Götter und Mythen der Germanen

Übersetzt von Julie von Wattenwyl Originaltitel: De godsdienst der Germanen

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German Pages [366] Year 1974

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Table of contents :
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Titel
Impressum
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
I DIE KULTUR DER GERMANEN UND DIE QUELLEN IHRER RELIGIONS GESCHICHTE
1 BARBAREN?
2 URSPRUNG UND FRÜHESTE GESCHICHTE
3 WIRTSCHAFTLICHE UND GESELLSCHAFTLICHE STRUKTUR
4 DIE VÖLKERWANDERUNGEN UND IHRE FOLGEN
5 QUELLEN DER GERMANISCHEN RELIGIONSGESCHICHTE
a) Älteste Quellen
b) Geschichtliche Quellen zur Erforschung der Bekehrungsperiode auf dem Festland
c) Skandinavische Quellen
d) Anderes Forschungsmaterial
e) Deutungen
II DIE GÖTTER
1 VEREHRUNG IN DER PRÄHISTORISCHEN ZEIT
2 GÖTTER UND HEILIGKEIT
3 DER GOTT DER EKSTASE: WODAN-ODIN
4 DER GOTT, DER DONNERT: DONAR-THOR
5 DER ENTTHRONTE GOTT DES HIMMELS:TIW-TYR-ZIU
6 VEGETATIONSGÖTTER: DIE WANEN
7 ANDERE GÖTTER
8 WEIBLICHE GOTTHEITEN
III DER KULTUS
1 RELIGION UND MAGIE
2 OPFER UND GRÄBER IN DER PRÄHISTORISCHEN ZEIT
3 WILLE UND WISSEN DER GÖTTER
4 DAS GEBET
5 OPFER
6 PRIESTER UND PRIESTERINNEN
7 HEILIGE ZEITEN
8 HEILIGE STÄTTEN UND TEMPEL
9 GÖTTER UND MORAL
10 MAGIE
IV DER GERMANISCHE KOSMOS
1 WELTBILD DER GERMANEN
2 URSPRUNG UND UNTERGANG DES WELTALLS
V DIE GERMANEN UND DAS CHRISTENTUM
BIBLIOGRAPHIE
VERZEICHNIS DER TEXTABBILDUNGEN, TAFELN UND KARTEN
REGISTER
Tafeln
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Götter und Mythen der Germanen

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DER GERMANEN

R.L.M. DEROLEZ

GÖTTER UND MYTHEN DER GERMANEN

R.L.M. DEROLEZ

GÖTTER UND MYTHEN DER GERMANEN

VERLAG SUCHIER & ENGLISCH

BERECHTIGTE ÜBERTRAGUNG AUS DEM HOLLÄNDISCHEN VON JULIE VON WATTENWYL DER TITEL DER ORIGINALAU SGABE LAUTET :

DE GODSDIENST DER GERMANEN J.J. ROMEN & ZONEN, ROERMOND I 95 9

© I974 BY VERLAG SUCHIER & ENGLISCH UMSCHLAG: PAUL G. HAMMESFAHR

DRUCK: WIESBADENER GRAPHISCHE BETRIEBE GMBH, WIESBADEN

BINDEARBEITEN: GROSSBUCHBINDEREI G. GEBHARDT, ANSBACH

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

............................................................................

7

I DIE KULTUR DER GERMANEN UND

DIE QUELLEN IHRER RELIGIONSGESCHICHTE

1. 2. 3. 4. 5.

Barbaren? .. .. ............................................................ Ursprung und früheste Geschichte............................... Wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur.............. Die Völkerwanderungen und ihre Folgen................... Quellen der germanischen Religionsgeschichte .... a) Älteste Quellen........................................................... b) Geschieh*liehe Quellen zur Erforschung der Bekeh­ rungsperiode auf dem Festland ............................... c) Skandinavische Quellen .......................................... d) Anderes Forschungsmaterial.................................... e) Deutungen.................................................................

11 13 21 24 29 29

32 33 40 43

II DIE GÖTTER

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Verehrung in der prähistorischen Zeit......................... Götter und Heiligkeit ................................................ Der Gott der Ekstase: Wodan-Odin ......................... Der Gott, der donnert: Donar-Thor ......................... Der entthronte Gott des Himmels: Tiw-Tyr-Ziu .... Vegetationsgötter: Die Wanen .................................... Andere Götter ........................................................... Weibliche Gottheiten.....................................................

51 70 86 113 130 137 152 170

III DER KULTUS

1. 2. 3. 4.

Religion und Magie ...................................................... Opfer und Gräber in der prähistorischen Zeit.............. Wille und Wissen der Götter .................................... Das Gebet .................................................................

189 191 208 223

j. 6. 7. 8. 9. 10.

Opfer ............................................................................ Priester und Priesterinnen .......................................... Heilige Zeiten................................................................. Heilige Stätten und Tempel.......................................... Götter und Moral........................................................... Magie ...........................................................................

226 234 241 244 255 259

IV DER GERMANISCHE KOSMOS

1. Weltbild der Germanen ................................................ 2. Ursprung und Untergang des Weltalls.........................

267 283

V DIE GERMANEN UND DASCHRISTENTUM

293

Bibliographie ....................................................................... Verzeichnis der Textabbildungen, Tafeln und Karten .. .. Register ............................................................................

316 323 325

VORWORT

¡¡.Eigentlich ist es ein Wagnis, eine Geschichte der germanischen Literatur schreiben zu wollen», schrieb neulich ein Kenner dieser Literatur. Er hätte das gleiche von der germanischen Religion sagen können. Wer von dieser

Religion ein übersichtliches und für Nicht-Fachleute verständliches Bild

geben will, sieht sich in der Tat einer sehr komplizierten Aufgabe gegen­ über. Handelt es sich doch darum, den Kultus einer weit verbreiteten Völ­

kergruppe mitsamt seinem religiösen Hintergrund sowie das religiöse Den­ ken und Erleben des germanischen Menschen zu beschreiben, zu analysieren

und dann wieder als eine lebendige, dynamische Ganzheit darzustellen — und Zwar über einen Zeitraum von mehr als zweitausend fahren. Die Germanen bildeten nie eine politische Einheit; ihre sozialen Ver­ hältnisse lassen sich nur schwer umschreiben. Sofern unsere Quellen in die

Zeit zprückreichen, stellen wir fest, daß die Umwelt, die Lehensumstände, die ethnische Zusammenstellung und die sozial-kulturelle Struktur der ger­

manischen Bevölkerung je nach Wohngegend verschieden sein können.

Außerdem fanden auf all diesen Gebieten während der diesbezüglichen Periode einschneidende Änderungen statt. Darf man dann die Religion der dänischen Bronzezeit (i6oo-yoo v.Chr.) undjene der norwegischen Kolo­ nisten auf Island (870-1000 n.Chr.) als Teile des gleichen historischen

Verlaufs betrachten ? Kann man die Elemente des Völkerkomplexes, den

wir Germanen nennen (Kimbern, Teutonen, Goten, Bastarnen, Wandalen,

Langobarden, Alemannen, Franken, Sachsen, Angeln, Friesen, Gauten usw.) trotz der festgestellten Unterschiede als eine Einheit behandeln? Kommt das typisch Germanische, die Struktur oder das «System» der ger­

manischen Religion, überall genügend zum Ausdruck, um die Entfernun­ gen in Zeit und Raum zu überbrücken ? Auf diese Fragen darf u. E. eine

bestätigende Antwort gegeben werden, unter der Bedingung freilich, daß man die Lücken im also erhaltenen Bild im Auge behält und sich seines

relativen Wertes bewußt bleibt. Das Material, auf das sich unsere Synthese stützt, ist in der Tat von sehr verschiedener Art und zum Teil auch von sehr umstrittenem Wert. Aus der heidnischen Zeit ist keine zusammenhängende Darlegung der ger­

manischen Religion erhalten geblieben; ebensowenig aus der Zeit der Be­ kehrung. «Heilige Bücher» haben die Germanen nie gehabt. Die archäologi-

7

sehen Quellen sind schwer ege deuten. Fast alle unsere Texte stammen aus

der Feder von Autoren, die sich nicht zur germanischen Religion bekannten

und sie nicht einmal aus eigener Wahrnehmung kannten. Die für unser Thema so interessante isländische Literatur wurde erst spät in Manuskrip­ ten niedergelegt, oft erst Jahrhunderte nach der Bekehrung. Aber auch ein Werk, das sich an Nicht-Fachleute richtet, darf an die­ ser Unsicherheit und an den Polemiken, die sie hervorruft, nicht vorüber­

gehen. Deshalb haben wir immer versucht, einen Unterschied qe machen

Zwischen Tatsachen, Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten, um in dieser Weise einen Begriff vom heutigen Stand der Wissenschaft zu vermitteln. Deshalb auch bringen wir im ersten Kapitel eine kurzgefaßte kritische Übersicht der Quellen.

Der größte Teil dieses Buches war fertig, als die zweite Auflage von De Vries’ Religionsgeschichte erschien. Für jede gewünschte weitere

Aufklärung verweisen wir den Leser gerne auf dieses monumentale Stan­ dardwerk, auch wenn er darin nicht immer die gleichen Anschauungen finden

wird. Unser herzlicher Dank gebührt allen, mit denen wir die Probleme, die im Zusammenhang mit unserer Arbeit auftauchten, besprechen durften,

oder die uns auf andere Weise behilflich waren. So danken wir denn Herrn Prof. Dr. J. P. Michels O. P.; Herrn Ing. Nils Gellerstedt für die wichtigen Daten über den Tempel von Uppsala, die er uns besorgte. Bild­

material verschafften Sir Frank Stenton und die Royal Historical Society, die Museen in Leiden, Kopenhagen und Stockholm, und die Bibliothèque

Nationale in Paris, wofür wir hier gleichfalls unseren Dank aussprechen. R. Derolez

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I

DIE KULTUR DER GERMANEN UND DIE QUELLEN IHRER RELIGIONSGESCHICHTE

I

BARBAREN?

Das Bild, das wir uns von der Religion der Germanen machen, wird in nicht geringem Maße von der Kulturstufe, die wir diesem Volke zuerkennen, mitbestimmt. Gerade hinsichtlich dieser Kul­ turstufe gehen aber die Meinungen stark auseinander. Für die Griechen und Römer waren die Germanen ungesittete «Barbaren». Die Völker des klassischen Altertums blickten mit einem selbst­ bewußten Überlegenheitsgefühl auf diese Völkerstämme herab, die unter einem immer grauen Himmel, weit von allen Kultur­ zentren entfernt, ein armseliges Dasein führten und sich zu einer primitiven Religion bekannten. Der Christ des Mittelalters sah in ihnen bloß verblendete Heiden, die nicht erfaßten, daß ihre Götter machtlose Hirngespinste, wenn nicht gar Erfindungen des Teufels waren, die sich aber glücklicherweise immer mehr zum wahren Glauben bekehrten. Renaissance und Aufklärung huldigten im allgemeinen den gleichen Ansichten wie die Antike, obwohl schon damals mancher Gelehrte eine große Bewunderung für die wirk­ lichen oder vermeintlichen Tugenden dieses unberührten Volkes bekundete. Das neunzehnte und namentlich das zwanzigste Jahr­ hundert haben dann die Germanen rehabilitiert, jedoch nicht ohne Übertreibung. Aber sogar wenn man alle von politischen Erwä­ gungen gefärbten Verherrlichungen des germanischen Altertums außer Betracht läßt, zeigt es sich auch jetzt noch als schwierig, ein objektives Urteil über die Germanen und ihre Religion auszu­ sprechen. Es gibt Religionshistoriker, welche die Germanen für ein durchaus primitives Volk halten, das erst nach und nach, und mit dem Beispiel höher stehender Kulturen vor Augen zu einer völlig entwickelten Religion mit deutlich differenzierten Göttern und einem ausgeprägten, in festen Formen gehaltenen Gottesdienst gekommen sei. Andere hingegen sind der Meinung, die Germanen hätten eine hohe Kulturstufe erreicht, und vieles von dem, was klassische und spätere Autoren über sie zu erzählen wissen (z. B. in bezug auf Menschenopfer) beruhe auf Mißverständnissen oder Erfindungen. ii

Solche sich widersprechende Beurteilungen beschränken sich nicht auf das Gebiet der Religionsgeschichte, wie aus den beiden nachfolgenden Aussagen über die germanische Kultur in der Bronzezeit hervorgeht. Auf Grund eines gewissenhaften Stu­ diums des archäologischen Materials aus Dänemark kommt der Altertumsforscher Broholm zu folgendem Schluß: «We fully realise that the people of the Bronze Age were not a highly civilised people but a primitive people, whose art is on a level with the products of certain negro tribes.» Dem steht folgende Betrach­ tung von De Vries gegenüber, die sich auf die gleichen Unter­ lagen gründet: «Es wäre doch geradezu unerklärlich, falls die­ selben Menschen, die eine Kunst geschaffen haben, die man mit Recht als die höchste Leistung sämtlicher prähistorischen künstle­ rischen Bestrebungen gepriesen hat, auf religiösem Gebiet in so abgrundtiefer Urzeitlichkeit steckengeblieben sind, daß sie noch keine anthropomorphen Götter verehrt haben sollten.» Wenn schon die materielle Kultur der Bronzezeit zu derartig verschie­ denen Wertungen Anlaß gibt, so muß die Unsicherheit auf dem Gebiet der Religion, die verhältnismäßig wenig Spuren zurück­ gelassen hat, noch viel größer sein; und diese Unsicherheit gilt nicht bloß für die Bronzezeit. Bis zum Zeitpunkt, da sich die Germanen zum Christentum bekehrten und sich des lateinischen Alphabets zu bedienen lernten, spielte sich ihr gesamtes kulturel­ les Leben ohne die Hilfe irgendeiner Schrift ab; verwendeten sie doch ihre Runenzeichen weder zur Niederschrift historischer oder religiöser Texte noch für Briefe, Gesetzbücher oder ähnliches. Was wir an christlichen Quellen über die Germanen und ihre Re­ ligion besitzen, stammt von der Hand von Fremden oder von be­ kehrten Germanen. Es gilt daher nicht bloß, die erhaltenen Quel­ len zu deuten; ihr Beweiswert selber steht dauernd auf dem Spiel. Daraus erklärt es sich, daß der gleiche Text manchmal zu völlig verschiedenen Interpretationen Anlaß gibt. Nur sehr selten haben wir es mit rein heidnischem Textmaterial zu tun, was aber die Mög­ lichkeit nicht ausschließt, daß dennoch Texte mit stark heidni­ schem Einschlag zu uns gekommen sind.

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URSPRUNG UND FRÜHESTE GESCHICHTE

Der erste Schriftsteller, der die Germanen mit diesem Namen be­ zeichnete, war Julius Cäsar, der sie während seines Feldzuges in Gallien aus der Nähe kennenlernte. Über ihren Ursprung und über die Grenzen des Gebietes, das sie zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Vorgeschichte bewohnten, ist man sich noch lange nicht einig. Sogar die Bedeutung ihres Namens ist noch umstritten. Meist wird er als ein germanisches oder keltisches Wort angesehen, das «die laut Schreienden», «die Kriegerischen» oder «das Volk bei den brausenden Sturzbächen» bedeuten soll. Nach Collinder aber ist der Name mit dem lateinischen Wort germanus identisch, das «echt, wahr, verwandt» bedeutet; Germani wäre demnach einfach die lateinische Übersetzung des germanischen Volksnamens Suebo%, «Sueben, Schwaben», buchstäblich «das eigene Volk, die Ge­ meinschaft der Stammverwandten». Es kann ursprünglich der Name einer Brüderschaft von Kriegern gewesen sein, waren doch derartige Vereinigungen eine typisch germanische Erscheinung. Nach Tacitus war zu seiner Zeit der Name Germanen neueren Datums; er wurde erstmals einem Stamme (den späteren Tungri) gegeben, der den Rhein überquerte und sich in Limburg nieder­ ließ. Unter den germanischen Völkern gab es, immer nach Taci­ tus, drei Hauptgruppen: die Ingävonen oder Ingväonen, die Istävonen oder Istväonen und die Herminonen oder Irminonen. Ihre Namen waren von denen dreier mythischer Personen abgeleitet, die Söhne des Stammvaters Mannus waren; dieser Mannus selber war der Sohn Tuistos, eines «der Erde entsprossenen Gottes». Man hat versucht, diese Gruppen mit historischen oder sprach­ lichen Einteilungen zusammenfallen zu lassen (Elbegermanen, Weser-Rhein-Germanen, Nordseegermanen oder Nord-, Ost- und Westgermanen). Diese Versuche können aber nicht als erfolgreich betrachtet werden: Tacitus’ Einteilung scheint vielmehr auf einer religiösen als auf einer sprachlichen Grundlage zu beruhen. Aus der Zeit vor Cäsars Feldzug in Gallien sind historische Angaben

B

über die Germanen selbstverständlich äußerst spärlich. Um uns einen Begriff von ihrem Ursprung, ihrer frühesten Geschichte und Kultur zu bilden, müssen wir die Archäologie, die Ethnographie und die Sprachwissenschaft zu Rate ziehen. Zu Anfang unserer Zeitrechnung finden wir die Germanen im Besitze eines ausgedehnten Gebietes vor: der südlichen Hälfte der skandinavischen Halbinsel, des heutigen Dänemark, der Nieder­ lande nördlich der großen Flüsse, Deutschlands östlich des Rheins und nördlich des Mains, des Erzgebirges und der Sudeten. Weiter ostwärts läßt sich die Grenze schwer feststellen, weil hier keine klare Trennung gegen das Römische Reich bestand. Es steht aber fest, daß die Germanen bis über die Weichsel hinaus und in das Ge­ biet der Karpathen vorgedrungen waren. Einzelne Gruppen hatten diese Grenzen bereits überschritten. Noch vor dem Ende des 2. Jahr­ hunderts v. Chr. hatten die Kimbern und Teutonen von Dänemark aus eine lange Wanderung angefangen, um neues Wohngebiet zu finden; sie hatten sogar die römische Gewalt in Norditalien vor­ übergehend ins Wanken gebracht (113-101 v.Chr.). Im;>Südosten hatten die Bastarnen und Skiren um 200 v. Chr. zwischen Donau und Dnjepr die Küste des Schwarzen Meeres erreicht. Cäsar behauptet, daß die Belgier wenigstens teilweise germanischer Herkunft seien; im übrigen aber ist es nicht klar, in welchem Ausmaß sich die Ger­ manen in den Grenzgebieten mit anderen Völkern vermischt hat­ ten. Westlich und südlich ihres Gebietes wohnten verschiedene keltische Völker, südöstlich Illyrier und Thraker, und östlich Aisten und Wenden, die Vorfahren der Balten und Slaven. Die Archäologie lehrt uns, daß die Germanen erst im Verlaufe einer langen und allmählich fortschreitenden Expansion dieses ausge­ dehnte Gebiet in Besitz genommen hatten. Zu Anfang der Bronze­ zeit (zirka 1600 v. Chr.) bewohnten sie den Süden Norwegens und Schwedens, Dänemark und einen Teil Norddeutschlands (das Ge­ biet um die Elbemündung). Das Problem ihres Ursprungs kann man von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu lösen suchen. Der Sprachgelehrte bezeichnet mit dem Namen «Germanen» eine Gruppe von Völkern, die eine germanische Sprache redeten. Für ihn sind sie mit den Kelten, den Italiern (Latinern, Oskern, Umbriern usw.), den Griechen und Balten verwandt, wie auch mit den

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Slaven, den Iranern und Indern und mit einigen anderen, jetzt aus­ gestorbenen Völkern. Die Sprachen all dieser Völker faßt man unter dem Namen Indogermanisch oder Indoeuropäisch zusam­ men. Bis zu einem gewissen Grade stammen sie von der gleichen Ursprache ab. Diese hypothetische sprachliche Einheit setzt ihrer­ seits eine gewisse kulturelle Einheit voraus. Das gleiche gilt in noch größerem Maße für die germanischen Völker untereinander, wenn es auch im ausgedehnten Gebiet, das sie bewohnten, schon frühzeitig mehr oder weniger tiefgehende sprachliche Unterschiede gegeben haben muß. Zwischen dem Indogermanischen und dem Germanischen läßt sich eine Reihe konstanter Abänderungen in den Lauten feststellen, die zusammen die sogenannte erste oder germanische Lautver­ schiebung bilden. Diese Verschiebung wird oft der Wirkung eines «Substrats» zugeschrieben. Nach dieser Auffassung sollen nämlich die Germanen aus der Verschmelzung einer Urbevölkerung (Sub­ strat), die eine uns unbekannte Sprache redete, mit indogermanisch sprechenden Eroberern (Superstrat) entstanden sein. Dabei soll die Urbevölkerung die Sprache ihrer Herrscher nicht völlig assi­ miliert, sondern bestimmte Laute daraus ihrem eigenen Laut­ system angepaßt haben. Von philologischer Seite sind gegen diese Hypothese gewichtige Bedenken ins Treffen geführt worden. Die Schwierigkeiten werden noch größer, wenn man die beiden Be­ völkerungsgruppen ethnologisch zu unterscheiden oder ihre respektiven Kulturen auf archäologischem Weg zu umschreiben versucht. Wenn wir auch häufig eine gewisse Wechselbeziehung zwischen Sprache, Rasse und Kultur feststellen, so sind dies den­ noch keine kommensurablen Größen. Die Germanen in ethnischer Beziehung scharf zu charakterisie­ ren, ist ebenfalls schwer. Ihren körperlichen Merkmalen nach zu urteilen, bildeten sie eigentlich keine Einheit. Häufig wird, im An­ schluß an Beschreibungen bei klassischen Autoren, der langschä­ delige Typus mit hoher Gestalt, blondem oder rötlichem Haar und blauen oder grauen Augen als typisch germanisch betrachtet, doch ist er nachgewiesenermaßen überall mit kurz- und mittelschädeli­ gen Typen mit dunklerem Haar vermischt. In manchen Gegenden (Dänemark, Südschweden) bildet der sogenannte germanische

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Typus nicht einmal die Mehrheit der Bevölkerung. Man hat diese Vermischung körperlicher Typen wiederum mit einer mutmaß­ lichen Verschmelzung zweier Bevölkerungsgruppen in Zusam­ menhang bringen wollen. Jedoch das wenige, das man über die Bevölkerung des später germanischen Gebietes vor dem hypothe­ tischen indogermanischen Einfall weiß, deutet schon auf eine Ver­ mischung von Schädeltypen hin. Broholm und andere sind denn auch der Ansicht, daß schon die Erbauer der Megalithgräber zum Teil indogermanischer Herkunft gewesen seien. Dies schließt na­ türlich ein späteres Eindringen anderer indogermanischer Völker nicht aus. Auch Griechenland z. B. wurde von mehr als einer Welle indogermanisiert. Es ist gar nicht erwiesen, daß die Germa­ nen verhältnismäßig weniger indogermanisch gewesen seien als die verwandten Völker. Auch in ihrer Religion bewahrten sie indogermanische Traditionen. Die archäologischen Daten verschaffen im allgemeinen eine zu­ verlässigere Grundlage, obwohl es immer gewagt ist, aus Ände­ rungen in der materiellen Kultur auf das Auftauchen eines neuen Volkes oder die Entstehung neuer geistiger Werte zu schließen. Während der letzten Periode der germanischen Steinzeit (von 2000 v. Chr. an) fand eine Vermischung zweier Kulturen statt, indem eine ältere, vorwiegend agrarische Kultur unter die Herrschaft einer dynamischeren Kriegerkultur geriet. Die erste kennzeichnete sich durch kollektive Megalithgräber (Dolmen und Ganggräber, sogenannte Hünengräber); sie kam aus dem Westen, aus Spanien, Frankreich und England und folgte selber auf eine noch ältere Jäger- und Fischerkultur. Die zweite hatte als besondere Kenn­ zeichen die Schnurkeramik und die Streitaxt, nach der sie «Streit­ axtkultur» genannt wird; in östlichen Gebieten, wo diese Waffe die Form eines Bootes annahm, heißt sie «Bootaxtkultur». Sehr wahrscheinlich haben wir es hier mit einem Vordringen von Völ­ kern zu tun, die aus Mitteleuropa stammten. Auf Jütland und in einigen Teilen der skandinavischen Halbinsel scheinen die Angrei­ fer schneller Fuß gefaßt zu haben als auf den dänischen Inseln. Hier waren die Erbauer der Megalithgräber - die übrigens auch Seefahrt trieben - vielleicht besser organisiert und konnten länger Widerstand leisten. Es ist nicht ünmöglich, daß die Eindringlinge 16

eine Weile als eine Art aristokratischer Oberschicht über die unter­ worfenen Ureinwohner geherrscht haben. Nach dem Einfall der Streitaxtvölker scheinen keine bedeuten­ den neuen Bevölkerungsgruppen mehr in das germanische Gebiet eingedrungen zu sein. Der Anfang der Bronzezeit (etwa 1600 oder 1500 v. Chr.) war nämlich nicht mit einer eingehenden Erneue­ rung verbunden. Kenntnis und Gebrauch des neuen Metalles drangen nur sehr allmählich durch. Im täglichen Leben verwen­ dete man außer dem kostbaren Metall noch lange den Feuerstein. In manchen Gegenden, wie z. B. in Nordostschweden, überwog der Gebrauch steinerner Werkzeuge in einem solchen Ausmaß, daß einige Archäologen hier lieber von einer «Bronzesteinzeit» sprechen, wenn nicht gar das Bestehen einer eigentlichen Bronze­ zeit einfach in Abrede stellen. Diese klaren Zeichen der Kontinui­ tät werden oft übersehen. Dennoch ist es sehr gut möglich, daß im gleichen Gebiet Kulturelemente der primitiven Jäger und Fischer, der Steinzeit und der Bronzezeit nebeneinander vorkamen; in be­ zug auf gewisse Landstriche Norwegens hat Brogger das Vorhan­ densein dieses Zustandes ausdrücklich nachgewiesen. Trotzdem wollen wir mit unserer Übersicht über die germanische Religion erst bei der Bronzezeit anfangen: sind wir doch erst da sicher, es mit den Vorfahren der historischen Germanen zu tun zu haben. Außerdem wurde die Religion des prähistorischen Menschen und namentlich desjenigen der Steinzeit schon im Band Johannes Ma­ rkiger, Vorgeschichtliche Religion dieser Reihe behandelt. Wir sahen bereits, zu welch grundverschiedenen Beurteilungen die Kultur der germanischen Bronzezeit Anlaß gab. Diese Mei­ nungsverschiedenheiten haben zweierlei Ursachen; erstens die Schwierigkeiten, auf die man stößt, wenn man die geistige Ent­ wicklung nach den Errungenschaften der Technik bemessen will, und weiter die Verwirrung, die Ausdrücke wie «primitiv», «unent­ wickelt» usw. stiften. Es sind zumal die Schmucksachen, Waffen und übrigen Gegenstände, welche man in Gräbern gefunden hat, die den Eindruck einer hohen kulturellen Blüte vermitteln. Was wir über das tägliche Leben, die Behausung und die Landwirt­ schaft dieser Periode wissen, deutet eher auf eine rudimentäre, «primitive» Kultur hin. Diese Kultur muß in größerem Zusam17

menhang gesehen werden. Das germanische Gebiet unterhielt rege Handelsbeziehungen mit südlicheren Gegenden. Nur so ist Däne­ marks Reichtum an Bronzegegenständen erklärlich; erzeugte doch das Land selber weder Kupfer noch Zinn. Unter den Ausfuhrpro­ dukten fällt in erster Linie Bernstein auf, das an den Küsten der Nord- und Ostsee gefunden wurde und im Süden seiner ornamen­ talen (und magischen?) Eigenschaften wegen sehr gesucht war. Sogar in mykenischen Gräbern hat man Schmuckstücke aus Bern­ stein gefunden, und umgekehrt weist die germanische Kunst Stil­ eigenheiten auf, die schlußendlich auf mykenische Vorbilder zu­ rückzuführen sind. Andere Einflüsse kamen aus Italien. Es fragt sich aber, wie die Germanen diese Impulse verarbeiteten. Dieses Problem erhebt sich namentlich anläßlich der Einführung der Leichenverbrennung, etwa 1000 v.Chr. Daß dieser Brauch aus Mitteleuropa kam, läßt sich schwerlich bestreiten. In welchem Maße aber war dies mit der Übernahme neuer Auffassungen über Tod und Jenseits verknüpft? Es ist durchaus möglich, daß die­ jenigen, die diesen Brauch übernahmen, seinen tiefen Sinn erst all­ mählich erfaßten oder nach eigener Ansicht umdeuteten. Während der Bronzezeit lag der Schwerpunkt der germanischen Kultur in Dänemark, von wo aus sie sogar bis aufs Festland aus­ strahlte. Dieser Blüteperiode sollte aber ein tiefer Niedergang fol­ gen. Der Anfang der Eisenzeit (um 500 v.Chr.) ist nämlich durch eine auffällige Verarmung gekennzeichnet, wenigstens wenn wir die Gräber dieser Periode mit jenen der vorhergehenden verglei­ chen. Verschiedene Faktoren scheinen hier eine Rolle gespielt zu haben. Der Schwede Sernander hat die Zusammensetzung von Torfschichten in seinem Land untersucht und dabei festgestellt, daß dort das Ende der Bronzezeit mit einer empfindlichen Ver­ schlechterung des Klimas zusammenfiel. An Stelle des milden, ziemlich trockenen «subborealen» Klimas der Stein- und Bronze­ zeit kam ein feuchteres und kühleres «subatlantisches» Klima, das einen tiefen Einfluß auf Pflanzen und Tiere gehabt haben muß. Namentlich in Schweden und Norwegen müssen Landwirtschaft und Viehzucht unter diesem recht jähen Umschlag dermaßen ge­ litten haben, daß ein Teil der Bevölkerung zwischen Hungersnot und Auswanderung zu wählen gezwungen war. Daneben kann 18

man beobachten, daß die «ärmsten» Jahrhunderte der germani­ schen Eisenzeit mit dem Höhepunkt der keltischen Expansion in Mitteleuropa zusammenfallen. Da die Blüte der germanischen Kultur in der vorhergehenden Periode zumindest teilweise von den Handelsbeziehungen mit dem Süden abhängig gewesen war, muß der durch die keltischen Eroberungen verursachte Abbruch dieser Beziehungen für das germanische Gebiet schwerwiegende Folgen gehabt haben. Es ist sogar möglich, daß einige germanische Völker unter keltische Vorherrschaft zu stehen kamen. Keltische Kultureinflüsse treten nämlich in der La Tene-Zeit deutlich zutage. Bronzekessel und Spangen keltischer Manufaktur wurden in ger­ manische Gebiete eingeführt oder dort nachgeahmt, und Bronze­ eimer von Capua erreichten durch Vermittlung von Kelten ger­ manische Abnehmer. Im allgemeinen aber verunmöglicht die ge­ ringe Zahl der Funde aus der «keltischen Eisenzeit» eine tiefere Einsicht in den Zustand der Germanen während dieser Periode. Offenbar aber begannen die Germanen ihr Gebiet nach und nach auf dem Festland auszudehnen. Bei der Übernahme des Erbteils der Kelten begegneten die Römer überall Germanen auf ihrem Weg, und diese Begegnungen bedeuteten zugleich das Ende der Prähistorie der Germanen. Einzelne Entdeckungsreisende und Händler (unter welchen be­ sonders Pytheas von Massilia, zirka 550 v.Chr., Erwähnung ver­ dient) hatten die Germanen wahrscheinlich längst vor der Ankunft der Römer kennengelernt, aber erst die römischen" Schriftsteller vermitteln uns ein ziemlich deutliches Bild von den Germanen. Zur Zeit von Cäsars Feldzug in Gallien hatten die germanischen Völker bereits die nördliche Hälfte der Niederlande, den größten Teil Deutschlands und ausgedehnte Gebiete weiter ostwärts in Besitz genommen. Ein paarmal drangen römische Heere tief in das germanische Gebiet vor; Drusus und Tiberius erreichten sogar die Elbe. Jedoch bloß im Norden dieses Gebietes, bei den Batavern und Kannenefaten, sowie südlich des Taunus vermochten sich die Rö­ mer während längerer Zeit auf dem rechten Rheinufer zu behaupten. Die Germanen, die unter römische Herrschaft gerieten, nahmen alsbald eine oberflächliche Form der Romanisierung an, wobei aber unter dem äußeren Schein noch sehr viel von der alten Kultur

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bestehen blieb. Die «freien» Germanen waren durch einen Streifen Niemandsland von der römischen Welt getrennt und versuchten selber den Einfluß des mächtigen Nachbarn auf ein Minimum zu beschränken. Bei ihnen blieb somit der fremde Einfluß viel schwä­ cher. Dennoch deuten die zahlreichen römischen Gegenstände, die man in nördlichen Gegenden, bis sogar in Skandinavien gefunden hat, darauf hin, daß es zumindest Handelsbeziehungen zwischen diesen weit entlegenen Gebieten und dem Süden gegeben haben muß. Umgekehrt lernten die Römer natürlich jene Völker am be­ sten kennen, die innerhalb ihrer Grenzen oder in deren nächster Nähe wohnten. Was die klassischen Autoren über diese Völker zu berichten wissen, muß also nicht unbedingt für alle germanischen Völker zutreffen. Aber welche Unterschiede da zu machen wären, wird sich nur höchst selten feststellen lassen. In der in Frage stehenden Periode sind die Germanen allerlei Einflüssen ausgesetzt gewesen. Längs der Westgrenze fand eine gewisse Vermischung mit keltischen Stämmen statt. Eine solche Vermischung kam auch weiter südlich vor, wo sich Germanen auf ehemals keltischem Gebiet niedergelassen hatten. Im Südosten be­ standen Beziehungen mit thrakischen und illyrischen Völkern. Der griechische und der noch stärkere römische Einfluß werden sich oft durch ihre Vermittlung bemerkbar gemacht haben. Dennoch bleibt es zweifelhaft, ob alle diese Einflüsse auf das Wesen der Germanen, auf ihre gesellschaftliche Ordnung, ihr Recht, ihre Re­ ligion, eine entscheidende Wirkung gehabt haben. Die Züge, mit denen die griechischen und römischen Historiker und Geogra­ phen die Germanen zeichnen, bleiben sich im großen und ganzen gleich, wenn wir auch zugeben müssen, daß ihre Berichte selten auf unmittelbarer Anschauung beruhen. Die Hauptzüge ihres Bil­ des treffen wir aber auch noch viel später an, und deshalb dürfen wir sie wohl auch ohne große Bedenken weit zurück in die Ver­ gangenheit projizieren. Da sich der Mensch das Göttliche immer mehr oder weniger seinem eigenen Wesen gemäß vorstellt (und darstellt), lohnt es sich, die Wesenszüge des germanischen Men­ schen in Kürze festzulegen.

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WIRTSCHAFTLICHE UND GESELLSCHAFTLICHE STRUKTUR

Die Germanen waren in erster Linie ein Volk von Bauern. Land­ wirtschaft und Viehzucht bildeten ihre wesentlichsten Existenz­ quellen. Jagd, Fischerei und das Sammeln wilder Früchte lieferte^ in vielen Gegenden eine bedeutende Ergänzung. Die Landwirt­ schaft der Germanen war ziemlich primitiv: die abgeernteten Fel­ der blieben brach hegen, und in einigen Gegenden erhielt jedes Mitglied der Gemeinschaft alljährlich nach Maßgabe seiner Be­ dürfnisse neue Äcker zugewiesen. Auf Grund dieser Gepflogen­ heiten hat man den Germanen eine Art agrarischen Kommunis­ mus zugeschrieben. Diese spezielle Organisation des landwirt­ schaftlichen Betriebes war aber höchstwahrscheinlich auf Gebiete beschränkt, wo, beispielsweise infolge der Nähe der römischen Heere, ein dauernder «Mobilisationszustand» herrschte. Ein be­ deutender Teil der männlichen Bevölkerung war dort ständig un­ ter den Waffen, während die übrigen das Land bearbeiteten und für den Fortgang des normalen Lebens sorgten. Nomadentum lag hier bestimmt nicht vor. Der Germane besaß, sofern uns bekannt, Haus und Hof im Eigentum. Auf seinen Äckern säte er Weizen, Roggen, Hafer und Gerste; im übrigen baute er Erbsen, Bohnen, Kohlrüben, Runkelrüben, Flachs und Hanf an. Als Haustiere züchtete er Pferde, Rinder, Schweine Schafe, Ziegen und Geflü­ gel. Sein Haus war gewöhnlich aus Holz gebaut, sei es in Form eines Blockhauses, sei es als Fachwerkbau, wobei die Mauerflä­ chen aus mit Lehm bestrichenem Flechtwerk bestanden. Der Handel befand sich vielleicht zur Hauptsache in den Händen Fremder, doch nahmen auch Germanen aktiv an ihm teil. Einge­ führt wurden namentlich Metalle, Wein und allerlei Luxusartikel; die Ausfuhr bestand aus Landwirtschafts- und Viehzuchtproduk­ ten, Pelzen und Sklaven. Auch der Innenhandel scheint eine ge­ wisse Entwicklungsstufe erreicht zu haben; zur Bildung von Städten aber kam es bei den Germanen nicht. Sie wohnten am 21

liebsten zerstreut. Zwischen den bewohnten Gegenden lagen noch ausgedehnte Wälder und wüste Heide- und Sumpfgebiete. Die politische Macht lag grundsätzlich der Volksversammlung ob. Alle wichtigen Entscheidungen wurden an Zusammenkünften getroffen, zu denen sämtliche freien Männer bewaffnet erschienen (wie das heute noch bei den schweizerischen Landsgemeinden der Fall ist). Aber unter diesen freien Männern gab es häufig eine kleine Gruppe einflußreicher Familien, die sich der eigentlichen Führung bemächtigte. Wahrscheinlich strebten diese Gruppen da­ nach, diese ihre Führung fortdauern zu lassen, indem sie sich von den niederen Ständen absonderten und eine Art Geburtsadel bil­ deten. Tiefer als die freien Männer standen die halbfreien Tribut­ pflichtigen, und auf der untersten gesellschaftlichen Stufenleiter befanden sich die Sklaven; diese wurden nicht bei allen Stämmen und lediglich von den höheren Ständen gehalten. Das germanische Gebiet war in eine Anzahl kleinerer oder größerer Staaten verteilt, die bald aus einem einzigen Volk bestanden, bald einen Bund ver­ schiedener Völkerschaften umfaßten. Solche freiwillige oder er­ zwungene Föderationen setzten sich nicht immer aus den glei­ chen Stämmen zusammen; sie konnten zu größeren Staaten aus­ wachsen oder auch wieder zerfallen. Aus dieser eigenartigen poli­ tischen Situation läßt sich die Tatsache erklären, daß die Namen einiger bedeutender Völker erst verhältnismäßig spät auftauchen: die Alemannen werden erstmals 213 n.Chr., die Franken 258, die Thüringer sogar erst zirka 400 erwähnt. Es kann sich dabei jedes­ mal um neugebildete Verbände handeln. Jedem Volk stand ein König oder eine Gruppe von Stammeshäuptern vor. Im letztge­ nannten Fall wurde in Kriegszeiten ein fähiger Heerführer er­ wählt. In der Staatseinrichtung kamen unverkennbare religiöse Elemente vor. Die Könige waren «heilig» (vgl. S. 235), Priester wahrten die Ordnung an den Volksversammlungen und ahndeten Verbrechen, in Krieg und Frieden wurden wichtige Entscheidun­ gen vom Willen der Götter abhängig gemacht. Ungeachtet seines oft unbegreiflichen Individualismus (die Is­ länder der Sagazeit machen auf uns manchmal den Eindruck, hän­ delsüchtige Querulanten gewesen zu sein), war der Germane durch viele Bande mit seiner Umgebung verbunden. Seiner Verwandt22

schäft, seinen Freunden, seinem Herrn und seinen Untergebenen war er Treue schuldig. Diese Treue beruhte auf mehr als bloßem Pflichtgefühl; sie konnte Konflikte heraufbeschwören, die denen der griechischen Tragödie durchaus ebenbürtig sind. Der einzelne bildete einen organischen Teil seiner Sippe. Jede Kränkung oder Verletzung, die einem Blutsverwandten zugefügt wurde, verrin­ gerte sein Ansehen sowohl in seinen eigenen Augen wie in denen anderer; sie tat buchstäblich seinem eigenen Wesen Abbruch und war eine Gefährdung der von den Göttern gewollten Ordnung. Deshalb konnte sie nur durch Blutrache oder durch Entrichtung eines Wergeides gesühnt werden. Dann gab es noch die Bande, die von einer Einrichtung herrührten, die Tacitus comitatus nennt: Männer von hohem Ansehen sammelten eine Gefolgschaft von Jünglingen um sich, die «in Friedenszeit ihre Zier, auf dem Schlachtfeld ihr Schutz sind». Sehr enge Bande, die vielleicht in einem Treueeid Ausdruck fanden, vereinten Herrn und Gefolge: «Wenn es zur Schlacht kommt, ist es für den Gefolgsherrn schimpflich, sich an Tapferkeit übertreffen zu lassen, schimpflich für die Gefolgsmannen, der Tapferkeit des Führers nicht gleichzu­ kommen. Und gar Schimpf und Schande für das ganze Leben bringt es, den Gefolgsherrn überlebend, das Schlachtfeld zu ver­ lassen.» Das ist keine Übertreibung von Tacitus; diese Anschau­ ung kommt nicht nur in der germanischen Heldenpoesie des öftern zum Ausdruck, sondern es gibt unzählige Beispiele von Überleben­ den, die nach einer Schlacht durch Selbstmord ihrer Schmach ein Ende machten. Die Römer rühmten ferner die — wenigstens was die Frau betrifft - sehr strengen germanischen Sitten; auch die ger­ manische Gastfreundschaft machte ihnen tiefen Eindruck. Jede Gelegenheit wurde dazu benutzt, Feste zu organisieren, wobei es üblich war, einen Überfluß an Speise und Trank aufzutischen. Wahrscheinlich entging es den Römern, daß diese Bankette häufig eine religiöse Bedeutung hatten und eigentlich Opfermähler waren.

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4 DIE VÖLKERWANDERUNGEN UND IHRE FOLGEN

Anfänglich hatte das Vordringen der Römer eine Stabilisierung der germanischen Grenzen zur Folge. Verschiebungen in den Machtverhältnissen waren nur noch im freien Germanien möglich, und für Expansion stand lediglich Osteuropa noch offen. Schon etwa 200 v. Chr. hatten die Skiren und Bastarnen diese Richtung gewählt. Ihrem Beispiel folgten später die Goten, die zirka 200 n. Chr. nördlich vom Schwarzen Meer ein Reich gründeten. Einzel­ stämme erhielten aber mitunter von den Römern die Erlaubnis, sich im Reich niederzulassen, meist unter der Bedingung, daß sie die Grenzverteidigung übernahmen. Außerdem traten die Germa­ nen in immer größerer Zahl in die römische Armee ein und besetz­ ten auch nach und nach wichtige Posten in der Verwaltung. In den Schlachten, die dem Untergang des römischen Reiches vorangin­ gen, standen öfters Germanen auf beiden Seiten, sowohl bei den Angreifern wie bei den Verteidigern. Das Auftauchen der Hunnen in Südrußland (375) und der Sturz des ostgotischen Reiches, das als erstes ihre Macht erfuhr, scheinen der Auftakt zur Völkerwande­ rung gewesen zu sein. Im fünften und sechsten Jahrhundert be­ fanden sich fast alle germanischen Völker des Festlandes auf Wan­ derung. Auf den Trümmern des römischen Imperiums gründeten sie Staaten, die meist nach wenigen Generationen wieder ver­ schwanden, bis das Vordringen der Araber (711 : Schlacht bei Jeres de la Frontera) und die Gründung des karolingischen Reiches (751 : Staatsstreich Pippins des Jüngeren) wieder eine Periode ver­ hältnismäßiger Stabilität einleiteten. Um 450 hatte auch die Erobe­ rung Englands durch die Angeln, Sachsen und Jüten begonnen. Während die Germanen in den von ihnen auf dem Festland erober­ ten Gebieten meistens eine kleine Minderheit inmitten einer frem­ den Bevölkerung blieben, gelang es den Angelsachsen, die bereits teilweise romanisierte und zum Christentum bekehrte Bevölkerung einzuverleiben oder nach Westen und Norden zu vertreiben und dergestalt England zu germanisieren. Auf sozialem und kulturellem Gebiet hatten die Völkerwande­ 24

rungen weitreichende Folgen. Schon bei der Lektüre von Cäsar und Tacitus erhalten wir den Eindruck, daß die von ihnen be­ schriebenen Zustände zumindest teilweise der Nähe feindlicher rö­ mischer Heere zuzuschreiben seien. Der comitatus erhielt in jenen bewegten Jahrhunderten ohne Zweifel eine größere Bedeutung, als es unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre. Die per­ sönliche Führung von Fürsten und Heerführern war in diesen un­ ruhigen Zeiten auch von größerer Wichtigkeit als die Beratungen und Entscheidungen einer Volksversammlung. Wahrscheinlich wurde zugleich die soziale Osmose intensiver: Konzentration und Zersplitterung von Autorität und Macht wechselten einander in beschleunigtem Tempo ab. Außerdem ließen sich die Germanen gewöhnlich in einer kulturell höherstehenden Umgebung nieder; und mochten sie auch noch so sehr an ihren eigenen Lebensformen festhalten, so gelang es ihnen dennoch nicht, ihre Kultur den un­ terworfenen Völkern aufzuzwingen. Außer in Nord- und Ost­ frankreich, in Belgien und in der Schweiz wurden sie rasch von der sie umgebenden Bevölkerung assimiliert. Es wird uns übrigens später auffallen, wie leicht sie ihre Religion verließen, um zum Christentum überzugehen. Was während dieser Jahrhunderte innerhalb des eigentlichen Germanien vor sich ging, ist uns nahezu völlig unbekannt. Von vornherein dürfen wir annehmen, daß man dort dem Schicksal der Auswanderer nicht gleichgültig gegenüberstand. Im Anfang un­ terhielten diese noch oft Beziehungen mit denen, die in der Heimat zurückgeblieben waren; zuweilen kehrten sie irgendeines Mißge­ schickes wegen zu ihren alten Heimstätten zurück. So heißt es z. B., eine Gruppe Herulen sei vom Balkan nach Schweden zurückge­ kehrt, nachdem ihr Reich zirka 512 von den Langobarden ver­ nichtet worden war. Die Geschichten derer, die - sei es als Soldat oder Auswanderer, als Händler oder Sklave - in der Fremde ge­ wesen waren, machten auf diejenigen, die das Heimatland nicht verlassen hatten, einen tiefen Eindruck. Die bewegte Geschichte der Völkerwanderungen fand ihren Niederschlag in der späteren germanischen Heldenpoesie. Wenn sich auch die Germanen auf dem Schlachtfeld oft feindlich gegenüberstanden, in der Poesie bildeten sie wenigstens eine Einheit: Theoderich, der König der 25

Ostgoten, wurde auch in Skandinavien besungen, und Walter, ein Königssohn aus Aquitanien, der als Geisel am Hofe Attilas ge­ weilt hatte, wurde zum Helden eines altenglischen Gedichtes. Was die neue Welt, die sich den Germanen- in dieser Weise eröffnete, weiter noch bot, wurde entweder nachgeahmt oder abgelehnt. So hat wahrscheinlich das Vorbild der fränkischen Monarchie und des karolingischen Imperiums bei der Entstehung der skandinavi­ schen Königreiche eine Rolle gespielt. Andrerseits beweist der zähe Widerstand, den die Sachsen der Einverleibungspolitik Karls des Großen entgegenbrachten, daß ihre Eigenart keinen erheb­ lichen Schaden erlitten hatte; die Bedrohung von außen her führte bei ihnen eher zu einer Festigung der traditionellen Werte, auch auf religiösem Gebiet. Schon Tacitus erwähnt eine Konzentration der politischen Ge­ walt bei den Suionen (einem der mächtigsten Völkerstämme Schwedens), die im Gegensatz zu den anderen germanischen Völ­ kern unter einer Art absoluter Monarchie gelebt haben sollen. In Dänemark waren es die Fürsten von Lejre (auf der Insel Seeland, in der Nähe von Roskilde), die schon sehr früh die Hegemonie über das ganze Land besaßen. Die eigentlichen Schweden (die Suionen von Tacitus, die Svear der altnordischen Literatur), die ursprünglich die Gegend um den Mälarsee bewohnten, unterwar­ fen die Gauten, d. h. die Bewohner der heutigen Provinzen österund Västergötland; Uppland mit der Hauptstadt Alt-Uppsala wurde zum Zentrum ihres Machtbereiches. Auch in Norwegen gab es Kerne der Staatsbildung, z. B. in Vestfold, doch machte dort die Zentralisierung der Gewalt erst im zehnten und elften Jahrhundert wirkliche Fortschritte. Diese Änderungen in der poli­ tischen und sozialen Struktur hatten auch einen gewissen Einfluß auf das religiöse Leben, wie wir im letzten Kapitel sehen werden. In Skandinavien führten verschiedene Faktoren, u. a. ein starker Zuwachs der Bevölkerung, im Laufe des achten Jahrhunderts zu einer neuen Expansionsperiode, mit der der Name der Wikinger verbunden ist. Noch vor dem Ende jenes Jahrhunderts erschienen diese gefürchteten Seeräuber an den Küsten Englands (792: Plün­ derung des berühmten Klosters von Lindisfarne), und bald auch in Irland und an den Küsten und auf den Flüssen des Festlandes. Es

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waren hauptsächlich Dänen und Norweger, die diese Fahrten nach dem Westen unternahmen, während sich die Schweden mehr von östlichen Gebieten angezogen fühlten. Sie überquerten das Bal­ tische Meer, zogen vom Ladogasee aus südwärts (Nowgorod zirka 840, Kiev 864) und erreichten sogar Konstantinopel (866); es ging ihnen hier nicht in erster Linie um Plünderung, sondern vielmehr um den gewinnbringenden Handel mit dem Osten, mit dem sie auf dem Wege des Dnj epr und der Wolga Beziehungen unterhielten. Wenn es die Umstände erforderten, traten sie auch in fremde Kriegsdienste: gegen Ende des zehnten Jahrhunderts hatte der byzantinische Kaiser eine Leibwache, die unter den (bald slavisierten) Normannen Rußlands angeworben wurde. Auch für die Nor­ mannen kann die höhere Kultur, mit der sie sowohl im Westen wie im Osten in Berührung kamen, kein verschlossenes Buch geblie­ ben sein. Der vorübergehende Aufenthalt und später die endgül­ tige Ansiedlung auf fremdem Boden (England, die Normandie) schwächten natürlich die alten Bande. Trotzdem kam es vor dem Ende der heidnischen Zeit noch einmal zur Gründung einer ger­ manischen Niederlassung nach altem Muster: zwischen ungefähr 870 und 930 wurde Island von norwegischen und dänischen Aus­ wanderern kolonisiert. Viele von ihnen hatten die Heimat verlas­ sen, um sich den neuen Gewalthabern nicht unterwerfen zu müs­ sen; recht zahlreich waren diejenigen, die nicht geradeswegs, son­ dern über Irland, England oder die Shetlandinseln nach dem fernen Thule zogen. Trotz der Einflüsse, denen sie während ihres Auf­ enthaltes in diesen Gebieten ausgesetzt waren, hielten die Isländer hartnäckig an ihren alten Idealen fest, und deshalb ist die Literatur, die sie uns hinterließen, die wichtigste Quelle zum Studium der germanischen Religion. Diese reiche Hinterlassenschaft ist frei­ lich nicht völlig unberührt zu uns gelangt; aber dies ist ein Pro­ blem, das wir in einem späteren Abschnitt dieses Kapitels behan­ deln werden. Mit der Bekehrung Islands im Jahre 1000 und der Schwedens im elften Jahrhundert hörte die germanische Religion offiziell zu bestehen auf. Die Bekehrungsdaten decken sich aber nicht voll­ kommen mit dem tatsächlichen Verschwinden des Heidentums: einmal machte das Christentum seinen Einfluß schon vor der Be-

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kehrung geltend, und dann wirkte das Heidentum auch nach der offiziellen Bekehrung noch lange nach. Einzelne Aspekte der ger­ manischen Religion treten gerade in der Bekehrungszeit deut­ licher zutage. Deshalb ist das letzte Kapitel dieses Buches einer kurzen Besprechung der Bekehrung und des Fortbestehens heid­ nischer Elemente gewidmet.

QUELLEN DER GERMANISCHEN RELIGIONSGESCHICHTE

Solange ein Volk keine Schrift verwendet, können wir von seiner Religion lediglich materielle Spuren wiederfinden. Dies gilt na­ mentlich für die Germanen während der vielen Jahrhunderte vor ihren ersten Kontakten mit den Griechen und Römern und sogar noch lange Zeit nachher. Als Hilfsmittel zum Studium ihres reli­ giösen Lebens während der Bronzezeit und der keltischen Eisen­ zeit verfügen wir bloß über Felszeichnungen, Gräber und aller­ hand Gegenstände, die geopfert oder beim Gottesdienst verwen­ det wurden. a) Älteste Quellen

Fels^eichnungen auf waagrechten oder schwach geneigten Felsplat­ ten - Felsritzungen wäre ein zutreffenderer Name - trifft man hauptsächlich in Südwestschweden und Südostnorwegen an, fer­ ner auch auf Bornholm, in Südnorwegen und sogar in der Nähe von Trondheim. In Dänemark und sogar in Norddeutschland bis in die Gegend von Hannover findet man auch welche auf Fels­ blöcken, mitunter auf den Wand- oder Deckenplatten von Grab­ kammern. Auf Felsplatten nimmt ein Komplex von Felszeichnun­ gen gelegentlich eine große Oberfläche ein. Manchmal sind Dut­ zende von Figuren neben- und sogar durcheinander in den Fels eingehauen, so daß es selten möglich ist, mit Sicherheit zu be­ stimmen, welche der Künstler sich als ein Ganzes gedacht hat. Neue Zeichnungen wurden nämlich zwischen und über den älte­ ren angebracht, und ihre chronologische Reihenfolge läßt sich oft nicht feststellen. Die Technik war eher primitiv: die abgebildeten Personen oder Gegenstände wurden zu einzelnen Linien oder Um­ rissen vereinfacht. Dies alles erschwert die Deutung der Felszeich­ nungen. Dennoch ist man sich jetzt darüber einig, daß sie mit reli­ giösen Absichten eingemeißelt wurden. Die Hunderte von Gräbern aus der Bronzezeit, die aufs gez9

naueste untersucht wurden, geben uns einen guten Begriff von der Sorge, mit der die Lebenden ihre Toten umgaben. Doch lernen wir hierdurch bloß einen sehr beschränkten Aspekt der Religion ken­ nen; dies gilt übrigens auch für die Felszeichnungen, eine Tatsache, die von vielen übersehen wird. Über die Rolle der Religion bei einigen der wichtigsten Ereignisse des menschlichen Lebens: Ge­ burt, Heirat, Krieg und Frieden, besitzen wir praktisch keine An­ gaben. Wir fragen sogar vergeblich nach dem Grund, warum Grabhügel aufgeworfen, Waffen begraben und Tiere und Men­ schen geopfert wurden. Durch Art und Form deuten die Kultus­ gegenstände zwar an, wie sie verwendet wurden, nicht aber, was sich der Gläubige, der sie verwendete, dabei dachte; und wenn man in einem Brunnen eine Anzahl Gegenstände findet, die offen­ bar als Opfer gedacht waren (Bronzeringe, Tierschädel), dann bleibt wiederum die Frage: was wollten die Opferer erlangen? Welchem Gott oder welchen Göttern brachten sie diese Gaben dar? Die Spärlichkeit des gleichartigen Materials aus der vorrömi­ schen Eisenzeit macht diese Periode für den Religionshistoriker zu «dark ages». Dies ist besonders bedauerlich, da der keltische Ein­ fluß sich auch in der Religion geltend gemacht haben kann. Glücklicherweise sind der Kessel von Gundestrup (vgl. S. 64) und die Hörner von Gallehus (vgl. S. 66) da, um zu beweisen, wie eng die Kontakte zwischen Kelten und Germanen gewesen sein können. Bis zum Ende der vorgeschichtlichen Zeit, d. h. für den Norden etwa bis zum elften Jahrhundert, bleibt die Alter­ tumskunde aber eine sehr wichtige Quelle. Immer wieder mahnen uns neue Funde daran, daß unsere Auffassung jener Zeit und ihrer religiösen Problematik kaum endgültig sein kann; denken wir nur an einige wichtige Funde der letzten Jahrzehnte: das Schiffsgrab von Sutton Hoo (England), das Buddhabildchen von Helgö (Mälarsee, Schweden), die Steinsetzungen der Heiligtümer von Jellinge, Tibirke und Tingsted (Dänemark), die Wikingburg von Aggersborg (ebenfalls in Dänemark), der Drachenkopf aus der Schelde (Belgien). Über das Ende der keltischen Eisenzeit und die nachfolgende Periode erhalten wir dann zum Glück durch griechische und latei-



Schriftsteller genauere Auskunft. Die klassischen, Völker hatten zwar im allgemeinen wenig Interesse für die Barbaren, die außerhalb ihrer Grenzen wohnten, wie übrigens auch für ihre eige­ nen barbarischen Untertanen. In seinem Werk über den gallischen Krieg erwähnt Cäsar die Germanen nur beiläufig; was er über ihre Art und Religion zu berichten weiß, verdankte er größtenteils gal­ lischen Gewährsmännern. Als man sich in Rom mit Sorge bewußt zu werden begann, daß die Germanen eine Bedrohung für das römische Reich darstellten, widmete Tacitus Germanien und sei­ nen Bewohnern eine Monographie: De origine et situ Germanorum, gewöhnlich Germania genannt (98 n.Chr.). Der historische Wert dieses Werkes wurde von einzelnen Historikern, u. a. von Norden, stark angezweifelt; nachträglich aber hat es sich doch als recht zu­ verlässig erwiesen, und es bildet noch immer unsere bedeutendste Auskunftsquelle über die germanische Religion jener Zeit. Wei­ tere Angaben finden wir bei Plutarch (46-120 n.Chr.), der selber ein verlorenes Werk von Posidonius (131—51 v. Chr.) verwendete, Strabo (gest. etwa 25 n.Chr.), Suetonius (gest. 141), Ammianus Marcellinus (gest. Ende des vierten Jahrhunderts), usw. Natürlich beschrieben alle diese Autoren die Germanen von ihrem römischen oder griechischen Gesichtspunkt aus. Hierbei lassen sich zwei Tendenzen feststellen. Entweder fühlte sich der Verfasser von der primitiv-barbarischen Art der Germanen abge­ stoßen, die in einem so scharfen Gegensatz stand zur verfeinerten, technisch und verwaltungsmäßig viel besser organisierten Kultur der klassischen Völker; oder er entdeckte bei diesen ungekünstel­ ten und unverdorbenen «Naturkindern» Tugenden und Eigen­ schaften, die in seiner eigenen überzivilisierten Umgebung im Aus­ sterben begriffen waren - ungefähr so, wie das achtzehnte Jahr­ hundert «le bon sauvage» entdeckte und verherrlichte. Außerdem übertrug ein solcher Verfasser nach Möglichkeit alles Fremde in eine Sprache, die sein Latein oder Griechisch lesendes Publikum mühelos verstehen konnte. Deshalb ersetzte er beispielsweise die Namen der germanischen Götter durch die der römischen oder griechischen Götter, die mit den germanischen am meisten Ähn­ lichkeit hatten (interpretatio romana, graeca). Ob er bei dieser «Übertragung» immer die wesentlichen Züge der fremden Götter nische

und Einrichtungen vor Augen hatte, läßt sich indessen be­ zweifeln. Die Votivinschriften, die man im von den Römern besetzten Ge­ biet in großer Zahl antrifft, bringen uns dem religiösen Leben der Germanen in gewissem Sinne näher. Nach dem Beispiel der Rö­ mer widmeten sowohl Einzelpersonen wie Gemeinschaften ihren Göttern Weihaltäre und Votivtafeln. Die lateinischen Inschriften dieser Steine erwähnten den Namen des verehrten Gottes (oder der Götter), den Zweck der Schenkung und den Namen des Schenkers. Es ist natürlich oft unmöglich, festzustellen, ob ein Schenker mit Jupiter oder Mars die römischen oder die ihnen ent­ sprechenden germanischen Götter meinte; nur wenn der Gott einen germanischen Beinamen erhält, kann man mit größerer Si­ cherheit urteilen. Überdies gibt es eine ganze Reihe von Inschrif­ ten, die Götter mit germanischen Namen erwähnen. Wo es römi­ sche Namen betrifft, haben wir es also mit einer Art. interpretatio germanica zu tun. Eine solche Übertragung liegt auch den Namen der Tage zugrunde, die aus dem Lateinischen übersetzt wurden, wie z. B. dies Martis = Dienstag, dies Veneris = Freitag. b) Geschichtliche Quellen %ur Erforschung der Bekehrungsperiode auf dem Festland

Zur Erforschung der Bekehrungsperiode auf dem Festland und in England stehen uns wiederum nur ganz spärliche Quellen zur Verfügung; auch in bezug auf ein allfälliges Fortbestehen des Hei­ dentums in diesen Gebieten gibt es nur wenig zuverlässiges For­ schungsmaterial. Freilich sind in Hagiographien, und zwar in den Lebensbeschreibungen berühmter Missionare (Vita Columbani, Vita Bonifaiii, Vita Willibrordi) gewisse Andeutungen und Hin­ weise enthalten; solche Hinweise finden sich ebenfalls in histori­ schen Werken, von denen namentlich Orosius* Weltgeschichte (417), Jordanes’ Werk über die Goten (5 51), Gregorius von Tours’ Geschichte der Franken (591), Bedas Kirchengeschichte von Eng­ land (731) und Paulus Diakonus’ Geschichte der Langobarden (790) Erwähnung verdienen. Diese Geschichtsschreiber aber hat­ ten im allgemeinen eine ausgesprochene Abneigung, heidnische

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Bräuche, die sie verabscheuten, in allen Einzelheiten zu beschrei­ ben und ihre Bedeutung zu erforschen. Bei ihnen findet man eine interpretatio christiana: die heidnischen Götter waren für sie Erfin­ dungen des Teufels oder vergöttlichte Menschen. In den Beschlüs­ sen von Synoden, in Bußverordnungen, Predigten und Gesetzes­ texten wurde natürlich ebenfalls der Bekämpfung des Heidentums Aufmerksamkeit geschenkt; doch beruhen die Angaben dieser Do­ kumente nicht immer auf konkreten Tatsachen. Boudriot hat nachgewiesen, daß viele für germanische Gebiete ergangene Ver­ ordnungen eigentlich denen entnommen worden sind, die Cäsarius von Arles im sechsten Jahrhundert erlassen hatte, um das spätrömische Heidentum in Südgallien auszurotten. Alles zusam­ mengenommen, weist unser Material so viele Lücken auf, daß wir kaum hoffen dürfen, jemals ein verläßliches Bild des späten Hei­ dentums auf dem Festland zu erhalten. c) Skandinavische Quellen

Zum Studium der germanischen Religion bietet uns der Norden viel reichere Quellen. Von den kontinentalen Germanen sind praktisch keine heidnischen Texte bewahrt geblieben: einige we­ nige Zaubersprüche, namentlich die sogenannten Merseburger Zaubersprüche, die in einer Handschrift aus dem zehnten Jahr­ hundert in der Dombibliothek in Merseburg enthalten sind, ver­ mitteln einen bloß sehr beschränkten Begriff ihrer Götterwelt. Der ganze übrige Niederschlag ihrer Religion in der Literatur ging bei der Bekehrung und der Einführung des Lateinischen als Schrift­ sprache verloren. In Skandinavien aber und vor allem auf Island sind Texte erhalten geblieben, in denen das germanische religiöse Denken und Fühlen zum Ausdruck kommen. Unter den geschriebenen Quellen sollen hier zunächst die Runen­ inschriften erwähnt werden. Die Runenschrift wurde vor dem Ende des zweiten Jahrhunderts n.Chr. von einem Germanen nach dem Muster eines südeuropäischen Alphabets geschaffen; wahrschein­ lich nahm er dabei das lateinische Alphabet zum Ausgangspunkt. Während längerer Zeit hat man die Runen offenbar hauptsächlich mit religiösen und magischen Absichten verwendet. Den Runen­ 33

Zeichen wohnte eine geheimnisvolle Kraft inne, die weiter reichen konnte als der buchstäbliche Inhalt der Inschriften. Aus diesem Grunde wurden sie auch nie zu einer eigentlichen Gebrauchs­ schrift. Auf dem Festland war die Runenschrift schon im achten Jahrhundert ausgestorben, und auch in England kannte sie keine große Blüte, obwohl sie dort von der Kirche als Zierschrift zuge­ lassen wurde. Im Norden aber erhielt sie im neunten Jahrhundert neue Lebenskraft: in Schweden haben sich mehr als zweitausend Inschriften erhalten, in Dänemark und Norwegen mehrere hun­ dert. In diesen Ländern blieb die Runenschrift auch noch lange nach der Bekehrung im Gebrauch. Die Runeninschriften aus der heidnischen Zeit sind meist sehr kurz und oft schwer zu deuten. Dennoch vermitteln sie häufig eine überraschende Einsicht in das religiöse Leben jener Zeit, wenngleich sie nur selten einen Götter­ namen enthalten (vgl. S. 211). Die Eddas und Sagas unterrichten uns viel eingehender über die vorchristliche Religion. Qie Eddas z. B. geben eine sehr bunte Schilderung der germanischen Götterwelt. Die sogenannte «ältere Edda» oder «poetische Edda» ist eine Sammlung von Gedichten, die im dreizehnten Jahrhundert auf Island ihre endgültige Form er­ hielt. Die ursprünglichen Fassungen einzelner Gedichte sind mög­ licherweise viel älter; die ältesten Teile bestanden vielleicht schon im neunten Jahrhundert. Ungefähr die Hälfte der mehr als dreißig Gedichte handeln von Ereignissen in der Götterwelt oder enthalten zumindest Episoden, in denen Götter eine wichtige Rolle spielen. Die übrigen besingen Sagenhelden, aber auch in diesen treten hin und wieder Götter oder andere mythische Wesen auf. Für die Reli­ gionsgeschichte sind folgende Gedichte von besonderer Bedeu­ tung: «Der Seherin Gesicht», Völuspd (Tafel 1), eine großartig entworfene Darstellung des Weltgeschehens von der Schöpfung bis zum Untergang, die aber eine späte Form des germanischen Glaubens widerspiegelt; «Das alte Sittengedicht», Hdvamäl, das zur Hauptsache aus Lebensweisheit in Gedichtform besteht, aber außerdem berichtet, in welcher Weise Odin seine göttliche Weis­ heit erwarb. Andere Gedichte erzählen von Thors Erlebnissen bei den Riesen (das «Hymirlied», Hymiskvipa; das «Thrymlied», prymskvipa); oder sie enthalten Sammlungen mythologischer

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Kenntnisse, die in den mehr oder weniger künstlichen Rahmen von Wettkämpfen im Rätsellösen gefaßt sind, wie z. B. das «Wafthrudnirlied», VafßrAßnismal, das «Alwislied», Alvissmäl, oder sie berichten über Odins Erscheinungen unter den Menschen, wie das «Grimnirlied», Grimnismal (Tafel i). Die ältere Edda ist also kein heiliges Buch; sie enthält keine sy­ stematische Darlegung oder Kodifizierung des germanischen Glaubens und der germanischen Sittenlehre. Zweifellos ist ihr Bild der germanischen Götterwelt keineswegs vollständig. Des öftern finden wir in diesen Gedichten Anspielungen auf Mythen oder Götter, die uns nicht näher bekannt sind. Daraus ergibt sich, daß ein bedeutender Teil der germanischen Mythologie uns völlig verlorengegangen ist. Außerdem sind die Texte nicht immer wort­ getreu überliefert worden, während infolge des gedrängten drama­ tischen Stiles der Inhalt der Gedichte zuweilen recht undeutlich ist. Was uns natürlich in erster Linie interessiert, ist das Verhältnis zwischen diesen Texten und der religiösen Wirklichkeit. Bald be­ handeln die Dichter ihren Stoff voller Ehrfurcht und mit tiefem Ernst, wie z. B. beim Anfang von «Der Seherin Gesicht»; Gehör heisch ich heil’ger Sippen, Hoher und niedrer Heimdalssöhne; Du willst, Walvater, daß wohl ich künde, Was alter Mären der Menschen ich weiß, bald aber herrscht leichter Spott oder bitterer Sarkasmus vor, wie in «Lokis Zankrede» (Lokasenna 60):

Deine Ostfahrten ließest den andern du besser verborgen sein, Seit du, Held, hocktest in des Handschuhs Däumling und dich nicht trautest, Thor zu sein. öfters fragen wir uns: Ist dies eine echte, altgermanische Über­ lieferung, oder hat hier ein späterer Dichter alte Motive in ein neues Gewand gesteckt? Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß die poetische Edda nicht das ganze skandinavische Gebiet vertritt, sondern lediglich Norwegen und das von Norwegen aus besiedelte Island. Gegenden mit bedeutenden Kultstätten und religiösen

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ÜberEeferungen, wie Uppland in Schweden und die Insel Seeland in Dänemark, haben nicht unmittelbar dazu beigesteuert. Auch dort gab es eine ausführfiche Poesie religiösen Inhalts, doch ist da­ von nichts erhalten geblieben, es sei denn vielleicht in einer freien lateinischen Bearbeitung von Saxo Grammaticus, auf die wir spä­ ter zurückkommen werden. Von anderer Art ist das Material, das wir bei den Skalden finden. Diese Skalden waren anfänglich in erster Linie Hofdichter, die das Lob ihrer Brotherren sangen. Daneben aber verfaßten sie auch Ge­ dichte über religiöse Themen und allerlei Stegreifsprüche. Die äl­ testen dieser Gedichte, die erhalten gebEeben sind, stammen aus dem neunten Jahrhundert, und die meisten Skalden, deren Werke uns bekannt sind, stammen wiederum aus Norwegen und Island. Die Skalden bedienten sich einer reich ornamentierten poetischen Sprache, die ihre Werke für unseren Geschmack fast ungenießbar macht. Ihre auffälligste Stilfigur, die auch in der Edda vorkommt, war die Kenning: «eine Ausdrucksweise, die, der Ästhetik oder des Versmaßes wegen, eine Person oder ein Ding mit zwei oder mehr Wörtern statt mit einem einzigen bezeichnet» (Strömbäck). So nannten sie ein Schiff «das Wellenpferd» und einen Seemann oder Wiking «den Reiter (oder: «den Baum») des Wellenpferdes». Viele dieser Kenningen enthalten mythologische Ausdrücke: « Odin des Schildes» oder «Schwert-Freyr» bedeutet «Krieger»; «Sif der Ju­ welen» oder «Gold-Gefjun» steht für «Frau». Zuweilen gründete sich die Umschreibung auf eine Mythe, z. B. wenn der Skalde mit «Odins Frau» die Erde meinte, mit «Odins Beute» den Götter­ trank, der auch die Dichtkunst symbolisiert, oder mit «Tyr der Ge­ henkten» den Gott Odin selber. Diese Kenningen setzten voraus, daß die Zuhörer - diese Poesie war dazu bestimmt, vorgetragen zu werden — genau darüber Bescheid wußten, daß die Erdgöttin Jörd eigentlich Odins Gemahlin war, daß er selber den Göttertrank bei den Riesen gestohlen hatte, und daß die ihm geopferten Kriegs­ gefangenen in der Regel gehängt wurden. Deshalb gibt, abgesehen vom Inhalt der Gedichte, auch die Verwendung von Kenningen Anweisungen in bezug auf das religiöse Klima einer bestimmten Periode. Die sogenannte «Prosa-Edda» oder «Snorra-Edda» ist eine 36

Sammlung mythologischen Materials, die vom isländischen Ge­ lehrten Snorri Sturluson (u79-1241) zusammengetragen wurde. Der ausführliche Prolog beginnt mit der Schöpfung und ist völlig von mittelalterlich-christlichem Gesichtspunkt aus abgefaßt: die Äsen kommen aus «Asia»; Thor ist ein Enkel des Priamus von Troja, nach dem Muster der Römer, die ja von Aeneas, oder der Briten, die von Brutus abstammen sollen usw. «Gylfis Sinnestäu­ schung» (Gylfaginning) ist eine mehr oder weniger systematische Übersicht mythologischer Kenntnisse in Form eines Traum­ gesichtes. Das Dichterhandbuch (Skäldskaparmäl), mit dem Snorri sein Werk beschließt, ist ein Leitfaden zum Studium der traditionellen poetischen Technik. Um die der Skaldenpoesie entnommenen Kenningen zu erklären, erzählt er wieder zahlreiche Mythen. Man nimmt an, daß Snorri neben den uns bekannten Gedichten auch aus mündlicher Überlieferung geschöpft hat und außerdem heute verschwundene Gedichte verwendet hat. Weniger einig sind sich die Gelehrten über den Wert des von ihm überlieferten Materials und über die Frage, in welchem Geist er sein Werk auffaßte; die Debatte darüber ist noch nicht geschlossen. Mogk sah in Snorris Werk in erster Linie «novellistische Darstellung». Dies schließt zwar die Glaubwürdigkeit des verarbeiteten Materials nicht aus, setzt aber eine eigenmächtige Gestaltung voraus. Kuhn neigte eher zur Annahme, Snorri habe noch wirklich an das von ihm Er­ zählte «geglaubt». Für Baetke aber ist Snorri ein Gelehrter aus dem dreizehnten Jahrhundert mit der für seine Zeit charakteristi­ schen Schulung in der lateinischen und christlichen Literatur, eine Schulung, die auf sein ganzes Werk abgefärbt habe. Es ist zum mindesten unwahrscheinlich, daß Snorri mit seiner Ausbildung und nach zwei Jahrhunderten Christentum auf Island noch an die heidnischen Götter als Götter geglaubt haben soll. Andrerseits un­ terliegt es keinem Zweifel, daß Snorri und seine Zeitgenossen die Traditionen ihrer Vorfahren mit den Augen ihrer Zeit betrachtet haben. Das will aber nicht heißen, daß Snorris Werk deswegen für unseren Zweck unbrauchbar wäre. Mögen wir auch bei ihm un­ richtige Deutungen und willkürliche Verbindungen von Motiven erwarten, so dürfen wir ihm doch ohne triftige Gründe nicht zur

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Karte i Auf dieser Karte sind die englischen Ortsnamen angegeben, die an die Religion der Angelsachsen erinnern. Nach Wodan (altenglisch Woden, vgl. S. 86) wurden benannt: Woodnesbarough, Vi/ornshill, Wednesbury, Wtdnesfield, Wensley, und die heute verschwundenen oder nicht mehr er­ mittelbaren Ortschaften W'odnesfeld, Wedynsfeld, Wodnesdene, Wodnesbeorg, Wodneslawe; nach diesem Gott wurden auch einzelne prähistorische Be­ festigungen benannt, z. B. der Wantdyke (^vcyWodnesdic) in Wiltshire. Nach Donar (altenglisch Thunor, vgl. S. 116) heißen: Thunderfieid, Tbundersley, Thursley, Thundridge, Tusmore und die älteren Ortschaften Thunresfeld, Thureslege, Thunreslau, Thunreslea (z X), Thunorslege und Thunoreshlaoa>. An Tiw (altenglisch Th» oder Tig, vgl. S. 130) erinnern Tuesley, Tysoe und die heute verschwundenen Namen Tislea und Tyesmere. Heiligtümer gab es in Harroi», Harrowden, Harrowdown, Peper Har­ roi» (alle vom altenglischen Wort hearg abgeleitet, vgl. S. 251) und in

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Last legen, sein Werk sei reine Erdichtung ohne irgendwelche tra­ ditionelle Grundlage. Die isländischen Sagas oder Prosaromane beschreiben die ger­ manische Religion aus einem ganz anderen Gesichtspunkt. Sie versuchen, aus den Taten und Worten auf den Menschen selber zu schließen. So weit sie auf die Religion Bezug nehmen, enthalten sie mehr Angaben über den Kultus als über den Glauben; diesem messen sie nur insofern Wert bei, als er die Handlungen des Men­ schen bestimmt oder beeinflußt. Über die Frage, welchen Anteil zuverlässige Überlieferungen, mehr oder weniger glückliche Re­ konstruktionen, und freie Schöpfung am Aufbau der Sagas hatten, ist man sich wieder nicht einig. Nur wenige Gelehrte glauben noch an die Möglichkeit einer ununterbrochenen mündlichen Überlieferung von der Zeit der erzählten Ereignisse an bis zum Augenblick, da die Sagas niedergeschrieben wurden. Manche sind der Ansicht, dieser Zeitraum, der vier bis fünf Jahrhunderte um­ spannen kann, sei überbrückt worden durch Angaben aus Annalen und anderen historischen Aufzeichnungen, die man später zu aus­ führlichen Prosaerzählungen ausgearbeitet habe. Heiligenleben und andere «gelehrte» Werke können als Vorbilder gedient haben. Von der Lösung des Ursprungsproblems hängt natürlich der hi­ storische Wert der Sagas ab, und dieser Wert bestimmt wiederum ihre Brauchbarkeit für das Studium der Religion. Auch hier führt der sicherste Weg zwischen kritiklosem Vertrauen und überkriti­ scher Skepsis hindurch. Von besonderem Interesse für unser Thema sind die Sagas, die das Leben der Isländer während des ersten Jahrhunderts nach ihrer Ansiedlung im neuen Land be­ schreiben. Auch die Sagas über die norwegischen Könige beWye, Weedon (2 X), Weyhill, Wybam, Weeley, Whyly, Willey, Wiligh, Wheely Down, Weoly, Weeford, Wyville und dem heute verschwundenen Weoland (alle vom altenglischen weoh abgeleitet, vgl. S. 252). Manche Tempel wurden nach ihrem Gründer oder Eigentümer benannt: die älteste Form des Namens Patchway bedeutete «Tempel des Paeccel»; Cusanweoh, «Tempel des Cusa», trug den Namen eines (oder einer) nicht näher bekannten Cusa. (Nach F. Stenton, The Historical Bearing of Place-Name Studies: AngloSaxon Heaihenism.)

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leuchten das religiöse Leben im letzten Jahrhundert des Heiden­ tums und in der Bekehrungszeit. In lateinischen Werken mittelalterlicher Historiker aus Skandi­ navien liegt ebenfalls viel Material verborgen. Das interessanteste unter diesen Werken ist wohl die ausführliche Geschichte Däne­ marks des Saxo Grammaticus (Gesta Danorum, etwa 1190-1216). Er behandelt seinen mythologischen Stoff vollkommen in euhemeristischem Sinn: alle Götter werden zu Königen oder doch we­ nigstens zu Halbgöttern und Heroen herabgesetzt. Die Geschichte der Bischöfe von Hamburg (1074-1083 von Adam von Bremen verfaßt) ist von besonderer Bedeutung, weil sie den Zustand in Schweden unmittelbar vor und nach der Bekehrung schildert. Weitere mythologische Elemente sind unzweifelhaft in Heldensa­ gen und sogar in Märchen erhalten geblieben, doch ist beim Aufspü­ ren solcher Elemente größte Vorsicht am Platze: meistens können wir ja der Entstehungsgeschichte dieser Art von Erzählungen gar nicht nachgehen und folglich auch ihren Wert als Quellen nicht bestimmen. d) Anderes Forschungsmaterial

Es stehen uns noch vier andere Quellen zur Verfügung, aus denen wir unsere Kenntnisse der germanischen Religion ergänzen kön­ nen. Da ist an erster Stelle das Studium des Wortschatzes der alt­ germanischen Sprachen zu erwähnen. Statt in den Texten nachzu­ forschen, was sie ausdrücklich über die Religion mitteilen, können wir die:religiöse Terminologie als solche studieren: welche Wörter verwendeten die Goten, die Angelsachsen, die Skandinavier, um die Begriffe «Gott», «heilig», «Opfer», «Tempel» usw. auszudrükken? Diese Erkenntnis ist insofern von besonderem Wert, da in diesen Wörtern religiöse Auffassungen zum Ausdruck kamen, ohne daß sich der Verfasser dessen gewöhnlich bewußt war. Die Erforschung alter Ortsnamen ist ebenfalls geeignet, das Arsenal des Religionshistorikers zu bereichern. Für diese Erforschung kom­ men vor allem solche Ortsnamen in Betracht, die mit dem Namen eines Gottes gebildet sind, wie etwa Torslund = «Thors heiliger Wald», Odense = «Odins Heiligtum», (ältere Form: Otbenswi). Auf dem Festland sind die «theophoren» Ortsnamen sehr selten, aber 40

eine Karte solcher Namen in England gibt schon einen Eindruck von der Verbreitung der Heiligtümer und folglich der Kulte (Karte i). In Skandinavien ist ihre Dichte noch viel größer, und dort wurden sie auch schon gründlicher studiert. Eine Karte mit theophoren Ortsnamen kann nicht bloß die Gegenden bezeichnen, wo ein bestimmter Gott besonders verehrt wurde, sondern sagt auch etwas aus über die Weise, in der dessen Kult vor sich ging. Man hat sogar weiter vorzudringen versucht: wenn man verschie­ dene Typen von Ortsnamen unterscheiden kann (z. B. altnor­ dische Namen auf -vi = «Heiligtum», auf -lundr — «Heiliger Wald», auf -akr = «(heiliger) Acker», und man überdies ihre Ent­ stehung zu einer chronologischen Reihenfolge zurückzuführen vermag, dann muß es möglich sein, den historischen Verlauf der Verehrung eines bestimmten Gottes aus den Ortsnamen abzulesen. Die Bedeutung dieser Forschung ist um so größer, als den literari­ schen Quellen gegenüber ein gewisses Mißtrauen geboten ist. Ver­ gleichen wir z. B. die Anzahl Ortsnamen, in denen die Namen der verschiedenen Götter enthalten sind, mit der Anzahl Male, da die gleichen Götter in der poetischen Edda erwähnt werden, dann er­ gibt dieser Vergleich für Freyr, Njörd, Odin, Frigg, Freyja und Uli einen auffallend großen Unterschied. Soll man daraus nun schlie­ ßen, daß Odin, der in der Edda sehr häufig, in Ortsnamen hin­ gegen sehr selten vorkommt, mehr eine literarische Figur als ein wirklich verehrter Gott war, und daß umgekehrt Freyr, Njörd und Freyja viel eifriger verehrt wurden, als aus der Edda ersichtlich ist? Bei der Beantwortung solcher Fragen darf man nicht verges­ sen, daß das argumentum e silentio hier oft nicht angewandt werden kann: das Vorhandensein eines Ortsnamens kann auf Verehrung deuten (wenn auch nicht immer; es gibt ja auch so etwas wie Mode in der Namengebung), aber das Fehlen eines solchen bedeu­ tet noch nicht, daß der betreffende Gott in einer bestimmten Ge­ gend unbekannt war. Mit Recht haben sich die Forscher auch gefragt, ob im Volks­ glauben und in den Volksbräuchen Überbleibsel der germanischen Religion erhalten geblieben seien. Läßt sich z. B. der Brauch, strohumwundene Räder brennend einen Hügel hinunterrollen zu lassen, mit der Verehrung eines Sonnengottes in Zusammenhang 4i

bringen, der wenigstens in der Bronzezeit bei den Germanen in hohem Ansehen stand und durch radförmige Figuren symbolisiert wurde? Grundsätzlich dürfen wir annehmen, daß die höheren Formen des germanischen Kultus, nämlich die, welche sich auf die Verehrung der Götter bezogen und als Äußerungen des Glaubens an diese Götter aufgefaßt wurden, bei der Bekehrung ohne wei­ teres verschwunden sind oder in christlichem Sinn umgebildet wurden. Weniger auffällige Bräuche aber, wie auch allerhand Aberglaube, werden die oft strenge Aktion der Kirche wohl eher überlebt haben. Noch 1714 vernahm ein norwegischer Pfarrer zu seiner großen Entrüstung, daß ein Bauer in seiner Gemeinde einen hölzernen Götzen verehrte. Auf dem Hof fand er tatsächlich ein Holzbild vor, das dort schon seit unvordenklichen Zeiten stand. Der Bauer war der Ansicht, es tue seinem christlichen Glauben in keiner Weise Abbruch, wenn er an bestimmten Festtagen eine Schüssel Met auf den Kopf dieses Bildes stelle. Da wir gerade für den germanischen Hauskult über sehr wenig verläßliche Quellen verfügen, ist diese Art volkskundlichen Materials eine willkom­ mene Ergänzung. Wir müssen uns aber davor hüten, jeden Volks­ brauch auf einen heidnischen Kult zurückführen zu wollen. Die Volkskultur ist eine Sammlung von Elementen sehr verschiedenen Datums und Ursprungs (vgl. S. 243). Beim heutigen Stand der volkskundlichen Forschung dürfen wir kaum mehr davon erwar­ ten als eine Bestätigung und Ergänzung der Ergebnisse, die wir auf andere Weise erhalten haben. Schließlich hat man auch Spuren der germanischen Religion bei anderen Völkern, namentlich bei den Lappen vorgefunden. Wäh­ rend der jahrhundertelangen Beziehungen dieses Volkes mit den nördlichen Germanen gab es reichlich Gelegenheit zur Aufnahme von Einflüssen aus dem Süden. Auf Zaubertrommeln in Lappland hat man Figuren und Symbole gefunden, die stark an germanische Götter und sogar an Runenmagie erinnern; nur hält es schwer, festzustellen, in welcher chronologischen Reihenfolge die Über­ nahme dieser Zeichen vor sich gegangen ist. Man hat vielleicht auch allzu sehr an Beeinflussung in einer einzigen Richtung ge­ dacht. Bei den nördlichen Germanen gab es nämlich gewisse ma­ gische Bräuche, die mit dem Schamanismus, der die arktisch-sibi­ 42

rische Kultur kennzeichnet, im Zusammenhang zu stehen schei­ nen. Die Weise, in der Odin sich das Wissen um die Runen er­ wirbt, weist eine gewisse Ähnlichkeit mit der Initiation der Scha­ manen auf. Es kommt übrigens öfters vor, daß eine höhere Kultur ihre Magie von einem minder entwickelten Volk übernimmt; so­ gar noch im späteren Mittelalter galten die Lappen in Skandina­ vien als der Zauberei mächtig. e) Deutungen

Aus dieser Übersicht der Quellen geht deutlich hervor, wie wenig verläßliches Material zum Studium der germanischen Religion wir besitzen. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß Erzählungen über Götter, oder «Mythen», noch nicht Religion sind. Auch Handlun­ gen, die wir als Bestandteile des Kultus betrachten, sind noch keine unzweideutigen Äußerungen des religiösen Erlebens. Und schließ­ lich ist auch die mehr oder weniger typische germanische Lebens­ haltung, die wir in unseren Quellen wahrzunehmen glauben, nicht mit Religiosität zu verwechseln. Ist doch die Religion in erster Linie die Widerspiegelung des Verhältnisses zwischen Gott, bzw. den Göttern, und dem Menschen (als Individuum und als Mitglied einer Gemeinschaft). Diese Einsicht hat der älteren Religionsge­ schichte manchmal gefehlt; vieles, was man als « germanische Reli­ gion» beschrieben oder rekonstruiert hat, hat im Grunde sehr we­ nig damit zu tun. Außerdem hat die Dürftigkeit zuverlässiger Quel­ len zur Folge, daß der Anteil der Interpretation im Verhältnis zu den Tatsachen erheblich vergrößert wird. Es ist denn auch nicht zu verwundern, daß die Geschichtsschrei­ bung der germanischen Religion bedeutende Schwankungen auf­ weist. Diese Wissenschaft sucht noch immer die goldene Mitte zwischen zwei Extremen, einem hyperkritischen Skeptizismus einerseits und einer allzu unkritischen Gutgläubigkeit oder allzu kühnen Rekonstruktionsfreudigkeit andererseits. In dieser Hin­ sicht darf das monumentale Werk von Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, das neulich seine zweite Auflage erlebte, als mu, stergültig gelten; und dennoch kann auch dieser Gelehrte sich nicht völlig dem Einfluß gewisser weit verbreiteter, aber gleich-

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wohl anfechtbarer Anschauungen über Religion im allgemeinen und die der Germanen im besonderen entziehen. Für eine kurze Übersicht älterer Anschauungen und Werke ver­ weisen wir hier auf die einführenden Bemerkungen zur Bibliogra­ phie. Nur ein paar der neuesten Entwicklungen mögen hier noch rasch besprochen werden. In letzter Zeit werden zwei grundle­ gende Fragen immer wieder zur Diskussion gestellt: i. Wenn in der Geschichte der germanischen Religion fremde Einflüsse keine größere Rolle gespielt haben, als z. B. De Vries ihnen zuerkennt, welche sind dann die Anknüpfungspunkte mit den Religionen ver­ wandter Völker, namentlich mit denen der Inder, der Griechen und der Römer, worüber wir soviel mehr wissen? Mit anderen Worten: Welcher Teil der germanischen Religion stammt gerades­ wegs von der gemeinsamen indogermanischen Religion ab? 2. Vermitteln unsere Quellen ein getreues Bild von der germani­ schen Religion? Wo liegt die Grenze dessen, was wir mit Sicher­ heit feststellen können, wo beginnt das Gebiet der Wahrschein­ lichkeit, wo das der bloßen Möglichkeit? Aus welcher Geisteshal­ tung heraus sind diese Quellen zu erklären, welche Gedankenwelt hat darauf abgefärbt? Dem ersten dieser beiden Probleme hat namentlich Dumézil viel Aufmerksamkeit gewidmet. Es war seine Absicht, den indogerma­ nischen Hintergrund der germanischen Religion an Hand von in­ dischen, iranischen, griechischen und römischen Quellen zu re­ konstruieren. Dadurch fällt die Beurteilung seines Grundschemas eigentlich aus dem Rahmen dieses Werkes, aber als ausgesprochen modernes Streben verdient es dennoch, daß wir uns kurz damit befassen. Dumézils System läuft im wesentlichen auf folgendes hinaus : er sieht in der indogermanischen Götterwelt ein Spiegel­ bild der indogermanischen sozialen Struktur, wie er auch in dem Mythus eine Geschichte sieht, welche die «Benutzer» regelmäßig mit einem positiven (befehlenden) oder negativen (verbietenden) Ritus des magisch-religiösen, juridisch-religiösen oder politisch­ religiösen Lebens verbinden. Tatsache ist, daß ein Krieger sich sei­ nen Gott nicht mit den gleichen Zügen vorstellt wie ein Bauer oder ein Händler. Der Krieger wird das Göttliche eher als etwas von übermenschlicher Kraft und Wehrhaftigkeit sehen, während 44

der, dessen Wohl im Ertrag von Acker oder Herde liegt, sich von einer Gottheit abhängig fühlen wird, die Fruchtbarkeit schenkt und Unwetter und Krankheiten abwendet. Nun meint Dumézil, den drei Gesellschaftsklassen, i.Fürsten und Priestern, i. Kriegern und 3. Bauern und Viehzüchtern, entsprächen drei Göttertypen: ein Herrschergott, ein Kriegsgott und einer oder mehrere Frucht­ barkeitsgötter, jeder mit seiner eigenen Funktion. Er hebt beson­ ders die Struktur hervor: er mißt den Gegensätzen zwischen den verschiedenen Göttergestalten größeren Wert bei als ihrem eigent­ lichen Inhalt. In letzter Instanz führt dies zu quasi-mathematischen Formeln, wie etwa : Tyr Mitra, Thor Odin ----- = ------- oder ---- — = ------Thor Indra Indra Varuna, d. h. das Verhältnis zwischen Tyr und Thor ist das gleiche wie das zwischen Mitra und Indra, oder: Thor verhält sich zu Indra wie Odin zu Varuna usw. Im Lauf der Zeiten haben zwar, immer nach Dumézil, gewisse Verschiebungen stattgefunden; die grundlegen­ den Züge jedoch lassen sich in den Religionen aller indogermani­ schen Völker wiederfinden, eben gerade deshalb, weil sie in ihrem sozialen System selber verankert waren. Dieses Verknüpfen der Religion mit sozialen und psychologi­ schen Faktoren bietet einen gewissen Vorteil: es beendet nämlich die Sonderstellung der Religion gegenüber anderen Gebieten, wo der menschliche Geist zum Ausdruck kommt. Und dennoch ver­ mag Dumézils glänzende Synthese nicht zu überzeugen. Daß die germanischen Tatsachen an sich niemals zu einer Systematik wie die seine führen würden, könnte man schließlich noch der mangel­ haften Überlieferung des germanischen Materials zuschreiben. An­ dere Bedenken aber lassen sich nicht so leicht entkräften. Man kann sich beispielsweise fragen, ob das indogermanische Ursy­ stem nicht weniger statisch, also anpassungsfähiger war, als Du­ mézil es auffaßt. Könnten nicht parallele Entwicklungen in gleich­ artigen Verhältnissen zum gleichen Erfolg geführt haben? Was geschah, als die tragende soziale Struktur sich wandelte - oder sol­ len wir etwa annehmen, daß die Herrschergeschlechter der Wikin­ gerzeit in gerader Linie von einer zwanzig bis dreißig Jahrhunderte

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älteren Aristokratie abstammten? Dumézil bekämpft mit Recht die Methode seiner Vorgänger, die überall Entwicklungen und übernommene Bräuche sahen. Ihr religionsgeschichtlicher Evolu­ tionismus holte aus den verfügbaren Quellen viel mehr heraus, als diese enthielten. Bei der Lektüre von Dumézils Werken jedoch be­ kommt man den Eindruck, er habe sich mit seinen «Strukturen», «Oppositionen» und «Mechanismen» doch gar zu weit von dem Gebiet der Tatsachen entfernt; seine Auslegung der Quellen mutet oft recht willkürlich an. Außerdem läßt sich seine ausschließlich soziologische Anschauung schwerlich mit dem Wesen der Reli­ gion in Einklang bringen; bezieht sich doch diese in erster Linie auf «das ganz Andere», das nicht lediglich in Gruppenverband ver­ ehrt wird. Wie heftig der Streit um den religionsgeschichtlichen Wert der Quellen noch wüten kann, sehen wir beispielsweise in den Werken Walter Baetkes. Von allgemeinen Betrachtungen über das Wesen der Religion ausgehend, versuchte er zunächst in den altgermani­ schen Sprachen selbst Spuren der religiösen Anschauungen der Germanen zu entdecken. In ihrem Wortschatz glaubte er verläß­ lichere Angaben zu finden als in den Werken von Schriftstellern, die selten oder nie das Heidentum aus erster Hand gekannt hatten. Neuerdings geht seine Quellenkritik noch weiter. Wenn Texte, die für die Geschichte der germanischen Religion so wichtig sind wie die isländischen Sagas, erst Jahrhunderte nach der Bekehrung, und noch dazu von Christen, niedergeschrieben wurden, welchen Wert haben sie dann überhaupt? Baetke hat diesen Standpunkt mit äußerster Folgerichtigkeit verfochten. 1938 ließ er die Sagas noch als verhältnismäßig sicheres Forschungsmaterial gelten, vor ein paar Jahren jedoch schrieb er, das darin enthaltene Bild der heidnischen Religion und Götterwelt decke sich völlig mit den im Mittelalter gangbaren Auffassungen über das Heidentum. Wollte man auch andere Quellen einer ebenso unerbittlichen Kritik un­ terwerfen, so würde vom vorliegenden Werk am Ende nicht viel ganz bleiben. Zum Glück hat sich gezeigt, daß Baetke in mancher Beziehung zu weit gegangen ist; vieles von dem, was wir in unse­ ren Texten finden, hat sowohl die Archäologie wie ein vergleichen­ des Studium als zuverlässig bezeichnet. Sowie viele Elemente der 46

materiellen Kultur ihre Zeit überleben können - denken wir bloß an die Walfischjagd, die in gewissen Gegenden Norwegens von der Steinzeit an bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein mit Pfeil und Bogen betrieben wurde — so bestehen auch oft Bräuche und Anschauungen in einer Umgebung fort, in der sie eigentlich ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben. Zum Schluß erwähnen wir hier noch ein Werk, das die tradi­ tionelle, «orthodoxe» Richtung vertritt, nämlich Elgqvists Ab­ handlung über «die Verbreitung des Njördkultes unter den nordi­ schen Völkern». Schon aus dem Titel ist die gewählte Richtung ersichtlich: es geht dem Verfasser nicht bloß darum, das Wesen dieses Kultes zu bestimmen, sondern er will auch und vor allem dessen historischen Verlauf schildern. Im Gegensatz zu Dumezils Systematik, die einen mehr oder weniger statischen Zustand vor­ aussetzt, forscht die historisierende Richtung in erster Linie nach dem Werden und versucht in dieser Weise zu einem stets wechseln­ den, von geographischen und historischen Faktoren bestimmten Bild zu gelangen. Es ist möglich, daß diesem Verfahren eine ge­ wisse Skepsis gegenüber den Versuchen, zur Gedankenwelt ver­ gangener Zeiten vorzudringen, zugrundeliegt. Die Gefahr, daß wir Gedankengut aus unserer eigenen Zeit in die Vergangenheit hineinprojizieren, ist zweifellos vorhanden. Elgqvist führt die Verbreitung der Verehrung Njörds (der bei Tacitus eine Göttin ist und Nerthus heißt) auf eine prähistorische Wanderung gleicher Art wie die späteren, uns bekannten historischen Völkerwanderun­ gen zurück. In dieser Weise, meint er, hat sowohl der Njördkult wie die Runenschrift in Südjütland Eingang gefunden; die Charuden haben dann diesen Kultus nach Hördaland in Norwegen ge­ bracht, während die Herulen ihn in andere Gegenden Skandina­ viens eingeführt haben. Der Name Herulen oder Erulen war übri­ gens, immer nach Elgqvist, nicht die Bezeichnung eines Volkes, sondern die einer führenden Aristokratie; er lebt möglicherweise im späteren Titel «Jarl» weiter. Es hat aber den Anschein, als hätte sich Elgqvist in dieser Abhandlung auf seine Weise weiter vorge­ wagt, als seine Quellen ihm zu gehen erlaubten. Diese allgemeinen Betrachtungen haben dem Leser wohl bereits eine gewisse Einsicht in die Problematik der Geschichte der ger­

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manischen Religion gegeben. So wird er in der Folge ohne weiteres verstehen, weshalb in diesem Werk die Formulierung nicht immer so bestimmt und klar umrissen ist, wie er sich das wünschen möchte.



II

DIE GÖTTER

VEREHRUNG IN DER PRÄHISTORISCHEN ZEIT

Die Felszeichnungen der Bronzezeit vermitteln uns erstmals eine tie­ fere Einsicht in das religiöse Leben der prähistorischen Germanen (Tafel 2). Die ältesten der hier gemeinten Zeichnungen, die sich durch einen ganz anderen Stil auszeichnen als die meist viel realisti­ scheren Skulpturen der arktischen Jägerkultur, gehören vielleicht noch der Steinzeit an; die jüngsten scheinen aus der Eisenzeit zu stammen, die überwiegende Mehrzahl aber gehört der Bronzezeit an. In einem sehr schematischen Stil bieten sie oft eine große Man­ nigfaltigkeit von Motiven und Szenen. Das weitaus auffallendste Motiv ist das Schiff. Es finden sich Schiffe von verschiedener Größe (manche sind bis zu vier Meter lang) und unterschiedlicher Form. Meist sind sie zu einer bloßen Linie vereinfacht, die an beiden En­ den einen, oft mit einem Tierkopf geschmückten Steven aufweist. Die Bemannung wird häufig nur durch eine Anzahl senkrechter Striche angedeutet. Es gibt aber auch Schiffe, die mit mehr Sinn für Detail gezeichnet wurden. An Bord solcher Schiffe kann man Menschen in verschiedenen Haltungen und mit verschiedenen Attributen unterscheiden: Adoranten, Männer mit Äxten oder Bögen, Tänzer und Musikanten. Hin und wieder wird auch ein Baum oder eine Schlange bei oder auf dem Schiff abgebildet; einige Schiffe tragen kreis- oder scheibenförmige Symbole. Gele­ gentlich, wenn auch nur selten, stößt man auf die Darstellung eines bemannten Bootes, das von einer größeren männlichen Ge­ stalt festgehalten oder hochgehoben wird. In vielen Fällen scheint man es eher mit Schlitten als mit Schiffen zu tun zu haben. Andere Szenen stellen menschliche Figuren in verschiedenen Haltungen und Verbindungen dar: Adoranten, Menschen mit scheiben- oder radförmigen Symbolen oder riesigen (heiligen?) Waffen in der Hand, kniend, tanzend, mit Äxten, Speeren oder Bogen bewaffnet, Luren blasend, in Prozession gehend usw. Unter den dargestellten Tieren kann man Pferde, Rinder, Hirsche, Hunde und Schlangen erkennen; Vögel kommen selten vor. Noch viel öfter wurden symbolische Motive eingemeißelt: schalenförmige Aushöhlungen 5i

(sogenannte «Schalensteine»), Fußsohlen, kreis- und radförmige Figuren; die einzeln dargestellten Waffen gehören wahrscheinlich auch zu dieser Kategorie. Wir haben bereits auf die Schwierigkeiten hingewiesen, auf die man bei der Deutung dieser Felszeichnungen stößt: oft ist es un­ möglich, auch nur mit annähernder Sicherheit zu entscheiden, welche Figuren auf einer bestimmten Felsfläche als ein Ganzes «gelesen» werden sollen. Die Szene auf Abb. 2 (a) wird von De Vries als «kultische Hochzeit und Bogenschütze» interpretiert. Diese Deutung ist aber nur dann wahrscheinlich, wenn man die zweite Figur von links außer Betracht läßt, und auch dann kann man die Szene noch als «Entführung einer Göttin durch einen Riesen» (oder etwas ähnliches) erklären. Auch die Anwesenheit eines Adoranten beim Reitergefecht von Tegneby, Abb. 2 (b), ist noch lange kein sicherer Beweis dafür, daß dieses Gefecht eine religiöse Bedeutung hatte. Der Adorant kann ebensogut zum Schiff gehören, das rechts von ihm gezeichnet ist, oder zum reiter­ losen Pferd; in diesem Fall ist er vielleicht nicht einmal ein Ad­ orant (vgl. die Haltung der Reiter!). Früher brachte man die Felszeichnungen mit uns unbekannten Geschehnissen aus der Urzeit in Zusammenhang: Expeditionen zu Lande oder zur See, Schlachten, Siegeszüge usw. Jedoch der Reichtum an symbolischen Figuren, das Vorhandensein von Adoranten und sogar die Unordnung, die auf vielen Bildflächen vorherrscht, machen eine solche Interpretation eher unwahr­ scheinlich. Wenn man sich heutzutage meist für eine religiöse Er­ klärung entscheidet, so ist dies vor allem dem bahnbrechenden Werk von Almgren zu verdanken. Seiner Ansicht nach hatten die Felszeichnungen zum Zweck, die Wirkung der dargestellten reli­ giösen Handlungen fortdauern zu lassen. Auf Grund eines aus­ führlichen vergleichenden Studiums, dem er einerseits Material aus Vorderasien, Ägypten und Kreta, andrerseits Parallelen aus Volksbräuchen und Volksglauben der Gegenwart zugrundelegte, rekonstruierte er eine Religion mit den folgenden Zügen: die be­ mannten Schiffe symbolisieren das Fahrzeug, das im Frühling den Fruchtbarkeitsgott von Übersee heranführte: seine Ankunft feierte man mit Umzügen, in denen Schiffe mitgeführt wurden. 52

Vielleicht spielte das heilige Schiff auch eine Rolle im Totenkult, doch kann dies eine jüngere Erscheinung sein, die möglicherweise mit der Einführung der Leichenverbrennung zusammenhängt.

Abb. i Motive schwedischer Felszeichnungen (nach Almgren). i. Schiff mit Sonnensymbol (Bottna, Bohuslän). 2. Schiff oder Schlitten mit zwei Zugtieren (Ekenberg bei Norrköping). j. Schiff, von Männergestalt hochgehoben (Himmelstadlund bei Norrköping). 4. Schiff mit drei Adoranten (Greby, Tanum). 5. Männliche Figur mit Sonnensymbol (Eken­ berg). 6. Id. mit Riesenaxt (Simrislund, Skane). 7. Id. mit großer Hand, Riesenaxt, radförmigem Sonnensymbol und Opferschalen (Flyhov, Husaby, Gotland). 8. Zwei Männer mit Riesenspeer (Himmelstadlund). 9. Rituelles Pflügen (Finntorp, Tanum). 10. Beschädigte Gruppe, be­ stehend aus : gehörntem Mann und gehörnter Frau (links) ; Mann mit Schiff, liegender Männergestalt, kleiner sitzender Figur (Mitte); ge­ hörntem Mann mit Beil (rechts) (Tuvene, Tanum). 11. Sonnenscheibe, von Hirsch gezogen, mit Adoranten (?) (Lilla Arendal, Tanum).

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Auf ein Sonnenritual, und zwar auf den Kultus eines Sonnengottes, deuten die zahllosen Kreise hin, die mit oder ohne Strahlenkreuz, manchmal auch mit konzentrischen Kreisen vorkommen. Hierzu gehören auch die Abbildungen von Sonnenwagen und Sonnen­ scheiben, und der weiter unten erwähnte Sonnenwagen von Trundholm. Die Liebesszenen, bei denen oft eine bewaffnete Per­ son in drohender Haltung zu stehen scheint, stellen die Heirat des Fruchtbarkeitsgottes, seine Vereinigung mit der Erdgöttin dar: eine Szene aus dem Drama der Jahreszeiten, in dem menschliche Figuren Ai.kunft, Ehe, Tod und Auferstehung des Gottes gestal­ teten. Diese «heilige Hochzeit» förderte die Fruchtbarkeit von Äckern und Vieh. Das religiöse Frühlingsfest war mit Tänzen und Umzügen verbunden, die von Lurenbläsern begleitet wurden. Die vielen Figuren, die ein Schwert zu tragen scheinen, waren verklei­ det und in Tierfelle gehüllt (was wie ein Schwert aussieht, war eigentlich ein Schwanz). Die zahlreichen auffallend phallischen Figuren werden natürlich wieder mit dem zentralen Fruchtbar­ keitsgedanken in Verbindung gebracht. Auch die Kämpfe und so­ gar die Jagdszenen gliedert Almgren in das religiöse Leben jener Zeit ein, nämlich als rituelle Kampfspiele und als Jagdopfer. Er nimmt auch an, daß in den Felszeichnungen Götter dargestellt oder doch wenigstens versinnbildlicht seien. Dies würde dann die Riesengestalt einzelner Figuren oder bestimmter Attribute (Hände, Äxte, Speere) erklären; in den Umzügen haben wahrscheinlich Figuranten die Götter dargestellt. Die schalenförmigen Aushöh­ lungen, welche die weitaus häufigste Art von Felszeichnung bil­ den und auch in vielen anderen Teilen Europas vorkommen, hän­ gen nach Almgren mit dem rituellen Feuerbohren zusammen; dieser Ritus war, wie bei den Hindus, selber ein Symbol der Be­ fruchtung. Die Fußspuren sind als Fußabdrücke des Fruchtbar­ keitsgottes anzusehen: wo er im Frühling vorüberzog, da sproß neues Leben empor. Die Felszeichnungen sollen hauptsächlich zu dem Zweck angebracht worden sein, die Wirkung der abgebilde­ ten Riten für eine bestimmte Zeitspanne zu sichern und so z. B. reichliche Ernten zu bekommen. Almgrens Auffassung hat zunächst einen großen Vorteil: er sucht keine Einzelerklärung für jede Bildergruppe oder jedes Motiv,

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sondern betrachtet die Frage der Felszeichnungen als ein Ganzes und berücksichtigt bei seiner Rekonstruktion alle Elemente. Je­ denfalls wurde in den dreißig Jahren seit dem Erscheinen seines Werkes kein Versuch unternommen, das Problem in seiner Ge­ samtheit zu revidieren (obwohl Althin für ein beschränktes Gebiet neue Erklärungen vorgeschlagen hat und die Chronologie der Felszeichnungen gründlich ändern möchte). Das heißt aber noch nicht, daß Almgren alle Schwierigkeiten beseitigt hätte. So drängt sich beispielsweise die Frage auf, welche Stellung der rekonstru­ ierte Kultus in der Religionsgeschichte der Germanen einnimmt. Almgren meinte, dieser Kultus widerspiegle gewisse religiöse und magische Gepflogenheiten, die zusammen mit dem Ackerbau aus dem Osten in Europa eingeführt worden seien und zum Zweck hätten, die Fruchtbarkeit der Äcker und die Reichhaltigkeit der Ernten zu fördern. Dann liegt es aber fast auf der Hand, die The­ matik der Felszeichnungen mit der Agrarkultur der Megalithzeit in Verbindung zu bringen, und zwar ungeachtet der zeitlichen Di­ stanz (die Felszeichnungen datieren ja meistens aus der späteren Bronzezeit!). Diejenigen, die in den Germanen eine Vermischung einer nicht-indogermanischen Urbevölkerung mit indogermani­ schen Eroberern sehen, können dann noch einen Schritt weiter gehen und den Agrarkult als die Religion der Urbevölkerung be­ trachten. Ihrer Ansicht nach hätten die Germanen Götter verehrt, die mehr dem historischen Wodan, Donar oder Tiw glichen, wäh­ rend die älteren Fruchtbarkeitsgötter in den späteren Wanen (Njörd, Freyr, Freyja) fortlebten. Ein so scharfer und andauernde Gegensatz zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen ist aber an

Felszeichnungen von

Bohuslän)

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sich nicht wahrscheinlich; außerdem erweckt auch die monumen­ tale Art der Felszeichnungen nicht den Eindruck, daß wir es hier mit dem Werk einer unterdrückten Bevölkerungsschicht zu tun hätten. Wir werden später noch auf diese Frage zurückkommen. Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, daß Almgrens Ausgangs­ punkt nicht völlig sicher ist. Der vorderasiatische Prototyp, den er voraussetzt, nämlich ein Zyklus, der Geburt, Heirat, Tod und Auf­ erstehung des Fruchtbarkeitsgottes umfaßt, ist bloß die Schemati­ sierung einer viel komplizierteren Wirklichkeit; wobei man nicht vergessen darf, daß gleichartige Motive nicht unbedingt auf einen gemeinsamen Ursprung hinweisen. Schließlich kann man sich fra­ gen, ob wohl alle Felszeichnungen der Niederschlag eines einzigen Kultustyps seien. Almgrens Versuch, alle Szenen und Motive ir­ gendwie auf einen Fruchtbarkeitskultus Zurückzuführen, tut wahrscheinlich der Wirklichkeit Gewalt an. Der Begriff «Frucht­ barkeit» ist zwar sehr dehnbar, kann aber doch schwerlich das ganze religiöse Erlebnis dieser Periode umfassen. Der Mensch hatte doch wohl noch andere Sorgen als eine zahlreiche Nach­ kommenschaft, reiche Ernten und gesunde Herden. Es lag ihm gewiß auch viel an Ordnung und Frieden in der Gemeinschaft, Erfolg im Handel und Sieg auf dem Schlachtfeld. Auch diese Wünsche können in den Felszeichnungen zum Ausdruck gekom­ men sein. Viele Jahrhunderte später wird man auch den aristokra­ tischen Kriegsgott Odin um ergiebige Ernten anflehen, während Thor, dessen eigentlicher Daseinszweck die Bekämpfung von Dä­ monen war, auch Fruchtbarkeit schenken wird. Im übrigen zieht Almgren eine zu scharfe Grenze zwischen dem Profanen und dem Religiösen. Auch eine Schlacht, die kein rituel­ les Waffenspiel war, sondern in der harten Wirklichkeit zwischen zwei feindlichen Armeen ausgetragen wurde, hatte eine religiöse Bedeutung: bot sie doch der göttlichen Macht eine Gelegenheit, sich den Menschen zu offenbaren. So ist also auch der historische Wert der Felszeichnungen nicht von vornherein zu verneinen. End­ lich betont Almgren mit zu großer Ausschließlichkeit immer nur den Kultus. Die Abbildung eines pflügenden Mannes kann einen rituellen Pflüger darstellen, aber auch den Gott, der die Menschen diese Kunst gelehrt hat. Die Liebesszenen können eine rituelle Ehe

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Abb. 3 Felszeichnung von Kalleby (Tanum, Bohuslän): vier Lurenbläser bei einem Schiff (oder Schlitten?), auf dem ein Tannenbaum steht.

darstellen, die von Figuranten auf einem Acker vollzogen wurde, aber auch die Vereinigung zweier Gottheiten, des Himmelgottes und der Erdgöttin, gleichviel ob diese Vereinigung von Figuran­ ten versinnbildlicht wurde oder nicht. Vielleicht existiert der Un­ terschied zwischen diesen beiden Anschauungen bloß für uns, die wir zu rationalisieren gewöhnt sind; für die Menschen der Bronze­ zeit verlief die Grenze wohl ganz anders. Hier stellt sich auch die Frage, ob der Kultus, den wir an Hand der Felszeichnungen re­ konstruieren, nicht eher zur Magie gerechnet werden müsse. Sind die Zeichnungen «versteinerte Gebete», welche die Gottheit an die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen gemahnen sollten; oder dienten sie dazu, die übernatürlichen Mächte zu tätiger Hilfe zu bewegen oder gar zu verpflichten? Althin hat die Meinung ver-

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fochten, das Ritzen der Felszeichnungen sei nicht ein Bestandteil des kultischen Auszugs gewesen, denn sie stellen immer nur ein­ zelne unzusammenhängende Momente des Kultus dar; sie seien also nur ein Mittel, gewisse Momente magisch zu stärken (wobei aber «magisch» nicht im Gegensatz zu «religiös» steht!). Althin weist auch auf das Zurücktreten des weiblichen Elementes in den Felszeichnungen und die dementsprechende Betonung des Phalli­ schen, was auf einen Zusammenhang mit einer Art Jünglingsweihe deuten kann. Man kann sich auch fragen, ob diese Germanen überhaupt schon persönliche Götter verehrten. Noch tausend Jahre später behaup­ tet Cäsar, sie beteten bloß die Sonne, den Mond und das Feuer an, und bei Tacitus glaubte man zu lesen, sie könnten oder wollten sich ihre Götter nicht unter menschlicher Gestalt vorstellen. De Vries meint auf Grund des Kulturniveaus der germanischen Bronzezeit bestätigen zu dürfen, daß die Germanen schon da­ mals anthropomorphe Götter gekannt hätten (vgl. S. 12). Ist aber der Anthropomorphismus ein Beweis für ein hohes Kul­ turniveau? Und stand die germanische Kultur in jener Zeit wirk­ lich so hoch? Viel überzeugender erscheint uns die Antwort Dumezils: da es schon in der indogermanischen Zeit eine Anzahl germanischer Götter gab — darauf deuten ja verwandtschaftliche Züge mit rö­ mischen, griechischen und indischen Gottheiten hin - müssen wir ihr Vorhandensein auch für die Bronzezeit annehmen. Es gibt übrigens keinen absoluten Gegensatz zwischen persönlichen Göt­ tern und unpersönlichen Mächten. Die poetische Edda, die den Zustand wiedergibt, wie er zwanzig Jahrhunderte später war, kennt neben konkreten Göttergestalten auch Gruppen von nicht aus­ drücklich konkretisierten göttlichen Mächten. Außerdem erschei­ nen die späteren anthropomorphen Götter auch noch in der Ge­ stalt verschiedener Tiere. Daß uns aus der Bronzezeit, abgesehen von den Felszeichnungen, so wenige Götterbildnisse überkommen sind, spricht nicht gegen diese Anschauung. Die germanische Bildhauerkunst dieser Periode war noch zu rudimentär, als daß sie auf befriedigende Weise anthropomorphe Götter hätte darstellen können (vgl. S. 62). 58

Die Lösung vieler dieser Probleme würde vereinfacht, wenn wir die Motive der Felszeichnungen mit Angaben aus den späteren geschriebenen Quellen verbinden könnten. Bisher hat man es meist bei schüchternen Versuchen bewenden lassen, u. a. auch aus dem Grund, weil man die Felszeichnungen eben als im Wesen nicht­ indogermanisch betrachtete; vielleicht auch deshalb, weil manche Forscher einen großen Teil der germanischen Religion für späten Import hielten. Ein noch größeres Bedenken ist vielleicht dieses, daß die Identifizierung bestimmter Figuren als «Bogengott», «Beilgott», «Hammergott» oder «Speergott» etwas Willkürliches hat. Wenn wir es hier aber wirklich mit Göttern zu tun haben, so sind diese aller Wahrscheinlichkeit nach die Vorläufer der histori­ schen Götter mit den gleichen Attributen: Ull oder Tyr mit dem Bogen, Tyr oder Odin mit dem Speer, Thor mit dem Hammer; es sei denn, wir müßten ihre direkten Nachkommen eher unter jenen Gottheiten suchen, die in der historischen Zeit gänzlich in den Hintergrund gedrängt wurden: Heimdal, Lodur, Fjörgyn? Abgesehen von den Felszeichnungen gibt es noch andere Spu­ ren von dem Kult eines Sonnengottes. Das merkwürdigste Objekt ist zweifellos der Sonnenwagen von Trundholm (Seeland) (Tafel z u.). In einem Moor bei Nykobing fand man 1902 ein Bronzepferdchen auf vier Rädern, und daran befestigt eine mit getriebenem Goldblech überzogene, leicht konvexe Bronzescheibe, die ebenfalls auf Rä­ dern montiert war. Reste von Ösen oder Haken am Vorderrand der Scheibe und unten am Nacken des Pferdes deuten an, daß das Tier die Scheibe ziehen sollte. Der Gegenstand datiert aus der frühen Bronzezeit (zirka 1300-1200 v.Chr.). Man nimmt allgemein an, daß man es hier mit einer Abbildung der Sonnenscheibe zu tun hat, die nach der Auffassung jener Zeit von einem oder mehreren Pferden am Himmelsgewölbe entlang gezogen wurde (der Trundholmer Wagen scheint ursprünglich für zwei Pferde gebaut wor­ den zu sein). Ferner hat man in der Nähe von Hälsingborg Reste eines kleineren Wagens mit einer Bronzescheibe darauf entdeckt, und dabei wiederum zwei Bronzepferdchen. Auf einer Felszeich­ nung von Brastad in Westschweden ist aber gar kein Zugtier ab­ gebildet; die Sonnenscheibe steht zwar auf zwei Rädern, daneben findet man aber bloß einen Adoranten und zwei Hirsche. Im übri­

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gen sind es, den Felszeichnungen nach zu schließen, gewöhnlich Schiffe, die das Sonnensymbol tragen. Kreis- und radförmige Symbole kommen auch noch auf allerlei an­ deren Gegenständen vor, und auch diese steuern etliches zu unse­ ren Kenntnissen des Sonnenkultes bei. Dennoch müssen wir uns immer die Frage vergegenwärtigen, ob diese Figuren nicht viel­ leicht eine rein dekorative Bedeutung haben könnten, ohne irgend­ welche religiöse Symbolik. Aber sogar wenn ihre religiöse Bedeu­ tung unzweifelhaft feststeht, bleibt noch zu untersuchen, ob sie tatsächlich üen Sonnengott darstellten oder bloß seine Gestalt und Macht symbolisierten. Die Ziernadeln aus der frühen Bronzezeit, deren Kopf mit einem Rad mit vier Speichen oder mit einem ein­ fachen Ring geschmückt ist, und die vielleicht als Amulette getra­ gen wurden, lassen beide Fragen unbeantwortet. Deutlicher spricht schon die Ornamentik einer bronzenen Trommel, die bei Balkäkra in Skäne gefunden wurde. Die Trommel hat eine zylin­ derförmige, mit runden Löchern durchbohrte Wand, auf der eine runde Platte ruht; diese Platte ist mit konzentrischen Kreisen und strahlenförmig angeordneten Dreiecken ausgeschmückt, welche die strahlende Sonne daristellen. Die Trommel steht auf zehn rad­ förmigen Ornamenten. Da aber ein gleichartiger Gegenstand in Ungarn gefunden wurde, ist es nicht unmöglich, daß das Zeremo­ niell, dessen Feierlichkeit durch die Trommel von Balkäkra er­ höht wurde, aus Südosteuropa eingeführt worden war; vielleicht ist sogar die Trommel selber dorther gekommen. Der Bronzebe­ schlag eines Hornes, das in Wismar in Mecklenburg zutage geför­ dert wurde, bringt uns dem Kult der Felszeichnungen schon nä­ her. Auf einem dieser ringförmigen Beschläge stehen zwei Schiffe, vier radförmige Figuren, eine Anzahl s-förmiger Zeichen und ein Kreis, der von sechs schematisierten Personen in betender Haltung umgeben ist. Die Schiffe weisen eine auffallende Ähnlichkeit mit denen der Felszeichnungen auf. Wahrscheinlich wurden Hörner dieser Art, ebenso wie die Trommel von Balkäkra, beim Zeremo­ niell des Sonnenkultes verwendet. Ferner tragen auch zahlreiche Schalen, Waffen, Schnallen, Kämme, Rasiermesser usw. kreisför­ mige Symbole. Auf den Rasiermessern wird ihre Bedeutung manchmal dadurch verdeutlicht, daß auch Schiffe, Bäume, Pferde 60

und Schlangen eingraviert sind, Motive also, die in den Felszeich­ nungen mit der Verehrung des fruchtbarkeitbringenden Sonnen­ gottes verbunden sind. Dieser Sonnengott hatte wahrscheinlich noch ein anderes Em­ blem: die Axt. Von Vorderasien bis Sizilien galt die Doppelaxt als das Symbol des Himmel- oder Donnergottes; in Rom selber ver­ sinnbildlichte diese Waffe, das bidental, den Himmelsgott, der den Blitz schleuderte, Jupiter Tonans. Unter den Gegenständen, welche die Personen der Felszeichnungen bei sich haben, kommt keiner so häufig vor wie die Axt; allerdings ist es meistens eine Axt mit bloß einer Schneide. In Gräbern finden sich Äxte, die zu klein oder zu groß sind, als daß sie je einen praktischen Nutzen gehabt haben könnten; manche bestehen übrigens aus einem Lehmkern, der mit einer dünnen Bronzeschicht überzogen ist. Es ist natür­ lich an Hand dieses archäologischen Materials nicht möglich, zu entscheiden, ob wir es mit einem einzigen Himmelsgott zu tun haben, der seine Macht sowohl im Blitz wie in der Sonne offen­ barte, oder ob es sich hier um mehrere Gottheiten handelt. So kommen wir zur grundlegenden Frage: wie stellten sich die Germanen der Bronzezeit ihre Götter vor? In bezug auf den An­ thropomorphismus kamen wir schon zu einer vorläufigen Schluß­ folgerung, nämlich, daß nichts gegen die Annahme von persön­ lichen, anthropomorphen Göttern spricht. An Hand einer Anzahl Götterbilder können wir diese Schlußfolgerung jetzt ergänzen. Aus der Bronzezeit sind zunächst verschiedene sehr einfache kleine Frauenfiguren erhalten geblieben, die mit dem in Europa weit ver­ breiteten Kultus einer Fruchtbarkeits- oder Muttergöttin in Zu­ sammenhang gebracht werden. Sie stellen meistens eine nackte Frau dar, die eine Hand oder auch beide Hände auf der Brust hält. Diese Figuren waren wahrscheinlich als Opfer oder Weihege­ schenke gedacht, wie man aus der Statuette einer knienden Frau aus dem Opferschatz von Viborg schließen kann (vgl. S. 192). Ebenfalls aus der Bronzezeit datieren die beiden Götterfiguren von Grevens Vsenge in Dänemark. Nur eine dieser beiden Figuren ist erhalten geblieben, aber eine Zeichnung aus dem achtzehnten Jahrhundert zeigt uns, wie das Ganze ursprünglich aussah: zwei Männer knien nebeneinander auf einem Gestell, das seinerseits

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möglicherweise auf einer Stange oder einem Ständer befestigt war; auf dem Kopf haben sie einen gehörnten Helm und in der einen Hand ein Beil, während sie die andere auf der Brust halten (Abb. 6). Man sieht in diesen beiden Figuren allgemein die Darstellung eines göttlichen Bruderpaares wie die Alcis der Naharvalen. Die er­ halten gebliebene Figur ist bloß io Zentimeter hoch. Monumen­ talere Ausmaße haben eine Anzahl Holzfiguren, die aber, wenig­ stens zum Teil, späteren Datums sind: einige stammen erst aus der keltischen oder sogar aus der römischen Eisenzeit. Eine der älte­ sten kommt aus dem Moor von Broddenbj serg bei Viborg. Es ist nicht viel mehr als ein Stück eines etwas seltsam verzweigten Baumstammes; am einen Ende ist mittels einiger Einkerbungen ein deutlich erkennbarer Männerkopf dargestellt. Seines phalli­ schen Charakters wegen wird diese Figur gewöhnlich als Frucht­ barkeitsgott interpretiert. Fast noch primitiver ist die Frauenfigur, die ein Bauer 1950 beim Torfstechen in Rebild (Nordjütland) ent­ deckte. Es ist ein etwa 1 Meter hohes Stück eines Birkenstammes, das kaum den Namen «Bild» oder «Figur» verdient: der Bildhauer hat es bloß mit einigen Einschnitten versehen, die mehr oder weniger deutlich eine weibliche Gestalt erkennen lassen. Der Sumpf, in dem diese Figur aufgefunden wurde, muß einst die Kultstätte einer kleinen prähistorischen Siedlung gewesen sein. Zwei weitere Figuren, die in der Nähe von Eutin (Schleswig) zum Vorschein kamen, erinnern eher an die von Broddenbj serg. Sie be­ stehen beide aus einem auf den Kopf gestellten, gabelförmig ge­ spaltenen Stamm und weisen Löcher auf, in denen ursprünglich Arme befestigt gewesen sein müssen (Tafel 3). Die Figuren sind gut erkennbar: die weibliche Gestalt hat einen Haarknoten auf dem Kopf, die männliche, die an die drei Meter hoch ist, hat wieder einen ausgeprägt phallischen Charakter. In der Nähe des Ortes, wo diese Figuren lagen, fand man einen Haufen Steine, Spuren von großen Feuern und eine Anzahl Topfscherben. Auch diese Figuren gehörten also offenbar zu einer Opferstätte. Vielleicht hielten sie ursprünglich irgendein Attribut in den Händen, wie die Figürchen von Grevens Vaenge. Alle diese Statuen werden hin und wieder beschrieben als «Baumstämme oder Pfähle, die man als Götter verehrte». Es ist natürlich nicht unmöglich, daß schon ein 62

sonderbar gewachsener Baumstamm an sich beim Menschen ein gewisses religiöses Gefühl wachrief; das will aber noch gar nicht heißen, daß ein Pfahl oder Stamm als Gott verehrt worden wäre. Vielleicht erkannte der Mensch in solch einem Stück Holz eine Ähnlichkeit mit der Form, die er in seiner Vorstellung seinen Göt­ tern gab; einige wenige Einschnitte genügten, um diese Ähnlich­ keit zu verstärken. Jedenfalls beweisen diese Figuren, daß man sich zumindest eine Kategorie göttlicher Wesen in menschlicher Ge­ stalt vorstellte. Ob dies auch für den Sonnengott gilt, ist nicht ohne weiteres klar. In der älteren Bronzezeit scheint die Vorstellung von einer Sonnen­ scheibe, die von einem Pferd gezogen wird, vorgeherrscht zu ha­ ben. Wagen oder Schiff kamen vielleicht erst hinzu, als man den himmlischen Kreislauf der Sonne im Kultus darstellen wollte. Diese hypothetische Entwicklung muß sich aber nicht notwendi­ gerweise im Geist der Zeitgenossen abgespielt haben: wenn sie die Sonnenscheibe auf einem Wagen oder einem Schiff umherführten, so wohl deshalb, weil sie glaubten, die Sonne bewege sich in dieser Weise am Himmelsgewölbe. Damit ist übrigens noch nicht ent­ schieden, ob sie die Sonne als eine göttliche Macht verehrten oder ob ihnen die Sonne bloß eine Offenbarung eines persönlichen Got­ tes bedeutete. Auf verschiedenen Felszeichnungen kommen «Son­ nenscheiben» vor, die von zwei Beinen getragen werden und zu­ weilen oben noch einen Kopf haben. Dies können Figuranten sein, die den Sonnengott darstellen sollten; doch hat man sie auch schon als Krieger mit runden Schilden gedeutet. Die Felszeichnungen mit Sonnensymbolen, die von Personen getragen oder hochgeho­ ben werden, oder die auf Gestellen stehen, stellen aller Wahr­ scheinlichkeit nach Episoden aus dem Sonnenkult dar, geben aber keinen Aufschluß über die Auffassung, die man von dem Gott hatte. Auf einem bronzenen Rasiermesser aus der Umgebung von Bremen jedoch ist eine paddelnde Gestalt auf einem Schiff abge­ bildet, und diese Figur hat einen Strahlenkranz um den Kopf. Dies scheint wohl der anthropomorph gedachte Sonnengott zu sein. Die auffällige Verarmung des archäologischen Materials in der sogenannten keltischen Eisenzeit (von ungefähr 500 v.Chr. an) hat

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zur Folge, daß wir über die Götter dieser Periode äußerst wenig wissen. Die hölzernen Götterbilder dieses Zeitraums haben wir oben erwähnt. Der keltische Einfluß muß jedenfalls bei den am südlichsten wohnenden Germanen sehr stark gewesen sein, aber es hält schwer, seine Intensität und Tiefe festzustellen. Dies zeigt sich schon gleich beim Studium des merkwürdigsten Kultgegen­ standes aus dieser Zeit, eines großen Silberkessels, der in einem Sumpf bei Gundestrup (Jütland) entdeckt wurde. Die Seitenwand des Kessels besteht aus viereckigen, mit getriebenen Figuren ge­ schmückten Silberplatten (Tafeln 4; 5 o.). Die äußere Reihe weist vier Brustbilder von männlichen und drei von weiblichen Perso­ nen auf. Eine achte Platte fehlt, was sich aus der Tatsache erklärt, daß man den Kessel zerschlagen hatte, ehe man ihn begrub. Die drei Frauenfiguren haben die Hände auf der Brust, ebenso wie die Frauenfigürchen aus der Bronzezeit. Von den fünf Innenplatten sind noch drei mit Brustbildern geschmückt. Eine dieser Platten zeigt wiederum eine Frau in der gleichen Haltung, auf einer an­ deren ist ein Mann mit einem Hirschgeweih auf dem Kopf darge­ stellt. Von den beiden letzten Platten stellt eine einen Tierkampf und die andere eine Opferfeier dar. Der freie Raum um die Haupt­ figuren ist bei jedem Bild mit kleineren Figuren und mit verschie­ denen Tieren ausgefüllt. So hat einender Göttinnen in der rechten Hand einen kleinen Vogel, während in ihrem linken Arm ein Kind zu liegen scheint. Rechts von ihr sitzt eine kleine weibliche Figur, links flicht eine Dienerin die Haare der Göttin. Ferner ist der Raum noch mit Abbildungen von zwei Raubvögeln, einem Löwen und einem Hund(?) ausgefüllt. Auf anderen Platten sind Eber, Hirsche, Schlangen, Delphine, Elefanten und Greife abgebildet. Der Kessel ist keltischen Ursprungs. Darauf deutet einmal seine Tierwelt hin, die eine südliche Herkunft verrät, während ferner der Mann mit dem Hirschgeweih an den gallischen Gott Cernunnos gemahnt. Aber wie deuteten nun die Germanen alle diese Fi­ guren? Die Opferszenp kann ihnen nicht fremd vorgekommen sein. Sie stellt nämlich ein Menschenopfer dar, das über einem Kessel vollzogen wird, und ein derartiges Opfer kannten die Kim­ bern schon bei ihrem Einfall in Italien. Vielleicht haben einst Ger­ manen den.Kessel von Gundestrup zum Vollzug von Opfern be64

Abb. 4 Das zweite goldene Horn von Gallehus (nach einem Stich vom Jahre 1737).

nutzt. Es ist bekannt, daß sie solche Kessel als sehr wertvoll be­ trachteten, denn eine Gesandtschaft, welche die Kimbern zu Kai­ ser Augustus schickten, um über den Abschluß eines Friedens­ vertrages zu verhandeln, brachte als Geschenk den «heiligsten 65

Kessel» mit, den sie besaßen, um also die Freundschaft und das Wohlwollen des Kaisers zu erlangen (Strabo). Was sich aber die Germanen bei der Betrachtung des Gottes Cernunnos und der übrigen Götter des Kessels von Gundestrup gedacht haben, bleibt für uns ein Rätsel; und dies gilt im weiteren Sinn auch für den eigentlichen Umfang des keltischen Einflusses. Wie vielseitig dieser Einfluß war, erhellt noch aus der mehr als zu­ fälligen Ähnlichkeit zwischen keltischen Prunkwagen, wie wir sie aus dem Grab von Ohnenheim im Elsaß kennen, und den Kult­ wagen von Dejbjsrg in Dänemark (vgl. S. 205). Aus den berühmten goldenen Hörnern von Gallehus, die einige Jahrhunderte jünger sind (etwa 400 n.Chr.), ist zudem noch er­ sichtlich, wie kompliziert diese Kulturverhältnisse waren. Die Hörner wurden respektive 1639 und 1734 bei Gallehus in Südjüt­ land aufgefunden; sie wogen zusammen mehr als 6 Kilogramm. Im Jahre 1802 wurden sie aber aus dem königlichen Kunstkabinett in Kopenhagen gestohlen und sofort eingeschmolzen. Wir können sie lediglich noch an Hand einiger alter, nicht ganz verläßlicher Darstellungen studieren (Abb. 4); nach diesen Bildern wurden auch die zwei Kopien angefertigt, die man heute im Kopenhagener Nationalmuseum bewundern kann. Von einem dieser Hörner war die Spitze abgebrochen, das andere aber war unversehrt und kann, der Form nach zu urteilen, als Blasinstrument gedient haben. Es ist nicht unmöglich, daß sie auch zu Trankopfern benutzt wurden. Aber mehr noch als die Frage ihrer Verwendung stellt die Erklä­ rung ihrer Ornamentik die Gelehrten vor fast unlösbare Pro­ bleme. Ein jedes dieser Hörner bestand nämlich aus einer Anzahl allmählich enger werdender, ringförmiger Stücke, die zusammen­ geschweißt und mit Menschen- und Tierfiguren und symbolischen Zeichen (namentlich Sternen) geschmückt waren. Archäologen haben die Hörner meist als keltischen Ursprungs betrachtet; aber die Runeninschrift auf einem der Hörner, «Ich Hlewagast, Sohn des Holt (oder: aus Holt), habe dieses Horn gemacht», stellt diese Gegenstände in einen unleugbaren germanischen Zusammenhang hinein. Deshalb hat Olrik versucht, einige der auf den Hörnern vorkommenden Figuren mit germanischen Göttern und anderen mythologischen Wesen zu identifizieren (Odin, Freyr, Thor, dem 66

Fenriswolf), ohne jedoch zu einem sehr überzeugenden Ergebnis zu gelangen. Wie unsicher dies alles vorläufig noch bleibt, ist aus der Tatsache ersichtlich, daß Oxenstierna neulich wieder eine an­ dere Interpretation vorgeschlagen hat: Hlewagast soll auf seinem Horn den Zyklus der Kultusfeierlichkeiten eines ganzen Jahres dargestellt haben. Diese Feierlichkeiten hätten in späteren Volks­ bräuchen ihren Niederschlag gefunden; so soll z. B. eine Figur mit drei Köpfen, die ein gehörntes Tier an einem Seil oder Riemen führt, ein Thurs sein, der mit einem Julbock umhergeht (vgl. S. 242). Es bedarf kaum der Erwähnung, daß auch diese Erklä­ rung sehr hypothetisch bleibt. Frühere Forscher haben ohne Zögern einen starken Einfluß der römischen Kultur auf die germanische Religion angenommen. Na­ türlich müssen die Spuren dieses Einflusses in erster Linie bei jenen Germanen gesucht werden, die dem römischen Reich einverleibt waren. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß die Römer nicht nur ihre eigenen Götter bis an die Grenzen Germaniens mit sich führ­ ten. Auch die zahlreichen fremden Götter, die im internationalen Milieu der römischen Heere Verehrer hatten, kamen auf diese Weise den Germanen unter die Augen: Mithras, Kybele, Attis, Hermes Trismegistus, Jupiter Dolichenus, Sabazius, Orpheus, Isis usw. Die bedeutendsten Kultuszentren dieser fremden Götter waren Köln, Bonn, Mainz, Heddernheim, Stockstadt und Trier. In gewissen Kultformen finden wir wiederum deutliche Spuren dieses Einflusses, besonders in den Weihaltären und Weihtafeln, die nach römischem Vorbild im betreffenden Gebiet auch germa­ nischen Göttern gewidmet wurden. Daß auch römische Götter und Kultformen bis ins freie Germanien vorgedrungen sein sollen, beispielsweise durch Vermittlung von Veteranen, die zu ihrem Volk zurückkehrten, ist zwar nicht undenkbar, scheint aber nir­ gends von bleibender Bedeutung gewesen zu sein. Römische Muster kann man noch oft erkennen in den sogenann­ ten Brakteaten, den Medaillen aus Goldblech, die, namentlich in Skandinavien, als Amulette getragen wurden (vgl. Tafel 6). Die ältesten sind ohne Zweifel Nachahmungen römischer Kaisermün­ zen und Medaillen; bald aber beginnen sie einen ganz anderen, germanischen Stil zu entwickeln. In der Mitte tragen sie gewöhn67

lieh einen Männerkopf, mitunter sogar eine ganze Männergestalt, oft auf einem stark vereinfachten Reittier. Der freie Raum ist mit heiligen Zeichen und reinen Ziermotiven, wie Hakenkreuze, Triskelen (dreiarmige Hakenkreuze) und Kreise, und zuweilen auch mit Vögeln und Schlangen ausgefüllt. Viele Brakteaten tra­ gen überdies eine kurze Runeninschrift. Wo die Zentralfigur einen speertragenden Reiter darstellt, denkt man natürlich sofort an Odin, besonders wenn er noch dazu von einem Vogel oder einer Schlange begleitet wird. Mit Thor identifiziert man die Gestalt, deren Reittier Hörner und einen Bart zu haben scheint: war doch der Bock sein Attribut. Auf noch anderen Exemplaren glaubt man Tyr zu erkennen. Auch dünne Platten aus Bronzeblech, die zum Ausschmücken von Helmen verwendet wurden, weisen manchmal Figuren auf, in denen man mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit Götter erkennen kann. Aus Vendel (Ost­ schweden) kommt eine solche kleine Platte, auf der ein mit einem Speer bewaffneter Reiter abgebildet ist; vor den Füßen des Pferdes liegt eine sich ringelnde Schlange, vor und hinter dem Reiter fliegt ein Vogel. Schon seit langem hat man trotz aller Bedenken den Reiter mit Odin identifiziert, denn dieser Gott hatte einen Speer und zwei Raben als Attribute und konnte sich zudem in eine Schlange verwandeln (Tafeln 8; 9). In Torslunda (Gotland) wurden sogar einige Stanzen zutage gefördert, mit denen man solche Platten herstellte; und wenigstens eine dieser Matritzen scheint einen ausgeprägt mythologischen Vorwurf zu haben (Tafel 11). Es kommt nämlich ein Krieger mit einem gehörnten Helm, einem Schwert und zwei Speeren darauf vor; neben ihm steht eine als Wolf vermummte Person, die eben­ falls einen Speer trägt und ihr Schwert zieht oder es in die Scheide steckt. Da der Krieger nur ein Auge zu haben scheint, denken wir hier sogleich an Odin, der von einem Berserker begleitet wird. Oder wurde etwa der Gott gelegentlich von einem Figuranten darge­ stellt? Diese Bronzebleche und Stanzen haben noch an Bedeutung gewonnen, seit man am Helm von Sutton Hoo ähnliche Verzie­ rungen entdeckt hat, namentlich ein Blech mit zwei (einäugigen?) Kriegern, die eine Art Waffentanz ausführen (Tafel 9). Darstellungen dieser Art trifft man auch später noch an. Die 68

Wikinger haben in Großbritannien Steine errichtet und darauf ihre Götter Thor und Loki, den legendarischen Schmied Wölund und noch andere mythische Figuren abgebildet. Auf andern Stei­ nen hat man Freyr, Gerd und andere Gottheiten zu erkennen ge­ glaubt. Von den Götterbildern, die zur Zeit der Bekehrung noch in den Tempeln standen, und die z. B. von Adam von Bremen be­ schrieben wurden, sind aus begreiflichen Gründen keine erhalten geblieben. Eine kleine Holzfigur von Rude Eskiistrup (Seeland) vermittelt uns dennoch einen Begriff davon, wie diese Bilder viel­ leicht ausgesehen haben (Tafel 7). Die erwähnte Figur trägt um den Hals einen im Holz geschnitzten Halskragen, der völlig den goldenen Halskragen entspricht, die in Westschweden (Alleberg, Möne) und auf Öland (Färjestaden) entdeckt wurden. Auf Grund dieser Übereinstimmung kann man annehmen, daß die Figur von Rude Eskiistrup aus dem fünften oder sechsten Jahrhundert stammt, im übrigen ist es eine ziemlich rohe Arbeit, die weder eine beson­ dere Kunstfertigkeit, noch eine große religiöse Innigkeit verrät. Nach spätem Beschreibungen sollen die Götterbilder auch wirklich goldene Ringe getragen haben ; die Sagas aber sprechen gewöhn­ lich von Armbändern. Im ersten Teil dieses Kapitels haben wir notgedrungen der Ver­ ehrung der prähistorischen Götter mehr Aufmerksamkeit gewid­ met als ihrem Wesen. Erst in historischer Zeit geben die schrift­ lichen Quellen ein klareres Bild von der germanischen Götterwelt, so daß wir nun auch das Wesen der Götter behandeln können.

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2 GÖTTER UND HEILIGKEIT

Die ältesten Berichte über die germanischen Götter, die uns die klassischen Autoren vermitteln, sind noch sehr schematisch und lassen viele Fragen unbeantwortet. Cäsar teilt bloß folgendes mit: «Die germanischen Sitten und Bräuche sind sehr verschieden von denen der Gallier; denn sie haben keine Druiden, die die Ver­ ehrung der Götter bestimmen, noch legen sie Wert auf Opfer. Zu den Göttern rechnen sie bloß die, die sie sehen können und deren Hilfe ihnen deutlich fühlbar ist: die Sonne (Sol), das Feuer (Vulcanus) und den Mond (Luna). Die andern kennen sie nicht einmal vom Hörensagen.» In der Religionsgeschichte hat man diese Be­ schreibung bald buchstäblich aufgefaßt, bald als völlig unzuver­ lässig verworfen. Wahrscheinlich beruht Cäsars Bericht nicht auf eigener Anschauung, und dennoch kann er einen richtigen Kern haben. Zwar gab es schon in der Bronzezeit Bilder von anthropomorphen Göttern, doch waren diese technisch so unvollkommen, daß sogar ihre Hersteller sie wenig geeignet gefunden haben dürf­ ten, ihre Vorstellung von den Göttern wiederzugeben. Deshalb waren Götterbilder bei den Germanen sehr selten, und so mußte es dem Beobachter vorkommen, als stellten sie sich ihre Götter weniger konkret und anthropomorph vor als die Gallier. Cäsars Bericht bedeutet aber keinesfalls, daß die Germanen lediglich Naturkräfte verehrt hätten, sondern vielmehr, daß sie in Natur­ kräften und Himmelserscheinungen Äußerungen des Göttlichen sahen. Auch darf man aus dem angeführten Text nicht folgern, daß sie bloß drei Götter gekannt, oder daß die drei, die darin erwähnt werden, eine Triade gebildet hätten. Dumezil hat Cäsars Worte zwar in diesem Sinne zu deuten gesucht (siehe unten), und dem­ entsprechend Sol dem Wodan, Vulcanus dem Donar und Luna der Göttin Nerthus gleichgesetzt. Aber einzig die zweite Gleichstel­ lung (Vulcanus = Donar) ist einigermaßen überzeugend. Im übri­ gen ist natürlich die Erwähnung eines Sonnengottes besonders in­ teressant im Zusammenhang mit der großen Rolle, die sein Kult in der Bronzezeit gespielt hat. Aber hier erhebt sich ein neues Pro­



blem: wie kann dieser Gott zu Cäsars Zeiten noch eine so wichtige Stelle unter den germanischen Göttern eingenommen haben, wäh­ rend in späteren Quellen nie von einem spezifischen Sonnengott die Rede ist (ebensowenig übrigens wie von einer Mondgöttin und einem Feuergott)? Anderthalb Jahrhunderte nach Cäsar schil­ dert Tacitus einen ganz anderen Zustand. Im neunten Kapitel der Germania erwähnt er drei Götter, die er mit lateinischen Namen bezeichnet: Mercurius, Mars und Hercules. Aber er kennt auch noch eine Göttin Isis, die von den Sueben angerufen wurde; eine Göttin Nerthus, die bei einer Völkergruppe an der Nordseeküste auf eindrucksvolle Weise verehrt wurde; einen regnator omnium deut, «einen Gott, der über alles herrscht», bei den Semnonen, und bei den Naharvalen göttliche Zwillinge, die er mit Castor und Pollux vergleicht, die aber von jenem Volk Akts genannt wurden. Er bringt auch ein paar Angaben über eine germanische Ur­ sprungssage: «Sie lobpreisen in alten Liedern einen aus der Erde geborenen Urvater Tuisco oder Tuisto, von dessen Sohn Mannus ihr Volk abstammt; nach den drei Söhnen des Mannus wurden nämlich drei germanische Völkergruppen benannt.» Es hat keinen Sinn, den Unterschied zwischen Cäsars Darstellung und der des Tacitus dem zeitlichen Abstand zwischen den beiden Historikern zuschreiben zu wollen. In anderthalb Jahrhunderten kann sich die germanische Religion nicht so grundlegend geändert haben; dies scheint erst recht unmöglich, wenn wir bedenken, daß Tacitus si­ cherlich auch ältere Quellen benutzt hat und daß sein Bericht aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vollständig ist. Es unterliegt z. B. keinem Zweifel, daß die Stämme, denen er einen bestimmten Gott zuspricht, auch noch andere Götter verehrt haben; und umge­ kehrt, daß die Götter, die im Zusammenhang mit bestimmten Stämmen genannt werden, auch bei anderen Völkern bekannt wa­ ren und verehrt wurden. Es ist freilich recht bestechend, in verein­ zelten sehr späten Erwähnungen eines «Gottes, der die Sonne er­ schuf» einen Nachklang des alten Glaubens an den Sonnengott zu suchen. Auf Island ließ sich ein gewisser Thorstein auf seinem Sterbebett ins Freie tragen, «in den Sonnenschein, und er empfahl sich in die Hände des Gottes, der die Sonne erschaffen hatte». Doch scheint ein gewisser Zweifel in bezug auf das Alter dieses

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Gottes nicht unberechtigt zu sein. Ein anderer Text erwähnt näm­ lich einen Gott, «der die Sonne geschaffen und die Welt geordnet hat» und fügt hinzu: «wer immer er auch sein mag». Und von Harald Schönhaar (der einzig diesem Gott hatte opfern wollen) wird erzählt: «Er erwartete Schutz von dem, der ihn erschaffen hatte, wenngleich er nicht genau wußte, wer dieser Gott war». War dieser «Gott, der die Sonne erschaffen hatte» nicht vielmehr eine Abspiegelung des Gottes der Christen in einer noch heidni­ schen Gedankenwelt? Wir sahen bereits, daß Dumézil der Gruppierung der Götter in der Götterwelt großen Wert beimißt; sieht er doch in dieser Grup­ pierung eine Widerspiegelung der sozialen Ordnung. Um das Vor­ handensein von Göttertriaden bei den Germanen zu beweisen, stützt er sich natürlich auf die Berichte von Cäsar und Tacitus und ferner auf die Tatsache, daß sich in einigen skandinavischen Tem­ peln drei Götterbilder befanden (in Uppsala z. B.),tdaß Odin zwei Brüder hatte (Wili und Wé) usw. Es findet sich aber nirgends ein Grund zur Annahme, daß wir es immer mit der gleichen Triade zu tun haben, oder daß ein bestimmtes Verhältnis bestand zwischen einer Göttertriade und der germanischen Gesellschaftsordnung. Über die Weise, in der sich die Germanen ihre Götter vorstell­ ten, lesen wir bei Tacitus folgendes: «Im übrigen sind sie der Mei­ nung, sie dürften die Götter weder in Tempelwände einsperren noch sie sich irgendwie unter Menschengestalt vorstellen - und zwar der Größe der Himmlischen wegen. Sie weihen ihnen Wälder und Haine und sie benennen mit Götternamen jenes Geheimnis­ volle, das sie nur mit ehrfürchtiger Scheu wahrnehmen.» Hier müssen wir zwischen Tatsachen und Interpretation unterscheiden. Es steht fest, daß die Germanen keine Tempel oder Götterbilder besaßen, die sich auch nur im entferntesten mit dem Prachtauf­ wand vergleichen ließen, den Rom und sogar die römischen Pro­ vinzen auf diesem Gebiet entfalteten. Dennoch hatten sie zweifel­ los bestimmte Gebäude, die nur für religiöse Zwecke verwendet wurden: in solchen Gebäuden verwahrten sie beispielsweise den Wagen von Nerthus und die heiligen Heeresstandarten. Die Göt­ tin Tamfana hatte sogar laut Tacitus’ eigener Aussage einen «Tempel». Seine Worte bedeuten lediglich, die Germanen hätten

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keine Tempel im Sinne von spezifischen und bleibenden Wohn­ stätten ihrer Götter gekannt, und das können wir ihm ohne Be­ denken glauben. Was die Götterbilder betrifft, verweisen wir hier bloß auf obenstehende Erörterung über Cäsars Bemerkung bezüg­ lich der germanischen Götter. Eigentlich sagt Tacitus auch nicht, daß sich die Germanen ihre Götter nicht anthropomorph vorstell­ ten; in einem späteren Kapitel schreibt er, die Naharvalen däch­ ten sich ihre Alcis als Brüder und Jünglinge, aber er fügt hinzu, dieses Volk kenne «keine Bilder oder Spuren fremden Aberglau­ bens». Die Zweifel, die in diesem Punkt entstanden sind, rühren großteils von der vorgefaßten Meinung her, der Anthropomor­ phismus sei eine späte Errungenschaft des menschlichen Geistes. Über Art und Wesen der germanischen Götter vor der Zeit, die von der nordischen Überlieferung beleuchtet wird, vernehmen wir nur sehr wenig. Die Eddas unterscheiden zwei Gruppen von Göt­ tern, die Äsen (asir, Einzahl ass aus einer älteren Form ansusj) und die Wanen (yanir-, als Einzahl kommen bloß die Zusammensetzun­ gen vanaguß, «Wanengott», und vanadis, «Wanengöttin», vor). Ein­ zig der Name der ersten Gruppe ist aus älteren Texten bekannt. Nach Jordanes hielten die Goten ihre Vorfahren nicht für gewöhn­ liche Menschen, sondern für Halbgötter (semideos), die sie Ansis nannten. Dies will nicht heißen, daß die Äsen ursprünglich ver­ göttlichte Vorfahren gewesen seien, oder daß sich ihre Verehrung aus einem Totenkult entwickelt hätte. Es ist viel wahrscheinlicher, daß das gotische Königshaus den Gott Wodan als seinen Stamm­ vater betrachtete (sowie angelsächsische und skandinavische Dy­ nastien ihre Abstammung von Wodan bzw. Freyr herleiteten), und daß auch noch andere Götter in seiner Genealogie vorkamen. Jordanes faßte diesen Glauben dann in der Weise auf, daß die Go­ ten einen historischen Wodan zum Rang eines Gottes erhoben hätten - eine euhemeristische Anschauung, die später noch bei Saxo Grammaticus und Snorri wiederkehrt. Mit dem Ausdruck «Halbgötter» meint Jordanes also nicht, daß die Goten neben ihren Ansis noch eine höhere Kategorie göttlicher Wesen gekannt hätten; die Verwendung dieses Wortes ist einfach durch die Tat­ sache zu erklären, daß die Ansis nach Jordanes’ Auffassung vergött­ lichte Vorfahren waren und keine zu Vorfahren erwählten Götter. 73

Eine systematische Beschreibung der Götterwelt erhalten wir erst in Snorris Werk, mit allen Nachteilen, die einer so späten Sy­ stematik anhaften. Der isländische Gelehrte entwirft das Bild eines organisierten Götterstaates mit Odin, «dem höchsten und ältesten der Äsen», als Oberhaupt. «Er herrscht über alle Dinge, und alle anderen Götter dienen ihm, wie Kinder, die ihrem Vater gehor­ chen, und mögen sie auch selber noch so mächtig sein.» Snorri zählt Thor, Balder, Tyr, Bragi, Hödur, Ali oder Wali und sogar Loki zu den Äsen. Bei ihnen weilen als Geiseln die Wanen Njörd, Freyr und Freyja. In diesem Punkt wird Snorris Darstellung un­ klar: er nennt alle Göttinnen «Asinnen», auch Freyja. Offenbar be­ deutet äsynja, «Asin», bei ihm einfach «weibliche Gottheit»; die Grenze zwischen den beiden Gruppen göttlicher Wesen wird hier also nicht konsequent weitergezogen. Oder gehörten etwa die meisten weiblichen Gottheiten ursprünglich zum gleichen Typ, der sich später in «asischer» oder «wanischer» Richtung entwikkelte? Wir werden später noch sehen, daß die meisten Göttinnen keine scharf umrissene Persönlichkeit zu besitzen scheinen (vgl. S. 177). Zwischen Äsen und Wanen hatte einmal ein Krieg gewütet, der «Wanenkrieg», von dem wir weder den Anlaß noch den Verlauf kennen. Als der Friede geschlossen wurde, erhielten die Äsen Njörd und seine beiden Kinder Freyr und Freyja als Geiseln; die Gegenpartei bekam Hönir und Mimir. Die Wanen machten sogar Hönir, seiner vermeintlichen Weisheit wegen, zu ihrem König, bis sie entdeckten, daß seine weisen Entscheide bloß auf Mimirs Ratschläge zurückzuführen waren. Um sich für diesen Betrug zu rächen, töteten sie Mimir und sandten seinen Kopf an Odin, der ihn zu Wahrsagerei benutzte (siehe weiter S. 168). Andere Wanen als Njörd, Freyr und Freyja werden nirgends mit Namen genannt; im germanischen Pantheon scheinen sie eine Gruppe ziemlich ver­ wischter Gestalten gebildet zu haben. Man hat versucht, den Wa­ nenkrieg als den Nachklang des Kampfes zwischen zwei Kulten zu erklären. Die Wanen waren im Wesen Fruchtbarkeitsgötter, die recht primitive Züge aufwiesen: «Bei ihnen ist es Brauch, daß Brüder ihre Schwestern heiraten» (Snorri). Ihr Kult hatte häufig einen orgiastischen Charakter; Freyrs Statue im Tempel von Upp­

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sala wird als «cum ingenti priapo» beschrieben, also phallisch, wie die ältesten pfahlförmigen Götterbilder und wie viele Figuren der Felszeichnungen. Da die Äsen als Einzelwesen viel deutlicher dif­ ferenziert sind, kann man sie als Gruppe nicht so leicht umschrei­ ben. Ihr Name wird zuweilen mit dem germanischen Wortstamm ans-, der «Pfahl, Stamm» bedeutet, in Zusammenhang gebracht, wobei die Annahme vorherrscht, man habe sich diese Götter ur­ sprünglich in Form von Balken oder Pfählen (Hermen?) vorge­ stellt. Andere deuten ihren Namen als «die (magisch) bindende Macht». Keine dieser beiden Erklärungen ist völlig überzeugend, und dies gilt auch für die Auffassung, nach der die Äsen jüngere Götter sein sollen, die von indogermanischen Eroberern in ein Gebiet eingeführt wurden, wo eine vorgermanische Bevölkerung bereits die Wanen verehrte. Mehr als eine Hypothese ist denn auch diese Deutung des Wanenkrieges nicht. Interessante Angaben über das Wesen der germanischen Götter finden wir in der religiösen Terminologie. Das am meisten vor­ kommende germanische Wort zur Bezeichnung der Gottheit, das Wort Gott, war im Gotischen und anfänglich auch im Altnordi­ schen sächlich; im späteren Altnordischen und in den anderen ger­ manischen Sprachen wurde es zum Maskulinum. Wie die anderen Wörter für «Gott» wurde es sehr oft in der Mehrzahl verwendet zur Bezeichnung einer nicht näher umschriebenen Gruppe gött­ licher Wesen. Aus dem Genus des Wortes glaubt man schließen zu dürfen, daß es die höheren Mächte als passive Wesen bezeich­ nete, nämlich als Wesen, die verehrt wurden, und somit nicht aus­ drücklich als aktive Mächte, die das irdische Geschehen instandhielten. Doch waren andere Wörter für « Gott», die bestimmt ein als aktiv empfundenes Wesen andeuten, ebenfalls sächlich. Deshalb ist folgende Erklärung viel wahrscheinlicher: solche Wörter, in der Mehrzahl verwendet, bezeichneten die Götter als Ganzheit, wobei nicht an eine beschränkte Anzahl Individuen, sondern an die Gesamtheit jener bestimmten Art göttlicher Mächte oder Wesen gedacht wurde. War doch vieles von dem, was geschah, nicht einem bestimmten Gott, sondern ganz allgemein «den Göttern» .zuzuschreiben. Hätte man einen Germanen gefragt, wie viele Göt­ ter er kenne, er wäre wahrscheinlich um eine Antwort verlegen

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gewesen. Neben den einzelnen Göttergestalten, die durch einen eigenen Namen, eigene Mythen und einen festen Kultus in den Vordergrund traten und leicht zu erkennen waren, gab es die un­ absehbare göttliche Masse, aus der z. B. Mythendichter neue Fi­ guren hervorheben konnten. Einen transzendenten Gottesbegriff haben die Germanen nie oder doch erst sehr spät entwickelt (erst bei Snorri ist Odin «Allvater», Alfapir). Dieser Mangel sollte sich in der Bekehrungzeit am meisten fühlbar machen: da wurden Odin, Thor und Balder zu allmächtigen oder vollkommenen Gott­ heiten gemacht, um der auftauchenden Gestalt Christi entgegen­ treten zu können, und andrerseits wurde das Wort «Gott», das früher sächlich war, im Altnordischen männlich, sobald es den Gott der Christen bezeichnete. Der gut geordnete Götterstaat, den Snorri schilderte, ist in sei­ nem vollen Umfang wohl ein spätes Produkt. Snorris Aufzählun­ gen von Äsen und Asinnen verraten schon ein Suchen, «um die Zahl vollzumachen». Viele der von ihm genannten Figuren sind kaum mehr als Namen; das will aber nicht unbedingt heißen, daß er sie erfunden hätte. Nicht alle Götter hatten einen eigenen Kult. Wir finden sogar Spuren eines Kampfes zwischen zwei Anschau­ ungen: Kollektivopfer für alle Götter oder Einzelopfer für jeden Gott (oder einige Gottheiten). In einer euhemeristischen Erzäh­ lung bei Saxo Grammaticus ist Odin der Befürworter des kollek­ tiven Kultes, während ein im übrigen völlig unbekannter Mithothyn jedem einzelnen Gott «seinen Anteil» sichern will (vgl. S. 93). Dies hat man dahin gedeutet, daß Mithothyn die leuch­ tende, Ordnung schaffende Seite des Gottes darstelle, während Odin die düstere, jede Ordnung durchbrechende Seite vertrete. Dennoch bleibt es eigenartig, daß gerade Odin, der hier eine Ge­ legenheit hatte, sich die anderen Götter unterzuordnen, sich einer Kultusform widersetzt, aus der er am meisten Nutzen ziehen würde. Für das Wort «Gott», das gewöhnlich als «Wesen, dem man Opfer, namentlich Trankopfer, darbringt» interpretiert wird, hat man eigentlich noch keine völlig zutreffende Erklärung gefun­ den. Deshalb wissen wir nicht, von welchem Gesichtspunkt aus dieses Wort die Götter bezeichnete oder welchen Aspekt des Göttlichen es betonte. Vom altnordischen Wort regin wissen wir 76

das hingegen wohl: dieses Wort für Götter bedeutete «Wesen, die sich beraten, Entscheidungen treffen und herrschen». Die Götter hafteten nämlich für die Instandhaltung der Weltordnung und der menschlichen Ordnung. Sie berieten sich darüber, was zu tun sei, um die Erde, die ja auch ihre Welt war, gegen die zerstörenden Kräfte von auswärts zu schützen. Man stellte sich diese Beratung als ein «Thing», eine Versammlung vor, in der die Götter mitein­ ander Rücksprache hielten und Entscheidungen trafen; so zu An­ fang der Welt, als sie den Himmelskörpern ihre Aufgaben zu­ wiesen : Zum Richtstuhl gingen die Rater alle, heil’ge Götter, und hielten Rat: für Nacht und Neumond wählten sie Namen, benannten Morgen und Mittag auch, Zwielicht und Abend, die Zeit zu messen. (Der Seherin Gesicht 6)

(Die beiden ersten Verse kehren in anderen Strophen als eine Art Leitmotiv wieder.) Ein Mittel, um die Ratschlüsse der Regin ken­ nenzulernen, bildeten eben die Runen. Deshalb heißen diese Zei­ chen reginkunnar, «von den Regin oder Göttern stammend». Auf dem Runenstein von Stora Noleby steht z. B. runo... raginaku(n)do, «von den Göttern stammende Runen». Daher auch das altnordi­ sche Wort ragna, «beschwören», d. h. «unter die Macht der Götter bringen». Als am Ende die Weltordnung zusammenstürzt, heißt dies Ragnarök, «Finsternis der Götter», «Götterdämmerung»; ihre Führung, die die Weltordnung instandhielt, nimmt ein Ende. Sächlich sind auch die Mehrzahlformen höpt und bönd; die Einzahlförmen hapt und band bedeuten «Band, Fessel». Die Höpt und die Bönd sind somit die Mächte, die das Weltgeschehen binden, und sie tun dies wahrscheinlich auf die gleiche Weise wie die Regin: durch Ratsbeschlüsse. Man braucht dabei also nicht an ein magisches Binden zu denken (im allgemeinen wird die germani­ sche Religion zu sehr im magischen Sinne interpretiert). Ein an­ deres Wort für «Gott», jedoch wiederum eine Mehrzahlform, ist tivar; es wird ziemlich oft gebraucht und ist eigentlich die Mehr­ 77

zahl des Götternamens Tyr. Vielleicht wurde ursprünglich nur die Pluralform verwendet, und datiert die Einzahl aus einer Zeit, da Tyr, als die höchste der göttlichen Mächte, einfach «der Gott» ge­ nannt werden konnte. Ferner kennen wir noch das Wort fiörg, das die Götter als «Lebenspender» bezeichnet. Wenn wir auch nicht alle Aspekte der germanischen Götterwelt zu ergründen vermö­ gen, so haben wir doch die Sicherheit, es mit einer sehr unter­ schiedlichen und vielschichtigen Welt zu tun zu haben. Es gab zwar in der Götterwelt eine gewisse Rangordnung, doch läßt sich, schon des recht vielgestaltigen Götterbegriffes wegen, schwerlich eine scharfe Grenze zwischen höheren und niederen Göttern ziehen. Noch viel weniger ist es möglich, in den unteren Kategorien eine scharf umrissene, zählbare Menge von Indivi­ duen nachzuweisen. Dennoch braucht es uns nicht zu verwundern, daß in bestimmten Gruppen, wie etwa bei den Walküren, einige Gestalten als Einzelwesen in den Vordergrund treten. Hier lag nämlich wieder ein fruchtbares Entstehungsgebiet für neue My­ then vor. In diesem Zusammenhang drängt sich uns die Frage auf, wie es sich mit dem Verhältnis zwischen Göttern, Mythen und Glauben verhielt. Inwiefern und in welchem Sinne glaubten die Germanen an ihre Götter? Von einem beständigen und sehr per­ sönlichen Verhältnis zwischen dem Einzelmenschen und einem bestimmten Gott, dem sogenannten /«//rr«z-Glauben, finden wir erst in den Sagas und Heldendichtungen einige Spuren. Aber, ob­ wohl wir keine Berichte über solche Verhältnisse aus früherer Zeit besitzen, darf man wohl das Vorhandensein einer innigeren Bin­ dung voraussetzen, wo z. B. ein Gott als der Ahnherr eines Königs oder eines Fürstenhauses galt. Solange aber die Götter hauptsäch­ lich als eine Gesamtheit über das Weltgeschehen herrschten (was selbstverständlich mit einer «Arbeitsteilung» wie Wodan-Krieg, Freyr-Fruchtbarkeit usw. durchaus vereinbar ist), war solch eine absolute Abhängigkeit, welche die anderen Götter mehr oder we­ niger ausschloß, kaum denkbar. Es ist nicht unmöglich, daß das persönliche Verhältnis der Christen zu ihrem Gott hier gewisser­ maßen als Katalysator gewirkt hat. Welcher Gott nun in dieser Weise die Hauptrolle zu spielen bekam, scheint von verschiedenen Faktoren abhängig gewesen zu sein. Für viele war es Thor. Diesen



unermüdlichen Bekämpfer dämonischer Wesen jeder Art, diese zuverlässige, unkomplizierte, gesunde Gestalt, scheinen nament­ lich die Einwanderer auf Island in hohen Ehren gehalten zu haben; sie hatten ja den sicheren Halt einer vertrauten Umgebung ver­ loren und bedurften daher dringend eines Beschützers. Sie ließen ihn entscheiden, wo sie sich im neuen Land ansiedeln sollten und stellten ihre Niederlassung unter seinen Schutz. Andere gaben aus uns unbekannten Gründen Freyr den Vorzug. Für wiederum an­ dere nahm Odin eine Sonderstellung ein: er fand seine eifrigsten Verehrer in aristokratischen Kreisen und unter den Skalden (die ja ihm ihre Kunst und Inspiration verdankten). Besonders interes­ sant sind einige Fälle, in denen eine Art «Bekehrung» stattfand: so soll der Skalde Egil Skallagrimson in seiner Jugend Thor, später hauptsächlich Odin als seinen Gott anerkannt haben; Viga-Glum verließ Freyr, um zu Odin überzugehen. Im Falle Egils hat Nordal nicht zu Unrecht von einer «Glaubenskrise» gesprochen; nach dieser Krise fand der ungestüme, unheimlich düstere Dichter in Odin sein Ideal. Menschen, die diese Glaubenseinstellung hatten, betrachteten ihren Gott als ihren fulltrüi, ihren « vertrauten Freund ». Im Grunde haben wir es hier mit einem Zersetzungsprozeß zu tun. Die alte Göttergemeinschaft, aus der man sich nur unter besonde­ ren Umständen einen Gott hervorhob und zu einem bestimmten Zweck anrief, mußte einem einzigen Gott weichen, der, anstatt über ein beschränktes Gebiet zu herrschen, nunmehr die Ent­ scheidungsgewalt über das gesamte Leben und Handeln des Men­ schen erhielt. Dies bedeutete zwar noch nicht das Ende des Poly­ theismus, da die göttliche Würde den andern Göttern nicht abge­ sprochen wurde, aber doch immerhin eine bedeutende Verschie­ bung des Schwerpunktes. Wie können wir denn feststellen, inwiefern die Germanen an ihre Götter glaubten? Wir haben schon darauf hingewiesen, daß wir keine dogmatische Darlegung des germanischen Glaubens be­ sitzen; wir können jetzt hinzufügen, daß so etwas für einen Ger­ manen auch kaum vorstellbar gewesen wäre. Der Glaube war ent­ schieden unwesentlich, insofern es sich um ein reines Wissen um die Götter handelte. Dieses Wissen hatte nur dann einen Sinn, wenn es zugleich die Macht des Menschen verstärkte. Der Schwer-

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punkt lag also vielmehr im Vertrauen, das man zu den Göttern hatte, in der Sicherheit, daß sie das Weltgeschehen beherrschten, das Heil der Menschen in Händen hatten und durch Opfer günstig gestimmt werden konnten. Dumézil umschreibt den Begriff «Mythus» folgendermaßen: «Der Mythus ist im Wesen eine Erzählung, die für die Eingeweih­ ten in einer gewissen Beziehung steht zu einem positiven oder ne­ gativen (d. h. auf einem Gebot oder Verbot beruhenden) Ritus des magisch-religiösen, juristisch-religiösen oder politisch-religiösen Lebens». Diese Begriffsbestimmung müssen wir in erster Linie aus dem Gesichtspunkt der allgemeinen Religionswissenschaft be­ trachten. Wir wissen es entschieden zu schätzen, daß Dumézil, mit größerem Weitblick als viele seiner Vorgänger, auch soziale und rechtliche Elemente in seine Untersuchung einbezieht. Aber wenn auch die dauernde Beziehung zwischen einem Mythus und irgend­ einem Ritus einst vorhanden gewesen sein muß, so kann sie doch in späterer Zeit in Vergessenheit geraten sein; wie hätten sonst die Mythen die Bekehrung überlebt? Auf alle Fälle gibt es eine Reihe von Mythen, die wir schwerlich mit einem Ritus verbinden kön­ nen, mögen wir unter diesem Begriff auch die verschiedenartig­ sten Elemente zusammenfassen; und dies nicht nur deshalb, weil wir die Mythen besser kennen als die Riten. Außerdem war eine gewisse Abwechslung in den Mythen möglich; es gab auch für den Mythendichter eine gewisse «dichterische Freiheit». Nur jene Mythen, die sehr eng mit einem bestehenden Ritus verbunden waren, blieben durch diese bloße Tatsache fixiert. Bei der Bekeh­ rung ging der Ritus meistens ein, und dann wurden die Mythen entweder zu einem rein literarischen Stoff, oder sie verschwanden einfach, ohne weitere Spuren zurückzulassen als etwa eine verein­ zelte Kenning oder ein Märchenmotiv. Die weniger oder gar nicht «gebundenen» Mythen hatten bessere Aussichten, die Bekehrung zu überleben. Dieser Unterschied ist wenigstens einer der Fakto­ ren, die geeignet sind, die große Distanz zwischen Mythus und Kultus, die wir bei den Germanen feststellen, zu erklären. Vorhin erwähnten wir Dumézils Versuch, die Grenzen der ger­ manischen Religionsgeschichte zu erweitern. Eine scharfe Tren­ nung zwischen Religion einerseits und allem, was sich außerhalb 80

von ihr befindet andererseits, kannten die Germanen tatsächlich nicht. Ihre Götter besaßen nicht nur die Gewalt über das Einzel­ wesen, sondern auch über die Gemeinschaft als solche; es gab keine «bürgerliche Moral» oder «Laienmoral» neben dem religiö­ sen Sittengesetz. Als Götter der Gemeinschaft standen sie in enger Beziehung zum staatlichen Leben. Das Thing tagte unter ihrem Schutz; schon Tacitus erzählt, Priester hätten im Thing Schweigen geboten und Vergehen bestraft. Spätere Gesetzestexte bestätigen, es habe bei diesen Zusammenkünften buchstäblich ein «Gottes­ friede» geherrscht. Im Norden galt der Bruch dieses Thingfrie­ dens als ein sehr schweres Vergehen; war es doch nicht bloß ein Anschlag gegen Menschen, wie Diebstahl oder Totschlag, son­ dern gegen die Götter selber. Duldete man so etwas, so war von den Göttern nichts Gutes für die Gemeinschaft zu erhoffen. Wie stark die Götter mit dieser Gemeinschaft verwachsen waren, zeigte sich anläßlich der ersten Bekehrungen: jene Mitglieder der Ge­ meinschaft, die einzeln zum Christentum übertraten, wurden ver­ folgt, weil sie durch ihre Weigerung, den Göttern zu opfern, das Heil des ganzen Volkes gefährdeten (also nicht etwa deshalb, weil sie an den Gott der Christen glaubten 1). Das Fehlen eines transzendenten Gottesbegriffes wird auch in der Tatsache widergespiegelt, daß die Götter keine Vorbilder sitt­ lichen Handelns waren. Auch dies hat man wohl erst in der Be­ kehrungszeit deutlich empfunden. In dieser Zeit wuchs allmäh­ lich die Erkenntnis, die bestehende Welt müsse zugrundegehen, und zwar nicht nur der Angriffe von außen, sondern ebensosehr ihrer inneren Verderbnis wegen. Auf der neuen Erde, die nach der Götterdämmerung aus den Wogen auftauchen würde, war für die meisten alten Götter kein Platz mehr. Nur der unschuldig getötete Balder und Hödur, der ihn ohne eigene Schuld tötete, wurden als würdig erachtet, über die neue Welt zu herrschen:

Unbesät werden Äcker tragen; Böses wird besser: Balder kehrt heim; Hödur und Balder hausen in Walhall Froh, die Walgötter... (Der Seherin Gesicht 49)

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Die jüngeren nordischen Quellen lassen am anthropomorphen Charakter der Götter keinen Zweifel aufkommen: die Götter sind verheiratet und haben Kinder, sie nehmen teil an Banketten und Trinkgelagen, sie halten Versammlungen ab, zanken sich und kämpfen, begehen Ehebruch und Mord. Als menschliche Gestal­ ten werden sie beschrieben: Odin einäugig, mit Hut, Mantel und Stab; Thor mit rotem Bart, Hammer und Ziegenbockwagen usw. Aber die Gottheit tritt auch noch unter anderen Gestalten in Er­ scheinung: Odin als Schlange, als Adler, vielleicht auch als Pferd, Wolf oder Rabe; Loki als Pferd, Lachs oder Seehund, Freyja als Vogel, Heimdal als Robbe oder Hirsch. Unzählige Götterepitheta (namentlich die Odins) sind eigentlich Tiernamen. Dies alles stammt zweifellos aus einer fernen Vergangenheit, aber es läßt sich nicht mehr feststellen, ob die germanischen Götter am Anfang wirklich theriomorph gewesen seien und also gewöhnlich in Tier­ gestalt erschienen, oder gar ob die Germanen einmal eine Art Totemismus gekannt haben. Soweit unsere Quellen zurückreichen, handelt es sich eigentlich nie um theriomorphe Götter, sondern vielmehr um Metamorphosen: Odin verwandelt sich in einen Adler, Loki in ein Pferd usw. In unseren Texten sind die betreffenden Tiere übrigens meist zu Attributen der Götter geworden: Odin besitzt das Pferd Sleipnir und ist von Wölfen und Raben begleitet; Freyr reitet einen Eber, Freyja sitzt auf einem Wagen, der von Katzen gezogen wird usw. (Tafel 12.) Zwei Wortstämme drücken im Germanischen den Begriff «hei­ lig» aus: wih- (im deutschen weihen steckt eine verbale Ableitung von diesem Stamm) und hail- (vgl. Heil, heilig). Baetke verdanken wir eine genaue Umschreibung der Bedeutung dieser Wörter. Hinter dem Begriff «Heiligkeit» suchte man früher meistens (und auch heute noch oft) magische Anschauungen und auch Begriffe wie mana u. ä., weil das Verhältnis zwischen der Heiligkeit und den Göttern nur zu oft nicht zum Ausdruck kommt. Wo keine Götter mit Namen erwähnt wurden, verwendete die Religionsgeschichte gerne Ausdrücke wie «Kräfte» und «Magie». Die Grenze zwischen unpersönlichen «Kräften» und persönlichen «Göttern» läßt sich nun zwar nicht leicht bestimmen, aber dennoch sollten wir nicht allzu rasch zu sogenannt «primitiven» Anschauungen greifen.

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Auch will das Fehlen von Göttern an sich noch nicht heißen, daß wir es mit Magie zu tun haben. Der Unterschied zwischen Reli­ gion und Magie liegt im Menschen: eine und dieselbe Handlung kann zum einen oder zum anderen Gebiet gehören; zu welchem Gebiet sie tatsächlich gehört, hängt davon ab, ob sich der Mensch von einer höheren, helfenden Macht abhängig weiß und fühlt, oder sich dieser Macht «bedient». Diese Prinzipien liegen der nachfol­ genden Darlegung zugrunde. Der Wortstamm wih- deutet das Numinöse, das Göttliche an, das verehrt werden soll. Dieses numen, wie es die Römer nannten, verlieh den Tempeln sowie bestimmten Stellen im Wald Heilig­ keit. Auch Bilder und Symbole des Göttlichen, wie Kriegsfahnen und Standarten, erhielten von ihm ihre Heiligkeit. Deshalb war auch der Thingplatz, wo unter dem Schutz der Götter die Volks­ versammlung tagte, ein heiliger Ort.Als die Kirche Verordnungen erließ, die Opfer an Wälder, Bäume, Wasserläufe, Quellen, Berge und Steine verboten, hatte sie dabei nicht ohne weiteres die Natur­ verehrung im Auge. Das Göttliche, das sich an diesen Orten und in diesen Gegenständen offenbarte, war das primär Gegebene; diesem Göttlichen galt die Verehrung, nicht dem Ort oder dem Gegenstand an sich. In persönlicher Gestalt wird dieses Göttliche durch das vom gleichen Stamm abgeleitete altnordische Wort viar, «Götter», bezeichnet: die Einzahlform Vi erscheint als der Name eines der Brüder Odins (We). «Weihen» (altnordisch vigia) ist also eigentlich «numinös machen», «mit göttlicher Kraft laden». Nur die Weihe bestimmt, ob eine Sache eine religiöse oder pro­ fane Bedeutung hat. Man weiht Runen, um ihnen die Kraft zu geben, dasjenige herbeizuführen, was sie ausdrücken; man weiht Waffen, damit sie besser treffen sollen als gewöhnliche, ungeweihte Waffen, und damit keine feindliche Macht (z. B. das böse Auge, das Waffen stumpf macht) ihre Wirkung beeinträchtigen könne; man weiht Gräber, um sie vor Grabschändern zu schützen, vielleicht auch, um gefährliche Tote hineinzubannen und sie am Herumgeistern zu hindern. Mehr als einmal ist es Thor, der ange­ rufen wird, um die Weihe vorzunehmen, wie z. B. auf den Runen­ steinen von Virring (io. Jahrhundert: «Thor weihe dieses Grab») und Glavendrup (ein wenig früher: «Thor weihe diese Runen»);

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daher seine Namen Weor und Wingthor. Anderswo aber bekommt man den Eindruck, als bliebe die Gottheit völlig im Hintergrund, und als würde sogar die Weihe im Geiste der Magie vollzogen. Was der Wortstamm bail- ausdrückt, ist dem Menschen ver­ ständlicher; es ist die heilspendende, dem Menschen zugekehrte Seite der Gottheit. In diesem Sinne können Personen und Gegen­ stände «heilig», d. h. «voll des Heiles» sein; ebenfalls alles, was mit dem Kultus im Zusammenhang steht: der heilige Ort, der Tem­ pel, der Altar, das Opfermahl und der Opfertrank. «Heiligen» (alt­ nordisch heIga) bedeutet:«mit Heil erfüllen»; so hat das « Heiligen » eines Ackers zum Zweck, eine reiche Ernte zu sichern. «Heil» ist das Glück, der Segen, den die Götter schenken. So kann man den Unterschied zwischen wih und hailag umschreiben als den Unter­ schied zwischen dem hoch erhabenen, unfaßbaren numen und der helfenden, segnenden göttlichen Macht. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich das Gotteserlebnis des Germanen. Wir sahen bereits, daß Tacitus den Germanen drei Hauptgötter zuerkannte: Mercurius, Mars und Hercules. Es ist auffällig, daß er bei ihnen keinen Gott fand, der dem römischen Jupiter entsprach. Kannten etwa die Germanen den Gott des strahlenden Himmels nicht, der, wie sich aus dem griechischen Zeus-pater und dem alt­ indischen Dyaus-pitar schließen läßt, doch eine indogermanische Götterfigur gewesen sein muß? Nochmals müssen wir betonen, daß Tacitus’ Aufzählung nicht vollständig ist. Die Semnonen, die östlich der Mittel-Elbe wohnten, verehrten einen regnator omnium deus, «einen Gott, der über alles herrscht». Dieser Titel würde sich für einen germanischen Jupiter gut eignen. Wenn Tacitus diesen Gott der Semnonen nicht mit Jupiter identifiziert, so kann dies seinen Grund darin haben, daß er oder seine Gewährsmänner die bestimmte Form der Verehrung dieses Gottes lediglich im Gebiet der Semnonen angetroffen hatten. Ihrerseits scheinen die Germa­ nen selber wohl ein Äquivalent für Jupiter unter ihren Göttern gefunden zu haben. Den lateinischen Namen des fünften Wochen­ tages, Jovis dies (vgl. franz.y>»/fi), «Tag Jupiters», übersetzten sie mit «Donnerstag-» (althochdeutsch donrestac, altenglisch punresdceg, altnordisch Järsdagr, niederländisch donderdag), d. h. «Tag Donars». Die kirchliche Literatur der Bekehrungszeit stellt Donar 84

ebenfalls dem Jupiter gleich (und Wodan dem Mercurius). Der­ artige Identifikationen beruhen natürlich nicht unbedingt auf einem Vergleich der wesentlichen Charakterzüge dieser Götter. Wenn Donar mit Jupiter übersetzt wird, so vielleicht einfach des­ halb, weil beide Götter ihre Macht in Donner und Blitz zum Aus­ druck brachten. Donar wird dadurch nicht notwendigerweise zum höchsten Gott gestempelt. Nach Tacitus war «Mercurius» wohl die wichtigste Figur der germanischen Götterwelt. Wie aus der Übersetzung von Mercurii dies (franz, mercredi) durch altenglisch ivodnesdag, englisch Wednesday, niederländisch woensdag, d. h. «Wodanstag» hervorgeht, nahm dieser Gott schon damals wenig­ stens bei einigen germanischen Völkern den ersten Platz ein. So wollen wir mit ihm unsere Übersicht beginnen.

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3 DER GOTT DER EKSTASE: WODAN-ODIN

Von keinem germanischen Gott wissen wir soviel wie von Wodan, und dennoch bleibt er eine der geheimnisvollsten Gestalten des germanischen Pantheons. Dies ist namentlich der Vielseitigkeit sei­ nes Wesens zuzuschreiben, vielleicht aber auch der Tatsache, daß dieser Gott eine gewisse Entwicklung durchgemacht hat, wo­ durch sich zugleich seine Stellung in der Götterwelt gewandelt hat. Auf altenglisch heißt dieser Gott Woden, auf althochdeutsch Wuotan, und auf altnordisch Odin (Öpinn) ; alle diese Formen leiten sich von einer germanischen Urform Wßßana% ab. Die Bedeutung dieses Namens ist zum Verständnis des äußerst komplexen Cha­ rakters des Gottes sehr wichtig. Bei Rudolf von Fulda (gest. 865) lesen wir bereits: Wodan idestfuror, «Wodan, das ist Wut». Richti­ ger übersetzt bedeutet Wodan «der, welcher wütet», oder «der, welcher Herr ist über die Wut». Weiter unten werden wir sehen, daß hier eine ganz bestimmte Art «Wut» gemeint ist. «Von den Göttern verehren sie am meisten Mercurius», schreibt Tacitus; «sie halten es für recht, ihm an bestimmten Tagen auch Menschenopfer darzubringen». Unter den römischen Inschriften aus dem Gebiet, das an Germanien grenzte, treffen wir aber keine an, von der man mit Sicherheit annehmen könnte, sie beziehe sich auf den germanischen Mercurius. Man hat ihn im Mercurius Cimbrius oder Cimbrianus zu erkennen geglaubt, dessen Name auf ein­ zelnen Votivtafeln vorkommt. Diese datieren aber erst vom Ende des zweiten Jahrhunderts und lassen sich deshalb nicht so ohne weiteres mit den Kimbern, die drei Jahrhunderte zuvor in Nord­ italien eingefallen waren, in Zusammenhang bringen. Es ist näm­ lich schwer, zu entscheiden, ob es sich hier um romanisierte Über­ reste des Volkes handelt, das bei Vercelli vernichtet wurde. Die Inschriften mit Mercurius Cimbrius fanden sich in der Nähe von Heidelberg, die mit Mercurius Cimbrianus am gleichen Ort, wie auch in Miltenberg und Mainz. In dieser Gegend kommen noch andere Mercuriusepitheta vor: ein Mercurius Arvernus wurde in Düsseldorf, Köln, Neuß und Roermond verehrt, und ein Mercu86

rius Arvernorix in Miltenberg;

diese Epitheta erinnern an den galli­ schen Stamm der Arvernen, nach dem die Auvergne benannt wurde. Andere Beinamen von Mercurius, die man hin und wieder als germanisch gedeutet hat, sind weniger zuverlässig. Vielleicht sollte der Mercurius Rex einer in Nimwegen aufgefundenen In­ schrift hier erwähnt werden, im Lichte von Tacitus’ Bemerkung über die Stellung des Gottes. Folgender Abschnitt aus den Anna­ len (13, 57) des gleichen Verfassers ist aber von größerer Bedeu­ tung für unser Problem: «Im selben Sommer (5 8 n. Chr.) fand eine große Schlacht zwischen Hermunduren und Chatten statt. Beide Parteien suchten nämlich den ihnen gemeinsamen Grenzfluß, der salzhaltig war, mit Gewalt an sich zu bringen. Doch war der für die Hermunduren glückliche Krieg für die Chatten um so ver­ derblicher, weil beide Parteien im Falle des Sieges das feindliche Heer dem Mars und dem Mercurius geweiht hatten, ein Gelübde, durch das Mann und Roß, überhaupt alles Lebende, der Vernich­ tung anheim gegeben wird.» Auch andere Quellen erwähnen Opfer von Kriegsgefangenen und Kriegsbeute. Orosius weiß von den Kimbern zu erzählen, daß sie nach dem Sieg Menschen und Tiere schlachteten. An der Stelle im Teutoburgerwald, wo Varus im Jahre 9 n. Chr. die Niederlage erlitten hatte, fanden die Römer später an die Bäume genagelte Köpfe (wahrscheinlich von Pfer­ den) vor. Im Jahre 405 versprach der Anführer der Goten, Radagaisus, er werde alle gefangenen Römer opfern; die Franken sollen sogar noch 539 bei ihrer Überquerung des Po gotische Frauen und Kinder geopfert haben. Es handelt sich hier um einen sehr alten Brauch, der auch bei anderen Völkern bekannt war und sogar bi­ blische Parallele hat. Die vorhin angeführten Berichte erinnern uns an die großen Mengen Kriegsbeute, die in dänischen Sümpfen entdeckt wurden. So fand man im Moor von Hjortspring auf der dänischen Insel Als ein Boot mit doppelten Steven, das an die zwanzig Krieger befördert haben kann und noch lebhaft an den Schiffstypus gemahnt, der oft auf den Felszeichnungen vorkam. Zusammen mit dem Boot wurden acht Schwerter zutage geför­ dert (die frühesten Exemplare aus der skandinavischen Eisenzeit), ferner 169 Speerspitzen aus Eisen oder Hirschhorn, 150 Schilde und eine Anzahl Holzschachteln, Schüsseln usw. Wahrscheinlich 87

haben wir es hier mit einem Opfer zu tun, das die Verteidiger der Insel nach einem Krieg dem siegspendenden Gott dargebracht ha­ ben. Es steht nicht fest, ob diese Opfer immer für Wodan be­ stimmt waren. Im Falle der Chatten und Hermunduren erwähnt Tacitus sowohl Mars wie Mercurius; Jordanes spricht ausdrück­ lich von Kriegsgefangenenopfern an Mars (nämlich bei den Go­ ten), und der griechische Historiker Procopius erwähnt Opfer an Ares. In der späteren nordischen Tradition wurden Kriegsgefan­ gene aber immer dem Gott Odin versprochen. Es ist denn auch durchaus möglich, daß Jordanes und Procopius mit ihrem Mars bzw. Ares, eigentlich Wodan meinten; die interpretatio romana oder graeca kann in diesen Fällen einem ausgesprochenen Kriegsgott den Vorzug gegeben haben. Über die Verehrung Wodans auf dem Festland in der nach­ römischen Zeit wissen wir etwas mehr, wennschon uns auch da noch unzählige Einzelheiten entgehen und viele Fragen unbeant­ wortet bleiben. Dieser Gott spielt eine wichtige Rolle in der Sage, die den Ursprung der Langobarden beschreibt. Die Winnilen, einer der skandinavischen Stämme, die während der Völkerwan­ derungen zum Festland hinüberzogen, mußten, um ihr neues Ge­ biet besetzen zu können, gegen die Wandalen eine Schlacht aus­ tragen. Die Wandalen baten Godan (dessen Name eine romanisierte Form von Wodan darstellt), er möge ihnen den Sieg verlei­ hen. Der Gott verhieß ihn denjenigen, die er beim Sonnenaufgang als erste erblicken würde. Die Winnilen indessen baten Godans Gemahlin Frea um ihre Gunst: «... darauf habe Frea den Rat er­ teilt, die Weiber der Winnilen sollten ihr gelöstes Haar wie ein Bart ums Gesicht hängen lassen, dann in aller Frühe mit ihren Männern auf dem Platze sein und sich zusammen da aufstellen, wo Godan sie sehen müsse, wenn er wie gewöhnlich aus dem Fenster gen Morgen schaue. Und so sei es auch geschehen. Als Godan sie bei Sonnenaufgang erblickte, habe er gefragt: >Wer sind diese Langbärte ?< Da sei Frea eingefallen, er solle denen den Sieg ver­ leihen, welchen er jetzt den Namen gegeben habe. Und so habe Godan den Winnilen den Sieg verliehen.» Was uns als ein Mär­ chenmotiv anmutet und in Paulus Diakonus’ Geschichte eigent­ lich unmotiviert bleibt, nämlich die Rolle der langen Haare, die 88

einen Bart vortäuschen sollen, hat eine tiefere Bedeutung: bei einem Teil der Germanen bezeigten die Männer dem Kriegsgott ihre Er­ gebenheit, indem sie sich die Haare nicht schnitten (vgl. S. ioi). Jedenfalls tritt in dieser Episode aus der Geschichte der Lango­ barden ein wichtiger Aspekt der Persönlichkeit Wodans hervor, nämlich der Kriegsgott, oder vielmehr: der Gott, der über das Kriegsglück entscheidet. Ein ganz anderer Aspekt wird durch ein Opfer beleuchtet, das Jonas von Bobbio in seiner Lebensbeschreibung des heiligen Ko­ lumban (gest. 615) erwähnt: «Das Volk, das dort wohnt (nämlich am Bodensee), gehört zu den Sueben. Als Kolumban dort weilte und sich einmal unter die Bevölkerung begab, traf er Leute bei der Vorbereitung eines heidnischen Festes an. Sie hatten ein großes Faß, das sie >Kufe< (cupa) nannten, und das ungefähr zwanzig Eimer faßte, mit Bier gefüllt und in ihrer Mitte aufgestellt. Kolum­ ban fragte, was sie im Sinne hätten; sie erwiderten, daß sie ihrem Gott, der Wodan heiße und von anderen Mercurius genannt werde, ein Opfer darbringen wollten.» Diese Geschichte paßt aus­ gezeichnet zu der Rolle, die Odin im Norden als der Eroberer und Besitzer des Göttertrankes und als die zentrale Figur des Trank­ opfers spielte. Wir können nur bedauern, daß Jonas nicht erwähnt, ob die Sueben dem Kolumban im Zusammenhang mit ihrem Opferritus auch Mythen erzählt hätten, und wenn ja, welche. Schließlich hatte Wodan sowohl auf dem Festland als in Eng­ land auch mit Magie zu tun. Sein Name kommt in einigen Zauber­ sprüchen vor, die nach der Bekehrung niedergeschrieben wurden, denen aber heidnisches Material zugrundeliegt. Im altenglischen «Neunkräuterspruch» heißt es: Eine Schlange kam gekrochen, tötete einen Mann; Da nahm Wodan neun Zauberzweige Und schlug die Natter, die in neun Stücke zerstob...

Die «neun Zauberzweige» sind neun Heilkräuter, die in den vor­ hergehenden Versen aufgezählt und beschrieben wurden (Wege­ rich, Hahnensporn, Beifuß usw.). Laut einem der althochdeut­ schen Zaubersprüche von Merseburg ritten die Götter durch einen Wald, als eines ihrer Pferde sich den Fuß verstauchte (Tafel 13):

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Da beschworen es Sinthgunt und ihre Schwester Sunna; Da beschworen es Frija und ihre Schwester Volla; Da beschwor es Wodan, wie er das wohl konnte... Möge seine Heilkraft auch jetzt wirksam sein, dann kommt:

Bein zu Beine, Blut zu Blute, Glied zu Gliede, wie wenn sie geleimt sei’n!

In der Abschwörungsformel, welche die Sachsen bei ihrer Bekeh­ rung aussprechen mußten, kommt Wodan erst an zweiter Stelle vor, nämlich nach Thunaer = Donar, aber vor Saxnot = Ziu. Aus dieser Reihenfolge hat man zuweilen geschlossen, Wodan hätte bei den Sachsen nicht als der höchste Gott gegolten. Da zudem der Name des vierten Wochentages nicht bei allen germanischen Völ­ kern vom Namen Wodans abgeleitet ist (deutsch Mittwoch}, hat Helm sogar einen Versuch gewagt, die Verbreitung des Wodan­ kultes in ihrem chronologischen Verlauf zu schildern. Nach seiner Auffassung hätte sich also dieser Kult von der Gegend von Rhein, Main und Neckar aus in allen Richtungen verbreitet und noch vor dem Jahr 58 n.Chr. das Gebiet der Chatten und Hermunduren er­ reicht. In Süddeutschland hingegen hätte die Wodanverehrung keinen Anklang gefunden; daher wurde dort der vierte Wochen­ tag kein Wodanstag. Ferner hätten, immer nach Helm, die Winnilen Wodan noch nicht verehrt, als sie gegen die Wandalen zu Felde zogen. Deshalb riefen sie Frea an. Mit ihrem neuen Namen aber akzeptierten sie auch den Kult des Gottes, der, wenn auch unfreiwillig, das Kriegsglück zu ihren Gunsten entschieden hatte. Diese scharfsinnige Konstruktion hält aber einer näheren Prüfung nicht stand. Wenn auch das Vorkommen eines Götternamens tat­ sächlich das Bekanntsein des betreffenden Gottes beweist, so trifft doch das Umgekehrte nicht zu; dazu sind ja unsere Quellen viel zu unvollständig. Und wenn wir Helms argumentum e silentio nicht gelten lassen, fällt damit zugleich seine ganze Beweisführung. Auch kann man aus Wodans Platz zwischen Thunaer und Saxnot in der altsächsischen Abschwörungsformel nicht auf seine Bedeu­ tung beim betreffenden Volk schließen. Es ist ja nicht sehr wahr9°

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Karte 2

Skandinavien mit den Ortschaften, die nach Odin (■) resp. Ull oder Ullin (a) benannt wurden. Diese beiden letzten Gottheiten, die in den geschriebenen Quellen selten oder gar nicht erwähnt werden, kommen in Ortsnamen beinahe ebensooft vor wie Odin. Nur in den südlichen Gegenden, und namentlich in Dänemark, ist dies nicht der Fall. (Nach J. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte).

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scheinlich, daß die Missionare, die diese Formel verfaßten, den heidnischen Glauben des zu bekehrenden Volkes so gründlich stu­ diert hätten; wie sie es übrigens auch nicht für nötig hielten, in ihrer Aufzählung sämtliche heidnischen Götter zu erwähnen. Eine letzte Spur des kontinentalen Wodan findet sich vielleicht im weitverbreiteten Volksglauben um den «Wilden Jäger» oder den Anführer des «Wilden Heeres», des Geisterheeres der Verstor­ benen, das in der Julnacht, mitunter auch zu anderen Zeiten des Jahres, in der Welt umherzieht. Im Norden werden wir Odin als Herrn eines Totenheeres antreffen, freilich ohne daß er sich in die­ ser Eigenschaft unter den Menschen gezeigt hätte. Der «weiße Reiter» oder «Schimmelreiter», den man auch oft mit dem uralten heidnischen Glauben und mit Wodan in Zusammenhang bringt, wird wohl aus dem Buch der Offenbarung stammen, das sich im späteren Mittelalter eines so großen Interesses erfreute. Auf Grund der nicht-nordischen Quellen konnten wir folgende Züge der Wodanfigur festlegen: bei vielen, wenn auch nicht bei allen Germanen galt Wodan als der höchste Gott; er spielte eine gewisse Rolle in der Magie; als Kriegsgott verlieh er den Sieg, wofür man ihm die Kriegsbeute opferte; auch Menschen, nament­ lich Kriegsgefangene, wurden ihm geopfert; manche Krieger standen unter seinem besonderen Schutz; zu seinen Ehren wurden Trinkgelage abgehalten. Dieses schematische Bild erhält nun Farbe und Relief, wenn wir es mit dem skandinavischen Material ergänzen. In der nordischen Überlieferung ist Odin der Held unzähliger Mythen. Er ist der Sohn der Riesin Bestla, der Enkel des Riesen Bölthorn. Anderswo heißt es, Odin, Wili und We seien die Söhne Borrs und die Enkel des Urriesen Buri. Diese Ahnen sind aber un­ bestimmte Figuren, kaum mehr als Namen. Da das Motiv «Großvater-Vater-drei Söhne» aber auch in der Mannusgenealogie bei Tacitus vorkommt, ist es wahrscheinlich sehr alt. Bei Odin wer­ den wir auch viele Charakterzüge antreffen, die an seine dämoni­ schen Vorfahren erinnern. Odin hat die Göttin Frigg zur Gemahlin. Nach Snorri ist er der Vater und Herrscher der Äsen, was dieser Autor zum Anlaß nimmt, die Herkunft der Äsen aus Asien (ausgehend von einem

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ziemlich naheliegenden Wortspiel) und ihren Einzug in den Nor­ den ausführlich zu erzählen. Diese Erzählung, und die verhältnis­ mäßige Seltenheit der von Odins Namen abgeleiteten Ortsnamen liefern manchen Religionshistorikern neue Argumente, um Odin zu einem späten Eindringling des nordischen Pantheons zu er­ klären. Snorris Geschichte beweist aber nicht viel, steht sie doch auf der gleichen Ebene wie die Legenden, nach denen die Briten von Brutus, die Franken vom legendarischen Francus und die Dä­ nen vom biblischen Dan abstammen; und was die Ortsnamen be­ trifft, verweisen wir hier bloß auf unsere Einführung (vgl. S. 40 f.). Es zeigt sich wiederholt, daß Odin seine Rolle als Gemahl Friggs nicht ohne Zwischenfälle hat erfüllen können. In der nordischen Tradition sind diese Zwischenfälle sogar schwerwiegender als die Meinungsverschiedenheit zwischen Godan und Frea, der die Lan­ gobarden ihr Entstehen verdankten (vgl. S. 88). In seiner Zank­ rede wirft Loki Frigg vor, sie habe mit Odins Brüdern Wili und We Beziehungen gehabt. Bei Snorri heißt es, weniger dreist, Wili und We hätten, während einer Abwesenheit ihres Bruders, ver­ tretungsweise sein Reich verwaltet. Er blieb aber so lange abwe­ send, daß ihn alle für tot hielten; da teilten sie sein Reich und hei­ rateten ihre Schwägerin. Saxo erwähnt noch eine andere Entfer­ nung Odins, wobei Frigg die Hand im Spiel hatte. Seines unwür­ digen Verhaltens wegen (er hatte sich entehrender Zauberei schul­ dig gemacht) wurde er aus der Götterwelt verbannt, wonach ein gewisser Mithothyn die Macht in die Hände bekam. Dieser führte eine neue Rechtsordnung ein: inskünftig sollten die Götter keine gemeinschaftlichen Opfer mehr erhalten, sondern jeder Gott sollte sein eigenes bekommen. Bei Odins Rückkehr floh der zauber­ kundige Mithothyn nach Lappland (das seiner Zauberer wegen berüchtigt war, vgl. S. 42), wurde dort aber getötet. Noch nach seinem Tod kam sein verhängnisvolles Wesen ans Licht: wer sich in die Nähe seines Grabes getraute, kam ums Leben. Deshalb grub man seine Leiche aus, köpfte sie und trieb ihr einen Pfahl durch die Brust (das traditionelle Abwehrmittel gegen geisternde Ver­ storbene); dies machte seinem Spuk ein Ende. Mithothyn wird sonst nirgends erwähnt. Er kann ein «Mit-Odin», d. h. ein Rivale Odins, oder ein Pseudo-Odin gewesen sein. Er hat eine gewisse

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Ähnlichkeit mit Loki (der in seinem Spottlied behauptet, Odin und er hätten «Blutbrüderschaft» geschlossen, vgl. S. 157). Die Mithothyn-Episode und namentlich der vorübergehende (vielleicht periodische?) Unterbruch der Herrschaft Odins sind zum Ver­ ständnis des Charakters dieses Gottes besonders wichtig. Odin war nicht von allem Anfang an mit geheimnisvoller Macht begabt gewesen, er hatte sie sich vielmehr mit großer Mühe er­ worben. In einem aufschlußreichen Abschnitt von «Odins Runen­ gedicht» beschreibt er selber die Entdeckung der Runen:

Ich weiß, daß ich hing am windigen Baum neun Nächte lang, mit dem Ger verwundet, geweiht dem Odin, ich selbst mir selber, an jenem Baum, da jedem fremd, aus welcher Wurzel er wächst. Sie spendeten mir nicht Speise noch Trank; nieder neigte ich mich, nahm auf die Stäbe ( = Runen), nahm sie stöhnend auf, dann stürzte ich herab.

Neun Hauptlieder lernt’ ich vom hehren Bruder der Bestla, dem Bölthornssohn; aus Odrörir vom edelsten Meth tat ich einen Trunk. Zu wachsen begann ich und wohl zu gedeihn, weise ward ich da; Wort mich von Wort zu Wort führte, Werk mich von Werk zu Werk führte. (Odins Runengedicht 2—5)

Diese auf den ersten Blick schwer zu deutenden Strophen kön­ nen nichts anderes bedeuten, als daß der Gott sich einer Einwei­ hung unterzogen hatte. Hunger und Durst, Kälte und Schmerzen lösten seinen Geist vom Irdischen und schenkten ihm eine beson-

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dere Sehergabe: in einem Zustand der Ekstase entdeckte der Ein­ geweihte eine höhere Weisheit, die dem Nichteingeweihten unzu­ gänglich blieb. Einige Forscher haben zwar Odins Opfer seiner selbst als eine Reminiszenz an Christi Kreuzesopfer deuten wollen - eine gewisse Ähnlichkeit in Tatsachen und Worten kann wirklich nicht völlig abgestritten werden — aber Zweck und Be­ deutung von Odins Opfer sind zu verschieden, als daß wir die ganze Episode vom christlichen Vorbild ableiten könnten. Wahr­ scheinlich ist Odins Einweihung bloß die Widerspiegelung einer wirklich vollzogenen Einweihung; oder vielmehr war für den Germanen das Verhältnis gerade umgekehrt: Odin gab das Bei­ spiel, sein Opfer war das Urbild, das von den Menschen nachge­ ahmt wurde. Aus unseren Texten geht zwar nirgends hervor, daß derartige Initiationsfeiern in historischen Zeiten in bedeutendem Ausmaß stattgefunden hätten. Nur im Zusammenhang mit der Runenkunst und der Poesie vernehmen wir gelegentlich ein schwaches Echo, das auf so etwas hindeuten könnte, wie wenn Rig den jungen Jarl in die Geheimnisse der Runenschrift einweiht. Aber mit Ekstase hat Odin jedenfalls zu tun. Er war der göttliche Eingeweihte, der Inspirierte. Sein Wissen beruhte nicht auf logi­ schem Denken, sondern auf geistiger Schau. Es war wohl seiner Ekstase wegen, daß er Hroptr, Hroptatyr, «Rufer, Schreier» bzw. «schreiender Gott» heißt. Der göttliche Inspirierte teilte sein Wissen seinen Auserwählten mit: sie lernten von ihm die Anwen­ dung der Runen, erhielten strategische und taktische Richtlinien, dichterische Inspiration und sogar Unterricht in der Magie. So wird es verständlich, daß Tacitus und andere Autoren Wodan mit Mercurius vergleichen konnten. Bei den Germanen des Nordens war Odin der Kriegsgott. Er beschützte die Helden, an denen er sein Wohlgefallen hatte, stand ihnen im Kampf mit Rat und Tat zur Seite und verlieh ihnen den Sieg. Doch tat er dies alles auf eine eigenartige, für den gewöhn­ lichen Menschen nicht recht verständliche Weise. Er griff nicht mit seiner übernatürlichen Körperkraft, sondern mit der Macht seines Geistes ein: er machte seine Schützlinge unverletzbar oder lehrte sie eine Kriegslist; er schenkte ihnen auch Zauberwaffen, zu­ weilen seinen eigenen Speer Gungnir. Es lag in seinem Verhalten

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also manchmal etwas Ungerechtes - wenigstens für den Außen­ stehenden. Es hatte häufig den Anschein, als ließe er einen Helden böswillig im Stich; viele Krieger fielen, ehe sie nach menschlicher Schätzung die volle Entfaltung ihrer Kräfte und den Höhepunkt ihres Ruhmes erreicht hatten. Es lag auf der Hand, daß man Odin die Schuld an der Unfaßlichkeit des Kriegsgeschickes zuschrieb. Deshalb warf ihm Loki vor: Schweig doch, Odin! Gar schlecht verteiltest du zwischen Kriegern das Kampfeslos: gabst du doch oft, dem du nicht geben solltest, dem Feigeren Erfolg. (Lokis Zankreden 22)

Früher oder später entzog er den Auserwählten seinen Schutz. Sie «verloren ihr Glück», und dann konnte ihnen kein Mut mehr nüt­ zen. Als der alte König Sigmund während seiner letzten Feld­ schlacht tapfer in den vordersten Reihen kämpfte, so berichtet die Wölsungensaga, erschien plötzlich vor ihm ein Mann mit einem tief in die Stirne gedrückten Hut und einem blauen Mantel; er hatte nur ein Auge und trug einen Speer in der Hand — die typi­ sche Erscheinungsgestalt Odins. Sigmund wollte den Speer ab­ wehren, aber dabei zerbrach sein Schwert; von da an wandte sich das Kriegsglück gegen ihn. Er wurde verwundet, und als man ihn fragte, ob er seine Verletzung überstehen zu können glaube, ant­ wortete er: «Mancher lebt, obwohl nur geringe Hoffnung war; von mir aber hat sich das Glück abgewandt, so daß ich mich nicht mehr heilen lassen will. Odin will nicht, daß ich fürder das Schwert schwinge, da es zerbrach. Ich habe Schlachten geschlagen, solange es ihm gefiel.» Oft und nicht ohne Bitterkeit werden Odins Beschlüsse gerügt: Übel haben wir Odin zu lohnen, daß er solchen König des Siegs beraubte,

so dichtete der Skalde Innstein nach dem Tode König Halfs. Diese Haltung deutete natürlich an, daß man den Göttern den Maßstab

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idealer Gerechtigkeit und Treue anzulegen begann. Noch ein Schritt weiter, und man war dabei, den Gott der Untreue zu be­ schuldigen. Dies tat z. B. der Skalde Egil nach dem Tod seines Sohnes:

Ich stand mich gut mit der Gere Fürsten ( = Odin) Und ich vertraute in Treue ihm, Bis der Freund des frohen Siegs ( = Odin) Mich trog und mir die Treue brach. Mehr noch: man machte den Gott für alle Zwistigkeiten unter den Menschen verantwortlich. Er war es, der Zwietracht und Haß säte. Daher hieß er auch Bölwerk (Bölverkr, «Unheilstifter»). In späteren Jahrhunderten aber war die übliche Erklärung diese, Odin nehme die gefallenen Krieger in Walhalla auf. Er war der Gott des Schlachtfeldes und derer, die dort das Leben ließen. Die Toten, die auf dem Schlachtfeld liegen blieben, hießen im Altnor­ dischen gesamthaft valr. Ihr Schicksal war ursprünglich das der Helden der Ilias. Der Tod raubte ihnen die Freuden dieses Lebens, die Gunst ihres Fürsten und die Kameradschaft ihrer Mitkämpfer. Ihre Leichen fielen den Aasvögeln und Wölfen anheim (oder den Leichendämonen, die unter diesen Gestalten auftraten), und ihre Schatten wurden an einen wenig einladenden Ort verwiesen, der Walhalla (Valhöll), «Haus oder Halle der Gefallenen» genannt wurde. In den Kreisen aber, wo das heroische Ideal in hohem An­ sehen stand, wuchs Walhalla zu einem Kriegerhimmel aus, zu einem riesigen Palast mit 5 40 Pforten, wo Odin als Gastgeber die gefallenen Krieger bewirtete. Diese verbrachten dort ihre Tage in heroischen Kämpfen und die Abende mit Trinkgelagen. Die Wal­ küren, die ursprünglich Leichendämonen gewesen waren, wurden dort zu anmutigen Spenderinnen des Göttertrankes (vgl. S. 280). Odin selber erwählte die Helden, denn er bedurfte ihrer Hilfe im letzten Kampfe wider die Ungeheuer, die sich bei der Götter­ dämmerung erheben würden. Das Auftreten des Gottes war also ambivalent, es bedeutete sowohl eine Verdammung wie eine Aus­ erwählung. Diese letzte Auffassung war in der Wikingerzeit sehr populär, was sich eben aus der Zuspitzung des Kriegerideals in

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dieser Periode erklären läßt. Zugleich wurde Odin zu einer erhabeneren Gestalt: Laß Heervater um Huld uns bitten! Er vergilt und gibt Gold den Seinen: Hermod gab er Helm und Brünne, schenkte Sigmund ein Schwert zu eigen.

Gibt Sieg diesen, Besitz denen, Rat und Rede Recken vielen; Fahrwind den Degen, Dichtkunst Skalden, Mannhaftigkeit manchem Helden. (Hyndlalied 2-3)

Das Gedicht, dem diese Strophen entnommen sind, ist anschei­ nend in der Absicht verfaßt worden, ein adeliges Geschlecht aus der norwegischen Landschaft Hardanger zu verherrlichen. Der Dichter schaltete Odin in den Stammbaum dieses Geschlechtes ein und zog die Grenzen des Wirkungsbereiches des Gottes so weit wie nur möglich - zu größeren Ehren seines Brotherrn. Der Kriegsgott Odin hatte als Attribut einen Speer, der Gungnir hieß; deshalb wurde er selber der «Speergott» genannt. Ob er diese Waffe einem älteren Kriegsgott, nämlich dem Gotte Tyr ( = dem angelsächsischen Tiw, dem althochdeutschen Ziu, vgl. S. 130) entlehnt hatte, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden; undenkbar ist es nicht. Schon in der Bronzezeit spielte der Speer eine Rolle im Kultus: davon zeugen Felszeichnungen mit Figuren, die riesige Speere tragen. Es ist überaus wahrscheinlich, daß diese Speere einen Gott nach der Art Odins (oder vielmehr nach der Art Tyrs?) symbolisierten oder als sein Attribut galten. Mit dem Kult des Speergottes Odin hängt der Brauch zusammen, über das .feindliche Heer einen Speer zu werfen, um dieses dem Gott zu weihen: hiermit war ein Opfer an den Gott des Kriegsglückes ge­ meint, wie es z. B. die Hermunduren an den besiegten Chatten vollzogen. Odin besaß noch andere Attribute, die ihn mit dem Krieg in Beziehung brachten. Der Wolf und der Rabe, die sich immer auf 98

dem Schlachtfelde nährten, gehörten natürlich ihm. Deshalb hieß der Gott auch «Raben-Ase», und so konnte ein Skalde den Raben «Möwe von Ygg» nennen. (Ygg war ein Beiname Odins.) Einem Berichte Snorris zufolge hatte Odin sogar immer zwei Raben bei sich, die Hugin und Munin hießen und ihm alles meldeten, was auf der Erde vor sich ging. Es gibt tatsächlich Darstellungen eines mit einem Speer bewaffneten Kriegers zu Pferd, den zwei Vögel um­ fliegen, oder den zwei Wölfe begleiten (vgl. S. 68). Wenn wir es hier nicht mit Abbildungen irgendeines Helden zu tun haben, so kann bloß Odin gemeint sein; sogar im ersten Fall vermitteln uns diese Darstellungen einen Begriff von der Weise, in der man sich Odin vorstellte. Die Namen der beiden Raben, die respektive «Geist» und «Gedächtnis» bedeuten, sind wahrscheinlich als späte Erdichtungen anzusehen, nämlich aus der Zeit, da Odin zum all­ wissenden Hauptgott geworden war. Als Gott der Schlachtfelder hatte Odin zudem noch ein Gefolge von Walküren. Ursprünglich waren dies nicht die anmutigen «Schildmaiden», wie sie Wagner beschrieben hat, sondern ab­ scheuerregende Leichendämonen nach Art der griechischen Erinnyen und Keren; ihr Name bedeutet « die, welche die Gefallenen erwählen». Erst als Walhalla, «der Saal der Gefallenen», zu einem Kriegerparadies erhoben wurde, wurden auch die Walküren an­ ziehender gestaltet. Wir fanden schon verschiedentlich Beweise für Odins zwie­ spältigen Charakter: unbegreifliche Beschirmung neben ebenso unbegreiflichem Imstichlassen. Beide Aspekte haben wahrschein­ lich abwechselnd vorgeherrscht. Für einen, der sich dem Krieg verschrieben hatte und also buchstäblich Odin gehörte, war es eine Schande, nicht auf dem Schlachtfelde zu sterben; lief er doch dann Gefahr, nicht in Odins Gefolge aufgenommen zu werden. Des­ halb ließen sich manche auf ihrem Sterbebett mit einem Lanzen­ stich «zeichnen»: so verließen sie diese Welt mit einer typischen «Odinswunde» und wischten die Schande ihres «Strohtodes» (des Sterbens im Bett statt auf dem Schlachtfeld) aus. Einzelne Krieger, und auch Gruppen von Kriegern, waren schon in diesem Leben besonders eng mit Odin verbunden. Sie bildeten eine sehr eigenartige Kaste, deren typischer Vertreter im

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Norden Berserk. hieß. Oft waren es ausgesprochen asoziale Men­ schen : sie lebten zu Lasten anderer, verfuhren nach eigenem Gut­ dünken mit dem Besitztum ihrer unfreiwilligen Gastgeber und quälten und terrorisierten ihre Umgebung in jeder nur denkbaren Weise. Aber erst im Kampf offenbarte sich ihr wahres Wesen. Sie befanden sich dann in einer Art Trance, der «Berserkerwut», bissen in den Rand ihres Schildes, kämpften oft völlig nackt und waren unempfindlich für Ermüdung und Verletzungen. Mitunter galten sie sogar für unverletzlich. Sie erfuhren eigentlich eine Metamor­ phose: sie glaubten sich tatsächlich in einen Bären oder einen Wolf verwandelt; dies geht ja auch aus den Namen Berserk (alt­ nordisch ber-serkr) und Ulfhedin (ulf-hepinn) hervor, die bedeuten: «der, welcher eine Bärenhaut, resp. Wolfshaut trägt», der sich also in einen Bären oder Wolf verwandelt hat. Vielleicht verstärkten sie diesen Eindruck, indem sie im Kampfe Tierhäute trugen und wie ein Bär brummten oder wie ein Wolf heulten. Auf die Trance folgte jeweils eine tiefe körperliche und seelische Erschöpfung. Die Art der Tiere, in die sie sich verwandelt glaubten, zeigt wieder auf Odin hin: seine Beinamen Björn, Hrjötr u. a. m. deuten eigent­ lich auf ein Erscheinen des Gottes in Bärengestalt; seine Beziehun­ gen zum Wolf haben wir schon früher erwähnt. Wir sahen bereits weiter oben, daß schon Tacitus von dieser eigenartigen Kriegerkaste gehört hatte. Er lokalisiert einen «Volksstamm», die Harier, in der Gegend zwischen der oberen Oder und der oberen Weichsel: «Abgesehen von ihrer Macht, durch welche sie die kurz vorher aufgezählten Völker übertreffen, sind sie trotzige Krieger. Ihrer angeborenen Wildheit helfen sie künstlich und durch Ausnützung der besten Zeit nach: schwarz sind ihre Schilde, bemalt ihre Körper, dunkle Nächte suchen sie zum Kämpfen aus und jagen schon durch das grauenvolle Dunkel ihres Totenheeres Schrecken ein. Hält ja doch kein Feind dem un­ gewohnten und gleichsam höllischen Anblick stand. Denn bei allen Kämpfen werden zuerst die Augen besiegt» (Germania 43). Der Name Harier (bei Tacitus zu Harii latinisiert) bedeutet wahrschein­ lich «Krieger» und bezeichnet eher eine bestimmte Gruppe, etwa einen Kriegerverband, als ein ganzes Volk. Es ist wohl kaum ein Zufall, daß Odin im Norden mit einem daran mahnenden Namen 100

«Herr der Krieger», heißt. In diesem Zusammenhang müssen wir auch die besondere Haartracht in Erinnerung rufen, die man zu Tacitus’ Zeit bei manchen germanischen Kriegern an­ traf. Über die Chatten berichtet der römische Historiker nämlich folgendes: «Ein Brauch, der sich auch bei den anderen germani­ schen Völkern findet, allerdings selten und als Kennzeichen des persönlichen Wagemutes des einzelnen, ist bei den Chatten zur Gewohnheit geworden: sobald sie herangewachsen sind, sich Haar und Bart wachsen zu lassen, und erst, wenn sie einen Feind erschlagen haben, diese Tracht des Hauptes, die sie gelobt haben und durch die sie sich zur Tapferkeit verpflichten, abzulegen. Über Blut und Beute lichten sie die Stirn, sie erklären, erst dann ihr Leben verdient zu haben und des Vaterlandes und der Eltern würdig zu sein. Die Feigen und Unkriegerischen behalten ihren Haarwust. Die Tapfersten tragen außerdem einen eisernen Ring - dies gilt dem Volke als schandbar - gleichsam als Bindung, bis sie sich durch Erschlagen eines Feindes davon befreien. Vielen Chatten gefällt dieser Schmuck, und so werden sie in dieser Aus­ zeichnung grau, Freund wie Feind deutet dann auf sie. Sie eröffnen alle Kämpfe, sie sind immer voran, überraschend für den Anblick nicht nur im Kriege, sondern auch im Frieden, denn auch dann mildert sich ihr Gesichtsausdruck nicht zu einem freundlicheren Aussehen. Keiner hat ein Haus oder Feld oder irgendeine Sorge der Art. Je nachdem sie zu jemand kommen, werden sie bewirtet, Fremdes verschwenden sie, um eigene Sache sind sie unbeküm­ mert, bis ein kraftloses Greisenalter sie untauglich macht für das harte Kriegsleben» {Germania 31). Es ist zweifelhaft, ob die vonTa­ citus beschriebene Zier, das ungepflegte, verfilzte Haar, bei den Chatten wirklich so allgemein galt. Much bemerkt zu Recht, daß viele Krieger ihr Haar sicher nicht bald und wahrscheinlich über­ haupt nicht losgeworden wären. Vielmehr handelt es sich hier wie­ der um einen Orden, der durch das Tragen eines Eisenringes und, bei den Anwärtern, durch die ungepflegten Haare gekennzeichnet wurde. Aber eine bessere Beschreibung des Geistes dieser Krieger­ verbände könnten wir uns schwerlich wünschen. In seiner Schil­ derung des Gefolges des dänischen Königs Frotho III. legt Saxo Grammaticus deutlich dar, welche Spannung das Vorhandensein Herjan,

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einer solchen Kaste in Friedenszeiten innerhalb einer Gemeinschaft verursachen konnte. Gegen ihr zügelloses Auftreten, das nur die Verlängerung ihrer kriegerischen Übermenschlichkeit bildete, ver­ halfen nur die strengsten Gesetze und Strafen — was zugleich dem Berserktum ein Ende machen mußte. Hieraus dürfen wir auch wohl schließen, daß die Hypertrophie dieses asozialen Kriegertyps außerordentlichen Umständen zuzuschreiben war (vgl. S. 25). Aber in seiner Maßlosigkeit und Zügellosigkeit paßte er vollkom­ men zum Charakter von Wodan-Odin. Auf Grund der erwähnten Quellen haben Höfler und andere angenommen, es habe bei den Germanen ein ganzes System kulti­ scher, oft geheimer Kriegerbünde gegeben. Höfler meinte im sehr verbreiteten Glauben an Werwölfe («Mann-Wölfe») und in den sehr verbreiteten Umzügen, in denen junge Männer als Tiere ver­ kleidet auftreten und sich allerlei Freiheiten erlauben, Überreste solcher Institutionen zu finden. Nach ihrer Einweihung waren diese Krieger imstande, sich während eines Kampfes «in Tiere zu verwandeln», oder sich zumindest in jenen seelischen und körper­ lichen Zustand zu versetzen, der ihre Kräfte verdoppelte und ihre Empfindlichkeit herabsetzte, etwa wie bei den orientalischen Amokläufern. Wodans Opfer seiner selbst war eine Art MusterEinweihung. Diesem letzten Punkt können wir mit einem gewis­ sen Vorbehalt (die Einweihung des Gottes bezog sich ja laut «Odins Runengedicht» bloß auf die Runenkenntnisse) beistim­ men; im übrigen aber hat Höfler, wie es scheint, aus seinem un­ gleichartigen Material zu viel herauslesen wollen, namentlich was die Kontinuität des Phänomens betrifft. Es steht ja durchaus nicht fest, daß Kriegerkasten und Männerbünde eine allgemein germa­ nische Erscheinung waren. Wenn es zur Bildung spezieller Krie­ gervereinigungen kam, so war dies wenigstens teilweise dem außergewöhnlichen sozialen und wirtschaftlichen Klima zuzu­ schreiben, das bei verschiedenen germanischen Völkern herrschte (Bevölkerungsüberschuß, langwierige «Mobilmachung», engere Gruppierung junger Männer um einen Führer, Zentralisation der Macht u. ä.). Nicht ganz zu Unrecht hat Dumézil die deutschen paramilitärischen Organisationen aus der Zeit vor 1945 (und ihre Methoden) als eine psychologisch und sozial verwandte Erschei­ 102

nung betrachtet und angeführt. Die Völkerwanderungen förder­ ten zweifellos die Entwicklung dieses Ideals: die nicht an Hof und Acker gebundenen Krieger waren in den neu gegründeten Rei­ chen, in denen die Germanen nur eine kleine Minderheit bildeten, ein starker Machtfaktor. Andererseits ist der schnelle Untergang dieser Reiche wohl auch teilweise dieser unausgewogenen sozialen Struktur zuzuschreiben. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein Gott, in dessen Namen die friedliche Bauernbevölkerung gequält und ausgenützt werden konnte, bei dieser Bevölkerung wenig beliebt gewesen sein muß. Er wird seine Verehrer wohl eher unter den Mächtigen und ihrem Gefolge gefunden haben. Dies ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, weshalb sein Name nicht öfter in Ortsnamen vorkommt, und auch weshalb er nicht häufiger verehrt wurde. Wodan-Odin war nicht der einzige Kriegsgott. Wir sahen schon, daß er das Speerattribut mit Tiw oder Tyr gemeint hat. In den nordischen Quellen finden wir Andeutungen, daß seine Be­ fugnis als Kriegsgott nicht unbeschränkt gewesen sei. Unter der Maske des Fährmanns Harbard treibt er selber seinen Spott mit Thor: Das Knechtsvolk hat Thor, doch die Könige hat Odin, die da fallen im Feld (Harbardlied 24)

Dies ist bloß eine Neckerei: Thor hat nichts von einem Sklaven­ gott. Anderswo aber heißt es, Frigg erhalte die eine Hälfte der Gefallenen zugewiesen, Odin bloß die andere Hälfte. Nach Tacitus (vgl. S. 88) versprachen die Chatten ihre Kriegsbeute sowohl dem Mercurius wie dem Mars. Vielleicht waren die Kriegsgefangenen jenem bestimmt, und die übrige Kriegsbeute diesem. Wir haben verschiedene Berichte über die Form der Menschenopfer, die Wodan-Odin dargebracht wurden. Bei den Kimbern durchschnitt man den Kriegsgefangenen die Kehle und fing das Blut in einem Kessel auf; es handelte sich hier aber eher um ein Orakel als um ein Opfer von Kriegsbeute. Eigentlich ist das Hängen kennzeich­ nend für das Odinsopfer, wie wir es aus den nordischen Quellen

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kennen; hatte sich doch der Gott selber in dieser Weise geopfert, um die Runenkenntnis zu erlangen. Daneben scheint auch die ty­ pische Waffe des Gottes, der Speer, eine gewisse Rolle gespielt zu haben. In der Sage von König Wikar, die uns in der Gautrekssaga überliefert wurde, finden wir eine eigenartige Bestätigung dieses Zustandes. Wikars Flotte wurde durch Gegenwind aufgehalten, und man warf das Los, um die Ursache dieses Mißgeschicks zu er­ mitteln. Es stellte sich heraus, daß Odin ein Menschenopfer for­ derte, und zwar das von Wikar persönlich. Damit Wikar sich dem Opfer nicht entziehe, batte Odin aber dem Helden Starkad befoh­ len, ein Scheinopfer zu inszenieren; er gab ihm dazu einen Speer, der wie ein Rohrstengel aussah. Bei der Vollziehung des Schein­ opfers legte Starkad Wikar einen Kalbsdarm um den Hals, aber dieser wurde zum Strang und erwürgte Wikar tatsächlich, wie auch der scheinbar ungefährliche Rohrstengel in Starkads Hand zu einer tödlichen Waffe wurde. Meistens kommen diese Motive aber gesondert vor: die Odin geweihten Gefangenen werden gehängt; ein feindliches Heer aber wird ihm geweiht, indem man einen Speer darüber hinwegschleudert, und einem Verehrer des Gottes wird mittels einer Speerwunde der Zugang zu Walhalla gesichert. Das Opfer von Wikar ist aber insofern charakteristisch, als es wie­ der einmal zeigt, auf welchen Umwegen Odin doch sein Ziel zu erreichen wußte. Die Sage vom schwedischen König Aun beleuchtet noch einen anderen Aspekt des Menschenopfers, das Odin dargebracht wurde. Aun war ein eifriger Opferet, der Kriegsgewalt aber abhold. Er wurde aus seinem Reich vertrieben, kam erst in seinem sechzig­ sten Jahr auf den Thron zurück und brachte dann Odin einen sei­ ner Söhne zum Opfer, um für sich selbst ein langes Leben zu er­ wirken. Odin sagte ihm weitere sechzig Jahre zu. Zum zweitenmal wurde Aun vom Thron gestoßen, und bei seiner Wiedereinsetzung opferte er Odin seinen zweiten Sohn. Da versprach ihm Odin, er werde am Leben bleiben, solange er alle zehn Jahre einen seiner Söhne opfere. Aun wurde uralt; als er aber seinen zehnten und letzten Sohn schlachten lassen wollte, führte man seinen Befehl nicht aus, und dann starb er. Deshalb wurde an Altersschwäche sterben «Auns Krankheit» genannt. Die meisten Kommentatoren

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sehen in diesem Mythus ein Beispiel vom weitverbreiteten Glau­ ben, daß die Lebenskraft eines jungen Menschen das Leben eines alternden Fürsten zu verlängern vermochte (ursprünglich wurde die Lebenskraft wohl durch das Trinken des Blutes, gelegentlich auch durch das Essen gewisser Teile des Opfers auf den Fürsten übertragen). Aber die Geschichte von Aun kann noch eine andere Bedeutung haben. Sein ganzes Leben hindurch hatte er nichts für Kriegsführung übrig; er liebte den Frieden, und eben wer fried­ liebend war und nicht auf dem Schlachtfelde fiel, der starb, an «Auns Krankheit». War das Opfer seiner Söhne dann nicht viel­ mehr ein Ersatz für die Opfer, die er, wenn er Krieg geführt hätte, Odin dargebracht hätte, oder für den Dienst, den er Odin in Wal­ halla schuldig gewesen wäre? Die beiden ersten Opfer fanden ja statt, nachdem er ohne Blutvergießen (der Usurpator war jeweils gestorben) wieder von seinem Thron Besitz ergreifen konnte. Das Geheimnisvoll-Unberechenbare in Odins Charakter steht wohl mit seiner Rolle in Orakel und Magie im Zusammenhang. In der euhemeristisch gefärbten Saga der Ynglinge heißt es, Odin sei sehr erfahren gewesen in der Kunst, welche die höchste Macht ver­ leiht, nämlich der Zauberkunst, die er fleißig ausübte. Dadurch war er in der Lage, das Schicksal der Menschen und zukünftige Ereig­ nisse vorherzusagen, ja sogar die Menschen mit Tod, Mißgeschick und Krankheit heimzusuchen. Dieser Kunst bediente er sich tat­ sächlich auf jedem Gebiet. Als Kriegsgott konnte er plötzlich einen Krieger oder ein ganzes Heer durch eine Art panischen Schreckens lähmen; es hieß dann, er binde sie mit «Heeresfesseln». In dem Mythus des Mimir, den wir später (vgl. S. 168) behandeln werden, trieb er Nekromantie. Er präparierte den Kopf dieses wei­ sen Riesen mit Kräutern und befragte ihn über allerlei Geheim­ nisse. Unter anderen Umständen wiederum benutzte er zu diesem Zweck einen Gehenkten(!):

Ein zwölftes kann ich, seh’ ich zittern im Wind den Gehenkten am Holz: so ritze ich, und Runen färb’ ich, daß der Recke reden kann und vom Galgen geht. (Havamal 157) 105

Loki beschuldigt Odin, dieser habe auf der dänischen Insel Samsey in schändlicher Weise Zauberei getrieben: Doch von dir erzählt man, daß du gezaubert hast und zu Samsey Seidwerk triebst: in Zauberers Gestalt zogst du durchs Volk; schamlos scheint mir das. (Lokis Zankreden 24)

Es liegt in der Tat etwas Dämonisches in Odins Wesen. Dieses Dämonische scheint sogar so wesentlich zu sein, daß es nicht, oder doch wenigstens nicht ganz, der Dämonisierung der Götter zu­ geschrieben werden kann, die nach der Bekehrung unter christ­ lichem Einfluß zustande kam. Das Relative des germanischen Gottesbegriffs, sein Mangel an Transzendenz, kommt nirgends so deutlich zum Ausdruck wie bei diesem Gott. Daß ein Gott Magie treibt und seine Macht mißbraucht, oder vielmehr: daß er an eine Macht appellieren muß, die sich außerhalb seiner selbst befindet (darin liegt ja das Wesen der Magie), mutet doch sonderbar an bei einer Figur, die an der Spitze der Götterwelt steht. Vielleicht ha­ ben spätere euhemeristische Autoren diesen Aspekt noch stärker betont und in den Vordergrund gerückt: liegt es doch mehr auf der Hand, daß ein «König» Odin Magie treibt, als ein Gott Odin. Dennoch bleibt die Tatsache, daß Odin sich mit Zauberunterricht befaßt; seine Rolle als Entdecker und Lehrer der Runenkunst werden wir im nächsten Kapitel genauer untersuchen (vgl. S. 212). Odins Geheimkenntnisse bilden aber nicht bloß eine Quelle von Gefahren. Er kann sie auch zum Wohl seiner Auserwählten und bei anderen Gelegenheiten als im Krieg anwenden. Eine ganz spe­ zielle Form der Begnadigung von Seiten Odins ist die Gabe der Dichtkunst. Ekstase und dichterische Inspiration liegen nicht so weit auseinander, und Odin war ja eben der Gott der Ekstase. Die Skalden verwenden viele Kenningen für «Dichtergabe», «Dicht­ kunst» und «Gedicht», die auf die Weise anspielen, in der Odin den Göttertrank (der ja zugleich die dichterische Inspiration ver­ sinnbildlichte) in seinen Besitz brachte. Bei Snorri finden wir eine komplizierte, mit vielen Nebenepisoden ausgeschmückte Ge-

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schichte, die wie eine Folge mythologischer Märchen anmutet, aber dennoch einzelne uralte Elemente enthält. Es lohnt sich, die Hauptzüge dieser Erzählung hier festzuhalten. Die Äsen und die Wanen, die miteinander im Krieg gelebt hat­ ten, schlossen Frieden, und zwar in folgender Weise: sie spuckten alle, der Reihe nach, in ein Faß. Damit dieses Zeichen des Friedens nicht verloren gehe, bildeten sie daraus ein menschliches Wesen, das sie Kwasir nannten. Dieser Kwasir war sehr weise, und wie Prometheus teilte er den Menschen sein Wissen mit. Zwei böse Zwerge aber, Fjalar und Galar, ermordeten ihn und fingen sein Blut in zwei Fässern und einem Kessel auf; dieser Kessel hieß Odrörir, ein Name, der, wie wir sehen werden, zum richtigen Ver­ ständnis des Mythus nicht ohne Bedeutung ist. Die Zwerge ver­ mischten Kwasirs Blut mit Honig und erhielten so eine Art Met; jeder, der von diesem Met trinkt, wird entweder ein Skalde oder ein Gelehrter. Nachdem die Zwerge auch den Riesen Gilling ge­ tötet hatten, zwang sie dessen Sohn Suttung, ihm den kostbaren Met als Wergeid abzutreten. Er versteckte den Trank an einem Ort, der Hnitbjörg genannt wurde, und beauftragte seine Tochter Gunnlöd, darüber zu wachen. Dank mehreren Listen gelang es aber Odin, bis zu Gunnlöd vorzudringen. Er verbrachte drei Nächte bei ihr, wonach sie ihm gestattete, dreimal einen Mundvoll Met zu trinken. Er aber leerte mit jedem Zug eins der drei Fässer, verwandelte sich dann in einen Adler und flog mit seiner Beute fort. So gelangten die Götter in den Besitz dieses wunderbaren Trankes. An Hand dieses Mythenzyklus erklärt Snorri eine Reihe von Kenningen, die er bei Skalden angetroffen hat: «Kwasirs Blut», «Met der Zwerge», «Wergeid für den Vater der Riesen», «Odins Met», «Odins Beute» usw., die sich alle auf die dichterische Inspiration und ihre Wirkung beziehen. Nicht alle Episoden aus Snorris Erzählung sind gleich alt; es fragt sich sogar, ob er nicht überhaupt den Akzent verlegt hat. In der Edda behandelt das «Hymirlied» den Mythus des Göttertran­ kes aus einem ganz anderen Gesichtspunkt, nämlich mit Thor als zentraler Figur. Deshalb werden wir im Kapitel über diesen Gott noch auf das Problem des Göttertrankes zurückkommen. Hier be­ schränken wir uns auf Snorris Geschichte. Die Verwendung von 107

Speichel als Bestandteil des Göttertrankes ist zweifellos ein sehr altes Motiv. Nur auf den niedrigsten Stufen der Zivilisation wird Speichel als Gärstoff gebraucht, und dies ist wohl die Erklärung für das sonst unverständliche «Speien» der Äsen und Wanen. Üb­ rigens findet sich dieses Motiv auch wieder in einem legendari­ schen Wettkampf im Brauen zwischen zwei Königinnen. Als die beiden ihre Braukessel rüsteten, kam Odin vorbei und spuckte in einen der Kessel. Natürlich wurde das Bier, in das er gespuckt hatte, das bessere. Es ist möglich, daß diese primitive Technik noch beim Gottesdienst angewandt wurde, nachdem man sich in der täglichen Praxis längst anderer Gärungsmittel bediente. Der Name Kwasir (altnordisch Kvasir) erinnert an Kwass, ein gegorenes Getränk bei slavischen Völkern. Odrörir (Öprarir), der Name eines der Fässer, in denen Kwasirs Blut und später der Göttertrank aufbewahrt wurde, bedeutet eigentlich «der das Gemüt bewegt», einen sehr geeigneten Namen für ein Getränk, das den Menschen in einen Zustand der Euphorie versetzte. Das Festmahl der Götter war ja eine Vorausdeutung des irdischen Trinkgelages (siehe S. 232), und beim kultischen Genuß alkoholischer Getränke spielte auch die physiologische Wirkung eine Rolle: der Mensch fühlte sich in eine Welt versetzt, die den Einschränkungen des täglichen Lebens nicht unterworfen war und näher bei der Welt der Götter lag. Schließlich gemahnt uns der Name Hnitbjörg («schlagende Berge») an die Symplegaden oder «aneinanderschlagende Berge», hinter denen, nach der griechischen Mythologie, die Unsterblich­ keitsspeise oder Ambrosia versteckt lag. In Snorris Zeit erfaßte man wahrscheinlich den tieferen Grund dieser Geschichte nicht mehr, schon deshalb nicht, weil sich der Schwerpunkt dieses Kom­ plexes von Mythen und Riten im Verlauf der Jahrhunderte und namentlich gegen Ende der vorchristlichen Zeit in erheblichem Maße verlegt hatte. Die ursprüngliche Opferfeier wurde immer mehr zu einer profanen Angelegenheit. Der Opfertrank begei­ sterte den Menschen nicht mehr zu ruhmreichen Taten und verlieh ihm auch keine Einsicht mehr in die Geheimnisse der Götter. Einerseits wurde das heilige Trinkgelage zu einem weltlichen Zunftfest (dem aber religiöse Komponenten nicht völlig zu fehlen brauchten), andrerseits wurde die Einweihung in die göttlichen

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Geheimnisse zu einer Offenbarung dichterischer Inspiration herab­ gewürdigt. Bei den späteren Skalden spielte Odin ungefähr die Rolle, welche die Musen bei den Renaissance-Dichtern erfüllen sollten. Deshalb machen die Andeutungen in den Kenningen auf uns eher einen «profanen» Eindruck: Odin ist nicht länger der göttliche Inspirierte und Inspirator, sondern eine poetische Ver­ zierung. Sehr bezeichnend ist wiederum Odins Anteil an der Erschaffung des Menschen. Er vollbrachte dieses Werk in Zusammenarbeit mit dem übrigens nahezu unbekannten Gott Hönir (vgl. S. 166) und mit Lodur (vgl. S. 157):

Bis drei Äsen aus dieser Schar, stark und gnädig, zum Strand kamen; sie fanden am Land, ledig der Kraft, Ask und Embla, ohne Schicksal. Nicht hatten sie Seele, nicht hatten sie Sinn, nicht Lebenswärme, noch lichte Farbe; Seele gab Odin, Sinn Hönir, Leben Lodur und lichte Farbe. (Der Seherin Gesicht 17—18)

Auch in Snorris Paraphrase lesen wir, Odin habe «Atem und Le­ ben» gespendet. Wie läßt sich dies mit dem «geistigen» Wesen des Gottes in Einklang bringen? Odin vertrat nicht den kühl berech­ nenden Verstand: er war der Gott der inspirierten Erkenntnis, des Geheimwissens, das sich bloß durch einen «Kurzschluß» des Ver­ standes erobern läßt. Die dazu erforderliche Ekstase war mit einem besonderen Zustand der Erregung und «Besessenheit» verbunden. Demjenigen gegenüber, der solches Wissen nicht besaß, war dies gewissermaßen ungerecht. So besiegte Odin unter einem Deck­ namen den Riesen Wafthrudnir («der des Webens [von Rätseln] mächtig ist») in einem Rätselwettkampf, indem er ihn fragte, was Odin seinem Sohne Balder ins Ohr geflüstert habe, als dieser auf dem Scheiterhaufen lag; eine Frage, die natürlich nur er selber be­ antworten konnte. In diesem Zusammenhang müssen wir an die 109

Runen erinnern: auch das Wissen um diese Zeichen war geheim, und Odin teilte es bloß einigen Auserwählten mit. Odin beteiligte sich auch an der Erschaffung der Welt aus dem Körper des Urriesen Ymir; auch dabei halfen ihm zwei andere Götter, nämlich seine Brüder Wili und We. Es war wohl auch in seiner Eigenschaft als Schöpfergott, daß er die Erdgöttin Jörd als Gattin erhielt: ihr beider Sohn war der starke Thor. Wie sich Jörd und Frigg zueinander verhielten, wird nirgends erwähnt. Wohl wird ausdrücklich erzählt, Odin sei auch der Held zahlreicher Lie­ besabenteuer gewesen. Sein Abenteuer mit der Riesentochter Gunnlöd bildet einen Teil des Mythenzyklus, der die Entstehungs­ geschichte des Göttertrankes enthält. Seine Erlebnisse bei der Tochter des Riesen Billing gemahnen eher an ein Märchen oder einen Schwank: bei einem ersten Versuch wurde ihm der Zugang zum Haus verwehrt, beim zweiten fand er statt der Geliebten eine Hündin im Bett vor. Übrigens brüstet er sich selber gerne mit sei­ nen Liebesabenteuern, und zwar in nicht eben feiner Weise:

Herzige Weiber hatten wir, wären sie uns handzahm geworden; tüchtige Weiber hatten wir, wären sie uns treu geblieben. Sie wollten aus Sand Seile drehen und aus tiefem Tal den Grund graben. Ich war ihnen allen an Witz doch über: ich schlief bei den sieben Schwestern und genoß aller Liebe und Lust. (Harbardlied 18)

Was ist hier alt, und was spätere Erdichtung? Dies läßt sich in den meisten Fällen nur schwer nachweisen; wenn wir aber an die weit­ gehende Freiheit denken, die einige seiner leidenschaftlichsten Verehrer sich ebenfalls auf diesem Gebiet erlaubten, müssen wir zugeben, daß auch diese Eroberungen zum Wesen Odins paßten. Beim Untergang der Welt tritt aber Odins Kriegernatur wieder hervor. Da nimmt er den Kampf mit dem gefährlichsten aller Dä­ monen, dem Fenriswolf, auf, und nach einem wütenden Gefecht töten die beiden Gegner einander. Odin hat ja eine zu schwere

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Schuld auf sich geladen, als daß er dazu berechtigt gewesen wäre, in der neuen Welt, die nach dem Endkampf aus den Wogen em­ porsteigt, weiterzuleben: hat doch er den ersten Streit auf Erden entfacht. Wenn wir nun hinter der Vielzahl der Fazetten, die durch unsere Texte beleuchtet werden, den eigentlichen Kern der Wodansge­ stalt zu entdecken versuchen, so zeigt sich dies als durchaus nicht einfach. Man hat diesen Gott als einen Sturm- oder Windgott, mit­ unter auch als Totengott deuten wollen. Nach Helm, der die zweite Auffassung bevorzugt, bedeutet sein Name «Führer, Herr des To­ tenheeres». Diese Erklärung ist aber nicht sehr überzeugend, nimmt sie doch eine periphere, hauptsächlich volkskundlich fest­ gestellte oder vermutete Funktion zum Ausgangspunkt, um von dort aus die ganze komplexe Persönlichkeit Wodans zu erklären. Ein Gott der Naturkräfte scheint Wodan noch weniger zu seinDiese Auffassung ist noch ein Überbleibsel aus der Zeit, da man glaubte, alle Götter seien ursprünglich vergöttlichte Naturkräfte und Himmelskörper gewesen. Hat es überhaupt Sinn, einen be­ stimmten Wesenszug oder einen Einzelaspekt als Ausgangspunkt zu wählen? Wer in dieser Weise vorgeht, gibt bloß der Neigung nach, in jedem historischen Verlauf eine Entwicklung vom Ein­ fachen zum Komplizierten zu sehen. Bei der bestehenden Knapp­ heit an älterem Quellenmaterial über die germanischen Götter bleiben Versuche in dieser Richtung rein hypothetisch. Mit mehr Recht kann man sich fragen, ob dieser Gott wohl immer an der Spitze der Götterwelt gestanden habe. Kam die Stellung des ersten und ältesten der Äsen tatsächlich immer ihm zu? Hat er im ganzen germanischen Gebiet diese Stellung eingenommen? Unsere Texte widerspiegeln hauptsächlich den Zustand im westnordischen Ge­ biet; in andern Gegenden hat die Rangordnung vielleicht ganz an­ ders ausgesehen. Im Tempel von Uppsala war es Thors Bild, das in der Mitte stand, während links und rechts davon «Wodan» und «Fricco» aufgestellt waren. Die schwedischen Könige, die in Upp­ sala eine Art Hohepriesteramt versahen, stammten der Sage nach von Freyr ab, im Gegensatz zu einigen angelsächsischen Dyna­ stien, die Wodan als ihren Ahnherrn anerkannten. Aus alledem dürfen wir aber noch nicht schließen, daß Odin in ganz Schweden

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ein Gott zweiten oder dritten Ranges gewesen sei, und daß alle Angelsachsen Wodan als ihren Hauptgott verehrt hätten. Die Auf­ stellung im Tempel von Uppsala stellt uns noch vor andere Pro­ bleme. Wenn die Schwedenkönige schon von Freyr abstammten, so sollte man erwarten, daß Fricco, den man gewöhnlich mit Freyr identifiziert, den Ehrenplatz innegehabt hätte, und nicht Thor. Aber die verhältnismäßige Unbedeutendheit Odins, um die es sich hier handelt, und die Seltenheit der Ortsnamen, die sich von sei­ nem Namen ableiten lassen, kann man am besten aus dem eigen­ artigen Charakter dieses Gottes erklären. Eine so unberechenbare, unfaßbare Gottheit, welche die spezielle Verehrung einer Bevöl­ kerungsgruppe genoß, für die man vielleicht Bewunderung, aber im Grunde wenig Sympathie aufbrachte - eine solche Gottheit war für den Durchschnittsmenschen nicht besonders anziehend. Odin war wohl in erster Linie der Gott des aristokratischen Hofstaates und seiner Krieger. Es ist nicht undenkbar, daß Odins Popularität im Westen der skandinavischen Halbinsel gerade mit der Entste­ hung einiger weniger Machtzentren in diesem Gebiet zusammen­ hängt. Odin macht auf uns irgendwie den Eindruck eines Empor­ kömmlings in der nordischen Götterwelt. Wahrscheinlich hatte einmal ein anderer Gott den Ehrenplatz unter den germanischen Göttern eingenommen, wurde aber im Lauf der Zeiten von der zügellosen, aufbrausenden Persönlichkeit eines Wodan-Odin ver­ drängt. Diese Verschiebung hat wohl nicht überall zu gleicher Zeit und in gleichem Maße stattgefunden: was in der Rhein­ gegend (lange?) vor Tacitus’ Zeit geschehen war, ist anderswo erst viel später vorgekommen oder überhaupt unterblieben. Die Faktoren, welche die Entwicklung des sozialen und religiösen Le­ bens der Germanen während der Völkerwanderungen und Wi­ kingerzüge bestimmten, können schon in der vorhistorischen Periode ihren Einfluß geltend gemacht haben. Deshalb werden wir uns nicht erkühnen, den Zeitpunkt der Thronbesteigung WodanOdins festzulegen; dazu ist das Problem zu vielgestaltig, und sind die Quellen zu spärlich.

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4 DER GOTT, DER DONNERT: DONAR-THOR

Man kann sich schwerlich eine Göttergestalt vorstellen, die zu Wodan-Odin in schärferem Gegensatz steht als Donar-Thor. Un­ ter den drei Göttern, die nach Tacitus bei allen Germanen verehrt wurden, scheint der dritte, den er Hercules nennt, in seinen Eigen­ schaften am ehesten dem zu entsprechen, was wir über Donar wissen. Auch der germanische Gott war ein Symbol des Mutes und der Körperkraft. Tacitus’ interpretatio romana läßt aber noch einige Schwierigkei­ ten bestehen. Er erzählt in einem anderen Zusammenhang, Her­ cules habe auf einer seiner Reisen auch Germanien besucht, und die Germanen hätten ihn, ehe sie in den Kampf zogen, als ersten aller Helden besungen. Einige Gelehrte haben hinter Tacitus’ Hercules zwei verschiedene Persönlichkeiten zu sehen vermeint, einen Sagenhelden und einen Gott; doch ist eine derartige Erklä­ rung eigentlich überflüssig. Der germanische Hercules oder Donar verrichtete Heldentaten, die sich nicht stark von denen unterschie­ den, durch die der klassische Hercules berühmt geworden war: auch er kämpfte ja gegen Riesen und Ungeheuer. Zwar ist der so­ genannte Besuch von Hercules in Germanien ein Motiv, das Ta­ citus der klassischen Sagenwelt entnommen haben kann; doch ist es auch gut möglich, daß die Germanen selber erzählten, Donar habe unter ihnen geweilt. Auf jeden Fall dürfen wir aus Tacitus’ Worten folgendes schließen: auf dem Festland schrieben die Ger­ manen Donar die gleichen Heldentaten zu, welche die Bewohner des Nordens später von Thor erzählten. Man hat aber gegen die Gleichsetzung Donars mit Hercules ein Argument vorgebracht, das schwerer wiegt. Der fünfte Tag der Woche wurde nach Donar benannt, bei den Römern aber hieß der Donnerstag dies Jovis, «Tag Jupiters». Die interpretatio germanica entspricht hier also nicht der interpretatio romana. Man hat diesen Gegensatz gelegentlich als den Niederschlag einer langsamen Ent­ wicklung in der Stellung Donars zu deuten gesucht; nach dieser Auf­ fassung soll im Zeitraum, der zwischen Tacitus (oder seinem Ge-

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währsmann Plinius?) und der Entstehung der germanischen Na­ men der Wochentage lag, Donar von einem Sagenheld (Hercules) zu einem vollwertigen Gott (Jupiter) geworden sein. Wenn wir aber das Entstehen der beiden Interpretationen einer genaueren Prüfung unterwerfen, ergibt sich schon bald, daß eine solche Hy­ pothese eigentlich überflüssig ist. Ein Römer, der feststellen wollte, mit welchem Gott er Donar identifizieren könnte (interpretatio romana), wird die Germanen gefragt haben, was sie über diesen Gott zu berichten wüßten. Wenn er dann in ihrer Antwort die Gestalt eines riesen- und ungeheuertötenden Gottes erkannte, hat er na­ türlich sofort an Hercules gedacht. Kehren wir jetzt das Problem um und nehmen wir an, ein Germane habe unter seinen Göttern ein Äquivalent für Jupiter finden müssen (interpretatio germanica). Der römische Gott offenbarte seine Macht u. a. in Donner und Blitz, und genau das tat Donar auch. Es sind also einfach zwei ver­ schiedene Aspekte des germanischen Gottes, die in diesen Inter­ pretationen beleuchtet werden.

Aus jener frühen Zeit wissen wir sehr wenig über Donar. Tacitus kannte einen dem «Hercules» geweihten Wald im Gebiet der Cherusker, östlich der Weser. Arminius sammelte dort seine Trup­ pen zum Angriff auf die Römer. Die Weihinschriften steuern zu unserer Kenntnis des Gottes wenig bei. Wir sind hier wieder völlig auf die Deutung allfälliger Beinamen angewiesen. Die am Rhein stehenden Legionen verehrten natürlich den römischen Hercules; nur ein germanischer Beiname kann den Nachweis erbringen, daß eine Inschrift dem Donar gewidmet war. Man hat Hercules Saxanus, der in Bonn, in Koblenz und an der Mosel verehrt wurde, gele­ gentlich für einen germanischen Gott gehalten, doch scheint sein Beiname nicht mit dem Namen der Sachsen in Verbindung zu ste­ hen. Eher ist der am Niederrhein bei den Batavern verehrte Her­ cules Magusanus ein germanischer Gott, obwohl auch die Bedeu­ tung seines Epithetons sich nicht mit Sicherheit feststellen läßt. Einige Religionshistoriker sehen auch in Donar einen Neuling unter den germanischen Göttern. Sie halten ihn für einen ur­ sprünglich keltischen Gott, nämlich Taranis oder Tanaros. Über­ zeugende Beweise für diese These lassen sich aber nicht beibrin­ 114

gen. Bei Donar haben wir es vielmehr mit einem uralten germani­ schen Gott zu tun, wie Ljungberg neulich noch ausdrücklich nach­ gewiesen hat. Es ist sehr gut möglich, daß wir schon in der Bronze­ zeit Spuren eines gleichgearteten Gottes antreffen. Die zahlreichen Männerfiguren der Felszeichnungen, die mit Beilen und Äxten be­ waffnet sind, und namentlich die Träger von Riesenäxten, wie auch die vielen Abbildungen einzelner Äxte (wie etwa im Grabe

Abb. 5 Felszeichnung des «Hammergottes».

von Kivik), deuten wahrscheinlich auf die Verehrung eines Gottes hin, der durch eine Streitaxt versinnbildlicht wurde oder eine solche Waffe als Attribut hatte. Auch die zahlreichen Opfer von Beilen und Äxten, die bis in die Steinzeit zurückreichen, gestatten die Annahme, es handle sich hier um einen sehr alten Brauch. Kuhn mahnte in diesem Fall zur Vorsicht: in der späteren Literatur des Nordens ist Thor immer mit einem Hammer bewaffnet, nie­ mals mit einem Beil oder einer Axt. Nach Kuhns Auffassung ver­ tritt der nordische Thor einen primitiveren Zustand. Diese 115

Schwierigkeit ist aber nicht unüberwindlich. Unter Donars indo­ germanischen Verwandten gibt es solche, die mit Äxten oder Bei­ len bewaffnet sind, während andrerseits auch der Hammer ein sehr verbreitetes Attribut des Donnergottes ist. Das Problem wird noch einfacher, wenn wir von einer ursprünglichen Doppelaxt aus­ gehen (vgl. die minoische Labrys). Eine solche symbolische Axt kann, beim Verschwinden der Waffe aus dem täglichen Gebrauch, zum Hammer geworden sein. Bei den Felszeichnungen trifft man übrigens manchmal Gestalten an, die einen Gegenstand in der Hand haben, der sich am besten als Hammer deuten läßt (Abb. 5); doch gestatten es uns diese Zeichnungen nicht, um den «Gott mit dem Hammer» der Bronze­ zeit eine zusammenhängende Mythologie zu rekonstruieren, die den Kern von Thors Heldentaten bilden könnte. Im Norden wird aber der Hammer als religiöses Symbol noch ein spätes Wieder­ aufleben kennen (vgl. S. 120). Über den Kult in der römischen Zeit wissen wir auch nichts an­ deres als das, was Tacitus mitteilt: Hercules erhielt bloß «erlaubte» Opfer (vom römischen Standpunkt, also: keine Menschenopfer). Er wurde in heiligen Wäldern verehrt. Sein Name steht mit Ru­ nenzeichen in einer bei Nordendorf gefundenen Schnalle einge­ ritzt: Wigiftonar (ungefähr 600 n.Chr.). Wigithonar ist entweder ein kultischer Name Donars, der den altnordischen Thornamen Weor (altnord. Veorr) und VTlngthor (Vingporr) entspricht und «Weihe-Donar» oder «weihender Donar» bedeutet, oder aber es ist eine Anrufung des Gottes in der Art der Formelporr wigi «Thor weihe (diese Runen oder diesen Stein)», die auf einigen dänischen Runensteinen vorkommt. Die erste Erklärung ist vielleicht die wahrscheinlichere, aber das Endergebnis ist im Grunde das gleiche: Donar spielte eine Rolle bei der kultischen Verwendung der Runen. Im übrigen wissen wir über die Verehrung Donars auf dem Festland viel zu wenig, um mit Helm einen Versuch unter­ nehmen zu können, die Ausdehnung seines Kultes zu schildern. In England war der Name dieses Gottes Thunor. Er kommt ver­ schiedentlich in angelsächsischen Ortsnamen vor: punoreshlaw, punorsiege, punresfeld usw. (Vgl. die jetzigen Namen Thurstable, Thundersley, Thunderfieid und Karte Nr. 1). Auf dem Festland hat 116

man seinen Namen auch in einigen «Donarbergen» zu entdecken geglaubt, doch ist es nicht unmöglich, daß die eine oder andere dieser Höhen einfach ein «Donnerberg» ist. Festeren Boden betre­ ten wir mit der bereits erwähnten altsächsischen Abschwörungs­ formel, mit der der Täufling Thunaer als ersten seiner früheren heidnischen Götter abschwören mußte. Wir sahen bereits, daß diese erste Stelle in der Aufzählung nicht unbedingt bedeuten muß, daß die Sachsen Donar als ihren Hauptgott anerkannt hätten. Abgesehen von dem, was Tacitus durch seine Verwendung des Namens Hercules indirekt andeutet, sind von Donar, außer im Norden, keine Mythen erhalten geblieben. Wohl ist uns einiges über seine Verehrung bekannt. In der kirchlichen Literatur wer­ den Opfer an Jupiter, d. h. Donar, wiederholt verboten. Man brachte ihm vor allem bei gewissen Steinen, Bäumen und Quellen Opfer dar. Einige dieser Bräuche scheinen eine sehr lange Lebens­ dauer gehabt zu haben. So hörte noch Papst Gregor III. (731-741) von einem Priester, der die Duldsamkeit so weit trieb, daß er zu­ sammen mit seinen halb heidnischen Nachbarn Donar Opfer dar­ brachte und nachher sogar vom Fleisch des Opfertieres aß. In der nordischen Überlieferung, die wieder viel reicher als die südliche ist, hieß der Gott Thor (ßörr). Aus mythologischen Ge­ dichten und Skaldenkenningen wissen wir, daß er der Sohn Odins und der Erdgöttin Jörd war. Seine drei Kinder, Magni, «Stärke», Modi (Moßi), «Mut» und Thrud (ßrüpr), «Kraft», waren Verkör­ perungen seiner außerordentlichen Kraft und seines Mutes. Nur der erste Sohn spielt eine Rolle in den Mythen, nämlich als der Rächer seines Vaters. Thors Lebensaufgabe bestand hauptsächlich darin, die Welt der Götter (und gleichzeitig die der Menschen) gegen die Riesen und Ungeheuer zu verteidigen, welche die Ordnung, den Frieden und sogar die Existenz dieser Welt bedrohten. Von seiner alten Funk­ tion eines Donnergottes (die sich ganz gut mit der eines Riesen­ töters vereinigen ließ), hat er unverkennbare Züge bewahrt. Sein Name selber, Donar, Thor, erinnert noch an jene Rolle: ursprüng­ lich bedeutete er ja «der Gott, der donnert». Daraus ergibt sich noch nicht ohne weiteres, daß er anfänglich ein Naturgeist gewe­ sen sei, der später seine Tätigkeit auch auf andere Gebiete ausge-

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dehnt hätte. Er war einfach der Gott, der im Donner seine Macht offenbarte. Laut altnordischen Quellen ist es Thors Hammer, der Donner und Blitz erzeugt; der Lärm des Gewitters wird durch das Geratter seines Ziegenbockwagens noch erhöht. So wurde er auch dargestellt. Im Gudbrandstal gab es einen Tempel mit einer Thorstatue auf einem von Böcken gezogenen Wagen; zu beiden Seiten dieser Statue befanden sich diejenigen der Göttinnen Irpa und Thorgerd Holgabrud. Gerade dieses Ziegenbockwagens wegen wurde der Gott zuweilen «Wagenthor» genannt; diesen Namen kennt der Skalde Kormak schon im neunten Jahrhundert. Es gibt einen My­ thus, der einen bedeutungsvollen, mit den Zugtieren von Thors Wagen zusammenhängenden Zwischenfall schildert. Dieser My­ thus ist aber nur in einer ziemlich romantisierten Version erhalten geblieben, die Snorri in seiner Edda aufzeichnete. Eines Abends suchte Thor Unterkunft bei einem Bauern (laut dem Hymirlied war es bei einem Riesen). Um einen Beitrag zum Abendmahl zu liefern, schlachtete er seine beiden Böcke und setzte sie seinem Gastgeber und dessen Familie vor. Die abgenagten Knochen sollten sie auf die ausgebreiteten Felle werfen. Der Sohn des Bauern spaltete aber einen Knochen, um das Mark herauszuholen. Vor seiner Abreise am nächsten Morgen schwang Thor seinen Hammer über die Häute mit den Knochen: auf einmal standen die Böcke wieder le­ bendig da, doch einer der beiden lahmte. Da forderte Thor wü­ tend, der Bauer solle ihm seinen Sohn und seine Tochter als Die­ ner abtreten. In diesem Mythus haben De Vries und andere eine Anspielung an ein germanisches Bockopfer gesehen, nach Art der Opfer, die Indra, Zeus und Jupiter dargebracht wurden. Wie dem auch sei, der Bock war ein ständiges Attribut Thors. Auf einzelnen Brakteaten ist ein Mann mit einem Bock abgebildet, der offenbar Thor darstellen soll. Der schon früher erwähnte «Gott mit dem Hammer» der Bronzezeit wurde manchmal mit Bockshörnern ver­ sehen. Wir haben es hier offensichtlich mit einer sehr alten Vor­ stellung zu tun. Zugleich bringt dieses Attribut Thor in eine ge­ wisse Beziehung zu dem Gott Heimdal, der mit einem Horn tötete (oder getötet wurde). Es ist wohl kein Zufall, daß auch dieser sonst wenig bekannte Gott einen Zugang zur Götterwelt bewachte (vgl. S. 164).

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Die Stellung Thors in der Götterfamilie ist nicht ganz klar. In den Texten nimmt Odin unbestritten den ersten Platz ein, doch scheint im täglichen Leben Thor vielfach im Mittelpunkt zu stehen. Nicht nur wurde er, wie sich aus den Sagas ergibt, in späteren Zei­ ten häufiger verehrt als Odin, und kam auch sein Name viel öfter in Orts- und Personennamen vor; sondern auch in Tempeln scheint er die wichtigste Stelle eingenommen zu haben. Im bereits erwähnten Tempel im Gudbrandstal stand sein Bild zwischen de­ nen zweier Göttinnen (von denen aber eine, Thorgerd Holgabrud, in einem sich dort abspielenden Ereignis die Hauptrolle spielt); in Uppsala waren «Wodan» und «Fricco» ihm unterstellt. Nach ande­ ren Berichten in den Sagas gab es auch anderswo in Norwegen und auf Island Tempel, die Thor geweiht waren. Offenbar nahm er im Hauskult ebenfalls einen bedeutenden Platz ein. Er war oft auf den Hauptpfeilern des Hauses abgebildet, die beim Ehrenplatz öder «Hochsitz» standen und die Dachbalken stützten. Wahr­ scheinlich hatte man, wie bei den pfähl- oder stammförmigen Göt­ terbildern der Bronzezeit und der frühen Eisenzeit, in diese Hoch­ sitzpfeiler ziemlich rudimentäre menschliche Züge geschnitzt. Welche Rolle diese Pfeiler im Hauskult spielten, wissen wir nicht; wohl aber wissen wir, daß sie bei der Besiedelung Islands die Wahl neuer Wohnsitze bestimmten. Beim Verlassen ihrer alten Wohn­ stätten in Norwegen brachen die Auswanderer häufig ihre Häuser ab und nahmen das Holz, oder jedenfalls die Hauptpfeiler als Bau­ material mit. Kam Island in Sicht, so warfen manche ihre Haupt­ pfeiler über Bord und suchten nach der Landung die Stelle, wo «Thor» ans Land geschwemmt worden war. An dieser Stelle ließen sie sich dann nieder, denn es war der Gott selber, der ihnen den neuen Wohnort zugewiesen hatte. Der Norweger Thorolf Mosterbart war solch ein mustergültiger Verehrer Thors: «Hrolf war ein mächtiger Häuptling... Er verwaltete einen Thortempel und war ein großer Thorsfreund. Deshalb nannte man ihn Thorolf (d. h. Thor-Hrolf)... Thorolf Mosterbart veranstaltete ein großes Opfer­ fest und frug seinen geliebten Freund Thor um Rat, ob er sich mit dem Könige verständigen oder aus dem Lande ziehen und woan­ ders sein Heil versuchen solle. Des Gottes Bescheid aber wies Thorolf nach Island. Und darauf verschaffte er sich ein großes See­

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schiff und rüstete dieses für die Islandfahrt aus... Er ließ den Tem­ pel abbrechen und führte den größten Teil des Holzes, aus dem er bestand, mit fort, außerdem die Erde unter dem Altarplatze Thors. Darauf stach Thorolf in See. Er hatte guten Fahrwind, sah Land und fuhr an der Südküste entlang... Da legte sich die Brise, und sie sahen nun, wie zwei breite Buchten ins Land einschnitten. Da warf Thorolf die Hochsitzpfeiler über Bord, die in seinem Tempel ge­ standen hatten. In den einen von diesen war ein Bild von Thor ge­ schnitzt. Er erklärte dabei, daß er sich dort auf Island ansiedeln wolle, wo Thor die Hochsitzpfeiler an Land kommen ließe. Und als sie vom Schiff abgetrieben waren, schwammen sie nach dem Fjord, der am meisten nach Westen lag, und das schien ihnen über Erwarten schnell zu gehen... Thorolf ging im Süden des Fjords ans Land und ließ sein Schiff in der Bucht anlegen, die man später Tempelbucht nannte. Darauf durchforschten sie das Land und ent­ deckten, daß das Thorsbild an einem weiter seewärts gelegenen Vorgebirge im Norden der Bucht mit den Hochsitzpfeilern an Land getrieben war. Die Stelle nannte man später Thorsspitz. Dar­ auf umging Thorolf sein Land mit Feuer (um es formell in Besitz zu nehmen) von der Mündung der Stabach bis zu einem Flusse, den er Thorsach nannte... Er legte ein großes Gehöft bei der Tem­ pelbucht an, das er Tempelstadt nannte. Dort ließ er einen Tempel aufführen. Das war ein gewaltiges Gebäude... Dort aber, wo das Thorsbildnis ans Land gekommen war, ließ er alle Gerichtsver­ sammlungen abhalten und legte dorthin ein Bezirksthing.» Bei der Geburt seines Sohnes widmete Thorolf ihn seinem Gott und nannte ihn Thorgrimm. Nicht jeder Auswanderer ließ sich von diesem Gottesurteil lei­ ten. Im Falle eines gewissen Hreidar aber kommt ein noch tieferer Glaube zum Ausdruck. Als Island in Sicht kam, sagte er, er werde seine Hochsitzpfeiler nicht über Bord werfen, denn es habe seiner Meinung nach keinen Sinn, auf Grund dieses Orakels einen Be­ schluß zu fassen. Er wolle lieber Thor selber anrufen, damit der ihm Land anweise. Thor war also für das Wohl von Haus und Familie unmittelbar verantwortlich; von allen Göttern stand er dem Menschen am nächsten. Es gibt unzählige Beispiele des Ver­ trauens, das man in ihn setzte. Noch nach der Bekehrung Islands

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dichtete der Skalde Thorhall, der am alten Glauben festhielt, in einer Notzeit ein Lied zu Ehren Thors; darauf wurde ein Walfisch ans Land geschwemmt, der die Bevölkerung vor einer drohenden Hungersnot rettete. Thorhall drückte sein Vertrauen zum Gott in einem Gedicht aus: «Erwies sich der Rotbart ( — Thor) nicht als zuverlässiger denn euer Christus? Dies erhielt ich als Belohnung für das Lied, das ich auf Thor dichtete, auf den Gott, der mich schützt und für mich kämpft. Nur selten enttäuscht er mich.» Da­ her konnte Thor in ein besonders vertrauliches Freundschaftsver­ hältnis zu den Menschen treten. Er hieß «der Freund der Men­ schenscharen»; er war der «vertraute Freund» Thorolf Mostrarskeggs. In der Saga von Olaf Tryggvason heißt es, dieser König habe einmal einen Mann zu überreden versucht, sich zum Christen­ tum zu bekehren; er erhielt von ihm folgende Antwort: «Es sagt mir nicht zu, den Glauben abzuschwören, den ich bisher hatte und den mich mein Pflegevater lehrte. Man kann nicht behaupten, daß unser Gott Thor, der in diesem Tempel wohnt, wenig vermöchte; denn er sagt die Zukunft voraus, und in Zeiten der Not kann ich mich unbeschränkt auf ihn verlassen. Deshalb will ich die Freund­ schaft zwischen ihm und mir nicht abbrechen, solange er mir treu bleibt.» Einen Beweis für Thors außerordentliche Beliebtheit dür­ fen wir darin sehen, daß von den etwa 4000 Personennamen, die uns aus der ersten Zeit der isländischen Geschichte bekannt sind, annähernd tausend vom Namen dieses Gottes abgeleitet sind. Auch stehen den ungefähr zwanzig isländischen Ortsnamen, in denen der Name Thor vorkommt, nur drei 'mit Freyr, zwei mit Balder und Njörd und einer mit Tyr gegenüber. Das besonders innige, persönliche Verhältnis zu einem bestimm­ ten Gott kommt zwar erst in späten Quellen vor, doch dürfen wir annehmen, daß Donar-Thor immer als ein schützender, helfender Gott gegolten hat. In Uppsala brachten die Schweden ihm in Zei­ ten von Hungersnot und Krankheit Opfer dar. Man flehte ihn auch um gute Ernten an, denn er herrschte über Wind und Wetter. Diese Rolle eines Beschützers der Menschen war bloß die natür­ liche Folge seiner Lebensaufgabe, die darin bestand, die Welt der Götter zu schützen. Er kämpfte unermüdlich gegen die Mächte, welche die Weltordnung bedrohten, gegen Riesen und Unge­ 121

heuer. Es geht wie ein Leitmotiv durch die ganze nordische My­ thologie: «Thor war im Osten, um die Riesen zu bekämpfen», oder: «Thor kam eben von einem Feldzug gegen die Riesen zu­ rück. » Immer wenn er abwesend war, waren die Götter auffallend machtlos. Er allein war imstande, der chronique scandaleuse Lokis ein Ende zu machen, als dieser die Götter einen nach dem andern ver­ höhnte; ihn allein fürchtete der Riese Hrungnir, der vor seiner Rückkehr geprahlt hatte, er werde Walhalla in die Riesenwelt ver­ setzen und alle Äsen, mit Ausnahme von Freyja und Sif, töten: die beiden Göttinnen wollte der Riese lieber mit sich nehmen. Eine stereotype Kenning für Thor ist «Riesentöter»; in der altnordi­ schen Poesie kommen mehr als vierzig verschiedene Umschrei­ bungen dieser Art vor. Aus Andeutungen und Kenningen geht hervor, daß Thor der Held unzähliger Abenteuer gewesen sein muß, die uns nicht überliefert sind. Im «Harbardlied» zählt er sel­ ber einige seiner Heldentaten auf:

Ich erschlug Thjazi, den trutzgewalt’gen Riesen, warf empor die Augen von Alwaldis Sohn an den heiteren Himmel. Das ist das mächtigste Mal meiner Taten, das jedermann seitdem sieht...

Ich war im Osten und schlug Riesenvolk tot, böse Weiber, die zum Gebirge schritten; überstark würden die Riesen, wenn sie alle lebten; Ausgetilgt würden die Menschen in Mittgarts Reich... Im Osten war ich, das Ufer schirmte ich, als mich Swarangs Söhne bestürmten. Mit Steinen warfen sie mich, des Straußes wurden sie doch nicht froh, sie mußten mich bald bitten um Frieden...

Berserkerweiber bracht’ ich auf Hlesey um; sie hatten’s gar toll getrieben, getötet alles Volk. (Harbardlied 19, 23, 29, 37)

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Einige seiner Abenteuer muten eher wie Märchen als wie My­ then an; von ihrer religiösen Grundlage ist oft kaum mehr etwas zu verspüren. Ein paar Geschichten weisen dagegen derart primi­ tive Züge auf, daß sie sehr wohl bis in eine ferne Vergangenheit zurückreichen, oder zumindest eine Verarbeitung alter Motive sein können. Einige bezeichnende Episoden seien hier kurz zu­ sammengefaßt. Auf einer Reise nach Jötunheim, der Riesenwelt, fanden Thor und seine Reisegefährten Unterkunft in einem sonderbaren Ge­ bäude mit einem kleinen Nebenraum. Als es Tag wurde, bemerk­ ten sie, daß das Haus tatsächlich ein Fausthandschuh des Riesen Skrymir war; der Nebenraum war bloß der Raum für seinen Dau­ men. Beim geheimnisvollen Utgarda-Loki («Loki der Außenwelt», d. h. Herrscher über die Welt der Dämonen) erging es ihnen schlech­ ter: in einer Reihe von Kraftproben wurden sie immer wieder be­ siegt. Am nächsten Morgen stellte sich heraus, daß alles nur Sinnes­ täuschung gewesen war. Das Ende des Trinkhorns, das Thor ver­ geblich zu leeren versucht hatte, lag im Meer; beim Trinken hatte der Gott zwar seine Aufgabe nicht erfüllt, aber immerhin die Ebbe herbeigeführt. Es hatte auch einen Wettlauf gegen einen Diener Utgarda-Lokis gegeben, der Hugi, «Gedanke», hieß und natürlich siegte; denn wer ist so schnell wie der Gedanke? Solche Wort­ spiele und teleologische Betrachtungen deuten darauf hin, daß wir es hier mit Erdichtungen jüngeren Datums zu tun haben, die auf Rätseln und Volksweisheit beruhten (z. B. Wer verursacht die Ge­ zeiten? Wer läuft schneller als Loki?). Der Mythus von Hrungnir enthält einige archaische Elemente. Hrungnir war ein Riese mit einem steinernen Herzen, das «drei umgeknickte Spitzen» hatte (daher ist «Hrungnirs Herz» der Name eines symbolischen Zeichens, das beispielsweise auf den Grabstei­ nen von Lärbro vorkommt, vgl.Tafeln22; 23). Er trug einen steiner­ nen Schild und war mit einem Wetzstein bewaffnet. Letztere Waffe ist uns verständlicher, seit man im Schatz eines angelsächsischen Königs aus dem siebenten Jahrhundert einen großen, geschmück­ ten, «zeremoniellen» Wetzstein entdeckt hat, der wohl eine Art Zepter war (Grab von Sutton Hoo, vgl. S. 204). Hrungnir hatte gedroht, er werde die Götterwelt vernichten; Thor aber wußte ihn I2J

zu besiegen, nicht zuletzt dank einer List seines Dieners Thjalfi. Dieser ging nämlich zu Hrungnir und meldete ihm, sein Herr werde nicht vom Himmel herab, sondern von unten her, aus der Erde, anrücken. Um diese Gefahr abzuwenden, stellte sich der Riese auf seinen Schild. Thor aber kam dennoch aus dem Himmel, und so gelang es ihm, Hrungnir zu töten. Doch geriet er dabei selber in eine sehr heikle Lage: ein Stück von Hrungnirs Wetzstein drang ihm in den Schädel, und als er zu Boden fiel, bekam er einen Fuß des hinstürzenden Riesen auf den Nacken. Niemand ver­ mochte ihn zu befreien, bis es schließlich seinem damals erst drei Tage alten Sohn Magni gelang. Die Zauberin Groa ver­ suchte dann, mittels einer Beschwörung den Steinsplitter aus sei­ nem Kopfe zu entfernen, aber der Gott lenkte ihre Aufmerksam­ keit einen Augenblick ab, und da vergaß sie den Wortlaut der Zauberformel. So muß Thor bis ans Ende der Welt diesen Splitter im Kopf behalten. Die eigentliche Bedeutung dieses Mythus ist schwer verständlich, aber Motive wie Hrungnirs Steinwaffe und der Splitter in Thors Kopf beruhen wohl auf sehr alter Überliefe­ rung. Hier ist Thor ganz und gar Donnergott, wie auch in seinem Abenteuer mit dem Riesen Geirröd, als er und sein Gegner einan­ der mit «glühenden Eisenstücken» zu Leibe rückten. Eine Expedition zum Riesen Hymir verlief besser als die zu Utgarda-Loki, obwohl Thor auch bei Hymir einen Augenblick in die Enge getrieben wurde. Die Äsen hatten dem Meergott Ägir auf­ getragen, ihnen ein Festmahl zu bereiten; da er aber keinen Brau­ kessel besaß, konnte er ihnen keinen Trank besorgen. Tyr glaubte, sein Vater, der Riese Hymir, besitze mehr als einen geeigneten Kessel, und so zog er mit Thor los, um sich einen zu beschaffen. Bei ihrer Ankunft mußten sie sich zunächst unter einem Bottich verstecken, aber später beim Abendmahl zeigte Thor seine wahre Art: zu Hymirs Mißvergnügen verschlang er ganz allein zwei gebratene Ochsen. Als Thor und Hymir am nächsten Tag zum Fischfang ausfuhren, nahm der Gott den Kopf von Hymirs schön­ stem Stier als Köder, und da biß die Weltschlange an. Das Ringen zwischen dem Gott und dem Ungeheuer war aber so entsetzlich, daß Hymir vor Schrecken Thors Angelschnur entzweihieb. Bei ihrer Rückkehr unterzog er den Gott noch einigen Kraftproben 124

(es gelang Thor, einen scheinbar unzerbrechlichen Becher zu zer­ schmettern, indem er ihn dem Riesen an den Kopf schleuderte), und zum Schluß mußte Thor selber den riesigen Braukessel fort­ tragen :

Modis Vater faßt ihn am Rand, hindurch schritt er die Diele lang; auf die Stirn stülpte der Starke ihn: an den Knöcheln klirrten die Kesselringe. (Hymirlied 35)

Natürlich tötet dann der Gott auf der Heimreise noch eine Anzahl Riesen, die ihm den Kessel wieder entreißen wollen. Ursprünglich sah die Hymir-Episode wahrscheinlich anders aus : Tyr hatte gewiß anfänglich eine größere Rolle als die eines unbe­ deutenden Führers. Dumézil hat auf die große Ähnlichkeit zwi­ schen dem Mythus des indischen Unsterblichkeitstrankes und dem des germanischen Göttertrankes hingewiesen (was zugleich die Ursprünglichkeit gewisser Elemente, wie das Holen des Kessels bei einem Meergott oder Riesen, beweist; vgl. S. 126). In einer anderen Geschichte spielt Thor zwar die Hauptrolle, doch wurde hier der Göttertrank offenbar durch die geliebte Waffe des Gottes, seinen Hammer Mjöllnir («Mahler, Zermalmer») ersetzt, der ge­ wöhnlich wie ein Bumerang in seine Hände zurückkehrte. Einmal aber wurde ihm dieser Hammer, während er schlief, vom Riesen Thrym geraubt, und bloß mittels einer wenig ruhmvollen List, die er übrigens nicht selber erdacht hatte, gelangte Thor wieder in den Besitz seiner Waffe. Thrym wollte den Hammer nämlich nur unter der Bedingung zurückerstatten, daß er Freyja als Braut erhalte. Die Göttin war dieser Heirat aber völlig abhold, und da schlug Heimdal vor, Thor solle sich als Braut verkleiden und so den Riesen hinters Licht führen. Die Szene, die seine Ankunft bei Thrym beschreibt, ist einfach köstlich; zum Glück weiß die schlaue «Die­ nerin» Loki den hin und wieder auftauchenden Argwohn des Rie­ sen zu zerstreuen, bis Thor seinen Hammer wieder in den Händen hat und sich blutig rächt. Das «Thrymlied» ist zweifelsohne sehr jungen Datums, aber wiederum kommt eine ähnliche Episode im 125

Mythenzyklus des indischen Göttertrankes vor, und diesmal ist die Übereinstimmung noch viel auffallender. Auch dort haben die Feinde der Götter den Unsterblichkettstrank, das unentbehrliche Mittel zur Instandhaltung der Götterwelt, geraubt (vgl. Mjöllnirl). «Der Trank wird zurückgewonnen, indem sich der Gott Vishnu als Frau verkleidet und zusammen mit einem anderen Gott zur Welt der Asuras geht. Diese sind dermaßen von Liebe betört, daß sie der Scheingöttin den Unsterblichkeitstrank aushändigen, worauf Vishnu sich damit rasch aus dem Staub macht. Die Berüh­ rungspunkte mit dem Mythus von Thor sind so treffend, daß diese Mythen offenbar in den gleichen Zusammenhang gehören. Nur ist dieser Teil des Mythus anscheinend selbständig geworden, was es ermöglichte, nicht mehr den Met, sondern Thors Waffe zum Ziel der Expedition zu machen» (De Vries). In der spätheidnischen Zeit erscheint Thors Hammer deutlich als ein religiöses Symbol. Er wurde auf Runensteinen dargestellt und als Amulett getragen (Tafeln 14; 15). Hierin dürfen wir eine bewußte Reaktion gegen das Christentum sehen. Wie die Christen ein Kreuz als Symbol ihres Glaubens an ihren Erlöser trugen, so erhoben die Verteidiger der germanischen Religion das Attribut des Gottes, der ihre Welt beschützte, zum Zeichen ihres Widerstandes. In der Bronzezeit wurden ähnliche Miniatur¿>«7f¿w als Amulette getragen. Es wäre deshalb bestechend, in den spätem Thorshämmern eine direkte Fortsetzung jenes alten Brauches zu sehen. Aber wegen des Fehlens etwaiger Zwischenglieder scheint diese Auffassung doch unwahrscheinlich. Nebenbei sei noch be­ merkt, daß «Thorshammer» laut einem isländischen Zauberbuch des sechzehnten Jahrhunderts auch der Name eines magi­ schen Zeichens war, das zur Auffindung von Dieben benutzt wurde. Es gleicht aber mehr einem Hakenkreuz als einem Thors­ hammer der Wikingerzeit. Im Zusammenhang mit der religiösen Bedeutung von Thors Hammer stellt uns ein Passus in Snorris Heimskringla vor ein eigen­ artiges Problem. König Hakon der Gute mußte, ganz wider seinen Willen, an einem heidnischen Trankopfer teilnehmen. Jarl Sigurd, der ihn begleitete, hatte Odin bereits einen Becher gewidmet. «Dann nahm der König das Horn und machte das Zeichen des

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Kreuzes darüber. Da sprach Kar aus Gryting:, Wie tut der König so? Will er etwa nicht mehr opfern?“ Jarl Sigurd erwiderte: ,Der König macht es so wie alle, die an ihre eigene Macht und Stärke glauben und ihren Becher für Thor segnen. Denn er machte das Hammerzeichen über den Humpen, bevor er trank.“» Der Verfas­ ser scheint die genaue Tragweite des Ausdrucks «an eigene Macht glauben» nicht erfaßt zu haben. In anderen Texten bedeutet dieser Ausdruck immer, daß der Mensch einzig in sich selbst Vertrauen setzt, weil er an die alten Götter nicht mehr glaubt. Aus Snorris Beschreibung jedoch hat beispielsweise De Vries geschlossen, das Segnen mit Thors Zeichen, dem Hammer, sei ein uralter Brauch; er nahm dies um so eher an, als die Lappen ein ähnliches Zeremo­ niell kannten. Die Frage Kars beweist aber, daß es kein allgemein bekannter Brauch war. Wenn man in der altnordischen Literatur auf den Ausdruck signa full, «den Becher segnen», stößt, so kann dieser Ausdruck nicht sehr alt sein, ist doch signa ein spätes, dem Latein entnommenes Lehnwort, während signa full bloß eine an­ dere Wendung ist für heIga full, «den Becher heiligen, weihen». Dieser letzte Ausdruck wird zwar alt sein, impliziert aber nicht unbedingt eine bestimmte segnende Bewegung mit der Hand, sondern eher das Aussprechen einer Segensformel. Wenn es eine «Segnung mit Thors Hammer» tatsächlich gegeben hat, so war es bloß eine heidnische Nachahmung des christlichen Kreuzzeichens. Die Segnung mit einem Amulett in Form eines Hammers, die im «Thrymlied» erwähnt wird, muß in gleicher Weise gedeutet wer­ den. Ein weniger bekanntes Attribut Thors war die Eberesche. Wenn wir Snorri glauben dürfen, hieß dieser Baum «Thors Ret­ tung», weil sich der Gott einmal an einem Ebereschenstamm aus einer jäh ansteigenden Sturzflut hochgezogen hatte. Die Eber­ esche spielte eine gewisse Rolle in der Magie; die Bauern brauch­ ten sie nämlich, um die Fruchtbarkeit ihres Viehes zu fördern. Sie hatten selbstverständlich großes Vertrauen zum Baum, der einmal ihren Schutzgott gerettet hatte. Als Symbole seiner außerordentlichen Körperkraft besaß Thor einen Gürtel, der diese Kraft noch erhöhte, und auch ein Paar Eisenhandschuhe (ein jüngeres Motiv?). Alles kennzeichnete ihn

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als den außerordentlich starken Gott, und so haben sich die Ger­ manen Thor auch vorgestellt: als eine gesunde, unkomplizierte Natur, jähzornig, aber gutmütig, mit einem unersättlichen Hunger und einem unstillbaren Durst, grundehrlich, aber vielleicht nicht allzu gescheit. Die Berichte über seine Geistesgaben widerspre­ chen sich eigentlich. In einigen Mythen oder Märchen, die wir be­ reits anführten, legt Thor nicht eben viel Einsicht an den Tag. Andrerseits gibt es aber unzweideutige Hinweise auf seinen Ver­ stand und Scharfsinn. In einem Rätselwettkampf besiegte er sogar den Zwerg Alwis («Alleswisser») durch eine List: mit immer neuen Rätseln hielt er ihn so lange hin, bis der Zwerg von der aufgehen­ den Sonne in einen Stein verwandelt wurde. Wenn dies nun viel­ leicht eine späte Erdichtung ist, die den Rahmen für eine Erörte­ rung mythologischer Wissenswürdigkeiten lieferte, so kann aber auch die Dummheit, die man Thor manchmal vorwirft, ganz gut späteren Datums sein. Der Nachdruck, mit dem unsere Quellen diesen Mangel gelegentlich betonen, läßt sich zweifellos aus ihrem sozialen Zusammenhang erklären. Viele unserer Quellen über die germanischen Götter sind durch die Überzeugung gefärbt, daß Odin der bedeutendste Gott sei; hat doch die soziale Schicht, die ihn als solchen anerkannte, unsre Quellen am meisten beeinflußt. Für diese Leute galten die Verse: Das Knechtsvolk hat Thor, doch die Könige hat Odin, die da fallen im Feld. (Harbardlied 24)

Ein gewisser Gegensatz zwischen Odin als Gott der Krieger und Thor als Gott der Bauern läßt sich zweifellos feststellen. Die Män­ ner, die sich den zentralisierenden Bestrebungen der norwegischen Könige entziehen wollten, hielten Thor in hohen Ehren, die Skal­ den aber standen sowohl als Höflinge wie als Dichter auf Seiten Odins. Da die Kreise, die Odin am meisten verehrt hatten, auch als erste zum Christentum übergingen, wurde nicht Odin, sondern Thor zum letzten Verteidiger des Heidentums, zumindest im We­ sten des nordischen Gebietes. Diese Kristallisierung des heidni­ schen Widerstandes um Thor ist aber auch die einzige Entwick­ lung, die wir bei dieser Figur feststellen können. Nirgends findet 128

sich ein Anhaltspunkt für die Annahme, daß der Thor des Nor­ dens in irgendeinem wesentlichen Punkt vom Donar der südlichen Germanen verschieden gewesen wäre, oder daß sein Kult in den verschiedenen Gegenden des Nordens wechselnde Züge aufgewie­ sen hätte. Die Karte mit den englischen theophoren Ortsnamen gibt einen Begriff von der Verbreitung seines Kultes bei den An­ gelsachsen (vgl. S. 38: die Namen mit Thunor); in Skandinavien sind sie noch zahlreicher.

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DER ENTTHRONTE GOTT DES HIMMELS: TIW-TYR-ZIU

Wir brauchen keinen Augenblick zu bezweifeln, daß Wodan-Odin und Donar-Thor in der germanischen Götterwelt eine sehr wich­ tige Stellung eingenommen haben; viel schwieriger ist es aber, die Bedeutung des jetzt zu besprechenden Gottes zu bestimmen. Im Kult der Bronzezeit - wenigstens sofern wir ihn an Hand der Felszeichnungen rekonstruieren können - bildete die Verehrung der Sonne offenbar den Mittelpunkt; oder vielmehr, eine Gottheit, die sich in der Sonne offenbarte, wurde in jener Zeit besonders häufig verehrt. Wir fanden Sonnensymbole in Form von Kreisen oder Rädern unter den am meisten vorkommenden Motiven der Felszeichnungen und Schmuckstücke. Der Sonnenwagen von Trundholm vermittelte uns einen Begriff von der Form, die dieser Kult annahm. In historischer Zeit kannten die Germanen keinen spezifischen Sonnengott oder Himmelsgott mehr, es sei denn, wir dürften Cäsar glauben, wenn er den Germanen einen Gott Sol zu­ schreibt. Cäsars Bericht über die germanischen Götter ist aber zu ge­ drängt und steht zu isoliert da, als daß wir ihm viel Bedeutung beimes­ sen könnten. Der spätere skandinavische Gott Heimdal (vgl. S. 164) wohnt zwar inHiminbjörg,« den Himmelbergen», und ist« der glän­ zendste aller Äsen», doch wissen wir von ihm wiederum zu wenig, um ihn mit einem älteren Sonnengott identifizieren zu können; das gleiche gilt für Balder, der auch ein «glänzender Gott» ist. Auf Grund seines Namens dürfen wir im Gotte, der urgerma­ nisch Teiwa^, altenglisch Tiw, althochdeutsch Ziu und altnordisch Tyr hieß, die Fortsetzung eines indogermanischen Himmelsgottes sehen. Dieser Name ist nämlich verwandt mit dem des indischen Dyaus, des griechischen Zeus und des römischen Jupiter. Aber als Himmelsgott tritt er bei den Germanen nicht mehr auf, geschweige denn als höchster Gott. Diesen Ehrentitel trug einzig noch der regnator omnium deus, «der Gott, der alles beherrscht», der Semnonen - wenn wenigstens Tacitus mit dieser ziemlich unklaren Formel wirklich Tiw meinte. '

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In eine ganz andere Richtung zeigt der Name des dritten Tages der Woche, der nach Tiw benannt wurde: altenglisch Tiwesdag («Tag des Tiw»; englisch Tuesday), althochdeutsch Ziestac (von Ziu). Die Germanen betrachteten also ihren Tiwaz als Gegenstück zum römischen Mars {Martis dies, «Dienstag», = französisch mardi). Im deutschen Dienstag (und holländisch dinsdag) steckt eine volkstümliche Umbildung eines Namens, der nicht mehr ver­ standen wurde; dabei hat auch die Tatsache, daß gewisse Germa­ nen einen Mars Thincsus kannten, eine Rolle gespielt. Im Mittel­ niederländischen kommen Formen wie dinxdag, dinsendag vor, in heutigen Dialekten dijsdag, dijsendag. Auf Mars Thincsus kommen wir später zurück. Mit der Gleichstellung Mars = Tiw als Aus­ gangspunkt müssen wir zunächst Tacitus’ Bemerkungen über den germanischen Mars einmal näher betrachten. Mars erhielt nur Tieropfer, keine Menschenopfer; bei den Tenkterern, einem Volks­ stamm, der das rechte Rheinufer zwischen Sieg und Lahn be­ wohnte, war er der höchste Gott. Die Hermunduren und die Chat­ ten widmeten ihm einen Teil der Kriegsbeute. Bei anderen Auto­ ren aber stoßen wir mit unserer Gleichstellung auf Schwierigkei­ ten. Jordanes erzählt: «Die Goten versöhnten Mars immer mit den grausamsten Opfern, indem sie nämlich ihre Kriegsgefangenen töteten. Sie glaubten, den Herrn der Kriege am besten dadurch zu ehren, daß sie Menschenblut vergossen.» Auch bei Procopius steht zu lesen, die Goten hätten ihre ersten Kriegsgefangenen dem Ares geopfert, den sie als ihren höchsten Gott betrachtet hätten. Wir sahen aber schon früher, daß die interpretatio romana bzw. graeca nicht unbedingt überall zu den gleichen Ergebnissen geführt hat, und daß nichts uns hindert, in diesen Fällen eher an Wodan zu denken (vgl. S. 87). Der Mars der römischen Inschriften auf germanischem Gebiet ist auch nicht leicht zu erfassen; wir dürfen nämlich nicht verges­ sen, daß der römische Mars auch bei den Besatzungstruppen, na­ mentlich bei den Legionen der Provinz Germania Superior, treue Verehrer fand. Ein Mars Halamardhus wurde bei Horn in Limburg verehrt; man hat seinen Beinamen als «Helden- oder Männertöter» gedeutet (im Hinblick auf Menschenopfer, die ihm dargebracht wurden, oder einfach als Kriegsgott?), doch ist es gar nicht sicher, Bi

daß er ein germanischer Gott war. Größere Gewißheit erhalten wir mit Mars Thincsus, dem zu Ehren «cives Tuihanti cunei Frisiorum» (Twenter einer friesischen Heeresabteilung) beim Wall des Hadrianus im Norden Englands um das Jahr 230 ein paar Votivsteine er­ richteten. Sie gehörten zu den römischen Truppen, die England gegen Einfälle aus Schottland schützten. Das Epitheton Thincsus oder Thingsus leitet sich vom Worte Thing, «Thing, Volksversamm­ lung», her. Es soll wohl den Gott bezeichnen, der über die Volks­ versammlung wachte und ihr die richtigen Ratschlüsse eingab. Tiw war also schon in der Römerzeit nicht überall, oder wenig­ stens nicht ausschließlich ein Kriegsgott. Übrigens waren Thing und Krieg für die Germanen keine völlig verschiedenen Begriffe. Die Volksversammlung wurde mit einem religiösen Zeremoniell eröffnet und in einem heiligen Gottesfrieden abgehalten; aber auch der Krieg unterlag religiösen Vorschriften: die Götter mußten die Erlaubnis zum Kampf erteilen, und Sieg oder Niederlage war von ihrem Willen abhängig. Wodan unterrichtete persönlich seine Verehrer in der Kriegsführung und nahm aktiv an den Kämpfen teil. Es ist denn auch nicht verwunderlich, daß eine Feldschlacht ein « Schwertthing»oder ein «Waffenurteil»genannt werden konnte. Vom Namen des dritten Wochentages abgesehen, sind kaum irgendwelche südgermanischen Berichte über Tiw zu uns gelangt. Auf Grund des Namens einer der großen von Tacitus erwähnten Völkergruppen, der Hermionen, sowie auf Grund dessen, was Rudolf von Fulda (9. Jahrhundert) und Widukind von Corvey (10. Jahrhundert) über einen Gott Ermin oder Irmin zu berichten wußten, hat man geglaubt, in dieser hypothetischen Gottheit eine Variante des Gottes Tiw sehen zu dürfen. Hier bewegen wir uns aber auf dem Gebiet reiner Hypothesen, während auch die Gleich­ stellung des sächsischen Gottes Saxnot mit Tiw nicht auf ganz si­ cheren Gründen beruht (vgl. S. 160). Es hat vielmehr den An­ schein, als wäre Tiw schon sehr früh zu einem deus otiosus gewor­ den; was natürlich nicht heißen soll, daß er nicht einst der wich­ tigste Gott gewesen sein könnte. Dies wird uns auch aus den nor­ dischen Quellen klar werden. Bei den Skandinaviern war Tyr (Tyr aus einer älteren Form Titvar^Twa^) ebenfalls gänzlich in den Hintergrund gedrängt wor­ 132

den. Obwohl er in keinem der uns bekannten Mythen noch als Kriegsgott auftritt, galt er als äußerst tapfer; laut Snorri vermochte er sogar in Kriegszeiten den Sieg zu verleihen. Zweimal wird Tyr als Gegner eines ungeheuerlichen Wolfes oder Hundes genannt. Eines der Ungeheuer, die Loki bei der Riesin Angrboda erzeugt hatte, war der Wolf Fenrir (oder der Fenriswolf); Tyr war der einzige, der sich getraute, ihm sein Futter zu bringen. Fenrir aber wuchs so schnell, daß sich die Äsen vor ihm zu fürchten begannen; daher wollten sie ihn an eine starke Kette legen. Als sie endlich nach viel Mühe eine hinreichend starke Kette gefunden hatten, weigerte sich der Wolf, sich diese umlegen zu lassen. Da sollte einer der Götter dem Tier die Hand ins Maul legen, zum Zeichen, daß man es gut mit ihm meine. Es war Tyr, der als einziger den Mut dazu hatte. Als aber der Wolf spürte, daß er tatsächlich gefan­ gen war, biß er Tyrs Hand ab. Daher heißt dieser Gott «der ein­ händige Ase». Es ist aber auffallend, daß «Der Seherin Gesicht» (40) von einem Wolf erzählt, der die Sonne verschlingen werde:

Eine Alte östlich im Erzwald saß; die Brut Fenrirs gebar sie dort. Von ihnen allen wird einer dann des Taglichts Töter, trollgestaltet.

Im «Wafthrudnirlied» (Str. 46) sagt Odin selber, Fenrir werde die Sonne töten, und in der skandinavischen Kosmologie sind es zwei Wölfe, welche die Sonne zu verschlingen drohen. Es ist denn auch nicht unwahrscheinlich, daß Tyr als Gegner Fenrirs noch gewisser­ maßen seine Rolle als Sonnengott fortsetzt. Übrigens wird er bei der Götterdämmerung erneut gegen ein Ungeheuer kämpfen müs­ sen, nämlich gegen den Riesenhund Garm, der sich losgerissen hat. Man kann darin schwerlich etwas anderes als eine Wiederholung des Fenrirmotivs sehen. Obwohl die Verstümmelung Tyrs nicht leicht zu erklären ist (man hat darin u. a. eine Spur einer Mond­ mythologie sehen wollen), stellt sie doch einen uralten Zug dar, ebenso wie Odins Einäugigkeit (die eigentlich auch unaufgeklärt bleibt), und der Steinsplitter in Thors Kopf. In der Geschichte des Göttertrankes wird Tyr ebenfalls völlig in den Hintergrund ge-

drängt. Es ist Thor, der den Göttern den Braukessel von Hymir (Tyrs Vater!) bringt; Tyr zeigt ihm nur den Weg. In seiner Zank­ rede weiß Loki nicht viel Gutes von Tyr zu erzählen: er, Loki, habe bei der Gattin Tyrs einen Sohn erzeugt und für diese Schmach nie ein Sühnegeld entrichtet. Eine Bestätigung von Tyrs Anteil an Krieg und Sieg ist noch im Lied der Walküre Sigrdrifa enthalten. Nachdem der Held Sigurd sie aus dem tiefen Schlaf erweckt hat, in den Odin sie als Strafe für ihren Ungehorsam versenkt hatte, gibt sie ihm eine Anzahl Richt­ linien für die Verwendung der Runen zu allerlei Zwecken. Die Strophen, die diese Richtlinien enthalten, sind zwar eine spätere Zutat, werfen aber gleichwohl ein Licht auf den Runengebrauch des Nordens: Siegrunen lerne, willst Sieg du haben! Auf den Schwertknauf schneide sie, auf die Blutrinne und des Rückens Breite Und ruf zweimal zu Tyr! (Die Erweckung der Walküre 6)

Sigurd erhält hier also den Rat, auf verschiedenen Teilen seines Schwertes Runen anzubringen, und zum Schluß zweimal eine tRune einzuritzen. Das Wort Tyr war nämlich nicht nur der Name des Gottes, sondern auch der der siebzehnten Rune im ursprüng­ lichen Runenalphabet (der zwölften im jüngeren skandinavischen Alphabet) (s. S. 210). Sigrdrifa meinte wohl, man müsse während des Einritzens den Namen des Gottes anrufen. Das altnorwegische Runengedicht nennt die t-Rune «den einhändigen Äsen», das altis­ ländische fügt noch hinzu: «und Speiserest des Wolfes» (eine er­ künstelte Kenning, eigentlich eine Anspielung auf das Abbeißen der Hand) und «Beschützer der Tempel» (ein Ehrentitel, der ihm nicht speziell zuzukommen scheint). Ein Brakteat, der auf der Insel Seeland gefunden wurde, weist ein Zeichen auf, das tatsächlich eine dreifache t-Rune sein kann (Tafel 6). Neben Ing, den wir später besprechen werden, war Tyr der einzige Gott, der einer Rune seinen Namen gab. Über einen Tyrkult wissen wir lediglich das, was sich aus Orts-

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Skandinavien mit den Ortschaften, die nach Njörd (V)> Freyr (A) und Freyja (•) benannt wurden; miteinander vermitteln uns diese Orte einen Begriff von der Verbreitung des Wanenkultes. (Nach J. de Vries, Altgermanische Religionsgeschicbte').

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namen schließen läßt. In Dänemark kommen einige Toponyme vor, die seinen Namen enthalten (z. B. Tislund, «heiliger Wald Tyrs» - zugleich ein Thingplatz 1); in Norwegen und Schweden sind solche Ortsnamen sehr selten. Zur Beantwortung der wichtigen Frage, wie Tiw-Tyr von einem Sonnen- oder Himmelsgott zum Kriegsgott wurde, um nachher sein ganzes Tätigkeitsgebiet von Wodan-Odin einge­ nommen zu sehen, besitzen wir nur sehr wenige Anknüpfungs­ punkte. Vielleicht war der langwierige Kriegszustand, in dem einige germanische Völker (u. a. an den Grenzen des römischen Reiches) lebten, zum Teil für die «Verengerung» seines Wesens verantwortlich. Für seine weitere Verdrängung zu einem deus otiosus ist es wohl von besonderer Bedeutung, daß sein Name einfach zu einem Synonym für «Gott» wurde: im Altnordischen bedeutet die Mehrzahlform tivar «Götter, göttliche Wesen», und in Zusam­ mensetzungen mit einem genauer bestimmenden Element konnte Tyr einen anderen Gott bezeichnen, z. B. Hangatyr, «Tyr der Ge­ hängten» = Odin; Sigtyr, «Tyr des Sieges», wiederum = Odin. Obwohl Snorri sagt, man könne mit solchen zusammengesetzten Epitheta jeden beliebigen Gott benennen, ist es doch immerhin auffällig, daß die zitierten Beispiele immer auf Odin, Tyrs Mitbe­ werber um den ersten Platz in der Götterwelt, hinweisen. Tyrs Zurückstellung hängt also wohl auch mit dem Aufstieg WodanOdins als Kriegsgott und als Hauptgott zusammen.

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VEGETATIONSGÖTTER: DIE WANEN

Abgesehen von einer Terra Mater, einer «Mutter Erde», kennen wir aus der römischen Zeit keine Gottheiten, die ausdrücklich für die Fruchtbarkeit sorgten. Der Partner oder Ehegatte, den wir ne­ ben der Muttergöttin erwarten, wird nirgends erwähnt. Man hat schon, und zwar mit Recht, darauf hingewiesen, daß eine Mutter­ göttin nicht immer eine ebenbürtige männliche Gottheit neben sich hat; sie kann auch von einer Gruppe wenig differenzierter männlicher Wesen begleitet sein, die allenfalls von ihren Priestern oder ihrem «Gefolge» symbolisiert werden können. Vielleicht hat man auch der Fruchtbarkeitsidee einen zu großen Anteil am prä­ historischen religiösen Denken der Germanen zuerkannt, wenn wir auch zugeben müssen, daß die zahlreichen phallischen Gestal­ ten der Felszeichnungen und die ebenso deutlich charakterisierten Pfahlgötter Anlaß dazu boten. In der späteren skandinavischen Götterwelt gibt es aber eine spezielle Gruppe von Fruchtbarkeitsgöttern, nämlich die Wanen (vgl. S. 74). Bisher hat man, vielleicht zu Unrecht, der Zusam­ mensetzung dieser Gruppe wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist tatsächlich auffällig, daß neben einem nicht näher umschriebe­ nen «Volk der Wanen», das den Äsen zahlenmäßig nicht nachsteht, bloß drei Wanen mit Namen erwähnt werden: Njörd, Freyr und Freyja. Der erste stellt uns schon gleich vor ein besonders kom­ pliziertes Problem. Der Name Njörd (altnorwegisch Njörßr) entspricht buchstäb­ lich dem Namen der bei Tacitus erwähnten Mutter Erde, Nerthus. So beginnen wir also unsere Untersuchung am besten bei dieser Gottheit. Über sie berichtete der römische Historiker im 40. Ka­ pitel seiner Germania: «Die Reudigner alsdann, die Awionen, An­ geln, Wariner, Eudosen, Swardonen und Nuitonen sind durch Flüsse und Wälder geschützt. Im einzelnen ist bei ihnen nichts Bemerkenswertes, außer, daß sie gemeinsam die Nerthus, d. h. die Mutter Erde verehren und glauben, sie kümmere sich um die An­ gelegenheiten der Menschen und komme zu den Völkern gefah­ B7

ren. Auf einer Insel des Ozeans ist ein heiliger Hain, in ihm ein ge­ weihter Wagen, der mit einem Tuch überdeckt ist. Nur dem Prie­ ster ist es erlaubt, ihn zu berühren. Er merkt es, wenn die Göttin im Heiligtum anwesend ist, spannt dann Kühe an den Wagen und geleitet die Göttin mit großer Ehrfurcht. Freudig sind jetzt die Tage, festlich geschmückt all die Orte, welche die Göttin ihrer Ankunft und ihres Besuches würdigt. Man zieht nicht in den Krieg, greift nicht zu den Waffen; weggeschlossen ist alles Eisen. Ruhe und Friede ist jetzt nur bekannt, jetzt nur geliebt, bis der­ selbe Priester die Göttin, die des Verkehrs mit den Menschen müde ist, in das Heiligtum zurückbringt. Dann werden Fahrzeug und Decken und, wenn man es glauben will, die Gottheit selbst in einem verborgenen See abgewaschen. Dabei dienen Sklaven, die sofort derselbe See verschlingt. Daher herrscht ein geheimes Grauen, ein heiliges Dunkel, was das für ein Wesen sei, das nur Todgeweihte sehen.» Nichts verpflichtet uns zur Annahme, Tacitus hätte hier keine Göttin gemeint; ob er aber mit den germani­ schen Zuständen hinreichend vertraut war, um seine Beschreibung völlig verläßlich zu machen, ist eine andere Frage. Im Norden aber ist Njörd immer eine männliche Gottheit. Dabei ist es eigenartig, daß neben ihm eine «Schwester», gelegentlich auch die Tochter eines Riesen, als seine Gemahlin erwähnt wird. Einige Gelehrte haben deshalb gemeint, Nerthus-Njörd sei ursprünglich ein hermaphroditisches Wesen gewesen. Die Gottheit, die über die Fruchtbarkeit herrschte, kann in der Tat beide Geschlechter in sich vereinigt haben. Aber irgendeine greifbare Handhabe zu dieser Hypothese haben wir nicht. Andere haben auf eine gewisse «Ver­ männlichung» der germanischen Religion hingewiesen; in unseren großteils sehr späten Quellen spielen die weiblichen Gottheiten eine ganz untergeordnete Rolle, doch ist es durchaus möglich, daß sie in der römischen Zeit mehr in den Vordergrund getreten sind. Tacitus bietet freilich wenig Anhaltspunkte für diese Annahme: neben Nerthus kennt er bloß eine Isis und eine Tamfana, die beide offenbar keine besonders bedeutenden Figuren waren. Aber viel­ leicht deutet die germanische Isis doch in eine andere Richtung. Sie wurde laut Tacitus mit einem Schiff dargestellt, hatte also mit Meer und Schiffahrt zu tun — gerade wie der spätere Njörd. Es ist

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aber gut möglich, daß die Gottheit, die über das Meer herrschte, sowohl in männlicher als in weiblicher Gestalt erschien, wie im späteren Volksglauben neben dem Meerweib auch ein Meermann vorkommt. Diese Annahme würde die Schwierigkeit ohne Mühe beseitigen. Die Weihtafeln aus jener Zeit erwähnen aber noch ver­ schiedene andere Göttinnen mit unbestreitbar germanischen Na­ men (vgl. S. 172). Außerdem geben unsere späten Quellen so gut wie gar keine Aufschlüsse hinsichtlich des religiösen Lebens der germanischen Frau, in dem solche Gottheiten eine sehr wichtige Rolle gespielt haben können. Ein Übergang von « Göttin + nicht genanntem Gemahl» zu «Gott + nicht genannter Gemahlin» ist um so wahrscheinlicher, als bei den Wanen «Brüder und Schwe­ stern untereinander heirateten» (Snorri). Es gibt natürlich eine ein­ fachere Lösung, nämlich die Annahme, Tacitus und seine Ge­ währsmänner hätten sich geirrt; einige Historiker sind tatsächlich der Ansicht, es habe eine, gewisse Ähnlichkeit bestanden zwischen dem Zeremoniell des Nerthuskultes und dem des Kultes einer Muttergöttin in Rom, woraus dann Tacitus oder seine Gewährs­ männer geschlossen hätten, die an der Nordsee wohnenden Ger­ manen hätten ebenfalls eine solche Göttin verehrt, während es in Wirklichkeit eine männliche Gottheit gewesen sei. Weiter als zu einer Hypothese kommen wir aber nicht. Wir müssen zugeben, daß Tacitus kein Bild der Göttin erwähnt, sondern bloß den unbe­ stimmten Ausdruck numen, «Gottheit, göttliches Wesen», verwen­ det, noch dazu mit einem gewissen Vorbehalt. Dem Beobachter fehlte also eine deutliche anthropomorphe Form, die auch unseren Zweifel beheben könnte. Tacitus gibt aber wohl die Atmosphäre des Nerthuskultes sehr gut wieder: Begeisterung über die An­ kunft der Göttin, welche das Wiederaufleben der Natur nach der Erstarrung des Winters ankündigt, Ehrfurcht vor der gewaltigen Macht, die dieses Wiederaufleben bewirkt. Der Name Nerthus (und somit auch Njörd) scheint die personifizierte Lebenskraft be­ zeichnet zu haben, ohne daß dabei der männliche oder weibliche Aspekt speziell in den Vordergrund getreten wäre. Man hat dabei wahrscheinlich nicht nur an die natürliche Fruchtbarkeit gedacht. Njörd gebot dem Wind, dem Wetter und dem Feuer; man rief ihn an, um Reichtum, günstigen Wind, Jagdbeute u. ä. zu erhalten.

Seine Wohnstätte hieß Niatun, «Schiffsumzäunung, d. h. Ort, wo Schiffe sicher liegen», was wiederum mit der Lage von Nerthus’ Heiligtum auf einer Insel Zusammenhängen kann. In diesem Lichte betrachtet, kann es kein Zufall sein, daß ein wichtiges Heiligtum Njörds gerade auf einer kleinen Insel vor der norwegischen West­ küste lag (Njarparlög, d. h. die heutige Insel Tysnesö am Eingang des Hardangerfjords). Njörds Stellung in der Götterwelt ist erst recht eigenartig: weilt er doch bloß als Geisel bei den Äsen. Nach dem «Wanenkrieg» (vgl. S. 74) wurde er ja mit seinen Kindern Freyr und Freyja gegen die Äsen Mimir und Hönir ausgewechselt, wie das unter germanischen Stämmen beim Abschluß eines Friedensvertrages üblich war. Am Ende der Zeiten wird er zur Welt der Wanen (Vanaheimr, «Wanenheim») zurückkehren. Nach Snorri bestand eine der Eigentümlichkeiten der Wanen darin, daß bei ihnen Ge­ schwister sich heirateten. Solche Ehen wurden bei den Äsen — na­ türlich von Loki - als blutschänderische Verhältnisse gedeutet: Hör auf, Njördl Den Übermut laß! Heute verhehl’ ich’s nicht: mit deiner Schwester zeugtest du diesen Sohn, wie es zu erwarten war. (Lokis Zankreden 36)

Da solche Ehen bei den Germanen, außer in ganz besonderen Aus­ nahmefällen (z. B. aus dynastischen Erwägungen) völlig ausge­ schlossen waren, hat man in diesen Wanenehen eine Erinnerung an eine alte Rechtsordnung zu sehen vermeint, die solche Ehen gestattete. Man glaubte nämlich, diese Rechtsordnung sei kenn­ zeichnend für die prä-indogermanische Bevölkerung und mit ana­ logen Verhältnissen in Ägypten und im Orient vergleichbar. Doch wird neben dieser nicht mit Namen genannten Schwester noch die Riesentochter Skadi als Gemahlin Njörds erwähnt. Nachdem die Äsen ihren Vater, den Riesen Thjazi, getötet hatten, wurde ihr ge­ stattet, sich als Wergeid einen von ihnen zum Gatten zu erwählen; bei dieser Wahl durfte sie aber nur die Füße der in Frage kommen­ den Götter sehen. Sie hatte ihren Sinn auf Balder gesetzt, aber die 140

Füße, die sie für die seinen hielt, erwiesen sich als diejenigen Njörds. Ihre Ehe wurde denn auch von Anfang an ein Mißerfolg. Skadi liebte die Wälder und die Berge, wo sie auf Schneeschuhen zur Jagd ging, der Meergott Njörd hingegen wollte an der Küste wohnen. Dies führte natürlich zu ehelichen Streitigkeiten. Eine Zeitlang versuchten sie, abwechselnd neun Tage an der Küste und neun Tage im Inland zu leben, doch wurde keines von beiden des­ wegen glücklicher, denn Njörd konnte das Heulen der Wölfe nicht ausstehen, und Skadi wurde durch das Gekreisch der Möwen im Schlaf gestört. An einer anderen Stelle erzählt Snorri, die Äsen seien nicht nur verpflichtet gewesen, Skadi einen Gatten zu ver­ schaffen, sondern auch, sie zum Lachen zu bringen - eine Aufgabe, die Loki auf wenig erbauliche Weise erfüllt habe. In Anbetracht des Inhaltes der Mythen über Skadi ist es nicht verwunderlich, daß sie manchmal als mythologisierte Märchen betrachtet wurden. Es gibt aber etwas, das nachdenklich stimmt: Saxo Grammaticus er­ zählt von einem ähnlichen Streit zwischen einem legendarischen dänischen König Hadingus und dessen Gemahlin; diese hatte Hadingus geheiratet, nachdem sie ihn unter ihren Freiern an einer alten Beinwunde erkannt hatte, die er sich beim Töten eines Rie­ sen, der sie ebenfalls zur Gattin begehrte, zugezogen hatte. Das Motiv der Wiedererkennung an einer Narbe am Bein kommt zwar auch anderswo vor (wie etwa in der Odyssee), es ähnelt aber der Weise, in der Skadi ihren Gatten wählte, zu sehr, als daß wir auch die Hadingus-Episode ins Reich der Märchen verweisen könnten. Die Rolle, die der Fuß bei Skadis Wahl spielt, gemahnt nämlich an die zahlreichen Darstellungen von Fußsohlen, die auf den Fels­ zeichnungen vorkommen, und die wir als die Fußspuren eines Fruchtbarkeitsgottes gedeutet haben. Und wenn wir uns dann überlegen, daß Njörd der Gott der Schiffahrt war und über Wind und Wetter herrschte, scheint es nicht ausgeschlossen, daß wir es hier mit einem späten Nachhall jener Religion zu tun haben, die in den Felszeichnungen zum Ausdruck kommt. Auch der Name Hadingus weist auf eine ferne Vergangenheit hin (vgl. S. 145). Weniger verständlich ist die unappetitliche Erinnerung, mit der Loki Njörd höhnt:

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Schweig doch, Njörd! Geschickt warst du ostwärts als Geisel fürs Götterreich; in den Mund machten dir die Mädchen Hymirs und nahmen zum Nachttopf dich. (Lokis Zankteden 34)

Meint Loki hier mit den Töchtern des Meerriesen Hymir die Flüsse, die sich ins Meer entleeren? Solchen Anspielungen zum Trotz wurde dieser Gott viel verehrt; die zahlreichen Ortsnamen, die seinen Namen enthalten, beweisen dies deutlich. Auch in einer norwegischen Eidesformel wird er neben seinem Sohn Freyr und einem nicht mit Namen genannten Gott angerufen: «So helfe mir Njörd und Freyr und der allmächtige Ase!» In den uns bekannten nordischen Mythen nimmt Freyr einen wichtigeren Platz ein, und dies war wahrscheinlich auch im Kultus der Fall. Die südlichen Germanen verehrten ihn unter dem Namen Fro. Bei den Angelsachsen hieß er Frea. Sowohl die altnordische wie die althochdeutsche und die angelsächsische Form seines Na­ mens bedeuten eigentlich «Herr, Fürst». Der Name ist also im Grunde kein Eigenname, sondern ein Ausdruck, der im Kult ver­ wendet wurde, um den mächtigen Gott anzureden. De Vries hat auch in den Niederlanden Spuren einer Verehrung Freyrs zu ent­ decken geglaubt, nämlich in den Ortsnamen Franeker und Vroonlo, «Fros Acker, bzw. Wald»; im übrigen aber ist uns von einem Kult Fros auf dem Festland nichts bekannt. Was den Norden betrifft, dort lag der Schwerpunkt von Freyrs Kult wahrscheinlich in Schweden; dort hatte er allerdings eine be­ sonders eindrucksvolle Form erhalten. Einen Widerhall dieser Sachlage finden wir in der Saga von Hallfredi: eine Gruppe See­ fahrer, die in Norwegen auf eine Gelegenheit zur Ausfahrt warten, legen das Gelübde ab, Freyr ein großes Opfer darzubringen, wenn sie günstigen Wind erhalten, um nach Schweden zu fahren; führt sie aber der Wind nach Island, so werden sie Odin und Thor Opfer darbringen. In Snorris euhemeristischer Interpretation heißt es, Freyr sei in Schweden mehr als irgendein anderer Gott verehrt worden, weil während seiner «Regierung» Frieden und Wohlstand im Lande geherrscht hätten. Deshalb auch wurde er der «Schwe-

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dengott» genannt. Das schwedische Fürstenhaus der Ynglinge be­ hauptete stolz, von ihm abzustammen. Wiederum ist es Snorri, der das Entstehen des Freyrkultes in seiner Saga der Ynglinge als ein historisches Ereignis darstellt: Als «König» Freyr gestorben war, hielten seine Angehörigen seinen Tod geheim. Sein Grabhügel war so gebaut, daß das Volk meinte, sein König sei noch am Leben und wohne immer noch darin. Man zahlte ihm also weiterhin Ab­ gaben, und das Land erfreute sich weiter des Glückes und des Wohlstandes. Bei der göttlichen Verehrung, die ihm dargebracht wurde, amtete seine Schwester Freyja als Priesterin (Euhemerismus!). Saxo Grammaticus erzählt nahezu die gleiche Geschichte vom dänischen König Frotho III., der zur Zeit des Kaisers Augu­ stus gelebt haben soll. Auch er hatte in Frieden und Wohlstand regiert und wurde nach seinem Tod noch drei Jahre lang durchs Land geführt, damit seine Untertanen ihn noch für lebendig halten und ihm weiterhin den Tribut entrichten sollten. Die Ähnlichkeit zwischen Freyr und Frotho ist auffallend, doch ist es zugleich wahrscheinlich, daß weder Snorri noch Saxo den wahren Sach­ verhalt des beschriebenen «Betruges» begriffen hat. Was sie für rein materielle Gewinnsucht hielten — den Wunsch, die Bevölke­ rung weiterhin Steuern zahlen zu lassen —, hatte einen viel tieferen Grund. Könige wurden nämlich oft und ohne Einschränkung für das Wohl und Wehe ihrer Untertanen verantwortlich gehalten. In Zeiten von Mißgeschick und Unheil schrieb man ihnen die Schuld zu: die Götter seien auf sie erzürnt, oder (was auf das gleiche hin­ auslief) ihr «Glück» sei zu Ende. Dagegen konnte sich das Volk nur in einer einzigen Weise wehren: indem es den in «Ungnade» gefallenen König verbannte oder ihn gar den Göttern opferte. Die gleiche Vorstellung lag schon dem Scheinopfer des Königs Wikar zugrunde: damit die Flotte wieder günstigen Wind erhielt, mußte der König Odin geopfert werden (vgl. S. 104). Das Umgekehrte traf aber ebenfalls zu: herrschte unter der Regierung eines be­ stimmten Königs Wohlstand und Ruhe, so wurde dies dem König als Verdienst angerechnet, jedoch nicht als persönliches Verdienst in unserem Sinn; es waren nicht so sehr die weisen Maßnahmen des Fürsten, die diesen glücklichen Zustand zur Folge hatten, als vielmehr die Gnade der Götter, die sich in dieser Weise 145

äußerte. Diese Auffassung haben Snorri und Saxo auf die «Könige» Freyr und Frotho übertragen. Der Euhemerismus geht hier so weit, daß Snorri behauptet, unter Freyrs Regierung habe ein «Frodifriede» geherrscht. Der Name Frotho oder Frodi war also gewissermaßen gleichbedeutend mit Frieden, Fruchtbarkeit, Wohlstand; und Freyr wurde ja speziell um Frieden und reiche Ernten angerufen. Eigentlich ist auch Frodi, ebenso wie Freyr, ein kultischer Name; er bedeutet «der Weise». Die gleiche Gottheit war noch unter einem dritten, vielleicht älteren Namen bekannt: Ing. Eine der drei germanischen Völkergruppen, die nach Tacitus vom Urgott Mannus abstammten, waren die Ingävonen oder Ingväonen; ihr Stammvater hieß also urgermanisch Ingu%. Auch der Name des vorhin genannten schwedischen Königshauses der Ynglinge bedeutet «Abkömmlinge Ings». Freyr wird übrigens selber noch Ingunar-Frejr und Yngwi genannt. Der erste Teil des Kom­ positums Ingunar-Freyr ist verschiedentlich als Genitiv des Na­ mens einer Göttin, Ingun, gedeutet worden; die Zusammensetzung soll dann «Herr, Gatte Inguns» heißen. Diese hypothetische Ingun wäre nach dieser Hypothese das weibliche Gegenstück und die Gemahlin des Fruchtbarkeitsgottes, eine zweite Nerthus, Mutter Erde oder Freyja. Ihr Gemahl Freyr war «der Herr» im wahrsten Sinn des Wortes. Beweist schon Saxos Beschreibung von Frotho III., daß ein ähn­ licher Gott auch in Dänemark verehrt wurde, so gibt es auch An­ deutungen, daß dieser Gott bei den Angelsachsen bekannt war. Von ihm erzählt das altenglische Runenlied (67-70): Ing ward zuerst bei den Ostdänen Unter den Menschen gesehn, bis er über die Wellen Ostwärts fuhr; sein Wagen folgte ihm. Also nannten die Heardinge diesen Helden.

nämlich auch der Name der 22. Rune im angelsächsischen Runenalphabet, und die angeführte Strophe verlegt ausdrücklich den Ursprung seines Kultes ins ostskandinavische Gebiet. Mehr noch: der «Held» unternimmt eine Seereise, auf der ihm sein Wa­ gen «nachfolgt» - ein kaum zu verkennender Nachklang des ZereIng war

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moniells des Nerthuskultes. Die letzte Zeile aber zeigt den Zu­ sammenhang der englischen Überlieferung einerseits und der däni­ schen und schwedischen andrerseits: das altenglische Heardingas entspricht buchstäblich dem altnordischen Namen Haddingjar, sowie dem «Volk», das Dio Cassius auf griechisch Astingoi, und Cassiodorus auf lateinisch Hastingi nennt. In diesem Zusammen­ hang sei noch an «König» Hadingus und an die germanischen Dioskuren erinnert (vgl. S. 158). Wir werden später sehen, daß wir es hier wohl eher mit dem Namen einer Dynastie oder sogar der göttlichen Vorfahren einer Dynastie zu tun haben. Hier möge es genügen, festzustellen, daß sich der Name von einem Wort her­ leitet, das «langes Haupthaar, Frauenhaar» bedeutet. Und dies paßt wieder sehr gut zu dem, was wir über den Freyrkult wissen. Das altenglische «Runenlied» liefert übrigens nicht den einzigen Nachweis, daß die Angelsachsen von einem Ing gehört hatten. Im Gedicht «Beowulf» heißt der dänische König Hrodgar, der in Lejre (auf der Insel Seeland, in der Nähe von Roskilde) einen prächtigen Palast hatte bauen lassen, frea Ingmina, d. h. «Herr der Freunde, d. h. Verehrer Ings»; die «Freunde Ings» sind hier also die Dänen. Wenn wir im Zusammenhang mit diesen Gottheiten so oft auf das Wort «Frieden» stoßen, so erfordert dies eine nähere Erläute­ rung. In Tacitus’ Beschreibung der Nerthusprozession lasen wir bereits, es habe überall, wo die Göttin vorüberkam oder verweilte, ein Gottesfriede geherrscht. In Schweden bestand auch schon zu Tacitus’ Zeiten ein derartiger Brauch: bei den Suionen (den spä­ teren Svear oder eigentlichen Schweden, im Gegensatz zu den Gauten, den Bewohnern Gotlands) waren alle Waffen wegge­ schlossen; nur sagt Tacitus nicht, ob diese Maßnahme für eine be­ stimmte Zeit gegolten habe, oder ob es einigen Fürsten gelungen sei, den periodischen Gottesfrieden zu verlängern oder ihn sogar während ihrer ganzen Regierungszeit aufrechtzuerhalten. Das per­ sönliche Gefolge des Fürsten war selbstverständlich bewaffnet; doch führte dies manchmal zur Unterdrückung des wehrlosen Volkes durch eine kleine Kriegerkaste. So war wenigstens nach Saxo der Zustand während der ersten Regierungsjahre Frothos III.; dieser «Fürst» mußte sogar erst seine wilden contubernales aus145

schalten, ehe er seinem Volk Frieden verschaffen konnte. Wir dür­ fen vielleicht voraussetzen, dieses lästige Gefolge, das seinem Für­ sten dauernd zu Unehren gereicht hatte, habe eine große Vereh­ rung für Odin gehabt; dies wäre eine weitere Erklärung für die Tatsache, daß dieser Gott im späteren schwedischen Kult keine wichtigere Stellung mehr einnahm. Freyr ist in mancher Hinsicht und wohl auch seinem Wesen nach ein verjüngtes Gegenstück seines Vaters Njörd. Ihm auch wirft Loki indirekt inzestuöse Beziehungen zu seiner Schwester vor, wenn er Freyja höhnt:

Schweig doch, Freyja! Eine Frevlerin bist du und mit Argem angefüllt: da beim Bruder dich ertappten die trauten Gebieter, da entwich dir wohl ein Wind; (Lokis Zankrede 32)

ein etwas derbes Gegenstück zu einet bekannteren Szene aus der Odyssee. Aber ebenso wie sein Vater, erhält auch Freyr neben sei­ ner Schwester noch eine Riesentochter als Gattin zugewiesen. Nur ist es diesmal er, der die Initiative ergreift. Das «Skirnirlied» er­ zählt, wie Freyr sich in die schöne Riesentochter Gerd verliebte, und wie sein Diener Skirnir eine Reise antrat und für ihn um die Geliebte warb. Sie wies ihn zuerst stolz zurück, mußte aber schließlich einwilligen, weil Skirnir drohte, er werde sie sonst mit Runen verzaubern. Der Schluß dieses späten Gedichtes weist eine Note auf, die in der eddischen Poesie sehr selten vorkommt: Freyr äußert die Ungeduld des sehnsuchtsvollen Liebhabers, der noch neun Tage auf die Geliebte warten muß:

Lang ist die Nacht; lang sind zwei; wie erdulde ich drei? Minder meint’ ich den Monat oft lang als des Harrens Halbnacht. (Skirnirlied 42)

Man hat in dieser Geschichte eine Anspielung an eine Ehe Freyrs

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mit der Erdgöttin sehen wollen und gemeint, Gerd gehöre in die Kategorie der Nerthus usw. Von den verschiedenen Mythenzyk­ len, die einst ein Ehepaar von Fruchtbarkeitsgöttern zum Gegen­ stand hatten, sind offenbar bloß Fragmente zu uns gekommen. Für diejenigen, die eine «heilige Hochzeit» als einen wesentlichen Teil des Kultes dieser Götter betrachten, entsprach die Heirat Freyrs mit Gerd oder einer anderen ähnlichen Figur diesem Ritus auf der Ebene der Mythen. Einen indirekten Beweis hiefür glaubte man in einer etwas verdächtig romantischen Episode aus dem Leben Gunnar Helmings zu finden. Dieser Gunnar begegnete als Flücht­ ling einer Freyrprozession und gewann das Herz der sie begleiten­ den Priesterin, die ihn, um ihn in Sicherheit zu bringen, den Platz des Gottes (d. h. des Götterbildes auf dem Wagen?) einnehmen ließ. Als dann die Priesterin schwanger wurde, betrachteten die Verehrer des Gottes dies als ein günstiges Vorzeichen. Diese Epi­ sode setzt zweifellos das Vorhandensein kultischer Umzüge in Schweden voraus. Doch mutet die Geschichte von Gunnar und der Priesterin zu sehr wie ein Märchen an, als daß sie das Bestehen einer heiligen Hochzeit beweisen könnte. Es kommt uns vor, als hätte man in den Kult von Nerthus und den Wanen etwas gar zu leicht ein solches Zeremoniell eingeschaltet. Eigentlich beruht diese Annahme wieder auf dem vermeintlichen Zusammenhang zwischen einzelnen Aspekten des germanischen Kultus und der Verehrung einiger vorderasiatischen und ägyptischen Gottheiten, namentlich von Attis und Osiris (vgl. S. 55). Auch wenn wir in späterem volkskundlichem Material aus germanischem Gebiet auf den Glauben stoßen, der Beischlaf auf dem Acker fördere dessen Fruchtbarkeit, so muß dies nicht unbedingt ein Überbleibsel aus dem Kult eines Fruchtbarkeitsgottes sein. Es steht aber außer allem Zweifel, daß die Wanen, von denen das Wohlergehen der Menschen in so hohem Maße abhängig war, sehr häufig verehrt wurden. Darauf deuten vor allem die Orts­ namen hin. Nach Uli (vgl. S. 162) kommt Freyr in den theophoren Ortsnamen am meisten vor. Zu dritt liefern Njörd, Freyr und Freyja fast ebenso viele Toponyme wie alle anderen Götter zusam­ men; auf diesem Gebiet wenigstens stehen die Wanen den Asen nicht nach. Es ist denn auch auffällig, daß wir eigentlich nur über 147

Opfer an Freyr ausführlich unterrichtet werden. Er scheint haupt­ sächlich mitten im Winter, nämlich in der Julzeit, verehrt worden zu sein. Andere Quellen erwähnen freilich ein Opfer an Freyr, um eine gute Ernte zu erlangen, zu Anfang des Winters, und wieder­ um andere verbinden das Freyropfer mit der Frühlings-Tagund­ nachtgleiche. Die Saga von Hervor gibt folgende Beschreibung eines solchen Opfers: «König Heidrek brachte Freyr ein Opfer dar; er wollte Freyr den größten Eber anbieten, den man auftreiben konnte. Dieses Tier hielt man für so heilig, daß man in allen wich­ tigen Angelegenheiten auf seine Borsten schwören mußte. Dieser Eber nun sollte als Sühnopfer dargebracht werden. Am Julabend mußte er vor den König in den Saal geführt werden; dort pflegten die Männer die Hände auf seine Borsten zu legen und heilige Ge­ lübde abzulegen.» Diese Gelübde, die mit der Hand auf dem Rükken von Freyrs Opfertier abgelegt wurden, gemahnen an die Eides­ formel, die auf dem Thing von Gula in Westnorwegen verwendet wurde: «So helfe mir Njörd und Freyr und der allmächtige Ase» (vgl. S. 255). Im Volksbrauch findet man noch spät Spuren dieses Opfers: in England trug man in früheren Zeiten beim Weihnachts­ mahl einen gekochten oder gebratenen Eberkopf (boar’s head) auf, um den man sich sammelte und Lieder sang. Einige Beschreibun­ gen dieses Festes erwähnen ausdrücklich, einer der Anwesenden müsse während des Singens die Hand auf den Eberkopf legen. Der Prototyp dieses Opfertieres war Freyrs Attribut, das Schwein Guilinborsti, «Goldborste»; der Gott benutzte es als Reit­ tier, da es Tag und Nacht schneller laufen konnte als ein Pferd. Ferner erwähnen unsere Quellen öfters Pferde, die Freyr geweiht waren. Das berühmteste Beispiel solch eines heiligen Pferdes ist der Hengst Freyfaxi, den der isländische Freyrpriester Hrafnkel mit besonderer Sorgfalt umhegte. Dieses Pferd war so heilig, daß niemand es als Reittier benutzen durfte; wer dies dennoch wagte, mußte seine Vermessenheit mit dem Leben büßen, denn Hrafnkel kannte in diesem Punkt keine Gnade. Manchmal wurden ganze Herden Pferde dem Gotte Vorbehalten. Aus solchen Herden wählte man dann jeweilen das Pferd, das bei feierlichen Gelegenheiten geopfert wurde; denn man brachte Freyr offenbar nicht nur Schweine zum Opfer dar. Auf einer seiner Bekehrungsreisen traf 148

der norwegische König Olaf Tryggvason eine solche Herde, «die Freyr gehörte», an. Um seine Verachtung des Heidentums darzu­ tun, bestieg Olaf den Hengst der Herde. Der Zeitbestimmung der Saga von Hervor, die das Opfer für Freyr in der Julzeit stattfinden läßt, entspricht das Datum des gro­ ßen Opfers von Uppsala. Es war König Hadingus (der gleiche, dem wir schon als Hypostasie Njörds begegneten), der das Fröblod oder Freyropfer eingeführt hatte; es wurde alle neun Jahre im Mittwinter dargebracht. Zu gleicher Zeit wurde in Uppsala eine allgemeine Volksversammlung abgehalten. Nach einem Augen­ zeugenbericht, den Adam von Bremen aufzeichnete, wurden in Uppsala nicht nur Tiere, sondern auch Menschen geopfert; er be­ hauptet sogar, wohl mit einiger Übertreibung, von jeder Sorte Lebewesen seien neun Individuen geopfert worden - wahrschein­ lich eins für jedes der kommenden neun Jahre. Es wird dabei nicht erwähnt, welchen Anteil Freyr von diesen Opfern erhielt; neben ihm wurden ja in Uppsala auch Odin und Thor verehrt. Wir dür­ fen wohl annehmen, daß die geopferten Schweine und vielleicht auch die Pferde eigens für Freyr bestimmt gewesen seien. Saxo Grammaticus und Adam von Bremen geben auch eine Be­ schreibung des Rituals, das beim Freyropfer in Uppsala befolgt wurde. Saxo spricht in allgemeinen Ausdrücken von «weibischen Körperbewegungen (Tänzen?), vom Applaus, den Komödianten dort einheimsten und dem weichlichen Geklingel von Schellen», vor dem der Held Starkad, das Musterbeispiel aller männlichen Tugenden, einen solchen Abscheu hatte, daß er Schweden verließ. Adam von Bremen präzisiert, beim Opfer seien allerhand Lieder gesungen worden, «zu unsittlich, als daß man sie wiedergeben könnte». Die allgemeine Art des Kultes geht übrigens auch aus der Weise hervor, in der Fricco in Uppsala abgebildet war: «cum ingenti priapo». Die Verehrung eines Fruchtbarkeitsgottes war na­ türlich mit einer gewissen sexuellen Zügellosigkeit verbunden. Der Name Fricco deutet in die gleiche Richtung: dieser Beiname Freyrs wird mit Priapos, «dem satyrähnlichen Dämon der sexuell betonten Naturkraft» (De Waele) in Verbindung gebracht. Wir brauchen hier bloß an das Odium der sexuellen Perversität zurück­ zudenken, das auf den Wanen ruhte; und ferner an die Tatsache,

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daß Freyja bei den Äsen eine spezielle Art der Zauberei einführte, «die mit einer so weitgehenden Verweichlichung verbunden war, daß Männer sich nicht daran beteiligen konnten» (Snorri) — die dann allerdings auch von Odin ausgeübt wurde. Außer seinem Schwein Guilinborsti besaß Freyr noch ein Wun­ derschiff, Skidbladnir, das immer günstigen Wind in die Segel be­ kam und so groß oder so klein wurde, wie er wollte, ein Märchen­ motiv, das aber an Njörds Rolle eines Schirmherrn der Schiffahrt erinnert. Es ist wohl wiederum nicht von ungefähr, daß die Göttin «Isis» (interpretatio romana), die von den Sueben verehrt wurde, als ihr signum oder Attribut eine liburna, d. h. ein kleines, schnell fahrendes Schiff, besaß. Auch die auf Walcheren verehrte Göttin Nehalennia wurde oft mit einem Schiff dargestellt. In diesem Zu­ sammenhang zitiert man häufig einen Passus aus der Chronik der Äbte von Sint Truiden (belg. Limburg): Im Jahr 1133 wurde in dieser Gegend eine Art Schiffsumzug abgehalten, der die Empö­ rung aller Wohlmeinenden erregte. In der Nähe von Aachen stell­ ten Weber ein Schiff auf ein Gestell mit Rädern und zogen damit nach Aachen. Von dort ging der Zug nach Maastricht, Tongeren und Loos. In allen diesen Ortschaften wurden bis spät in die Nacht hinein ärgerniserregende Tänze aufgeführt und Lieder gesungen; das Volk schien jedes Gefühl für Sittlichkeit verloren zu haben. Es handelt sich hier wohl kaum um eine bewußt heidnische Kult­ handlung, sondern vielmehr um eine Wiederbelebung eines loka­ len Volksbrauches, dessen Bedeutung von den Teilnehmern schon längst nicht mehr verstanden wurde. Es hat denn auch wenig Sinn, sich zu fragen, für welchen Gott man diese Prozession ursprüng­ lich abgehalten haben mag; aus der Beschreibung können wir aber ersehen, welche Form der Wanenkult annehmen konnte. So hat man auch die Eriksprozession, die früher in Uppsala umging, von einem heidnischen Umzug abgeleitet, und ein solcher Ursprung ist noch wahrscheinlicher für den Umzug, den die schwedischen Kö­ nige nach ihrer Krönung abhielten, hatten doch ihre heidnischen Vorgänger sich für Abkömmlinge des mächtigen Freyr gehalten. Die «Unmännlichkeit» der Wanen tritt noch ein letztes Mal zu­ tage in einem Mythus über Freyrs Tod. Als die Götterdämmerung kommt, muß er unbewaffnet gegen den Riesen Surt kämpfen und 150

verliert dabei natürlich das Leben. Snorri gibt eine rationalistische Erklärung für diese Tatsache: Freyr hatte Skirnir sein Schwert mitgegeben, als dieser um Gerds Hand warb und mußte daher ohne Waffe den letzten Kampf antreten. Diese Erklärung ist aber überflüssig, da Freyr als Wane wahrscheinlich nie Waffen getra­ gen hatte. Die List, mittels welcher der Tod Frothos III. und des «Königs» Freyr geheimgehalten wurde, erinnert an eine eigenartige Legende, die Herodotus über den thrakischen König und späteren Gott Zamolxis erzählt. Zamolxis hatte ein unterirdisches Gemach ge­ baut und hielt sich darin drei Jahre lang versteckt, so daß sein Volk glaubte, er sei gestorben. Als er danach wieder unter dem Volk der Geten erschien, verehrten sie ihn als Gott. Ganz zufällig kann diese Übereinstimmung nicht sein, doch braucht dies nicht unbedingt zu bedeuten, daß die Germanen den Wanenkult von ihren südöstlichen Nachbarn übernommen hätten; ein gemeinsa­ mer Ursprung ist ebensogut möglich, wenn nicht sogar wahr­ scheinlicher. Trotzdem bleibt es wahr, daß die Kreise, denen wir die meisten Angaben über die germanischen Götter verdanken, die Wanen als ein «fremdes» Element empfanden. Sie verehrten in erster Linie die Äsen. Da Freyja von den übrigen Göttinnen eigentlich nicht sehr ver­ schieden ist, wollen wir sie mit diesen zusammen behandeln.

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ANDERE GÖTTER

Neben den bereits behandelten Göttern gibt es ihrer noch eine ganze Reihe, die nicht auf der gleichen Stufe zu stehen scheinen, sei es, daß sie, nach unseren Quellen zu urteilen, bloß in Mythen vorkommen, oder nur im Kultus eine Rolle spielen oder überhaupt kaum mehr sind als Namen. In der späteren Mythenliteratur ist Balder eine prominente Figur, doch ist es gar nicht leicht, die wahre Gestalt dieses Gottes zu ent­ decken. Sein Name ist bloß ein als Eigenname verwendeter Gat­ tungsname (altnordisch baldr), der «Herr, Fürst, Krieger» bedeu­ tet. Ebenso wie jener andere «Herr», Freyr, wird er als der beste und schönste der Götter beschrieben. Bei ihm aber erhält diese Charakteristik in späteren Zeiten eine viel größere Bedeutung als bei Freyr. Auf dem Festland und in England hat man seinen Na­ men in einigen Toponymen zurückzufinden geglaubt; die Deu­ tung dieser Wörter ist aber oft ungewiß. Während langer Zeit meinte man auch, er werde im Anfang des zweiten Merseburger Zauberspruches erwähnt:

Phol und Wodan fuhren zu Holze. Da ward dem Balders Fohlen sein Fuß verrenkt..., aber diese Auffassung wird in jüngster Zeit wieder angezweifelt. Die Quellen, die sich auf einen Gott Balder beziehen, sind also bei den südlichen Germanen äußerst spärlich. Auch im Norden gibt es nur wenige Orte, die nach ihm benannt sind; ganz sichere Beweise für einen Balderkult gibt es kaum. Und dennoch ist dieser Gott von großer Bedeutung, sowohl der Son­ derstellung wegen, die er in der germanischen Götterwelt ein­ nimmt, als auch wegen seiner eigenartigen Entwicklung in der Zeit unmittelbar vor der Bekehrung. Man kann sogar von einer Balder-Renaissance reden, deren Mittelpunkt der Hof der Lade­ jarle war. Bloß in einem einzigen Mythus spielt er eine Rolle, und diese Rolle ist, wenigstens bei Snorri und in der Edda, noch dazu

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völlig passiv. Es gibt nämlich zwei Versionen des Mythus über Balders Tod, und diese sind, sogar in wesentlichen Punkten, sehr verschieden voneinander. Die erste ist eine von Saxo niederge­ schriebene romantisierte Erzählung, grundsätzlich euhemeristisch aufgefaßt, aber dennoch nicht unbrauchbar zur Lösung unseres Problems. Hotherus, der Sohn des schwedischen Königs Hothbrodus, war in Nanna, die Tochter des norwegischen Königs Gevarus verliebt, und sie beantwortete seine Liebe. Aber auch der «Halbgott» Balderus verliebte sich in sie. Der Wetteifer zwischen ihm und Hotherus nahm noch zu, als beide Anspruch auf den dä­ nischen Thron erhoben. Durch eine List erlangte Hotherus die Oberhand in diesem Kampfe. Er geriet in den Besitz des magi­ schen Schwertes des Waldgeistes Mimmingus, hätte aber sogar damit sein Ziel nicht erreichen können ohne die Hilfe von «Wald­ frauen» (Walküren?): diese verrieten ihm, daß der fast unverletz­ liche Balder seine Kraft einer wunderbar stärkenden Speise zu ver­ danken habe. Hotherus wußte die Frauen, die diese Wunderspeise bereiteten, dazu zu überreden, daß sie ihm davon zu essen gaben; in der Schlacht, die folgte, brachte er Balderus eine tödliche Wunde bei. Später wurde er seinerseits von Bous, einem Sohn von Othinus, getötet, den dieser eigens zu dem Zweck bei der russischen Königstochter Rinda erzeugt hatte. In Snorris Version aber sind Balder und Hödur (Hößr = Saxos Hotherus) passive Gestalten. Dort liegt das ganze Drama in den Händen Lokis. Dieser ist der «Rattöter», d. h. der, welcher durch Rat oder List tötet. Als Balder unheilverkündende Träume hatte, ließ seine Mutter Frigg alle Wesen unter Eid versprechen, daß sie ihm nicht schaden würden; nur den Mistelzweig hielt sie für zu gering, als daß es sich gelohnt hätte, ihn schwören zu lassen. Loki aber fand dieses Geheimnis heraus. Während die Götter im Spiel den jetzt unverletzbaren Bal­ der beschossen, ließ Loki den blinden Hödur mit einem Mistel­ zweig auf Balder schießen, wobei er die Hand des Schützen lenkte. Der Mistelzweig verwandelte sich in einen Pfeil, und Balder wurde tödlich getroffen. Balders Leiche wurde mit großer Feierlichkeit auf einem Schiff (l) verbrannt, zusammen mit der seiner Gattin Nanna, die vor Schmerz gestorben war. Zwei Geschichten runden den Zyklus ab. Die erste erzählt, wie Hermod auf Befehl der Göt153

ter einen Versuch unternahm, Balder aus der Unterwelt zu befreien. Balder würde unter der Bedingung zum Leben zurückkehren, daß alle Lebewesen ihn beweinten. Loki aber, der sich in eine Hexe verwandelt hatte, zeigte nicht nur keine Trauer, sondern ver­ höhnte sogar die trauernde Frigg. Die zweite und letzte Erzählung schildert Lokis Bestrafung. Es war Snorris Version, die durch die romantische Literatur des vorigen Jahrhunderts allgemein verbreitet wurde. Sein idealisier­ ter Balder scheint aber das Produkt einer späten Entwicklung zu sein. Kurz vor der Bekehrung wurde dieser Gott nämlich gewisser­ maßen zu einem Gegenstück Christi erhoben: seine Unschuld gab ihm eine besondere Stellung vor den anderen Göttern. Diese Ent­ wicklung kam vielleicht bloß in einem beschränkten Gebiet vor, und wurde wahrscheinlich von den gleichen Kreisen getragen, die auch die großartige Synthese des späten Heidentums, «Der Seherin Weissagung» geschaffen haben. In diesem Gedicht ist Balder näm­ lich einer der wenigen Götter, die für würdig erachtet werden, über die neue Welt zu herrschen: Unbesät werden Äcker tragen; Böses wird besser: Balder kehrt heim; Hödur und Balder hausen in Walhall froh, die Walgötter... (Der Seherin Gesicht 6z)

Es ist aber die Frage, ob diese Auffassung, die in der Versöhnung Balders mit der unschuldigen Ursache seines Todes ihren Höhe­ punkt erreicht, tatsächlich auf einer alten Tradition beruht. Denn Balder ist nicht überall der passive Dulder. Schon in Saxos Erzäh­ lung sehen wir ihn als kriegerischen Königssohn auftreten, und auch andere Quellen beschreiben ihn als sehr tapfer. Frigg glaubt, daß Loki nie die Götter so vermessen zu verspotten gewagt hätte, wenn ihr Sohn noch am Leben gewesen wäre: Wisse, säße mir ein Sohn im Saale Ägirs auf der Bank, ein Baldergleicher, nicht kämst du hinaus von den Kindern der Äsen, man böte dir Keckem Kampf. (Lokis Zankreden 27)

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Darauf trifft sie Lokis grausame Erwiderung: Ich habe dafür ge­ sorgt, daß dein Sohn aus dem Totenreich nicht zurückkehrt. Eigentlich ist es der rätselhafte Loki, der das Balderproblem so verwickelt macht. Wenn wir voraussetzen, daß er ursprünglich nicht die zentrale Figur der Baldertragödie gewesen sei, so würde dies erklären, warum Hödur, laut der Weissagung der Seherin, doch für seine Tat büßen mußte und warum Saxo nichts von einem Einschreiten Lokis weiß. Hödurs Name bedeutet übrigens «Streit, Kampf», und es gibt noch andere Gründe, an seiner Passivität zu zweifeln. Andrerseits aber ist Saxos Geschichte dermaßen mit se­ kundären heroischen Vorkommnissen ausgeschmückt, daß man seine Ansprüche auf Zuverlässigkeit nicht zu hoch bewerten darf. Die Tatsache, daß Hödur für seine Tat büßen muß, schließt die Möglichkeit nicht aus, daß er sich im Augenblick der Tat seines Tuns nicht bewußt war: er war ja nicht weniger ein Brudermörder, als beispielsweise Ödipus ein Vatermörder war. Der Mistelzweig, der sich in eine tödliche Waffe verwandelt, erinnert uns an den Rohrstock, mit dem Starkad das Scheinopfer König Wikars voll­ zog; bei diesem Ereignis spielte Odin eine Rolle, die der Lokis bei Balders Tod sehr ähnlich ist. Sollte es da ganz zufällig sein, daß Starkads Name «starker Hödur» bedeutet? Solche Parallelen, deren Bedeutung wir bloß vermuten können, ändern aber nichts an der Tatsache, daß Balder in der germani­ schen Götterwelt allein steht. Man hat ihn häufig mit vorderasiati­ schen Fruchtbarkeitsgöttern wie Adonis in Beziehung gebracht und dabei mehr oder weniger deutlich durchblicken lassen, man halte Balder für eine von dort übernommene Gottheit. Balders Tod wäre nach dieser Anschauung eine Phase im Lebenskreise des Ve­ getationsgottes : so wie das Leben in der Natur beim Anfang des Winters abstirbt, so würde auch der Gott sterben, um im Frühling mit dem neuen Leben wieder zu erstehen. Nun ist es tatsächlich auffällig, daß der Tod von Balders vermeintlichen orientalischen Verwandten mit großen Trauerzeremonien gefeiert wurde, und daß Balder von allen Lebewesen beweint werden mußte. Und dann ist da noch der Name seiner Gattin Nanna, in dem man einen Nachklang des babylonischen Namens Nana zu entdecken glaubt. Dem steht aber wieder gegenüber, daß Balder nicht vor dem Ende 155

der Welt wieder aufersteht; einen festen Zusammenhang mit dem Vegetationszyklus scheint sein Leben also nicht gehabt zu haben. Dies genügt, um eine Entlehnung dieses Gottes aus dem Orient wenig wahrscheinlich zu machen. Auf der Grenze zwischen Göttern und Dämonen steht Loki. In der nordischen Mythenliteratur tritt er unzählige Male auf, oft in offener oder versteckter Feindschaft mit den Göttern; und doch ist er einer von ihnen. Er ist schlau, herzlos und falsch, aber nicht im­ mer ohne Grund; häufig sind es die Götter selber, die ihn zu einem solchen Verhalten zwingen, wenn es auch den Anschein hat, als wolle er immer nur ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten aus­ nützen. Seine wahre Art wird noch schwerer verständlich, wenn er einen offenbar unschuldigen Balder bis zum äußersten mit sei­ nem Haß verfolgt; dies macht seine Stellung in der Götterwelt wirklich rätselhaft. Wir möchten ihn fast am liebsten jenen dämo­ nischen Wesen gleichstellen, die bloß auf das Zeichen zur Götter­ dämmerung warten, um die Äsen anzugreifen und die alte Welt zu zerstören. In einigen Quellen erscheint er auch tatsächlich als der Vater der Weltschlange und des Wolfes Fenrir — aber dem gegenüber steht wieder seine ständige Verbindung mit der Götter­ welt: gehörte er doch zu den Bewohnern der Asenwelt. Über seine Herkunft wissen wir nicht viel: von seinem Vater Farbauti, seiner Mutter Laufey oder Nal und seinem Bruder Byleist wird nirgends etwas erzählt; in unseren Texten sind es bloß Namen. Er begleitete Thor auf dessen Expeditionen gegen die Riesen, stand aber dabei gar nicht etwa immer auf Thors Seite: er scheint sogar an der Ver­ stümmelung von Thors Bock Schuld zu haben. Bei anderen Ge­ legenheiten benutzte er gerade die Abwesenheit des Riesentöters, um einen seiner Streiche zu verüben, wie z. B. die goldenen Haare von Thors Gattin Sif zu stehlen. Seine dämonische Art zeigt sich besonders deutlich in der langen Liste seiner Metamorphosen. Er hatte den Göttern den Rat gegeben, von einem Riesen die Burg Asgard bauen zu lassen; der Baumeister sollte Freyja als Lohn er­ halten. Als das Werk fast vollendet war, bedauerten die Götter die Abmachung und wollten sich ihr entziehen. So beauftragten sie Loki, ein Mittel zu finden, das den Baumeister hindern sollte, den Bau rechtzeitig fertigzustellen. Darauf verwandelte sich Loki in 156

eine Stute und lockte so den Hengst weg, der vom Riesen als Last­ tier benutzt wurde. Das Ergebnis war, daß Loki die Mutter wurde von Odins achtfüßigem Roß Sleipnir. Um die Göttin Idun aus der Gewalt eines Riesen zu befreien, lieh sich Loki Freyjas «Falken­ gewand», d. h. sie verwandelte ihn in einen Falken (dabei war er es natürlich selber, der erst die Entführung Iduns veranlaßt hatte). Im gleichen Gewand spürte er Thors Hammer auf, als Thrym die­ sen gestohlen hatte. In Gestalt einer Fliege raubte er Freyjas Hals­ kette; als alte Hexe verhinderte er Balders Rückkehr aus der Un­ terwelt; als Stallmagd melkte er die Kühe in der Unterwelt; um den Göttern zu entkommen, verwandelte er sich in einen Fisch; endlich kämpften er und der Gott Heimdal in Gestalt von Robben um ein Stück Bernstein (bei Snorri heißt es, der Streit sei um das Brisingamen, Freyjas Halskette oder Gürtel, gegangen). Seinen An­ teil an Balders Tod haben wir bereits erwähnt. Es ist nicht un­ denkbar, daß dem im Wesen dämonischen Loki auch die Schuld an Verbrechen und Katastrophen zugeschrieben wurde, die ohne sein Zutun zustandegekommen waren. Daß er aber lediglich unter christlichem Einfluß «dämonisiert» worden wäre, wie zuweilen behauptet wird, ist bestimmt nicht richtig. Auch Odin weist dä­ monische Züge auf, die nicht dem Beispiel des Teufels zugeschrie­ ben werden können. Mit Odin ist Loki übrigens eng verbunden. Er hat mit ihm in früheren Tagen «Blut gemischt», d. h. Blutsbrü­ derschaft geschlossen. Odin heißt auch «Freund Lodurs», und Lodur scheint bloß ein anderer Name für Loki zu sein. Wie Odin brüstet er sich gerne mit seinen Eroberungen. Es geht ihm aber nur darum, einige Götter in ihrer Ehre zu verletzen: er will bei Tyrs Gemahlin einen Sohn erzeugt haben; Skadi soll ihn zu sich ins Bett geladen haben; sogar bei Sif will er Thors Stelle einge­ nommen haben. In seinem ganzen Auftreten liegt etwas, das an den unberechenbaren und unzuverlässigen Odin gemahnt. Die Beschreibung der grausamen Strafe aber, welche ihm die Götter auferlegten, erweckt unser Mitgefühl: mit dem Eingeweide seines eigenen Sohnes banden sie ihn auf drei kantige Steine, und Skadi hängte eine Giftschlange über ihn, so daß ihm das Gift auf das Ge­ sicht troff. «Aber Sigyn, seine Frau, steht ihm bei und hält eine Schale unter das tropfende Gift. Wenn die Schale voll ist, geht sie ’57

hin, sie auszuleeren; in der Zeit aber fallt das Gift auf Lokis Ge­ sicht. Dann wälzt er sich dermaßen, daß die Erde bebt» (Snorri). Beim Weitende soll dieser germanische Prometheus wieder frei werden, um am letzten Kampf gegen die Götter teilzunehmen. Loki ist also wohl ein notwendiges Element der germanischen Götterwelt, eine Art «Geist, der stets verneint», der in ihr die viel­ leicht unbewußte, wild-negative Phantasie vertritt, mit der der Mensch auf die oft drückenden und einengenden Bande des Ge­ setzes und der Gemeinschaft reagiert. Als Typus kann man ihn etwa mit Reineke Fuchs vergleichen. Jede weitere Mutmaßung hin­ sichtlich seines Ursprungs ist aber aussichtslos : wir besitzen keine älteren Quellen, die es uns ermöglichen würden, irgendeine Ent­ wicklungslinie festzulegen. Und im Grund ist dies auch nicht nötig. An Hand gleichgearteter Gestalten in der Götterwelt der kaukasischen Völker hat Dumézil neulich dargelegt, daß ein Loki tatsächlich in die germanische Götterwelt hineingehört. Diese Schlußfolgerung dürfen wir ruhig annehmen. Bei Tacitus finden wir auch Angaben über einzelne Götter, die wir schwerlich näher umschreiben können. Bei den Semnonen, «den ältesten und edelsten der Sueben», sandten alle Stämme zu bestimmten Zeiten Abordnungen in einen heiligen Wald, wo ein regnator omnium deus verehrt wurde. Ob Tacitus mit diesem «Gott, der alles beherrscht», Wodan oder Tiw (oder noch einen anderen Gott?) meinte, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen; es gab ja mehr als einen germanischen Gott, der sich zu einem solchen Hauptgott entwickeln konnte. Die Naharvalen verehrten an er­ ster Stelle die Akts, die Tacitus mit den römischen Castor und Pollux vergleicht; man stellte sie sich «als Brüder und Jünglinge» vor. Wie die Dioskuren waren sie schützende Gottheiten, was schon aus ihrem Namen hervorgeht, der sich von einem Wort­ stamm mit der Bedeutung «schützen» herleitet. Ihrem Kult stand ein Priester vor, der «wie eine Frau geschmückt» war. Daß ihr Hei­ ligtum auf dem Zobtenberg in Schlesien gestanden haben soll, wie manchmal behauptet wird, steht keineswegs fest. Ferner vermerkt Tacitus nachdrücklich, es hätte keine Bilder von diesen Göttern gegeben, und ihr Kult hätte keine Spuren eines fremden Einflusses aufgewiesen. Wennschon wir in den späteren Quellen keine Er



wähnung der Verehrung eines göttlichen Brüderpaares finden, so stehen dennoch diese germanischen Dioskuren nicht ganz allein. In vielen Heldenlegenden tritt ein Brüderpaar auf, so z. B. in der Stammsage der Wandalen, wo Raos und Raptos als die Führer der

Götterfigürchen aus der dänischen Bronzezeit (Grevens Vsenge) nach einer Zeichnung aus dem 18. Jahrhundert. Von diesem interessanten Bronzegegenstand, der auf der dänischen Insel Seeland gefunden wurde, besteht nur noch das linke Figürchen ohne den rechten Arm mit dem Beil (Höhe io cm). Man nimmt allgemein an, daß beide Figürchen zu­ sammen ein ähnliches Götterpaar wie die Alcis der Naharvalen dar­ stellen. (Nach B. Nerman, Fornvännen 1953).

Astinger gelten; die Langobarden hatten ihre Ybor und Agio, die Angelsachsen ihre Hengist und Horsa. Hier wie auch sonst ist es sehr schwer, eine Grenze zwischen Mythologie, Heldensage und Geschichte zu ziehen. Einige von diesen Brüderpaaren aber tragen bedeutungsvolle Namen: die Namen der Führer der Astinger be159

deuten respektive «Rahe» und «Balken»; die legendarischen Er­ oberer Englands heißen «Hengst» und «Pferd». Auf Grund hier­ von vermutet man, die Namen der Führer der Astinger hätten eine Anspielung auf den bildlosen Kult der Alcis enthalten: diese Göt­ ter seien nicht durch Statuen, sondern durch zwei Pfähle oder Bal­ ken dargestellt worden. Der Name «Astinger» oder Hasdinger selber soll auf das lange Haupthaar hinweisen, das diese Dynastie kennzeichnete und das schon bei den Alcispriestern auffiel: waren doch auch sie «als Frauen geschmückt». Hier werden wir wieder erinnert an Hadingus, an die angelsächsischen Heardinge, die zu den Vertrauten Ings gehörten, und an die «Brüderpaare», die im Altnordischen Haddingjar und in der späteren deutschen Helden­ poesie Hartungen hießen. Wir haben es hier eher mit dem Namen einer Dynastie als mit dem eines ganzen Volkes zu tun; bei ihnen galt das lange Haar für ein besonderes Zeichen der Würde. Alle diese Übereinstimmungen sind wiederum nicht ganz zufällig, und man könnte sogar Balder und Hödur als Brüderpaar in diesen Komplex von Vorstellungen einbeziehen. Wenn wir darüber auch keine Gewißheit besitzen, doch beweisen die Götterfigürchen von Grevens Vaenge, daß wir es hier mit sehr alten Vorstellungen zu tun haben. Aus späterer Zeit kennen wir einen Gott Saxnot, der u. a. in einer sächsischen Abschwörungsformel zusammen mit Wodan und Donar genannt wird. Bei den Angelsachsen war er als Saxneat, ein mythischer Vorfahr der Könige von Essex, bekannt; in ihrem Stammbaum war er der Sohn Wodans. Dieser Saxnot war wahr­ scheinlich die sächsische Form des alten Gottes Tiw. Man vermu­ tet auch den gleichen Tiw hinter dem übrigens sehr umstrittenen Gott Ermin oder Irmin. Die Existenz eines Gottes, der diesen Na­ men trug, schließt man aus dem Namen eines Heiligtums, das Karl der Große während eines Feldzuges gegen die Sachsen eroberte und zerstörte: Irminsul, d. h. «Säule Irmins», oder auch «große Säule», «göttliche Säule». Die erste Übersetzung stützt sich u. a. auf die Tatsache, daß eine der großen Völkergruppen bei Tacitus Herminonen oder Ermionen heißt; man vermutet, sie hätten einen Irmin verehrt, sowie die Ingväonen einen Gott Ing. Man hat seinen Namen in dem niederländischen Ortsnamen Ermelo (im 9. Jahr-

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hundert Irminlo) zurückzufinden geglaubt. Da aber irmin auch ein Adjektiv ist, das «groß, mächtig» bedeutet, hat man noch andere Interpretationen für Irminsul vorgeschlagen und in der Säule ein Symbol der Weltachse oder des mythischen Weltbaumes sehen wollen. Am wahrscheinlichsten ist wohl die Erklärung Palms: die Irminsäule war ein riesiger Baumstamm oder Balken, der im Hei­ ligtum stand und mit dem Blut der Opfertiere bestrichen wurde. Nach dieser «Säule» wurde dann das zentrale Heiligtum der Sach­ sen benannt. Nichts gibt Anlaß zur Annahme, daß es ein geschnitz­ tes Idol gewesen sei. Sehr geheimnisvoll bleibt auch der Gott Fosite oder Forseti. Ein bekannter Passus aus Alcuins Leben des heiligen Willibrord er­ zählt, wie dieser auf einer seiner Reisen eine Insel zwischen dem Gebiet der Friesen und dem der Dänen besuchte; diese Insel hieß Fositesland, «Land des Fosite». Sie war so heilig, daß niemand das auf ihr weidende Vieh berühren durfte. Außerdem gab es auf der Insel einen Brunnen, aus dem man bloß schweigend Wasser schöp­ fen durfte. Willibrord aber taufte Menschen in dem Brunnen und ließ einige Stück Vieh schlachten. Da wurde er gefangen genom­ men, und das Los sollte über sein Leben entscheiden. Das Los war ihm aber dreimal günstig, und darauf wurde er freigesprochen. Wir wissen nicht, wo Fositesland lag; man hat es mit Texel, Ameland oder einer der ostfriesischen Inseln zu identifizieren versucht, vor allem aber hat man Helgoland darin sehen wollen, weil der Name dieser Insel schon von Adam von Bremen als «heiliges Land» gedeutet wurde. Für keine dieser Erklärungen lassen sich aber wirklich überzeugende Beweise anführen. Im Norden kannte man einen Gott mit fast gleichlautendem Na­ men: Forseti. Er war der Sohn Balders und Nannas und wohnte in einem glänzenden Palast:

Glastheim heißt der zehnte (Saal), von Gold sind die Pforten und von Silber das Saaldach; doch Forseti wohnt dort viele Tage und stillt allen Streit. (Grimnirlied 15)

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Er hatte also mit der Rechtspflege zu tun. Von seinem Kult zeugt lediglich der Ortsname Forsetlund am Oslofjord. Gewöhnlich nimmt man an, der norwegische Gott sei von den Friesen über­ nommen worden, aber dies steht gar nicht fest. Man darf sich so­ gar fragen, ob die beiden überhaupt verwandt seien. Zu den sehr schwer zu bestimmenden Göttern gehört auch Ull (altnordisch Ullr) sowie der ihm wenigstens dem Namen nach eng verwandte Ullin (Ullinn). Sprachlich stehen die Namen von Ull und Ullin zueinander wie die von Od und Odin. Beim ersten Paar aber ist es Ullin, der gänzlich in den Hintergrund trat, beim zwei­ ten hingegen Od. Über Ull wissen unsere Quellen wenigstens noch einiges zu berichten, Ullin aber erwähnen sie nie; ihn kennen wir bloß aus einigen Ortsnamen. Es sind auch vorwiegend Ortsna­ men, aus denen hervorgeht, daß Ull einst in ausgedehnten Gebie­ ten verehrt wurde, und daß sein Kult dort sogar den Thors und der Wanen übertraf. In den späteren Texten hac diese Verehrung indessen nur wenige Spuren zurückgelassen. Atli (Attila) schwört einen Eid auf Ulis Ring, womit ein sogenannter «Tempelring» ge­ meint wird, d. h. ein Ring, der auf dem Altar eines Tempels (in diesem Falle eines Tempels von Ull) aufbewahrt wurde. Der Schild war das besondere Attribut dieses Gottes; daher heißt er «Schild-Ase». Nach Snorri wurde Ull hauptsächlich bei Zwei­ kämpfen angerufen. Sein kriegerischer Charakter geht auch noch aus der Kenning «Bogengott» hervor; er hatte zudem noch mit der Jagd, dem Schneeschuhlaufen und dem Schlittschuhlaufen zu tun. Er wohnte in Ydalir, «Eibentälern»: Bogen wurden ja vorzugs­ weise aus Eibenholz hergestellt. Nur ein einziger Mythus handelt von Ull, und dieser Mythus ist uns nur in Saxos Interpretation überliefert. Sein Name ist hier zu Ollerus latinisiert worden. Die Äsen, die (nach Saxo) in Byzanz wohnten, hatten Othinus (d. h. Odin) seines wenig erbaulichen Lebens wegen verbannt. Ollerus nahm seine Stelle als Priester und als Gott ein; man nannte ihn sogar Othinus. Nach einem halben Jahr kam der echte Othinus zurück. Ollerus floh nach Norden, wurde aber von den Dänen getötet. «Man erzählt, er sei so erfah­ ren in der Zauberei gewesen, daß er, wenn er das Meer überqueren mußte, einen Knochen, in den er Zaubersprüche geritzt hatte, als 162

Schiff benutzte. Auf diese Weise kam er ebenso schnell vorwärts, als wenn er gerudert hätte.» Hiermit wird wohl gemeint, daß er Schlittschuh lief: ein flacher Knochen, wie z. B. eine Rippe, ist ja die älteste Form des Schlittschuhs. Dürfen wir hieraus schließen, er sei ein im Winter verehrter Gott gewesen, der während eines Teiles des Jahres Odin «vertrieb»? Oder bezieht sich der Mythus auf einen Konflikt zwischen zwei Kulten? Für Dumézil ist OllerusUll der Typus des pompösen, alles regelnden Usurpators, der schließlich vom inspirierten, weder an Regel noch Gesetz gebun­ denen Herrschergott vertrieben wird. Obwohl Ulis Name, der «Herrlichkeit» oder «der Herrliche» bedeutet, ihn eher in die Nähe Freyrs und Balders zu bringen scheint, können wir Uli doch, zu­ sammen mit Mithothyn, der auch einmal Othinus’ Stelle einnahm, ebensogut als eine Variante denn als einen Gegner Odins betrachten. Auch Ollerus war ein mächtiger Zauberer, und Uli lebte in «Eiben­ tälern», während Odins Baum Yggdrasil ebenfalls eine Eibe ge­ wesen zu sein scheint. Jedoch hatte sich Uli schon lange vor der Zeit unserer ältesten Quellen zu kaum mehr als einem bloßen Na­ men verflüchtigt. Inwiefern sich Ullin von ihm unterschied, kön­ nen wir nicht einmal annähernd bestimmen. Er war vielleicht das Ergebnis eines Erneuerungsversuchs, ähnlich, wenn auch weniger erfolgreich, wie der, durch den Odin an die Stelle Ods gestellt wurde. Von Od (altnordisch Ößr) wissen wir bloß folgendes: einmal war er aus der Götterwelt verschwunden; seine Gemahlin Freyja suchte ihn überall und vergoß dabei goldene Tränen. Dies erklärt, wieso «Tränen von Ods Geliebter» eine Kenning für «Gold» ist. Man hat Od daher auch als einen Wachstumsgott betrachtet, der bei seinem Tod beweint wird und später wieder aufersteht. Von allem dem hat die spätere Überlieferung wenig bewahrt. Dem Na­ men nach ist er eng mit Odin verwandt, der ja auch einmal «vom Thron gestoßen» wurde; falls aber Od anfänglich je in Mythen in den Vordergrund getreten sein sollte, so hat ihn Odin (dessen Name ja formell jünger ist) später ganz in den Hintergrund ge­ drängt. Die wahre Art des Gottes Heimdal (altnordisch Heimdall) ist seit langem ein Rätsel. Über ihn enthält die Mythenliteratur zahlreiche

Berichte, doch ist es hier noch nicht gelungen, diese zu einem an­ nehmbaren Ganzen zu vereinigen. Im Anfang des «Gesichtes der Seherin» ist er der Stammgott der Menschen:

Gehör heisch ich heil’ger Sippen, hoher und niedrer Heimdalssöhne...

Nach dem «Lied von Rig» ist er tatsächlich der Schöpfer der so­ zialen Ordnung. Unter dem Namen Rig verbringt er jeweilen drei Nächte bei drei Ehepaaren, welche die drei Stände vertreten: Knechte, Bauern, Edelleute. Jeweils nach neun Monaten wird je­ dem Ehepaar ein Sohn geboren, an dem dann die typische Erzie­ hung seines Standes gezeigt wird. Die Stände werden in diesem Gedicht ausgezeichnet charakterisiert; nur erweckt die Tatsache, daß wir es hier mit einer ziemlich späten Systematik zu tun haben (12. Jahrhundert), einige Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Gleichstellung von Heimdal und Rig. Über Heimdal soll es einst ein ausführliches Gedicht gegeben haben; Snorri zitiert ein paar Strophen daraus, der Rest aber ist uns nicht erhalten geblieben. Es heißt, er sei der Sohn von neun Schwestern: Einer erstand in Urtagen, ein allgewaltiger im Asenstamm; des Speers Gebieter gebaren neun Riesentöchter am Rande der Erde. Gjalp gebar ihn, Greip gebar ihn, Eystla gebar ihn und Eyrgjafa, Ulfrun gebar ihn und Angeyja, Imd und Atla und Iarnsaxa. (Hyndlalied 35, 37)

Wahrscheinlich sind die «Riesenmädchen» mit den vermutlich er­ fundenen Namen die neun Töchter des Meergottes Hkr oder Ägir. Heimdal selber wohnt in Himinbjörg (Himmelsbergen). Er ist der Wächter der Götter und bewacht den Zugang zu Asgard. Loki verspottet ihn sogar dieser offenbar wenig angenehmen Aufgabe

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wegen: er müsse dort stehen «mit schmutzigem Rücken». Bei Tag und bei Nacht hört und sieht er alles; er kennt auch die Zukunft. Lokis Vorwurf zum Trotz ist er der «glänzendste der Äsen». Sein Pferd hat eine goldene Mähne, er selber goldene Zähne. Völlig unklar bleibt es uns, wie Heimdal zu Beinamen kam, die «Widder» bedeuten; oder wieso «Heimdals Kopf» eine Kenning ist für «Schwert», und umgekehrt «Heimdals Schwert» für «Kopf». Snorri sagt, der Gott sei von einem Kopf (dem Kopf eines gehörn­ ten Tieres?) getötet worden, genauere Angaben sind aber wieder nicht zu finden. Wir erwähnten bereits Heimdals Kampf mit Loki, der Freyjas Brisingamen gestohlen hatte; dieser Kampf fand an­ scheinend im Meere statt, und beide Götter hatten die Gestalt von Robben angenommen. Die Antagonisten begegnen einander spä­ ter noch einmal: beim Ragnarök töten sie sich gegenseitig in einem letzten Kampf. Als Wächter hat Heimdal erst das Signal zu diesem letzten Kampf geblasen; das Horn, das er dazu benutzte, liegt beim Weltbaum verborgen. Auf Grund seiner leuchtenden Gestalt hat man Heimdal oft als Sonnengott oder Lichtgott aufgefaßt. Andere sehen in ihm den Gott des Weltbaumes, und seine neun «Mütter» wären die neun Welten, durch die der Weltbaum hinaufwächst. Schließlich hat man in ihm auch einen vergöttlichten Hausgeist oder Alf sehen wollen: nach dieser Auffassung wären dann die neun Mütter Disen oder Gottheiten nach Art der Matronen. Die wenigen Quellen, die wir besitzen, erwecken tatsächlich den Ein­ druck, daß man Heimdal nicht den anderen Göttern gleichstellen könne. Er ist aber wahrscheinlich nicht eine anfänglich unterge­ ordnete Gestalt, die unter den Äsen aufgenommen wurde, son­ dern vielmehr ein Gott, der ursprünglich einen größeren Platz in Kult und Mythus einnahm. Für diese Auffassung spricht wenig­ stens die Tatsache, daß er die Hauptfigur eines oder mehrerer heute verschwundener Gedichte war, und daß viele Kenningen auf seine Mythen anspielen. Mit dem Gott Bragi gelangen wir wieder in den Kreis Odins. Dieser war der Eroberer des Göttertrankes oder Dichtermets; Bragi ist der Gott der Skalden und der Dichtkunst. Er ist selber der beste der Skalden. Sein Name bedeutet eigentlich «Fürst, Krieger», doch gehört er viel eher in ein Trinkgelage als auf ein

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Schlachtfeld. Daher nennt Loki ihn spöttisch «Bankzierde» (was soviel heißen will wie «Salonheld»), und zwar nicht zu Unrecht: auf Lokis Spott reagiert Bragi bloß mit leeren Drohungen. Viel Kopfzerbrechen hat die Tatsache verursacht, daß der älteste uns mit Namen bekannte Skalde auch gerade Bragi heißt (Bragi Boddason oder Bragi der Alte). Eine tiefere Bedeutung scheint dieser Umstand aber nicht zu haben. Der Gott Bragi gehört zu Odins Gefolge in Walhalla: er empfängt dort die gefallenen Hel­ den. Seine Gemahlin ist Idun, die Göttin mit den verjüngenden Äpfeln (vgl. S. 184). In seiner Zankrede wirft Loki ihr vor: «Du giltst aller Frauen männertollste mir, seit des Bruders Töter du mit beiden Armen, den schneeweißen, umschlangst»; doch wird nir­ gends erwähnt, daß Bragi einen solchen Mord verübt hätte. Im Kult hatte er einen bestimmten Platz: beim Trinkgelage, an dem der Verstorbenen gedacht wurde, trank man auch einen bragafull, «Becher von Bragi», wobei man feierliche Gelübde aussprach. Wenn der Name des Gottes tatsächlich, wie manchmal angenom­ men wird, mit dem altindischen Wort brahman verwandt ist, haben wir hier den Niederschlag eines uralten Kultusbrauches. Der Gott selber spielt aber in der heidnischen Spätzeit keine große Rolle mehr. Vielleicht gehört er auch zur Gruppe der Wachstumsgötter (De Vries). Noch weniger wissen wir von einem Gott Fjorgyn (altnorwegisch Fjörgynn; vgl. den Namen der Göttin Fjörgyn): Frigg wird ein ein­ ziges Mal «die Tochter Fjörgyns» genannt. Auf Grund von ety­ mologischen Erwägungen hat man ihn zu einem Donnergott ge­ macht; sein Name soll verwandt sein mit dem des litauischen Per­ kunas, des altslavischen Perunu und des altindischen Parjanya. Er scheint aber nur als Gatte der Göttin Fjörgyn, einer der zahlrei­ chen Varianten der Erdgöttin (vgl. S. 184), zu existieren. Von der Etymologie seines Namens abgesehen, deutet nichts darauf hin, daß er einst eine wichtige Stelle eingenommen haben soll. Auch über Hönir ist uns nicht viel bekannt: er gehörte zu den drei Göttern, die den Menschen erschaffen hatten, und wurde nach dem Wanenkrieg zusammen mit Mimir als Geisel an die Wanen ausgeliefert. Anfänglich hielten ihn die Wanen in hohem Ansehen und wählten ihn sogar zum König, aber nachträglich entdeckten

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sie, daß seine vermeintliche Weisheit völlig auf den guten Rat­ schlägen beruhte, die Mimir ihm einflüsterte. Darauf töteten sie Mimir; über die weiteren Erlebnisse Hönirs wird nichts mehr be­ richtet und ebensowenig über eine allfällige Verehrung. Eine kleine Gruppe von Göttern scheint nur dazu da zu sein, um den Tod des einen oder anderen Gottes zu rächen. Als Fenrir bei dem Ragnarök Odin getötet hat, taucht Widar (Vißarr) als Rächer auf. Er ist der Sohn der Riesin Grid und tötet Fenrir mit einem Schwert, oder indem er ihm (wie Samson es beim Löwen tat) das Maul auseinanderreißt. Er heißt «der Schweigsame»: etwa weil er seinen Vater rächt, noch ehe er sprechen kann? Dies ist nämlich ein Zug, den wir bei Wali (altnordisch Vali, gelegentlich auch Ali) wiederfinden sowie auch beim weiter unten erwähnten Magni. Nach Balders Tod erzeugt Odin Wali bei der Riesin Rindr, die er erst verzaubert hat, um ihren Widerstand zu brechen. In der paral­ lelen Episode bei Saxo heißt der Rächer, den Othinus bei der Kö­ nigstochter Rinda erzeugt, Bous. Dieser tötet Hotherus (Hödur) erst später, aber von Wali berichtet das «Gesicht der Seherin», er sei nur einen Tag alt gewesen, als er Hödur tötete. Einzelne Spuren der Verehrung dieser beiden «Rächer», Widar und Wali, sind viel­ leicht in Ortsnamen erhalten geblieben. Eine rein mythische Figur scheint Magni, Thors Sohn, zu sein. Er rächte zwar seinen Vater nicht — Thor tötete ja den Riesen Hrungnir selber - aber erlöste ihn doch aus einer sehr heiklen Lage, indem er Hrungnirs Bein hochhob, das seinen Vater zu Boden drückte. Er verrichtete dieses Wunderwerk, als er erst drei Tage alt war. Von Thors anderem Sohn, Modi, wird lediglich erzählt, er lebe mit den drei eben ge­ nannten Göttern nach der Ragnarök in der erneuerten Welt: dort sollen ja er und Magni ihres Vaters berühmten Hammer besitzen. Solche sekundäre Gestalten können wir kaum nach ihrem Wesen erfassen. Man hat sie gelegentlich als wieder auferstandene Vegeta­ tionsgötter gedeutet; nach dieser Auffassung wären sie keine Rä­ cher der verstorbenen Götter, sondern vielmehr die neuen Träger des Lebens. Derartige Erklärungen übersehen aber die Bedeutung der Blutrache als germanisches Rechtsprinzip. Die letzte Gestalt, die wir hier zu besprechen haben, wird ge­ wöhnlich - auch in unseren Texten - zu den Riesen gerechnet.

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Eine scharfe Trennungslinie zwischen der Welt der Götter und jener der Riesen läßt sich aber nicht ziehen. Zahllose Linien laufen von einer zur anderen. So wird es verständlich, daß die Äsen nach ihrem Krieg mit den Wanen den Gott Hönir als Geisel ausliefern und ihm den Riesen Mimir als Berater mitgeben. Der recht unklare Mythus berichtet ferner, Hönir sei seiner Macht und Schönheit wegen zum König der Wanen gewählt worden. Seine weisen Aus­ sprüche wurden ihm aber von Mimir eingeflüstert. Als die Wanen dies entdeckten, enthaupteten sie Mimir und sandten seinen Kopf an Odin. Dieser machte ihn durch Behandlung mit Kräutern halt­ bar und trieb Nekromantie mit ihm (Snorri). Der Fall wird noch dadurch verwickelter, daß neben altnordisch Mimir auch die For­ men Mimr und Mimi vorkommen. Dieser letzte Name bildet den ersten Teil des Wortes Mimameipr, einer Bezeichnung für den Weltbaum. Nach Mimir ist ein Brunnen am Fuße dieses Baumes benannt (Mimisbrunnr); Odin soll sein Auge in diesem Brunnen versteckt haben, im Austausch gegen die Weisheit, die er aus ihm schöpfte. Aus diesem Brunnen stammt nämlich, dem gleichen My­ thus zufolge, der göttliche Met. Schließlich heißt es, bei der Rag­ narök habe Odin Mimirs Kopf zu Rate gezogen. W'ir haben es hier wahrscheinlich mit Wechselformen des gleichen Namens zu tun, der mit dem lateinischen memor, memoria verwandt ist. Mimir heißt denn auch «der weiseste der Riesen». Ob der berühmte Schmied Mime, der nach südgermanischen Sagen das Schwert Miming schmiedet, mit dem nordischen Mimir verwandt ist, steht nicht fest. Bei der Behandlung der kosmologischen Vorstellungen werden wir Mimir noch in einem anderen Zusammenhang begeg­ nen (vgl. S. 271). Wenn wir die lange Reihe der Götter, die wir in diesem Kapitel besprochen haben, noch einmal an uns vorüberziehen lassen, dann fallt uns auf, wie neben wenigen Hauptgöttern eine ganze Anzahl von Gestalten erscheint, die sich kaum genau umschreiben lassen. Die Hauptgötter fanden wir auch schon bei den südlichen Germa­ nen vor, die anderen jedoch nicht. Diese Feststellung will natür­ lich nicht heißen, daß die zahlreichen bloß im Norden erwähnten Götter alle Schöpfungen jüngeren Datums seien. Es gibt genug andere Möglichkeiten: sie können einfach Varianten der Haupt­ 168

götter sein, die sich lokal von diesen unterschieden; sie können aber auch alte, zu bloßen Schattengestalten verwischte Götter sein. Was die nordischen Quellen uns bieten, ist eine lückenhafte Samm­ lung von alten und weniger alten Elementen, von allgemein ver­ breiteten und lokalen oder regionalen Göttern. Daraus ein zu­ sammenhängendes System zu distillieren, wie Dumézil uns vor­ schlägt, ist eine wohl zu schwierige Aufgabe. Wir können eine ge­ wisse Spezialisierung bestimmter Götter nach den Auffassungen bestimmter Stände unterscheiden; die systematische Dreiteilung aber, die Dumézil befürwortet, kann man nicht durchführen, ohne den Tatsachen Gewalt anzutun. Und dabei müssen wir uns dar­ über klar sein, daß die Wirklichkeit, sowohl die soziale wie die religiöse, zweifellos noch komplizierter war, als sie in unseren Quellen beschrieben wird.

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WEIBLICHE GOTTHEITEN

Was veranlaßt den Menschen, sich eine Gottheit als weibliches Wesen vorzustellen? Er kann in ihr die Spenderin des physischen Lebens sehen: wie die Mutter das menschliche Leben empfangt, trägt und zur Welt bringt, so ist auch die Erde eine lebenspen­ dende Mutter, die Wälder, Wiesen und Ernten schenkt. Das Leben kann in ihr erweckt werden durch einen himmlischen Gatten, einen Sonnen- oder Himmelsgott, doch scheint man sich den nicht immer als unentbehrlich vorgestellt zu haben; er trat wenigstens nicht immer unverkennbar als solcher hervor. Das weibliche, le­ benspendende Element konnte aber auch in einer Kollektivität verkörpert werden, in einer Gruppe wenig von einander abwei­ chender weiblicher Gottheiten. Solche Göttinnen nahmen fast zwangsläufig einen niederen Rang ein, standen aber gerade da­ durch dem Menschen und seinen täglichen Bedürfnissen näher. Bei den Germanen treffen wir beide Anschauungen nebeneinan­ der an. Es gibt sogar Fälle, in denen wir kaum feststellen können, welche der beiden Auffassungen nun eigentlich vorherrscht. Der Grund dazu hegt wohl darin, daß der Kult der weiblichen Gott­ heiten in historischer Zeit so wenig in den Vordergrund tritt. Wie wir schon beiläufig bemerkten, kann man hierin vielleicht eine «Vermännlichung» der germanischen Götterwelt und Religion sehen. An diesem Vorgang können soziale und politische Fakto­ ren, namentlich die Festigung der zentralen Gewalt, einen Anteil gehabt haben. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß der Göttinnenkult meistens eine Angelegenheit des Einzelmenschen (vor allem der Frau) und der Familie war und schon deshalb in unseren Tex­ ten so wenig zum Ausdruck kommt. Es unterhegt keinem Zweifel, daß viele der den Quellen und Wasserläufen dargebrachten Opfer eigentlich für huldreiche weibhche Gottheiten bestimmt waren. Schon in der Bronzezeit finden wir bei den Germanen Spuren der Verehrung von Göttinnen. Nicht nur hat man zahlreiche Schmucksachen von Frauen aufgefunden, die aller Wahrschein­ lichkeit nach Göttinnen geopfert wurden, sondern wir möchten

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hier vor allem an die kleinen Bronzefigürchen erinnern, in denen die Idee der weiblichen Fruchtbarkeit sehr deutlich ausgedrückt wird. Sie werden wohl am besten als Opfer an eine Fruchtbarkeits­ göttin gedeutet. Auch in den Felszeichnungen hat man Spuren eines Glaubens an eine reichlich spendende Mutter Erde gefunden. Unter den weiblichen Gottheiten der historischen Zeit müssen wir zunächst eine Gruppe Göttinnen erwähnen, die zur Zeit der Römer besonders häufig verehrt wurden: die Matres, Matronae oder Muttergöttinnen. Hunderte von Weihaltären aus der römi­ schen Germania und aus England zeugen für die Frömmigkeit ihrer Verehrer. Inschriften, die diesen Göttinnen gewidmet sind, kommen aber auch in Gallien und Italien vor, und da erhebt sich schon bald die Frage, ob es sich hier nicht um einen Kultus han­ delt, den romanisierte Germanen von den Galliern übernommen hatten. Für diese Auffassung könnte die Tatsache sprechen, daß man diese Göttinnen nur selten mit Gottheiten aus dem freien Germanien vergleichen kann. Dem steht aber wieder gegenüber, daß die Weihaltäre und Votivtafeln als Kult/örz» notwendigerweise auf mehr oder weniger romanisierte Gegenden beschränkt bleiben mußten. Das Fehlen paralleler Figuren läßt sich großteils aus der Knappheit des germanischen Materials gerade auf diesem Gebiet erklären. Für den einheimischen Charakter dieses Kultes zeugen schon die verschiedenen Beinamen von Matronen, die mit Sicher­ heit oder Wahrscheinlichkeit auf einen germanischen Ursprung zurückzuführen sind. Von großer Bedeutung ist auch der Bericht Bedas über den Jahresanfang bei den noch heidnischen Bewoh­ nern Englands. Das angelsächsische Jahr begann mit der Modranihi, id est matrum noctem, «Modraniht, d. h. die Nacht der Mütter». Es handelt sich hier also wohl eher um gleichartige, vielleicht ur­ verwandte Erscheinungen bei Galliern und Germanen, als um einen von den Germanen übernommenen Kult. Der Schwerpunkt des Matronenkultes lag im Gebiet der Ubier, eines germanischen Volksstammes, der sich 38 v. Chr. auf dem linken Rheinufer westlich von Köln und Bonn niederließ. Dort ist ungefähr die Hälfte der insgesamt 800 Matroneninschriften an den Tag gekommen. Nimwegen, Xanten und der Unterlauf des Main waren ebenfalls wichtige Zentren dieses Kultes; ferner findet man 171

noch Spuren an vereinzelten Orten in den Provinzen Belgica und Germania Superior. Die ältesten Tafeln datieren aus dem Anfang des zweiten Jahrhunderts. Nach einem Höhepunkt in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts ist diese Form der Verehrung im Laufe des nächsten Jahrhunderts oifenbar ausgestorben. Der Un­ terschied zwischen den Bezeichnungen Matres, Matronae und Matrae scheint nicht von grundlegender Bedeutung zu sein, son­ dern beruht wohl eher auf einem regionalen Vorzug für die eine oder andere Form. Matrae kommt vor allem in Germania Superior, Matronae in Germania Inferior vor. Da noch immer neue Matronentafeln ans Licht kommen, und die bisher dem Kultus gewidmeten Studien sich ausschließlich oder doch zur Hauptsache auf die Inschriften stützen und jene Tafeln, die bloß eine Abbildung von Göttinnen tragen, kaum berücksich­ tigen, ist es schwer, schon heute zu einem endgültigen Urteil über diesen Kult zu gelangen. Die Ergebnisse, zu denen Gutenbrunner in seinem Werk über die germanischen Götternamen der antiken Inschriften kam, werden denn auch nachgeprüft und ergänzt wer­ den müssen. Zum Studium der germanischen Religion sind natür­ lich bloß jene Inschriften direkt verwendbar, wo die Muttergott­ heiten durch ihre Beinamen oder durch sonstige Merkmale unver­ kennbar als germanisch gekennzeichnet sind. Auf germanische Spender deuten z. B. die Bezeichnungen: Matribus Suebis, «den suebischen Müttern», Matribus meis Germanis, «meinen germani­ schen Müttern», Matribus Frisiavispatemis, «den väterlichen friesi­ schen Müttern», hin. Zugleich erhellt hieraus, wie eng die Bande zwischen diesen Gottheiten und ihren Verehrern waren: die Matres werden regelmäßig «meae», «paternae», «maternae» genannt. Sie waren also entweder die persönlichen Schutzherrinnen desjenigen, der sie verehrte, oder auch die Göttinnen, denen die Familie seines Vaters oder seiner Mutter besonders ergeben war. Als zweifellos germanisch dürfen die Namen gelten, die in ihrer lateinischen Um­ gebung die alte germanische Dativendung beibehalten haben: Aflims (neben der lateinischen Form Afliabus), Vatvims (neben Vatviabus). Aus diesen Namen und anderen gleicher Art hat man auf das Wesen und den Tätigkeitsbereich der Matres und Matronae zu schließen versucht. Selten gelangt man dabei zu ganz sicheren 172

Resultaten; die Angaben sind aber ausreichend, um uns einen all­ gemeinen Eindruck ihres Kultes zu vermitteln. Daß in einem Ge­ biet wie das der Ubier nicht alle Namen als germanisch gedeutet werden können, sollten wir eigentlich von vornherein erwarten: muß doch ihre friedliche Ansiedlung im römischen Reich zu einer Vermischung mit keltischen Bevölkerungselementen Anlaß gege­ ben haben, während die dauernde Einquartierung starker Garni­ sonen zu Kontakten mit sehr verschiedenen römischen Elementen führte. Als germanisch dürfen wir weiter betrachten: die Gabiae oder «Spenderinnen» und die dem Namen nach mit ihnen ver­ wandten Alagabiae, «die reichlich Spendenden (vgl. ferner Friagahis und Garmangabis'); die Afliae, «die Göttinnen, welche Kraft schenken oder vermehren»; die Arvagastiae, «die Gastfreund­ lichen»; die Alaisiagae, «die Schreckenerregenden»; die Vatviae, die irgendwie in Beziehung zum Wasser standen; die Alaferhuiae, die zwar nicht ausdrücklich Matronen genannt werden, aber den­ noch als «Allesbelebende» oder «Lebenskraft Spendende» zweifel­ los zum gleichen Typus gehören usw. Andere Namen weisen auf einen lokalen Kult hin: die Julineihiae waren ohne Zweifel die Göt­ tinnen von Jülich (Juliacum); der Name der Vacallinehae ist von einer keltischen Form abgeleitet, die dem germanischen Namen der Waal entspricht. Die Mah(a)linehae werden mit dem ziemlich verbreiteten Ortsnamen Mah(a)linium (vgl. Mecheln) in Zusam­ menhang gebracht. Ob sich dieser Göttinnenname unmittelbar vom Ortsnamen oder vielmehr vom Grundwort mahal, «(Volks)versammlung, Gericht», ableitet, konnte nicht mit Sicherheit er­ mittelt werden. Einige Hinweise in bezug auf das Wesen dieser Göttinnen fin­ den wir auch in der Art, in der sie dargestellt sind. Gewöhnlich sind die Göttinnen zu dritt. Im Rheingebiet sitzen sie meist alle drei und haben ein Körbchen mit Früchten auf dem Schoß; manchmal auch sitzt bloß die mittlere, während die beiden anderen zu beiden Seiten neben ihr stehen. Die mittlere wird oft als ein junges Mädchen mit lose herabhängendem Haar dargestellt, die beiden anderen aber sind gewöhnlich durch eine eigenartige Haube als verheiratete Frauen gekennzeichnet. (Die gallischen Abbildun­ gen weisen abweichende Haar- und Kleidertrachten und andere 175

Attribute auf.) Die Frage, warum es gerade drei Göttinnen sind, warum sie in verschiedener Weise dargestellt werden, und was diese Unterschiede eigentlich bedeuten, ist noch nicht beantwor­ tet; doch werden die aus ihren Namen abgeleiteten Charakterzüge durch die Abbildungen bestätigt. Man hat festgestellt, daß die Verehrer dieser Göttinnen meist zu den unteren Ständen gehörten, wenn auch gelegentlich unter ihnen höhere Beamte und Offiziere vorkamen. Aus den Reliefs, den Texten und den Namen dürfen wir schließen, daß sie die Mutter­ gottheiten anriefen, um Glück und Wohlstand oder um Schutz gegen drohende Gefahren und Katastrophen zu erhalten. Der Kult wurde offenbar meistens von einer Familie oder einer Gemein­ schaft ausgeübt, manchmal aber beteiligte sich ein ganzes Dorf oder sogar ein ganzer Stamm daran. Es ist auffallend, daß die Ver­ ehrung dieser Gottheiten gerade bei den Germanen, die unter rö­ mischer Oberhoheit lebten, so häufig vorkam (im Gegensatz zur Verehrung der Götter, die wir z. B. durch Tacitus kennen); dies hängt wohl mit der Tatsache zusammen, daß eine solche «niedere» Religion weniger eng mit der eigenen Gesellschaftsordnung ver­ bunden war. Die höheren Götter waren ohne Zweifel dem Druck ihrer römischen Gegenspieler und anderer, z. B. orientalischer, Eindringlinge mehr ausgesetzt. Mögen auch die Spuren, die diese Göttinnen in den späteren germanischen Quellen zurücklassen, ziemlich selten sein, so sind sie dennoch unverkennbar. Wir erwähnten bereits die «Mütter», die der altenglischen Modraniht den Namen gaben. Ihnen wurden in der Julzeit Opfer dargebracht. Die Disen des Nordens sind ihre nächsten Verwandten. Auch jenen wurde im Winter geopfert. Sie werden gelegentlich mit den Walküren und namentlich mit den Nomen, den nordischen Schicksalsgöttinnen, verglichen, und da­ für finden wir schon wieder eine Parallele in einer den Matribus Parcis, «den Müttern, den Schicksalsgöttinnen», gewidmeten In­ schrift. Die Disen sind auch Wahrsagerinnen, sie prophezeien die Zukunft. Bei Geburten leisten sie Hilfe. Dies sind alles Züge, die wir bei den Matronen ebenfalls vorfinden. Mit dem Matronenkult hat man auch spätere weibliche Triaden in Zusammenhang gebracht; namentlich die in der Rheingegend 174

schon sehr früh einsetzende Verehrung der drei heiligen Marien hat man als ein Fortleben dieses Kultes betrachten wollen. Die Dreizahl bildet aber ein zu häufiges Motiv, als daß es eine solche Auslegung rechtfertigen könnte, einerlei, ob die Figuren einer in späterer Zeit aufgefundenen Matronentafel gelegentlich als die drei heiligen Frauen interpretiert wurden. Wichtiger ist die Frage, ob wir alle diese «Mütter» von einer einzigen Muttergöttin, der Mut­ ter Erde, ableiten können. Die Antwort muß u. E. verneinend lauten; gerade die Vielzahl, das Auftreten zu dritt, ist für diese Göttinnen kennzeichnend. Neben den Matres-Matronae kommen andere weibliche Gott­ heiten entweder allein oder in Paaren vor. Von diesen erwähnen wir zunächst Nehalennia, die vor allem auf Walcheren verehrt wurde; einige zwanzig Inschriften fanden sich bei Domburg, zwei bei Deutz. Die Göttin wird für gewöhnlich sitzend dargestellt, mit Früchten in einem Korb oder auch auf ihrem Schoß. Auf drei Re­ liefs stützt sie ihren Fuß auf den Steven eines Schiffes; öfters hat sie einen Hund bei sich. Für ihren Namen hat sich noch keine Er­ klärung gefunden; aber die Weihetafeln, die ihr von ihren Ver­ ehrern gewidmet wurden, tragen Inschriften wie: «für sich und die Seinen»,'«für das Wohlergehen seines Sohnes», oder «aus Dank­ barkeit für die Errettung der Kaufware», und deuten also auf ein Tätigkeitsgebiet wie das der Matronen. Das Schiff erinnert noch an die weiter unten zu erwähnende Isis (Tafel 16). Auf den zwei Steinen, die Mars Thincsus nennen, werden auch die Alaisiagae erwähnt; auf einem der beiden werden sie näher be­ zeichnet als Beda und Fimmilena; auf einem dritten heißen sie Baudihillia und Friagabis. Letztere ist wiederum eine «reichlich Spen­ dende». Die anderen Namen und auch Alaisiagae (die Schrecken­ erregenden?) sind umstritten; da aber der Stifter der einen Tafel ein Germane (Hnaudifridus) war, während die andere von Twen­ tern (cives Tuihanti) gestiftet wurde, die zu einer friesischen Heeresabteilung gehörten, haben wir es auch hier mit germanischen Gott­ heiten zu tun. Es muß bemerkt werden, daß die drei Inschriften im Norden Englands, und zwar in der Nähe der von Hadrianus er­ richteten Verteidigungslinie, aufgefunden wurden (vgl. S. 132). Daraus erhellt, daß wir auch schon in jener Zeit mit einem «Ex­ 175

port» von Kulten und Gottheiten rechnen müssen. Einen weiteren Beweis für diesen Export liefert ein in der Nähe von Durham ent­ deckter Altar der Göttin Garmangabis, «der reichlich Schenken­ den»; eine Gruppe suebischer Soldaten ließ ihn dort errichten. Dem Namen nach war die von Tacitus erwähnte Baduhenna eine Kriegsgöttin. In der Nähe ihres Heiligtums, irgendwo in Fries­ land, wurden im Jahre 28 n. Chr. neunhundert römische Soldaten niedergemetzelt. Über den eigentlichen Kult wissen wir nicht viel mehr, als daß diese Göttinnen in Tempeln verehrt wurden. So gab es in Pesch, südöstlich von Aachen, einen Tempel der Vacallinehae, in dem an die sechzig Inschriften gefunden wurden. Der Form nach stand der Kult also schon unter einem starken römischen Einfluß. Die auf den ersten Blick ein wenig bestürzende Verschiedenheit von Na­ men verbirgt vielleicht eine recht große Einheit in den Vorstellun­ gen über diese Göttinnen; trotzdem fallt es nicht leicht, sie alle als lokale Varianten eines gleichen Typus zu deuten. Es ist eigenartig, daß Tacitus über diese weiblichen Gottheiten so wenig mitteilt; dennoch war auch ihm einiges über ein paar im freien Germanien verehrte Göttinnen bekannt. Der fremde Name der Göttin Isis, die von einem großen Teil der Sueben verehrt wurde, ist seiner interpretatio romana zuzuschreiben. Der Historiker glaubt aber annehmen zu dürfen, daß sie ursprünglich gar keine germanische Gottheit war; ihr signum (Attribut) hat die Form eines kleinen, schnell fahrenden Schiffes (liburna). Dies beweist natürlich noch nicht, daß diese Isis eine von einem anderen Volk übernommene Göttin wäre. Schon in der Bronzezeit war ja das Schiff bei den Germanen ein heiliges Symbol, und in der Nähe der germanischen Grenze wurde Nehalennia mit einem Schiff abge­ bildet. Im Kapitel über die Wanen erwähnten wir bereits den Nerthuskult (vgl. S. 137). Wir machten darauf aufmerksam, daß der Kult dieser Fruchtbarkeitsgöttin mit einem feierlichen Umzug verbun­ den war, aber nicht unbedingt eine «heilige Hochzeit» umfassen mußte. Es ist sogar nicht einmal ganz sicher, daß wir die wahre Art dieser Göttin mit dem Audruck «Fruchtbarkeitsgöttin» richtig umschreiben. Baetke betont mit Recht, daß ihre Verehrer von ihr 176

noch etwas anderes zu erhalten wünschten als die Fruchtbarkeit von Menschen, Tieren und Pflanzen. Wenn wir hier von «Frucht­ barkeit» sprechen, so meinen wir damit auch «Milde» und sogar «Gnade». Wie vielgestaltig diese ganze Vorstellung eigentlich ist, erhellt noch aus der Beziehung, die solche Gottheiten oft zu der Unterwelt und dem Reich der Toten hatten; diesen Zug treffen wir nicht nur bei der nordischen Freyja, sondern auch bei der grie­ chischen Persephone usw. an. Im späteren Kult tritt keine einzige Göttin so deutlich in den Vordergrund wie Nerthus zur Zeit von Tacitus; die weiblichen Gottheiten scheinen gänzlich von den männlichen verdrängt wor­ den zu sein. Daß sich der allgewaltige Himmelsgott nach und nach zu einem deus otiosus verwischte, hat möglicherwese eine Rück­ wirkung auf die Stellung seiner Gemahlin gehabt: nach seiner Verdrängung war auch für sie kein Platz mehr da. Vielleicht hängt die Prominenz von Nerthus noch mit der Tatsache zusammen, daß der Himmelsgott in ihrem Gebiet noch nicht zu einer zweitrangi­ gen Figur abgesunken war: einige Jahrhunderte später wurde Tiw dort immer noch verehrt, wenn auch unter dem Namen Saxnot. Es ist auch durchaus möglich, daß Züge der Muttergöttin im Laufe der Zeit von anderen Göttinnen übernommen wurden, ohne daß wir diese deswegen als ihre direkten Nachkommen zu betrachten brauchen. Die Geschichte dieser Entwicklung entgeht uns fast vollkommen, weil der spätere Göttinnenkult hauptsächlich ein Privat- oder Familienkult war; nirgends scheint sich eine größere Gemeinschaft unter den Schutz einer dieser Göttinnen gestellt zu haben. Ob dies für das ganze skandinavische Gebiet gilt, wissen wir nicht; vielleicht muß man mit gewissen örtlichen Unterschie­ den rechnen. Zugleich stellen wir fest, daß die Opfer meistens einer Gemeinschaft von weiblichen Gottheiten dargebracht wur­ den, nicht etwa einer einzigen, stärker individualisierten Göttin. Dies erinnert uns wieder an den Matronenkult. Die nordischen Göttinnen, die sich aus der Masse hervorheben, sind vorwiegend Mythenfiguren. Bloß eine von ihnen, Freyja, scheint auch im Kul­ tus den Menschen nähergekommen zu sein. Wenn Snorri alle weiblichen Gottheiten Asinnen (Asynjur) nennt, braucht er diesen Ausdruck einfach in der Bedeutung von

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«Göttinnen». Sogar Freyja, die er doch ausdrücklich zu den Wanen zählt, ordnet er unter die Asinnen ein. Andrerseits vermeidet er es nach Möglichkeit, den Ausdruck Disen (Disir) zu verwen­ den, der anderswo eine Gemeinschaft weiblicher Gottheiten be­ zeichnet. Derartige Göttinnen kannten die Südgermanen unter dem Namen Idisi. Der erste Zauberspruch von Merseburg läßt sie bei einer Schlacht Hilfe leisten: sie sollen das feindliche Heer in panischen Schrecken versetzen und die Gefangenen befreien, die sich in der Gewalt des Feindes befinden. Es läßt sich schwerlich entscheiden, ob sie in einzelnen wohltätigen Frauengestalten des Volksglaubens fortleben. In Skandinavien wurden die Disen offen­ bar häufig verehrt, aber gerade weil dies wenig oder gar nicht in jenen Kreisen geschah, aus denen unsere Berichte stammen, erfah­ ren wir eigentlich sehr wenig darüber. Ihr Kult ist aber in Schwe­ den wohl eine bedeutendere Angelegenheit gewesen: nach ihnen wurde ja eine Volksversammlung mit Jahrmarkt Disfing, «Thing der Disen», genannt, was auf ein älteres Zusammengehen mit einem Disenopfer hindeutet. In seiner Heimskringla erwähnt Snorri sogar einen Disentempel. Die Einzahlform Dis wird in Zusam­ mensetzungen für mehrere Göttinnen verwendet: Freyja heißt Vanadis, «Wanendise», Skadi öndurdis, «Schneeschuhdise». In der mythologischen Literatur werden die Disen sonst selten oder nie erwähnt. Wahrscheinlich standen sie nicht auf gleicher Stufe wie die anderen Göttinnen, sondern gehörten eher zur Kategorie der Walküren oder Nomen, die von den Dichtern manchmal auch «Disen» genannt werden. Die Göttin, die bei den südlichen Germanen Frija und bei den Skandinaviern Frigg hieß, wird gewöhnlich als die Gemahlin von Wodan-Odin beschrieben. In den Mythen spielt sie aber meist eine viel kleinere Rolle als ihr Gatte. Wir begegneten ihr bereits unter dem Namen Frea als ehe Schutzherrin der Winnilen in ihrem Kampf gegen die Wandalen. Ihrer List verdankten die Winnilen den Sieg; sie brachte zugleich Wodan dazu, ihnen einen neuen Namen zu geben: Langobarden. Im zweiten Merseburger Zauber­ spruch ist sie eine der Göttinnen, die das verletzte Pferd eines Got­ tes durch eine Beschwörung zu heilen versuchen. Ihre Existenz auf dem Festland wird übrigens bloß durch den Namen des sechs178

ten Wochentages bestätigt, der gleichzeitig eine ganz andere Seite ihres Wesens zu beleuchten scheint. Der Name Freitag, dem althochdeutsch friatac, altenglisch frigedag, (englisch Fridaj) und niederländisch vrijdag entsprechen, ist die Übersetzung ins Ger­ manische des lateinischen Namens des sechsten Tages: dies Veneris, «Tag der Venus» (franz, vendredi). Wenn Frija tatsächlich «die Geliebte» bedeutet, wie man oft annimmt, lag diese Übersetzung natürlich auf der Hand. Nur wissen wir nicht, was «Venus» den Germanen bedeutete; bei Frija scheint nämlich das erotische Ele­ ment nicht in den Vordergrund getreten zu sein. Nicht nur in der Stammsage der Langobarden kam Frija mit ihrem göttlichen Gemahl in Konflikt; auch im Norden erzählte man solche Sagen. Im «Grimnirlied» ist Odin der Schutzherr Geirröds (ein Name, der mit geirr, «Speer», zusammenhängt), des jüngsten Sohnes von König Hraudung, während Frigg dessen äl­ testen Sohn Agnar unter ihrer Obhut hat. Durch eine List, die ihm Odin eingeflüstert hat, kommt Geirröd nach dem Tode seines Vaters auf den Thron. Als Odin dann Frigg verspottet wegen des wenig ruhmvollen Lebens, das ihr Schützling unterdessen führt, hält sie ihm die Habgier seines Pflegesohnes vor. Der Gott will selber die Unrichtigkeit dieses Vorwurfs beweisen und schickt sich an, vermummt am Hofe Geirröds zu erscheinen, um diesen auf die Probe zu stellen. Frigg aber läßt dem König die Warnung zukommen, es werde sich ein Zauberer bei ihm einfinden, der ihn verhexen wolle. Als Odin dann eintrifft, läßt Geirröd ihn ergrei­ fen und acht Tage lang mit Feuer foltern. Nur Geirröds Sohn, der ebenfalls Agnar heißt, hat Mitleid mit Odin und bringt ihm Nah­ rung. Als Odin sich dann endlich in seiner wahren Gestalt zeigt, stürzt sich Geirröd in sein Schwert und stirbt; Agnar wird sein Nachfolger. In diesem Mythus verteidigt Frigg also eigentlich das Recht gegen einen Einbruch, zu dem der nicht sehr skrupulöse Odin seinen Schützling angestiftet hat. Weniger ehrenhaft ist aber ihr Auftreten in der Mithothynepisode bei Saxo. Als König von Byzanz hatte Othinus von den Fürsten aus dem Norden, die ihn als Gott verehrten, eine goldene Statue bekommen. Seine Gemah­ lin Frigga, die sehr prunksüchtig war, hätte das Gold gern in ihren Besitz gebracht, um es zu Juwelen umarbeiten zu lassen.

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Nachdem ein erster Versuch mißlungen war, schenkte sie einem Günstling ihre Liebe, unter der Bedingung, daß er das Gold steh­ len solle. Diese Schande war zuviel für Othinus; er ging freiwillig in die Verbannung, und Mithothyn trat für eine Weile an seine Stelle. An einer Verbannung des Othinus wegen Zauberei, wäh­ rend der Ollerus (Uli) seine Stelle einnahm, scheint Frigga aber keine Schuld zu haben. Anläßlich eines nicht näher umschriebenen Ereignisses während irgendeiner «Abwesenheit» Odins warf Loki ihr vor, sie sei «lüstern nach Liebe» und habe mit Odins Brüdern Wili und We ein Verhältnis gehabt. Loki verschwieg natürlich, daß sie diese Brüder erst geheiratet hatte, als jedermann Odin für tot hielt, und Wili und We die Herrschaft über sein Reich über­ nommen hatten.

In dem Mythus um Balder wird Frigg zu einer Gestalt von er­ greifender Tragik. Als besorgte Mutter hatte sie alles, was sie ver­ mochte, getan, um das drohende Unheil von ihrem Sohn abzuwen­ den. Alle Lebewesen hatten ihr eidlich versprochen, ihm nichts zuleide zu tun; nur eine unansehnliche Pflanze, die Mistel, die sie für ungefährlich gehalten, hatte ihr diesen Eid nicht abgelegt. Loki wußte ihr dieses Geheimnis zu entlocken, und das bedeutete Balders Tod. Ein Hoffnungsstrahl blieb ihr noch: könnte man nicht Balder aus dem Totenreich befreien? Wiederum war es Loki, der diese Hoffnung vereitelte und nachher sogar mit ihrem Schmerz noch seinen Spott trieb. Ein ebenso großes Leid steht ihr aber noch bevor: der Tod Odins im letzten Kampf wider die Dä­ monen. Hier stoßen wir auf den Kern ihres Wesens: sie ist die liebende göttliche Mutter und Gattin - allen Anschuldigungen zum Trotz. Der Name Friggs kommt nur selten in Ortsnamen vor. Es gibt auch keine anderen Hinweise dafür, daß sie eifrig verehrt worden wäre. Dennoch hatte das Volk ihr einst eine aktivere Rolle zuge­ dacht: sie leistete Hilfe bei der Geburt, sie kannte die Zukunft und beschützte wahrscheinlich die Ehe. Dadurch kommt sie in die Nähe der Matronen zu stehen. Wenn wir über ihren Kult nichts weiteres wissen, so gerade deshalb, weil sie zu jener Gruppe weib­ licher Gottheiten gehörte, die in erster Linie von Frauen verehrt 180

wurden. Die Ehe von Frija-Frigg mit Wodan-Odin reichte offen­ bar nicht aus, sie auf immer in den Vordergrund zu stellen. Infolge der bereits erwähnten Beschuldigungen der Untreue hat man sie zuweilen zu den Fruchtbarkeitsgöttinnen gezählt und sie als «die Vergöttlichung der Braut in der heiligen Hochzeit» angesehen. Vergessen wir aber nicht, daß sie nicht mit dem Himmelsgott, son­ dern mit einem Kriegsgott verheiratet ist, der sich durchaus nicht in erster Linie als ein Gatte und Vater aufführt. Daß Loki ihr Un­ treue und Lüsternheit vorwirft, genügt nicht, um sie ausschließ­ lich zu einer Fruchtbarkeitsgestalt zu stempeln: was hätte er ihr sonst vorwerfen können? Gerade dem richtigen Verständnis der Frigg-Figur wäre es för­ derlich, wenn wir im Süden Spuren der Göttin Freyja fänden, doch ist dies leider nicht der Fall. Neben einer Mutter Erde war auch eigentlich gar kein Platz für eine solche Gottheit: Nerthus schenkte ja bereits alles, was Freyja hätte schenken können. Von Freyja kann man ruhig sagen, daß sie eine Erscheinungsform der Mutter­ göttin sei; dies beweisen sowohl ihre Abstammung von den Wanen wie ihre inzestuösen Beziehungen zu Freyr. Ihr Name ent­ spricht übrigens ganz dem ihres Bruders und Gatten; sie ist die «Herrscherin», die «Fürstin», wie er der «Herr» und «Fürst» ist. Zu wiederholten Malen wird ihr schändliches Benehmen angepran­ gert, nicht nur von Loki, sondern auch von der Seherin Hyndla; man wirft ihr u. a. vor, sie habe Od mit ihrer Liebe verfolgt. Ihr Verhältnis zu Od scheint aber eine ganz andere Bedeutung gehabt zu haben, wenigstens laut Snorri: «Freyja ist mit Od verheiratet; ihre Tochter heißt Hnoss... Od unternahm weite Reisen, und Freyja weinte um ihn, und ihre Tränen waren aus reinem Gold. Freyja hat viele Namen, und zwar aus diesem Grund: sie gab sich verschiedene Namen, als sie unter unbekannten Völkern Od su­ chen ging. Sie heißt Mardöll, Horn, Gefn, Syr. Sie besitzt die Halskette Brisingamen. Sie wird auch Fürstin der Wanen genannt.» Od ist der sehr verschwommene, unklare Gott, dessen Name eng mit dem Odins verwandt ist, und der vielleicht selber eine ältere Erscheinungsform dieses Gottes ist. Aus Snorris zu knapper Be­ merkung schließt man, Freyja müsse die Gattin (und Mutter?) eines sterbenden und wieder auferstandenen Vegetationsgottes in 181

der Art von Adonis und Osiris gewesen sein, Ihre goldenen Trä­ nen und der Name ihrer Tochter (Hnoss = «Schmuckstück, Ju­ wel») kennzeichnen sie als die Spenderin von Reichtümern. Man rief sie auch um reichliche Ernten an, was wieder ihrer Wanennatur entspricht. Von allen Göttinnen wurde sie denn auch am meisten verehrt, namentlich in Norwegen. Daran erinnert wieder das «Hyndlalied», in dem die Göttin selber den Helden Ottar lobt: Er stellte das Weihtum aus Stein mir auf, dem Glase gleich glänzt nun der Stein; er rötet ihn frisch mit Rinderblut: Ottar ehrte die Asinnen stets. (Hyndlalied io)

Im gleichen Lied erscheint Freyja, sitzend auf Hildiswin, «Kampf­ eber»; wurden etwa auch ihr Schweine geopfert, wie ihrem Bruder Freyr, der ja ein gleichartiges Reittier benutzte? Darauf könnte auch ihr Beiname Syr, «Sau», hindeuten. Ihr Einfluß erstreckte sich auf verschiedene Gebiete. Man rief sie an bei einer Geburt, was noch durch ihr Attribut, das Brisingamen, bestätigt wird. In der späteren Literatur wird dies als eine kostbare Halskette beschrie­ ben. Älteren Quellen zufolge war es aber ein Amulett, wahrschein­ lich in Form eines Gürtels, den man der Kreissenden umlegte, um ihr die Entbindung zu erleichtern. Freyja spielte aber auch eine Rolle in der Totenwelt:

Folkwang heißt der neunte (Göttersaal), doch Freyja waltet Dort der Sitze im Saal; Tag für Tag kiest sie der Toten Hälfte, Doch die andre fällt Odin zu. (Grimnirlied 14)

Man sollte meinen, es seien vor allem die Frauen gewesen, die nach dem Tod bei ihr zu verweilen hofften; doch deutet der Name ihres Reittieres daraufhin, daß sie auch mit dem Krieg zu tun hatte. Das «Lied von Grimnir» weist in die gleiche Richtung: die Toten, die Tag für Tag zu ihr kommen, sind eben auf dem Schlachtfeld ge­ fallen; wie auch die Langobarden ihren Sieg über die Wandalen der Frea verdankten. Ferner soll sie die Äsen eine besonders

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schädliche Form der Magie gelehrt haben, die mit sexueller Per­ versität verbunden war - wiederum ein Aspekt ihrer Wanenart. Noch rätselhafter ist das Gespann, mit dem sie zu Balders Trauer­ feier fährt: ihr Wagen wird von Katzen gezogen. Es ist fast nicht denkbar, daß dieses Motiv nicht irgendwie mit den Darstellungen der ursprünglich vorderasiatischen Muttergöttin Kybele Zusam­ menhängen sollte, deren Wagen von Löwen gezogen wurde. Wei­ tere überzeugende Beweise für die Übernahme Freyjas aus einer fremden Religion fehlen aber völlig. Deshalb betrachten wir sie als eine germanische Erscheinungsform der Erdgöttin, der Terra Mater von Tacitus. Über die anderen Göttinnen wissen unsere Quellen meist noch viel weniger Bescheid als über Frija-Frigg und Freyja. Deshalb be­ kommen wir den Eindruck, daß sie sich alle sehr ähnlich sind. In der von Snorri hergestellten Liste der «Asinnen» finden wir Figu­ ren, die weder in Mythen noch im Kult irgendeine Rolle zu spielen scheinen; offenbar hat Snorri aus allerlei Kenningen auf ihr Vor­ handensein geschlossen, ohne jedoch ihre eigentliche Art zu ken­ nen. Da ist z. B. Saga, die mit Odin in Sökkwabekk (Sekkvabekkr, «versunkene Bank») wohnt und eine Variante von Frigg ist; denn diese wohnt ja in Fensalir, dem «Palast unterm Wasser». Da gibt es ferner Eir, die sehr erfahren ist in der Heilkunde, was an die Ma­ tronen gemahnt; Fulla ist eine Dienerin Friggs, die die Eschen­ truhe der Göttin trägt und sich um ihr Schuhwerk kümmert; Lofn erwirkt von Allvater (Odin) oder von Frigg die Erlaubnis zum Verkehr von Mann und Frau, wahrscheinlich weil Snorri ihren Namen mit dem Worte lof, «Erlaubnis», verband. War (Vär) wacht über Eide und Gelübde und straft die Meineidigen; ihr Name ist wohl verwandt mit dem von Wär (Vor), einer «weisen Seherin», deren Name aber «Geliebte» zu bedeuten scheint, und die also wieder mit Frigg zu vergleichen ist. Syn wacht über den Hausfrieden und die Rechtspflege. Hlin schützt die Menschen, denen sich Freyja gnädig erweist. Snotra («die Weise») schenkt Bedächtigkeit und Weisheit. Gnd ist Friggs Botin. Aus dieser Übersicht geht deutlich hervor, daß diese Göttinnen den Matronen der römischen Zeit entsprechen. Ein paar weitere Namen bestätigen diese Annahme. Freyjas Beiname Gefn ist ver­

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wandt mit denen der Gabiae, Alagabiae, Friagabis und Garmangabis, die alle vom Stamm des Zeitworts «geben» abgeleitet sind. Das gleiche gilt für den Namen Gefjuns, die auch eine mild schenkende Göttin war. Über sie berichtet Snorri folgendes: Als die Äsen aus Byzanz nach dem Norden zogen, sandte Odin Gefjun voraus, um Land zu suchen. Der schwedische König Gylfi versprach ihr so­ viel Land, wie sie pflügen könne. Sie hatte vier Söhne von einem Riesen, und diese verwandelte sie nun in Stiere, die sie vor ihren Pflug spannte. Auf diese Weise pflügte sie die Insel Seeland aus Gylfis Reich heraus: wo die Insel verschwand, liegt jetzt der Mälarsee. Diese letzte Einzelheit braucht nicht alt zu sein; ursprüng­ lich war wohl eher der Öresund die Furche, die sie mit ihrem Pflug gezogen hatte. Loki wirft Gefjun ihre Beziehungen zu einem «weißen Knaben» vor, der ihre Liebe mit einem Geschenk erkauft hätte. Wenn wir hierüber auch nichts weiteres wissen, so ist es doch kaum verwunderlich, daß sie der gleiche Vorwurf trifft wie Freyja. Ein anderer Name, den wir schon in der römischen Zeit antreffen, ist Hlodyn; als Hludana wurde sie u. a. in der Gegend von Beetgum (Friesland) von Fischern verehrt. Idun (Ißunn) ist vor allem bekannt als die Besitzerin verjüngen­ der Äpfel. Als der Riese Thjazi sie entführt hatte, alterten die Göt­ ter rasch, und so zwangen sie Loki, in Gestalt eines Falken Idun zurückzuholen. Als ihr Loki beim Festmahl der Götter vorwirft, sie habe den Mörder ihres Bruders geheiratet, entgeht uns der Sinn dieser Anschuldigung; scheint doch ihr Gemahl Bragi kaum eines Mordes fähig gewesen zu sein. Sowohl des Motivs der Äpfel we­ gen, das an die Hesperiden erinnert, wie auch wegen ihres durch­ sichtigen Namens («die Erneuernde») hat man sie gelegentlich als eine neuere Schöpfung oder gar als Lehngut betrachtet. Nichts be­ weist aber, daß sie nicht unter anderem Namen von altersher zur germanischen Götterwelt gehört hat. Von einer Terra Mater finden wir noch andere deutliche Spuren im Norden. Thors Mutter heißt Järd (Jörß), d. h. «Erde». Als Va­ rianten für ihren Namen verwenden die Skalden in ihren Kenningen auch Grund und Fold («Acker, Feld, Erde»). Thor wird auch «Sohn Fjörgyns» genannt. Diese Fjörgyn ist ebenfalls eine Erschei­ nungsform der Erdgöttin; vielleicht war sie eine Göttin, die auf

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Bergen thronte, eine Annahme, die durch die Verwandtschaft ihres Namens mit dem ihres Gatten Fjörgyn einerseits und Per­ kunas, Parjanya usw. andrerseits eine gewisse Wahrscheinlichkeit erhält (vgl. S. 166). Auf der Grenze der Göttergemeinschaft stehen ein paar Riesen­ töchter: Gerd (Gerpr), die Geliebte, nach der Freyr sich so sehr sehnt, und die gewöhnlich auch als Erdgöttin gewertet wird; und Skadi (Skapi), Njörds unglückliche Gattin. Diese, die Tochter des Riesen Thjazi, dem Odin den Göttertrank entwendete, ist eine aus­ gesprochene Wintergöttin. Sie wohnt am liebsten im Gebirge, wo sie auf Schneeschuhen auf die Jagd geht. Die Kenning öndurdis, «Schneeschuhdise», mit der ein Skalde sie beschreibt, erinnert an den öndurdss, «Schneeschuh-Ase», Uli. Wenn aber je zwischen diesen beiden Gottheiten eine Verwandtschaft bestanden hat, so wissen unsere Quellen davon nichts mehr. Mit Gerd und Skadi haben wir eigentlich die Grenze der Götter­ welt wieder überschritten; sie gehören ja zur Welt der Riesen und Riesinnen und sind den Göttern feindlich gesinnt. Außerhalb der mythologischen Literatur lernen wir noch einige andere Göttinnen kennen, die man ebenfalls nicht den Asinnen gleichstellen kann. In einem Tempel im Gudbrandstal standen neben dem Bilde Thors solche von Irpa und Thorgerd Hölgabrud. Die Statue Thorgerds war «so hoch wie ein erwachsener Mann»; sie trug einen goldenen Armreif und hatte eine Kappe auf dem Kopf. Auch Irpas Statue war «geschmückt». Jarl Hakon soll Thorgerd seinen eigenen Sohn geopfert haben, um ihren Beistand in seinem Kampf gegen die Wikinger von Jomsburg zu erkaufen. Darauf schickte sie ein ge­ waltiges Hagelwetter, das die Feinde des Jarls zurücktrieb. Diese Thorgerd wird zuweilen mit Freyja oder Skadi verglichen und ihres Beinamens wegen, in dem das Wort «Braut» enthalten ist, als eine Vegetationsgöttin gewertet. Da ihr Kult regional beschränkt war, und sie die Schutzherrin eines Jarlengeschlechtes gewesen zu sein scheint, gehört sie wahrscheinlich zur Kategorie der Disen. Unter den gegebenen Umständen läßt sich nur sehr schwer ent­ scheiden, wo die Germanen die Grenze zwischen Göttern und Nichtgöttern zogen. Mehrere Gottheiten, denen wir bisher begeg­ neten, sind bestimmt niedereren Ranges gewesen. Die Disen und die 185

Matronen standen 2. B. nicht auf der gleichen Ebene wie die klar umrissenen individuellen Göttinnen, die der Gruppe der höheren Götter angehören. Die Ausdrücke «höher» und «niedriger» bedeu­ ten natürlich nicht, daß die Menschen zu den sogenannten niederen Gottheiten weniger Vertrauen gehabt oder sie weniger eifrig ver­ ehrt hätten. Ihr Tätigkeitsgebiet war von dem eines Wodan oder eines Donar mehr dem Umfang als der Art nach verschieden. Da­ durch standen sie wahrscheinlich den alltäglichen Bestrebungen und Sorgen des einzelnen näher. Aber eben weil ihr Kult, sofern er überhaupt feste Formen angenommen hatte, mehr oder weniger unterging im Tun und Treiben des Alltags, und dem Außenseiter nicht durch großartige Feierlichkeiten auffiel, wissen unsere Texte so wenig darüber zu berichten. Wenn die kirchliche Literatur die Verehrung von Steinen, Bäumen und Brunnen erwähnt, fügt sie meistens nicht hinzu, was sich der Verehrer bei seinen Handlun­ gen dachte. Auch in der nordischen Literatur sind solche Andeu­ tungen selten. In der Geschichte vom Isländer Kodran, der einen Stein verehrte, ist aber ausdrücklich von einem Geist die Rede, der in dem Stein «wohnte». Im allgemeinen dürfen wir annehmen, daß die Verehrung nicht einem eigenartig geformten Stein oder einem auffallend großen Baum galt, sondern dem numen, der göttlichen Anwesenheit, die in jenem Stein oder Baum zum Ausdruck kam. Dabei müssen wir im Auge behalten, daß Wodan und Donar nicht wesentlich verschieden waren von Kodrans Geist: sie waren keine allmächtigen, exklusiven Gottheiten - ein Aspekt, den wir bei der Besprechung der Bekehrungsperiode noch näher betrachten wer­ den. Die Grenze zwischen Mächten, die verehrt wurden, und Mächten, die sich in der kosmischen Ordnung offenbarten, ohne als Gottheiten betrachtet zu werden, war sehr unklar. Wenn wir den Kultus, das Verehrtwerden als Kriterium annehmen wollten, müßten wir eigentlich eine ganze Reihe mythologischer Figuren aus unserem Kapitel über die Götter streichen: Loki, Skadi, Gerd, Mimir, Hönir usw. Durch den Platz, den sie in den Mythen ein­ nehmen, gehören sie aber zweifellos zur Götterwelt. Dies gilt nicht, oder doch nur in viel geringerem Maße, für allerlei Geister, Zwerge, Elfen und Riesen, die wir im Kapitel über den germani­ schen Kosmos behandeln werden. 186

III

DER KULTUS

I

RELIGION UND MAGIE

In unserer Einleitung stellten wir fest, daß wir viel weniger ge­ naue Angaben besitzen über den germanischen Kultus als über die germanische Mythologie. Tatsächlich gilt dies bloß für die Periode, auf die sich unsere geschriebenen Quellen beziehen. In der Prä­ historie ist das Verhältnis umgekehrt. Wir «sehen» Menschen, die Prozessionen abhalten und Opfer darbringen, aber wir wissen nicht, welche Götter sie verehren. Noch weniger wissen wir, wes­ halb und in welchem Geist sie diese Handlungen verrichten; und dies trifft oft auch zu für die Kulthandlungen und Riten, die wir in späteren Quellen beschrieben finden. Nun hängt es aber gerade von der Geistesverfassung des Offizianten ab, ob die Handlung, die er vollzieht, zur Religion oder zur Magie gerechnet werden muß. Nehmen wir als Beispiel die heilige Hochzeit, die von vielen Religionshistorikern als ein wichtiger Bestandteil des Kultes der Bronzezeit betrachtet wird. Diese Handlung konnte die Heirat des Himmelsgottes mit der Erdgöttin versinnbildlichen und war dann ein religiöser Akt; sie konnte aber ebensogut eine magische Ver­ richtung sein, mittels deren die Vollzieher die Kräfte der Erde zur Fruchtbarkeit bringen oder sie durch ihr Beispiel dazu anregen wollten. So sieht De Vries auch in der eigenartigen Weise, in der die norwegischen Auswanderer den Ort ihrer Niederlassung auf Island auswählten, eine magische Tat: gingen sie doch so vor, als hätten die Säulen des alten Hauses selber die Macht, einen neuen Wohnort zu bezeichnen. Unsere Texte aber betonen meist aus­ drücklich, daß es Thor sei, der den Auswanderer seiner Bestim­ mung zuführe. Dieser vollführt also einen religiösen Akt, wenn er dem Willen des Gottes gehorcht. Bisher hat man beim Studium der germanischen Religion die Magie oft stillschweigend oder aus­ drücklich als ein Vorstadium zur eigentlichen Religion betrachtet; mit dem Übergang von der Magie zur Religion hätte sich dann, so meinte man, gleichzeitig der Wandel von einem Glauben an un­ persönliche Mächte in einen Glauben an persönliche Götter voll­ zogen. Eine solche Annahme läßt sich nicht beweisen und ist auch

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nicht geeignet, das richtige Verständnis für die germanischen Zu­ stände zu fördern. In der germanischen Religion gibt es nirgends Anzeichen einer solchen Evolution. Zwar wurde die Magie, laut unseren Quellen, im Norden vielfach ausgeübt, und auch auf dem Festland mußte die Kirche zahlreiche magische Bräuche bekämp­ fen; doch hat die Überlieferung das richtige Verhältnis zwischen Magie und Religion einigermaßen verzerrt. Nach der Bekehrung verschwand nämlich die Verehrung der heidnischen Götter sehr schnell, während magische Bräuche noch während längerer Zeit weiterbestanden. Als man das Bild der germanischen Religion schriftlich festzulegen begann, konnte man sich noch viel leichter magische Handlungen vorstellen als den eigentlichen Götterkult. Die Schilderung dieses Kultes wurde außerdem noch durch das schon vertraute christliche Rituell beeinflußt (z. B. Thors Zeichen nach Analogie des Kreuzzeichens, vgl. S. 126). Schließlich muß man die ganz speziellen Verhältnisse berücksichtigen, in denen sich die germanische Religion sowohl auf Island wie auf einem großen Teil des Festlandes befand. Es war eine Religion von Men­ schen, die ihre vertraute Umgebung verlassen hatten; sie lebten fern von ihren alten Heiligtümern und hatten die Bande mit den traditionellen Kultusgemeinschaften gelöst. Dadurch fühlten sie sich mehr auf ihre eigenen Kräfte angewiesen. Oft hatten die Göt­ ter den Untergang einer bestehenden Gemeinschaft (mit der ihr Kult eng verbunden war) nicht verhindern können. Es lag also auf der Hand, daß der Mensch womöglich sich selbst zu helfen ver­ suchte, und, wo seine eigene Kraft nicht ausreichte, zur Magie griff. Es ist deshalb wahrscheinlich, daß der Anteil der Magie in den letzten Jahrhunderten vor der Bekehrung eher im Zunehmen begriffen war. Jedenfalls ist aber kein Grund vorhanden, der Magie irgendeinen Vorrang zuzubilligen. Wir pflichten also De Vries nicht bei, wenn er meint, «heilig» habe ursprünglich bedeutet «mit magischer Kraft erfüllt», und dieses Wort habe sich später in die Sphäre des Göttlichen «zurückgezogen». Magie und Religion konnten nebeneinander bestehen, sogar bei einem und demselben Menschen; der Unterschied zwischen beiden lag einzig in seiner Grundhaltung. 190

2

OPFER UND GRÄBER IN DER PRÄHISTORISCHEN ZEIT

Bei unserem Versuch, die germanischen Götter in ihrer ältesten Erscheinungsform zu entdecken, haben wir den Kult, der in den Felszeichnungen der Bronzezeit zum Ausdruck kommt, ausführ­ lich beschrieben. Wir fanden da Abbildungen von Prozessionen, oft mit bemannten Schiffen. Die Aufzüge waren von Lurenbläsern begleitet, und es ist anzunehmen, daß die Teilnehmer dabei auch Hymnen sangen. Die «Akrobaten», die bei einigen Schiffen abge­ bildet sind, deuten vielleicht auf den ekstatischen Charakter einiger religiöser Feiern hin: die Teilnehmer, oder einzelne unter ihnen, gerieten in eine Verzückung, die sich in wilden Tänzen äußerte. In den Prozessionen wurden die Götter durch Symbole oder Fi­ guranten dargestellt: zur ersten Kategorie gehören die Riesen­ waffen und die Sonnenscheiben, die zuweilen mitgetragen wurden, zur zweiten die riesigen Figuren und auch die Gestalten mit den riesigen Händen usw. Der Sonnenwagen von Trundholm gibt einen Begriff von der Weise, in der die religiösen Symbole den Gläubigen vor Augen geführt wurden. Bei anderen Gelegenheiten wurden vielleicht Episoden aus dem Leben der Götter dargestellt: das Pflügen des ersten Feldes, die Heirat des Himmelsgottes mit der Erdgöttin. Welche Sorgfalt die damaligen Germanen auf dieses Ze­ remoniell verwendeten, können wir aus einigen Einzelheiten, wie z. B. aus der kunstvollen Form der Luren ersehen (Tafeln 17; 18). Diese Bronzetrompeten wurden bisher immer in aufeinander ab­ gestimmten Paaren angetroffen, von denen das eine Exemplar nach rechts, das andere nach links gebogen ist. Mit ihrer ziemlich beschränkten, aber reinen Tonskala lieferten sie eine eindrucks­ volle Begleitung zu den religiösen Feiern. Die Tatsache, daß sie immer paarweise und wahrscheinlich als Opfer der Erde anver­ traut wurden, zeugt von der Ehrfurcht vor allem, was mit dem Kult zusammenhing. Als Opfer sind auch einige Gegenstände zu werten, die entwe­ der ihrer Form oder Beschaffenheit nach keinen praktischen Nutzen

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gehabt haben können, oder absichtlich zerstört und außerdem an speziell dazu ausgewählten Stellen zurückgelassen worden waren, z. B. in Sümpfen oder Brunnen. Zur ersten Sorte rechnen wir die vielen Äxte und Beile, die entweder zu groß oder zu klein sind, als daß sie je zur wirklichen Benutzung in Betracht gekommen wären; sie erinnern uns an die Beile und Äxte, die in den Felszeichnungen einen so wichtigen Platz einnehmen. Eine noch merkwürdigere Parallele zwischen den abgebildeten religiösen Motiven und einem Opfer bietet der Fund von Nors in Jütland. Dort entdeckte man einen irdenen Topf, der an die hundert kleine Schiffchen enthielt. Jedes dieser Schiffchen bestand aus einem bronzenen Gerippe, das mit Goldblech überzogen war. Verschiedene dieser Schiffchen waren mit kreisförmigen Zeichnungen ausgeschmückt, was an das «Schiff des Sonnengottes» gemahnt. Im Kult spielten wahrschein­ lich auch die zahlreichen Goldgefäße eine Rolle, die in Dänemark und Schweden zutage gefördert worden sind; sie wurden offenbar bei Trankopfern benutzt. Auch die vielen Garnituren von Frauenschmuck aus der glei­ chen Periode, die keinen Zusammenhang mit einer Beerdigung aufweisen, zählen zu den Opfern. So fand man in Faardal bei Vi­ borg einen Halsring, fünf Armreife, eine Gürtelplatte, eine Schlangenfigur, ein Bronzefigürchen, das eine kniende Frau dar­ stellt, zwei Hängeschalen, ein Amulett aus Harz und noch andere Gegenstände. Auch noch aus der späteren Bronzezeit, als die Bei­ gaben in den Frauengräbern schon sehr spärlich geworden sind, kennt man viele derartige Opfer. Manche Historiker sind der An­ sicht, diese Opfer seien als Kompensation für Geschenke gemeint gewesen, die man der Toten nicht mit ins Grab gegeben hatte. Es sind aber wohl vielmehr Opfer, die einer (weiblichen?) Gottheit dargebracht wurden, sei es, um eine Gunst zu erbitten, sei es als Dank für erhaltene Gnaden. Auffällig viele Opfer werden in Sümpfen und an anderen wenig zugänglichen Orten gefunden. Die Opferer wollten also offenbar ihre Gaben ausschließlich den Göttern Vorbehalten. Diese Absicht verdeutlichten sie oft noch dadurch, daß sie die geopferten Gegen­ stände unbrauchbar machten. So hatte man z. B. den Sonnenwagen von Trundholm absichtlich zerschlagen, ehe man ihn vergrub. In

Quellen und Brunnen wurden ebenfalls Opfer dargebracht. In Budsene auf der Insel Moen hat man einen ausgehöhlten Baum­ stamm zutage gefördert, der als Becken eines Wasserbrunnens ge­ dient hatte; er enthielt eine Anzahl Bronzegegenstände und zudem Knochen von Pferden, Rindern, Schweinen und Hunden (Ta­ fel 19). Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß diese Opfer für einen Gott bestimmt waren, der das Wasser spendete; machten sie doch gerade das Wasser ungenießbar; und Wassermangel (so daß man einen Gott um Wasser hätte bitten müssen) kam im germanischen Gebiet gewiß nicht so oft vor. Die Opfer von Budsene waren wohl eher für einen Gott bestimmt, der bei diesem Brunnen irgendwie seine Macht bewiesen hatte. Man kann sich aber fragen, ob die Bedeutung solcher Opfer nach Verlauf von Jahrhunderten nicht oft zu einer bloßen Gepflogenheit verflachte, etwa wie das Werfen von Münzen in Brunnen, wie es heute noch vorkommt. In bezug auf Menschenopfer bietet die Bronzezeit nur wenige zuverlässige Angaben. Die Szenen einiger Felszeichnungen, in de­ nen eine drohende Gestalt eine Axt übereinen Menschen hält, dürfen vielleicht in diesem Sinne gedeutet werden. Spuren von Menschen­ opfern hat man in einigen Gräbern entdeckt, und auch aus däni­ schen Sümpfen und Wasserläufen sind ein paar Beispiele bekannt. Für den Religionshistoriker sind die prähistorischen Gräber in mancher Hinsicht noch schwerer zu enträtseln als die bisher auf­ gezählten Quellen. Er weiß, daß der Tod im allgemeinen dem Menschen den Übergang zu einer anderen Welt bedeutet, daß die Welt der Verstorbenen häufig der der Götter näher hegt als die Welt der Lebenden. Er weiß auch, daß der Mensch oft in seiner Bestattungsweise seine Ansicht über das Jenseits ausdrückt. Aber auch die genaueste Analyse eines Bestattungszeremoniells gibt, wie sich gleich zeigen wird, nur selten Aufschluß über den Glauben, der ihm zugrundeliegt. Im germanischen Gebiet bedeutete die Einführung der Bronze­ kultur keinen radikalen Bruch mit der steinzeitlichen Vergangen­ heit. Wenn es überhaupt einen Bruch in der Kultur gegeben hat, so muß dieser bereits früher stattgefunden haben. In der jüngeren Steinzeit findet man nämlich im Norden Spuren einer ziemlich deutlichen Erneuerung (z. B. in Jütland). In den Megalithgräbern 93

der vorigen Periode hatten zahlreiche, mitunter sogar Dutzende von Toten ihre letzte Ruhestätte gefunden. Der Tote wurde dort gleichsam in die Gemeinschaft seiner verstorbenen Verwandten aufgenommen. Das Volk, das die Streitaxtkultur mitbrachte, be­ grub aber seine Toten einzeln in Särgen, die aus flachen Steinen bestanden. Der Deckel des Sarges war oft aus Holz; manchmal war auch der Steinsarg selber innen mit Holz verkleidet. Schon in der frühen Bronzezeit waren Einzelgräber die allgemeine Regel in Dänemark (zirka 1600 v.Chr.). Diese «Vereinsamung» des Toten weist vielleicht auf eine tiefere Kluft zwischen Lebenden und To­ ten hin, und zugleich auf eine endgültigere Aufnahme des Toten in der anderen Welt. Es ist merkwürdig, wieviel Sorgfalt auf den Verstorbenen verwendet wurde. Wie in der späteren Steinzeit, wurde er in einem steinernen Sarg beigesetzt. Oft hatte man ihn vorher noch in einen Holzsarg gelegt, der aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestand. Manchmal begnügte man sich mit einem Sarg aus dicken Brettern, aber es kam auch vor, daß der erste Sarg in einen noch dickeren Eichenstamm gestellt wurde. Der Verwen­ dung von Eichenstämmen verdanken wir es, daß der Inhalt ver­ schiedener solcher Särge sich so überraschend gut erhalten hat: die Eichenrinde gerbte z. B. die Haut der Begrabenen. Den Verlauf des Beerdigungsrituells können wir ungefähr folgendermaßen re­ konstruieren. Auf den Boden des Sarges wurde eine Rinderhaut ausgebreitet, manchmal auf einer Unterlage von Gras und Kräu­ tern; der Verstorbene wurde völlig bekleidet und mit seinem Schmuck geziert auf die Haut gelegt. Bei den Frauen war das Haar sorgfältig frisiert; die Männer waren rasiert. In Gegenden, wo man reichlich Bronze besaß (namentlich in Dänemark), bekamen die Männer ihr Schwert, ihren Dolch und ihr Beil mit ins Grab, die Frauen ihren Dolch und ihre Gürtelplatte, mitunter auch einen bronzenen Halskragen. Anderswo verfuhren die Hinterlassenen viel sparsamer mit dem kostbaren Metall. In den Sarg kamen fer­ ner verschiedene kleine Gegenstände in Rinden- oder Spanschäch­ telchen; allenfalls auch ein irdener oder hölzerner Topf mit einem aus Beeren und Honig hergestellten Trank. Nach Beendigung der Leichenfeier legte man eine oder mehrere Decken über den Toten und legte die Rinderhaut um ihn zusammen. Zuweilen findet man 194

neben den Gebeinen des Verstorbenen noch verbrannte Men­ schenknochen vor. Deutet dies wohl auf Menschenopfer hin, oder mußte etwa die Witwe ihrem Mann, oder der Diener seinem Herrn ins Grab folgen? Gewöhnlich wurde um den Sarg eine Steinpackung angebracht und darüber ein Grabhügel errichtet, der aus Plaggen und Rasen­ ziegeln (Dänemark) oder aus Steinen ohne Erdfüllung (Norwe­ gen, Schweden) bestand. Man errichtete die Grabhügel vorzugs­ weise auf Landzungen oder auf weithin sichtbaren Höhen, oft auch an Wegrändern. Der Grabhügel war offenbar nicht nur die Wohnung des Toten, sondern zugleich auch ein Monument. Da­ für zeugen übrigens auch die ungeheuren Dimensionen mancher Gräber: die größeren sind gewöhnlich 3 bis 4 Meter hoch bei einem Durchmesser von 12 bis 20 Metern. Die allergrößten errei­ chen eine Höhe von 8 und einen Durchmesser von 30 Metern (Tafel 22 u.). Für den Bau wurden, wenigstens in Dänemark, große Flächen -wertvollen Weidelandes der Oberschicht entkleidet. Werke eines solchen Umfanges unternahm man natürlich nicht bei jeder Beerdigung. Sehr oft bauten die Angehörigen keinen neuen Grabhügel, sondern setzten den Verstorbenen im Abhang eines bereits bestehenden Grabes bei (in einigen Fällen war es ein Grab aus der Steinzeit); dann mußten sie lediglich den Hügel ein wenig erhöhen. Große Grabhügel sind häufig erst in dieser Weise zu ihrem heutigen Umfang angewachsen. Man trifft gelegentlich auch Gräber ohne die geringste Spur eines Grabhügels an; dies scheint aber nicht auf eine niedrigere gesellschaftliche Stellung des Toten hinzudeuten, enthalten doch solche Gräber ebenso zahlreiche und wertvolle Beigaben. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß alle To­ ten mit der gleichen Sorgfalt umhegt wurden; die soeben beschrie­ benen Gräber gehörten wahrscheinlich einer aristokratischen Min­ derheit. Vollständigkeitshalber müssen wir aber darauf hinweisen, daß man bisher keine überzeugenden Beispiele von Gräbern nie­ derer Stände (eventuell von einer unterworfenen einheimischen Bevölkerung) entdeckt hat. Wir sahen bereits, daß der Übergang vom Gemeinschaftsgrab zum Einzelgrab ohne Zweifel eine Wandlung in den Auffassungen über Tod und Jenseits bedeutete. Der Tote wurde nicht mehr aus­

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schließlich als Mitglied der Gemeinschaft der hingeschiedenen Vorfahren, sondern in erster Linie als Einzelmensch mit eigenem Wert behandelt. Eine Änderung in der Ausrichtung der Gräber hängt vielleicht hiermit zusammen. Die Megalithgräber hatten oft ihren Eingang an der Südseite; die Toten «verweilten» also im Norden. Die Einzelgräber aber sind meistens west-östlich ausge­ richtet, und zwar so, daß der Tote gegen die aufgehende Sonne «blickte». Wurde er in einem bestehenden Grabhügel beigesetzt, so wurde sein Grab meist in den östlichen Abhang eingegraben. Wahrscheinlich kehrten die Toten zum Sonnengott zurück und lag ihr zukünftiger Aufenthaltsort im Osten. Ihr Fortbestehen muß man sich wohl in der Art vorgestellt haben, daß die Männer ihre Waffen und die Frauen ihren Schmuck benutzen konnten. Noch vor dem Ende der älteren Bronzezeit (zirka 1200 v. Chr.) fand ein neuer Umschwung statt: recht plötzlich kam die Leichen­ verbrennung auf. In ein paar Jahrhunderten verdrängte dieser neue Brauch überall den alten. Eigentümlich ist aber, daß im Anfang die Asche noch in einem Sarg begraben wurde, der für einen aus­ gewachsenen Menschen berechnet war. Es hat also den Anschein, als hätte man Mühe gehabt, sich der neuen Bestattungsweise völlig anzupassen. Allmählich kam diese Anpassung aber doch: die sorg­ fältig von Asche gereinigten Knochen wurden zuerst in kleineren Holzsärgen, später hauptsächlich in Urnen beigesetzt. Am Ende der älteren Bronzezeit hatte sich diese Entwicklung bereits voll­ zogen. Der Tote bekam noch immer Beigaben mit ins Grab, doch wurden diese nicht mit der Leiche verbrannt. Es läßt sich aber schon eine gewisse Vereinfachung feststellen: die Gaben wurden allmählich weniger zahlreich und kostbar. In der jüngeren Bronze­ zeit ist diese Sparsamkeit sehr deutlich bemerkbar. Wir können uns kaum vorstellen, wie ein Volk, das seine Toten mit einem so komplizierten Beerdigungsrituell bestattet hatte, in so kurzer Zeit zur Leichenverbrennung übergehen konnte. Ohne eine Wandlung in den Vorstellungen hinsichtlich der Totenweit ist ein solch grundlegender Umschwung nicht gut denkbar, aber die Übergangsformen weisen doch darauf hin, daß man sich zu Anfang die volle Bedeutung des neuen Brauches nicht vergegen­ wärtigte. Da wir nicht wissen, was die Leichenverbrennung bei 196

den Völkern bedeutete, von denen die Germanen diesen Brauch lernten, läßt sich auch schwer ermitteln, was sich die Germanen selber dabei dachten. Viele Forscher sehen in der Leichenver­ brennung eine Folge einer vergeistigten Auffassung der Toten­ welt, den Ausdruck eines Glaubens an eine weniger stoffliche Form des Fortbestehens. Die Verbrennung des Körpers zu Asche bedeutet tatsächlich einen deutlicheren Bruch mit dem körper­ lichen Leben als die Beerdigung. Es verunmöglicht die Rückkehr des Toten zu seinem Körper, kann aber auch ein Mittel sein, um die Seele von den Banden des Körpers zu befreien. Aber dann fragt man sich, warum denn die Beigaben nicht zusammen mit der Leiche verbrannt wurden? Diesen Mangel an Konsequenz kann man noch in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung fest­ stellen. In jener Zeit kannten die Germanen eine so bunte Mannig­ faltigkeit von Begräbnisbräuchen, daß nur zwei Schlußfolgerungen möglich sind: entweder gab es keine einheitliche Vorstellung von der Totenweit, oder es gab kein festes Verhältnis zwischen einer bestimmten Bestattungsart und einer bestimmten Anschauung vom Jenseits. Zu Anfang der jüngeren Bronzezeit kommen wie gesagt nur noch Leichenverbrennung und Urnenbestattung vor. Die Urnen wurden meist in den östlichen oder südlichen Abhang eines beste­ henden Tumulus eingegraben; neue Grabhügel sind eine große Seltenheit. Die Gräber ohne Hügel stimmen völlig mit dem ge­ wöhnlichen Typus überein. Die verbrannten Gebeine wurden ge­ sammelt und in eine Urne gelegt; diese wurde auf einen flachen Stein gestellt und mit einem zweiten Stein zugedeckt. Immer mehr beschränkten sich die Beigaben auf sogenannte Toilettengarnitu­ ren, die vielleicht bei rituellen oder magischen Handlungen ver­ wendet wurden: ein Rasiermesser, eine Pinzette, ein Stilett und ein kleines Messer sind die stereotypen Beigaben in den Gräbern von Männern. Frauengräber enthalten nur selten wertvollere Beigaben. Gewöhnlich unterscheiden sich die Graburnen in keiner Weise von den Töpfen, die im täglichen Leben benutzt wurden; es kom­ men aber auch ein paar Sondertypen vor, nämlich die Hausurnen und die Gesichtsurnen. Jene haben ungefähr die Form eines Hau­ ses (oder einer Vorratsscheune?), diese sind mit einem sehr rudiJ97

mentär angedeuteten Menschengesicht geschmückt. Es handelt sich hier wahrscheinlich um aus dem Süden oder Südosten einge­ führte Formen; sie kommen verhältnismäßig selten vor. Die Grabtypen vermitteln uns also nur wenig konkrete Auf­ schlüsse in bezug auf den Glauben dieser Periode. Sie lehren uns aber wohl einiges über das Beerdigungsrituell, und diese Kennt­ nisse werden noch durch die Ausschmückung einiger Grabsteine ergänzt. Meistens handelt es sich hier lediglich um schalenförmige Aushöhlungen (sog. Schalensteine), Linien und kreisförmige Symbole. Es sind aber auch Steine mit Schiffen, Pferden und Wa­ gen bekannt. Diese Motive gehören also zur Vorstellungswelt des Menschen der Felszeichnungen, obwohl der richtige Zusammen­ hang nicht immer klar ist. Am berühmtesten sind wohl die Dar­ stellungen aus der Grabkammer von Kivik in Skäne. Das Grab von Kivik bestand aus einem Hügel von aufeinandergeschichteten Rollsteinen, der ursprünglich etwa io Meter hoch gewesen sein und einen Durchmesser von 75 Metern gehabt haben muß; es ist also der größte Grabhügel Schwedens. Mitten im Hügel befand sich eine Grabkammer, die 3 Meter lang und 1 Meter breit war. Über den ursprünglichen Inhalt des Grabes wissen wir wenig. Schon 1748 suchte man dort nach einem Schatz, doch wurden bloß einige wenige Stücke Bronze (u. a. ein Schwert?), ein Kessel und ein paar kleinere Gegenstände zutage gefördert. Im Jahre 1800 fand man bei einer genaueren Forschung einzelne Knochen. 1931 hat man das Monument noch einmal gründlich untersucht und da­ bei festgestellt, daß die Kammer (oder der Sarg) so ausgerichtet war, daß der Tote ungefähr gegen Süden blickte. Nach der Durch­ forschung wurde der Hügel so gut wie möglich wieder hergestellt, aber sogar mit 3000 Wagenladungen Steinen brachte man ihn bloß bis zur Hälfte seiner ursprünglichen Höhe. Dies gibt einen Begriff von der Anzahl Arbeitskräfte, welche den Erbauern des Grabes zur Verfügung gestanden haben müssen, und somit zugleich von der gesellschaftlichen Stellung des Verstorbenen. Es ist aber in erster Linie die Grabkammer, die unsere Aufmerksamkeit ver­ dient (Tafeln zo; 21 o.). Ihre Seitenwände bestanden nämlich aus senkrecht aufgestellten Kalksteinplatten, von denen acht mit eingemeißelten Figuren geschmückt waren. Dem Stil nach können 198

wir sie etwa als zu Schmuckzwecken stilisierte Felszeichnungen beschreiben. Ein paar dieser Platten sind schwer beschädigt, und eine ist verloren gegangen, aber u. a. an Hand von Zeichnungen aus dem 18. Jahrhundert weiß man, wie das Ganze ausgesehen haben muß. Nur die genaue Reihenfolge der Platten steht nicht ganz fest. Platte Nr. i (heute verschwunden) wies ein Schwert, ein paar Speerspitzen und zwei Äxte auf, deren Schneiden einan­ der zugekehrt waren; ganz zuunterst befand sich ein schematisch dargestelltes Schiff. Auf dem zweiten Stein sind zwei Schiffe abge­ bildet, von denen eins deutliche Striche trägt, welche die Beman­ nung darstellen sollen. Auf der dritten Platte stehen zweimal zwei Pferde, durch Zickzacklinien voneinander getrennt, auf der vier­ ten zwei radförmige Symbole. Auf dem fünften Stein ist fast nichts mehr zu sehen; der sechste hat wiederum zwei radförmige Sym­ bole mit ein paar anderen symbolischen Zeichen darüber. Die beiden letzten Platten sind weitaus die bedeutendsten. Auf der siebten steht oben ein Zweigespann mit Wagenlenker, das offen­ bar von vier Zuschauern betrachtet wird. In der Mitte ist ein wal­ fischartiges Tier abgebildet, sowie zwei Pferde, die zu kämpfen scheinen. Ganz zuunterst geht eine Reihe von acht Figuren (Frauen?) in lange Gewänder gehüllt, die von einem Führer mit erhobenem Arm angeführt werden. Diese acht Figuren erscheinen wieder in der Mitte der achten Tafel, nur stehen sie dort in Vierer­ gruppen zu beiden Seiten eines großen Kessels. Unten auf dieser letzten Tafel halten zwei bewaffnete Figuren Wache bei je drei Ge­ fangenen, die vor den Eingängen hufeisenförmiger Umzäumun­ gen stehen, und zuoberst blasen zwei Lurenbläser die Begleitung zu einer rituellen Handlung, der eine männliche und eine weibliche Figur beiwohnen. Diese rituelle Handlung wird in einer kreisför­ migen Umzäunung vollzogen; man deutet sie meistens als das «Bohren» oder «Drehen» des heiligen Feuers oder als das Schlagen auf einen Gong. Das zentrale Bild erinnert uns sofort an Strabos Beschreibung der Menschenopfer bei den Kimbern: auch dort waren es Frauen, welche die geopferten Kriegsgefangenen über einem Kessel töten mußten (vgl. S. 228). Andere Teile des Zere­ moniells kennen wir auch bei verwandten Völkern. Die Griechen z. B. veranstalteten auch Pferderennen als Teil der Leichenspiele, 199

und auf dem Scheiterhaufen von Patroklos wurde sogar ein Mensch geopfert. Ohne Zweifel muß der Abschied vom Toten von Kivik sehr eindrucksvoll gewesen sein. Diese Zeit kannte auch schon eine sehr komplizierte Magie. In ein paar Gräbern hat man die Ausrüstung von Zauberern oder Medizinmännern entdeckt, nämlich Lederbeutel, Schachteln oder Töpfe, die eine Sammlung der verschiedenartigsten Gegenstände enthielten: versteinerte Seeigel, Muscheln, Vogelkrallen, Schlan­ genschwänze, Pferdezähne, Steinchen, Stückchen Bernstein und Schwefelkies usw. Bei Krankheit und heilkundlichen Vorgängen nahm die wundärztliche Praxis jener Zeit gewiß ihre Zuflucht zu allerlei magischen Mitteln - was sie aber nicht hinderte, gelegent­ lich auch eine gelungene Schädelbohrung auszuführen. Die Zau­ berer werden wohl auch noch in anderen Angelegenheiten Rat ge­ wußt und z. B. Regen gemacht, Sturm abgewehrt und die Zukunft vorhergesagt haben. Wir erwähnten bereits die stereotype Toilettengarnitur, die während der jüngeren Bronzezeit in vielen Männergräbern vor­ kommt. Es ist durchaus möglich, daß mit dem Gebrauch dieser Gegenstände bestimmte religiöse oder magische Vorstellungen verbunden waren. Haare und Nägel spielen noch im späteren Volksglauben eine große Rolle, da sie einen beträchtlichen Teil der menschlichen «Macht» enthalten. Aus der Prähistorie kennen wir ebenfalls eine Anzahl Kultstätten. Man hat Spuren von einem Herdkultus zu entdecken geglaubt, die noch aus der Steinzeit stammen sollen: in einigen Wohnungen befand sich neben der ge­ wöhnlichen Feuerstelle noch ein mit besonderer Sorgfalt gebauter Herd, der als Opferstätte gedient haben kann. Aus der Anhäufung geopferter Gegenstände geht hervor, daß in Quellen und Sümpfen oft während einer sehr langen Zeit Opfer dargebracht wurden. Solche Quellen und Sümpfe müssen als heilig gegolten haben. Et­ was ähnliches läßt sich bei den Felszeichnungen feststellen. Auf bereits benutzte Felsplatten wurden häufig später neue Figuren an­ gebracht. Die mit Zeichnungen versehenen Felsen waren wahr­ scheinlich auch heilig oder gehörten zumindest zu heiligen Stätten. In der Nähe einiger solcher Felsen hat man tatsächlich Spuren von Asche gefunden, die'von Opferfeuern herstammen können. zoo

Im germanischen Gebiet beginnt die Eisenzeit in den zwei Jahr­ hunderten, die dem Jahre 500 v.Chr. vorangehen. Gewöhnlich be­ trachtet man das Datum der ältesten geschriebenen Quellen als den Endpunkt der vorgeschichtlichen Zeit; was aber die Germanen betrifft, ergänzt das archäologische Material in erheblichem Maße die Angaben der geschriebenen Quellen bis lange nach der römi­ schen Zeit. Insbesondere im Fall von Skandinavien gehören die ersten zehn Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, vom germani­ schen Standpunkt aus gesehen, zur Prähistorie. Daher werden wir im ersten Teil dieses Kapitels gelegentlich auch auf vorgeschicht­ liches Material aus den letzten vorchristlichen Jahrhunderten zu sprechen kommen. Im germanischen Gebiet auf dem Festland zeichnen sich wäh­ rend der Eisenzeit allmählich neue Kulturgebiete ab. Die Leichen­ verbrennung bleibt einstweilen überall vorherrschend, aber in den östlichen Gegenden verwendet man während der La T ¿ne-Zeit (500-200 v.Chr.) entschieden weniger Sorgfalt auf die irdischen Reste der Verstorbenen als im Westen. Die Gebeine wurden zu­ sammen mit der Asche des Scheiterhaufens in einer Urne begraben, ohne daß man sich die Mühe nahm, einen Grabhügel aufzuwerfen. Vorher waren die Gräber zerstreut gewesen; jetzt kommt der Brauch auf, die Toten in wirklichen Friedhöfen oder Nekropolen beizusetzen. Dauernd stoßen wir auf Spuren von Erneuerungen. In der römischen Eisenzeit (ungefähr seit dem Anfang unserer Zeitrechnung) werden die Beigaben wieder zahlreicher. Man geht sogar so weit, den Toten mit seiner Ausrüstung (jedoch ohne W’affen) beizusetzen; er bekommt auch Speise und Trank mit ins Grab. Nach und nach tritt der Brauch des Beerdigens wieder neben den des Verbrennens, wobei deutliche regionale Unterschiede ans Licht kommen. In Dänemark wird vom fünften Jahrhundert an wieder vorwiegend begraben; in entfernter gelegenen skandinavi­ schen Gebieten aber behauptet sich die Leichenverbrennung. Es ist schwer, hier den Einfluß fremder Beispiele, namentlich solcher aus dem merowingischen Reich, ganz in Abrede zu stellen. Wir dürfen aber ebensowenig die schöpferische Energie der in jener Zeit emporstrebenden Kleinstaaten und Dynastien unterschätzen. Einige außerordentlich reich ausgestattete Gräber sind Zeichen 201

der Machtstellung einer Aristokratie, die auch im Jenseits Luxus und Ansehen genießen wollte. Dies hängt wieder mit den religiö­ sen Verhältnissen jener Zeit zusammen. Bis zur Bekehrung bestehen beide Bräuche, das Beerdigen und das Verbrennen, nebeneinander. Die spätere isländische Tradition kennt sogar noch den Unterschied zwischen einer älteren «Krema­ tionszeit» und einer jüngeren «Beerdigungszeit». Auch in Schwe­ den und Norwegen geht man immer mehr zum Brauch des Be­ erdigens über. Der Tote bekommt die verschiedensten Ge­ brauchsgegenstände aus dem täglichen Leben mit ins Grab, die Männer ihre Waffen, Schmuckstücke, Zimmer- und Schmiede­ gerät, die Frauen neben ihrem Schmuck alles, was zum Kochen, Spinnen und Weben benötigt wird. Pferde und Hunde folgen ihren Herren ins Grab, zuweilen sogar Diener. Man erhält den Eindruck, daß diese Gräber in gewissem Sinn das Herannahen des Christentums widerspiegeln. Es ist, als verspürten diese Menschen das Bedürfnis, gegenüber der immer mehr um sich greifenden Idee eines christlichen Himmels, ihre Auffassung vom Jenseits noch einmal klar und deutlich zu betonen. Der Glaube an eine Toten­ welt jenseits eines wirklichen oder mythischen Wassers (vgl. Ka­ pitel IV über die germanischen Anschauungen über den Kosmos) wird in dieser Zeit auf besonders augenfällige Weise ausgedrückt. Die frühesten Spuren eines solchen Glaubens fanden wir bereits in der Bronzezeit: das Schiff als religiöses Symbol deutet wahrschein­ lich auf einen solchen Glauben hin, denn wenn der Gott «von jen­ seits des Wassers herkam», mußten auch die Toten das Wasser überqueren, um zu seinem Reich zu gelangen. Vielleicht hängt auch die Leichenverbrennung damit zusammen. In Skandinavien und England finden wir die äußerste Konsequenz dieses Glaubens: das Schiffsgrab. Ausgrabungen haben verschiedene Typen von Schiffsgräbern zutage gefördert. Entweder wurde der Tote in sei­ nem Schiff unter einem Grabhügel beigesetzt, oder er wurde mit­ samt seinem Boot verbrannt (in diesem Falle findet man die Nägel des Bootes in der Asche), oder man stellte um das Grab Steinplat­ ten in Form eines Bootes auf. Dieser letzte Typ kommt schon in der Bronzezeit auf der Insel Gotland sporadisch vor (Tafel 24). Die weitere Verbreitung dieses Brauches im sechsten Jahrhundert 202

braucht also nicht unbedingt auf das Eindringen eines neuen Glau­ bens hinzudeuten, wohl aber auf eine stärkere Konkretisierung oder auf das Wiederaufleben einer viel älteren Tradition. In der späteren Literatur werden noch ein paar andere Formen der Schiffsbestattung beschrieben, die aus begreiflichen Gründen keine Spuren hinterlassen haben. Nach dem altenglischen Gedicht «Beowulf» wurde der dänische König Scyld Scefing auf sein Ge­ heiß nach seinem Tod mit seinen wertvollsten Besitztümern auf ein Schiff gebracht; seine Untertanen vertrauten es dem Meer an, «und niemand weiß, wer die Ladung in Empfang genommen hat». Hin und wieder wurde noch eine nähere Erklärung hinzugefügt, wie etwa diese, daß das Schiff bei Ebbe, oder ohne Segel oder Ru­ der, in See gestoßen worden sei. Bei der Beerdigung des Gottes Balder wurde auf dem Schiff ein Scheiterhaufen errichtet, und der Tote darauf gelegt; ehe man das Schiff in See stieß, wurde der Scheiterhaufen angezündet. Im «Beowulf» finden wir einen Hin­ weis auf die Idee, die zu dieser Form des «Bestattens» Anlaß gab. Als kleines Kind war Scyld Scefing auf einem mit Schätzen bela­ denen Boot in Dänemark gestrandet; das Schiff, das ihn zur ande­ ren Welt zurückführte, «war mit nicht weniger Schätzen beladen, als diejenigen, die ihn als Kind geschickt, ihm mitgegeben hatten». Die anderen Formen von Schiffsgräbern beruhten auf dem glei­ chen Glauben an ein überseeisches Totenreich, sogar wenn das Schiff bloß durch ein Oval aus Steinblöcken angedeutet wurde. Dieser Brauch muß selbstverständlich eine Ausnahme geblieben sein. Nur fürstliche Familien konnten es sich leisten, einen solchen Prunk zur Schau zu tragen. Der außerordentliche Luxus, von dem die Schiffsgräber von Gokstad und Oseberg (Norwegen) und das 1939 entdeckte Schiff von Sutton Hoo (England) zeugen, ist wirk­ lich eindrucksvoll. In den beiden ersten, die aus der Wikingerzeit datieren, war für den Toten auf dem Schiff eine Art Wohnung oder Kammer gebaut; im dritten fand man zwar eine Grabkam­ mer, aber keine Spur vom Toten, so daß man annehmen muß, daß das Grab als ein Zenotaph gemeint war. Außer den Schätzen, die mit dem Verstorbenen von Oseberg begraben wurden, fand man im Grab auch noch das vollständige Takelwerk eines Schiffes, zwei große Zelte, einen vierrädrigen Wagen, vier Schlitten, drei oder 203

vier Betten, eine große Anzahl Kisten, Fässer und Eimer, und die Gerippe von dreizehn Pferden, sechs Hunden und einem jungen Rind. Mit einem solchen Besitztum mußte sich der Tote in der an­ deren Welt zweifellos gut stellen. Im Grab fanden sich überdies noch die Gebeine zweier Frauen, einer jungen und einer alten. Eine von beiden war wahrscheinlich die Fürstin, die mit einem Teil ihrer Schätze begraben wurde, die andere wohl eine Dienerin, die ihr im Tode gefolgt war. Das Zenotaph von Sutton Hoo ent­ hielt eine prächtige Sammlung goldener Juwelen, Münzen, silber­ ner Schüsseln und Schalen (eine davon trug die Kontrollstempel des byzantinischen Kaisers Anastasius I.,der von 491 bis 518 re­ gierte), Waffen, Reste von Kesseln, Eimern, Bronze- und Eisen­ gegenständen, Geweben, Bechern und Trinkhörnern (Tafeln 9; 12; 25; 29). Es datiert von etwa 650 und ist also ein paar Jahrhunderte älter als die bekannten norwegischen Schiffsgrä­ ber. Über die Identität des Fürsten, für den es gemeint war, ist man sich noch nicht einig, und ebensowenig über die Frage, ob diejenigen, die das Grabmonument errichteten, Christen oder Heiden waren. Die Kirche bekämpfte ja den heidnischen Brauch, dem Toten ein glückliches Weiterleben zu sichern, indem man ihm seinen Besitz mit ins Grab gab; aber vielleicht hatten die ersten Generationen Mühe, darauf zu verzichten. Für uns ist es aber von Bedeutung, festzustellen, daß sich die höheren Stände so kurze Zeit vor dem endgültigen Untergang der germanischen Religion noch auf so ausdrückliche Weise zum Glauben an ein überseeisches Totenreich bekannten. Weniger reichlich ausge­ statteten Gräbern nach zu urteilen, können auch die unteren Stände diesen Glauben gekannt haben. Die gleiche Auffassung scheint in den Darstellungen von Schif­ fen zum Ausdruck zu kommen, die in gotländische Grabsteine ein­ gemeißelt wurden (Tafeln 22; 23). Althin hat diese Grabsteine gründlich untersucht und glaubt, daß sie zu drei verschiedenen Perioden gehören; die Höhepunkte dieser Perioden datiert er zirka 400, 700 und iooon.Chr. Die Grabsteine weisen oft eine reiche Verzierung auf, die von Periode zu Periode verschieden ist: kreis­ förmige Ornamente (in denen man, nach Althin zu Unrecht, Spuren eines Sonnenkultes gesehen hat), dreieckige Figuren und Triskelen,

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bemannte Schiffe, Reiter und auch mythologische Szenen und Epi­ soden aus bekannten oder verschwundenen Heldensagen (Odin bei Suttung, Thors Fischfang, Lokis Strafe, die Geschichte von Si­ gurd). Die bemannten Schiffe sind als Totenschiffe zu deuten, und die Reiter reiten wahrscheinlich das mythische Pferd, das sie zur Totenwelt trägt. Diese Sammlung von religiösen und monumen­ talen Elementen ist derart komplex, daß es für uns schwer hält, sie zu einem zusammenhängenden System zurückzuführen. Wieder­ um zeigt es sich, daß Grenzen, die wir zu ziehen gewöhnt sind, z. B. zwischen dem Religiösen und dem Profanen, in jener Zeit an­ ders lagen: auch in der Heldensage steckten mythische Elemente. Eigenartig ist auch die Form der Gotländer Steine. Die ältesten haben die Form eines Beilblattes, das mit der Schneide nach oben steht. Nun wissen wir, daß Beil und Axt schon in der Steinzeit als heilige Gegenstände betrachtet wurden. Fand etwa auch diese alte Tradition in den Gotländer Grabsteinen ein neues Ausdrucks­ mittel? An Hand von Althins Werk können wir uns noch eine Vorstel­ lung davon machen, was «fremder Einfluß» in jener Zeit bedeutet. Man darf die ältesten Grabsteine als das Werk von Handwerkern betrachten, die im römischen Reich geschult worden waren; später dienten wahrscheinlich christliche Grabmonumente als Muster, wie übrigens auch für die Runensteine. Die Technik und einzelne Motive (vor allem dekorative) können also aus der Fremde kom­ men; nichts deutet aber daraufhin, daß zugleich die germanische Gedankenwelt fremdes Gut aufgenommen hätte. Was wir hier feststellen, gilt gleichermaßen für ältere Perioden und bestärkt un­ ser Mißtrauen gegenüber Theorien, die sich bei jeder denkbaren Gelegenheit auf Einflüsse von außen her berufen. Im Zusammen­ hang mit dem Kessel von Gundestrup sahen wir aber gleichwohl, daß die Spuren von keltischem Einfluß, mögen sie auch zuweilen schwer zu interpretieren sein, dennoch mit unmißverständlicher Deutlichkeit hervortreten. Besonders stark müssen diese Einflüsse gewesen sein bei Völkern, die auf fremdem Boden lebten, wie De Vries (mit einiger Übertreibung) für die Kimbern und Teutonen dargetan hat. Der gleiche Einfluß tritt noch in den Bronzeverzie­ rungen der beiden Wagen zutage, die in Dejbjaerg (Westjütland)

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ausgegraben wurden. Es handelt sich hier um zierliche vierrädrige Wagen, die wahrscheinlich in Prozessionen verwendet wurden. Wir ersehen daraus, wie wir uns den Wagen der Göttin Nerthus vorstellen müssen, die eben in diesem Gebiet verehrt wurde. Ein anderer Aspekt der germanischen Religion wird durch die großen Mengen Waffen und Kriegsbeute beleuchtet, die aus dä­ nischen Mooren zutage gefördert worden sind. Der älteste dieser Funde (nämlich der von Hjortspring auf der Insel Als) datiert noch aus der La Tene-Zeit; die berühmtesten, wie etwa der von Nydam (Schleswig), stammen frühestens aus dem vierten Jahrhundert n. Chr. Die aufgefundenen Gegenstände bestätigen, was Tacitus und Orosius berichten: vor der Schlacht versprachen die Germanen einen Teil der Beute dem Gott oder den Göttern; die den Sieg ver­ leihen würden. Gewöhnlich war das Opfer für Wodan bestimmt, mitunter auch für Tiw oder sogar für beide. Der Ort, wo man solch ein Opfer darbrachte, wurde nicht willkürlich gewählt: bei Hjortspring hat man z. B. noch Spuren von älteren Opfergruben entdeckt. Es war also schon von alters her ein heiliger Ort. Meistens wurde die Beute einfach in einen «heiligen» Sumpf gelegt und spä­ ter durch natürliche Ursachen zugedeckt; mitunter aber wurde sie begraben. Um zu verhindern, daß die geopferten Gegenstände später wieder für profane Zwecke benützt werden könnten, wur­ den sie oft zerschlagen oder auf andere Weise unbrauchbar ge­ macht. Die historischen Angaben über die germanischen Tempel sind wenig ausführlich und widersprechen sich oft. Es sind uns keine sicheren Spuren von vormittelalterlichen Tempeln erhalten ge­ blieben, und auch über die letzten Jahrhunderte vor der Bekeh­ rung weiß die Archäologie in dieser Beziehung nur sehr wenig mitzuteilen. Die Fundamente einiger weniger Gebäude, von denen man annimmt, daß sie für den Kultus verwendet wurden, geben uns einen gewissen Begriff von der Form, die der Gottesdienst an­ nehmen konnte. Aber die aufgefundenen Reste sind manchmal nichts weiter als die Löcher, in denen einst Säulen oder Pfosten ge­ standen haben (z. B. in Uppsala). Zum Glück besitzen wir daneben einige mehr oder weniger ausführliche, wenn auch nicht ganz zu­ verlässige Beschreibungen von Heiligtümern in den Sagas und bei 206

den Historikern (namentlich Adam von Bremen). Die Rolle des Tempels im Gottesdienst werden wir im Zusammenhang mit den Kulthandlungen näher zu umschreiben versuchen. Alles zusammengefaßt, beleuchtet das archäologische Material also vor allem das Zeremoniell und die Anschauungen in bezug auf den Tod. Andere Aspekte, wie z. B. die agrarischen Riten, können wir bloß in sehr allgemeinen Zügen beschreiben. Die Reli­ gion des prähistorischen Germanen ist für uns tatsächlich wie ein Buch, dessen Bilder wir betrachten, ohne den Text lesen zu kön­ nen. Erst die geschriebenen Quellen werden uns dem wirklichen Inhalt dieses Buches näherbringen, aber nur das letzte Kapitel, die paar Jahrhunderte vor dem endgültigen Verschwinden der ger­ manischen Religion, ist für uns einigermaßen «leserlich».

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WILLE UND WISSEN DER GÖTTER

Es gehört zum Wesen jeglicher Religion, daß sich der Mensch von einer Macht oder von Mächten, die außer und über ihm stehen, ab­ hängig fühlt. Wenn er sich dieser Abhängigkeit bewußt wird, be­ ginnt er sich selbstverständlich zu fragen: Was wollen die Götter von mir, was haben sie mit mir vor, wie lerne ich ihren Willen kennen, was muß ich tun, um ihren Wünschen zu entsprechen? Denn an allem Anfang steht der Wille der Götter, auch bei den Germanen. Ihre Götter entscheiden über den Verlauf des Welt­ geschehens, sie sorgen für den Fortbestand des Kosmos. Sie be­ raten sich miteinander über die Mittel zur Instandhaltung der Weltordnung und «binden» alles durch ihre Beschlüsse: Zum Richtstuhl gingen die Rater alle, heil’ge Götter, und hielten Rat: für Nacht und Neumond wählten sie Namen, benannten Morgen und Mittag auch, Zwielicht und Abend, die Zeit zu messen. (Der Seherin Gesicht 6)

Die Götter sind dazu nur deswegen imstande, weil sie das Weltall und seine Kräfte kennen. Vollkommen allwissend sind sie indessen nicht; gelegentlich müssen sie auch andere zu Rate ziehen, z. B. die Riesen - die als die ersten Bewohner der Welt und Vorfahren der Götter über den Ursprung der Dinge besser Bescheid wissen oder auch die Seherinnen, die eine weit entfernte Zukunft er­ schauen können. Im Verhältnis zu den menschlichen Möglichkei­ ten aber reicht ihr Wissen so weit, daß sich der Mensch für alle praktischen Zwecke von ihnen abhängig weiß. Ihren Willen kann er durch Orakel erforschen, ihre Gnade durch Opfer und Gebet erflehen. Mit den geheimnisvollen Mächten außerhalb der Götter­ welt hat er aber keinen solchen Kontakt; deren Eingreifen kann er bloß erdulden. Die Ratschlüsse der Götter sind also von größter Bedeutung. 208

Sie bestimmen, ob der Mensch stark sein und Macht und Reichtum besitzen wird, oder ob ihm Unglück und Krankheit zuteil werden sollen. Wenn die Götter etwas verweigern, muß sich der Mensch fügen. Schon Cäsar vernahm von germanischen Kriegsgefangenen, daß Ariovistus an einem gewissen Tag keine Schlacht liefern wollte, weil das Schicksal es ihm nicht gestattete, d. h. die Götter würden ihm an jenem Tag keinen Sieg gewähren. Die matresfamiliae hatten ja durch das Los und durch Wahrsagen geweissagt, daß sein Heer nicht siegen würde, wenn es sich vor Neumond auf einen Kampf mit den Römern einließe. Auch Plinius lernte diesen Brauch ken­ nen. Es geht hier nicht um magische Handlungen, sondern um das Ergründen des Willens der Götter. Bei den Germanen spielte dieses Forschen und Ausdeuten eine große Rolle. Immer wieder weisen die klassischen Autoren auf die enorme Bedeutung hin, welche die Germanen Orakeln und Vorzeichen beimaßen. Tacitus gibt uns eine ausführliche Beschreibung, die so wertvoll ist, daß es sich lohnt, sie vollständig wiederzugeben: «Die übliche Art des Loswerfens ist einfach. Einen Zweig, den sie von einem fruchtbrin­ genden Baum abgeschnitten haben, zerteilen sie in Stäblein, diese unterscheiden sie durch gewisse Zeichen und streuen sie aufs Ge­ ratewohl und, wie der Zufall es will, über eine weiße Decke. Dann betet der Priester, wenn öffentlich, der Familienvater, wenn von einzelnen um Rat gefragt wird, zu den Göttern, indem er zum Himmel aufblickt und drei Stäblein nacheinander aufhebt. Diese deutet er dann nach dem Zeichen, das vorher auf jedes eingeritzt war. Sind die Zeichen ungünstig, so findet am selben Tage keine Beratung über dieselbe Sache statt; sind sie aber günstig, so sucht man noch die Bestätigung durch Vorzeichen zu erlangen. Dann ist die bekannte Art der Weissagung, Stimme und Flug der Vögel zu beachten, hier üblich. Dem Volk eigen ist es, aus den Voremp­ findungen und Mahnungen der Pferde etwas erkunden zu wollen. In den den Göttern heiligen Hainen und Wäldern werden Pferde von Staats wegen gehalten, es sind Schimmel, die nicht durch ir­ gendeine Arbeit im Dienste der Menschen entweiht sind. Sie wer­ den an den heiligen Wagen angespannt, der Priester und der Kö­ nig oder das Oberhaupt einer Gemeinschaft begleiten sie und be­ obachten ihr Wiehern und Schnauben. Keinem Vorzeichen glaubt 209

man mehr, nicht nur bei dem einfachen Volke, auch bei den obern Schichten. auch bei den Priestern. Diese halten sich für die Diener der Götter, den Pferden schreiben sie Teilnahme an göttlichem Wissen zu. Es gibt noch eine andere Art, Vorzeichen zu beobach­ ten, durch welche sie den Ausgang schwerer Kriege zu erforschen

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Abb. 7

Vier Runenalphabete. i. Das alte Alphabet, mit Trennungszeichen nach der 8. und 16. Rune 2. Jüngeres dänisches Alphabet 3. Jüngeres schwedisch-norwegisches Alphabet 4. Schwedisches sog. Hälsinge-Alphabet

trachten. Sie suchen auf irgendwelche Art einen Gefangenen des Volkes, mit dem sie Krieg führen, zu bekommen und lassen ihn mit einem erlesenen Manne ihres Volkes kämpfen, jeden in den Waffen seiner Heimat. Der Sieg des einen oder anderen wird als Vorentscheidung angesehen» (Germania 10). Es kam also für den Germanen darauf an, den Willen und die Ansicht der Götter zu ergründen. Allzu oft kam es ihm vor, als ließe sich die Natur oder der Feind nach rein menschlicher Berech­ nung nicht richtig einschätzen. Nur die Götter konnten den Aus­ gang seiner Unternehmungen vorhersehen. Das Werfen des Loses 210

und das Beobachten der Vorzeichen wurden denn auch sehr lange geübt. Auf dem Festland mußte die Kirche immer wieder gegen diejenigen auftreten, die den auguria vel avium vel equorum vel hovum stercora vel sternutationes, «Vorzeichen von Vögeln und Pferden und Exkrementen von Rindern und deren Schnauben», Glauben schenkten oder sich mit divinationes et sortilegia, «Wahrsagerei und Prophezeiungen», befaßten. Die Germanen ließen das Los darüber entscheiden, wer ein Heer anführen sollte; es war auch das Los, d. h. die Entscheidung der Götter, das die Winnilen zwang, ihre Heimat zu verlassen, aber Valerius Procillus (De Bello Gallico 1,5 3) und Willibrord das Leben schenkte. Spätere Autoren geben nicht so viele Einzelheiten wie Tacitus über die Weise, in der man beim Werfen des Loses vorging, aber eine gewisse Kontinuität läßt sich jedenfalls feststellen: auch über Procillus und Willibrord wurde dreimal das Los geworfen, im Fall Willibrords sogar dreimal an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Es steht nicht fest, ob hierbei Runenstäbchen verwendet wurden; Tacitus’ notae weisen aber schon soviel Ähnlichkeit mit den Runen auf, daß wir uns hier kurz mit dem Problem dieses Alphabets befassen müssen. Das ursprüngliche Runenalphabet zählte 24 Schriftzeichen, die ausschließlich aus senkrecht oder schräg gestellten geraden Stri­ chen bestanden; horizontale Striche und gebogene Linien wurden systematisch gemieden (Abb. 7). Diese Eigenart ist auf das Schreibmaterial zurückzuführen, das man anfänglich benutzte, nämlich Holz. Die Zeichen wurden in das Holz geritzt, und hätte man dabei waagrechte Striche angewandt, so wären diese mit den Fasern des Holzes zusammengefallen und schwer zu unterscheiden gewesen. Gebogene Linien andererseits waren nicht so leicht an­ zubringen wie gerade Striche. Das Alphabet war in drei Gruppen von je acht Zeichen einge­ teilt, was wahrscheinlich mit dem dreifach«) Werfen des Loses zu­ sammenhängt. Jedes Zeichen hatte nicht nur einen Lautwert, wie unsere Buchstaben, sondern auch einen Namen, der seine Bedeu­ tung angab. So hieß das Zeichen für a «Ase», das für b «Birke» usw. Beim Werfen des Loses wurden die Zeichen mit diesen Namen ab­ gelesen; zu jedem Namen gehörte dann noch ein kurzer Vers, der die Bedeutung näher umschrieb. Die Rune n, die «Not, Katastro­ 211

phe oder Zwang» hieß, kündigte Unheil an, während g, «Gabe, Reichtum, Gnade», oder j, «Gutes Jahr, reiche Ernte», die Gunst der Götter verhieß. Die Reihenfolge der Zeichen im Runenalpha­ bet war von derjenigen aller anderen Alphabete verschieden, was wieder mit der mantischen Verwendung im Zusammenhang steht. Agrell hat diese eigenartige Reihenfolge aus der antiken Zahlen­ mystik (Gematrie) abzuleiten versucht, aber seine Ansicht, mag sie auch noch so anziehend sein, ist nichts weiter als eine Hypothese: die von ihm angeführten «heiligen Zahlen» können zu oft einfach durch Zufall entstanden sein. Wir sahen schon, daß man Rune und Magie häufig als korrela­ tive Begriffe verwendet, jedoch vielfach zu Unrecht. In Tacitus’ Zeit befragte der Priester oder der Hausherr die notae, nachdem er zu den Göttern gebetet hatte. Mit den Runen ging es in den ersten Zeiten nicht anders. Darum hießen sie «von den Göttern stam­ mend» (Inschrift von Noleby, vgl. S. 77). Neben dem Orakel­ brauch hat sich aber schon früh ein magischer Mißbrauch ent­ wickelt. Wer das Mittel besaß, die Zukunft auszukundschaften, konnte leicht in die Versuchung geraten, diese Zukunft beein­ flussen oder gar bestimmen zu wollen. Wenn man wußte, welche Zeichen die Gunst oder Ungnade der Götter bedeuteten, konnte man dann diese Gunst nicht erzwingen, indem man günstige Zei­ chen hinschrieb, oder umgekehrt durch ungünstige Zeichen seinen Feinden Schaden zufügen? Die Folge war, daß man den Zeichen als solchen die Kraft zuzuschreiben begann, Gutes oder Böses zu verwirklichen. In der späteren literarischen Tradition ist es freilich Odin, der die Runen entdeckt und sie seinen Auserwählten be­ kannt gibt, doch ist es auffallend, wie selten die Götter in den Ru­ neninschriften erwähnt werden. Dies bedeutet noch nicht, daß wir es immer mit magischem Brauch zu tun haben. Das Einritzen oder Einhauen der Runen war oft mit einem Opfer verbunden, und dann wurden die frischen Zeichen mit dem Blut des Opfers be­ schmiert oder «gefärbt», wie das in der technischen Sprache jener Zeit hieß. Es waren also die Götter, die den Runen Kraft verliehen. Dies schließt aber nicht aus, daß die Runenmagie schon früh eine wichtige Rolle zu spielen begann. In der Geschichte der Runen vollzog sich im achten Jahrhun­ 212

dert eine durchgreifende Änderung. Auf dem Festland waren sie damals praktisch verschwunden; in England existierten sie noch, aber ohne Zusammenhang mit der früheren Religion. Im skandi­ navischen Gebiet jedoch erfuhren sie eine grundlegende Umge­ staltung. In kurzer Zeit setzte sich ein stark abgeändertes Alphabet mit bloß 16 Schriftzeichen (eine Gruppe von sechs und zwei von fünf Runen; das alte System behielt man also bei) überall durch. Die Neugestaltung kann nicht aus praktischen Erwägungen statt­ gefunden haben: war doch das neue Alphabet viel schwerer zu lesen als das alte, weil es viele Laute nicht oder nur annähernd wie­ derzugeben vermochte. Wir haben es hier vielleicht mit einer Ab­ wehrmaßnahme gegen das aufkommende Christentum zu tun. Gerade in dieser Zeit war Karl der Große mit seinen Armeen bis an die Grenze Dänemarks vorgedrungen. Diese herannahende Gefahr kann zu einer Erneuerung der heidnischen Kultur Anlaß gegeben haben. Das Wikingerwesen und die Skaldik sind unge­ fähr gleichzeitige Äußerungen eines neuen Geistes. Nun finden wir genau vom Ende des achten Jahrhunderts an in verschiedenen christlichen Zentren auf dem Festland Spuren eines ausgeprägten Interesses für die Runen: einige Handschriften jener Zeit erwäh­ nen ausdrücklich, daß die Runen von den Nordleuten für magische Zwecke, und zwar zum Aufschreiben ihrer Zauberlieder, ge­ braucht werden. Vielleicht hofften die Missionare, durch die Kenntnis dieser Zeichen, bei der Bekehrungsarbeit dem Heiden­ tum eine seiner Stützen entziehen zu können ; und da wurde mög­ licherweise die Erneuerung des Runenalphabetes gerade mit der Absicht vorgenommen, solchen «Infiltrationsversuchen» zu weh­ ren. Inschriften auf Holzgegenständen haben sich natürlich nur sel­ ten bis zu unserer Zeit erhalten (Abb. 8). Die meisten Inschriften sind uns auf Waffen, Amuletten, Schmucksachen, verschiedenen Gebrauchsgegenständen und später auf einer immer größeren An­ zahl Steine bewahrt geblieben. Einzelne bestehen aus einem voll­ ständigen Alphabet: dieses verlieh dem damit beschrifteten Gegen­ stand die zusammengeballte Kraft aller Runen. In vielen Inschrif­ ten der älteren Periode kommt das Wort alu vor, das «Schutz» be­ deuten soll, wie auch laukar, «Lauch»: diese Pflanze wurde an-

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scheinend in Rituell und Magie sehr viel verwendet (Tafel 6) Sehr oft nennt derjenige, der die Runen ritzte, seinen Namen in den Inschriften, und das ist verständlich; war doch seine Kenntnis ein sorgfältig gehütetes Geheimnis (rum bedeutet «Geheimnis»)

WESTEREMDEN

ARUM

LINDHOLMEN

Abb. 8 1. Runenstäbchen aus dem Grabhügel von Westeremden (Groningen, 8. Jahrhundert; heute im Fries. Museum, Leeuwarden). Länge zz cm; Eibenholz, beide Enden im Feuer gehärtet. Die Inschrift wurde von Kapteyn als eine Beschwörung gegen Sturm gedeutet: «Hamlet stellte sich Opham entgegen. Vor seinen Eiben (Stäbchen) legte sich die Bran­ dung. Die Brandung beruhige sich vor dieser Eibe (diesem Eiben­ stäbchen). »

2. Hölzernes Schwertchen von Arum (Friesland, ungefähr 6oo n. Chr.; heute im Fries. Museum, Leeuwarden). Länge 24 cm; Eibenholz. Dieses Schwertchen war das Würdezeichen eines Boten, das ihn als Träger eines Berichtes oder Befehls legitimieren sollte; die Inschrift bedeutet wohl «Eda: der Bote». 3. Amulett von Lindholmen (Skäne, Schweden; 6. Jahrhundert). Länge 16 cm; beinernes Stäbchen; am einen Ende ist ein rudimentärer Tier­ kopf (Fisch oder Schlange?) dargestellt. Inschrift: (a) «Ich, Erila, werde der Schlaue (der Zauberkundige) geheißen»; (b) eine Zauberformel: aaaaaaaa RRR nnn b m u ttt: alu. Diese drei Inschriften geben ein Bild von der frühesten Runentechnik. 214

und verlieh ihm hohes Ansehen. Später waren es vor allem die Grabsteine, die mit Runenzeichen versehen wurden. Die Absicht war aber dabei nicht in erster Linie, den Namen des Verstorbenen für die Nachwelt zu erhalten. Manche Steine wurden sogar im Grab verborgen, und deren Inschrift war also nicht für zukünftige Leser bestimmt; auf älteren Steinen wurde der Verstorbene in der Grabschrift nicht einmal erwähnt, auch wenn der Stein auf dem Grab stand. Die Absicht, die hinter diesem Brauch steckt, geht sehr deutlich aus der Inschrift von Björketorp (Südschweden, etwa 650; Tafel 25 u.) hervor: darin spricht der «Runenmeister» einen Fluch über allfällige Grabschänder aus: Unglücksvorhersage. Ich, Meister der Runenreihe, verbarg hier mächtige (göttliche) Runen (oder: Ich verbarg hier eine Reihe glänzender Runen, mächtiger Runen). Durch Schlechtigkeit rastlos, (sterbe) derjenige, der dieses (Grab oder Monument) schändet, eines heimlichen Todes. Der Text auf dem Grabstein von Stentoften (gleiche Gegend) ver­ bindet jedoch mit dem Schutz des Grabes den Ruhm des Verstor­ benen :

Den neuen Bewohnern, den neuen Fremdlingen gab Haduwolf ein gutes Jahr. Möge Hariwolf (Unheil abwenden?). Ich ver­ barg hier eine Reihe glänzender Runen, mächtiger Runen. (Wei­ ter die gleiche Verfluchung wie auf dem Stein von Björketorp). Der erste Teil dieser Inschrift ist eine Anspielung auf den bei den Germanen sehr verbreiteten Glauben, daß der Fürst persönlich für das Wohlergehen seiner Untertanen verantwortlich sei (vgl. S. 235). Haduwolf hatte einer Gruppe Kolonisten Wohlfahrt verliehen; möge Hariwolf (sein Sohn?) das gleiche tun. Der Name des Ver­ storbenen scheint nach und nach einen größeren Platz einzuneh­ men, wenn auch der Runenmeister bis zur Bekehrung eine wich­ tige Persönlichkeit bleibt. Nach der Bekehrung verschwinden die Grabinschriften mit Runen nicht, im Gegenteil; das Runenalpha­ bet muß damals seine heidnische Art schon so sehr verloren haben,

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daß es sogar für Inschriften auf Glocken, Taufbecken und Weih­ rauchfässern gebraucht werden konnte. Was wir weiter über die Verwendung von Runen in der heid­ nischen Zeit wissen, stammt meist aus der späteren Literatur. Manchmal sind es unverstandene Reminiszenzen, manchmal geht es um spätere sekundäre Erscheinungen; oft ist der magische Ein­ schlag bedeutend, obwohl die Interpretation in dieser Hinsicht häufig unsicher bleibt. Wir erwähnten bereits eine Strophe aus Sigrdrifas Runenweisheit (S. 134): wer den Sieg erringen wollte, rief zweimal Tyr an und schrieb dazu zwei t-Runen auf sein Schwert. Die Walküre kannte noch andere Arten Runen als die «Sieg­ runen». So sollten z. B. «Bierrunen» einer Art Liebestrank Kraft verleihen; «Gebärrunen» wurden bei der Entbindung verwendet: Gebärrunen brauche, willst zur Geburt du helfen, lösen das Kind von der Kreißenden! Auf die Hand soll man sie graben und um die Glieder sie spannen, bei den Disen Gedeihn erflehn. (Erweckung der Walküre 9)

Ferner gewährleisteten «Brandungsrunen» auf Steven, Ruderpinne und Rudern des Schiffes eine sichere Fahrt; «Gliedrunen» heilten Wunden, «Sprechrunen» machten beredt und führten zu günstigen Entscheidungen auf dem Thing, «Denkrunen» machten den Be­ nutzer schlauer als seine Gegner. Es handelte sich also jedesmal um eine spezielle Verwendung der Runen, nicht um eine andere Art von Zeichen. Auch die verschiedensten mythischen Wesen und Gegenstände trugen Runen: die Räder von Thors Wagen, die Zähne von Odins Pferd, Bragis Zunge, die Spitze von Odins Speer usw. Ein rein magischer Brauch wird in einer Episode aus der Saga vom Skalden Egil beschrieben. Auf einem Hof, den er besuchte, fand Egil die Tochter des Bauern an einer schleichenden Krankheit leidend. Ein junger Mann hatte sie zu heilen versucht, indem er Runen in die Kiemenplatte eines Fisches ritzte und diese Inschrift in ihrem Bett versteckte. Der Zustand der Kranken bes­ serte sich aber durchaus nicht. Egil prüfte die Runen und sah, daß 216

sie falsch geschrieben waren. Er hobelte sie sorgfältig ab und ver­ brannte sowohl die Hobelspäne wie die Kiemenplatte, wobei er sprach: Runen ritze keiner, rät er nicht, wie’s steht drum. Manches Sinn schon, mein’ ich, wirren Manns Stab irrte. Zehn der Zauberrunen ziemten schlecht den Kiemen: Leichtsinn leider machte lang des Mädchens Krankheit. (Egils Saga 72)

Darauf ritzte Egil andere Runen und legte sie ins Bett; und es war, als erwachte das Mädchen aus einem langen Schlaf: sie war ge­ heilt. Das Abhobeln der Runen wird noch öfter erwähnt, doch hatte man dabei nicht immer die Absicht, ihre Wirkung zunichte zu machen. Manchmal wurden die abgehobelten Späne mit einem Trank eingenommen, damit in dieser Weise die Wirkung der Zei­ chen auf den Menschen übergehe. Neben solchen, eher als Magie zu wertenden Handlungen, blieb das Werfen des Loses auch ferner­ hin üblich. Im Norden hießen die Stäbchen, die dazu dienten, teinn oder hlautteinn, «Zweiglein, Loszweiglein»; das Altenglische kannte das verwandte Wort tan in der Zusammensetzung tanhlytere, «Wahrsager» (buchstäblich «Zweigweissager»). Bei den Skan­ dinaviern lagen die Stäbchen in einem hlautbolli, «Loskessel». Aber nach und nach begann man das blutige Opfer, mit dem das Losen verbunden war, als das zentrale Motiv zu betrachten, namentlich in der historischen Literatur aus der Zeit nach der Bekehrung. So kommt es, daß hlautbolli dort zur Bezeichnung des Kessels oder Gefäßes wird, in dem das Blut der Opfertiere aufgefangen wurde. Hlaut selber wurde als «Opferblut» interpretiert, und laut der Eyrbyggja-Saga und Snorris Heimskringla war das hlautteinn der Wedel, mit dem das Opferblut auf die Anwesenden gesprengt wurde. Auch wenn diese Beschreibung ursprünglich von Ari dem

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Alten stammt (wie u. a. De Vries vermutet), ist doch irgendeine Form von interpretatio christiana nicht ausgeschlossen. Wenn man das Los warf, so folgte man darin nur dem Beispiel der Götter, die bei ihren Beratungen in gleicher Weise vorgingen: Heim brachten Wild die Walgötter, besorgt auch um Trank, bis sie satt würden; sie schüttelten Zweige (teinn), schauten aufs Los sie fanden bei Ägir viele Kessel.

(blaut) :

(Hymirlied i)

An Tacitus erinnert ein Passus aus der Geschichte von Jarl Hakon: «Als Jarl Hakon ostwärts vor Gautland kam, warf er den Opfer­ span, und es offenbarte sich so, als wenn er einen günstigen Tag zur Schlacht haben sollte, und er sah zwei Raben, die schrien und dem Kriegsvolk allewege folgten.» Hier ist zu gleicher Zeit die Rede von der Beobachtung der Vögel. Dies war in der Tat ein wichtiges Mittel, den Willen der Götter kennenzulernen. Ob sich die Germanen diesen «Willen» immer als eine bewußt eingreifende Macht vorstellten (und somit nicht «fatal», im Sinne von «vom blinden Schicksal bestimmt»), kann meistens nicht mit Sicherheit entschieden werden. Dieses Problem hängt nämlich auch noch mit den germanischen Ansichten über die Götter zusammen. Im oben angeführten Abschnitt über Jarl Hakon wird nicht ausdrücklich gesagt, das Los und die wahrgenommenen Raben hätten den Wil­ len, den Beschluß der Götter zu erkennen gegeben. Es kommt uns tatsächlich so vor, als hätte der Germane beim Befragen des Loses und beim Beobachten der Vorzeichen die Idee eines be­ wußten, unabänderlichen göttlichen Willens nicht immer klar vor Augen gehabt. Wir erhalten vielmehr den Eindruck, daß manch­ mal das Omen selber in irgendeinem direkten Kausalzusammen­ hang mit dem angekündigten Geschehen stand. Vergessen wir aber nicht, daß es für den Germanen überflüssig war, die Götter jedesmal ausdrücklich zu erwähnen, da er ja an ihrem Eingreifen nicht zweifelte. Außerdem war in den meisten Fällen nicht von einem bestimmten Gott die Rede, dessen Willen oder Ansicht man zu erkennen suchte; dachte doch der Germane in erster Linie an

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die Kollektivität der Götter, an die Gesamtheit göttlicher Mächte. Dies war für ihn die Auffassung, die einem transzendentalen Gottesbegriff am nächsten kam. Wenn das Los die Willensäußerung einer göttlichen Allmacht war, so mußte diese alle Götter um­ fassen. In diesem Licht erhält das äußerst schwierige Problem des ger­ manischen Schicksalsgedankens ein anderes Aussehen, als es in den meisten Abhandlungen über dieses Thema hat. Vieles von dem, was z. B. in der heroischen Poesie als «Schicksal» gilt, ist auf das Fehlen einer festgefügten, über der Menschenwelt thronenden Göttergemeinschaft zurückzuführen; und dieses Fehlen wiederum ist zu einem nicht unbeträchtlichen Teil dem späten Datum unserer Texte zuzuschreiben: keine regierende Göttergemeinschaft konnte ja die Bekehrung überleben. Dennoch muß es immer Umstände gegeben haben, unter denen der Mensch die Beschränktheit und vielleicht sogar die Ohnmacht seiner Götter erfuhr und somit hin­ ter ihnen ein ungreifbares Schicksal zu vermuten begann. Dieses Schicksal konnte sehr verschiedene Formen annehmen; es konnte als eine geheimnisvolle Göttin Urd, als eine Gruppe von Nomen oder als eine fast abstrakte, aber um so entsetzlichere «Unabwend­ barkeit» auftreten. Die Anrufung einer bestimmten Gottheit beschränkte das Gül­ tigkeitsgebiet des Orakels oder Omens. In den Fällen, da ein ein­ ziger Gott befragt wurde oder Hinweise gab, handelte es sich im­ mer um eine Frage, die speziell zur Befugnis dieses Gottes ge­ hörte : Thor gab z. B. einigen Norwegern den Befehl, sich auf Is­ land anzusiedeln, und wies ihnen auch neue Wohnstätten an; Odin prophezeite oder bestimmte den Ausgang eines Kampfes oder Krieges. Im allgemeinen jedoch war es hauptsächlich Odin, der speziell mit dem Orakel- und Vorzeichenglauben zu tun hatte, denn dies entsprach ganz seiner Art. Der Rabe, den wir vorhin als ominöses Tier in Erscheinung treten sahen, gehörte ganz speziell zu Odins Gefolge. Laut einiger Berichte, die aber jüngeren Da­ tums sind, hatte der Gott sogar zwei Raben bei sich, die ihn über alles aufklärten, was auf der Welt vor sich ging. Als Vogel des Schlachtfeldes und als Erscheinungsgestalt der Walküren weis­ sagte der Rabe die Kriegsaussichten. Odin selber hieß «Raben-Ase»

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und gab Sigurd folgende Antwort auf seine Frage nach bedeu­ tungsvollen Vorzeichen: Viele (Zeichen) sind gut, wenn das Volk sie kennte, für des Schwertes Schwung: trefflich Geleit ein tiefschwarzer Rabe für den Degen mich dünkt. (Reginlied 20)

Aber dieser Vogel kann auch Unheil verkünden, wie z. B. nach dem Tode Sigurds:

Erschlagen ward Sigurd südlich vom Rhein; vom Baume rief der Rabe laut: «An euch wird Atli Eisen röten, der Meineid muß die Mörder fällen!» (Das alte Sigurdlied j)

Sigurds Mörder wurden tatsächlich von Atli getötet; die ganze Tragik der Nibelungensage ist in den beiden letzten Versen zu­ sammengefaßt. Dieser Glaube an die Weissagungsgabe des Raben fand eine sehr treffende Anwendung in den sogenannten «Rabenbannern». Dies waren Kriegsfahnen, auf die ein Rabe mit gespreizten Flügeln gestickt war. Namentlich die Wikinger kämpften unter solchen Fahnen. «In jeder Schlacht», so erzählt ein angelsächsischer Anna­ lenschreiber, «in der die Standarte vor den Kriegern hergetragen wird, fällt ihnen der Sieg zu, wenn in der Mitte des Banners ein fliegender Rabe zu sehen ist; hängt aber das Banner wie leblos herab, so unterliegen sie.» Und der Verfasser erzählt, wie ein Sohn des berüchtigten Wikingers Ragnar Lodbrok im Jahre 878 einen Angriff auf Devon wagte und dabei das Leben einbüßte. Die Eng­ länder erbeuteten damals sein Banner, «das Rabe genannt wurde». Die Anfertigung eines solchen Banners war anscheinend an strenge Vorschriften gebunden: Ragnars drei Töchter hatten den «Raben» in vierundzwanzig Stunden hergestellt. Die Verwendung dieser heiligen Banner beruhte auf einer sehr alten Tradition. Schon bei

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Tacitus lesen wir, daß die Germanen ihre Heeresstandarten in hei­ ligen Wäldern verwahrten. Wahrscheinlich sind diese Feldzeichen mit den römischen Legionsadlern urverwandt. Der Adler war üb­ rigens auch bei den Germanen ein heiliges Tier: kein Geringerer als Odin hatte sich in einen Adler verwandelt, als er den Götter­ trank stahl. Der gleiche Gott trug auch noch Beinamen, die auf eine Habichtsgestalt hindeuten. Noch andere Vögel wurden als ominös betrachtet: eine Gruppe Meisen warnte Sigurd vor Regins schnö­ den Plänen; eine Krähe prophezeite Hermigisel, einem König der Warnen, daß er innert vierzig Tagen sterben würde. Heilige Pferde erwähnten wir bereits früher. Tacitus erzählte, daß die Germanen aus ihrem Wiehern die Zukunft vorhersagten; in der späteren Literatur ist das Pferd das heilige Tier sowohl von Freyr wie von Odin. Letzterer führte nicht nur Beinamen, die «Pferd» bedeuten; er besaß auch das berühmte Pferd Sleipnir, das acht Beine hatte und schneller lief als alle anderen Reittiere. Auch nach der Bekehrung blieb der Glaube an «Vorzeichen von Vögeln und Pferden» noch bestehen, und die Kirche sah sich genötigt, da­ gegen aufzutreten. Bei dieser Art der Wahrsagerei war die Hal­ tung des Germanen passiv: das Vorzeichen entstand ja nicht aus seiner eigenen Veranlassung, sondern kam von den Göttern, die im Omen etwas von ihrer Unergründlichkeit preisgaben. Er konnte aber auch selbst die Initiative ergreifen und die Vorzeichen befra­ gen, die er selber machte oder deren Konstellation er bestimmte. Diese hatten ihre weissagende Kraft aber gleichfalls den Göttern zu verdanken, so z. B. die Runen, mit denen das Los geworfen wurde. Es liegt auf der Hand, daß diese aktive Wahrsagerei eher zur Zauberei Anlaß gab; wo der Glaube an die alten Götter in den Hintergrund trat, rückte sofort und endgültig die Magie auf den Plan. So glaubte der Mensch also, weissagen zu können mit Hilfe von Vorzeichen, die nicht mehr durch den Willen der Götter den Blick in die Zukunft freigaben. Von hier aus war es nur noch ein Schritt bis zum Glauben, diese Zeichen könnten auch die Zukunft bestimmen. Einem Zeichen, das lediglich in der Ordnung der Kenntnis eine Kausalität besaß, wurde da gleichfalls eine Kraft zuerkannt in der Ordnung der Wirkursächlichkeit. Nicht nur über das, was in der Zukunft verborgen lag, befragte 221

der Germane seine Götter, sondern auch über verborgene Tat­ sachen aus der Vergangenheit. Sie erteilten ihre Antwort in einer bestimmten Form von Götterspruch. Eine Art solcher Orakel blieb noch lange im Gebrauch und erhielt sogar einen festen Platz im frühmittelalterlichen Recht: das Gottesurteil. Es entsprach völlig dem immanenten Gottesbegriff der Germanen, daß sie ihren Göttern ein unmittelbares Eingreifen in die Rechtshandlung zu­ schrieben: die Götter entschieden über den Ausgang der Probe und bewiesen in dieser Weise die Schuld oder Unschuld des Ange­ klagten. Aus den germanischen Quellen kennen wir die Probe mit dem kochenden Wasser und die mit dem glühenden Eisen sowie auch die Probe mit dem Rasenstück. Bei dieser letzten wurden ein bis drei lange Rasenstreifen vom Boden losgelöst und in der Mitte hochgehoben, aber in der Weise, daß die beiden Enden mit der Erde verbunden blieben. Der Beklagte ging oder kroch unter den Rasenstreifen hindurch; fielen sie auf ihn nieder, so war er schuldig. In anderen Fällen wurde die Entscheidung durch einen gericht­ lichen Zweikampf herbeigeführt; dieses Verfahren hatte den Vor­ teil, daß der Schuldige dabei gleich seine Strafe erlitt. Nach der Be­ kehrung versuchte die Kirche zunächst, mittels eines angemesse­ nen Zeremoniells den Gottesurteilen ihren heidnischen Charakter zu nehmen, bis diese Gerichtsverfahren allmählich einer geeigne­ teren Beweisführung Platz machen mußten.

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DAS GEBET

Das nächstliegende Mittel für den Menschen, um sich an die Göt­ ter zu wenden, war das Gebet. In keinem Punkt ist aber unser Quellenmaterial so enttäuschend wie gerade hier. Es ist gewiß nicht von ungefähr, daß die meisten Werke über die Religion der Germanen diesem Thema wenig oder keine Aufmerksamkeit wid­ men. Die Knappheit der Quellen hat einige Autoren sogar zur Be­ hauptung verführt, das Beten hätte der Art der Germanen nicht entsprochen. Dennoch wissen wir einiges über die Umstände, un­ ter denen die Götter angerufen wurden: vor dem Werfen des Lo­ ses, vor dem Opfer, bei der Eröffnung der Volksversammlung, vor einem Zweikampf oder einer Feldschlacht, bei der Wahl einer neuen Wohnstätte usw. Es gab kein wichtiges Ereignis im Leben des Germanen, bei dem er nicht die Götter oder einen bestimmten Gott um Beistand anflehen konnte; was er denn auch tatsächlich tat. Daß diese Gebete die Bekehrung nicht überleben konnten, versteht sich von selbst. Trotzdem gibt es ein paar Texte, die uns einen Begriff vom Stil und von der Form des germanischen Gebe­ tes vermitteln. Das erste Gebet ist in einem angelsächsischen Ritual erhalten geblieben, das zum Zwecke hatte, einen unfruchtbaren Acker zu entzaubern:

«...Nimm dann den Samen, lege ihn auf den Pflug und sage: Erce, Erce, Erce, Mutter der Erde, Der Allmächtige gönne dir, der ewige Herr, Äcker wachsend und sprießend, Schwellend und üppig aufschießend, Hohe Stengel, glänzende Früchte, Früchte der breiten Beeren (?), Früchte des weißen Weizens, Und alle Früchte der Erde...» Wenn man den Pflug vorwärts treibt und die erste Furche auf­ wirft, so sage man:

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« Heil dir, Erde, Mutter der Menschen, Sei wachsend durch Gottes Macht, Voll der Nahrung zum Nutzen der Menschen...»

Hier ist aber Erce oder Mutter Erde gänzlich dem Gott der Chri­ sten untergeordnet; diesem Umstand verdanken wir wahrschein­ lich die Erhaltung des Textes. Die feierliche Anrufung der erwa­ chenden Sigrdrifa steht ohne Zweifel dem heidnischen Geist näher: Heil dir, Tagl Heil euch, Tagsöhne! Heil, Nacht und Nachtkind! Mit holden Augen schaut her auf uns Und gebt uns Sitzenden Sieg!

Heil euch, Äsen! Heil euch, Asinnen! Heil dir, fruchtschwere Flur! Rat und Rede gebt uns Ruhmreichen beiden Und heilkräftige Hände! (Erweckung der Walküre 3, 4)

Wenn auch hinsichtlich der Datierung dieser Verse ein gewisser Zweifel bestehen mag, so geben sie dennoch ein gutes Beispiel der Gebetsform: das alliterierende Versmaß, das dem Gebet einen er­ habenen Ton verlieh, kommt auch auf einigen alten Runensteinen vor. Das Dichten und gut Vortragen eines solchen Textes kann nicht jedermanns Sache gewesen sein. Bei besonders feierlichen Gelegenheiten wurde ein speziell befugter «Kultusredner» mit dem Hersagen der heiligen Worte betraut. Im Norden hieß er thul (p>ulr). Im Altenglischen bedeutet das dementsprechende Wort ZÄyA (pyle) «Redner», aber auch «Narr, Possenreißer»: seiner ge­ weihten Aufgabe entledigt, wurde der Kultussprecher zum Hof­ beamten, oder noch geringer: zum Hofnarren. Die alte Bedeutung ist noch erhalten in einem Beinamen Odins: Fimbulßulr, «der große Thul»; war er doch der Erfinder der Dichtkunst, die ja gerade der Sprache eine besondere Weihe gab (vgl. Tafel 26). Die Haltung beim Gebet ist in Tacitus’ Beschreibung des Lo­ sens nur kurz angedeutet: «mit zum Himmel erhobenen Augen».

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So, und mit in bittender Gebärde erhobenen Händen, ist ein beten­ der Germane auf der Markussäule in Rom dargestellt: römische Soldaten sind dabei, sein Dorf zu plündern und zu zerstören; nur von den Göttern kann er noch Hilfe erhoffen. Eine Bronzefigur eines betenden Germanen zeigt den Mann in der gleichen Haltung, diesmal aber nicht stehend, sondern auf das rechte Knie niederge­ sunken. Eine tiefe Ehrfurcht und eine innige Überzeugung spre­ chen aus seiner ganzen Haltung (Tafel 27).

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OPFER

Über das Opfer bei den prähistorischen Germanen wurde schon am Anfang dieses Kapitels gehandelt. Alles was uns aus der prä­ historischen Periode erhalten geblieben ist, sind geopferte Gegen­ stände und einige wenige Spuren von Opferbräuchen. Der eigent­ liche Hergang des Opfers, seine Bedeutung und seine Bestimmung bleiben uns verborgen. Auch für spätere Perioden bleibt dieser Mangel an Quellenmaterial spürbar, aber da können wir uns doch wenigstens ein gewisses Bild vom Zeremoniell einiger Opferhand­ lungen und sogar von ihrem Sinn machen. Cäsar behauptete, die Germanen hätten sich nicht um Opfer ge­ kümmert; Tacitus aber wußte schon besser Bescheid: er erwähnt Menschenopfer und (vom Standpunkt der Römer aus betrachtet) «erlaubte» Opfer, d. h. Opfer von Tieren, von Trank usw. Was uns über Menschenopfer überliefert worden ist, hat zu verschiede­ nen Interpretationen Anlaß gegeben. Nach Ansicht einiger For­ scher darf man den Germanen eine so barbarische Kultusform nicht zumuten; sie meinen, alle diesbezüglichen Angaben beruh­ ten auf Mißverständnissen oder auf Verunglimpfung durch klas­ sische und christliche Autoren. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß es solche Opfer von Tacitus’ Zeit an bis zum Ende der heidni­ schen Zeit gegeben hat. Nur können sie kaum zum täglichen Ri­ tual gehört haben; sie wurden wohl nur bei ganz speziellen Gele­ genheiten vorgenommen, wie etwa bei einem großen Sieg, oder einem religiösen Fest, an dem die ganze Bevölkerung teilnahm. Von der Tötung von Kriegsgefangenen haben wir zahlreiche Bei­ spiele. Gewöhnlich scheint dieses Opfer Wodan zugekommen zu sein, aber hin und wieder bekam auch ein anderer Gott seinen Teil (vgl. S. 88). Über den eigentlichen Sinn des Opfers ist man sich nicht immer einig: ging es wirklich um eine Vernichtung, um ein «Schenken» eines Teiles der Beute an die Götter? Oder lag die Be­ deutung auf einer «tieferen» Ebene: hatte die Kraft der Götter ab­ genommen, und wurde sie durch ein solches Opfer wieder ver­ stärkt? Diese Fragen stehen sowohl mit dem Sinn des Opfers im

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allgemeinen wie mit den germanischen Auffassungen über die Götter im Zusammenhang. Unseres Erachtens setzt die zweite Er­ klärung einen allzu primitiven Gottesbegriff bei den Germanen voraus, wenigstens für die Zeit unmittelbar vor der Bekehrung (wie oft auch auf die Fruchtbarkeitsidee und die Fertilitätsriten ein zu großes Gewicht gelegt wird). Nur wo es sich um Opfer an un­ genannte Götter handelt, kann Zweifel entstehen, und auch dann noch muß man sich davor hüten, die Opferhandlung allzu mecha­ nisch zu erklären. Sogar wenn der Adressat eines Opfers nicht mit Namen genannt wird, will das noch nicht heißen, daß ihn der Opferer nicht bewußt als eine höhere Macht anerkannt hätte, als eine Macht, an die er sich wenden und die seine Wünsche erhören konnte. Dies alles kurzerhand zur Magie zu rechnen, ist nicht dazu angetan, unser Bild der germanischen Religion zu verdeutlichen. Beim Menschenopfer wurde der zu Opfernde häufig gehängt, hie und da auch ertränkt (Tafeln 23; 28). Nach Tacitus be­ schränkten sich die Menschenopfer auf den Kult des Mercurius. Da in späteren Zeiten das Hängen, sofern es als Opfer gewertet werden kann, meist unmißverständlich mit Wodan-Odin im Zu­ sammenhang steht, ist man geneigt, alle Opfer, bei denen ein Mensch gehängt wurde, diesem Gotte zuzusprechen. Hatte doch Odin selber neun Tage und neun Nächte lang an einem Baum ge­ hangen, ehe er das Geheimnis der Runen entdeckte. Diese Zahl erinnert an die Dauer des Opferfestes in Uppsala, das alle neun Jahre stattfand und neun Tage währte. Dennoch scheint Odin ge­ rade in Uppsala nicht die Hauptrolle gespielt zu haben (vgl. S. 119). Außerdem wurden schon zur Zeit von Tacitus andere Götter mit Menschenopfern verehrt, so z. B. der «alles beherrschende» Gott der Semnonen, und vielleicht auch Nerthus, wenn wenigstens das Ertränken der Sklaven, die beim Waschen ihres Wagens und ihres Bildes halfen, als ein Menschenopfer aufgefaßt werden darf. Für welchen Gott das äußerst grausame Menschenopfer be­ stimmt war, das Strabo den Kimbern zuschreibt, erwähnt dieser Autor nicht. Er gibt aber eine genaue Schilderung der Feier: «Die Frauen, die mit den Männern in den Kampf zogen, wurden von Priesterinnen angeführt, welche die Zukunft Vorhersagen konn­ ten. Diese Priesterinnen waren grauhaarige, in weiße Gewänder

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gehüllte Frauen. Sie trugen ein Oberkleid aus Leinen, das mit einer Spange auf der Schulter befestigt war. Sie trugen ferner einen Bronzegürtel und gingen barfuß. Mit dem Schwert in der Hand schritten sie den Kriegsgefangenen durch das Heerlager entgegen, bekränzten sie und führten sie zu einem Bronzekessel, der etwa zwanzig Eimer fassen konnte. Bei diesem Kessel stand eine Leiter. Sie stiegen hinauf und schnitten jedem Kriegsgefangenen, der zu ihnen emporgehoben wurde, die Kehle ab. Aus der Weise, in der das Blut in den Kessel strömte, prophezeiten sie die Zukunft. An­ dere schnitten die Körper der Kriegsgefangenen auf, und nach Prüfung der Lage des Eingeweides sagten sie mit lauter Stimme aus, daß die Ihrigen den Sieg erringen würden.» Ein Menschen­ opfer, das mit Wahrsagerei verbunden war, muß wohl für Wodan bestimmt gewesen sein — wenn wenigstens die Idee des Opfers nicht allzu sehr einer rein magischen Auffassung hatte weichen müssen oder die Opferhandlung selber unter keltischem Einfluß stand, wie De Vries erwägt. Außer Kriegsgefangenen wurden auch Verbrecher und Sklaven geopfert, in bestimmten Fällen auch Personen höheren Ranges. Bei den Friesen fand die Hinrichtung eines Tempelschänders mit einem Rituell statt, das den Gedanken an ein Opfer nahelegt; wahrscheinlich müssen wir hierin ein Sühneopfer für die beleidigte Gottheit sehen. Andrerseits geht es nicht an, alle Todesstrafen, die bei den Germanen vollzogen wurden, als sakrale Handlungen zu deuten, selbst dann nicht, wenn man darunter auch Maßnahmen versteht, die getroffen wurden, um einen Verbrecher endgültig (also auch noch nach seinem Tode) aus der Gemeinschaft zu ver­ bannen. Opfer von Königen und Fürstensöhnen blieben natürlich große Ausnahmen. In diesem Zusammenhang sei noch kurz an König Auh erinnert, der seine Söhne opferte, um selber länger leben zu dürfen (vgl. S. 104). Hier erhebt sich wieder die Frage nach dem Sinn dieser Opfer. War es die Absicht Auns, die Kraft junger Menschen, die in der Blüte des Lebens standen, auf sich überzuleiten, oder wollte er Odin eine Entschädigung für das Aus­ bleiben eines Krieges bieten, der Walhall hätte bevölkern sollen? In der Sage, wie wir sie kennen, sind diese beiden Motive unlös­ lich miteinander verschlungen, und vielleicht waren sie das in der 228

Wirklichkeit ebenfalls. Von Bedeutung ist auch die Tatsache, daß Aun sein Opfer alle neun Jahre wiederholen mußte: diese Periodi­ zität hängt zweifellos mit dem großen, alle neun Jahre stattfinden­ den Opferfest in Uppsala zusammen. Das Tieropfer gehörte vielmehr zum gewöhnlichen Leben. Es bestand meistens aus zwei Teilen: dem rituellen Töten des Opfer­ tieres und dem Opfermahl, wobei das Fleisch des geopferten Tieres von den Teilnehmern verspeist wurde. Gewisse Teile der Opfer­ tiere, wie z. B. die Köpfe, waren den Göttern Vorbehalten. Auf dem Schlachtfeld, wo Varus mit seinen Legionen die Niederlage erlitten hatte, fanden die Römer später an die Bäume genagelte Tierköpfe vor. Die Sieger hatten da wahrscheinlich ihre Beute ge­ opfert. Mit dem Blut des Opfertieres wurde zuweilen auch ein Pfahl oder eine Säule (z. B. die Irminsäule, vgl. S. 160) oder auch ein Teil des Tempels bestrichen. Auch Runen, die in Steine oder Losstäbchen geritzt waren, wurden mit dem Opferblut «gefärbt». Das Blut war der Träger der Kraft, die durch das Opfer vermittelt wurde. An diesen Brauch erinnert der altnordische Ausdruck bl6tspan, «Opferspan», der mit dem Wort hlautteinn, «Losstäbchen», sinnverwandt war (vgl. S. 217). Das Opfer führte den Kontakt mit den Göttern herbei; die Runen wurden in dieser Weise mit gött­ licher flacht geladen und konnten so den Willen der Götter zum Ausdruck bringen. Darum heißen sie meginrünar, «Machtrunen»; megin war die göttliche Macht. Das Opfer verlieh Kraft, was das Altnordische mit dem Zeitwort magna, «verstärken» ausdrückte. Manchmal überschreitet man hier natürlich die Grenze zur Magie: von «heiligen» zu «verzaubern» ist kein großer Schritt. Bei den verschiedenen Göttern haben wir die ihnen geweihten Tiere erwähnt; dies waren zugleich die Tiere, die ihnen vorzugs­ weise geopfert wurden. So opferte man Freyr hauptsächlich Schweine, einigen Quellen zufolge aber auch Pferde: bestimmte Tiere oder Herden waren ihm besonders geweiht. Dem Gotte Thor opferte man vielleicht Böcke: die Mahlzeit, bei der er selber seine Böcke geschlachtet und aufgetischt hatte, soll das Urbild zu diesem Opfer gewesen sein. Anderswo waren es Rinder, mitunter auch Hunde und andere Tiere, die den Göttern als Opfer darge­ bracht wurden (in Uppsala neun verschiedene männliche Tiere). 229

Das Pferd aber scheint wohl das bevorzugte Opfertier gewesen 2u sein. Der griechische Historiker Agathias erzählt z. B., die Ale­ mannen hätten im sechsten Jahrhundert noch Pferdeopfer darge­ bracht. In vielen von diesen Berichten wird aber nicht erwähnt, für welchen Gott das Opfer bestimmt war. Die ominöse Bedeutung des Pferdes, die Tacitus so treffend schildert, mahnt an Wodan, und außerdem führt ja dieser Gott verschiedene Beinamen, die «Pferd» bedeuten. Andrerseits aber sahen wir, daß auch dem Gott Freyr Pferde gewidmet wurden. Es steht jedenfalls fest, daß das Pferdeopfer ein alter indogermanischer Brauch war: auch die alten Inder und die Römer kannten es. Bei den Letztgenannten war es der Kriegsgott Mars, der in dieser Weise verehrt wurde. Wie tief dieser Brauch bei den Germanen verwurzelt war, geht aus den sehr strengen Vorschriften der Kirche gegen den Genuß von Pferdefleisch hervor: wo Männer zu einer solchen Mahlzeit ver­ sammelt waren, war man nie sicher, als es sich nicht um ein heid­ nisches Opfer handelte. Auf diesem alten Verbot beruht die heute noch sehr verbreitete Abneigung gegen Pferdefleisch. Aus der Terminologie des Opfers erhellt, daß das Töten manch­ mal ohne Blutvergießen vor sich ging: das Opfertier wurde er­ würgt oder, wie in Uppsala, erhängt. Die ganze Handlung war an feste Regeln gebunden, von der Wahl des Opfertieres an bis zu dessen Verteilung zwischen Göttern und Menschen. Der für die Menschen bestimmte Teil wurde gekocht, und die Anwesenden tranken von der Fleischbrühe und aßen das Fleisch. Diese Mahl­ zeit war eine communio in doppeltem Sinn: sie gründete und festigte die Gemeinschaft zwischen Göttern und Menschen und auch die der Menschen untereinander. Das reichliche Mahl versetzte die Teilnehmer in einen Zustand der Euphorie, der durch die Heil­ trünke noch verstärkt wurde. Die Mythen des Göttertrankes spie­ len ebenfalls auf diese «Gemütsbewegung» an (vgl. S. 108). Mit der körperlichen Euphorie war nämlich zugleich eine geistige ver­ bunden : da die Götter die Gastfreundschaft der Menschen annah­ men, entstanden feste Bande zwischen Gastgebern und Gästen. Der Mensch fühlte sich in eine höhere Sphäre erhoben, wo die Be­ schränkungen und Wechselfälle des Alltagslebens ihm nichts mehr anzuhaben vermochten. Dieser Kontakt mit den Göttern erfüllte

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ihn mit neuen Kräften und feuerte ihn zu großen Taten an; daher die Gelübde, die man «auf die Borsten von Freyrs Eber» ablegte. Es war von größter Wichtigkeit, daß bei einer solchen Mahlzeit nichts fehlte: die Gunstbeweise der Götter standen nämlich im Verhältnis zur Üppigkeit der ihnen dargebotenen Gaben. Ein Opfer­ mahl anzurichten, bei dem Speise und Trank nicht ausreichten, war nicht nur ein Verstoß gegen die Gastfreundschaft, sondern auch und sogar in erster Linie gegen die Götter und die Gemeinschaft. Knauserigkeit war übrigens eine der schlimmsten Untugenden, die man einem Germanen vorwerfen konnte; Freigebigkeit bis zur Verschwendung gehörte zu den Tugenden des idealen Helden. Neben dem Speiseopfer hatte auch das Trankopfer eine große Bedeutung. Der eigentliche Zusammenhang zwischen beiden läßt sich schwer feststellen, da das Trankopfer, im Gegensatz zum Speiseopfer, die Bekehrung gewissermaßen überlebt hat. In spä­ terer Zeit wurde nämlich bei Taufe, Eheschließung und Beerdi­ gung ein Fest abgehalten, wofür ein besonderes Bier gebraut wurde. Offenbar haben die Germanen bei einer Geburt und bei an­ deren Gelegenheiten immer ein dem Anlaß entsprechendes Trank­ opfer dargebracht. Der ursprüngliche Opfertrank war aber der Met; dieser muß, seinem Namen nach zu schließen, bereits in der indogermanischen Zeit zu diesem Zwecke verwendet worden sein (vgl. griechisch methu, altindisch madhu und altenglisch medu, meodu, althochdeutsch metu, mitd). Der Met selber war bei den Ger­ manen das Symbol des Göttertrankes, der wie ein himmlischer Tau vom Weltbaum heruntertropfte und mit einigen kosmi­ schen Wesen wie Mimir und Heiddraupnir in Beziehung gebracht wurde. Manchmal war es der Meergott, der den Göttertrank be­ reitete oder doch zumindest seinen Braukessel dazu hergeben mußte (vgl. S. 124). In historischen Zeiten ist nämlich meistens die Rede von Bier. Das Trinken des Opfertrankes war wiederum an strenge Regeln gebunden. Über den gefüllten Trinkbecher (oder das Trinkhorn, altnordisch full) wurde eine Weiheformel (formali) ausgesprochen; dies hieß «den Becher weihen» oder «den Becher heiligen». In der Regel wurden drei Trinksprüche ausge­ bracht. In einem bestimmten Fall werden die Heiltrünke auf Odin, Njörd oder Freyr ausgebracht; bei einem anderen Opfer wird ein 231

für Thor bestimmter Trunk erwähnt, während das bragafull mit Bragi im Zusammenhang steht. Derjenige, der die Weihe ausge­ sprochen hatte, trank als erster aus dem Becher; dann gab er ihn in einer bestimmten Reihenfolge und Richtung an die anderen Ge­ ladenen weiter, die dann der Reihe nach ebenfalls tranken. Neben full erscheint im Norden auch der Ausdruck minni, der dem deut­ schen «Minne» entnommen ist. Dieser «Liebestrunk» wurde im Norden aber zu einem «Erinnerungstrunk», was mit der Tatsache zusammenhängt, daß auch zum Andenken an berühmte Verstor­ bene Trinksprüche ausgebracht wurden. Bei der Weihe des Tran­ kes wurde zugleich der Zweck des Opfers angegeben: um den Sieg zu erhalten (Odins Trunk), für Frieden und eine reichhaltige Ernte (Freyrs und Njörds Trunk) u. ä. Zuweilen wurden auch, wie z. B. beim Bragafull, feierliche Gelübde ausgesprochen, die gelegentlich mehr enthielten, als der Sprecher eigentlich beabsich­ tigte. Der heilige Trank brachte den Menschen buchstäblich in Verzückung - eine Verzückung, die nicht immer weit von Be­ trunkenheit entfernt war. Von diesen Trinkfesten ist einiges später, sogar bis in unsere Zeit, erhalten geblieben. Als nämlich Odin, Njörd und die andern Götter vergessen waren, blieb der Brauch des «minni-Trinkens» gleichwohl bestehen; nur trank man die minni Christi und seiner Heiligen. Der alte Ausdruck für «Kultus­ versammlung», gild (vgl. altenglisch deofolgield, «Götzendienst», buchstäblich «Teufelsgilde»), ging auf mittelalterliche Vereinigun­ gen über, die bald einen anderen Charakter erhielten, bei denen aber Trinkgelage immer einen Teil des Gemeinschaftslebens bilde­ ten. Das letzte Stadium dieser Entwicklung finden wir in Studen­ tenverbindungen, die oft noch ein eigenes Trinkrituell haben. Vor der Bekehrung muß es aber wirkliche Kultusvereinigungen gege­ ben haben. Zu bestimmten Zeiten kamen die Bewohner einer Ge­ gend (Insel, Talschaft) zusammen, um ihre Götter bei Speise und Trank zu verehren, und namentlich um ihre Gunst für die bevor­ stehende Jahreszeit zu erflehen. Der Umfang einer solchen Kult­ gemeinschaft war verschieden: sie konnte die Bewohner einzelner Höfe, oder auch ein ganzes Volk, ja sogar mehrere Völker umfas­ sen. So bildeten die Nerthusvölker eine religiöse Gemeinschaft, wenigstens während der Zeit, da die Göttin unter ihnen weilte.

Die feriae, die bei ihrem Durchzug abgehalten wurden, bestanden zweifellos u. a. aus Opfermahlzeiten und Trinkgelagen. Auch das große Opferfest in Uppsala und die ihm entsprechenden Feste in Lejre auf der dänischen Insel Seeland und anderswo, setzten eine Kultusgemeinschaft voraus. Als Mitglied einer solchen wurde der Mensch der Segnungen der verehrten Gottheit teilhaftig; die Mit­ gliedschaft hatte aber auch Pflichten im Gefolge. Niemand durfte sich weigern, am Opferfest teilzunehmen, sonst wurde er zu einer Gefahr für die Gemeinschaft, da man seine Nachlässigkeit als Verrat ihr gegenüber wertete. Einsolches Verhalten verstimmte dieGötter, verursachte schlechte Ernten und brachte Niederlagen und Unheil über das ganze Volk. Adam von Bremen war erstaunt und empört über die Tatsache, daß die ersten schwedischen Christen sich von der Pflicht zur Teilnahme am Opfer von Uppsala loskaufen mußten; vom Standpunkt der heidnischen Gemeinschaft aus gesehen war dies aber ein sehr verständlicher Ausgleich, der es ihr ermöglichte, das Opfer trotz des Fehlens dieser Mitglieder gebührend zu feiern. Das Ritual der großen religiösen Opferfeiern enthielt noch einige andere Elemente. Sowohl in Uppsala wie anderswo wurde getanzt und gesungen. Von den Liedern wissen wir bloß, daß Adam von Bremen sie für seine Leser zu anstößig fand, während auch die Tänze mit «lüsternen Gebärden» verbunden waren. Solche Äußerungen religiöser Verzückung trafen wir schon in den Darstellungen der Felszeichnungen aus der Bronzezeit an. Wie in jener Frühzeit kamen auch später zu festgesetzten Zeiten Prozes­ sionen vor, sowohl im Nerthuskult wie in Uppsala. Ein bestimm­ ter Tempeltyp scheint eigens für solche Umzüge eingerichtet ge­ wesen zu sein. Er bestand aus einem quadratischen Gebäude, das von einem umzäunten Raum umgeben war. Innerhalb dieser Um­ zäunung konnte man um den Tempel herumziehen. Die Richtung eines solchen Rundganges war von höchster Bedeutung: nur die Richtung der Sonne war die richtige, die gute Erfolge zeitigte. Die umgekehrte Richtung wählte man z. B. in der späteren Magie im­ mer mit schlechten Absichten. Über das Zeremoniell der Opfer­ feier ist uns fast nichts bekannt; sogar was so wichtige Aspekte des Kultes wie Priestertum und Tempel anbelangt, sind die Angaben unserer Quellen dürftig und zudem oft recht unzuverlässig.

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PRIESTER UND PRIESTERINNEN

Es fiel Cäsar auf, daß die germanischen Völker, mit denen er in Be­ rührung kam, keine Priesterkaste hatten, oder doch wenigstens keine Klasse, die sich mit dem Druidenstand der Gallier verglei­ chen ließ. Doch wissen wir durch Tacitus, daß wichtige religiöse Funktionen (und auch außerhalb des Kultes) in den Händen eigens dazu befugter Personen lagen: «Priester» befragten die Orakel, wenn es sich um Staatsangelegenheiten handelte; sie konnten freie Männer eines Vergehens wegen in Fesseln schlagen lassen und zu Körperstrafen verurteilen. In den Volksversammlungen heischten sie Ruhe; zusammen mit den Königen begleiteten sie die heiligen Pferde; endlich war es auch ein Priester, der den Wagen der Nerthus begleitete. Diese Funktionen verliehen der Person des «Prie­ sters» zweifellos einen besonders sakralen Charakter, wenn auch seine Befugnis manches umfaßte, was wir als profan bezeichnen würden. Nochmals müssen wir darauf hinweisen, daß die Grenze zwischen dem Religiösen und dem Profanen für die Germanen ganz anders lag als für uns. Ihre Religion drang sehr weit in die weltliche Sphäre vor, oder vielmehr: die weltliche Ordnung war in höherem Maße und unmittelbarer von der göttlichen Ordnung her bestimmt, und somit weniger «säkularisiert». Wenn wir also über «Priester» sprechen, dann meinen wir damit nicht nur einen Mittler zwischen den höheren Mächten und dem Menschen, son­ dern auch eine Person, die nach den Auffassungen der damaligen Zeit «sakrale» Funktionen innehatte. So sorgte er z. B. auch für die Überlieferung und die Befolgung der Gesetze. In dieser Eigen­ schaft hieß er auf altenglisch aiveweard, auf althochdeutsch ewarto, esago, auf altfriesisch äsega. Alle diese Ausdrücke bedeuten «Ge­ setzeshütefiroder «Gesetzsprecher». Er mußte nämlich die beste­ henden Gesetze vor der Volksversammlung hersagen, da es ja keine geschriebenen Gesetzessammlungen gab. An seine sachverstäridigen Kenntnisse appellierte man auch jedesmal dann, wenn eine schwierige Streitfrage gelöst werden sollte, oder wenn man ein neues Gesetz erlassen wollte. Seine Macht erstreckte sich noch 254

weiter: er «heiligte» die Volksversammlung und mußte dafür Sorge tragen, daß der «heilige Friede», den er verkündet hatte, nicht gebrochen wurde. Schon Tacitus war die wichtige Rolle auf­ gefallen, welche die Priester in der germanischen Staatseinrichtung erfüllten. Auf Island setzt, wie wir sehen werden, der Godi diese Aufgabe fort. Eine priesterliche Funktion anderer Art versah der Thul; er besaß u. a. Geheimkenntnisse über Götter und Kosmos (vgl. S. 224). Im Norden nahm das Priesteramt, den jeweiligen regionalen und sozialen Verhältnissen entsprechend, sehr verschiedene Formen an. Für den Haushalt nahm derpaterfamilias die Priesterwürde auf sich, abgesehen vielleicht vom Dienst einiger Göttinnen (und der Wanen?), der den Frauen Vorbehalten war (vgl. S. 263). Eine gewisse Zentralisation treffen wir schon in Norwegen an, wo häufig ein Großbauer als Priester amtierte, der von seinen Nachbarn als sol­ cher anerkannt wurde. In Schweden bestand außerdem noch eine Art Priester-Königtum. Wir haben schon früher den heiligen Cha­ rakter der schwedischen Könige betont, die sich ja als Nachfahren Ings oder Freyrs betrachteten. Bei anderen Dynastien, die von W’odan oder Donar abzustammen glaubten (z. B. bei den Angel­ sachsen), ist dieser Zug viel weniger ausgeprägt, aber dies rührt vielleicht daher, daß wir ihre religiöse Einrichtung vor der Bekeh­ rung nicht kennen. Der Fürst war der Punkt, wo Götterwelt und Menschenwelt sich berührten. Unter der Regierung eines «guten» (wir würden sagen: «heiligen») Königs erhielt der Bauer reiche Ernten, blieben die Herden von Krankheiten verschont, und war die Fischerei ergebnisreich. Der «gute» Fürst sorgte dafür, daß Friede herrschte, und gab es dennoch Krieg, so trug er den Sieg davon. Fürsten, die in diesem Sinne gut regierten, wurden hoch geehrt, sogar nach ihrem Tod; manchmal wurde ihnen eine fast göttliche Verehrung zuteil (vgl. die Runeninschriften von Björketorp und Stentoften). Dies ging gelegentlich sogar so weit, daß man um den Besitz der sterblichen Reste eines solchen Fürsten kämpfte: glaubten doch seine Untertanen, die Besitzer des Kör­ pers würden sich der gleichen Segnungen erfreuen, die ihnen der Fürst zu seinen Lebzeiten hatte angedeihen lassen. Deshalb wurde der Körper König Halfdans des Schwarzen in vier Stücke geteilt,

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von denen die vier Teile seines Reiches je eins erhielten: in dieser Weise würden sie seines wohltätigen Einflusses teilhaftig bleiben. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß diese Auffassung auch die Maßnahmen erklärt, die man nach dem Tode von Frodi und Frotho III. traf. Hin und wieder erhält man den Eindruck, als wäre es die Persönlichkeit des Königs selber gewesen, die diese glück­ liche Wirkung hatte, als wäre seine eigene Macht oder Kraft ent­ scheidend gewesen, ohne irgendwelches Zutun der Götter. In der Folge wird sich aber zeigen, daß dieser Übergang zur Magie nur selten vorkam. Andrerseits war der Fürst auch die Ursache des Unheils, das sein Volk befiel. Die Burgunder verjagten ihre Könige, wenn sie wäh­ rend deren Herrschaft Niederlagen erlitten oder mißglückte Ern­ ten zu verzeichnen hatten. Solche Unglückskönige wurden manch­ mal sogar getötet. Dies war z. B. das Schicksal des Königs Domaldi von Schweden: « Zu seiner Zeit war in Schweden eine große Hun­ gersnot. Da brachten die Schweden ein reiches Blutopfer in Upp­ sala. Im ersten Herbst opferten sie Ochsen, aber der Ertrag des Jahres besserte sich nicht. Im zweiten Herbst brachten sie Men­ schenopfer, doch der Ertrag des Jahres war wieder der gleiche oder noch schlechter. Aber im dritten Herbst kamen die Schweden in großer Menge nach Uppsala, wo die Blutopfer stattfinden soll­ ten. Da hatten die Häuptlinge eine Beratung untereinander, und sie waren darin einig, daß an diesem bösen Jahr ihr König Domaldi die Schuld trüge. Sie meinten alle, man müsse ihn opfern, um ein gutes Jahr zu erlangen, man solle ihn ergreifen und töten und den Opferaltar mit seinem Blute besprengen. Und dies taten sie auch» (Snorri). Ähnliches geschah mit König Olaf dem Baumfäller (so geheißen, weil er Wermland gerodet und besiedelt hatte): «König Olaf gab sich nur wenig mit Blutopfern ab. Das mißfiel den Schwe­ den, und sie glaubten, daher rühre das schlechte Jahr. Daher sam­ melten die Schweden ein Heer, unternahmen einen Zug gegen König Olaf, umringten sein Haus und verbrannten ihn darin. Dann weihten sie ihn dem Odin, indem sie ihn dem Gotte für ein gedeihliches Jahr opferten» (Snorri). Es ging also nicht nur darum, mit dem König die Ursache des Mißgeschicks aus dem Wege zu räumen; das Opfer eines Königs 236

war zugleich das höchste, das man den Göttern anbieten konnte. Es war offenbar nicht nur seine persönliche Macht oder Kraft, die über Wohlfahrt oder Not entschied, sondern vielmehr seine Gnade oder Ungnade in den Augen der Götter. Wo das Königtum nicht mit der hohepriesterlichen Funktion zusammenging, fehlte deswegen noch keineswegs jede höhere re­ ligiöse Organisation; nur war die Zentralisation dort weniger weit durchgeführt. So errichteten die Auswanderer, die in Norwegen einen Hof oder Tempel besessen und verwaltet hatten, auf Island neue Tempel und amtierten dort weiterhin als «Tempelpriester». Der Godi oder Hofgodi (altnordisch gopi, hofgofi, Mehrzahl gofar) hatte sowohl eine religiöse wie eine (stets nach unseren Auffassun­ gen) weltliche Befugnis. Er führte den Vorsitz in den Volksver­ sammlungen seines Bezirkes, kannte die Gesetze und urteilte in schwierigen Rechtsfällen. Auf Island (und auch wohl anderswo) war sein Amt erblich und verlieh ihm eine sehr wichtige Macht­ stellung. Die Godar waren die wirklichen Führer, auch im politi­ schen Leben. In den Sagas erhalten wir sogar den Eindruck, als habe sich der Schwerpunkt ihrer Befugnisse auf Gebiete außer­ halb der Religion verlegt, doch kann dies eine Folge des späten Datums dieser Texte oder einer spezifisch isländischen Entwick­ lung sein. In verschiedenen Runeninschriften stoßen wir auf den Aus­ druck erila oder irila. Dieses Wort entspricht dem späteren altnor­ dischen Titel jarl und ist vielleicht auch mit dem uns als Namen eines Volksstammes überlieferten Wort Eruli, Heruli verwandt. Erila war wahrscheinlich ein religiöser Ausdruck, nämlich der Titel eines Priesters oder wenigstens eines Runenmeisters. Damit ist die spätere Bedeutung des Wortes Jarl, nämlich Edelmann, sehr gut vereinbar. Die Kenntnis der Runen war im Besitz einer be­ schränkten Gruppe. In einem späten Gedicht, dem «Merkgedicht von Rig», in das aber auch älteres Material hineinverarbeitet ist, wird die Heranbildung des jungen Edelmannes, der gerade Jarl heißt, folgendermaßen beschrieben:

Zum Jüngling wuchs Jarl da auf, schwang den Schild, schnitzte Bogen, 237

spannte Sehnen, spitzte Pfeile, hetzte Hunde, hob die Lanze, saß im Sattel, entsandte Gere, schwang das Schwert, schwamm durch den Sund. Im Walde kam gewandert Rig, Rig gewandert, Runen lehrt er; gab seinen Namen, nannte ihn Sohn, verhieß zu eigen ihm Erbgüter, ihm Erbgüter, alten Besitz. (Merkgedicht von Rig 35, 36)

Den Römern fiel es auf, welch große Rolle einige Priesterinnen in der Religion und sogar im öffentlichen Leben der Germanen spiel­ ten. Die Frau hatte für die Germanen etwas Geheimnisvolles und Prophetisches (Tacitus); ihrem Vorgefühl und ihren Weissagun­ gen maßen sie großen Wert bei. So waren es die matresfamiliae, die Ariovistus davon abrieten, Schlacht zu liefern. Welche Vorzeichen sie wahrgenommen hatten, erwähnt Tacitus nicht. Um so treffen­ der ist die Beschreibung, die Strabo vom Vorgehen der kimbrischen Priesterinnen gab (vgl. S. 227). Übrigens fanden wir schon Darstellungen von Priesterinnen auf den Wandplatten des Grabes von Kivik: auch dort scheinen sie bei Menschenopfern amtiert zu haben. Einige Priesterinnen standen in sehr hohem Ansehen, wie z. B. Albruna, oder Veleda, die eine große Rolle spielte beim Auf­ stand des Julius Civilis. Ihre Person war so heilig, daß sie nicht un­ mittelbar zum Volke sprach: die Antworten auf die ihr gestellten Fragen wurden von Zwischenpersonen übermittelt. Es gibt viele Beispiele von der Würde solcher Priesterinnen, doch hatten sie ihre hohe Stellung anscheinend eher ihren persönlichen mantischen Gaben zu verdanken als einer dauernden Funktion im Kul­ tus irgendeiner Gottheit. Frauen amtierten sonst wohl eher im Kult der Familie als in dem des Staates. Sie hatten weniger mit den höheren Göttern zu tun, und so wurde die Magie zu ihrem eigent­ lichen Gebiet, zumal es für Männer entehrend war, sich damit zu befassen. Ihre Handlungen wurden auch nicht immer gutgeheißen oder genehmigt: entwickelten sie sich doch nur zu leicht von 238

Wahrsagerinnen zu Zauberinnen und Hexen, wie aus einer Epi­ sode aus dem Leben des gotischen Königs Filimer hervorgeht. Von ihm wird erzählt, er habe eine Gruppe haliurunnas aus seinem Land verjagt. Da das althochdeutsche Wort helliruna «Nekromantie» bedeutet, und das altenglische hellerune «Zauberin, Wahrsage­ rin», waren die gotischen Haliurunnas wahrscheinlich Frauen, die sich speziell mit Totenbeschwörung befaßten. Derartige Zauberei, im geheimen in großem Umfange ausgeübt, vermochte, indem sie die normale Funktion der Religion untergrub, sogar die ganze Staatseinrichtung zu gefährden. Dies erklärt Filimers Maßnahme. Nach der Bekehrung wurden demjenigen, der sich unterstand, eine Frau stria oder striga, «Hexe», zu nennen, strenge Strafen ange­ droht: es war ja den Christen verboten, zu glauben, eine Frau könne einen «von innen her verzehren», d. h. mit magischen Mit­ teln krank machen oder sogar töten. Auch im Norden sieht man Frauen als Priesterinnen und als Zau­ berinnen auftreten. Es gibt dort verschiedene Ausdrücke zur Be­ zeichnung von Frauen, die religiöse oder magische Funktionen ausübten. Die Wölwa (völva) hieß wahrscheinlich so, weil sie einen Stab (völr) trug. Sie war eine Prophetin, die nicht nur die Zukunft ergründete, sondern die Geheimnisse des ganzen Kosmos durch­ schaute. Sie wußte Bescheid über die Urzeit, über die Schöpfung der Welt und des Menschen, über die Entstehung des ersten Kamp­ fes, kurzum über alles bis zum Ende dieser Welt; sie wußte um den letzten Kampf und um das Entstehen einer neuen Welt. Das großartige Gesicht, mit dem die Edda anhebt, wird einer Wölwa in den Mund gelegt. Odin weckte eine andere Wölwa auf, um über Balders Schicksal aufgeklärt zu werden, und Freyja tat das gleiche mit der Wölwa Hyndla, um Auskunft zu erhalten über ihren Günstling Ottar. «Der Seherin Gesicht» aber vermittelt uns ein ganz anderes Bild von solch einer zauberkundigen Frau: Man hieß sie Heid, wo ins Haus sie kam, das weise Weib: sie wußte Künste, sie trieb Zauber, betörte den Sinn; immer ehrten sie arge Frauen. (Der Seherin Gesicht 22)

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Mit Kenntnis und Deutung der Zukunft befaßte sich vor allem die die Frau, die eine spa, «Prophezeiung», machen konnte. Hier geraten wir dauernd auf das Gebiet der Magie; geht es doch meistens darum, die Zukunft zu enthüllen und Wissen zu erlangen, das Macht verleiht. «Für den frühen Menschen bedeutet es Macht, etwas zu können und zu wagen; etwas zu wissen aber bedeutet Zaubermacht», schreibt Huizinga. Aus seinen weiteren Betrach­ tungen geht deutlich hervor, wie schwer es ist, den wahren Sinn dieses «Wissens» zu beurteilen: «Im Grunde ist für ihn (den früh­ zeitlichen Menschen) jede besondere Kenntnis eine heilige Kennt­ nis, ein geheimes und zauberkräftiges Wissen. Für ihn steht ja eigentlich alle Kenntnis in unmittelbarer Beziehung zur Weltord­ nung selber. Der geregelte Lauf der Dinge, von den Göttern ver­ fügt und bestimmt, durch den Kultus instandgehalten, zur Erhal­ tung des Menschenlebens... wird durch nichts so sehr behütet wie durch das Wissen der Menschen um die heiligen Namen, um den Ursprung der Welt.» Wie sollen wir hier feststellen, ob sich der Mensch beim Streben nach dieser Kenntnis noch seiner Abhängig­ keit von den höheren Mächten bewußt ist, ob er sich noch Rechen­ schaft darüber gibt, daß er diesen höheren Mächten untertan ist? Magisch erscheint auch das Auftreten der seipkona, die sich einer Art schamanistischer Technik bediente, um ihr Geheimwissen zu erlangen (vgl. S. 262). Es scheint kaum angebracht, für alle diese Personen den Ausdruck «Priesterin» zu verwenden. Dieser ge­ bührt wohl eher dem weiblichen Gegenstück des Godi, nämlich der Gydja (g)pja) oder Hofgydja (hofgypja), «Priesterin» resp. «Tempelpriesterin». Wahrscheinlich hatte sie anfänglich im Kul­ tus die gleiche Funktion zu erfüllen wie der Priester oder Godi, von dessen Namen der ihrige sich herleitet. Neben diesem religiö­ sen Amt besaß sie aber wohl kaum die politischen Machtmittel, die gerade die Befugnis des Godi so umfassend machten. Man vermu­ tet auch, daß sie hauptsächlich mit dem Kult der Wanen, speziell mit dem Freyrs, zu tun hatte. spakona,

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HEILIGE ZEITEN

Da wir nicht genau Bescheid wissen über das Verhältnis zwischen den verschiedenen Arten von Opfern: Familien-, Bezirks- und Landesopfern, ist es auch schwer, die fragmentarischen Quellen­ angaben, die wir besitzen, zu einem System zu vereinigen und fest­ zustellen, in welchen Abschnitt des Jahreskreises diese Opfer hin­ gehörten. Gewisse Opfer waren nicht an ein bestimmtes Datum gebunden, so die, welche nach einem Sieg oder aus Anlaß einer Geburt, einer Heirat oder eines Todesfalles dargebracht wurden. Dennoch bestand später im Norden die Tendenz, die Minni der Abgeschiedenen mit dem Julfest zu verbinden. Andere Opfer wa­ ren aber an ganz bestimmte Zeitpunkte gebunden. In der Regel gab es drei Opferfeiern, die wahrscheinlich mit den drei Volksver­ sammlungen zusammenfielen, die unter normalen Verhältnissen jedes Jahr abgehalten wurden. Snorri datiert sie um Mitte Okto­ ber, zur Mittwinterzeit und zum Sommeranfang; die erste wurde nach ihm «für eine gute Ernte» abgehalten, die zweite «für Wachs­ tum» und die dritte «für den Sieg». Im Altenglischen heißt September «heiliger Monat» und Okto­ ber «Opfermonat», was Snorris Datierung des Dankfestes für die Ernte bestätigt. Da Mittwinter in der germanischen Zeit ein ziem­ lich dehnbarer Begriff war (er scheint die Periode von Mitte De­ zember bis Mitte Januar zu umfassen), ist es schon schwieriger, Datum und Sinn des zweiten Opferfestes näher zu umschreiben. Dem Gesetz des Gulathings zufolge wurde das Julopfer «für eine gute Ernte und für den Frieden» dargebracht, was sich mit Snorris Angaben schon nicht deckt. Die Julzeit brachte eigentlich einen Komplex religiöser Feste. Durch Beda wissen wir, daß während des englischen geol oder «Jul» auch ein Fest der Muttergöttinnen (die Modraniht oder Mütternacht) abgehalten wurde. Aber im Alt­ englischen war der «Julmonat» oder «erster Jul» Dezember; der «zweite Jul» fiel mit dem Januar zusammen. Die Unklarheit in be­ zug auf die Datierung rührt u. a. von der Tatsache her, daß die reli­ giösen Feste der Germanen bei Vollmond begannen: so konnten, 241

wie Ostern und die davon abhängigen Feste bei uns, die germani­ schen Opferfeste auf verschiedene Daten fallen. Man hat das Julfest sowohl als Fruchtbarkeitsfest wie als Totenfest gedeutet. Es hat Züge von beiden, den eigentlichen Sinn dieses Festes aber müssen wir wohl in Bräuchen suchen, über die uns unsere Quellen eben sehr wenig Aufschluß geben. In neuzeitlichen nordischen Volksbräuchen, die zur Julzeit gehören, spielt das Verkleiden eine große Rolle: Männer und Knaben vermummen sich, häufig als Tiere (Böcke oder Ziegen: Julbock, Julziege). Dieser Brauch be­ steht auch anderswo, z. B. im Alpengebiet: die Verkleideten laufen umher, machen Radau und ersinnen allerhand Neckereien. Wir haben es hier wohl mit Überresten eines Kultes zu tun, der in den aristokratischen Kreisen, aus denen das nordische Schrifttum stammt, keinen Eingang oder keine Gnade fand. Übrigens gab es im Norden ein Fest, das der englischen «Mütternacht» entsprach: das Disablot oder «Disenopfer». Es scheint nicht nur ein Haus­ opfer gewesen zu sein, sondern auch ein Fest, an dem das ganze Volk teilnahm: in späterer Zeit wurde in Schweden anfangs Fe­ bruar ein Disting abgehalten. Das große neunjährliche Opferfest in Uppsala fand um die Frühlingsnachtgleiche statt. Es dauerte neun Tage: wahrscheinlich waren die Opfer eines jeden Tages dazu be­ stimmt, das Wohlergehen des Volkes während eines der kommen­ den neun Jahre zu sichern. Gelehrte haben versucht, dieses allzu unklare Bild des Jahreszyklus der religiösen Feste mit Hilfe heu­ tiger Volksbräuche zu ergänzen. Viele dieser Versuche, die Bräuche im Zusammenhang mit dem Monat Mai, dem Mittsom­ mer usw. aus heidnischen Kultbräuchen herzuleiten, haben aber etwas Erzwungenes. Nicht nur ist der zeitliche Abstand sehr groß, sondern gewöhnlich läßt sich das, was unsere alten Quellen be­ richten, mit dem, was die Volkskunde feststellt, gar nicht verglei­ chen: die Angaben sind nicht mit dem gleichen Maße meßbar. Nur ganz ausnahmsweise erwähnen die Sagas einen so primitiven Bauernkult wie die Verehrung des Wölsi (välsi): ein mit Kräutern konservierter Pferdephallus wurde von den Anwesenden der Reihe nach als eine Art Fruchtbarkeitsdämon verehrt. Obwohl die Edda nicht immer von einer verfeinerten Auffassung der Religion zeugt, konnte doch eine so primitive Verehrung in ihr keinen Wi­

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derhall finden; ihre Götterwelt wurde mit den Augen einer anderen Gesellschaftsschicht gesehen. Von den mittelalterlichen oder heutigen Volksbräuchen wollen wir bloß einige wenige erwähnen: das süddeutsche Johannisfeuer (das ungefähr mit der Sommersonnenwende zusammenfiel), und den Brauch, der darin bestand, daß man mit Stroh umwickelte Rä­ der brennend einen Hügel hinunterrollen ließ. Solche Bräuche bringt man gerne mit dem prähistorischen Sonnenkult in Zusam­ menhang. Die sehr verbreiteten Maibaum- und Christbaum­ bräuche erinnern uns an die schwedische Felszeichnung, die einen auf einem Schiff aufgestellten Baum darstellt. Aber gerade aus diesem letzten Beispiel kann man ersehen, wie wenig zuverlässig Volksbräuche gelegentlich sein können: wurde doch der Christ­ baum erst im vorigen Jahrhundert von Deutschland aus in Skan­ dinavien eingeführt 1 Deshalb bleibt dieses Brauchtum im Grunde oft ebenso unverständlich wie der alte Ritus, der nach Tacitus im heiligen Wald der Semnonen befolgt wurde. In diesem Wald ka­ men in gewissen Zeitabständen Abordnungen aller verwandten Volksstämme zusammen und brachten ein Menschenopfer dar. Niemand durfte den Wald betreten, es sei denn, er wäre gefesselt (um seine Nichtigkeit vor der Allmacht der Gottheit zu bezeugen, sagt Tacitus); fiel er hin, so durfte er nicht aufstehen, noch auch durfte man ihm aufhelfen: er mußte am Boden kriechend den Wald verlassen. Ein «Fesselwald» (Fjöturlundr) wird beiläufig in der Edda erwähnt; doch ist aus dieser einen Stelle nicht ersichtlich, ob der Dichter den Ursprung des Namens und den allfälligen Zu­ sammenhang mit dem Semnonenwald noch vor Augen hatte. So bleibt auch der semnonische Brauch rätselhaft.

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HEILIGE STÄTTEN UND TEMPEL

Das Göttliche war nicht gleichmäßig über die Natur verteilt; an bestimmten Orten verdichtete es sich, so daß sich dort die göttliche Macht in erhöhtem Maße offenbarte. Dort war «Heil», und dort konnte man sich «Heil» erwerben: der Ort war «heilig». Über die heiligen Stätten der Germanen schrieb Tacitus ein paar sehr um­ strittene Sätze: Die Germanen haben keine Tempel, denn «sie sind der Meinung, es vertrage sich nicht mit der Größe der Himmli­ schen, in Wände eingeschlossen zu werden; sie weihen den Him­ melbewohnern Wälder und Haine, und mit dem Namen Gott be­ nennen sie jenes geheimnisvolle. Etwas, das sie allein in frommer Andacht wahrnehmen». So war es jedenfalls bei den Semnonen: «Zu einer bestimmten Zeit kommen alle blutsverwandten Völker, vertreten durch Gesandtschaften, in einem Walde zusammen, der durch Vorzeichen (auguria), welche die Väter beobachteten, und durch Schauder aus uralter Zeit heilig ist... Dieser ganze Glaube geht auf die Vorstellung zurück, daß gleichsam dort der Ursprung des Volkes sei, dort der allherrschende Gott, daß alles andere ihm untertan und gehorsam sei.» Auch die Heiligtümer von Nerthus und Baduhenna lagen in Wäldern, ebenso das der Naharvalen. Arminius und Julius Civilis wählten solche Heiligtümer als Sammelpunkte für ihre Truppen oder Bundesgenossen; letzterer benutzte sogar eine Einladung zu einer Opfermahlzeit als Vor­ wand. Dies soll man natürlich nicht in dem Sinn auffassen, daß die Germanen jeden Wald oder gar jeden Baum als heilig betrachtet hätten: bloß genau bestimmte Stellen im Wald, oder Bäume, die sich irgendwie von ihrer Umgebung unterschieden, konnten hei­ lig sein. Andrerseits stimmt es auch nicht, daß die Germanen gar keine Kultusgebäude gehabt hätten. Tacitus’ Motivierung haben wir schon früher besprochen: die germanischen Götter «wohnten» freilich nicht in Tempeln. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Germanen keine Steinbauten besaßen, die sich auch nur ent­ fernt mit einem römischen Tempel vergleichen ließen. Wohl aber muß es hölzerne Gebäulichkeiten gegeben haben, in denen bei-

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spielsweise die heiligen Heeresstandarten, der Wagen der Nerthus und auch die heiligen Pferde und allenfalls der Tempelschatz unter­ gebracht wurden. Die Opfer, welche Privatpersonen darbrachten, können sehr wohl in ihrer Wohnung oder in deren Nähe, wie etwa auf einem Acker, stattgefunden haben. Die religiösen Feste, an denen ein ganzer Stamm teilnahm, erforderten viel mehr Raum. Eine Waldlichtung, die ausreichend Platz bot für eine ziemlich große Menge, wird wohl die geeignetste Kultstätte gewesen sein. Oft wurde dann dort irgendein provisorischer Bau errichtet, sei es eine Art Bühne (wie z. B. das Gerüst, auf dem die kimbrischen Prie­ sterinnen Kriegsgefangene opferten), sei es ein Opferpfahl nach Art der sächsischen Irminsäule. Solch eine heilige Stätte war nicht nur für kultischen Gebrauch reserviert. Die Volksversammlungen, die dort stattfanden, behandelten ein politisches und gerichtliches Programm, und wenigstens in einzelnen Gegenden, wie z. B. in Uppsala, wurde an dieser Stelle zugleich ein Jahrmarkt abgehal­ ten. Die Heiligkeit des Ortes wurde dadurch nicht beeinträchtigt: war doch auch das Thing etwas Heiliges, das unter dem besonde­ ren Schutz der Götter stand und nur mit ihrer Hilfe Erfolg haben konnte. Zu diesem Zweck war ein Tempel natürlich wenig geeig­ net. Wir können uns daher nicht gut vorstellen, was für ein Ge­ bäude der «Tempel» von Tamfana gewesen sein soll, den Germanicus im Gebiet der Marsen zerstören ließ. Ob man schon vor der römischen Zeit hie und da dazu übergegangen war, Versammlungs­ säle für Opfergelage zu bauen, läßt sich archäologisch nicht fest­ stellen. Gregorius von Tours wußte aber schon von einem «Tem­ pel» in Köln (also in stark romanisiertem Gebiet) zu berichten, «in dem sich die Barbaren bis zum Erbrechen in Speise und Trank übernahmen»: er hatte also von kultischen Mahlzeiten in einem eigens dazu bestimmten Gebäude gehört. Vor der Bekehrung wird aber im Süden nur höchst selten ein überdachtes Tempel­ gebäude vorgekommen sein. Alles, was die Historiker über das berühmte Heiligtum der Sachsen zu berichten wissen, läuft darauf hinaus, daß es durch einen riesigen Baumstamm gekennzeichnet war. Auch anderswo (z. B. in Uppsala) befanden sich in oder bei Heiligtümern Bäume, die durch ihre Höhe und ihr Alter auffielen. Man hat in diesem Zusammenhang von einer Verehrung von Bäu­

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men gesprochen, oder in diesen Baumstämmen eine Abbildung der Weltachse sehen wollen, die sich die Germanen auf der mythi­ schen Ebene als die Esche Yggdrasil vorgestellt haben sollen. Palm hat in der Irminsäule ein Kultelement gesehen, vielleicht ur­ sprünglich eine Darstellung des Gottes, dem geopfert wurde, je­ doch ohne kosmische Beibedeutung. In die Götterwelt projiziert, konnte er zum Weltbaum Yggdrasil werden. Derartige Heiligtümer kamen für den Kult des Einzelmenschen nicht in Betracht. Er mußte in der Nähe seines Wohnortes eine Stätte finden, wo er sich der göttlichen Macht nähern konnte. Wie in der Urzeit das Heiligtum der Semnonen durch Zeichen als sol­ ches bezeichnet worden war, so erblickte auch der Einzelmensch in seiner Umgebung Anzeichen einer göttlichen Anwesenheit. Aus Bußverordnungen und Heiligenleben wissen wir, daß er bei Stei­ nen oder Felsen, in Quellen und Wasserläufen, bei Bäumen, auf Hügeln und Berggipfeln opferte. Die diesbezüglichen Angaben gehen wohl nicht alle auf das Werk von Cäsarius von Arles zu­ rück, noch können wir sie einfach als hagiographische Gemein­ plätze werten. Opfer bei Bäumen lassen sich mit denen bei der Ir­ minsäule oder beim «immer grünen Baum» in Uppsala verglei­ chen ; Opfer bei oder in Quellen kennen wir schon aus der Bronze­ zeit. Sie leben noch in vielen späteren Volksbräuchen fort. Es han­ delt sich hier natürlich nicht um Opfer an Steine, Bäume und Quel­ len. Ein Stein, ein Baum oder ein Brunnen genoß nicht als solcher Verehrung; diese galt einzig der göttlichen Macht, die auf beson­ dere Weise darin «anwesend» war. Wenn Missionare und Ge­ schichtschreiber von Opfern an Steine usw. sprechen, so geben sie bloß den (übrigens sehr verständlichen) Eindruck wieder, den ein Außenseiter von solchen Vorgängen erhielt. Wie der Zusammen­ hang zwischen der Gottheit und dem Gegenstand in der Natur zustandekam und sich dem Menschen offenbarte, können wir natür­ lich nicht feststellen. Man behauptet gelegentlich, es sei die sich im Baum manifestierende Lebenskraft gewesen, die auf eine göttliche Anwesenheit schließen ließ; so soll auch das geheimnisvoll aus der Erde heraufquellende Wasser mit chthonischen Mächten und die «Erdfestigkeit» eines Steines mit der Unterwelt im Zusammen­ hang gestanden haben; die Erhabenheit eines Hügels oder Berges 246

soll den Menschen der im Himmel wohnenden Gottheit näher ge­ bracht haben. War aber eine derartige Motivierung für den Ger­ manen aus Tacitus’ Zeit notwendig oder ausreichend? Tacitus’ auguria werden schon auf augenfälligere Weise die göttliche An­ wesenheit zu erkennen gegeben haben: die Götter gaben ja selber bekannt, wo sie verehrt werden wollten. Die nordischen theophoren Ortsnamen auf -vin, «Wiese», und -akr, «Acker», weisen noch auf solche primitive Heiligtümer hin. Da als erstes Glied in diesen Zusammensetzungen sehr verschiedene Götternamen erscheinen, wurden an diesen Orten wahrscheinlich nicht nur agrarische Riten abgehalten. Die nordische Spätzeit scheint zwei Tempeltypen gekannt zu haben, auf die wir in unserer Übersicht der Prähistorie schon bei­ läufig hingewiesen haben (vgl. S. 206). Der eine Typus hatte einen quadratischen Grundriß: ein viereckiges Gebäude wurde inner­ halb einer ebenfalls viereckigen Umzäunung aufgebaut. Solche Tempel gab es auch bei anderen Völkern, nämlich bei den Gal­ liern und den Slaven. Es kann sich hier also um einen ziemlich alten Typus handeln, der aber, infolge der Verwendung nicht­ dauerhaften Materials, keine frühen Spuren zurückgelassen hat. Vom Tempel in Uppsala z. B., der eine solche Form aufwies, fand man bei Ausgrabungen nichts anderes mehr vor als einzelne Lö­ cher im Boden, in denen einst die Pfeiler gestanden hatten. Es ist daher sehr schwer, mit so spärlichem Material an eine Rekonstruk­ tion heranzugehen. Aus Abb. 9 ist ersichtlich, wie sich Gellerstedt (u. a. auf Grund von Beschreibungen in Sagas und bei Historikern) den Tempel von Uppsala vorstellt. Nach Ansicht Bugges jedoch soll dieses Gebäude aus einem überdeckten Umgang und einem höheren zentralen Teil bestanden haben. Die Dimensionen solcher Gebäude waren ziemlich bescheiden: in Uppsala war das Ganze bloß etwa 23,5 Meter im Quadrat. Im Innern des Tempels befan­ den sich ein steinerner Altar und ein oder mehrere Götterbilder. Eine solche Tempelform eignet sich eher für eine zentralisierte und ziemlich differenzierte Gesellschaft, in der bloß ein kleiner Teil der Bevölkerung aus nächster Nähe an den Höhepunkten des Gottes­ dienstes teilnehmen konnte, während die große Mehrheit außer­ halb des «Allerheiligsten» verblieb. Über den Ursprung dieses

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Abb. 9 Grundriß und Rekonstruktion des Tempels in Uppsala. Als einzige Spur vom berühmten Heiligtum der Schweden entdeckte man bei Ausgra­ bungen in der Kirche von Gamla Uppsala (Alt Uppsala, einige Kilome­ ter nördlich des heutigen Uppsala) eine Anzahl Löcher, in denen die Pfeiler des Tempels gestanden hatten (die schwarzen Kreise auf der Zeichnung; die gestrichelten Linien zeigen die Lage der späteren Kirche an). An Hand dieser spärlichen Daten wie auch an Hand dessen, was Adam von Bremen und andere Autoren zu berichten wissen, hat man versucht, den Tempel in seiner früheren Form zu rekonstruieren. Man hat dabei auch all das als Richtschnur genommen, was man über slavische Tempel aus jener Zeit und über spätere norwegische Holzkir­ chen (die sog. stavkirker) weiß. Die Zeichnung gibt die Rekonstruktion

Tempeltypus ist man noch immer im unklaren. Weder die Tat­ sache, daß diese Bauart schon sehr früh in Gallien anzutreffen war, noch die andere Tatsache, daß die Slaven im baltischen Gebiet noch im zwölften Jahrhundert solche Tempel bauten, führt zu einer befriedigenden Erklärung. Eine «demokratischere» Tempelform ist der 27o/typus. Auch 248

von Ing. Nils Gellerstedt wieder (1950). Das Gebäude bestand aus einer Vorhalle und einem hohen Zentralbau, in dem die Statuen Odins, Thors und Friccos aufgestellt waren. Aus der Dicke der verwendeten Baum­ stämme (bis zu 80 cm Durchmesser) konnte Gellerstedt schließen, daß das Bauwerk etwa 28 m hoch gewesen sein kann. Es war von einer Um­ zäunung umgeben, die ein Quadrat mit Seiten von ungefähr 23,5 m bildete. Beim Tempel lag ein heiliger Wald, in dem die zum Opfer be­ stimmten Menschen und Tiere gehängt wurden; auch in einem heiligen Quell wurden Menschenopfer dargebracht. In nächster Nähe erhob sich außerdem noch ein «riesiger immer grüner Baum». Obige Abbildung stellt den Tempel dar, wie er von einem der beiden Grabhügel (Königs­ gräber) aus, die sich daneben befanden und heute noch vorhanden sind, sichtbar gewesen sein muß.

hier ist das eigentliche Heiligtum ein kleines quadratisches Ge­ bäude; ein länglicher Versammlungssaal ist an eine der Wände an­ gebaut. Aus den Überresten solcher Tempel läßt sich kaum schlie­ ßen, ob die Wand zwischen den beiden Teilen einen vollständigen Abschluß bildete, oder ob eine Öffnung in dieser Wand es den An­ wesenden im großen Saal ermöglichte, zu sehen, was im Heilig­ 249

tum vor sich ging. Da der Name dieser Tempelart nicht ursprüng­ lich nordisch, sondern dem Friesischen oder einer anderen südger­ manischen Sprache entnommen ist, vermutet man zuweilen, daß auch die Form dieses Tempels eingeführt sein könnte. Es ist in der Tat auffallend, daß die wenigen Beschreibungen, welche die Sagas uns von solchen Tempeln geben, in einer Terminologie abgefaßt sind, die völlig von christlichen Kirchen stammt. Darf man also annehmen, diese Tempel seien eine mehr oder weniger gelungene Nachahmung einer christlichen Kirche mit Chor und Kirchen­ schiff? Die Beschreibungen späterer Autoren dürfen uns nicht irre­ führen: sie konnten ja die verlassenen Tempel, die zu ihrer Zeit noch existierten, nicht anders als in der ihnen vertrauten Termino­ logie beschreiben. In nächster Nähe des quadratischen Tempels mit Umzäunung von Saebol (Island) befand sich ein längliches Gebäude, das als ein Versammlungssaal für Opfermahlzeiten ge­ deutet werden kann. (Vollständigkeitshalber müssen wir hier aber hinzufügen, daß nach Ansicht einiger Gelehrter die Baulichkeiten von Saebol niemals als Tempel gedient haben.) Wir dürfen schon annehmen, daß man hie und da aus praktischen Gründen den Ver­ sammlungssaal an den eigentlichen Tempel angebaut hat. Es ist natürlich nicht undenkbar, daß solch ein zweigliedriges Gebäude als Gegenstück zum zweigliedrigen Kirchenbau aufgefaßt wurde; ja, es ist sogar möglich, daß das christliche Muster diese Anord­ nung beeinflußt hat. Auch diese Tempel waren nicht sehr groß, wenigstens nach den übriggebliebenen Fundamenten zu urteilen. In jenem von Hofstadir (Abb. io) maß der kleine Raum ungefähr 6 zu 4 m, der Versammlungssaal etwa 6 zu 36 m. Die beiden beschriebenen Tempelformen entsprechen wohl zwei verschiedenen Auffassungen des Rituals: die quadratische Bauart mit dem umzäunten Raum weist auf einen Kult hin, in dem ein Umzug oder eine Prozession den Höhepunkt bildete, während die längliche einen Kultus mit Opfermahlzeiten voraussetzt. Unsefe Kenntnis vom Kultus ist aber zu gering, als daß wir das Ver­ hältnis zwischen den beiden Formen genau bestimmen oder ent­ scheiden könnten, ob hier z. B. ein Unterschied zwischen Äsen- und Wanenkult gemacht werden sollte. Diese spezifisch nordischen Formen von Heiligtümern kann es 250

auch anderswo gegeben haben. In England jedenfalls gab es Tem­ pelgebäude von einem gewissen Umfang. Papst Gregor der Große gab den ersten Missionaren den Rat, diese heidnischen Tempel nicht zu vernichten, sondern die Götzenbilder daraus zu entfernen und die Gebäude für den christlichen Gottesdienst zu weihen. Von den heidnischen Alemannen heißt es, sie hätten gelegentlich das Gegenteil getan und im eroberten Gebiet Kirchen als Tempel be­ nutzt.

Abb. io

Der Tempel von Hofstadir (Island). Oben: die bei Ausgrabungen auf­ gefundenen Fundamente. Unten: schematischer Plan. A = Saal für Kultfeste mit C = Eingang; D = langes Herdfeuer, EE’ = kleinere Feuerstellen. B = Raum für die Götterstatuen mit FF’ = Feuerstellen. Die Trennung zwischen den beiden Teilen war vollständig. Länge in­ nen etwa }6 m, größte Breite ungefähr 6 m.

Die meisten Heiligtümer aber werden wohl bis zum Ende der heidnischen Zeit viel primitiver ausgesehen haben. Wir müssen uns hier mehr von der Terminologie und der Literatur als von konkreten Funden leiten lassen. Das germanische Wort harug(althochdeutsch barug, altenglisch hearg, altnordisch börgr) scheint einen aus aufgeschichteten Steinen bestehenden Altar bezeichnet zu haben, der manchmal überdacht, manchmal auch mit einer Um­ zäunung versehen war. Vielleicht ragte aus diesem Steinhaufen auch ein Opferpfahl oder ein rudimentäres Götterbild hervor. An

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einer Stelle erwähnt die Edda einen (aus Steinen?) hoch aufgebau­ ten hörgr, was auf eine Art Tempelbau hindeutet, während mit hörgr anderswo offensichtlich ein Opferaltar gemeint wird: Er stellte das Weihtum aus Stein mir auf, dem Glase gleich glänzt nun der Stein; er rötet ihn frisch mit Rinderblut... (Hyndlalied io)

Der Ausdruck stafgarpr, buchstäblich «Pfahlumzäunung», be­ schränkt sich auf den Norden. Hier stoßen wir auf ein wesentliches Merkmal eines Heiligtums: es ist von der profanen Welt abge­ trennt, es wird umzäunt. Das Umzäunen selber ist die Besiegelung des heiligen Charakters eines Ortes; deshalb wurde auch der Thingplatz mit Haselzweigen abgesteckt. Andere Ausdrücke, wie das altenglische bearu, oder wih, weoh, das dem altnordischen vi entspricht, lehren uns sehr wenig über die Art des Heiligtums: sie bezeichnen es bloß als «heiligen Wald», bzw. «heilige Stätte». Das Grab, oder vielmehr der Grabhügel, war eine heilige Stätte in ganz besonderem Sinn. Von einigen Gräbern ging eine über­ natürliche Kraft aus. So blieb auf dem südlichen Abhang des Gra­ bes eines eifrigen Freyrverehrers nie Schnee liegen; auch fror es dort nie. Vom Grab eines anderen frommen Mannes wurde er­ zählt, es sei immer grün gewesen. Das Grab war aber vor allem der Ort, wo man mit dem Jenseits und seinem Wissen in Berührung kam. Für viele war das Grab der Wohnort des Verstorbenen: dort konnte man ihn zu Rate ziehen und ihn um Hilfe bitten, na­ mentlich dann, wenn schon zu seinen Lebzeiten ein wohltuender Einfluß von ihm ausgegangen war. Es handelt sich hier nicht in erster Linie um Nekromantie oder Leichenbeschwörung, ein Vor­ gehen, das zur Magie gehört, sondern es war vielmehr so, daß man sich vertrauensvoll an den Verstorbenen wandte, um seinen Bei­ stand zu erflehen. Wer konnte einem wohl besser helfen, in schwie­ rigen Fällen den Willen der Götter zu erforschen, als ein Vorfahre, der während seines Lebens viel Erfahrung gesammelt hatte und nun in engem Kontakt mit der Götterwelt stand? In Stille und Ein­ samkeit vernahm man seine Stimme. Es geschah auch, daß man 252

sich nicht an einen bestimmten Toten wandte, sondern einen Ort aufsuchte, wo man sicher war, den Geistern der Verstorbenen zu begegnen, mit Vorliebe eine Wegkreuzung. Im Norden hieß eine bestimmte Form der Geisterbefragung ütiseta, das «Draußen­ sitzen». Der Befrager setzte sich bei Nacht auf eine Straßenkreu­ zung und hüllte sich dabei in die Haut eines frisch geschlachteten Rindes; so wartete er auf die göttliche Eingebung. Dieser Brauch war auch bei den südlichen Germanen üblich, wie aus kirchlichen Verordnungen, die ihn verbieten, ersichtlich ist. Da die benutzte Haut die eines Opfertieres gewesen sein kann, darf man auch die­ sen Brauch nicht ohne weiteres ins Gebiet der Magie verweisen. Der Kultus setzte nicht nur heilige Stätten voraus, sondern er­ forderte auch eine Anzahl heilige Gegenstände, die bei Kulthand­ lungen verwendet wurden. An erster Stelle sind hier natürlich die Götterbilder zu erwähnen; über ihre Bedeutung wurde schon früher gehandelt (vgl. S. 61). Ferner waren für den Kultus Me­ tallkessel nötig, in denen das Blut der Opfertiere aufgefangen oder das Fleisch für die Opfermahlzeit gekocht wurde; andere dienten dazu, den Opfertrank darin zu bereiten. Es war ein solcher Kessel, den die Kimbern mit einem Friedensangebot an Kaiser Augustus schickten. Am Kessel von Gundestrup kann man noch sehen, wie kostbar einige von diesen geweihten Gefäßen waren. Ein wert­ voller Ring scheint ebenfalls zum stereotypen Inventar des Tem­ pels gehört zu haben. Einmal ist es ein schweres Silberarmband, das auf dem Opferstein oder Altartisch lag, und das sich der Prie­ ster bei den heiligen Handlungen (wie etwa bei der Eröffnung der Thingversammlung) an den Arm schob; in anderen Fällen ist es ein goldenes Armband, das einem Götterbild an den Arm gehängt wurde. Auf solche Armbänder wurden Eide geschworen. Ein an­ gelsächsischer Chronikschreiber erzählt, die Dänen (d. h. die Wi­ kinger) hätten 876 «auf einen heiligen Ring» geschworen, so schnell wie möglich das Reich König Alfreds zu verlassen. Eine Bestätigung dieser Mitteilung finden wir in den Vorschriften für die Anstrengung eines Gerichtsverfahrens, wie sie uns im «Buch der Besiedelung (Islands)» erhalten geblieben sind: «Jeder Mann, der vor Gericht eine Rechtshandlung zu erledigen hatte, sollte vorher einen Eid auf den Ring (des Altares) schwören und sich

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zwei oder mehr Zeugen ernennen. ,Ich ernenne sie dem zum Zeug­ nis', sollte er sagen, ,daß ich einen Eid leiste auf den Ring, einen Gesetzeseid. So helfe mir Freyr und Njörd und der allmächtige Ase, wie ich in dieser Sache Klage führen oder abwehren oder Zeugnis oder Wahrspruch oder Urteil abgeben und alle Thing­ handlungen, die auf diesem Thing an mich gelangen, so erledigen will, wie ich es als Wahrstes und Gerechtestes und dem Gesetz Gemäßestes weiß'». Die Worte der Eidesformel verraten viel­ leicht den Einfluß späterer christlicher Formeln, aber die Verwen­ dung des Altarringes beim Ablegen eines Eides ist auch sonst gut belegt. Schließlich befand sich im Tempel auch eine Schale mit Opferspänen, die zum Wahrsagen dienten; hierfür verweisen wir auf die Besprechung von hlautbolli und hlautteinn (S. 217).

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9

GÖTTER UND MORAL

Wenn wir den allfälligen Zusammenhang zwischen Göttern und Moral bestimmen wollen, so stellen wir zunächst fest, daß die Pflichten des Germanen in bezug auf seine Götter sich größtenteils mit seinen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft deckten, wie das übrigens in den meisten primitiven Kulturen der Fall war. Hier wird uns noch einmal ganz klar, weshalb es nicht möglich ist, bei den Germanen eine scharfe Grenze zwischen dem religiösen und dem weltlichen Bereich zu ziehen. Eine Versäumnis in der Opfer­ pflicht war ja nicht nur eine Beleidigung der Götter, sondern ge­ fährdete zugleich das Wohlergehen und mitunter sogar die Exi­ stenz der Gemeinschaft. Was uns als soziale Bindungen und Ver­ pflichtungen erscheint, lag im Wesen tief in der Religion verwur­ zelt. Verletzungen der Treuepflicht zwischen Verwandten oder zwischen Herrn und Gefolge wurden von den Göttern geahndet; daher war denn auch die Pflicht zur Blutrache - eine natürliche Folge der Treuepflicht - eine heilige Obliegenheit. So tief war dieses Gefühl eingewurzelt, daß Alkuin ein Schreiben an Karl den Großen richtete, um ihm einen Mann zu empfehlen, der aus Eng­ land hatte fliehen müssen, weil er den Mord an seinem Herrn blutig gerächt hatte. Für einen Kirchenmann wie Alkuin war die Blut­ rache natürlich keine von den Göttern gewollte Verpflichtung mehr, aber immerhin noch ein übliches Mittel zur Aufrechterhal­ tung der Gesellschaftsordnung. Sehr streng war auch die Ver­ pflichtung, den heiligen Frieden zu wahren. Für die Germanen war der Friede nicht der Zustand, der aus dem Nichtvorhandensein eines Krieges entsteht (auch der Krieg konnte ja eine «heilige» An­ gelegenheit sein), sondern eine heilige, von den Göttern gewollte Ordnung, die an Volksversammlungen und religiösen Festen auf feierliche Weise verkündigt wurde, aber auch im täglichen Leben gewahrt werden mußte. Wer sich gegen diese seine Pflicht in schlimmer Weise verging - indem er z. B. seine eigene Sicherheit über das Wohl und die Ehre seiner Verwandtschaft stellte, oder seinen Herrn während des Kampfes im Stich ließ, oder den heili-

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gen Thingfrieden brach, um irgendeine persönliche Fehde auszu­ tragen — schloß sich dadurch von der Gemeinschaft aus. Und außerhalb der Gemeinschaft und Blutsverwandtschaft lebte er nicht mehr unter dem Schutz der Götter und der Gesetze, sondern hörte auf ein Mensch zu sein und durfte wie ein wildes Tier gejagt und getötet werden. Er wurde zum Wolf - nicht im Sinne von Odins heiligem Attribut, sondern in dem des bösartigen, unter­ schiedslos tötenden Raubtieres. Man glaubte, daß ein solcher Mensch tatsächlich in der Gestalt eines Wolfes erscheinen könne. Andererseits war die Unehre, die eine direkte Folge von Feigheit oder gemeinen Verbrechen war, so vernichtend, daß man sie nicht überleben konnte: «Der Tod ist besser als ein Leben in Schande» (Beowulf). Damit kommen wir zum Kern des Problems, nämlich zur Frage: erhob die germanische Religion rein moralische Anforderungen? Unsere Antwort muß lauten: in dem Sinne, wie wir das gewöhn­ lich verstehen, gewiß nicht. Der Begriff des ethisch Guten und Bö­ sen hätte sich ja, wie der Begriff von Schuld und Sühne, nach einem höheren Vorbild richten müssen, und ein solches Vorbild bot die Götterwelt nicht. Insofern man sich die Götter als Personen vorstellte, war ihnen ja nichts Menschliches fremd; sie hatten die gleichen Unzulänglichkeiten wie die Menschen und verübten das Böse, wie es sich der Germane vorstellte: sie verstießen gegen die von ihnen selbst gewollte Rechtsordnung. Diese Ordnung aber hatten sie einmal in der Urzeit festgelegt, und individuelle Zu­ widerhandlungen änderten daran nichts. Mord und Ehebruch blieben Verbrechen, auch wenn Odin und Freyja sich ihrer schul­ dig machten. Da aber das moralische System zugleich sehr eng mit der Gesellschaftsordnung verknüpft war, war es auch sehr ver­ letzlich. Die Zerrüttung der Staatsordnung und der Gesellschaft, zu der die Völkerwanderungen, der Kampf bei der Gründung neuer Reiche und Staaten und gewissermaßen auch die Bekehrung Anlaß gaben, führte zu einer verhängnisvollen moralischen Zer­ rüttung, die in Verrat, Mord unter Verwandten u. ä. zum Aus­ druck kam (es genüge, hier an die fränkische Königin Brünehilde (f 613) zu erinnern). Aber der Druck der Verhältnisse und viel­ leicht auch des christlichen Gedankengutes, mit dem sie immer 256

mehr in Berührung kamen, nötigte die Germanen, sich mit dem Problem von Schuld und Strafe näher zu befassen. Man stellte fest, daß die Gemeinschaft nicht alle Vergehen zu ahnden vermochte; manchmal verstand es ein Verbrecher, sich sein Leben lang zu be­ haupten und die Früchte seiner Taten zu genießen. Das Gleich­ gewicht, das in der Menschenwelt gestört wurde, mußte aber ein­ mal wieder hergestellt werden. Die Wölwa schildert in ihrem Traumgesicht einen Ort, wo dies geschieht: Einen Saal sah ich, der Sonne fern, am Totenstrand, das Tor nach Norden: tropfendes Gift träuft durch das Dach; die Wände sind aus Wurmleibern.

Dort sah ich waten durch Sumpfströme Meineidige und Mordtäter; dort sog Nidhögg (der Drache) entseelte Leiber, der Wolf riß Leichen... (Der Seherin Gesicht 38, 39)

Wie stark diese Vorstellungen vom Christentum beeinflußt und sogar genährt wurden, geht noch aus einer anderen Strophe des gleichen Gedichtes hervor: Brüder kämpfen und bringen sich Tod, Brudersöhne brechen die Sippe, arg ist die Welt, Ehbruch furchtbar, Schwertzeit, Beilzeit, Schilde bersten, Windzeit, Wolfzeit, bis die Welt vergeht nicht einer will des andern schonen. (Der Seherin Gesicht 45)

Dies war ein Ethos, das sogar zur Verurteilung von Odin, Freyr und anderen Göttern führen mußte. Von einigen Personen heißt es in den Sagas, ihr Glaube habe darin bestanden, daß sie «auf eigene Macht und Kraft vertrauten». Wenn auch-diese Lebenshaltung an sich den Gottesglauben nicht 257

ausschloß, so entsprach sie doch wohl am ehesten jenen Menschen, die sich stark genug fühlten, um ohne Hilfe der Götter im Lebens­ kämpfe zu bestehen. Van Hamel war der Meinung, diese Einstel­ lung sei älter als der Glaube an Götter, die persönlich das Leben der Menschen leiteten. Aber hat man es hier nicht vielmehr mit einer späten Erscheinung zu tun? Folgende Erwägungen können die Voraussetzung dazu gebildet haben: die Ohnmacht der Götter ist klar zutage getreten; der Schicksalsgedanke wird von einem selbstbewußten Mann als erniedrigend verworfen; zu düsteren magischen Praktiken will er sich nicht herabwürdigen - was bleibt ihm also anderes übrig, als auf seine eigene Macht zu vertrauen? Eine solche Haltung kam natürlich nur ausnahmsweise vor. Für die übergroße Mehrheit war ein derartiger Ausweg unvorstellbar, da er ja zugleich die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens zer­ stört hätte. Zeigte sich die religiöse und soziale Organisation als dermaßen geschwächt, daß eine Wiederbelebung auf der alten Grundlage nicht mehr möglich erschien, so ging man um so leich­ ter zum Christentum über.

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10

MAGIE

Wir bemerkten schon einmal beiläufig, daß die Magie in unseren Quellen wahrscheinlich einen verhältnismäßig größeren Platz ein­ nimmt, als ihr in und neben der Religion gebührte. Trotzdem bleibt es wahr, daß die Germanen neben den Bräuchen und Ge­ pflogenheiten, die wir mit dem Wort Religion zusammenfassen, viele unmißverständliche magische Bräuche kannten und auch viel­ fach ausübten. Wie wir bereits sahen, gab es Fälle, in denen sie leicht von einem Gebiet zum anderen übergehen konnten. Den­ noch waren sie sich des Unterschiedes zwischen beiden Gebieten bewußt. Es war entschieden ehrenrührig, der Zauberei beschuldigt zu werden. In diesem Zusammenhang ist die Runeninschrift von Nordhuglen (auf einer kleinen Insel südlich von Bergen, ungefähr 400 n. Chr.) besonders bedeutungsvoll. Sie ist von der Hand eines Priesters: ek gudija ungandir, «ich, der Priester, der sich nicht mit Zauberei befaßt...» (oder: «dem Zauberei nichts anhaben kann»?). Dieser Priester machte also einen Unterschied zwischen den Ru­ nen, wie er sie brauchte, und denen, die zurgand, «Zauberei», die­ nen mußten. Diese Inschrift liefert einen weiteren Beweis dafür, daß der Gebrauch der Runen auch, und wohl in erster Linie, zur Religion gehörte. Doch auf dem Stein von Eggjum (Sogndal, Westnorwegen, Anfang achtes Jahrhundert) steht als Eingang: «Die Sonne schien nicht darauf, und der Stein wurde nicht mit Eisen bearbeitet.» Das Ausführen dieses Werkes bei Nacht (Dä­ monen fürchteten die Sonne!), und das Verbot, Eisen dabei zu ver­ wenden, legen in diesem Falle den Gedanken an Magie nahe. Die magische Verwendung von Runen trafen wir schon im Passus aus der Egilssaga an, der von einem Fall von Krankheitsbeschwörung handelt (vgl. S. 216). Auch Skirnir, Freyrs Diener, nimmt seine Zuflucht zu Runen, um die ablehnende Gerd zur Zustimmung zu

Einen Thursen ritz’ ich und der Runen drei: Lüsternheit, Leid und Liebesrasen; 259

so ritz ich’s ab, wie ich’s ritzte ein, wenn es dessen bedarf. (Skirnirlied 36)

Ein

war eigentlich ein dämonisches Wesen, aber das Wort der Name der dritten Rune (ß), die wahrschein­ lich Unglück oder Krankheit bedeutete; im Altenglischen hieß sie (mit einem Euphemismus?) thorn, «Dorn». Das Abhobeln der in Holz geschnitzten Runen war in dieser Strophe das Mittel zur Aufhebung der schädlichen Wirkung, genau so wie in der Egilssaga. Neben den Runen benutzten die Germanen noch allerlei an­ dere Zeichen, die eine besondere Kraft verleihen sollten: das Hakenkreuz, die Triskele, blitzförmige Symbole, Thors Hammer, «Hrungnirs Herz», usw. Die reiche Verschiedenheit von magischen Mitteln, welche die Germanen kannten, können wir manchmal von den ältesten Zeiten her bis zum Zeitpunkt der Bekehrung zum Christentum und sogar noch später verfolgen. Zur Ausrüstung des Medizinmannes aus der Bronzezeit gehörte ein Lederbeutel mit allerlei zauberkräftigen Gegenständen; sogar in der Beschreibung einer Wahrsagerin, die im elften Jahrhundert n. Chr. in Grönland ihr Wesen trieb, wird noch ein solcher Lederbeutel, den sie bei der Ausübung ihres Berufes benutzte, erwähnt (vgl. S. 262). Die kirchliche Literatur enthält zahlreiche Angaben über das magische Brauchtum der Südgermanen. Wenn auch nicht alles auf Berichten von Augenzeugen beruht, und einige der verurteilten Bräuche vielleicht nicht einheimisch, sondern z. B. aus dem römi­ schen Reich übernommen waren, so haben doch die Bußverord­ nungen und Synodenbeschlüsse wohl kaum ohne Grund immer wieder die Verwendung von incantationes, «Beschwörungen», male­ ficia, «Verzauberungen» und veneficia, «Zaubertränke», verboten. Ihre Terminologie ist natürlich die der spät-antiken Magie; diese wurde betrieben von malefici, «Zauberern», venefici, «Giftmischern», sortiarii, «Wahrsagern», incantatores, «Beschwörern», «Weissagern», oder wie immer die Leute, die ein solches Hand­ werk ausübten, genannt wurden. Auf das Vorkommen von Be­ schwörungen bei den Germanen deutet schon ein Wort hin, das in Thurs

thurs war zugleich

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beinahe allen germanischen Sprachen eine derartige Handlung be­ zeichnet: im Althochdeutschen und Altsächsischen galdar, im Alt­ englischen gealdor, im Altnordischen galdr. Das dazugehörige Zeit­ wort galan, «beschwören, ein Zauberlied singen», wird auch für das Singen oder Schreien bestimmter Vögel benutzt, hatte doch ihr Schrei häufig eine prophetische Bedeutung. Eine Beschwö­ rung, in der Wodan und andere Gottheiten das «gute Beispiel» geben, ist uns im zweiten Merseburger Zauberspruch erhalten ge­ blieben (vgl. S. 30). Eine Beschwörung hatte natürlich mehr Kraft, wenn man auf eine frühere Gelegenheit hinweisen konnte, bei der sie den erwünschten Erfolg gehabt hatte. In der altnordi­ schen Literatur finden wir Spuren von weiteren magischen Auf­ fassungen und Bräuchen: indem man das Blut eines Tieres trank erhielt man dessen Kraft; das böse Auge konnte Waffen stumpf machen und sogar die Erde zum Ausdörren bringen; gewisse zau­ berkräftige Schwerter oder Speere kämpften von alleine oder er­ klangen, wenn sie im Begriff waren, einen Menschen zu töten; in­ dem man einen Mantel schwang, konnte man einen Sturm ent­ fachen usw. Vieles davon kommt auch noch bei verschiedenen anderen Völkern vor, ist also eher als europäisch denn als germa­ nisch anzusehen. Sogar mit Nekromantie befaßte man sich; dabei konnte sich der Zauberer auf das Beispiel von Odin selber berufen:

Da ritt Odin ostwärts vors Tor, dort wo er wußte der Wölwa Hügel. Ein Wecklied sang er der Weisen da, bis auf sie tauchte, Totenwort sprach: «Wer ist der Mann, mir unbekannt, der mir vermehrt mühvollen Weg? Regen schlug mich, bereift war ich und taubeträuft; tot war ich lange.» (Balders Träume 4, 5)

Wurden die «Zauberer» zu zahlreich und ihre Macht zu groß, er­ folgte zuweilen eine gewalttätige Reaktion. König Filimer ver­ jagte die haliurunnas aus seinem Reich; Erik Blutbeil ließ sogar sei261

nen Bruder mit achtzig «Zauberern» lebendig verbrennen. Manch­ mal hörte die unheilvolle Wirkung eines Zauberers auch nach sei­ nem Tode nicht auf. Dann mußte man andere Maßnahmen treffen, z. B. die Leiche enthaupten und einen Pfahl durch sie hindurch­ treiben, um sie im Grabe festzuhalten. Auch der Blick eines ster­ benden Zauberers war besonders gefährlich; darum zog man ihm manchmal einen Sack über den Kopf, ehe man ihn tötete. Trotz der Furcht und des Abscheus, die sie vielen einflößten, wurden diese Seher und Seherinnen in Notzeiten häufig zu Rate gezogen: von ihnen erwartete man Auskunft über die Dauer von Hungersnot und Krankheit, zuweilen auch Anordnungen und Hilfe zur Beseitigung dieser Übel. Eine spezielle Wahrsagetechnik war die «Seid» (seijtr), die in der Saga von Erik dem Roten aus­ führlich beschrieben wird. In Grönland herrschte zu Anfang des elften Jahrhunderts eine große Hungersnot. Der reichste Bauer, Thorkel, beschloß, die Wölwa oder seifikona, «Seidfrau», Thorbjörg zu Rate zu ziehen. « Sie war gekleidet in einen blauen Mantel, und dieser war bis zum Saum mit kostbaren Steinen besetzt. Um den Hals trug sie Glasperlen, auf dem Kopf eine Mütze aus schwarzem Lammfell, die innen mit weißem Katzenfell ausgefüt­ tert war. In der Hand hielt sie einen messingbeschlagenen Stab, der oben einen Knopf hatte; auf dem Knopf saß ein Stein. Um die Taille trug sie einen Gürtel mit Zunderbüchse; am Gürtel hing ein Lederbeutel, in dem sie die Zaubermittel aufbewahrte, die sie zu ihrer Wahrsagerei benötigte. An den Füßen trug sie haarige Schuhe aus Kalbsfell mit langen Riemen, die am Ende große Zinn­ knöpfe hatten. An den Händen trug sie Handschuhe aus Katzen­ fell, die innen weiß und haarig waren.» Sie bekam zu essen von den Herzen aller Tiere, die da waren; beim Essen benutzte sie einen Messinglöffel und ein Messer, von dem die Spitze abgebrochen war. Am nächsten Tag ließ sie Frauen suchen, die das Zauberlied kannten, mittels dessen sie ihre Wahrsagerei treiben konnte. Dieses Lied hieß vardlokur (Lied, um Geister heraufzubeschwören?). Nur eine einzige junge Frau kannte dieses Lied; sie hatte es von ihrer Pflegemutter auf Island gelernt. Da sie Christin war, weigerte sie sich zunächst, an der Wahrsagerei teilzunehmen; Thorkel aber wußte sie dennoch zu überreden. Die Frauen bildeten nun einen 262

Kreis um die Bühne, auf dem die Wölwa saß. Die junge Frau sang das Zauberlied sehr gut, und nach der Séance (so würden wir eine solche Versammlung nennen) dankte die Wölwa ihr und sagte, es seien viele Geister gekommen, und diese hätten großen Gefallen gefunden an dem Lied, da es so gut gesungen worden sei. «Auch Geister, die sich früher von mir abgekehrt hatten und mir nicht mehr gehorchen wollten. Und mir sind jetzt viele Dinge klar, die mir und vielen anderen zuvor verborgen waren. » Sie prophezeite dann das Ende der Hungersnot auf den kommenden Frühling und weissagte ferner, die junge Frau, die für sie gesungen hatte, werde auf Island die Stammutter eines angesehenen Geschlechtes werden. Sie beantwortete auch alle Fragen, welche die Leute ihr stellten; fast alles, was sie vorhersagte, traf ein. Diese Erzählung ist deshalb besonders wertvoll, weil sie uns einen Begriff gibt von der Technik, welche die Wölwa bei ihrer Seid anwandte. Das Zauberlied hatte zum Zweck, sie in eine Art Trance zu bringen. In diesem Zustand fühlte sie sich in die Welt der Geister versetzt oder sah, wie die Geister zu ihr kamen. Odin selber hatte sich mit einer solchen Form der Zauberei befaßt: «Wollte Odin seine Gestalt wechseln, dann lag sein Körper wie schlafend oder tot da, er selbst aber war ein Vogel oder ein wildes Tier, ein Fisch oder eine Schlange. Er konnte in einem Augenblick in ferne Länder fahren in seinen oder anderer Angelegenheiten» (Snorri). Von einigen Menschen, die Seid trieben, wurde tatsäch­ lich berichtet, sie könnten sich in Tiere verwandeln. «Odin war in einer Kunst erfahren, die die größte Macht verlieh - man nennt sie Zauberkunst (seid) - und übte diese selbst aus. Sie befähigte ihn, das Schicksal der Menschen und noch nicht eingetretene Ereig­ nisse vorauszusagen, ja auch den Menschen Tod, Unheil oder Krankheit zu bescheren. Endlich vermochte er durch sie jemand seinen Verstand und seine Kraft zu nehmen und diese einem an­ dern zu verleihen. Aber», fährt Snorri fort, «mit derart geübter Zauberei ist soviel Ärgernis verbunden, daß die Männer sich schämten, sie zu treiben. So lehrte man diese Kunst den Tempel­ priesterinnen.» Aus Snorris letzter Bemerkung darf man wohl schließen, daß diese Zauberei mit irgendeiner Form von sexueller Perversität verknüpft war; deshalb war es denn auch für einen 263

Mann besonders entehrend, der Zauberei bezichtigt zu werden. In ihrer Wortwahl machen unsere Quellen keinen scharfen Unter­ schied zwischen der Magie, bei der es einem um Kenntnis (gewöhn­ lich der Zukunft) zu tun war, und jener, mit der der Mensch einen gewissen Zweck (Vorteil für sich und seine Freunde, Schaden für seine Feinde) zu erreichen hoffte. Die oben beschriebene magische Technik gemahnt jedenfalls stark an die der Schamanen, obwohl ein Spezialist wie Eliade die germanische Seid nicht als Schamanis­ mus im eigentlichen Sinn des Wortes betrachten möchte. Es fragt sich auch, ob sie wohl bei allen Germanen bekannt gewesen und ob im Norden ihr Ursprung oder ihr Fortbestehen nicht wenigstens zum Teil der Nähe der Lappen zuzuschreiben sei. Die Lappen gal­ ten gerade dort für besonders zauberkundig: im Altnordischen hatte das Wortfinn (d. h. Lappe) sogar die Bedeutung «Zauberer» bekommen.

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IV

DER GERMANISCHE KOSMOS

I

WELTBILD DER GERMANEN

Das Bild, das sich der Mensch von Welt und Weltall formt, hängt in irgendeiner Weise von seinem Verhältnis zu den höheren Mäch­ ten ab, die dieses Weltall aufbauten. Auch der Germane sah in sei­ nen Göttern vor allem mächtige Wesen, die das Weltgeschehen lenkten und den Kosmos instandhielten. Doch waren seine Götter weder allmächtig noch ewig; daher befand sich das Weltall nicht in einem dauerhaften Gleichgewicht. Bloß indem die Götter sich ständig miteinander berieten und in das Weltgeschehen eingriffen, sorgten sie dafür, daß dieses Gleichgewicht nicht zerstört wurde. Sie hatten im Anfang die Welt geordnet, den Himmelskörpern 'ihre feste Bahn zugewiesen und die gefährlichen Dämonen ver­ bannt oder unschädlich gemacht, doch enthielt ihr Werk bereits die Keime einer Zersetzung, einer Weltkatastrophe, die früher oder später eintreffen konnte. Für manche Germanen wurde diese Möglichkeit zur Sicherheit, und diese Sicherheit inspirierte einen Dichter zur mächtigen Vision der Wölwa, mit der die Edda an­ fängt. Wie so viele andere Völker wohnten die Germanen «in der Mitte», ihre Welt hieß «die umzäunte Wohnstatt, die in der Mitte liegt» (gotisch midjungards, altenglisch middangeard, althochdeutsch mittelgart, altnordisch mipgarpr). Wo die Götter sich aufhielten, ist nicht so klar zu erkennen. Einerseits gehörten sie zweifellos zur Welt der Menschen, aber die anthropomorphische Auffassung er­ kannte ihnen auch eine eigene Sphäre zu, einen Asgard (Asgar^r) oder «Asenwohnort», den man sich wohl auch als überirdisches Reich dachte. Diese Wohnstätte stellte man sich wie eine germa­ nische Fürstenhalle vor, nur prächtiger und reicher ausgeschmückt, als irgendein irdischer Fürst sie zu bauen vermöchte. Wieder ein anderes Bild geben die Listen von «Götterwohnungen», die wir in einigen Gedichten vorfinden. Darin erhält jeder Gott seine eigene Wohnung, in der er mit seinem Hofstaat lebt - wiederum wie ein germanischer Fürst. Wir getrauen uns kaum, aus allen diesen An­ sichten ein harmonisches Ganzes zu rekonstruieren; wir haben es 267

hier wohl mit nebeneinanderstehenden Versuchen zu tun, ein dem Menschen verständliches Bild vom Weltall zu entwerfen. Dieses Bild mußte beim norwegischen Bauern, der nie seine Heimat ver­ lassen hatte, selbstverständlich ganz anders aussehen als dasjenige, welches sich ein Wiking machte, der England, Frankreich und Spanien oder Rußland und Konstantinopel gesehen hatte. Den­ noch lassen sich einige Konstanten feststellen. Die Götterwelt war immer ein Duplikat — sei es auch in ganz anderem Ausmaße — der Menschenwelt; oder vielmehr: für den Germanen war die Men­ schenwelt nach dem Muster der Götterwelt eingerichtet. Dieser Anthropomorphismus wurde konsequent durchgeführt: die Göt­ ter kamen jeden Tag auf dem Thingplatz zusammen, um sich zu beraten; Thor mußte dazu jedesmal einen Fluß durchwaten. Sie spielten eine Art Glücksspiel «auf goldenen Tafeln» und hielten Trinkgelage und Bankette ab. Natürlich wurde jene Welt mehr oder weniger idealisiert; bei der Ausarbeitung der Schilderung wurden sogar allerlei Märchenmotive verwendet und hineinver­ woben. Von zwei Gesichtspunkten aus konnte die Menschenwelt in der Mitte liegen. Auf der horizontalen Ebene war sie vom Weltmeer und von der Welt der Dämonen umgeben; in der Vertikale lag sie unter der Welt der Götter, aber über jener der Toten. Das «Grimnirlied» setzt aber vier Welten voraus: die Götterwelt - mit dem Weltbaum als Mittelpunkt - und eine Menschenwelt, eine Toten­ welt und eine Riesenwelt, die je unter einer der drei Wurzeln des Weltbaumes (Yggdrasils Esche) liegen:

Drei Wurzeln gehn nach drei Seiten von der Esche Yggdrasil; Hel wohnt unter einer, unter der andern die Reifthursen, unter der dritten der Degen (= Menschen) Volk. (Grimnirlied 27)

Die Wölwa hatte ein noch komplexeres Weltall vor Augen:

Weiß neun Heime, neun Weltreiche, des hehren Weltbaums Wurzeltiefen. (Der Seherin Gesicht 2) 268

Nicht alle Germanen scheinen aber das gleiche kosmologische Sy­ stem gekannt zu haben. Verschiedene Anschauungen bestanden nebeneinander, wie sich z. B. zeigt, wenn man den Platz der Toten­ welt im germanischen Weltbild zu bestimmen versucht. Die Ver­ schiedenheit der vorhandenen Vorstellungen hing wahrscheinlich mit geographischen und sozialen Faktoren zusammen. Die Toten konnten z. B. in engem Zusammenhang mit den Lebenden fort­ bestehen. Sie verweilten dann oft in nächster Nähe ihres früheren Wohnortes. In den meisten Fällen war wohl ursprünglich das Grab ihr eigentlicher Aufenthaltsort, wo sie allein oder, wenn es ein Fa­ miliengrab war, im Kreise ihrer Verwandten wohnten. Diese Vor­ stellung war sehr alt; sie kommt z. B. deutlich zum Ausdruck in den Grabkammern der prähistorischen Periode. Dieser Glaube setzt das Fehlen einer scharfen Grenze zwischen der Welt der Le­ benden und jener der Toten voraus. Die Vorstellung einer spezifi­ schen Totenwelt kam erst später auf, wie aus dem Fall des Islän­ ders Thorstein erhellt. Dieser war einmal ausgefahren, um zu fi­ schen, und während seiner Abwesenheit trieb sein Schafhirt seine Herde am Helgafjell («Heiliger Berg») vorbei nach Hause. Es war ein stürmischer Abend, und plötzlich bemerkte der Hirt, daß die Nordseite des Helgafjell sich öffnete. Aus dem Berg ertönte der Lärm einer fröhlichen Gesellschaft und der Schall von Hörnern; da gewahrte der Hirt, wie Thorstein und seine Gesellen von der Gesellschaft im Berg willkommen geheißen wurden. Er begab sich sogleich zu Thorsteins Frau und meldete, was er gesehen und ge­ hört hatte. Am nächsten Tag brachte man ihr die Nachricht, daß ihr Gatte im Meer ertrunken sei. So war also der «Heilige Berg» die Wohnstätte der verstorbenen Mitglieder von Thorsteins Fa­ milie. Die eigentliche Totenwelt, die unwiderruflich von jener der Lebenden getrennt war und wo die Verstorbenen auf eine ihnen gemäße Art «lebten», hieß bei den Germanen Hel. Später, bei der Bekehrung, wurde dieser Name als Übersetzung des lateinischen Wortes infernum, «Hölle», benutzt; für die Germanen aber war es kein Ort der Strafe gewesen. «Hel» bedeutet: «der Verbergende»; dort waren die Toten völlig vor den Augen ihrer Verwandten ver­ borgen. Sie führten ein Schattendasein in Kälte und Finsternis und entbehrten den Genuß der irdischen Güter. Einzig in der späten 269

«Weissagung der Seherin» scheint man zur Ansicht gekommen zu sein, daß Freveltaten, die auf Erden ungerächt geblieben waren, im Jenseits ihre Strafe finden würden. Als Gegenstück zu Hel galt Walhalla. Dies war ursprünglich wohl ebenfalls ein unterirdischer Aufenthaltsort, diesmal für gefallene Krieger gewesen, aber in der Zeit, die durch unsere Quellen beleuchtet wird, war Walhalla zu einem idealen Fürstenpalast geworden, in dem Odin einem riesi­ gen Gefolge von Helden bis ans Ende der Zeiten ein herrliches Leben bereitete. Dies war aber nicht das Ideal der Mehrheit. Für sie blieb die Totenwelt ein Ort des Schreckens, den man, der dort herrschenden Kälte und Finsternis wegen, irgendwo im Norden lokalisierte. Dort lag Ndstrandir, der «Leichenstrand», oder Ndsbeimr, die «Leichenweit»; dort hauste ein riesiger Adler, Hrasvelgr, der «Leichenverschlinger», der mit seinem Flügelschlag einen Sturm zu entfesseln vermochte. Hier haben wir es wieder mit einer alten Vorstellung zu tun. Schon in der Steinzeit waren im Gebiet, das die Germanen später bewohnten, die Gräber häufig so ange­ legt, daß der Eingang gegen Süden gekehrt war. Der Aufenthalts­ ort der Toten lag also irgendwo im Norden. Kälte und Finsternis herrschten aber auch unter der Erde. Snorri schreibt, der Weg zu Hel «führe hinunter» nach Norden: dies ist eine Art Kompromiß zwischen einer im Norden gelegenen und einer unterirdischen To­ tenwelt. Neben der Auffassung, Hel sei ein Aufenthaltsort der Toten, treffen wir noch eine andere an: Hel ist eine mythische Figur, eine Tochter Lokis, die über die Totenwelt herrscht. Sie ist gekennzeichnet durch die Unerbittlichkeit, die zu einer Fürstin der Unterwelt paßt. Dennoch war sie bereit, Hermods Bitte stattzu­ geben und Balder zur Götterwelt zurückkehren zu lassen; ihr eige­ ner Vater aber sollte diesen letzten Versuch, Balder zu retten, ver­ eiteln. Auch Odin und Freyja unternahmen Fahrten zur Hel; sie aber taten das, um die verstorbenen Wölwen zu Rate zu ziehen. Dabei kamen sie jedoch nicht weiter als bis zur «Pforte» von Hels Reich. Ihr Reich lag nämlich jenseits eines breiten, laut brausenden Stromes, über die eine mit Gold beschlagene Brücke führte, und um bis dahin zu gelangen, mußte der Reisende eine lange und ge­ fährliche Reise zurücklegen. Eine Variante von Hel war die Göttin Ran; sie war die Gattin des Meergottes Ägir, und die Wellen des

27°

Meeres waren ihre Töchter. Sie nahm diejenigen auf, die im Meer umgekommen waren. Andere Tote gingen zu Freyja oder zu Gefjuh. Der Glaube an ein Totenreich jenseits des Wassers, den wir u. a. im Zusammenhang mit den Schiffsgräbern vermuteten, wird hier also bestätigt. Außerdem ist gelegentlich von einem Toten­ schiff die Rede, das Naglfari heißt; und einer der Namen der To­ tenwelt, Nastrandir, «Totenstrand», zeugt von der gleichen Auf­ fassung. In der Beschreibung, die das «Grimnirlied» und die «Weissa­ gung der Seherin» von der Einrichtung des Kosmos geben, bildet ein Baum den Mittelpunkt. Es ist der Maßstab nach dem das Welt­ all aufgebaut ist, der «alte Maßbaum», wie ihn die Seherin nennt. Dieser Weltbaum ist zugleich der Thingbaum, um den sich die Götter versammeln. Wenn die Menschen ein Thing zusammen­ rufen, wählen sie einen Versammlungsplatz mit einem auffallenden Baum, z. B. einer besonders großen Eiche oder Esche. Sie folgen darin dem Beispiel der Götter, die unter einer riesigen Esche Zu­ sammenkommen. Dieser Baum steht in engem Zusammenhang mit Odin, der ja neun Tage und neun Nächte an ihm hing, ehe er das Ge­ heimnis der Runen entdeckte. Von Odins Beinamen Ygg ist der Na­ me des Baumes Yggdrasil abgeleitet; er bedeutet:«Yggs Pferd.» Der Galgen wurde bei den Germanen nämlich oft «das Reittier des Ge­ henkten» genannt, und der W’eltbaum war tatsächlich Odins Gal­ gen gewesen. Von den Blättern des Baumes tropft eine goldfar­ bene Flüssigkeit, die wohl mit dem Göttertrank identisch sein muß und auf Erden als Honigtau erscheint. Am Fuße des Baumes liegt der Brunnen von Urd, einer der Schicksalsgöttinnen oder Nomen. Bei Snorri ist sogar von drei Brunnen oder Quellen die Rede, von denen je eine unter einer der drei Wurzeln entspringt: die erste ge­ hört Urd, die zweite Mimir; die dritte heißt Hwergelmir (Hvergelmir, «brausender Kessel», eine Anspielung auf die Zubereitung des Göttertrankes?). Es handelt sich hier wesentlich um Varianten einer einzigen Quelle, die im Zusammenhang mit verschiedenen Mythen auch verschiedene Namen erhielt. So schöpft Odin seine Weisheit aus Mimirs Quelle, nachdem er sein Auge als Pfand hin­ eingelegt hat. Dies läßt sich wieder mit der Wirkung der Quelle der Schicksalsgöttin Urd vergleichen: wer aus ihr trank, dem 271

wurde die Zukunft offenbar. Wiederum sind also verschiedene Elemente, die vielleicht ganz unterschiedlichen Ursprungs sind, um ein bestimmtes Motiv zusammengewachsen. Von vielen Ein­ zelheiten können wir nicht einmal mehr die Bedeutung ermitteln. So lebt in und um den Weltbaum eine rätselhafte Tierwelt, die vielleicht in jetzt verschwundenen Mythen eine Rolle gespielt hat. An den Wurzeln des Baumes nagt ein Drache; er heißt Nidhögg (Niphöggr, «vernichtender Hacker») und wird dereinst den Baum stürzen. «Ein Adler sitzt auf den Ästen der Esche, und er weiß sehr viel; zwischen seinen Augen sitzt ein Habicht, der Wedrfölnir (Veprfölnir, «der von Wind und Wetter Verfärbte») heißt. Ein Eichhörnchen, mit Namen Ratafösk (Ratatöskr, «Rattenzahn»), rennt am Stamm der Esche auf und ab und richtet die Schimpf­ worte aus, die der Adler und Nidhögg einander zuschicken. In den Ästen gehen vier Hirsche umher und äsen von den Blättern... und in Hwergelmir bei Nidhögg sitzen so viele Schlangen, daß niemand sie zählen kann...» (Snorri). Der Baum selber trägt noch andere Namen, z. B. Lärad (Larapr); dieser Name bezieht sich eigentlich auf einen Baum, der «auf Odins Haus» steht. Eine andere Bezeich­ nung für den Weltbaum ist Hoddmimir; so heißt er, wenn das ein­ zige Menschenpaar, das den «Riesenwinter» überlebt, bei ihm eine Zuflucht findet. Dieser Name steht zweifellos im Zusammenhang mit Mimir, und dies gilt auch für Mimameid, «Baum von Mimi»; am Fuße des Baumes liegt ja Mimirs Quelle. Mit dem Schicksal des Baumes ist das der Götter und des Weltalls aufs engste verbunden. Seine Lebenskraft wird fortwährend untergraben:

Die Esche Yggdrasil muß Unbill leiden mehr als man meint: der Hirsch äst den Wipfel, die Wurzeln nagt Nidhögg, an den Flanken Fäulnis frißt. (Grimnirlied 35)

Beim Weitende wird er mit lautem Krachen Zusammenstürzen und im allgemeinen Feuer vernichtet werden. Es läßt sich schwer feststellen, ob alle diese Motive tatsächlich alt sind. Man hat den germanischen Weltbaum, der durch «neun Welten» hindurchgeht, mit dem Pfahl oder Baumstamm vergli-

chen, der für gewisse Schamanen den Mast des Weltzeltes dar­ stellt. Dieser Pfahl spielt eine große Rolle im schamanistischen Rituell. Zuweilen ist er mit Kerben versehen, deren sich der Scha­ mane während seiner Ekstase zu einer «Reise durch neun Welten» bedient. Die Ähnlichkeit mit den neun Welten der Vision der Wölwa ist tatsächlich auffallend, andrerseits aber muß nachdrück­ lich darauf hingewiesen werden, daß der Weltbaum weder als «Weltachse» noch als «Zeltpfahl» fungiert; kein Gott oder Geist erklimmt ihn je, bloß mythische Tiere leben in seinem Laub. Er läßt sich deshalb viel eher mit dem «immergrünen» Baum ver­ gleichen, der beim Tempel von Uppsala stand: «Bei jenem Tempel steht ein riesiger Baum, der seine Äste weit ausbreitet; er ist immer grün, sowohl im Winter wie im Sommer. Niemand weiß, was für eine Art von Baum es ist. Es befindet sich dort auch eine Quelle, in der die Heiden ihre Opfer darbringen. Ein Mensch wird leben­ dig hineingeworfen; kommt er nicht wieder zum Vorschein, so ist der Wunsch des Volkes erhört» (Adam von Bremen). Die Über­ einstimmung zwischen dem, was in Uppsala zu sehen war, und der Beschreibung, welche die Edda und Snorri vom Weltbaum geben, kann nicht zufällig sein: das Heiligtum in Uppsala wurde wohl als die Abbildung des Thingplatzes der Götter betrachtet. Es gibt noch weitere Berührungspunkte: denken wir bloß an das Opfer Odins, der sich selbst am Weltbaum aufgehängt hatte, und an die Menschenopfer, die in Uppsala dargebracht wurden; auch hier hängte man die Opfer an den Bäumen beim Tempel auf. Das Ver­ hältnis zwischen dem Weltbaum und dem Schicksal der Welt fand auf der menschlichen Ebene sein Abbild im engen Zusammen­ hang zwischen dem Wohl bestimmter Familien und einem Baum, der bei ihrem Hofe stand. Solange der Baum lebte und wuchs, ging es den Bewohnern des Hofes gut; starb er, so wurden sie von Krankheit und Mißgeschick befallen. Außerhalb Midgards lag die Welt der Dämonen, der Riesen und anderer Wesen, die Göttern und Menschen feindlich gesinnt wa­ ren. Im Gegensatz zu Midgard ist Utgard die Welt, die außerhalb des sicheren Schutzes von Weltmeer und Göttern (Heimdal, Thor) liegt. Im Meer, das die bewohnte Erde umschließt, liegt die Welt­ schlange (Mipgarpsormr); laut der Sage beißt sie sich in den 273

Schwanz, ein vielleicht aus dem Osten übernommenes Motiv. Ein­ mal fischte Thor sie auf und hätte sie beinahe getötet; da hieb aber der Riese Hymir aus Angst seine Angelschnur entzwei. Nun war­ tet sie auf das Ende der Welt: dann wird sie aus der Tiefe empor­ steigen und gegen Thor kämpfen. Thors tägliche Feinde, die Rie­ sen, welche die Götterwelt gefährden und Göttinnen zu entführen trachten, wohnen in Jötunheim (Jötunheimr, «Riesenwelt»). Dieses Land liegt nach Ansicht des Nordländers im Norden oder Osten; wie in der Unterwelt herrschen dort eisige Kälte und Finsternis. Weitere Einzelheiten über die Einrichtung des Kosmos werden wir in den Mythen über das Entstehen und den Untergang der Welt finden. Nur in späten Werken, welche die Kenntnisse vieler Genera­ tionen zu einem logischen Ganzen zu verarbeiten versuchen, sind diese verschiedenen Welten deutlich voneinander getrennt. In der Wirklichkeit waren z. B. die Grenzen zwischen der Welt der Men­ schen und jener der Dämonen durchaus nicht so klar erkennbar. Verschiedene Arten von Dämonen lebten ja in nächster Nähe des Menschen; daneben gab es auch Menschen, die zur Geisterwelt gehörten. Der Zauberer, der sich mit Seid befaßte, ging mit Gei­ stern um, der Berserker und der Ulfhedin konnten sich in Tiere verwandeln. Der Großvater des Skalden Egil wurde Kveldulfr, «Abendwolf», geheißen, weil er sich bei hereinbrechender Nacht in einen Wolf verwandeln konnte. Nicht nur die Götter konnten also die Gestalt wechseln, auch einige Menschen vermochten dies zu tun. Dies gab Anlaß zum Glauben an die hamingia, womit so­ wohl ein konkreter Schutzgeist als auch ein abstraktes «Glück», zuweilen auch «Macht» gemeint sein konnte; man hat sie gelegent­ lich mit dem melanesisch-polynesischen wawa-Begriff verglichen. Der Ausdruck fylgja war üblicher; er bezeichnete eine Art dämo­ nischen Doppelgänger des Menschen. Eines Menschen Fylgja konnte anderen in ihren Träumen erscheinen, mitunter auch dem Besitzer selber; ihr Erscheinen kündigte gewöhnlich ein wichtiges Ereignis, wie Totschlag oder Unheil an. Die Fylgja erschien dann in der Gestalt eines Tieres oder einer Frau. Sie konnte auch auf andere übergehen oder übertragen werden, wie z. B. vom Vater auf den Sohn. 274

Totendämonen scheinen bei den Germanen vielerlei Gestalten angenommen zu haben. Im Norden war der Draug (draugr) be­ sonders gefürchtet. Er zeigte sich oft als die aufgedunsene Leiche eines Ertrunkenen. In dieser Gestalt ging er um und machte den Menschen das Leben dermaßen zur Qual, daß sie keine Ruhe be­ kamen, ehe der Draug endgültig unschädlich gemacht worden war. Gespensternde Tote waren gewöhnlich solche, die schon zu ihren Lebzeiten von ihren Mitmenschen gemieden worden waren. Sie hatten sich meistens schwerer Verbrechen schuldig gemacht oder waren auf gewaltsame Weise ums Leben gekommen. Nur durchgreifende Maßnahmen, wie das Enthaupten oder Verbrennen der Leiche, konnten einem solchen Spuk ein Ende setzen. Wie viele andere Völker zogen die Germanen keine scharfe Grenze zwischen Körper und Seele, ja, sie machten nicht einmal einen klaren Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen. Sie stellten sich das Fortbestehen nach dem Tode lediglich in einer stofflichen Erscheinungsform vor. Ein Toter konnte als «lebender Leich­ nam» fortleben. Blieb er ruhig in seiner «Wohnung», dem Grab­ hügel, so war alles in Ordnung; er konnte dann sogar seines guten Einflusses wegen, den er auch nach seinem Tode ausübte, verehrt werden. Zeigte er sich jedoch weiterhin in Haus und Hof, so ge­ schah das meist mit üblen Absichten. Die Zwerge (althochdeutsch s^verc, gi^werc, altenglisch dweorg, altnordisch dvergf) scheint man sich anfänglich nicht als besonders klein vorgestellt zu haben. Sie hausten in Bergen und Felsen und fürchteten das Sonnenlicht: Alwis heiß’ ich, unter der Erde wohn’ ich, meine Stätte ist unterm Stein, sagt einer von ihnen. Es war dieser Zwerg, der in einem langen Fragegespräch mit Thor seine Weisheit zur Schau stellte, bis der Gott sprach:

Aus einem Mund hab’ ich mehr noch nie erfahren an Vorzeitkunde. Mit viel List hab’ ich gefesselt dich, 275

nun trifft dich das Tageslicht: die Sonne scheint in den Saal. (Alwislied 3,36)

So überlistet, wurde Alwis in einen Stein verwandelt. Die Zwerge galten als besonders weise und vielwissend. Durch ihr Leben unter der Erde wußten sie um verborgene Schätze; zuweilen waren sie deren Hüter. Sie waren auch im Besitz des Göttertrankes gewesen: zwei von ihnen, Fjalar und Galar, hatten ihn aus dem Blut des weisen Kwasir gebraut. Außerdem waren sie als sehr kunstge­ wandte Schmiede bekannt. In der Epik sind berühmte Schwerter gewöhnlich das Werk irgendeines Zwerges. Sogar Thors Hammer, Sifs goldenes Haar und der mythische Ring Draupnir, der aus eige­ ner Kraft neue Ringe hervorbrachte, waren von Zwergen ange­ fertigt worden. Ihre Art war unverläßlich: bald waren sie den Menschen günstig gesinnt, bald sannen sie auf ihr Verderben. Am berühmtesten waren wohl die Abenteuer Sigurds mit dem Zwerg Regin: dieser ließ den Helden erst den Drachen Fafnir töten und dessen Schatz rauben, mit der Absicht, nachher Sigurd selber zu töten und so in den Besitz der Beute zu gelangen. Sein Plan wurde aber von ein paar Meisen verraten, und so erlitt er selber das Schicksal, das er Sigurd zugedacht hatte. Im späteren Volksglau­ ben lassen sich die Zwerge nicht deutlich mehr von Hausgeistern, Feld- und Waldgeistern und Geistern von Abgeschiedenen unter­ scheiden. In diesem Zusammenhang sei auch auf Heinzelmänn­ chen, Wichtelmännchen und sonstige Wesen hingewiesen, die oft gänzlich zu Märchengestalten geworden sind. Sogar wenn von Ge­ schenken oder Opfern die Rede ist, die ihnen dargebracht werden (ein Tellerchen Milch, ein Stück Brot, Kleider), kann man sich doch meistens nicht recht dazu entschließen, derartige Bräuche zur Reli­ gion zu zählen. Die Beziehungen, welche die Menschen in dieser Weise mit Zwergen unterhielten, lassen sich viel eher mit freund­ schaftlichen Beziehungen von Menschen untereinander verglei­ chen, die durch kleine Geschenke gefestigt werden, als mit dem Gefühl von Ehrfurcht und Abhängigkeit, welches das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern kennzeichnet. Übrigens waren bösartige Zwerge für das Ausbrechen von allerhand Krankheiten verantwortlich. 276

Ein gewisser Zusammenhang mit der Verehrung der Vorfahren läßt sich immerhin feststellen. Auch die Verstorbenen lebten oft in Hügeln oder unter der Erde und wurden manchmal von den Le­ benden mit Speise und Trank bewirtet. Thors spöttische Bemer­ kung über das Aussehen von Alwis weist in die gleiche Richtung: Welch ein Fremdling ist das? Woher so fahl um die Nase? Lagst du bei Toten vor Tag? (Alwislied 2)

Die Alfen bildeten wiederum eine Sondergruppe (althoch­ deutsch alp, altenglisch alf altnordisch alfr), obwohl gelegentlich Geister ganz allgemein «Alfen» genannt werden. Einige nordische Quellen sprechen von einem wirklichen Kult: in Schweden wurde im Spätherbst ein alfablot oder Alfenopfer dargebracht. Die Alfen sorgten aber nicht nur für das Wohl von Menschen und Land (na­ mentlich für Fruchtbarkeit?), sondern säten auch Verderben. Sie wiesen die gleiche Ambivalenz auf wie die Zwerge. In der späteren nordischen Systematik hieß es, es gebe «Lichtalfen», die im Alfenheim Wohnten, und «Dunkelalfen», die unter der Erde hausten. Auch hier stößt man auf Spuren von Totenverehrung. König Olaf Hakonarson wurde nach seinem Tod, ungeachtet seines christ­ lichen Glaubens (er war in England getauft worden), von seinen Untertanen als Gott verehrt; sie nannten ihn «den Alf von Geirstad», nach dem Ort, wo sein Grabhügel sich erhob. Vielleicht ist mit diesem Grab das berühmte Schiffsgrab von Gokstad gemeint; in dem Fall besteht gewiß ein Zusammenhang zwischen der Pracht, mit der der König begraben wurde, und seiner späteren Vereh­ rung. Die Zweideutigkeit, die sich im Norden feststellen läßt, finden wir auch in anderen Gegenden wieder. Die zahlreichen mit alf oder elf gebildeten Eigennamen (z. B. Alfred) weisen auf das Wohlwollen vieler dieser Wesen hin, während die dämonische Abart für allerhand Krankheit und Ungemach verantwortlich ge­ macht wurde (altenglisch alfadl, «Elfenkrankheit», vgl. englisch elfshot, «Krankheit»; deutsch Alp, «Alpdruck»). In einem alteng­ lischen Zauberspruch gegen plötzlich auftretenden Schmerz (He­ 277

xenschuß?) wird dieser einem kleinen Speer zugeschrieben, der von Äsen, Alfen oder Hexen abgeschossen wurde. Auch im Nor­ den werden Äsen und Alfen gelegentlich in einem Atem genannt, doch wird dort der hierarchische Unterschied zwischen den beiden Gruppen aufrechterhalten; auch werden die Äsen dort nicht als Krankheitsbringer dargestellt. Die Elfen unserer Märchen haben mit den germanischen Alfen kaum etwas zu schaffen; sie finden ihren Ursprung vielmehr in der keltischen Sagenwelt und kamen erst im neunzehnten Jahrhundert auf literarischem Weg von Eng­ land zum Festland herüber. Eine andere Gruppe mit ähnlichen Zügen bildeten die «Land­ geister »oder « Landwichte » (landvattir), die im Norden alle bewohn­ baren Gegenden bevölkerten. Sie waren dem Menschen gewöhn­ lich wohlgesinnt und sorgten für die Fruchtbarkeit von Acker und Vieh. Wie die Zwerge wohnten sie in Felsen oder in der Erde. Sie konnten aber durch Übeltaten verstimmt und vertrieben werden. Sie scheinen eine besondere Furcht gehegt zu haben vor den Stevenköpfen der Schiffe. Im Norden bestand nämlich der Brauch, die Steven der Schiffe mit geschnitzten Drachenköpfen zu versehen, um die Meerdämonen zu verjagen (ein solcher Kopf wurde z. B. 1939 bei Dendermonde in der Schelde aufgefunden: Tafel 30). Damit die Landgeister nicht beunruhigt würden, schrieb das alte islän­ dische Gesetz jedem Schiffer vor, der sich dem Lande näherte, diese grinsenden Köpfe von den Steven zu entfernen. Ein treffen­ des Beispiel von diesem Glauben finden wir noch in der Egilssaga. Um den norwegischen König, der ihn mit seinem Haß verfolgte, zu höhnen und ihm zugleich unersetzlichen Schaden zuzufügen, ging Egil folgendermaßen vor: auf einer Insel vor der norwegi­ sche Küste bestieg er einen dem Lande zugekehrten Bergrücken. Er brach einen Ast von einer Haselstaude und steckte einen Pferde­ schädel darauf. «Dann tat er den Fehdespruch und sagte: ,Hier stelle ich die Neidstange auf und wende diese Beschimpfung gegen König Erik und Königin Gunnhild.' Er richtete den Pferdekopf nach dem Innern des Landes zu. .Auch wende ich', fuhr er fort, .diese Beschimpfung gegen die Landwichte, die in diesem Lande wohnen, daß sie alle in der Irre fahren sollen, und nirgends eine Ruhestätte finden noch fahen, ehe sie nicht König Erik und Gunn278

hild aus dem Lande vertrieben haben.“ Dann stieß er die Stange in eine Felsspalte und ließ sie dort stecken. Er hatte aber den Pferde­ kopf gerade nach dem Lande hingewandt. Hierauf ritzte er noch Runen auf die Stange: die sollten seinen ganzen Fehdespruch künden.» Einzelne Dämonen spielten eine so große Rolle im Ackerbau, daß sie zu klar umrissenen Individuen wurden. Zu diesen gehörten u. a. die weit verbreiteten Getreidedämonen, die wir hauptsächlich aus volkstümlichen Erntebräuchen kennen, die aber auch im ger­ manischen Altertum auftauchen. Ein solches Paar erscheint z. B. als Freyrs Diener in «Lokis Zankreden»: Byggwi und seine Frau Beyla. Loki verspottet Byggwi des Schicksals wegen, das ihm beschieden war: Immer wirst du Freyr in den Ohren liegen, krächzen bei der Kornmühle, (Lokis Zankreden 44)

eine Gehässigkeit, die gleich verständlich wird, wenn wir uns ver­ gegenwärtigen, daß der Name Byggwi eigentlich «Gerste» bedeu­ tet. In den Erntebräuchen mancher Gegenden hat man Überreste eines alten Kultes solcher Fruchtbarkeitsdämonen zu entdecken geglaubt. In dieser Weise erklärt die Volkskunde z. B., weshalb die letzte Garbe oft geschmückt wird, einen Namen erhält, auf dem Feld stehen bleiben muß oder beim Erntefest eine Person darstellt usw. Bei den Meer- und Wasserdämonen kann man verschiedene Typen unterscheiden, die aber fast alle bösartig waren. Bei den süd­ lichen Germanen lebte der Nicker oder Necker (altenglisch nicor, althochdeutsch nihhus), der den einsamen Reisenden in Sümpfe führte oder ihn überfiel und in die Flucht jagte. Im Meere hausten, nach der nordischen Überlieferung, die neun Töchter des Meer­ gottes Ägir und der Meergöttin Ran. Sie brachten das Meer zum Wogen und suchten Schiffe zu versenken und die Bemannung zu ertränken. Es war eben gegen solche Dämonen, daß die Drachen­ köpfe auf den Steven die Seefahrer schützen sollten. Die Epik hat von diesen Dämonen einen dankbaren Gebrauch gemacht, um die Abenteuer seefahrender Helden zu schildern: 279

Höher hißte Helgi die Segel, den Wogen wichen die Wikinge nicht, als ingrimmig Ägirs Töchter die Seerosse (Schiffe) versenken wollten. (Das jüngere Lied von Helgi dem Hundingtöter 29)

Die Töchter des Meergottes waren wohl entfernt mit den Wal­ küren verwandt. Wir begegneten diesen schon im Gefolge Odins. Bei den Südgermanen scheinen sie bis zur Bekehrungszeit nur als Leichendämonen erschienen zu sein. Dort wurden sie dann den Hexen und anderen gefährlichen weiblichen Wesen gleichgestellt. Im Norden spielten sie nach und nach eine wichtige Rolle in My­ thologie und Epik. Aus Dämonen, die gierig auf Leichen lauerten - «Walküre» bedeutet ja «die die Toten auf dem Schlachtfeld aus­ wählt» — und in Gestalt von Raben und Raubvögeln erschienen, wurden sie zu kriegerischen Frauen, die auf Befehl ihres Herrn den Helden im Kampfe beistanden oder sie zu Fall brachten. Sie wur­ den schließlich so vermenschlicht, daß sie Helden heirateten, und daß sogar die Töchter irdischer Könige zu Walküren wurden. Das bekannteste Motiv ist wohl jenes des Helden, der eine schlafende Walküre hinter einem Flammenwall, der «Waberlohe», entdeckt; der Kriegsgott hatte sie in einen Zauberschlaf versenkt, weil sie nicht seinen auserwählten Kämpfer hatte siegen lassen. Der Held weckt die Walküre auf und heiratet sie, jedoch sein Glück dauert nicht lange. Dieses Motiv, das eigentlich das Märchen der Prin­ zessin auf dem Glasberg in die Mythologie hineinverflicht, ist in verschiedenen eddischen Gesängen ein Bestandteil des Nibelun­ genzyklus geworden; es kommt aber auch in der Sage von Helgi dem Hundingtöter und in der von Wölund (Wieland) vor. Auf der mythologischen Ebene wurden die Walküren zu Schenkerin­ nen von Met und Wein bei den Trinkgelagen in Walhalla, so daß schließlich nur wenig vom schicksalhaften und abschreckenden Charakter der ursprünglichen Dämonengestalten übrig blieb. Fylgja und Walküre konnten dem Menschen die Erfüllung sei­ nes Schicksals melden, wie es die Götter gewollt hatten. Das Schicksal war aber nicht nur der Wille der Götter, es wurde auch in den Nomen personifiziert. In seiner Edda beschreibt Snorri drei

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Nomen, Jungfrauen, die beim Weltbaum wohnen; er fügt aber hinzu: «Es gibt viele Arten von Nomen: sie kommen zu jedem Kind, das geboren wird, um seinen Lebenslauf zu bestimmen. Einige gehören zum Geschlecht der Götter, andere zu dem der Alfen, wiederum andere zu dem der Zwerge.» Die drei, die Snorri in den Vordergrund stellt, heißen Urd (Urfir), Werdandi und Skuld. Diese drei Namen drücken alle das Unabwendbare des zu­ künftigen Geschehens aus. Der Brunnen am Fuße des Weltbau­ mes wurde Urds Brunnen genannt. Aus diesem Quell mußten die Nornen das «heilige Wasser» schöpfen, mit dem sie den Welt­ baum begossen, um ihn am Leben zu erhalten. Dem Namen nach zu urteilen, muß sich der Schicksalsgedaake ursprünglich nur um Urd kristallisiert haben (vgl. altenglisch wyrd, «Schicksal»); ihre beiden «Schwestern» waren ursprünglich bloß Varianten derselben Gestalt. Urd deutete dann speziell auf das geschehene, das gewordene, Werdandi auf das werdende, Skuld auf das unabwendbar heranrückende Schicksal. Für das Verhältnis zwischen den Göttern und dem Schicksal verweisen wir auf das dritte Kapitel (S. 219). Unter dem Namen «Riesen» sind wiederum Wesen sehr ver­ schiedener Art zusammengefaßt. Der nordische Jötun und der Eoten der Angelsachsen waren vielleicht verschlingende Riesen, wenn die Erklärung, die ihren Namen mit dem Wort «essen» in Beziehung bringt, zutrifft. Im Norden bewohnten sie Jötunheim, die Riesenwelt, die irgendwo im Nordosten, wahrscheinlich im wüsten Gebirge, lag. Der nordische Thurs und der englische Thyrs waren vielmehr Krankheitsdämonen und folglich mit eini­ gen Alfen und Zwergen verwandt. Meistens aber waren die Riesen durch ihre mehr als menschliche Kraft und ihre verhältnismäßig große Gestalt gekennzeichnet; manchmal verkörperten sie die un­ gezügelten Naturkräfte. Sie hatten über die Erde geherrscht, bevor die Götter ihre Ordnung dort einführten. Dann wurden sie ver­ drängt und in unwirtliche Gebiete verwiesen, von wo aus sie die Welt der Götter und der Menschen unausgesetzt bedrohten. Es gab aber auch sehr enge Bande zwischen Riesen und Göttern. Nicht nur, daß die Götter von den Riesen abstammten (Odin war der Enkel des Riesen Bor, Tyr der Sohn Hymirs), sondern Götter heirateten Riesentöchter (Njörd-Skadi, Freyr-Gerd, Odin-Rind), 281

und Riesen versuchten, von Göttinnen Besitz zu ergreifen (ThjaziIdun, Thrym-Freyja); der weise Riese Mimir lebte sogar dauernd bei den Göttern, bevor er den Wanen als Geisel ausgeliefert wurde. In unseren Quellen gehen die Ansichten über ihre geistigen Fähigkeiten auseinander: manche Riesen galten als sehr weise, an­ dere geradezu als dumm. Da sie älter waren als die Götter, wußten sie gewöhnlich besser Bescheid über das Entstehen des Weltalls als diese, wie sie auch um Geheimnisse wußten, die den Göttern verborgen waren. Die Weisheit der Riesen war aber bloß eine An­ häufung wissenswerter Tatsachen, während die der Götter von einer mehr aufbauenden und ordnenden Art war, multum, non multa. Dadurch blieben die Götter den Riesen überlegen. In spä­ teren Geschichten wird die Dummheit der Riesen, die einen star­ ken Gegensatz zu ihrer enormen Kraft bildet, zu einem stets wie­ derkehrenden Motiv. Außer den Bewohnern von Jötunheim hatten noch einige wei­ tere Riesen einen bestimmten Platz im germanischen Kosmos inne. Die Welt selber war aus dem Körper eines Urriesen geschaffen; drei Riesen herrschten über Meer, Luft und Feuer. Ein Meerriese trat häufig, sei es auch mehr oder weniger widerwillig, als Gast­ geber der Götter auf. Er besaß den Kessel, in dem der Göttertrank gebraut werden mußte. Gewöhnlich hieß er Ägir, mitunter auch Hier, Hymir, Gylfi oder Gymir. Ägirs Gattin war die Meergöttin Ran (die «Raubende»; etwa weil sie ertrunkene Seeleute in ihr Reich aufnahm?), ihre Töchter die bereits erwähnten Meerdämo­ nen. Die zahlreichen Feinde Thors, die auf dem Land und nament­ lich im öden Gebirge hausten, lebten als Trolle im späteren Volks­ glauben fort. Auch Ungeheuer wie der Wolf Fenrir und die Welt­ schlange sind zu den Riesen zu rechnen. Sie spielen vor allem eine Rolle in den Mythen über die Entstehung und den Untergang der Welt, wovon jetzt eine Übersicht folgt.

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URSPRUNG UND UNTERGANG DES WELTALLS

Von der Vorstellung, die sich die Südgermanen von der Entste­ hung des Weltalls machten, ist uns sehr wenig erhalten geblieben. Tacitus ist unser wichtigster Gewährsmann; er vermerkt in bezug auf den Ursprung der Germanen folgendes: «Die Germanen ver­ herrlichen in alten Liedern (bei ihnen die einzige Form von Über­ lieferung und Geschichtschreibung) Tuisto, den der Erde ent­ sprossenen Gott. Ihm schreiben sie einen Sohn Mannus als Stammvater und Gründer ihres Volkes zu; Mannus soll drei Söhne gehabt haben, nach deren Namen die germanischen Stämme be­ nannt wurden: Ingävonen, die dem Ozean (d. h. der Nordsee) am nächsten wohnten; Herminonen in der Mitte, und die übrigen, die Istävonen heißen.» Tuisto (in einigen Handschriften heißt er Tuisco) war also ein Sohn von Mutter Erde. Sein Name wird mei­ stens vom Zählwort «zwei» abgeleitet: deutete der Name ur­ sprünglich Zwillinge an, oder war Tuisto vielleicht ein Herma­ phrodit? Ymir, der skandinavische Urriese, hatte auch Nachkom­ men, obwohl er das einzige Lebewesen war. Die Inder und Perser kannten ebenfalls derartige Stammväter. Der Name Mannus ist mit Mann und Mensch verwandt; er erinnert an den indischen Manu und den phrygischen Manes. Von Mannus’ drei Söhnen hat man einen mit Sicherheit identifi­ zieren können: die Ingävonen hatten zweifelsohne den Gott Ing zum Stammvater (vgl. S. 144). Im Falle der beiden anderen Stammväter ist man nicht weiter gekommen als zu Hypothesen. So hat man die Herminonen von Ermin oder Irmin abgeleitet, dem auch die Irminsäule der Sachsen ihren Namen verdanken soll; doch ist dieser Irmin oder Ermin weiter unbekannt, und seine Bezie­ hung zur Irminsäule erscheint als eher zweifelhaft (vgl. S. 160). Das christliche «Wessobrunner Gebet», ein Fragment, das im neunten Jahrhundert in Süddeutschland niedergeschrieben wurde, schildert noch mit germanischen Formeln den Zustand vor der Schöpfung:

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... Daß Erde nicht war, noch oben Himmel, Noch irgendein Baum, noch Berg nicht war, Noch Sonne nicht schien... Noch Mond nicht leuchtete, noch das herrliche Meer... Der Schluß dieses kurzen Gebets schreibt dann die Schöpfung «dem allmächtigen Gott» zu und entspricht also völlig den christ­ lichen Auffassungen. Wiederum ist es Snorri, der in seiner Edda die vollständigste Übersicht der germanischen oder doch zumindest der nordgerma­ nischen Kosmogonie gibt. Er schildert die Entstehung des Men­ schen im Anschluß an die poetische Edda: die Söhne des Riesen Bor (Odin, Wili und We) fanden am Strande zwei Baumstämme, aus denen sie das erste Menschenpaar machten. Den Mann nann­ ten sie Ask (d. h. «Esche»), die Frau Embla; von ihnen stammt das ganze Menschengeschlecht ab. In «Der Seherin Gesicht» ist es Odin, der ihnen «Geist» verlieh; Hönir gab «Gemüt» und Lodur «lebhafte Gesichtsfarbe». Dieses Gedicht gibt uns auch einen ge­ wissen Begriff von den germanischen Anschauungen über die Ent­ stehung des Weltalls, und Snorri ergänzt diese Angaben noch. Doch handelt es sich hier wohl um späte Synthesen, die wir nicht ohne Vorbehalt in die ferne Vergangenheit zurückverlegen dür­ fen. Alte und junge Elemente sind unterschiedslos darin verarbei­ tet worden: neben geradezu primitiv anmutenden Motiven gibt es solche, die auf überraschende Weise an christliche, manichäistische und andere mittelalterliche Vorstellungen erinnern. Und dennoch hat das germanische Denken gerade auf diesem Gebiet seine größte Höhe erreicht und auch den eindrucksvollsten Ausdruck dafür ge­ funden. Die Wölwa beschreibt den Urzustand in einer Weise, die sich manchmal fast buchstäblich mit dem «Wessobrunner Gebet» deckt: Weiß von Riesen, weiland gebornen, die einstmals mich auferzogen: weiß neun Heime, neun Weltreiche, des hehren Weltbaums Wurzeltiefen.

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Urzeit war es, da Ymir hauste: nicht war Sand noch See noch Salzwogen, nicht Erde unten noch oben Himmel, Gähnung grundlos, doch Gras nirgend... die Sonne kannte ihre Säle nicht, der Mond kannte seine Macht noch nicht; die Sterne kannten ihre Stätte nicht. (Der Seherin Gesicht 2, 3, 5)

Mit der Darstellung des Nichts hatte der Dichter natürlich Mühe: nur durch negative Umschreibungen und durch das Hinwegden­ ken des Bestehenden konnte er dazu gelangen. Der Urraum heißt Ginnungagap, was soviel bedeutet wie «Raum der magischen Kräfte». Das Grundwortbedeutet «Zauber, Magie», das davon abgeleitete «Verzauberung, Täuschung»; dieginnregin oder «magischen Mächte» sind die Wanen, die im Gegensatz zu den Äsen (abgesehen von Odin) sich mit Seid befaßten. Der Urraum war also voller Kräfte, die noch keine göttliche Ordnung erfahren hatten. Über die Entstehung des Lebens sagt die ältere Edda nichts; sie erzählt z. B. nicht, wie der Urriese Ymir entstanden war. Was Snorri diesbezüglich mitteilt, mahnt eher an Naturphiloso­ phie als an Religion. Nach ihm lag im Norden des Urraumes ein kaltes Nebelgebiet, Niflheimr, das eigentlich mit der Totenwelt identisch ist, die ja die Edda ebenfalls im Norden lokalisierte. Dort befand sich der Brunnen Hwergelmir, aus dem verschiedene Flüsse entsprangen; im Süden lag als Gegenstück ein sehr warmes Ge­ biet, Muspell, das Reich des Feuerriesen Surt. In seinem nörd­ lichen Teil war das Ginnungagap voller Rauhreif und Staubregen, im südlichen voller Glut und Funken. In der Mitte entstand ein lauwarmer Raum, aus dem der Riese Ymir oder Aurgelmir gebo­ ren wurde. Von ihm stammen die Riesen ab: während er schlief, wurden unter seiner linken Hand ein Mann und eine Frau geboren, und einer seiner Füße erzeugte beim andern einen Sohn. Aus dem schmelzenden Eis entstand die Kuh Audumla; vier Ströme kamen aus ihrem Euter und nährten Ymir. Die Kuh leckte am salzigen Eis, und es kam ein männliches Wesen daraus zum Vorschein: 285

Buri. Dieser hatte einen Sohn, Bor, der die Riesentochter Bestla zur Frau nahm: Odin, Wili und We waren ihre Kinder. Diese drei nun töteten Ymir und legten ihn in die Mitte des Ginnungagap: aus seinem Fleisch machten sie die Erde, aus seinen Knochen die Felsen, aus seinem Blute das Meer, aus seinem Haar die Wälder, aus seinem Gehirn die Wolken und aus seinem Schädel das Firma­ ment, das von vier Zwergen getragen wird. Auch von Weltkatastrophen ist noch eine gewisse Erinnerung bewahrt geblieben: Ymirs Blut verursachte eine Überschwem­ mung, in der alle Riesen mit Ausnahme von Bergelmir umkamen. Dieser wußte sich mit seiner Frau auf dem Untergestell einer Mühle zu retten. Ein andermal ist es ein furchtbarer Winter, der Fimbulvetr oder «Riesenwinter», der alles Leben auf Erden be­ droht; bloß zwei Menschen, Lif und Lifthrasir, bleiben am Leben, verborgen im Weltbaum (der hier Hoddmimir heißt) und ernährt mit der mythischen Flüssigkeit, die aus ihm fließt. Die Vorgeschichte dieser Sammlung von heterogenen Motiven ist sehr kompliziert. Wir müssen Snorris Theorie über die Ent­ stehung des Lebens im Rahmen ähnlicher mittelalterlicher Speku­ lationen beurteilen. Der mittelalterliche Mensch kannte z. B. ein System der vier Elemente, die ihren Eigenschaften entsprechend Paare bildeten und durch ihre Gegensätze ein kosmologisches Gleichgewicht zustande brachten: Feuer und Luft waren «warm», Feuer und Erde «trocken», Luft und Wasser «feucht», Wasser und Erde «kalt». Wahrscheinlich hat der Isländer im Lichte solcher Ansichten die einzelnen Angaben, die er in der Edda und der son­ stigen Überlieferung fand, zu einem wo möglich einheitlichen Ganzen systematisiert. Das «Wafthrudnirlied» hatte vor ihm er­ zählt, Ymir «sei aus Gifttropfen entstanden, welche die Flivagar («Sturmströme») mit sich führten». Diese Ströme identifizierte Snorri mit den Strömen, die aus dem Weltbrunnen entsprangen, und zwar aus Hwergelmir, einer Variante des Brunnens von Urd, die er bei den Reifriesen im kalten Norden lokalisierte. Aus der entgegengesetzten Richtung bedrohte eine andere Macht das Le­ ben: die Wärme, die der aus rauherm Klima stammende Germane so intensiv genoß, wurde ganz im Süden zu einer lodernden Hitze, die alles versengte. In der poetischen Edda finden wir noch keine 286

Spur von einer systematischen Gegenüberstellung zwischen den Elementen und ihren Eigenschaften, so daß sich Snorris Beschrei­ bung am besten als eine Verbindung ursprünglich nicht ver­ wandter oder auf andere Art miteinander verbundener Motive werten läßt. Die Entstehung der Welt aus dem Körper eines Ur­ wesens ; eine Sintflut, die alle Lebewesen bis auf einige wenige aus­ rottet; die Erschaffung der Menschen aus Bäumen; eine mythische Kuh, die das erste menschliche Wesen ernährt: dies sind samt und sonders Motive, die auch in der Mythologie anderer Völker vor­ kommen. Dies bedeutet noch nicht, daß man sie ohne weiteres alle als Lehngut betrachten dürfte, obwohl einzelne, z. B. die versen­ gende Hitze von Muspell, weniger in das germanische Weltbild hineinpassen als in das eines Volkes, das eine «Feuerhölle» kannte. In dieser Hinsicht ist es bedeutungsvoll, daß die Nordgermanen gerade den Ausdruck Muspell von ihren südlichen Nachbarn über­ nommen haben: Muspilli ist ein Wort für «Weltbrand», dem wir zuerst in einem althochdeutschen epischen Fragment (entstanden im 9. Jahrhundert) begegnen und das heute als Titel für das ganze Gedicht verwendet wird. Das zunehmende Interesse für das Weitende ist ein Kennzei­ chen der letzten Phase der germanischen Religion. Solange der Mensch durch Gebet und Opfer und durch seine Ehrfurcht für die von den Göttern festgelegten Gesetze an der Sicherstellung und Festigung der kosmischen Ordnung mitarbeitete, brauchte er sich um das Ende der Welt nicht zu kümmern, wenn schon Naturkata­ strophen, Krieg und Epidemien natürlich den Gedanken an ein mögliches Ende hervorrufen konnten. Je mehr aber die Bekeh­ rung fortschritt und bis in die eigene Gemeinschaft vordrang, je mehr der Zweifel an der Macht der Götter zunahm, und die so­ zialen und religiösen Bande schwächer wurden — um so deutlicher und akuter wurde das Problem. Das Gefühl der Ohnmacht führte zum Nachdenken über die Ursachen dieses Zerfalls; und diese Ur­ sachen fand der Dichter von «Der Seherin Gesicht» in der be­ stehenden Ordnung selber, bei den Göttern:

Da kam zuerst Krieg in die Welt, als Götter Gullweig mit Geren stießen 287

und in Heervaters Halle brannten, dreimal brannten die dreimal geborne... Den Ger warf Odin ins Gegnerheer: der erste Krieg kam in die Welt; es brach der Bordwall der Burg der Äsen, es stampften Wanen streitkühn die Flur... da wankten Vertrag, Wort und Treuschwur, alle Eide, die sie ausgetauscht. (Der Seherin Gesicht 21, 24, 26)

Durch den Mord an Gullweig, einer zauberkundigen Wölwa, und den nachfolgenden Krieg zwischen Wanen und Äsen wurde der Keim zum späteren Verderben gelegt; hier wurde die Sittenord­ nung zum erstenmal angegriffen. Aber es ist eigentlich Balders Tod, der den Auftakt gibt zum Ende der Welt; allerlei Ungeheuer er­ scheinen da: Eine Alte östlich im Erzwald saß; die Brut Fenrirs gebar sie dort. Von ihnen allen wird einer dann des Taglichts Töter, trollgestaltet.

Er füllt sich mit Fleisch gefallner Männer, rötet mit Blut der Rater Sitz. Schwarz wird die Sonne die Sommer drauf; Wetter wüten...

Gellend heult Garm vor Gnipahellir: es reißt die Fessel, es rennt der Wolf...

Es gärt bei den Riesen; des Gjallarhorns, des alten, Klang, kündet das Ende. Hell bläst Heimdall, das Horn ragt auf; Odin murmelt mit Mimirs Haupt. 288

Yggdrasils Stamm steht erzitternd, es rauscht der Baumgreis, der Riese kommt los... (Ebd. 40, 41, 44, 46, 47)

Von überallher droht Gefahr:

Hrym (ein Riese) von Osten, er hebt den Schild; im Riesenzorn rast die Schlange, sie schlägt die Wellen; es schreit der Aar, Leichen reißt er; los kommt Nagelfar (das Totenschiff). Ein Kiel fährt von Norden: es kommen der Hel Leute zum Land; Loki steuert. Mit dem Wolfe zieht die wilde Schar... Surt (der Feuerriese) kommt von Süden mit sengender Glut; von der Götter Schwert gleißt die Sonne; Riesinnen fallen, Felsen brechen; zur Hel ziehn die Männer, der Himmel birst. (Ebd. 50, 51, 52)

Der Wolf tötet Odin, wird aber seinerseits von Widar getötet; Freyr fällt durch Surts Hand. Thor tötet die Weltschlange, stirbt aber selber «neun Schritte von der toten Schlange entfernt».

Die Sonne verlischt, das Land sinkt ins Meer; vom Himmel stürzen die heitern Sterne. Lohe umtost den Lebensnährer; hohe Hitze steigt himmelan. (Ebd. 57)

Noch andere Motive kommen vor: ein Schild hat die Erde vor den zu starken Strahlen der Sonne geschützt; wenn der zerbricht, verbrennt alles zu Asche; zwei «Sonnenwölfe» (Nebensonnen?) drohen die Sonne zu verschlingen; ein Hahn mit goldenem Kamm weckt die Götter, ein «feuerroter» Hahn kräht in der Halle von Hel usw. Der Dichter stellte sich also den Untergang der Welt vor 289

als einen Kampf der Götter, welche die Weltordnung instandhielten, gegen die Mächte, die Chaos und Vernichtung vertraten; als die Götter fielen, wurde das kosmische Gleichgewicht zerstört. Der Mensch hatte wohl selten großen Anteil an diesem Konflikt: der Endkampf wurde ja auf einer ganz anderen Ebene ausgetragen. Der heroische Odinkult aber schaltete ihn in dieses Weltgeschehen ein: die gefallenen Helden bildeten die Kriegsmacht, die Odin in seinem Kampf wider die Dämonen beistehen mußte. Die «Götter­ dämmerung» war aber bloß der Auftakt zu einem neuen Beginn:

Seh’ aufsteigen zum andern Male Land aus Fluten, frisch ergrünend: Fälle schäumen, es schwebt der Aar, der auf dem Felsen Fische weidet. Auf dem Idafeld die Äsen sich finden und reden dort vom riesigen Wurm und denken da der großen Dinge und alter Runen des Raterfürsten (Odin). Unbesät werden Äcker tragen; Böses wird besser; Balder kehrt heim; Hödur und Balder hausen in Walhall froh, die Walgötter... (Ebd. J9, 60, 62)

Indem sie «den riesigen Wurm», die allumfassende Weltschlange, wieder um die Erde legen, gründen die Äsen eine neue Weltord­ nung. Auf unverdorbener Grundlage bauen sie eine ideale Welt, in der die Natur selber die Bedürfnisse des Menschen befriedigen wird, und wo einzig schuldlose Götter herrschen werden. Viel Neues enthält diese ideale Welt indessen nicht: abermals werden Helden in einen «Saal mit goldenen Dächern» aufgenommen, der nichts anderes ist als eine erneuerte Walhalla. Zu transzendentalen Auffassungen gelangte das Denken der vorchristlichen Germanen selten oder nie. Es ist nicht bekannt, ob die anderen germanischen Völker eben290

falls eine so ausgedehnte Eschatologie aufgebaut hatten. Hätten wir die «Weissagung der Seherin» nicht, so würde auch unser Bild der nordischen viel dürftiger und unzusammenhängender aus­ sehen. Vergessen wir aber nicht, daß dieses großartige Gesicht kein alter, im Kultus verankerter Text ist; es ist das Werk eines späten, schöpferisch tätigen Dichters, der eine Anzahl Motive zu einem einheitlichen Ganzen zu vereinigen wußte. Dabei ist noch folgendes zu erwägen: obwohl man kaum in der Lage ist, mit Sicherheit festzustellen, ob einzelne Züge von anderen Völkern oder Religionen herstammen, so unterliegt es doch keinem Zwei­ fel, daß sich das Gedicht als Ganzes ohne fremde Impulse nicht recht erklären läßt. Die anderen germanischen Völker sind viel­ leicht nie zu einer derart systematischen Darlegung von Anfang und Ende gelangt, oder sie fanden keinen genialen Dichter, der ihrem Vorgefühl des bevorstehenden Weitendes in so treffender Weise Ausdruck zu verleihen vermochte.

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DIE GERMANEN UND DAS CHRISTENTUM

Die Bekehrung der Germanen war ein langwieriger und mühsamer Vorgang. Zwischen den ersten Berichten über christliche Germa­ nen und dem Verschwinden der letzten organisierten Formen des Heidentums liegen sieben Jahrhunderte. Die Umstände, unter de­ nen die Bekehrung stattfand, die Methoden, die dabei angewendet wurden, der Verlauf des Überganges mit seinem oft langen Hin und Her, dies alles sind Aspekte, die für jedes germanische Volk einzeln untersucht werden müßten, ein Unterfangen, das natürlich im Rahmen dieses Werkes undenkbar ist. Wir wollen daher lieber nach einer kurzen geschichtlichen Übersicht einige Konstanten zu unterscheiden versuchen, die ihrerseits wiederum das Wesen der germanischen Religion beleuchten. Mehrere germanische Völker kamen mit dem Arianismus in Be­ rührung, bevor sie zur Kirche von Rom übertraten. Die Goten lernten ihn schon im vierten Jahrhundert an den Ufern des Schwar­ zen Meeres kennen. Mit ihnen und anderen Völkern, wie die Wan­ dalen und Burgunder, kam diese Form des Christentums auch nach Westen; dort bekannten sich fast alle Germanen dazu, bis die Franken bei der Bekehrung Chlodwigs im Jahre 496 zum Katholi­ zismus übergingen. Von da an nahm der Einfluß des Arianismus nach und nach ab, und wurde die Einheit des Christentums unter den Germanen, mit einer einzigen Ausnahme, vorläufig nicht mehr bedroht. Nur in England kam es zu einer gefährlichen Aus­ einandersetzung zwischen zwei Richtungen. Dort war die Mis­ sionsarbeit fast zu gleicher Zeit sowohl von Rom (Augustinus 5 97 iij Kent) als von der irischen Kirche, die weit von den festländi­ schen Ereignissen eine Sonderentwicklung durchgemacht hatte, unternommen worden. Nach einem ziemlich schnellen Wachstum (sei es auch nicht ohne Rückschläge) standen sich die beiden Rich­ tungen 664 auf dem Konzil von Whitby gegenüber: dort fiel die Entscheidung zugunsten Roms und gegen den irischen Partikularismus. In Friesland begannen Wilfrid und Willibrord ihr Bekeh­ rungswerk noch vor dem Ende des siebten Jahrhunderts; aber das

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Heidentum ergab sich erst ein Jahrhundert später. Noch 755 ko­ stete eine heidnische Reaktion Bonifatius das Leben. Bei den Sach­ sen bedurfte es der Macht der fränkischen Könige, um dem Chri­ stentum zum Sieg zu verhelfen: 785 ließ sich ihr Fürst Widukind taufen, und vor dem Ende des achten Jahrhunderts hörte der or­ ganisierte Widerstand der Sachsen auf. In Dänemark begann das systematische Bekehrungswerk noch im neunten Jahrhundert, aber die von Ansgarius (831 Erzbischof von Hamburg, 847 von Bremen) übernommene Aufgabe erwies sich vorderhand als zu schwer. Erst um 98 5 konnte der dänische König Harald Blauzahn auf die Runensteine von Jelling (Jütland) schrei­ ben lassen, er habe «ganz Dänemark und Norwegen unterworfen und die Dänen zu Christen gemacht» (Abb. 11). Auf Island gab es zwar schon Christen unter den ersten Siedlern, aber nach einer oder zwei Generationen hatte das Land wieder eine rein heidnische 296

Abb. ii Ein Monument aus der Bekehrungszeit: der jüngere Runenstein von Jelling (Jütland). Eine Seite ist mit dem größten Teil der Inschrift be­ deckt, auf den beiden anderen sind resp. Christus mit ausgebreiteten Armen und ein Drache dargestellt. Die Inschrift erwähnt die Bekehrung Dänemarks durch Harald Blauzahn. Eine Kopie dieses Steins steht bei der Domkirche in Utrecht.

Kultur. 981 erschienen dann die ersten Missionare auf der Insel, und obwohl ihr Werk vielen Widerwärtigkeiten ausgesetzt war, war der Zustand im Jahre 1000 soweit gediehen, daß ein Entscheid des Things das Christentum zur offiziellen Religion erklärte und das Opfern an heidnische Götter nur noch im geheimen gestattete. Hauptsächlich infolge fortwährender Beziehungen zu England be­ kam Norwegen schon 933 einen christlichen König, Hakon den Guten; dennoch wurde dieser noch im Jahre 960 nach heidnischem Brauch beerdigt. Der Widerstand gegen die neue Religion blieb in manchen Gegenden offenbar stark; 995 kannte Norwegen sogar ein jähes Wiederaufleben des Heidentums. Dreißig Jahre später aber war das Land des heiligen Olaf (1004—1030) wohl als christ­ lich zu betrachten. Schweden scheint stärker an seiner alten Religion festgehalten zu haben: dort gab es noch nach 1120 eine kurze heid­ nische Reaktion, obwohl doch schon im elften Jahrhundert ein er297

lieblicher Teil der Bevölkerung zum Christentum übergetreten war. Bei der Neubewertung der germanischen Kultur hat die Inter­ pretation des Bekehrungsprozesses große Änderungen erfahren. Verschiedentlich hat man die «heidnische Toleranz» nachdrücklich der «christlichen Intoleranz» entgegengestellt. Noch verbreiteter ist die Meinung, die Bekehrung der germanischen Völker beruhe in den meisten Fällen auf politischen Entscheidungen von Fürsten. Überall hat man hinter der Bekehrung politischen Vorteil, Zwang, Gewalt oder Bestechung vermutet und gesucht. In seiner wohl­ erwogenen und eingehenden Abhandlung über die Begegnung der nordischen Religion mit dem Christentum kommt der Schwede Ljungberg aber zu einem Urteil, das psychologisch und religions­ geschichtlich besser begründet ist. Paasche unterschied in der Bekehrung der Germanen drei Aspekte oder, so man will, drei Ebenen: den Kultus, die Sitten und den Glauben. Die Bekehrung habe allmählich von der einen Ebene auf die andere übergegriffen. Ljungberg kehrt die Reihenfolge um: der Glaube war das erste, was die Missionare zu übermitteln suchten. Es war nicht das erste Mal, daß die Germanen eine fremde Religion kennenlernten; Spuren solcher Kontakte finden wir schon in der Prähistorie. Ein außerordentlich schlagendes Beispiel kam erst neu­ lich an den Tag. Bei Ausgrabungen in der Nähe von Birka in Schweden entdeckte man ein kleines Buddha-Figürchen, das um den Hals einen im Norden angefertigten Ring trug (Tafel 32). War wohl der Eigentümer in irgendeiner Weise mit dem Buddhis­ mus in Berührung gekommen? Verehrte er etwa selber diesen orientalischen Gott? Was aber Kontakte mit anderen Göttern und Religionen betrifft, brachte nun das Christentum etwas Neues: für alles, was den Glauben betraf, war es exklusiv. Es duldete keine fremden Götter; es gestattete keine Vermischung von Altem und Neuem, sondern verlangte einen völligen Bruch. Gerade in dieser Hinsicht war die germanische Religion sehr tolerant. Die Germa­ nen verzichteten oft so leicht auf ihren Glauben, daß man sich un­ willkürlich fragt, ob sie eigentlich überhaupt an ihre Götter glaub­ ten. Daher auch richteten die Missionare ihre Angriffe zunächst gegen die Götter, wie u. a. aus dem Rat hervorgeht, den Bischof

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Daniel von Winchester dem Missionar Bonifatius erteilte: er solle damit anfangen, den Glauben der Germanen mit Sanftmut und ohne Spott zu widerlegen. Er solle sie auf folgendes aufmerksam machen: ihre Götter und Göttinnen waren wie Menschen gebo­ ren, sie hatten einen Anfang; hatte denn auch die Welt einen An­ fang, oder war die schon immer dagewesen? Wenn sie nicht immer dagewesen war, wer hatte sie dann erschaffen? Oder, wenn die Heiden meinten, sie hätten schon immer bestanden, wer hatte sie dann regiert, ehe die Götter geboren wurden? Das kosmogonische und theogonische System des Germanen blieb auf solche Fragen die Antwort schuldig; gehörten diese doch einer ganz anderen Denkart an. Er glaubte an seine Götter, weil sie ihm halfen; sein Glaube fand keine Bestätigung im abstrakten Denken, sondern in der Wirksamkeit seines Gebetes und seines Opfers. Wir haben aber im späten Heidentum verschiedene Anzeichen vom Nahen des Christentums gefunden. Die Germanen versuchten, den Got­ tesbegriff transzendental zu gestalten: Odin wurde nicht nur zum Vater und Fürsten der Götter, sondern auch zum Herrscher über das Weltall. In jener Zeit kamen Odins Beinamen «Allvater», «Siegvater» u. dgl. auf. Doch hafteten zu viele Unvollkommen­ heiten dem Namen Odin an; deshalb griff man zu reinen oder na­ menlosen Gottheiten: Balder, oder ein «Gott, der die Sonne er­ schuf», ein «Gott, den ich nicht zu nennen wage», ein «allmächti­ ger Ase», wurden gelegentlich dem Christengott gegenüberge­ stellt. Im übrigen lag die Antwort auf die großen Fragen über Be­ ginn und Ende auf der Ebene des Mythus, nicht auf jener der Theologie oder des Dogmas. Auf den Kultus kam es letzten Endes an. Er war in erster Linie dazu da, von den Göttern Wohlstand, Frieden und Sieg zu erhalten. Er bildete den eigentlichen Schwer­ punkt der Religion. Sogar wenn ein Germane anerkannte, daß der Gott der Christen den Verstand mehr befriedigte als sein Odin oder Thor, so war immer noch zu beweisen, daß dieser Gott für ihn auch ein besserer Herr sein würde. Er war eigentlich durch einen uralten Vertrag mit seinen Göttern verbunden: solange er ihnen in der richtigen Weise diente, erfüllten sie seine Wünsche. Warum also sollte er sie für einen Gott verlassen, von Dem er noch nicht wußte, ob Er ihm die gleiche Gunst erweisen würde, 299

von Dessen Macht er noch keinen Beweis gesehen hatte? Deshalb folgte auf die Glaubensverkündigung häufig eine Kraftprobe zwi­ schen der alten und der neuen Religion bzw. zwischen deren Ver­ tretern. Hinsichtlich der Form, welche diese Kraftprobe in hagiographischen Quellen und Sagas annimmt, kann man freilich ge­ wisse Zweifel hegen; ihre psychologische Tragweite hingegen steht fest. Der Germane erwartete von seinen Göttern eine Reak­ tion: der Boden würde sich spalten unter den Füßen derer, welche die Götter für machtlos erklärten und sich unterstanden, ihre Tempel und Bilder zu vernichten; oder die Götter würden Miß­ ernten und Krankheiten senden, weil ihre Altäre verlassen wur­ den; sie würden diejenigen, die sich zu Christus bekannten, in der Schlacht unterliegen lassen. Blieb diese Rache der Götter aus, wur­ den die Ernten nach der Bekehrung nicht schlechter, sondern bes­ ser usw., dann war für die Germanen der Beweis geliefert, daß Christus der Mächtigere war. So stand beim Gehöft des Isländers Kodran von Gilja ein Stein, bei dem er und seine Verwandten opfer­ ten, weil sie glaubten, es wohne ein helfender Geist in ihm. Kodrans Sohn Thorwald und Bischof Fridrek versuchten Kodran zu überreden, sich taufen zu lassen; er aber weigerte sich, solange nicht der Bischof bewiesen hätte, daß er mächtiger sei als der Haus­ geist. Da goß der Bischof an drei aufeinanderfolgenden Tagen Weihwasser über den Stein; der Geist erschien Kodran jedesmal im Traum und beklagte sich darüber, daß man ihn mit kochendem Wasser übergossen habe. Kodran wurde immer mehr von der Ohnmacht seines Geistes überzeugt; bei dessen letzter Erschei­ nung sagte er: «Ich habe dir als einem nützlichen und mächtigen Gott gedient, solange ich den wahren Gott nicht kannte. Nachdem ich dich aber als einen trügerischen und machtlosen Gott kennen­ gelernt habe, steht mir das Recht zu, dich zu verlassen und mich unter den Schutz eines Gottes zu begeben, der viel besser und mächtiger ist als du. Ich mache mich dadurch in keiner Weise der Untreue schuldig.» Jahre des Mißgeschicks und Unheils führten mehr als einmal zur Rückkehr zum Heidentum: «Die Schweden und die Bewohner Gotlands halten den christlichen Glauben in Ehren, wenn alles wunschgemäß und glücklich verläuft. Wenn aber irgendein Miß­ 300

geschick sie trifft, sei es Mißernte, Dürre oder Sturm, Feindesan­ griff oder Brand, so verfolgen sie den Glauben, den sie mit Worten zu ehren schienen, und zwar verfolgen sie ihn nicht nur mit Wor­ ten, sondern auch mit Taten; und sie verfolgen auch die gläubigen Christen und vertreiben sie aus ihrem Land.»Was der Mönch Aelnoth hier über Schweden mitteilt, wird wohl auch anderswo vor­ gekommen sein: wenn Christus das Unheil nicht abwendete, so waren vielleicht die verlassenen Götter dazu imstand. Es geht nicht an, hier einfach von «Oberflächlichkeit» zu sprechen. Die germanische Religion hatte einen stark utilitaristischen und eudämonistischen Einschlag. Der bekehrte Germane behielt, auch wenn er während längerer Zeit die Glaubensverkündigung ange­ hört hatte, seine gewohnte Denkart wenigstens bis zu einem ge­ wissen Grad bei. Seine Anhänglichkeit an Christus war deswegen keineswegs geringer: sie war bloß anders begründet als bei einem Menschen, der in einer rein christlichen Umwelt geboren und auf­ gewachsen war. Aus diesen allgemeinen Betrachtungen darf man nun aber auch wieder nicht schließen, daß jede Bekehrung aus­ schließlich oder doch hauptsächlich auf einem solchen Denkmecha­ nismus beruht hätte. Es gab zweifellos Bekehrte, die eine bessere Einsicht in den Wert der christlichen Lehre hatten, sowie auch Nichtbekehrte erkannten, daß ihr Glaube Lücken aufwies. Ohne diese Erkenntnis läßt sich z. B. die «Weissagung der Seherin» nicht erklären. Aus dem Studium von Einzelfällen erhellt, daß das Pro­ blem meistens zu kompliziert ist, als daß wir es mit einer einzigen allgemeinen Formel lösen könnten. In Ljungbergs Übersicht fin­ den wir alle möglichen Reaktionen vertreten, von einer frommen Annahme bis zu einer erbitterten Bekämpfung des neuen Glau­ bens. Das Problem wird womöglich noch komplizierter, wenn wir neben der religiösen Überzeugung noch andere Faktoren zu ent­ decken glauben. Im Anfang des siebten Jahrhunderts z. B. ließ König Ethelbert von Kent sich mit zehntausend seiner Untertanen vom Missionar Augustinus taufen. Derartige Massenbekehrungen werden in Ha­ giographien und in historischen Werken des öftern erwähnt. Für uns sind sie schwer verständlich, da wir unter einer Bekehrung in erster Linie eine individuelle, innerliche Umwandlung verstehen. 301

Dennoch sollte man Ausdrücke wie «äußerlich» und «oberfläch­ lich» nur mit Vorbehalt auf die Massenbekehrung anwenden. Für die Germanen galt bereits die Regel, die wir namentlich aus der Reformationszeit kennen: cuius regio, eius religio. Vollendete Treue zwischen dem Fürsten und seiner Gefolgschaft war nicht möglich, wenn sie keine Kultusgemeinschaft miteinander bilden konnten; und dazu mußten sie die gleichen Götter verehren. Es ist deshalb verfehlt, zu glauben, Krieger, die sich zusammen mit ihrem Herrn taufen ließen, hätten den von ihm anerkannten Chri­ stus nicht ebenso aufrichtig akzeptiert, wie sie zuvor Wodan oder einen andern Gott verehrt hatten. Wenn wir ihnen nach der Bekeh­ rung einen weniger tiefempfundenen Glauben zuschreiben, ziehen wir damit zugleich ihre Treue in Zweifel. Vom Standpunkt des Christentums aus gesehen, ist eine Bekehrung auf Grund solcher Erwägungen natürlich «oberflächlich» und «äußerlich», im Rah­ men des germanischen Denkens aber wird sie zu einem durchaus verständlichen Vorgang. Ein ganz anderes und doch im Grunde eng verwandtes Problem bildet das Verhalten mancher bekehrten Fürsten, die ihre Unterta­ nen mit Gewalt dem neuen Glauben zuführen wollten. Diejenigen, die sich weigerten, dem Fürsten zu folgen, wurden oft mit der gleichen Strenge behandelt wie Treulose und Verräter. Diese Gleichstellung erklärt wenigstens teilweise die Grausamkeit, mit der u. a. einige norwegische Könige widerspenstige Untertanen zur Annahme des Christentums zwingen wollten. Auch die ger­ manische Religion hat ihre Märtyrer gehabt: wer beispielsweise während der Regierung von Olaf Tryggvason die Götter seiner Vorfahren zu verlassen sich weigerte, wurde verbannt oder gefol­ tert und getötet. Keine Folterung war zu grausam, um die Wider­ spenstigen zur Unterwerfung zu bringen. Rein religiös war dieser Kampf nicht. Das Bekehrungsverfahren der norwegischen Könige fiel mit der politischen Einigung des Landes zusammen, und der Widerstand gegen diese Politik konnte sich auf religiöse Erwä­ gungen, namentlich auf die Treue gegenüber den Göttern der Vor­ fahren, berufen. Die Formen, die dieser Kampf annahm, werden nur dann verständlich, wenn man nicht aus den Augen verliert, daß die Religion für die Germanen eng verbunden war mit dem Leben 302

der Völker. Sie war das Band, das ein Volk zusammenhielt: Kul­ tuseinheit und politische Einheit waren gleichbedeutend. Das Ver­ halten der norwegischen Könige ist denn auch in erster Linie aus dem germanischen Denken heraus zu verstehen. In der Darstellung der Bekehrungs geschiehte der germanischen Völker wird der Entschluß eines Fürsten, zum Christentum über­ zutreten, sehr oft auf politische Erwägungen zurückgeführt. Auch dies ist bis zu einem gewissen Grad eine Verkennung des germani­ schen Denkens. Wenn sich beispielsweise ein germanischer Fürst unter den Schutz des byzantinischen Kaisers stellte und diesen um Hilfe gegen seine Feinde ersuchte, so war es für ihn beinahe selbst­ verständlich, daß er zugleich den Gott seines Schutzherrn als den seinigen anerkannte. Vielleicht sah er auch in Christus einen ver­ läßlicheren Beschützer seines Landes und seines Volkes, von dem er tatkräftigere Hilfe zur Wahrung und Mehrung von Wohlstand und Ansehen erwarten konnte, als von den alten Göttern. Dies will aber durchaus nicht heißen, daß sein Entschluß, den christ­ lichen Glauben anzunehmen, für ihn als Germanen keine religiöse Bedeutung gehabt hätte. Wer von der Annahme ausgeht, die Ger­ manen hätten das Christentum aus Berechnung angenommen, be­ hauptet damit zugleich, daß ihr vorheriger Glaube schon kaum mehr als ein bloßer äußerer Schein gewesen sei. Nun beweisen aber gerade die Reaktionen der Nichtbekehrten, daß diese letzte Annahme selten zutrifft. Natürlich ist die Bekehrung nicht überall gleich tief durchge­ drungen: nicht jedermann konnte sich von Anfang an zu einer grundlegenden Wandlung im Denken und Tun entschließen. Dies galt zunächst schon für diejenigen, die bloß die «erste Segnung (primsigning) empfangen hatten. Es war den Heiden gewöhnlich verboten, auf dem Hoheitsgebiet christlicher Staaten zu verweilen oder dort Handel zu treiben. Um dennoch Beziehungen mit diesen Ländern anknüpfen zu können, unterzogen sich viele Skandina­ vier einer unter bestimmten Bedingungen gewährten «ersten Seg­ nung»; zum Beweise dafür, daß sie diese Segnung erhalten hatten, trugen sie ein Kreuz. Es war ihnen verboten, fürderhin an heidni­ schen Opfern teilzunehmen, doch dürften die meisten von ihnen nach ihrer Rückkehr in die Heimat zu ihren früheren Göttern zu303

rückgekehrt sein. Verschiedene Runensteine beweisen aber, daß wenigstens einzelne, die das Christentum besser kennengelernt hatten, sich weiterhin als Christen betrachteten und in ihrer Hei­ mat eine Vorhut des Christentums bildeten. Wenn man den Verlauf der Bekehrung studiert, fällt einem die oft sehr weitgehende Toleranz auf, mit der die Germanen die er­ sten Missionare empfingen. Häufig durften diese ohne weiteres ihren Glauben verkündigen. Manche betrachten diese Duldsam­ keit als kennzeichnend für den Polytheismus, während der Mono­ theismus, ihrer Meinung nach, eher Anlaß zur Intoleranz gibt. Dies aber ist nur eine teilweise Erklärung. Wenn auch das Heiden­ tum seine Märtyrer hatte, so kennen wir doch genug Beispiele von Christen, die durch Nichtbekehrte verfolgt wurden. Der Wider­ stand der angestammten Kultusorganisation gegen die Neuerer wurde nämlich meistens in dem Maße stärker, in dem das Chri­ stentum Fortschritte zu verzeichnen hatte. Es verbot ja seinen An­ hängern, weiterhin an den heidnischen Kultfeiern teilzunehmen. Dadurch gefährdete es Wohlergehen und Existenz der Gemein­ schaft, die ja gerade von den kollektiven Opfern abhängig waren. Im Jahr 996, knapp vier Jahre vor dem offiziellen Übergang zum Christentum, wurde auf Island ein Gesetz erlassen, das bestimmte Blutsverwandte von Christen verpflichtete, ihre widerspenstigen Angehörigen wegen Entehrung der Götter vor Gericht zu ziehen. Diese Pflicht oblag denen, die mit den Bekehrten nicht so eng ver­ wandt waren, daß die Bande des Blutes sie zur Solidarität mit die­ sen verpflichteten, jedoch eng genug, um die Bekehrung als «Sip­ penschande» zu empfinden. Die Sippe war ja als Ganzes für Taten verantwortlich, die der Gemeinschaft schadeten. Sie hatte dafür zu sorgen, daß ihre Mitglieder ihren Verpflichtungen gerecht wurden. Ljungberg hat sich bei seinen Forschungen besonders mit den Reaktionen des schwedischen Heidentums gegen die Christen be­ faßt. Dabei stellte er fest, daß diese Ausbrüche in ziemlich regel­ mäßigen Abständen von etwa neun Jahren oder einem Vielfachen von neun Jahren stattfanden (1021, 1039, 1057, 1066, 1075, 1084 1120 n. Chr.), daß sie also wahrscheinlich mit den alle neun Jahre stattfindenden Opferfeiern in Uppsala zusammenfielen. Psycholo­ gisch läßt sich dies sehr gut erklären: die Christen weigerten sich,

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bei diesen Opfern mitzuwirken; also trugen sie die Verantwortung für allfällige Katastrophen, die in den bevorstehenden neun Jahren das Volk befallen würden. Zu einem solchen Kultfest fand sich immer eine große Menschenmenge aus dem ganzen Land zusam­ men: Ausbrüche der «Volkswut» waren also fast unvermeidlich. Vom Standpunkt der Massenpsychologie aus betrachtet, kommen uns die in historischen Werken geschilderten Gewalttaten als sehr wahrscheinlich vor. Reagierte eine Gemeinschaft hingegen nicht mehr gegen die Einbrüche in ihre religiöse Einheit, dann bewies sie dadurch, daß die Lebenskraft ihrer Religion als soziales Band bereits gebrochen war. Neben den rein oder hauptsächlich religiö­ sen Faktoren gab es noch andere, die Reaktionen des nicht bekehr­ ten Bevölkerungsteiles hervorriefen. So verlief in Norwegen die Christianisierung mehr oder weniger parallel mit der politischen Einigung des Landes. Die norwegischen Könige, die das Land unter ihre Herrschaft bringen wollten, waren zugleich die Vor­ kämpfer des Christentums. Im Widerstand gegen ihre Bestrebun­ gen kamen neben religiösen auch politische und soziale Tendenzen zum Ausdruck. Das gleiche wird wohl im Kampfe Karls des Gro­ ßen gegen die Sachsen der Fall gewesen sein. Doch sollte das reli­ giöse Element auf keinen Fall zu gering eingeschätzt werden. Wir wissen z. B., daß die norwegischen Bauern die Weigerung ihrer Könige, die Opferfeiern zu leiten oder auch nur daran teilzuneh­ men, bereits als eine ernste Bedrohung ihrer Religion betrachteten: durch diese Weigerung wurde ja die unio mystica, die mystische Einheit mit den Göttern verunmöglicht oder doch wenigstens ge­ fährdet. Betrachten wir noch kurz die Endphase der Bekehrungsge­ schichte Schwedens, nämlich den Anfang des zwölften Jahrhun­ derts. Nach dem Tode von König Stenkils, der auf religiösem Ge­ biet sehr vorsichtig vorgegangen war, wurde sein Sohn Inge Kö­ nig. Inge eiferte sehr für das Christentum und schaffte alle heid­ nischen Opfer in Schweden ab. Die Schweden aber hingen sehr an ihren alten Bräuchen und weigerten sich, die neue Religion anzu­ nehmen. Inges Vorgehen erschien ihnen als ein Verstoß gegen die Gesetze des Landes. Bei einer Volksversammlung stellten sie ihn vor die Wahl: entweder das alte Gesetz zu respektieren (und also 3°5

wieder das Opfer für das ganze Reich darzubringen), oder auf den Thron zu verzichten. Da Inge sich weigerte, wider sein Gewissen zu handeln, verhöhnten ihn die Schweden, bewarfen ihn mit Stei­ nen und vertrieben ihn vom Thing. Sein Schwager Sven anerbot sich, an seiner Statt das Opfer vorzunehmen, und daraufhin aner­ kannten sie ihn als König über ganz Schweden. Ein Pferd wurde geopfert, das Fleisch unter die Anwesenden verteilt, und der Op­ ferpfahl, der an dieser Stelle stand, mit dem Blute rot gefärbt. Alle Schweden verließen den christlichen Glauben und opferten aufs neue den Göttern. König Inge floh nach Västergötland, kam nach drei Jahren mit einem kleinen Heer zurück und tötete Blotsven, «Sven den Opferer», wie sein Schwager nach seiner Thronbestei­ gung genannt wurde. Inge nahm die Macht wieder an sich, führte das Christentum erneut ein und regierte über das Land bis zu sei­ nem Tod. Aus dieser Geschichte geht klar hervor, wie eng Prie­ steramt und Königswürde, religiöse und politische Macht, mitein­ ander verknüpft waren. Oder vielmehr: die religiöse und die po­ litische Macht hatten beide den gleichen Ausgangspunkt: die Götter. An dieser Unduldsamkeit auf dem Gebiet des Kultes können wir also die innere Kraft des Heidentums ermessen. Wenn ein Missionar es wagen konnte, Götterbilder und Tempel zu zerstö­ ren, ohne daß eine heidnische Reaktion erfolgte, dann darf man daraus schließen, daß der Bekehrungsprozeß — zumindest in seinen negativen Aspekten - vollzogen war. Wenn bei den Konvertiten noch ein Überrest von Glauben an die Macht ihrer früheren Göt­ ter vorhanden war, so lieferte die Tatsache, daß die Götter den Vermessenen nicht straften, einen schlagenden Beweis für ihre Ohnmacht. Häufig werten die Texte gerade dieses Entfernen der letzten greifbaren Merkmale des Heidentums als eine Kraftprobe, und psychologisch gesehen war es das wohl auch oft. Wenn auch das Christentum auf dem Gebiet des Glaubens den ganzen Menschen für sich beanspruchte, so duldete es doch im Kultus gewisse Gepflogenheiten und Formen, die auch das Heiden­ tum gekannt hatte, wie etwa die Feste, die mit dem Kreislauf des Jahres verbunden waren, und die Zunftfeste. Dabei wurde aber alles, was an die heidnischen Götter gemahnte, sorgfältig ausge306

merzt. Zu einem Synkretismus im eigentlichen Sinn kam es nicht, wennschon manche während der Übergangszeit sowohl Christus wie Thor verehrten; so beispielsweise ein gewisser Helgi, der sich auf Island niedergelassen hatte. Von ihm heißt es, er habe sich einen sehr gemischten Glauben zurechtgemacht: er glaubte zwar an Christus, aber bei Seereisen und schwierigen Unternehmungen rief er Thor an. Auch Redwald, der Vater des englischen Königs Earpwald, hatte in Kent (dem Gebiet, wo Augustinus 5 97 zu pre­ digen begonnen hatte) das Christentum kennengelernt; im Heilig­ tum bei seinem Haus aber befand sich neben einem Christus ge­ weihten Altar ein kleiner Altar für die Opfer an die heidnischen Götter. Solche Zustände konnten natürlich am ehesten in Gebie­ ten entstehen, wo die kirchliche Organisation noch nicht bestand oder noch sehr schwach war. Diese Organisation kam bloß sehr allmählich zustande, besonders in weit entfernt liegenden Gebie­ ten. Auf Island wurden nach dem Jahre 1000 viele Kirchen gebaut, doch war die Zahl der Priester viel zu klein, sie zu bedienen. Des­ halb ließen diejenigen, welche die Kirchen gebaut hatten, sich selbst oder einen Verwandten oder Untergebenen zum Priester weihen. Die Ausländer, die in der Missionierung mitarbeiteten, waren zu wenig zahlreich oder hatten zu wenig Autorität, um diese neuen Kerne zu einem festgefügten Ganzen zusammenfassen zu können. Das geschah erst ein halbes Jahrhundert später, unter dem ersten isländischen Bischof Isleif Gizurarson. In jener Zeit war es schwer, den Kontakt mit den Zentralorganen der Kirche aufrechtzuerhalten, auch noch nachdem Island dem Erzbischof von Lund unterstellt worden war. Ob wir daraus aber Argumente für ein Weiterbestehen des Heidentums ableiten dürfen, ist doch sehr zweifelhaft. Über die Frage, ob und wie weit die germanische Religion nach der offiziellen Bekehrung noch fortbestanden habe, herrscht noch viel Unsicherheit, namentlich auch deshalb, weil häufig ideolo­ gische Faktoren mitspielen. Überzeugte Verteidiger der germani­ schen Kultur wie Neckel und Kummer, die im Bekehrungsprozeß gern eine oberflächliche oder auferzwungene, unnatürliche Wand­ lung sahen, wiesen mit Nachdruck auf die Symptome hin, die für ein längeres Fortbestehen und Nachwirken der germanischen Re3°7

ligion zeugen. Nun wird gewiß niemand behaupten, ein Isländer, der 999 noch ein überzeugter Verehrer Thors war, sei schon im nächsten Jahr zu einem in jeder Hinsicht untadeligen Christen ge­ worden. Viele Elemente und Formen aus der heidnischen Gedan­ kenwelt blieben bestehen, auch nachdem die Götter gänzlich er­ löscht waren. Gesellschaftliche Bande und Verpflichtungen, wie etwa die Pflicht zur Blutrache, die in der germanischen Religion begründet waren, wurden nicht von einem Tag auf den anderen gelöst und aufgehoben. Darf man daraus schließen, daß die Men­ schen, die solche mit dem Christentum kaum zu vereinbarenden Pflichten erfüllten, sich nicht als Christen betrachtet hätten? In bezug auf den Zustand auf Island wird gelegentlich behauptet, die Heiden hätten nicht an der Existenz des Christengottes gezweifelt, während die Christen ihrerseits die heidnischen Götter gelten lie­ ßen; die beiden Gruppen wären bloß hinsichtlich der Macht ihrer respektiven Götter verschiedener Meinung gewesen. Diese Auf­ fassung berührt aber den Kern des Problems nicht. Die Missionare lehrten, die heidnischen Götter seien nur Gestalten, deren sich der Teufel bediente, um die Menschen irrezuführen. Die Existenz die­ ser Dämonen brauchte der Christ also noch nicht anzuzweifeln. Wenn die Nichtbekehrten ihrerseits den Gott der Christen für machtlos erklärten, ergab sich daraus für sie, daß sie Ihn auch nicht als Gott anzuerkennen brauchten. Von einer Gleichschaltung bei­ der Religionen kann also eigentlich nicht die Rede sein, und nur eine solche hätte zu einer dauernden Vermischung führen können. Die Bekehrung setzte jedenfalls für die meisten einen einschnei­ denden Bruch mit dem alten Glauben voraus. Wenn wir uns aber von dem Fortbestehen der germanischen Religion nach der Be­ kehrung ein Bild machen wollen, tun wir gut daran, nach dem Bei­ spiel Ljungbergs, einen Unterschied zu machen zwischen der «hö­ heren» und der «niederen» Religion und der Magie. Das Fortbestehen von Überlieferungen (Mythen u. ä.) aus der heidnischen Zeit ist durchaus denkbar ohne irgendeine Form von Religion. Namentlich auf Island zehrte die Literatur noch lange von Überlieferungen aus der Zeit vor der Bekehrung. Die kul­ turellen Strömungen aus dem Süden, die im übrigen germanischen

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Gebiet die alten Traditionen untergruben, drangen erst viel später und in abgeschwächter Form bis dorthin vor. Außerdem hielten die Isländer ihre altüberlieferte Kultur in hohen Ehren. Angaben aus dieser späteren Literatur sind aber bloß mit Vorbehalt zu verwen­ den. Im Jahre 975 hatte der Skalde Einar Skalaglamm den Jarl Hakon in einem Gedicht gelobt, weil er die von seinen christ­ lichen Vorgängern verlassene Religion wieder zu Ehren gebracht habe: er habe wieder opfern lassen, und der frühere Wohlstand sei zurückgekehrt. Wenn ein isländischer Geschichtsschreiber mehr als zwei Jahrhunderte später anläßlich dieses Ereignisses schreibt: «Hakon war mächtig und diente den Göttern besser, als dies zu­ vor geschehen war. Da folgten bald günstigere Zeiten, es gab wie­ der Getreide und Hering, die Erde grünte und brachte Früchte hervor» - darf man daraus dann schließen, dieser Verfasser habe noch an die heidnischen Götter geglaubt? Er konnte ja an die Exi­ stenz Thors, Odins und Freyrs glauben, ohne sie als Götter anzu­ erkennen. Wir dürfen also wohl annehmen, daß die «höhere» Re­ ligion sehr bald verschwand. Die «niedere», der Glaube an Gei­ ster, Zwerge, Riesen, Trolle usw., blieb viel länger bestehen, zum Teil sogar bis auf den heutigen Tag. Eine wirklich religiöse Ver­ ehrung liegt auf diesem Gebiet aber nur sehr selten vor. Man er­ hofft sich von solchen Wesen, daß sie in Ackerbau und Viehzucht Hilfe verleihen und schädliche Einflüsse ab wehren; oder man fürchtet ihre Rache, wenn man sie vernachlässigt und nicht mit Ehrfurcht behandelt. Man versucht sie durch kleine Gaben (z. B. ein Schüsselchen Milch) günstig zu stimmen. Dem Christentum erwuchs aus solchen Bräuchen keine unmittelbare Gefahr. Ihre Bekämpfung wurde denn auch erst nach der eigentlichen Bekeh­ rungsperiode in Angriff genommen: handelte es sich hier doch nicht um eine andere Religion, sondern um Aberglauben. Man würde eigentlich erwarten, wenigstens in der späteren Magie deutliche Spuren von altgermanischen religiösen Ele­ menten anzutreffen. Dieser Einfluß läßt sich aber schwer ein­ schätzen, weil wir im Grunde wenig greifbares Quellenmaterial darüber haben; so wissen wir z. B. sehr wenig über magische For­ meln aus def Zeit vor der Bekehrung. Wer in mittelalterlichen Zaubersprüchen aus dem germanischen Gebiet wenigstens die 509

Namen der Götter anzutreffen hofft, muß mit Enttäuschung fest­ stellen, daß diese darin sehr selten erwähnt werden. In einem is­ ländischen Zauberbuch aus dem sechzehnten Jahrhundert werden in sieben von den siebenundvierzig Zaubersprüchen Götter ge­ nannt; dies ist aber eine verhältnismäßig sehr hohe Zahl, die sich u. a. aus der Tatsache erklärt, daß dieses Zauberbuch der literari­ schen Überlieferung viel Material entnommen hat. Von den übri­ gen etwa 3500 isländischen Zaubersprüchen gibt es nicht ganze zehn, die ihre Kraft von den heidnischen Göttern herleiten; von den über 1200 dänischen beruft sich ein einziger auf Odin (der dort neben Satan und Luzifer genannt wird); von den fast 1600 norwegischen höchstens einige wenige. Die Gewährsmänner, nach denen diese letzten aufgezeichnet wurden, führten als Entschuldi­ gung an, man habe durch die Anrufung Odins den eiteln Ge­ brauch des Namens Gottes vermeiden wollen! Wie läßt sich dieses Verhältnis erklären? Zunächst aus dem We­ sen der Magie selber, die meistens gerade ohne Beihilfe der Götter ihr Ziel zu erreichen hoffte. Auch vor der Bekehrung haben die Götter in Beschwörungen und Zauberformeln wohl kaum eine große Rolle gespielt. Ferner hatte die Kirche die heidnischen Göt­ ter ins Reich der Teufel verwiesen; und sogar in der Magie ver­ mied man es gewöhnlich, die Hilfe des Bösen anzurufen, war sie doch ein zweischneidiges Schwert. Außerdem hatte man seit der Bekehrung die Götter als machtlos zu betrachten gelernt, und so­ mit konnte auch die Magie auf sie nicht zählen. Hier zeigt sich wie­ der einmal, daß die Magie oft bloß eine andere «Verwendung» der gleichen Mittel ist. Wie sich der Mensch im Kultus an Christus und seine Heiligen wandte, so versuchte er sie auch durch Zauber­ sprüche und andere abergläubische Bräuche zu «zwingen», ihm zu Hilfe zu kommen. Zu dieser Magie auf christlicher Grundlage ge­ sellte sich, von Süden herkommend, ein aus dem Altertum über­ lieferter Aberglaube sehr verschiedenen Ursprungs: altenglische Zaubersprüche rufen z. B. Saturn und Beronike (die östliche Veronica) an. Dies alles hat zur Folge, daß es sehr schwer fällt, mit der späteren Magie als Ausgangspunkt bis in die heidnische Zeit vorzudringen. Da oft eine Kirche an der Stelle eines früheren Tempels erbaut

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wurde, hat man vermutet, es habe eine gewisse Kontinuität zwi­ schen Heidentum und Christentum gegeben. Wie wir bereits S. 251 sahen, gab Gregor der Große dem Missionar Augustinus den Rat, heidnische Tempel, die sich noch in gutem Zustand be­ fanden, von allen Spuren der Abgötterei zu säubern und sie zu Kirchen zu weihen. So steht auch die heutige Kirche von Gamla Uppsala genau an der Stelle, wo sich einst der berühmte Tempel erhob. Eine allgemeine Regel war dies aber ganz gewiß nicht. In vielen Fällen wurde die Kirche zwar in der Nähe des Tempels, aber doch in einer angemessenen Entfernung von diesem erbaut, so daß der Gegensatz zwischen beiden deutlich zum Ausdruck kam und keine Verwirrung entstehen konnte. Für die weitaus mei­ sten Kirchen, die sich an heidnischen Kultstätten befinden, ist eine andere Erklärung viel wahrscheinlicher. Die heidnischen Tempel waren gewöhnlich das Eigentum wohlhabender Gutsbesitzer ge­ wesen, die über das erforderliche Vermögen verfügten, ein Tem­ pelgebäude instandzuhalten, und die zudem genügend Autorität besaßen, dieses zu einem religiösen Mittelpunkt zu machen. So­ lange die Kirche nicht über große Besitztümer verfügte, war es die Aufgabe dieser gleichen reichen Bauern, auf ihrem Boden ein Kir­ chengebäude zu errichten. Dies gibt eine ausreichende Erklärung für die Tatsache, daß Kirchen so oft an Stellen erbaut wurden, deren Name ein heidnisches Heiligtum andeutet. Schließlich hat man auch in vielen Heiligen der mittelalterlichen Kirche noch Spuren germanischer Götter zu erkennen geglaubt, was dann gewöhnlich folgendermaßen ausgedrückt wurde: «Die­ ser oder jener germanische Gott wurde nach der Bekehrung zu diesem oder jenem Heiligen.» So soll der heilige Olaf eigentlich bloß ein erneuerter Thor, der heilige Erik ein verchristlichter Freyr sein, während die drei Marien aus dem Rheinland eine christliche Version der drei Muttergöttinnen darstellen sollen. Die Verehrung der Heiligen wäre demnach an die Stelle der Vielgöt­ terei getreten. Die angebliche Kontinuität versucht man auf man­ cherlei Weise zu beweisen: bald sind es bestimmte Züge oder At­ tribute, die bei beiden Gestalten vorkommen (Olafs Beil = Thors Hammer), bald Bräuche aus ihrem Kult: noch im neunzehnten Jahrhundert wurde in Västergötland ein Bild des heiligen Olaf 511

umhergetragen, um eine reiche Ernte zu erhalten, genau so wie früher in Uppsala die Statue Freyrs. Ljungberg weist mit Recht darauf hin, daß eine solche Darstellung der Dinge das Problem zu sehr vereinfacht. Spezifisch heidnische Götterdarstellungen oder Kultformen bildeten nie die Grundlage zur Heiligenverehrung: die Berührungspunkte liegen immer in der Peripherie. Und sogar in diesen Fällen ist Vorsicht geboten: Thors roter Bart muß nicht unbedingt das Urbild von Olafs rotem Bart sein, denn einerseits trug auch Odin dieses Merkmal, und andrerseits beschrieben Aus­ länder die Skandinavier gewöhnlich als Männer mit roten Bärten. Begreiflicher wäre in jeder Beziehung die Übertragung von Funk­ tionen: den Heiligen wurden gelegentlich bestimmte Aufgaben zugewiesen, die früher einzelnen Göttern zugesprochen wurden, wie etwa für die Gesundheit des Viehs zu sorgen oder über die Sicherheit der Reisenden zu wachen. Erhoben sich schon auf dem Gebiet des Kultus große Schwie­ rigkeiten, so stellte die Moral eigentlich noch tiefergehende Pro­ bleme. Die alten Götter waren vom ethischen Gesichtspunkt aus nahezu völlig indifferent. Sie verkörperten keine Antithese zwi­ schen Gutem und Bösem, zwischen Recht und Unrecht. Sie ent­ zogen ihre Huld bei Mangel an Ehrfurcht und beim Ausbleiben von Opfern, und straften schwere Vergehen wie den Bruch des heiligen Friedens; im übrigen aber auferlegten sie dem Menschen nur indirekt bestimmte Lebensregeln, und zwar durch die Gemein­ schaft. Unter diesen Umständen war es für die Missionare, die un­ ter den Germanen den Glauben zu verkündigen begannen, sehr schwer, ihnen den christlichen Gottesbegriff verständlich zu ma­ chen: das Heidentum hatte kein Verständnis für einen Gott, der Verhaltungsregeln vorschrieb und ethische Anforderungen stellte, um so weniger, als die auferlegten Gebote den herkömmlichen Auf­ fassungen und Idealen so völlig entgegengesetzt waren. Die oben­ erwähnten Strafexpeditionen, die neubekehrte Könige mit einer uns unverständlichen Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit ge­ gen ihre widerspenstigen Untertanen unternahmen, beweisen ja gerade, wie wenig sie vom Geiste des Christentums durchdrungen waren. Man hat sogar geglaubt, in der Periode, die unmittelbar auf die Bekehrung folgte, einen gewissen sittlichen Verfall feststellen 312

zu können. Es geht hier vielleicht bloß um den Eindruck, den uns die Texte vermitteln, aber doch ist eine gewisse Unsicherheit urjd Verwilderung auf sittlichem Gebiet unter den obwaltenden Um­ ständen durchaus nicht undenkbar; ganz im Gegenteil, sie war vielmehr zu erwarten. Das alte Ethos hatte seine Bedeutung ver­ loren. Die Prediger hatten ja die Schwäche des Heidentums mit seinen Göttern, die Diebstahl, Verrat und Ehebruch begingen und sogar Morde auf dem Gewissen hatten, klar und unmißverständ­ lich dargetan; sie hatten vielleicht auch auf den relativen Wert der früheren, hauptsächlich gesellschaftlichen Verpflichtungen hinge­ wiesen. Dabei war die sittliche Zerrüttung der Götterwelt bloß eine Widerspiegelung der Zerrüttung unter den Menschen. Erst neulich noch hat Bodmer die Aufmerksamkeit auf die Tatsache ge­ lenkt, daß der merowingische Krieger vom Heldenideal weit ent­ fernt war; er ist sogar der Meinung, der Begriff der Treue, den wir z. B. aus der späteren Epik kennen, sei in dieser frühen Periode überhaupt nicht vorhanden gewesen. Ihm ist vor allem das Fehlen fester Werte aufgefallen, die erst wieder unter dem Einfluß der Kirche Anerkennung fanden. Dies steht nicht im Widerspruch zu dem, was wir in der Einleitung über die germanische Gesellschafts­ ordnung sagten; die merowingischen Krieger waren eben aus ihrem alten Stammesverband herausgerissen worden, sie fühlten sich durch die Gesetze ihrer alten Götter nicht mehr gebunden, hatten sich aber auch die neue Lehre noch nicht zu eigen gemacht. Eine Forderung wie «Liebet eure Feinde» muß ihnen anfänglich vollkommen unverständlich erschienen sein. Diejenigen aber, die sich über Unrecht, Treulosigkeit und Brudermord, Merkmale ihrer Zeit, zu besinnen begannen, müssen sich wohl nach einer besseren Welt gesehnt haben. Aber sogar sie haben bestimmt einige Zeit benötigt, um die Lehre der Caritas verstehen zu lernen. Sicher eine Ausnahme bildete die Haltung des isländischen Hauptmanns Sidu-Hall, zugleich leuchtendes Beispiel für die Wirkung der neuen Lehre. Etwa zehn Jahre nach der Bekehrung Islands wurde einer von Sidu-Halls Söhnen ermordet. Obwohl Sidu-Hall die Mög­ lichkeit hatte, Rache zu üben, ließ er den Mord ungerächt. Die­ ser Großmut machte einen sehr tiefen Eindruck auf die Volks­ versammlung.

Die Bekehrung spiegelte sich auch schon sehr früh in den Grab­ schriften wider. In Schweden verwendet man beispielsweise jetzt die Runen, um Formeln wie «Gott helfe der Seele des N.», «Gott nehme seine Seele zu sich», «Gott helfe seiner Seele und seinem Geiste», in die Grabsteine zu meißeln. Aber vor allem der Mis­ sionseifer, der schon kurz nach der Bekehrung an den Tag tritt, weist auf eine gründliche Aneignung der neuen Lehre hin. Denken wir bloß an den Anteil, den angelsächsische Missionare, noch kein Jahrhundert nach der Bekehrung ihres Landes, an der Ausbrei­ tung des Christentums und der christlichen Kultur auf dem Fest­ land hatten. Durch ihr Werk zeigten Willibrord, Bonifatius und viele andere, welchen Beitrag die Kirche vom christianisierten ger­ manischen Gebiet aus für ihre weitere Ausdehnung erwarten durfte. Wenn wir nun kurz auf unsere Übersicht der germanischen Re­ ligion zurückblicken, dann fühlen wir uns einigermaßen wie die Gefangenen aus Platos Politeia, die bloß die Schatten der Wirk­ lichkeit sahen. Auch wir sehen hier oft lediglich Umrisse: Götter­ gestalten, deren inneren Zusammenhang wir nur ahnen können; Feierlichkeiten, deren Organisation und Sinn uns entgehen; Opfer, von denen wir nicht wissen, für wen sie bestimmt sind. Genau in dem Maße, in dem die Germanen ins Licht der Geschichte treten, verschwindet ihre Religion. Und trotzdem können wir nicht an der Bedeutung zweifeln, welche die Religion für den Germanen hatte, noch an der Rolle, die sie in seinem Leben als Einzelmensch und als Mitglied der Gemeinschaft spielte. Die Götter beherrsch­ ten das Weltall und hielten es instand; von ihrem Ratschluß hing für den Menschen alles ab. Sie waren kein blindes Schicksal, son­ dern bewußte Mächte, mit denen der Mensch durch sein Gebet und sein Opfer in Kontakt trat. Sie standen ja nicht gänzlich außer­ halb seiner Welt; in gewissem Sinn bildeten Götter und Menschen eine Einheit, nämlich im Gegensatz zu den ungeheuerlichen Kräf­ ten, die nichts Menschliches hatten, sondern im Fenriswolf und der Weltschlange Gestalt annahmen. Groß war das Vertrauen, das der Germane seinen Göttern entgegenbrachte: ihre Einsicht und Füh­ rung bestimmten sein Verhalten. Sogar Schlachten, von denen die Existenz eines ganzen Volkes abhing, wurden hinausgeschoben, 3’4

wenn die Götter ihre Einwilligung nicht gewährten. Und in der Bekehrungszeit half dieses Vertrauen manchem, den Folterungen standzuhalten, mit denen die norwegischen Könige ihn zwingen wollten, seine Götter zu verleugnen. Ein derartiges Vertrauen setzt eine tiefe Frömmigkeit voraus. Die Relativität des germani­ schen Vertrauens in die Götter kommt erst zum Ausdruck, als die Germanen die zahllosen materiellen, sozialen und kulturellen Spannungen der Völkerwanderungen zu spüren bekommen. Dann entstehen bei ihnen die Angst und der Zweifel der Entwurzelten; ihre Götter sind zu stark mit der altvertrauten Umwelt verwach­ sen, als daß sie in eine fremde Umgebung versetzt werden könnten. Was in unseren Quellen zum Ausdruck kommt, ist vielmehr die religiöse Tragik der ausgehenden Germanenzeit als die Sicherheit eines Volkes, das sich in seinem Glauben geborgen weiß.

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BIBLIOGRAPHIE

Das erste Werk über germanische Religion, das Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben konnte, war Jakob Grimms Deutsche Mythologie (1835), die eindrückliches historisches, sprachliches, li­ terarisches und volkskundliches Material enthielt. Dieses Werk stand völlig im Zeichen der damaligen Anschauungen über Reli­ gion und über die Germanen, aber es darf dennoch auch heute noch als eine beachtenswerte Leistung angesehen werden. Die allegori­ sche Deutung blieb bis zur zweiten Hälfte des vorigen Jahrhun­ derts üblich; dann trat die Naturmythologie in den Vordergrund, und man führte alle Götter auf vergöttlichte Himmelskörper und Naturerscheinungen zurück. Zugleich erlebte die vergleichende Mythologie eine Zeit großer Blüte. Ihre zum Teil gewagten Deu­ tungen hielten jedoch der späteren Kritik kaum stand. Erst Dumé­ zil gelang es, diese Richtung wissenschaftlich neu zu begründen. Eine Entwicklung bedeutete auch das Werk von Mannhardt, der von der Volkskunde ausging und vor allem dem agrarischen Brauchtum große Aufmerksamkeit schenkte. Die philologisch­ historische Richtung räumte mit einer Anzahl unrichtiger An­ schauungen auf, vor allem was das Alter der altnorwegischen Li­ teratur betrifft. Bei der kritischen Prüfung der Ergebnisse der ger­ manischen Altertumswissenschaft der letzten Generationen ging man sehr weit; vieles, was bis dahin als rein germanisch betrachtet worden war, wurde z. B. von Bugge aus spätantiken, jüdischen oder christlichen Quellen abgeleitet. Während der letzten fünf­ undsiebzig Jahre hat das Studium der germanischen Religion dauernd zwischen Deutung und Kritik hin und her gependelt. Um die Jahrhundertwende herum versuchten verschiedene Autoren (Mogk, E. H. Meyer, Golther, Herrmann, R. M. Meyer) zu zu­ sammenfassenden Deutungen zu gelangen. Der Fortschritt der Randgebiete und der Hilfswissenschaften begann seinen Einfluß geltend zu machen. Olrik wies auf die Tatsache hin, daß die Lap­ pen einige Elemente ihrer Religion von den Skandinaviern über­ nommen hatten. Zusammen mit anderen Gelehrten setzte er sich für eine wissenschaftlichere Erforschung des volkskundlichen Ma316

terials ein. Von Sydow betonte die Möglichkeit keltischer Ein­ flüsse, namentlich während der Wikingerzeit. Gruppe und Wein­ hold verlegten den Schwerpunkt der Forschung von den Mythen auf den Kultus. Es zeigte sich, daß auch ein reiches Quellenmate­ rial in den skandinavischen Ortsnamen steckte; auf diesem recht schwierigen Gebiet leistete Olsen bahnbrechende Arbeit. Gronbech unternahm einen kühnen Versuch, das religiöse Leben der Germanen zu rekonstruieren. Schließlich sorgte Helm dafür, daß die Ergebnisse der Archäologie nicht länger übersehen wurden. Die modernen Forschungsrichtungen werden im ersten Kapitel dieses Buches behandelt. Eine vollständige Übersicht des gegen­ wärtigen Standes der Forschung gibt J. de Vries in seiner Altger­ manischen Religionsgeschichte, die auch eine ausführliche Bibliogra­ phie enthält. In der folgenden Liste werden namentlich Werke und Beiträge neueren Datums angeführt.

I. QUELLEN

Baetke, W. Die Religion der Germanen in Quellen^eugnissen. Frankfurt a. M. I9j8.

Capelle, W. Das alte Germanien. Die Nachrichten der griechischen und rö­ mischen Schriftsteller. Jena 1929.

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Fehrle, E. P. C. Tacitus, Germania. Fünfte, überarbeitete Auflage, be­ sorgt von R. Hünnerkopf. Heidelberg 1959.

Much, R. Die Germania des Tacitus. Heidelberg 1937. Schröder, F. R. Quellenbuch gur germanischen Religionsgeschichte (Trübners philologische Bibliothek 14). Berlin 1933.

Thule. Altnordische Dichtung und Prosa. Jena 1923 ff. (darin Genzmer, F., Edda I—II; Neckel, G., Die jüngere Edda, usw.)

II. ALLGEMEINE WERKE

Chantepie

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Golther, W. Handbuch der germanischen Mythologie. Leipzig 1895. Grimm, J. Deutsche Mythologie. 4. Auflage. Gütersloh 1875—1877. GrBnbech, W. Kultur und Religion der Germanen. Hamburg 1942. Helm, K. Altgermanische Religionsgeschichte. Heidelberg 1913—1953. Leyen, Fr. von der, Die Götter der Germanen. München 1937. Lid, N. Religionshistorie (Nordisk Kultur XXVI). Stockholm 1942. Meyer, E. H. Germanische Mythologie. Berlin 1891. Meyer, R. M. Altgermanische Religionsgeschichte. Leipzig 1910. Ohlmarks, Ä. Svenskarnas tro genom drtusendena: I. Hedendomen. Stock­ holm 1947.

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III. WERKE ÜBER EINZELPROBLEME ODER VERWANDTE GEBIETE

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322

VERZEICHNIS DER TEXTABBILDUNGEN, TAFELN UND KARTEN

TAFELN

1. 2. o. 2. u. 3. 4. o. 4. u. 5.0. 5. U. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. o. 12. u. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. o. 21. u. 22. 23. 24. 25. o. 25. u. 26. 27. 28. 29.

Eine Seite des Codex Regius der älteren Edda Felszeichnung von Vitlycke, Tanum Sonnenwagen von Trundholm Pfahlgötter von Eutin Kessel von Gundestrup Kessel von Gundestrup (Detail) Kessel von Gundestrup (Detail) Eisenzeitliche Gräber von Sepstrup Drei Brakteaten mit Runeninschriften Götterbild von Rude Eskiistrup Bronzeplättchen eines Helmes von Vendel Helm aus dem Schiffsgrab von Sutton Hoo Zierplättchen eines Helmes von Vendel (Rekonstruktion) Stanzen für Helmplättchen von Torslunda Schildbeschlag von Vallstenarum Schildbeschlag aus dem Schiffsgrab von Sutton Hoo Die Merseburger Zaubersprüche Thorshammer Runenstein von Lseborg Weihealtar der Göttin Nehalennia Bronzene Lure von Tellerup Bronzene Lure von Tellerup Opferbrunnen von Budsene Bronzezeitliche Grabkammer von Kivik Zwei Wandsteine der Grabkammer von Kivik Bronzezeitliche Grabhügel von Bledstrup Grabstein von Lärbro Grabstein von Lärbro Bootförmiges Grab von Tjelders Verschluß eines Geldbeutels, Schiffsgrab von Sutton Hoo Runenmonument von Björketorp Runenstein von Snoldelev Betender Germane Moorleiche von Tollund Standarte von Sutton Hoo

325

jo. 31.0. 31. u. 32.

Kopf einer hölzernen Stevenfigur Seite eines angelsächsischen Kästchens aus Walroßzahn Wikingerfestung von Trelleborg Buddhabildchen von Lillön, Ekerö TEXTABBILDUNGEN

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Motive schwedischer Felszeichnungen Felszeichnungen von Varlös und Tegneby Felszeichnung von Kalleby Goldenes Horn von Gallehus Felszeichnung des «Hammergottes» Götterfigürchen von Grevens Vsenge Vier Runenalphabete Runeninschriften von Westeremden, Aru'.i und Lindholmen Grundriß und Rekonstruktion des Tempels von Uppsala Tempel von Hofstadir Runenstein von Jelling

KARTEN 1. Theophore Ortsnamen in England 2. Theophore Ortsnamen in Skandinavien (I): Odin, Ull und Ullin 3. Theophore Ortsnamen in Skandinavien (II): Njörd, Freyr, Freyja

3M

REGISTER

Aberglaube 42 Abschwörungsformel 90, 117, 160 Ackerbau 55 Ackersegen 223 Adam von Bremen 40, 149, 161, 233, 248, 273 Adler 221, 270, 272 Adoranten 51, 52, 53 Aelnoth 301 Ägir 124, 164, 279, 282 Agnar 179 Ahnenkult 277 Alaferhuiae 173 Alagabiae 173, 184 Alaisiagae 173, 175 Albruna 238 Alcis 62, 71, 158, 159 Alcuin 161 Alemannen 22 Alf 165 Alfen 277 Allvater 76, 299 Altar 84, 120, 176, 251, 252 Altarring 253 Altartisch 253 Althin 58 Alwis 128 Alwislied 35, 276, 277 Ammianus 31 Amulett 126, 182 Angeln 137 Angelsachsen 159 Angrboda 133 Ansgarius 296 Ansis 73 Anthropomorphismus 12, 58, 61, 63, 70, 82, 139, 268 Araber 24 Ares 88 Arianismus 295 arktisch-sibirische Kultur 42 Arvagastiae 173 Arum 214 Arvernen 87

äsega 234 Äsen 73, 75, 107, 109, 124, i33> 1J7j 140, 141, 147, I5I, 250 Asgard 267 Asinnen 74, 177, 178, 183 Ask 284 Astinger 159 Attila 26 Attis 67, 147 Attribute der Götter 82 Audumla 285 Augustinus 301, 307, 311 aewett’eard 234 Awionen 137 Axt 53, 61, 192, 205

Baduhenna 176, 244 Balder 81, 121, 140, 152, 154, 155, 157, 160, 180 Balders Träume 261 Balten 14 Barbaren 31 Bastarnen 14, 24 Bataver 19, 114 Baudihillia 175 Bauern 21 Baum 57, 83, 94, 186, 193, 245, 249 Baumstamm 63 Beda 32, 241 Beigaben 194, 196, 201 Beil 159, 192 Beilgott 59 Bekehrung 90, 120, 154, 202, 213, 222, 295, 302, 303, 314 Belgien 25 Belgier 14 Beowulf 145, 202 Berg 83 Bernstein 18 Beronike 310 Berserk 100, 102, 122 Beschwörung 124, 260, 310 Bestattung 192, 194, I95> J9^ Billing no

Björketorp 235 Blotsven 306 Blutrache 167, 255, 308 Blutsbruderschaft 157 Blutsverwandtschaft 256 Bockopfer 118 Bogengott 59, 162 Bohuslän 55 Bootaxtkultur 16 Bölwerk 97 Bönd 77 Bonifatius 32, 296, 299, 314 Bor 284 Bous 167 bragafull 166 Brisingamen 157, 165, 182 Bragi 165, 166 Bragi Boddason 166 Brakteat 67, 118, 134 Brastad 59 Braukessel 124, 125, 134 Broddenbja:rg 62 Bregger 17 Broholm 12, 16 Bronzezeit 12, 14, 17, 18, 29, 55, 57» 59» 61, 115, 116, 170, 176, 189 Brunnen 186, 192, 193, 271 Buddha 30, 298 Burgunder 293 Byzanz 162

Cäsar, Julius 13, 14, 19, 25 Cäsarius von Arles 33 Chaos 290 Charuden 47 Chatten 87, 131 Chlodwig 295 Christbaum 243 Christentum 24, 25, 27, 126, 128, 202, 2I3> 257» 25S, 295, 297, 298, 3°6 Christus 76, 95, 232, 297, 307 comitatus 23, 25

Dämonen 267, 268, 273, 275, 279> 280, 281, 308 Dänemark 14, 15, 18, 26, 161 Daniel von Winchester 299 Dejbjaerg 205 Deutschland 14, 19 326

Dichterhandbuch (Skäldskaparmäl) 37 dies Martis 32 dies Veneris 32, 179 Dejbjatrg 66 Dioskuren 143 Disen 165, 174, 178, 183 Disenopfer 242 Disentempel 178 Disting 178, 242 Dolmen 16 Donar 38,35,113,114,113,121,186, 235 Donnergott 61, 116, 124, 166 Doppelaxt 61, 116 Drache 30, 272, 278, 279 Draug 275 Dreizahl 173, 173, 211, 239 Druiden 234 Drusus 19

Eber 82, 148 Egils Saga 217, 239, 278 Eberesche 127 Edda 38, 73, 107, 118, 152, 242, 267, 284, 283, 286 Edda, ältere 34 Eibe 163 Eiche 271 Eichhörnchen 272 Eid 233 Eidesformel 148 Einar Skalaglamm 309 Eir 183 Eisenzeit 18, 19, 29, 63 Ekstase 95, 106, 109, 191, 232 Elbe 19 Embla 284 England 16, 38, 175 Erdgöttin 54, 147, 166, 184 Erntebrauch 279 Erschaffung des Menschen 287 Ertränken, das 227 Esche 246, 271, 284 Erweckung der Walküre 134,216,224 Eschatologie 291 Ethelbert von Kent 301 Ethos 237 evarto und esago 234

Eudosen 137 Euhemerismus 153 Eyrbyggia-Saga 217

Fruchtbarkeitsgöttin 61, 181, 185 Fulla 183 fulltrüi 78, 79 Fuß 54, 140

Falken 157 Felszeichnungen 29, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 61, 75, 87, ”5, 116, 130, 141, 191, 192, 233 Fenrir 156, 282 Fenriswolf 67, 110, 133 Fesselwald 243 Feste 306 Feuer 199 Feuerbohren 54 Feuergott 71 fiörg 78 Fjalar 107 Fjörgyn 59, 166 Fold 184 Folkwang 182 Franeker 142 Franken 22, 26, 295 Frankreich 16, 25 Frau 170, 238 Frauengrab 192 Frauenschmuck 192 Frea 178 Freitag 179 Freyfaxi 148 Freyja 55, 135, 143, M4, 146, ’47, 156, 178, 181 Freyr 55, 66, 79, 82, 121, 135, 142, 143, 146, 152, 229, 231, 312 Friagabis 173, 175, 184 Friede 235 Friede, heiliger 255 Friesen 161 Frigg 93, 110, 153, 154, 166, 178, 179, 180, 181 Frija 178, 179 Fröblod 149 Frodi 236 FrothoIII. 101,143,144,145,151,236 Fruchtbarkeit 55, 127, 147, 171, 176, 242 Fruchtbarkeitsgott 52, 54, 62, 141, ’47, 149, 155, 163 Fruchtbarkeitsgötter 74, 137, 166, 167, 279

Gabiae 173, 184 Galat 107 Galgen 271 Gallien 13, 19 Ganggräber 16 Gallehus, Horn von 30, 65, 66 Gamla Uppsala, Kirche von 248, 311 Garmangabis 173, 176, 184 Gauten 145 Gautrekssaga 104 Gebet 208, 223, 224 Gefjun 184 Gefn 183 Gefolgschaft 302 Geister 274, 300, 309 Gerd 185 Geschwisterehe 138, 139, 140, 146 Gesetzsprecher 234 Gesichtsurne 197 Geten 151 Getreidedämonen 279 ffId 232 Ginnungagap 285 Gna 183 Godi 237 Goten 73, 131, 295 Götter 22, 23, 58, 70, 255, 267 Götterbilder 42,58, 61,64,69, 72, 75, 119, J47, 159, 17», 253> 3°6 Götterdämmerung 77, 81, 97, 133, 150, 290 Göttertrank 97, 106, 107, 125, 126, 133, 230, 231, 271, 276 Götterwohnungen 267 Gottesbegriff 81, 299, 312 Gottesfriede 81, 132, 145, 255 Gottesurteil 120, 222 Göttinnen 139, 170 Grabhügel 30, 143, 195, 197, 2I4, 249, 252 Grabkammern 29, 269 Grabkammern von Kivik 198, 238 Gräber 18, 191, 194, 195, 201 Grabstein 204, 215 327

Gregor der Große, Papst 251, 3” Gregor von Tours 32, 245 Grevens Va:nge 62, 160 Grid 167 Griechen 11, 14, 16 Grimnirlied 35, 161, 179, 182, 268, 272 Guilinborsti 148 Gundestrup, Kessel von 30, 64, 205, 253 Gunnar Helming 147 Gunnlöd 110 Gylfaginning 37 Gydja 240

Habicht 22i, 272 Haddingjar 145 Hadingus 141, 160 Hadrianus 175 Hain, heiliger 138, 244 Hakenkreuz 68, 126, 260 Hakon der Gute 297 haliurunnas 239 Hallfredarsaga 142 Hälsingborg 59 Hammer 116, 118, 125, 157, 260 Hammergott 59, 115, 118 Hand 53, 191 Hangatyr 136 Hängen, das 103, 105, 227, 230 Harald Blauzahn 296, 297 Harbardlied 103, no, 122, 128 Hasdinger 160 Hauskult 119 Hausurne 197 Havamal 105 Heardingas 14; Heardinge 144 Heeresstandarten 221, 244 Heiddraupnir 231 Heidentum 28, 297 Heilige Hochzeit 54, 56, 147, 176 181, 189 Heiligenleben 32, 39 Heiligenverehrung 311 Heiligkeit 82 Heimdal 59, 118, 130, 157, 163, 165 Hel 269, 270, 289 328

Heldensage 205 helga full 127 Helgi der Hundingtöter 280 Helgoland 161 hellerune 239 helliruna 239 Hengist 159 Hercules Magusanus 114 Hercules Saxanus 114 Herdkultus 200 Hermenduren 131 Hermes Trismegistus 67 Herminonen 13, 160, 283 Hermunduren 87 Herulen 25 Hexe 157, 239 Hildiswin 182 Himmelsgott 130, 170, 177 Himinbjörg 130, 164 Hirsch 53, 59, 272 Hjortspring 87, 206 hlautbolli 217 hlautteinn 217, 229 Hlin 183 Hlodyn 184 Hludana 184 Hnoss 182 Hoddmimir 272 Hödur 81, 155, 160 Hof 237, 248 Hönir 74, 166, 284 Höpt 77 hörgr 252 Horsa 159 Hotherus 167 Hratsvelgr 270 Hraudung 179 Hrodgar 145 Hrungnir 122, 167 Hugin 99 Hund 133 Hünengräber 16 Hunnen 24 Hwergelmir 285 Hymir 142 Hymirlied 34, 107, 118, 125, 218 Hyndlalied 98, 164, 182, 252

Idisi 178

Idun 166, 184 Illyrier 14, 20 Inder 15, 125 Indoeuropäisch 15 , Indogermanen 15, 16, 55 Indra 45 Ingävonen 13, 144, 283 Ing 145 Inge 305 Ingun 144 Inguz 144 Initiation 95 Inschriften (vgl, Runeninschriften) Bi Inschrift von Björketorp 215 Inspiration 107 interpretatio christiana 33,218 interpretatio germanica 32, 113, 114 interpretatio romana 113, 114, 131 Inzest 181 Irische Kirche 295 Irland 26 Irmin 132, 160, 161, 283 Irminonen 13 Irminsäule 245, 246, 283 Irminsul 160 Irpa 118, 185 Isis 67, 150, 176 Island 27, 250 Isleif Gizurarson 307 Istävonen 13 Jägerkultur 51 Jahreskreis 24r, 242 Jarl Hakon 309 Jelling s. Runensteine von 296, 297 Jenseits 195, 202 Johannisfeuer 243 Jonas von Bobbio 89 Jörd 110, ii 7, 184 Jötun 281 Jötunheim 123, 274, 281, 282 Julbock 67, 242 Julzeit 148, 149, 174 Julziege 242 Julineihiae 173 Julnacht 92, 241 Jünglingsweihe 58 Jupiter Dolichenus 67

Karl der Große 26, 305 Karolinger 24, 26 Katze 82, 183 Kelten 14, 19, 20, 64, 66, 114, 228 Kimbern 14 Kirche 251, 307 Kirche von Gamla 311 Kirchliche Organisation 307 Kodran von Gilja 300 Kollektivopfer 76 Kolumban 89 König 22, 143, 215, 228, 235, 237, 306 Konstantinopel, vgl. Byzanz 27 Konzil von Whitby 295 Kosmogonie 284 Kosmos 208, 271 Krähe 221 Krankheitsdämonen 281 Kreis J4 Kreuz 303 Kriegerverband 100, 101, 102 Kriegsgefangene 87, 88, 131, 226, 228 Kriegsgott 88, 89 Kreuz 126, 127, 190 Kuh 285 Kult 58, 162, 170, 186, 207 Kultstatt 200, 245 Kultische Hochzeit 52 Kultur 12, 16, 17, 19 Kultus 206, 306, 312 Kultusgemeinschaft 232, 233, 302 Kultussprecher 224 Kwasir 107, 108 Kybele 67 Ladejarle 152 Landgeister 278 Langobarden 88, 89, 93, 159 Lärad 272 La Téne-Zeit 19, 201, 206 Leichendämonen 280 Leichenverbrennung 18,53,196,197 Lejre 26, 146, 233 Lied von Rig 164 Lindholmen 214 Lindisfarne 26 Lodur 59, 284 329

Lofn 183 Loki 94, 96, 106, 133, 141, 146, 153, 154. i55. 15 3°9> 3IQ mahal 173 Maibaum 243 Mannus 13, 71, 144, 283 Märchen 268 Marsen 245 Mars Halamardhus 131 Mars Thincsus 132, 175 matres familial 209, 238 Matroneninschriften 171, 172 Matronenkult 171, 177 Meerdämonen 279 Meergott 124,125,141,231,270,279 Meermann 139 Meerriese 142 Meerweib 139 Megalithgräber 16, 193, 196 Megalithzeit 55 megin 229 Meise 221 Menschenopfer 11, 64, 103, 104, 131, 149, 185, 193, 195, 199, 200, 226, 227, 236, 238, 243, 249, 273 Menschenwelt 268 Merkgedicht von Rig 238 MerseburgerZaubersprüche 33, 89, 152, 178, 261 Met 107, 231 Midgard 267, 273 Mimameid 272 Mime 168 Mimmingus 153 Mimir 74, 105, 166, 231, 271, 282 Missionsarbeit 295, 298 Missionare 92 Mistel 155, x8o 330

Mithothyn 93, 163 Mithras 67 Mitra 45 Mittwoch 90 Modi 117 Modraniht 171, 174, 241 Mond 133, 241 Mondgöttin 71 Moral 255, 312, 313 Munin 99 Muspell 285, 287 Mutter Erde 144, 175 Muttergöttin 61, 137, 139, 171, 172, 175. i77> 181, «4'. 311 Mythen 126 Mythus 80, 308

Naharvalen 71, 158, 244 Naturkräfte 70 Nehalennia 150, 175 Nekromantie 105, 168, 239, 252, 261 Nekropole 201 Nerthus 47, 71, 72, 137, 138, 139, 144, 145, 147, 206, 233, 244 (vgl. Wagen) Neunzahl 227 Nibelungen 220, 280 Niederlande 14, 19 Niflheimr 285 Njarparlög 140 Njörd 47, 55, 121, 135, 138, 140, 142, 146. >47. W Nöatün 140 Nordsee 18 Normannen 27 Nomen 174, 178, 219, 271 Nors 192 Norwegen 14, 17, 18, 26, 237 Nuitonen 137 Nydam 206

Od 163 Odin 34, 45, 56, 66, 79, 82, 86, 88, 91. 94. 95. 96, 97. 98. 99. i°°, 102, 106, 107, 117, 142, 143, 146, 155, 157, 165, 178, 179, 221, 227, 231, 263, 284 Odinkult 290 Odinsopfer 103

Olaf 297, 311 Olaf Tryggvason 302 öndurdis 185 Opfer (siehe Menschenopfer und Tieropfer) 61, 88, 119, 191, 208, 226, 241, 248, 253, 304 Opfergrube 206 Opfermahl 23, 84, 229, 231, 244, 245, 253 Opferpfahl 245, 251, 306 Opferpflicht 233 Opfertier 148, 161, 217 Opfertrank 84, 108, 231, 253 Orakel I05, 120, 208, 219, 234 Orpheus 67 Ortsnamen 38, 40, 91, 112, 116, 119, i2i, 134, i35> 142. 152, 247 Ortsnamen, theophore 129 Osiris 147 Oster- und Västergötland 26 Ostgoten 26 Ostsee 18 Othinus 167 Perversität 149, 183, 263 Pfahl 63, 75, 160, 273 Pferd 59, 63, 148, 157, 160, 178, 205, 209, 221, 229, 230, 245, 306 Pferdeopfer 230 Pflügen 53, 56 Phalluskult 75, 137, 242 Priester 22, 81, 158, 234, 237, 306 Priester-König 235 Priesterin 227, 234, 238, 239

Quell, heiliger 249 Quelle 83, 246

Rabe 98, 219 Raben-Ase 99, 219 Rabenbanner 220 Rad 60, 243 Ragnar Lodbrok 220 Ragnarök 77, 165, 168 Ran 270, 279, 282 Raos 159 Raptos 159 Rätsel 109 Rebild 62

Rechtsordnung 256 Rechtspflege 162 Redwald 307 Regln 76. 77, 27 Reginlied 220 regnator omnium deus 84 Reineke Fuchs 158 Religion 20, 31 Reudinger 137 Riesen 113, 156, 185, 208, 273, 281, 285, 309 Riesenwinter 286 Rig 164, 237 Rinda 167 Rindr 167 Ring 253 Ritus 80, 107, 233 Robbe 257 Römer 11, 19, 20, 67 Rudolf von Fulda 86 Runen 12, 33, 83, 94, 95, 102, 104, no, 144, 210, 211, 216, 221, 260, 3’4 Runenalphabet 210, 211 Runengedicht 134, 144 Runeninschriften 33, 66, 68, 212, 235>259 Runenlied 145 Runenmagie 42, 212 Runenmeister 215, 237 Runenstein 126,203,224,296,297,304

Sachsen 26, 132 Saga 39, 46, 183, 257, 300 Saga von Erik dem Roten 262 Saga von Hervor 148, 149 Saturn 310 Saxnot 90, 160, 177 Saxo Grammaticus 36, 40, 141, 143, 145, 149, 153 Schalensteine 52 Schamanismus 42, 240, 264, 273 Scheinopfer 104 Schicksalsgedanke 219, 258 Schiff' 51, 63, 150, 176, 191, 192, 202, 204, 205 Schiff des Sonnengottes 192 Schiffsgrab 30, 202, 271 Schiffsgrab von Gokstad 203, 277 331

Schiffsgrab von Osebcrg 203 Schiffsgrab von Sutton Hoo 30, 68, 203 «Schimmelreiter» 92 Schlange 272 Schneeschuhe 185 Schnurkeramik 16 Schöpfung 284 Schuld 257 Schweden 14, 15, 17, 18 Schwedengott 143 Schwein 182, 229 Schweiz 25 Seeland 36, 233 Segensformel 127 Seher und Seherin 262 Seherin, Gesicht der = Die Weis­ sagung der Seherin 34, 35, 77, 81, 109, 133, 154, 155, 164, 167, 208, 239, 257> 270, 285, 287, 288, 291, 301 Seid 262 Seidfrau 262 Seidkona 240 Semnonen 71, 158, 246 Sernander 18 Sif 156 signa full 127 Sigrdrifa 224 Sigtyr 136 Sigurdlied, Das alte 220 Sintflut 286, 287 Sittengedicht, das alte 34 Skadi 140, 185 Skalden 36, 79, 98 Skandinavien 20, 91 Skidbladnir 150 Skiren 14, 24 Skirnirlied 146, 260 Sklaven 21, 22 Slaven 14, 15 Sleipnir 82, 221 Snorra-Edda 36 Snorri 37, 143, 154 Snotra 183 Sonne 53, 59, 191, 204, 289 Sonnengott 41, 59, 61, 63, 71, 130, t6j, 170 Sonnenkult 60, 243 332

Sonnenwagen 54, 59, 130 Sonnenwagen von Trundholm 59, 191, 192 Spakona 240 Spanien 16 Speer 53, 94, 97 Speergott 59, 98 Speiseopfer 229, 230 Sprache 14, 15 Stafgard 252 Starkad 149 Stein 186, 246, 300 Stein von Eggjum 259 Steinsetzungen 30 Steinzeit 16, 194 Stenkils 305 Stentoften 215, 235 Stevenkopf 278 Stora Noleby 77 Strafe 257 Streitaxt, «Streitaxtkultur», Streitaxt­ völker 16, 17, 194 «Strohtod» 99 Sueben 13, 89, 158 Suetonius 31 Suionen 26, 145 Sumpf 192, 206 Surt 150, 285 Sven 306 Swardonen 137 Symbole 51, 83, 116, 126, 191, 198 Syn 183 Synkretismus 307

Tacitus 13, 23, 25, 31 Tamfana 72 tanhlytere 217 Tanum 55 Tanz 54, 150, 191, 233 Taranis 114 Taunus 19 Tegneby 55 Tempel 72, 83, 84, 119, 120, 121 134. 176. 185, 206, 233, 237, 244. 247, 248, 306, 310, 311 Tempel von Hofstadir 251 Tempel von Satbol 250 Tempel von Tamfana 245 Tempel von Uppsala 247, 248

Tempelpriesterin 240 Terra Mater 137, 184 Teufel 157, 308 Teutoburgerwald 87 Teutonen 14 Theoderich 25 Thing 22, 25, 77, 81, 132, 136, 148, 149, 223, 234, 255, 255, 268, 273, 297 Thingbaum 271 Thjazi 140 Thor 37, 40, 45, 56, 66, 68, 79, 82, 103, 107, 110, 113, 115, 117, 121, 122, 128, 142, 156, 157, 167, 229, 232 Thorgerd Holgabrud 118, 185 Thorhall 121 Thorshammer 126 Thraker 14, 20, 151 Thrud 117 Thrymlied 34, 125, 127 thul 224 Thule, vgl. Island 27 Thunaer 90, 117 Thunor 116 Thüringer 22 Thurs 260, 281 tbyle 224 Tiberius 19 Tieropfer 131, 226, 229 Tierwelt 272 Tislund 136 Tiw 38, 55, 90, 130, 158, 160, 177, 206 Todesstrafe 228 Toleranz 298, 304 Torslunda 68 Totemismus 82 Totenbeschwörung 239 Totengott in Totenheer 92, 100 Totenkult 53 Totenschiff 205, 271 Totenstrand 271 Totenwelt 182, 202, 269, 270, 285 Trance 263 Trankopfer 66, 76, 89, 126, 226, 231, 232 Treue 255

Triade 174 Trinkgelage 108 Trinkspruch 231 Triskele 260 Trolle 282, 309 Trommel 60 Trundholm 59 Tuesday 131 Tuisco 71 Tuisto 13, 283 Tyr 45, 78, 125, 130, 132, 157 Ubier 171 Ull 91, 162, 163 Unsterblichkeitstrank 126 Umzug (Prozession) 51, 147, 150 191, 206, 250 Unterwelt 177 Uppland 26 Uppsala 26, 149, 233, 236, 242, 245 247> 248, 273> 3°4. 312 Urd 219, 271 Urds Brunnen 281 Urne 196, 201 Urnenbestattung 197 Urraum 285 Urriese 282 Ursprung 283 Utgard 273 Utgarda-Loki 123 Utilitarismus, religiöser 301 ütiseta 253 Vacallinehae 173, 176 Varlös 55 Varuna 45 Varus 87 Vatviae 173 Veleda 238 Vendel 68 Venus 179 Viga-Glum 79 Vogel 209, 261 Völkerwanderung 24, 103, 112, 256 Volksbrauch 41, 243 Volksglauben 41, 276 Volksversammlung, vgl. Thing Vorfahren 73, 78 Vorzeichen 218, 219, 221, 230 533

Votivinschriften 32, 171, 175 Vroonlo 142

Waberlohe 280 Waffen 191 Waffentanz 68 Wafthrudnir 109 Wafthrudnirlied 35, 133, 286 Wagen 59, 63, 82, 138, 144, 205, 206, 209, 227 Wagen der Nerthus 234, 245 Wagenthor 118 Wahrsagerei 74, 209, 211, 239 Walcheren 150 Wald, heiliger 243, 249, 252 Wald 83, 114, 244 Walhalla 81, 97, 99, 104, 270, 280, 290 Walküren 78, 97, 99, 153, 174, 178, 219, 280 Wall des Hadrianus 132 Wandalen 159, 295 Wanen 55, 73, 107, 135, 137, 147, 149, i5i> 178, zjo Wanenheim 140 Wanenkrieg 74, 140, 166 Wariner 137 Wasserdämonen 279 We 72, 110, 284 Wegkreuzung 253 Weihaltar 32, 67, 171 Weiheformel 231 Weihinschriften 114 Weihtafeln 139 Weissagung 220 Weltachse 246 Weltall 283 Weltbaum 165, 168, 227, 231, 246, 284, 286 Weltbild 267 Weltbrand 287 Weltbrunnen 286 Weitende 287, 288, 289, 291 Weltkatastrophen 286 Weltmeer 268, 273 Weltordnung 290 Wenden 14 weob $9 354

Wessobrunner Gebet 283, 284 Werwölfe 102 Wetzstein 123, 124 Weltuntergang 283 Weltschlange 124, 156, 273, 282, 290 Widar 167 Widder 165 Widukind 296 Widukind von Corvey 132 Wikar 143 Wikingburg 30 Wikinger 26, 69, 112, 213 Wikingerzeit 97 Wilfrid 295 «Wildes Heer» 92 «Wilder Jäger» 92 Wili 72, 110, 284 Willibrord 32, 295, 314 Windgott hi Winnilen 211 Wochentage 90, 114 Wodan 38, 55, 86, 90, 102, in, 131. 132, 158, 178, 186, 206, 227, 235 Wolf 68, 98, 133, 256, 282 Wölsi 242 Wölsungensaga 96 Wölwa 239, 267 Wortschatz 40 Ygg 99, 271 Yggdrasil 163, 246, 271, 289 Ymir 110, 285 Ynglinge 143, 144 Ynglingersaga 143 Yngwi 144 Zahlenmystik 212 Zauberei 93, 105, 106, 150, 179, 200, 239, 259, 260, 261, 263 Zauberlieder 213, 261 Zaubermittel 200, 260, 261 Zaubersprüche 89,162, 277, 309 (vgl. Merseburger Zaubersprüche) Zaubertrank 260 Zaubertrommel 4z Ziegenbockwagen 118 Ziu 130 Zwerge 275, 276, 277, 309

Tafel i. Eine Seite des Codex Regius der älteren Edda. Seite 4 der Per­ gamenthandschrift Nr. 2365, 40 der alten Königl. Sammlung, Königl. Bibliothek, Kopenhagen (um 1270), mit einem Teil des Gedichtes «Der Seherin Gesicht» (Völuspa Str. 46—64). Vgl. S. 35.

Tafel 2. Oben: Felszeichnung von Vitlycke, Tanum (Bohuslän, S. W. Schweden), mit Schiffen, vielleicht auch Schlitten, knienden Adoranten oder Hornbläsern, Axtträgern, Männern mit Riesenspeeren (S. 51). Unten: Sonnenwagen von Trundholm (Seeland, Dänemark). Vgl. S. 59. (Nationalmuseet, Kopenhagen.)

Tafel }. Pfahlgöttcr von Eutin (Schleswig). Vgl. S. 62 (Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum für Vorund Frühgeschichte, Schleswig).

Tafel4. Oben: Kessel von Gundestrup (N. Jütland). Der Kessel, mit einem Durchmesser von 65 cm und einem Gewicht von nahezu 9 kg, besteht aus getriebenen Silberplatten und wurde wahrscheinlich in Gallien verfertigt (S. 64), (Nationalmuseet, Kopenhagen). Unten: Kessel von Gundestrup (Detail). Teil eines Reiteraufzuges (vgl. Tafel 11).

Tafel J. Oben: Kessel von Gundestrup (Detail, vgl. Tafel 4). Götterbüste mit typisch keltischem Halsting; in jeder Hand ein Hippokamp. (Vgl. S. 64.) Unten: Eisenzeitliche Gräber vonSepstrup (Jütland,Dänemark). Kleine Steinkreise um einen Mittelstein neben dem Leichenbrand, ebenerdig.

Tafel 6. Drei Brakteaten mit Runeninschriften (Dänemark) (vgl. S. 67) o. 1. Brakteat von Seeland (Nr. 1). Inschrift: IkaR = laukaR «Lauch» (S. 214). Vor dem Kopf des Reiters ein Hakenkreuz. O. r. Brakteat von Hesselager (Fünen). Inschrift: luRpa (unter dem Kopf des Reittieres), temo (am Rande); unerklärt. Ein Raubvogel über dem Kopf des Reittieres, ein magisches Zeichen unter dem Zopf des Reiters. U. Brakteat von Seeland (Nr. 2). Inschrift: hariuha baiteka farauisa gibu auja, d. h. «Hariuha heiße ich, der Gefährliches Wissende. Ich gebe Glück.» Hinter dem Kopf des Reiters eine dreifache Z-Rune (vgl. S. 134).

Tafel 7. Götterbild von Rude Eskiistrup (Seeland; S. 69). Höhe etwa 40 cm. (Nationalmuseet, Kopenhagen).

Tafel 8. Bronzeplättchen eines Helmes von Vendel (Uppland, Schwe­ den). Der Reiter ist mit Schild und Speer bewaffnet; auf seinem Helm ist ein Raubvogel abgebildet; vor dem Pferd eine Schlange, rechts und links vom Reiter ein Vogel: entweder Odindarstellung oder «kultischer Reiter, Kriegsaufzug oder Heilsbild» (Oxenstierna), vgl. S. 68.

Tafel 9. Helm aus dem Schiffsgrab von Sutton Hoo (O. England). Eiserner Maskenhelm, dessen Kamm und Augenbrauen in Raubtier­ köpfe enden. Auf Stirn und Schläfen bronzene Preßblechplättchen, nahe verwandt mit denen von Vendel und Torslunda in Schweden (Tafeln 8 und n). (Jetzt im British Museum, London.) Vgl. S. 68.

Tafel io. Zierplättchen eines Helmes von Vendel (Uppland, Schweden). Rekonstruktion des auf Tafel 8 dargestellten Motivs.

Tafel ii. Stanzen für Heltnplättchen von Torslunda, Öland (Schweden). Oben links: ein bewaffneter Mann zwischen zwei Raubtieren (durch vermummte Männer dargestellt ?), das sogenannte «Daniel-in-der-Löwengrube-Motiv», das auch auf dem Sutton Hoo Verschluß vorkommt (Tafel 25); oben rechts: zwei bewaffnete Krieger (aus einem Aufzug ?) mit Eberdarstellungen auf den Helmen; unten links: tanzender (kniender ?) Krieger mit Hörnerhelm, der wegen seiner Einäugigkeit als Wodandarsteller gilt; daneben ein als Wolf vermummter Mann, der sein Schwert zieht; eine Szene aus dem Weltuntergangsdrama, da Wodan mit dem Fenriswolf kämpfte (S. 110)?; unten rechts: halbnackter Mann mit gebändigtem Raubtier (Bär) und Axt.

Tafel 12. Oben: Schildbeschlag von Vallstenarum (Gotland, Schweden, 7- Jh-)- Raubvogel aus vergoldeter Bronze (Länge etwa 9 cm). Unten: Schildbeschlag aus dem Schiffsgrab von Sutton Hoo. Raubvogel mit gebogenem Schnabel und Haube in der Form eines Drachenkopfes, wohl Symbol des Kriegsgottes (vgl. S. 82). (British Museum.)

Tafel 13. Die Merseburger Zaubersprüche. Folio 85 recto der Hs. 136, Domstiftsbibliothek, Merseburg. Oben ein Zauberspruch, um von den Idisi (S. 89) zu bekommen, daß gefangene Krieger von ihren Fesseln befreit werden. Zeile 5 fängt der S. 90 erwähnte Zauberspruch an,

Tafel 14. Thorshammer. Silbernes Amulett gefunden in einem Wikin­ gergrab in Skäne (vgl. S. 126).

Tafel ij. Runenstein von Laiborg (Jütland, Dänemark). Inschrift (links von unten nach oben, rechts von oben nach unten): rhafnuka tufi hiau runaR pasi aft purni trutnik sina, d. h. «Tue, der Nachkomme Hrafns, haute diese Runen ein zum Andenken an Thyre, seine Herrin.» Am Ende jeder Zeile ein Thorshammer (vgl. S. 126).

Tafel 16. Weihealtar der Göttin Nehalennia (Domburg, Walchern). Gestiftet von einem Dacinus, Sohn des Liffio (vgl. S. 175), Jetzt im Museum von Leiden,

Tafel 17. Bronzene Luren von Tellerup (Fünen, Dänemark). Höhe etwa 1,20 m; zusammen mit der Lure von Tafel 18 bildet sie ein aufein­ ander abgestimmtes Paar, vgl. S. 191 (Nationalmuseet, Kopenhagen).

Tafel iS. Bronzene Lure von Tellerup (Fünen, Dänemark). Vgl. Tafel 17.

Tafel 19. Opferbrunnen von Budsene (Möen, Dänemark). Rest eines ausgehöhlten Baumstammes, der als Brunnenfassung gedient hat. Im Brunnen lagen allerhand Tierknochen und bronzene Gegenstände (vgl. S. 193) (Nationalmuseet, Kopenhagen)

Tafel 20. Bronzezeitliche Grabkammer von Kivik (Uppland, Schweden). Vgl. S. 198. Oben: linke Seite der Grabkammer. Unten: rechte Seite der Grabkammer.

Tafel 2i. Oben: Zwei Wandsteine der Grabkammer von Kivik (Uppland, Schweden). Vgl. S. 198 und Tafel 20. Unten: Bronzezeitliche Grab­ hügel von Bledstrup (Seeland, Dänemark). Vgl. S. 195.

Tafel 22. Grabstein von Lärbro (Gotland). Auf dem Stein (oben) Raubvogel, Frau mit Trinkhorn und bärtiger Mann = Episode aus dem Mythus des Göttertrankes (S. 107); (Mitte) Reiter und (geflügelte?) Frau, ein Trinkhorn anbietend = die Ankunft des Verstorbenen in Walhalla; zwischen den Hinterbeinen des Pferdes: ein «Hrungnirherz» (S. 123); (unten) vermutlich Darstellung eines Totenschiffes.

Tafel 2}. Grabstein von Lärbro (Gotland). Episoden aus einer Heldensage: (oben) Mordanschlag; Rüstung zum Kampf; Menschenopfer: der zu opfernde Mann ist an einem Baumstamm aufgehängt; zwei Männer bereiten den Altar vor, darüber ein «H rungnirherz ». (Mitte) eine Frau trennt landende T ruppe und zur Ab wehr aufgestellte Krieger; gefällter Reiter unter seinem Pferd. (Unten) Darstellung des Totenschiffes.

Tafel 24. Bootförmiges Grab von Tjelders (Gotland). Gräber, bei denen die darum aufgestellten Steine die Form eines Bootes abzeichnen, finden sich auf der Insel Gotland schon gegen Ende der Bronzezeit. In diesen Gräbern ist Beerdigung die Regel (S. 20z).

Tafel2j. Oben: Verschluß eines Geldbeutels, Schiffsgrab von Sutton Hoo (O. Eng­ land). Oben ornamentale Motive. Unten zweimal das «Daniel-in-der-LöwengrubeMotiv» (vgl. Tafel u) und zwei Raubvögel, die Enten greifen (London, British Museum). Unten: Runenmonument von Björketorp (S. Schweden, etwa 650 n.Chr.). Der mittlere Stein (Höhe etwa 4 m) trägt die S. 215 erwähnte Inschrift.

Tafel26. Runenstein von Snoldelev (Seeland, Dänemark; 9. Jh.) Inschrift (von unten nach oben): kunualtstain sunaR ruhalts pulaR a salbaukum, d. h. «Gunvalds Stein, des Sohnes Roalds, des Thuls auf Salhaugen (Sallov).» In der Mitte ein aus drei Hörnern zusammengesetztes «Hrungnirherz» (vgl. S. 123) und ein Hakenkreuz; rechts vom letzteren eine schalenförmige Vertiefung als Nabe eines vierspeichigen Sonnenrades aus älterer Zeit.

Tafel 27. Betender Germane. Römisches Bronzefigürchen, jetzt in der Bibliothèque Nationale, Paris. Trotz seiner geringen Größe drückt es auf eindrucksvolle Weise die Innigkeit des religiösen Gefühles aus. (Vgl. S. 225.)

Iafel 28. Moorleiche von Tollund (Jütland). «Die besterhaltene unter den 100 bis jetzt bekannten Moorleichen» (Oxenstierna). Der Mann war erwürgt worden, wohl ein Opfer wie auf einem der Grabsteine von Lärbro abgebildet ist (Tafel 23).

Tafel 29. Standarte von Sutton Hoo (Ostengland). In der Kammer des Schiffsgrabes von Sutton Hoo (S. 204) befand sich u. a. diese eiserne Standarte, die oben auf einem Ring einen kleinen bronzenen Hirsch trägt (British Museum, London).

Tafel 30. Kopf einer hölzernen Stevenfigur. 1939 in der Schelde gefun­ den, jetzt in London (British Museum). Vgl. S. 278.

Tafel }i. Oben: Seite eines angelsächsischen Kästchens aus Walroßzahn (sog. Franks Casket). Links: Episode aus der Wielandsage. Wieland übergibt der Königstochter Baduhild einen Becher, den er aus dem Schädel ihres Bruders verfertigt hat; rechts: An­ betung der Heiligen Drei Könige. Um das Ganze ein altenglischer Runenvers auf das Walroß, das das « Bein » zum Kästchen lieferte. (London, British Museum.) Unten: Wikin­ gerfestung von Trelleborg, Modell (Seeland, Dänemark). Die Festung, mit einem innern Durchmesser von 140 m, bot Platz für eine Besatzung von etwa 1200 Mann.

Tafel }2. Buddhabildchen von Lillön, Ekerö (Mälarsee, Schweden). Auf der ehemaligen Insel Lillön wird seit 1955 eine Handelsfaktorei ausgegra­ ben, die im 8. Jh. ihren Höhepunkt erreicht haben muß. Außer großen Mengen fränkisch-deutschen Glases und einem irischen Bischofsstab kam dieses 10 cm hohe Buddhabildchen zum Vorschein. (Vgl. S. 298.)