandistische Erfolg dieser Erzählung ist groß, nicht zuletzt aufgrund der besonderen symbolischen Bedeutung der Stadt Toledo10 sowie der Tatsache, dass sie das Geschehen an andere spanische Nationalmythen wie den der Verteidigung von Tarifa gegen die Mauren durch Guzmán El Bueno am Ende des 13. Jahrhunderts anschließbar macht.11 Neben Ereignissen werden auch Personen im Hinblick auf die Stiftung kollektiver Identität mythisiert, allen voran der Diktator Francisco Franco selbst, um den sich ein Personenkult entwickelt, der besonders in der öffentlichen Omnipräsenz seines Namens und Konterfeis (Straßenbezeichnungen, Porträts, Reiterstandbilder, Münzen usw.) zum Ausdruck kommt. Prominentester Vertreter derjenigen, die vom Regime als ‚Gefallene für Gott und das Vaterland‘ verehrt werden, ist der von den Republikanern zu Beginn des Krieges hingerichtete Begründer der spanischen faschistischen Partei Falange, José Antonio Primo de Rivera, der zur wichtigsten Märtyrergestalt der Franquisten wird. Auf der Seite der Antifranquisten wird der Krieg zum Kampf für die Errungenschaften der Republik und gegen eine Ideologie, die die spanische Identität allein in Nationalismus, Konservativismus und Katholizismus fundieren möchte. Vor allem in Katalonien wird er darüber hinaus mit dem Revolutionsmythos verknüpft, der besonders vom Anarchisten Buenaventu-
9
Zu den Kriegsmythen der Aufständischen vgl. allgemein Trappe, Kriegsmythen (2011).
10 Toledo war seit dem Jahr 531 n. Chr. die Hauptstadt des Westgotenreichs, das einen zentralen historischen Referenzpunkt für die nationalkatholische Ideologie und Mythenbildung darstellt. Vergleichbares gilt für die Rückereroberung Toledos von den Mauren im Kontext der Reconquista im Jahre 1085 n. Chr. 11 Vgl. Bernecker/Brinkmann, Kampf der Erinnerungen (2006), S. 200f.
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ra Durruti verkörpert wird, der nach dem „kurzen Sommer der Anarchie“12 bereits im November 1936 ums Leben kommt. Weitere Persönlichkeiten, die für die Gegner der Franquisten zu Symbolfiguren geworden sind, sind der Schriftsteller und Philosoph Miguel de Unamuno, dessen Kritik an den Aufständischen sich in der vielzitierten Formel „Venceréis, pero no convenceréis“13 kristallisiert, sowie der Dichter Federico García Lorca, Repräsentant des liberalen und fortschrittlichen Spaniens seiner Zeit, der in den ersten Kriegswochen von den Putschisten in seiner andalusischen Heimat ermordet und an einem bis heute unbekannten Ort verscharrt wird. Einer der wichtigsten Geschehenskomplexe, der für die antifranquistische Seite zu einem Mythos geworden ist, ist die Verteidigung von Madrid. Die Stadt wird bis kurz vor Kriegsende von den republikanischen Truppen und der Zivilbevölkerung gegen die wiederholten Angriffe der Franquisten gehalten. Auch die legendären Internationalen Brigaden, die sich aus ausländischen Freiwilligen zusammensetzen und vor allem eine große symbolische Bedeutung für den antifranquistischen Kampf haben, sind an der Verteidigung der „Capital de la gloria“14 beteiligt. In diesem Zusammenhang ist auch die Kommunistin Dolores Ibárruri, genannt ,La Pasionaria‘, zu einer mythischen Gestalt geworden. Mit dem Ausspruch „¡No pasarán!“15 ruft sie die Bevölkerung der Hauptstadt zur Fortsetzung des Widerstandes auf.
12 Vgl. Enzensberger, Der kurze Sommer der Anarchie (1977). 13 Die deutsche Übersetzung „Ihr werdet siegen, aber ihr werdet nicht überzeugen“ kann die poetische, auf einem Wortspiel basierende Verdichtung des spanischen Originals nicht wiedergeben. 14 So der Titel einer Reihe von Gedichten, die Rafael Alberti anlässlich der Verteidigung von Madrid verfasst hat (vgl. Alberti, Capital de la gloria (1988)). 15 Der Ausspruch wurde durch Dolores Ibárruris Verwendung weltweit bekannt; zuerst geprägt wurde er in der französischen Version „Ils ne passeront pas!“ durch den französischen General Robert Nivelle während der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg (vgl. Mould, The Routledge Dictionary (2011), S. 55).
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4. M YTHOS
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Die Wichtigkeit von Medien und medialen Darstellungen in Literatur, Malerei, Plakatkunst, Radio, Fotografie und Film für die Herausbildung des Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ kann kaum überschätzt werden. Beide kriegsführenden Parteien nutzen die modernen Kommunikationsmedien für die Durchsetzung ihrer jeweiligen politischen Ziele. Auf franquistischer Seite wird etwa 1937 der heutige öffentlich-rechtliche Rundfunksender Radio Nacional de España gegründet, der zu einem bedeutenden Instrument politischer Propaganda avanciert. Im Bereich des Films ist beispielhaft die italienisch-spanische Produktion Sin novedad en el Alcázar aus dem Jahr 1940 zu nennen, die eine zentrale Rolle für die zeitgenössische mediale Diffusion der Ereignisse um die bereits erwähnte Verteidigung des Alcázar von Toledo nicht nur in Spanien, sondern auch in Italien und Deutschland spielt. Speziell im nationalsozialistischen Deutschland erlebt der AlcázarMythos eine bedeutende Konjunktur, wobei besonders der Aspekt des Widerstandes der jungen Kadetten gegen die ‚Roten‘ in den Mittelpunkt rückt.16 Auf Seiten der Antifranquisten finden sich eine ganze Reihe von medialen Darstellungen, die zumeist als Instrumente des politischen Engagements fungieren. Im Bereich des Films ist zunächst Joris Ivensʼ zur Unterstützung der Republik gedrehter Dokumentarfilm The Spanish Earth (1937) zu nennen, der die Unterstützung der Verteidiger von Madrid durch die kastilische Landbevölkerung thematisiert. Auch André Malraux verfolgt mit dem Film Sierra de Teruel (1938/39), der auf seinem Roman L’Espoir (1937) basiert und von dem Kampf republikanischer Soldaten gegen den Vormarsch der Franquisten handelt, das Ziel, international für die Unterstützung der republiktreuen Truppen zu werben. George Orwells Buch Homage to Catalonia (1938) ist ein autobiographischer Bericht über seine Erlebnisse bei der marxistischen POUM, über den Kampf gegen die Aufständischen und die Auseinandersetzungen innerhalb des linken Lagers. Ernest Hemingway, der als Kriegsreporter aus Spanien berichtet, erzählt in seinem Roman For Whom the Bell Tolls (1940) von einem USamerikanischen Sprengstoffexperten, der sich im antifranquistischen Guerillakampf engagiert. Der Roman wird 1943 mit Gary Cooper und Ingrid Bergmann in den Hauptrollen verfilmt.
16 Vgl. Pichler, Der Alcázar von Toledo (2005).
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Im Bereich der Fotografie dokumentiert vor allem Robert Capa das spanische Geschehen in einer Vielzahl von Bildern, die in verschiedenen internationalen Zeitschriften wie dem US-amerikanischen Magazin Life veröffentlicht werden. Seine Fotografie des loyalistischen Soldaten, der im Moment der Aufnahme von einer feindlichen Kugel getroffen sterbend zu Boden fällt, ist zu einer der weltweit bekanntesten Kriegsfotografien geworden – unabhängig von den Diskussionen um ihre Authentizität. Die berühmteste Thematisierung des Spanischen Bürgerkrieges im Bereich der Malerei ist zweifellos das großformatige Gemälde Guernica, das Pablo Picasso im Auftrag der republikanischen Regierung anlässlich der Zerstörung der baskischen Stadt durch deutsche Flieger der Legion Condor am 26. April 1937 unmittelbar unter dem Eindruck der Ereignisse malt. Nicht zufällig wurde ausgerechnet Gernika bombardiert: Diese Stadt ist für die baskische Identität und Erinnerungskultur seit jeher von großer symbolischer Bedeutung, da mit ihr die traditionellen politischen Sonderrechte und die basisdemokratische Tradition der Region verbunden sind. Das Bild, das Picasso im Auftrag der republikanischen Regierung für den spanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris anfertigt, klagt auf eindringliche Weise die an der spanischen Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen der Aufständischen und ihrer Verbündeten an.
5. D IE E NTWICKLUNG DES M YTHENKOMPLEXES B ÜRGERKRIEG BIS ZUR G EGENWART
VOM
Auffällig ist, dass nach dem Bürgerkrieg die nationale und die inter- bzw. transnationale Sicht auf den Spanischen Bürgerkrieg, die in den Jahren 1936-1939 eng miteinander verwoben waren, auseinandertreten; mit dem Ende des Bürgerkrieges und dem nur wenig später beginnenden Zweiten Weltkrieg rückt Spanien aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit heraus. Im Land selbst wird der Bürgerkrieg in der Nachkriegszeit zum Gründungsmythos des neuen Regimes, das sich über die Erinnerung an den Triumph über die Volksfront selbst legitimiert.17 Manifest wird dies vor allem im zentralen Erinnerungsort des Franquismus, dem 1959 eingeweihten Valle de los Caídos, dem ‚Tal der Gefallenen‘. Die monumentale Gedenkstätte birgt ne-
17 Vgl. Aguilar Fernández, Memoria y olvido (1996).
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ben den Grabstätten Francos und J. A. Primo de Riveras die Gebeine von etwa 40.000 Kriegsgefallenen vornehmlich des franquistischen Lagers, deren Tod als Opfertod für das Vaterland präsentiert wird. Die Mythisierung des Krieges steht hier also im Zeichen der Heroisierung und der Schaffung von Märtyrergestalten auf Seiten der Sieger. In den Jahren des Übergangs von Diktatur zu Demokratie wird die politisch-ideologische Mythisierung des Bürgerkrieges abgelöst von dem Bestreben, im Namen von Konsens, Ausgleich und Versöhnung eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Erbe von Krieg und Diktatur zu vermeiden. Vermehrt rekurriert wird auf das bereits im Spätfranquismus herangezogene mythische Deutungsmuster des ‚Bruderkonfliktes‘,18das unter Anspielung auf biblisch-archetypische Muster (vor allem die Geschichte von Kain und Abel) den Krieg als eine kollektive Tragödie interpretiert, unter der alle gelitten haben und für die alle verantwortlich sind. Es kommt also zu einer semantischen Weitung und Ent-Spezifizierung, der im Zuge der zeitgeschichtlichen Herausforderungen eine Beschwichtigungsfunktion zukommt. Diese Funktion kann der Mythos ab der Mitte der 1990er Jahre nicht mehr erfüllen: Der Bürgerkrieg rückt in Spanien erneut ins Zentrum des öffentlichen Interesses und wird nun zum Gegenstand kontroverser politischer und zivilgesellschaftlicher Diskussionen. Erst jetzt beginnt auf breiter Ebene die kollektive Aufarbeitung und Bewältigung der Verbrechen von Krieg und Diktatur, etwa in Gestalt der Suche nach republikanischen Massengräbern und der Exhumierung und Identifizierung der dort verscharrten Opfer der franquistischen Repression.19 Im Unterschied zu diesen hochgradig spezifischen, kontextualisierten und erinnerungspolitisch aufgeladenen Bezugnahmen auf den Spanischen Bürgerkrieg in Spanien selbst ist die Geschichte seines Mythos auf internationaler Ebene zunehmend diejenige bestimmter ikonischer Bilder, Momente oder Formeln, die aufgrund ihrer Dekontextualisierbarkeit, Universalität, Abstraktheit und semantischen Dichte in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen aufgegriffen und re-semantisiert werden können. Die semantische Weitung dient hier somit der Aktualisierbarkeit des Mythos in wechselnden Kontexten. Einige der ikonischen Elemente haben sich als besonders langlebig und persistent erwiesen, so etwa der Schlachtruf „No
18 Vgl. Juliá, De ‚guerra contra el invasorʻ a ‚guerra fratricidaʻ (1999). 19 Vgl. Bernecker/Brinkmann, Kampf der Erinnerungen (2006), S. 283-313.
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pasarán!“, der international immer wieder bei Demonstrationen gegen verschiedene politische Missstände (Protest gegen Faschismus, Rassismus, Sozialkürzungen etc.) aufgegriffen wird. Robert Capas Fotografie des tödlich getroffenen loyalistischen Soldaten wurde von verschiedenen Künstlern rezipiert und re-interpretiert, etwa durch den israelischen Bildhauer Igael Tumarkin in seiner Plastik Freedom is not free aus dem Jahr 2004, in der die Darstellung des sterbenden Milizionärs Anlass zur Reflexion auf den Begriff der Freiheit bietet.20 Das in diesem Zusammenhang wohl berühmteste Beispiel ist Picassos Guernica, das sich im Verlauf seiner Rezeptionsgeschichte zunehmend von seinem Entstehungskontext abgelöst hat sowie zu einem eigenständigen Mythos und zu einer medial omnipräsenten Anti-Kriegs-Ikone avanciert ist, die das Leid der Zivilbevölkerung angesichts der Schrecken eines Luftkrieges sichtbar macht. Das eigenständige mythische Potential von Guernica zeigt sich darin, dass das Gemälde durch seine eigene Bedeutsamkeit zum Ausgangspunkt einer ‚neuen‘ Serie von Narrationen, Bildern und Funktionalisierungen wird, die nicht mehr notwendigerweise an den Ursprungsmythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ zurückgebunden werden müssen, sondern ihr semantisches Potential auch unabhängig davon entfalten können. So wurde das Gemälde beispielsweise im Kontext des internationalen Protestes gegen den Vietnamkrieg aufgegriffen und bei Demonstrationen gezeigt. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte das Bild bekanntermaßen auch bei einem Ereignis, bei dem es gerade nicht sichtbar war: der Rede des damaligen USamerikanischen Außenministers Colin Powell, der am 5. Februar 2003 vor der versammelten Weltpresse die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak beweisen und damit den Angriff der USA auf den Irak legitimieren wollte.21 Im Vorraum des Sitzungssaals des UNO-Sicherheitsrates in New York, in dem die Veranstaltung stattfand, befindet sich seit 1985 eine Re-
20 Und auch mit der Umkehrung der Botschaft des Originals spielt: Klagt Capa in seinem Foto die tödliche Gewalt des Krieges an, so greift Tumarkin mit dem Titel seines Kunstwerkes eine in den USA oft verwendete Formel auf, die gerade auf die ‚positive‘, da vermeintlich friedenssichernde Rolle des Militärs abzielt. Diesen Hinweis verdanke ich Heike Paul. 21 Vgl. hierzu Schweizer/Vorholt, Der ‚Guernica‘ Cover-Up (2003).
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produktion von Guernica in Gestalt einer Tapisserie22, die anlässlich von Powells Rede verhüllt wurde: Der Weltöffentlichkeit sollte der Beginn eines neuen Luftkrieges nicht vor einem Bild, das eindringlich die Schrecken eines solchen Krieges denunziert, verkündet werden. Die Magazine The New Yorker und Harper’s machten daraufhin Picassos Gemälde, eingefasst von einem sich öffnenden oder schließenden Vorhang, jeweils zum Titelbild einer ihrer Ausgaben. Abbildung 1: Goshka Macuga, The Nature of the Beast
Quelle: Ansicht der Installation von Goshka Macuga, The Nature of the Beast, Ausstellung in der Whitechapel Gallery, 5. April 2009 bis 4. April 2010. Mit Genehmigung der Whitechapel Gallery, Whitechapel Gallery Archive. Fotographie von Patrick Lears.
Dieses Geschehen wurde wiederum unter anderem von der polnischbritischen Künstlerin Goshka Macuga in ihrer preisgekrönten Installation The Nature of the Beast aufgegriffen, die 2009/10 in der Londoner Whitechapel Gallery stattfand. In diesem Museum war 1939 Picassos Gemälde zu sehen; es machte dort Station im Rahmen einer internationalen Ausstellungsreihe, mit der versucht wurde, Geld für den antifranquistischen Kampf
22 Es handelt sich um eine von drei Tapisserien, die 1955 im Auftrag von Nelson Rockefeller und in Zusammenarbeit mit Picasso von Jacqueline de la Baume Dürrbach hergestellt wurden. Vgl. Bronson Altman, Picasso’s Guernica (2010).
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in Spanien zu sammeln. Im Zentrum der Installation23 (vgl. Abbildung 2) stand jene Tapisserie-Reproduktion von Guernica, die normalerweise im New Yorker UNO-Gebäude hängt, sowie ein von Stühlen umgebener Konferenztisch mit Glasplatte, unter der in verschiedenen Sektionen diverse historische Dokumente ausgestellt waren: Dokumente über die Präsentation von Guernica auf der Pariser Weltausstellung 1937, über die Londoner Guernica-Ausstellung von 1939, über die politischen Aktivitäten des Gewerkschafters Norman King im London der 1930er Jahre, über den Irakkrieg 2003. Weiterhin gehörten zur Installation eine im kubistischen Stil gehaltene Bronzebüste von Colin Powell, Zeitungen, in denen Powells Rede vom 5. Februar 2003 abgedruckt war, ein afghanischer Kriegsteppich und verschiedenes Filmmaterial. Während der Öffnungszeiten des Museums konnte der Tisch von politischen Gruppen, Vereinen und (Hoch-)Schulen für Arbeitstreffen oder Diskussionsrunden genutzt werden – was auch ungefähr hundert Mal der Fall war, vorzugsweise von Initiativen aus der unmittelbaren Umgebung der Galerie, dem East End, einem traditionellen Arbeiter- und Immigrantenviertel.24 Nach dem Ende der Installation schuf Macuga selbst eine Tapisserie, die eine Szene aus der Ausstellungszeit zeigt (Prince William hält vor eine Reihe von Zuhörern eine Rede, während er vor der Guernica-Tapisserie steht). Wie aus dieser Beschreibung deutlich wird, ist die Installation zugleich Kunstwerk, Archiv und performativer Raum; sie schlägt eine Brücke zwischen den Sphären der Kunst, der Politik und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Macuga schafft ein komplexes Netz von auf einander verweisenden Zeichen, Bezügen und Resonanzen, welches das historische Ereignis der Bombardierung von Gernika, das aus diesem Anlass entstandene Kunstwerk, dessen Rezeptionsgeschichte, eine Reproduktion des Werkes, die eigene Rezeptionsgeschichte dieser Reproduktion und die Geschichte der Whitechapel Gallery verknüpft, um Krieg, Widerstand, politischen Aktivismus und das Verhältnis von Kunst und Politik zu reflektieren sowie politisches Handeln zu initiieren.
23 Vgl. allgemein zur Installation den Ausstellungskatalog Ogg, Goshka Macuga (2010). 24 Vgl. Christov-Bakargiev, On Macuga (2010).
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6. V ERNETZUNG , K ANONISIERUNG UND H ALTBARKEIT MODERNER M YTHEN AM B EISPIEL DES S PANISCHEN B ÜRGERKRIEGES Was lässt sich nun aus dieser knappen Analyse der Strukturen und Entwicklungslinien des Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ im Hinblick auf die Frage der Haltbarkeit und Stabilität moderner Mythen folgern? Bei der Beantwortung dieser Frage kann zwischen zwei Ebenen unterschieden werden: einer allgemeinen, systematischen Ebene, die sich generell auf die Frage der Haltbarkeit moderner Mythen bezieht und einer spezifischen, historischen Ebene, die auf die Stabilität des Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ im Besonderen zielt. In Bezug auf beide Ebenen sollen jeweils drei Punkte herausgestellt werden. Auf allgemeiner Ebene verweist das hier vorgestellte Beispiel eines sich als ausgesprochen haltbar erweisenden Mythos auf eine Dynamik, die aus dem Zusammenspiel dreier Faktoren resultiert, die als Mythenfähigkeit, Transfer und Vernetzung bezeichnet werden können. Erstens erweist sich der Spanische Bürgerkrieg in hohem Maße als mythenfähig, das heißt er gibt Anlässe für die mythentypische Komplexitätsreduktion, semantische Verdichtung und kollektive Identifikation. Als mythosaffin erweist sich vor allem die Grundkonstellation eines binären, bipolaren Konfliktes zweier antagonistischer Kräfte, die zum Beispiel mit den archetypischen, kulturell vorgeprägten und moralisch-ethisch aufladbaren Schemata des Kampfes zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ oder des ‚Bruderkonfliktes‘ korreliert und in die Plotstruktur25 der Tragödie eingefasst werden kann. Daran anschließbar sind eine ganze Reihe weiterer narrativer Schemata – etwa Geschichten von Heldentum, Märtyrertum, Opfertum, Leid und Widerstand –, die sich besonders gut für mythische Verdichtungsprozesse eignen. Dabei entsteht in gewisser Hinsicht eine paradoxe Konstellation: Einerseits ermöglicht die Mythisierung des historischen Substrats erst die Präsenz und Fortdauer des historischen Wissens bis in unsere Gegenwart und in unser kulturelles Gedächtnis hinein. Andererseits verstellt der Mythos aber gerade auch die Erinnerung an das, was er aufzubewahren scheint, indem er die Verbindung zum ursprünglichen Referenzereignis kappt und sich gleichsam verselbstständigt. 25 Im Sinne von Hayden White, Tropics of Discourse (1978).
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Die Mythenfähigkeit des historischen Substrats begünstigt zweitens den Transfer des Mythos von einem historischen oder kulturellen Kontext in einen anderen, der ebenfalls zu seiner Konstanz und Dauerhaftigkeit beiträgt. Der Transfer basiert seinerseits auf der De- und Re-Kontextualisierbarkeit des betreffenden Geschehens: Je eher ein Ereignis aufgrund seiner vermeintlich universalen Aussage von seinem Ursprungskontext entkoppelt werden kann, desto leichter kann es in anderen Zusammenhängen aktualisiert und re-semantisiert werden. Auf diese Weise kommt es zu einer ‚Wanderung‘ des Mythos oder einzelner mythischer Elemente von einem Kontext oder Diskurs in einen anderen. Dies zeigen vor allem hochgradig ikonische Darstellungen wie Picassos Gemälde, das abstrakt genug ist, um in unterschiedlichen Situationen aufgegriffen zu werden, in denen es darum geht, Widerstand gegen einen Bombenkrieg zu mobilisieren. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wann von einer ‚Teilung‘ des Mythos gesprochen werden kann: Wenn Picassos Guernica zum Ausgangspunkt einer neuen mythischen Serie wird, ab welchem Punkt dieser Serie wäre es angemessen, nicht mehr vom Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘, sondern von einem eigenständigen Mythos ‚Guernica‘ zu sprechen? In Bezug auf die Installation von Goshka Macuga ist dies sicherlich der Fall; wo und wie die kritische Schwelle bestimmt werden kann, wäre näher zu untersuchen. Dieser Transfer von Mythen trägt drittens zu einer – diachronen und/oder synchronen – Vernetzungs- und Verweisungsstruktur zwischen verschiedenen Mythen bei, die ebenfalls deren Stabilität und Fortdauer befördert und die Untersuchung moderner Mythen aus einer mythenkomparatistischen Perspektive als vielversprechend erscheinen lässt. Der Spanische Bürgerkrieg ist ein paradigmatisches Beispiel für das zu Beginn dieses Beitrages erwähnte interne und externe Vernetzungspotential von Mythen: Erstens ist er ein Mythengeflecht, in dem mythische Ereignisse wie die Verteidigung von Madrid, mythische Figuren wie Buenaventura Durruti, mythische Sprachformeln wie ‚¡No pasarán!‘ und mythische Bilder wie Capas sterbender Soldat miteinander verknüpft und zueinander in Bezug gesetzt werden. Zweitens ist er selbst mit anderen Mythen verflochten, die sich auf Freiheit, Frieden, Gewalt, Utopie, Fortschritt oder Widerstand beziehen und auf die er somit verweist. Die interne und externe Vernetzungsstruktur des Mythos wird exemplarisch an Goshka Macugas Guernica-Interpretation ablesbar, in der ein komplexes Netz an Verweisen, Verbindungen und Bezügen zwischen verschiedenen Ereignissen hergestellt wird. Es entsteht das,
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was mit Michael Rothberg als „multidirektionale Erinnerung“ bezeichnet werden kann: „I call this the multidirectionality of memory: the interference, overlap, and mutual constitution of seemingly distinct collective memories that define the postwar era and the workings of memory more generally.”26
Es ergeben sich Verknüpfungen, zwischen verschiedenen Geschichten von Krieg, Gewalt oder Widerstand im öffentlichen Raum, deren Dynamik eine produktive Wirkung im Hinblick auf den Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart entfalten kann. Auch in Bezug auf die Haltbarkeit und Persistenz des Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ im Besonderen sollen abschließend drei Aspekte angeführt werden. Sie machen deutlich, dass dieser Mythos auch deshalb so langlebig ist, weil er einen Raum eröffnet, um auf einige fundamentale Fragen und Konfliktlinien des 20. und 21. Jahrhunderts zu reflektieren. Erstens wird der Krieg durch die mythentypische semantische Komplexitätsreduktion und Verdichtung metaphorisch oder metonymisch funktionalisiert im Hinblick auf die Darstellung des zentralen spanischen, europäischen und weltpolitischen Konfliktes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In ihm kristallisiert sich der Konflikt zwischen den ‚zwei Spanien‘, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Konservativismus und Liberalismus und vor allem zwischen Faschismus und Antifaschismus. Die besondere weltpolitische Konstellation um die Mitte der 1930er Jahre (v.a. die Antagonismen von Faschismus und Kommunismus beziehungsweise Faschismus und Demokratie) befördert die Abstraktion von der Tatsache, dass der Krieg in erster Linie in innerspanischen Problemen wurzelt, und begründet die Evidenz und die mythische Aura des Geschehens. Zweitens befinden wir uns mit dem Spanischen Bürgerkrieg in der Zeit unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah, das heißt jenseits jenes „Zivilisationsbruchs“ (Dan Diner), der die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus unserer heutigen Sicht in ein ‚Davor‘ und ein ‚Danach‘ scheidet. Der Spanische Bürgerkrieg steht in diesem Sinne für den noch nicht erschütterten Glauben an den Erfolg des Widerstandes, an gesellschaftlichen Fortschritt, an die geschichtliche Handlungsmacht des Subjekts und an die 26 Vgl. Rothberg, Multidirectional Memory (2009), S. 162.
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Realisierbarkeit sozialer Ideale und Utopien. Zerstört wird dieses Vertrauen in die humanitäre Kraft der Ideale der Aufklärung nur wenige Jahre später, angesichts der auf die Auslöschung der europäischen Juden zielenden Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Der Spanische Bürgerkrieg steht somit auch für ein historisches Bewusstsein, in das noch nicht die Erfahrung der Katastrophe Eingang gefunden hat, die aus der Perspektive des beginnenden 21. Jahrhunderts die Signatur des 20. Jahrhunderts darstellt. Drittens kann der Spanische Bürgerkrieg schließlich als Teil des „negativen Gründungsmythos“ des Europas der Nachkriegszeit betrachtet werden, der vor allem von der Erinnerung an die Shoah konstituiert wird. Die Formulierung vom „negativen Gründungsmythos Europas“27 besagt, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit der Gewalt, dem Unrecht und den Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit zur Grundlage europäischer Identität und Integration in der Gegenwart werden. Eine solche Funktion übernehmen auch Bilder wie Capas sterbender Soldat oder Picassos unter dem Terror des Luftkrieges leidende Menschen: Sie avancieren zu dekontextualisierten, deterritorialisierten und universalen Ikonen, aus denen der moralische Imperativ abgeleitet wird, die Zukunft in Solidarität und Frieden zu fundieren. Die genannten Aspekte auf der allgemein-systematischen und auf der spezifisch-historischen Ebene begründen die Produktivität des Mythos ‚Spanischer Bürgerkrieg‘ sowie seine Stabilität und Persistenz, die aus den inhaltlichen, strukturellen, kontextuellen und funktionalen Spezifika des Mythos resultieren. So kommt es bis heute zu immer neuen Aktualisierungen des Mythos, wie beispielhaft der Zeitungsartikel „Guernica liegt im Mittelmeer“ vom April 2015 zeigt, in dem ein Nexus zwischen Spanischem Bürgerkrieg und dem Tod unzähliger Flüchtlinge im Mittelmeer hergestellt wird.28 Insofern scheint das weltdeutende Potential des Mythos sowie der sich von ihm abkoppelnden und eigenständig weiter entwickelnden Mythen noch lange nicht ausgeschöpft zu sein.
27 Vgl. Leggewie, Schlachtfeld Europa (2008). 28 Vgl. Stämpfli, Guernica (2015).
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L ITERATUR Aguilar Fernández, Paloma: Memoria y olvido de la Guerra Civil española. Madrid 1996. Alberti, Rafael: Capital de la gloria. In: Montero, Luis García (Hg.): Obras completas, tomo 1. Poesía 1920-1938. Madrid 1988, S. 671-97. Bernecker, Walther L.: Wiederkehr der ‚zwei Spanien‘? Vergangenheitsaufarbeitung und Geschichtsbilder im Spannungsfeld von (Partei-) Politik und Gesellschaft. In: Marx, Christoph (Hg.): Bilder nach dem Sturm. Wahrheitskommissionen und historische Identitätsstiftung zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Münster 2007, S. 145-65. Bernecker, Walther L./Brinkmann, Sören: Kampf der Erinnerungen. Der spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006. Nettersheim 2006. Bronson Altman, Cynthia: Picasso’s Guernica, and the Tapestry it Inspired. In: Ogg, Kirsty (Hg.): Goshka Macuga: The Nature of the Beast (Catalogue of an exhibition held at Whitechapel Gallery, London, April 5 2009 - April 4 2010). London 2010, S. 25f. Christov-Bakargiev, Carolyn: On Macuga and The Nature of the Beast. In: Ogg, Kirsty (Hg.): Goshka Macuga: The Nature of the Beast (Catalogue of an exhibition held at Whitechapel Gallery, London, April 5 2009 April 4 2010). London 2010, S. 18-24. Enzensberger, Hans Magnus: Der kurze Sommer der Anarchie: Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Frankfurt a.M. 1977. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Orig. Thick description. Toward an interpretative theory of culture [1973]. Üb. von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt a.M. 1983. Juliá, Santos: De ,guerra contra el invasor‘ a ,guerra fratricida‘. In: Dies. (Hg.): Víctimas de la Guerra Civil. Madrid 1999, S. 11-54. Jünke, Claudia: Erinnerung – Mythos – Medialität. Die Darstellung des Spanischen Bürgerkrieges im aktuellen Roman und Spielfilm in Spanien. Berlin 2012. Kreis, Georg: Guernica. In: Boer, Pim den (Hg.): Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2. Das Haus Europa. München 2012, S. 445-54.
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Autorinnen und Autoren
Asholt, Wolfgang, ist Prof. em. für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Osnabrück. Seit 2013 ist er Honorarprofessor am Institut für Romanistik der HU Berlin und seit 2012 Senior Fellow am FRIAS (Freiburg). Einschlägige Publikationen: Franz Kafka (hg. mit Jean-Pierre Morel, 2014); und Avantgarde und Modernismus. Dezentrierung, Subversion und Transformation im literarisch-künstlerischen Feld (2014). Er ist Mitherausgeber von Lendemains 2000-2012. Redaktionsmitgliedschaften: Revue critique de Fixxion française contemporaine (elektr. ZS), Romantisme (seit 2015) und Allemagne dʼaujourd'hui (seit 2014). Bizeul, Yves, ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Rostock und assoziierter Forscher am Centre de Sociologie des Religions et d’Éthique Sociale der Université Marc Bloch, Strasbourg. Einschlägige Publikationen: Hg. Rekonstruktion des Nationalmythos? Deutschland, Frankreich und die Ukraine im Vergleich (2013); Mythos, Ideologie und Utopie im heutigen französischen Republikanismus, in: Mythos in Medien und Politik, hg. v. Peter Tepe/Tanja Semlow (2011), S. 140-55; und Politische Mythen im Zeitalter der ‚Globalisierung‘, in: Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung, hg. v. Klaudia Knabel/Dietmar Rieger/Stephanie Wodianka (2005), S. 17-36); Politische Mythen und Rituale in Polen, Deutschland und Frankreich (2000). Büttner, Sebastian M., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied der DFG-geförderten Forschergruppe „Europäische Vergesell-
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schaftung“. Einschlägige Publikationen: Kultursoziologie. Klassische Beiträge und aktuelle Debatten (hg. mit Frank Adloff/Stephan Moebius/Rainer Schützeichel, 2014); Art. Fortschritt (mit Jan Weyand), in: Metzler Lexikon moderner Mythen, hg. v. Stephanie Wodianka/Juliane Ebert, 2014, S. 1368; und Mobilizing Regions, Mobilizing Europe: Expert Knowledge and Scientific Planning in European Regional Development (2012). Decker, Jan-Oliver, ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Mediensemiotik an der Universität Passau und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Semiotik DGS e.V. Einschlägige Publikationen: Art. Marlene Dietrich, Michael Jackson, Madonna, Marilyn Monroe, in: Metzler Lexikon moderner Mythen, hg. v. Stephanie Wodianka/Juliane Ebert (2014), S. 90-2, 201-3, 243-6, 266-70; ‚Jugend‘ als mythische Initiation in Michael Endes Jim Knopf-Romanen, in: Jugendliche Lebenswelten in der Mediengesellschaft, hg. v. Alev Inan (2012), S. 159-77; Madonna. Die Konstruktion einer Popikone im Musikvideo, in: Bilder, die Geschichte schrieben, hg. v. Gerhard Paul (2011), S. 244-51; und Die Atriden. Zur Meta-Metaphorik eines Mythos in der Literatur der Goethezeit, in: Das diskursive Erbe Europas: die Antike, hg. v. Dorothea Klein/Lutz Käppel (2008), S. 63-99. Ebert, Juliane, ist wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Romanistik der Universität Rostock. Einschlägige Publikationen: Ikone und Diskurs. Das französische Chanson als moderner Mythos, in: Lust am Mythos. Kulturwissenschaftliche Neuzugänge zu einem populären Phänomen, hg. v. Harm-Peer Zimmermann (2015), S. 271-7; Metzler Lexikon moderner Mythen (hg. mit Stephanie Wodianka, 2014); darin Art. Chanson, Flaneur, Paris, S. 73-8, 133-5, 287-92; und Die Marseillaise: Dimensionen einer Ursprungserzählung, in: Von Ursachen sprechen. Eine aitiologische Spurensuche, hg. v. Christiane Reitz/Anke Walter (2014), S. 191-208. Hörner, Fernand, ist Professor für Kulturwissenschaften im Bereich Kultur, Ästhetik, Medien an der Hochschule Düsseldorf. Zuvor war er in Freiburg Stellvertretender Kommissarischer Leiter des Zentrums für Populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg, Vertretungsprofessor im Institut für Medienkulturwissenschaft und Geschäftsführer am Frankreich-Zentrum. Er ist Gründer und Mitherausgeber des Online-Songlexikons (www.song-
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lexikon.de). Einschlägige Publikationen: Das französische Chanson im Spiegel seiner medialen (R)evolutionen. La chanson française à la lumière des (r)évolutions médiatiques (hg. mit Ursula Moser, 2015.); Hg. Kulturkritik und das Populäre in der Musik (2015); Gallien in Gefahr. Die Einflussangst des Astérix, oder: Harold Bloom Goes Pop, in: Die amerikanischen Götter. Transatlantische Prozesse in der deutschsprachigen Popkultur seit 1945 (hg. v. Stefan Höppner/Jörg Kreienbrock 2015), S. 209-32; und Asterix, in: Metzler Lexikon moderner Mythen, hg. v. Stephanie Wodianka/Juliane Ebert (2014), S. 26-8. Ißler, Roland Alexander, ist Romanischer Philologe und Juniorprofessor für Didaktik der Romanischen Sprachen und Literaturen am Institut für Klassische und Romanische Philologie der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn sowie Président der Association internationale Europe Mythe et Symboles (A.I.E.M.S.), Paris/Bruxelles. Einschlägige Publikationen: Europa Romanica. Stationen literarischer Mythenrezeption in Frankreich, Italien und Spanien zwischen Mittelalter und Gegenwart (2015); Art. Pythagoras (mit Almut-Barbara Renger), in: Der Neue Pauly: Historische Gestalten der Antike (2013), Sp. 797-818; Art. Europa, Stier, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg. v. Günter Butzer/Joachim Jacob (2012), S. 105-7, 426-8; Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund (hg. mit Almut-Barbara Renger, 2009); und darin: Stier und Sternenkranz: Europa in Mythos und Geschichte. Ein Rundgang, S. 51-99. Jünke, Claudia, vertritt derzeit die Professur für Romanische Kulturwissenschaft an der Universität Osnabrück. Einschlägige Publikationen: Erinnerung – Mythos – Medialität. Die Darstellung des Spanischen Bürgerkrieges im aktuellen Roman und Spielfilm in Spanien (2012); Unausweichlichkeit des Mythos – Mythopoiesis in der europäischen Romania nach 1945 (hg. mit Michael Schwarze, 2007); darin: Mythos als Erinnerungsmodus – Zur Repräsentation des Spanischen Bürgerkrieges im aktuellen Spielfilm in Spanien, S. 219-34; und darin: Mythopoiesis in der europäischen Romania der Gegenwart – Theoretische Perspektiven und kulturelle Praxis (mit Michael Schwarze), S. 9-21.
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Matuschek, Stefan, ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Friedrich-SchillerUniversität Jena und Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs „Modell Romantik. Variation – Reichweite – Aktualität“. Einschlägige Publikationen: Handbuch der Mythologie (mit Christoph Jamme, 2014); Mythologisieren: Der doppelte Bezug zum Mythos als literarisches Darstellungsmuster, in: Zwischen Präsenz und Repräsentation. Formen und Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen, hg. v. Bent Gebert/Uwe Mayer (2014), S. 172-85; Mythos Iphigenie (2006); und Mythos-Begriff und vergleichende Literaturanalyse, in: Komparatistik als Arbeit am Mythos, hg. v. Monika Schmitz Emans/Uwe Lindemann (2004), S. 95-110. Paul, Heike, ist Professorin für nordamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Präsenz und implizites Wissen“. Sie ist ebenfalls Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien sowie stellvertretende Direktorin der Bayerischen Amerika Akademie. Einschlägige Publikationen: Die amerikanische ReeducationPolitik nach 1945: Interdisziplinäre Perspektiven auf ‚America‘s Germany‘ (hg. mit Katharina Gerund, 2015); The Myths That Made America: An Introduction to American Studies (2014); und Kulturkontakt und Racial Presences: Afroamerikaner und die deutsche Amerika-Literatur, 1815-1914 (2005). Rippl, Gabriele, ist Ordinaria für Literaturen in englischer Sprache an der Universität Bern. Einschlägige Publikationen: Hg. Handbook of Intermediality (2015); Metzler Handbuch Kanon und Wertung (hg. mit Simone Winko, 2013); Hg. Towards a New Monumentalism? Cultural and Aesthetic Perspectives beyond Postmodernism (Sonderheft der Anglia 131/2+3, 2013); Haunted Narratives: Life Writing in an Age of Trauma (hg. mit Tiina Kirss u.a., 2013); Imagescapes: Studies in Intermediality (hg. mit Christian Emden, 2010); und Beschreibungs-Kunst (2005). Sie ist Mitherausgeberin der Anglia. Journal of English Philology, der Anglia Book Series sowie der Handbuchreihe Handbooks of English and American Studies: Text and Theory.
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Stoffel, Patrick, ist Postdoc-Stipendiat am Institut für Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen der Leuphana Universität Lüneburg. Einschlägige Publikationen: Art. Alpen, Napoleon, in: Metzler Lexikon moderner Mythen, hg. v. Stephanie Wodianka/Juliane Ebert (2014), S. 15-8, 2705; Bergwelten, in: Ausstellungskatalog Segantini, hg. v. der Fondation Beyeler (2011), S. 110-3; und „A paradise amidst the wildness“. Die Kultivierung der alpinen Natur, in: Gärten, hg. v. Kurt Röttgers/Monika Schmitz-Emans (2011), S. 90-9. Weyand, Jan, ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Einschlägige Publikationen: Integration „von unten“? Die Entstehung der Antisemitismustheorie aus der Debatte um die Judenemanzipation (mit Mattias Klemm), in: Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944, hg. v. Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (2015); und Arbeit und Nation. Die Ethik nationaler Arbeit und ihre Feinde am Beispiel Hitlers (mit Klaus Holz), in: Arbeiterbewegung – Nation – Globalisierung. Bestandsaufnahme einer alten Debatte, hg. v. Sebastian Voigt/Heinz Sünker (2014). Wodianka, Stephanie, ist Lehrstuhlinhaberin für Französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Rostock und Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs“. Einschlägige Publikationen: Metzler Lexikon moderner Mythen (hg. mit Juliane Ebert, 2014); Zwischen Mythos und Geschichte. Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur (2009); Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform (hg. mit Dietmar Rieger, 2006); Film und kulturelle Erinnerung: plurimediale Konstellationen (hg. mit Astrid Erll, 2008); und Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung (hg. mit Klaudia Knabel/Dietmar Rieger, 2005).
Edition Kulturwissenschaft Michael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt (Hg.) Rausch – Trance – Ekstase Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände Dezember 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3185-2
Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.) Selber machen Diskurse und Praktiken des »Do it yourself« Juli 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3350-4
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2016, 282 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
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Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode 2015, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
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Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Mai 2016, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
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Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.) Endlichkeit Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft
Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs Januar 2016, 338 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2947-7
Jan-Henrik Witthaus, Patrick Eser (Hg.) Machthaber der Moderne Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit 2015, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3037-4
Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert 2015, 424 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4
Bernd Kracke, Marc Ries (Hg.|eds.) Expanded Senses Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne. New Conceptions of the Sensual, Sensorial and the Work of the Senses in Late Modernity 2015, ca. 380 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3362-7
Anke J. Hübel Vom Salon ins Leben Jazz, Populärkultur und die Neuerfindung des Künstlers in der frühen Avantgarde 2015, 170 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3168-5
Februar 2016, 360 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2945-3
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