Morde ohne Ehre: Der Ehrenmord in der modernen Türkei. Erklärungsansätze und Gegenstrategien [1. Aufl.] 9783839415627

Weltweit werden jährlich über 5000 Menschen Opfer von Ehrenmorden. Dieses Buch bietet erstmalig eine interdisziplinäre S

200 117 13MB

German Pages 348 [342] Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Morde ohne Ehre: Der Ehrenmord in der modernen Türkei. Erklärungsansätze und Gegenstrategien [1. Aufl.]
 9783839415627

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Inhalt Tabellen- und Abbildungsverzeichnis  | 7 Widmung  | 9 Einleitung  | 11

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5

1

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem  | 21 Das Phänomen Ehrenmorde | 21 Der Begriff Ehre | 23 Bedeutung der Ehre in traditionellen Gesellschaften | 31 Begriffsabgrenzung: Ehrenmord – Blutrache – Affekttat | 36 Internationale Verbreitung von Ehrenmorden | 40 Internationale Studien über Ehrenmorde | 53

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4

Untersuchungsland Türkei | 69 Der Einfluss der türkischen Kultur | 79 Stellung der Frau in der türkischen Gesellschaft | 101 Die Rolle des Islam  | 104 Sind Ehrenmorde islamisch legitimiert? | 113

1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4

Erscheinungsformen und Verbreitung der Ehrenmorde in der Türkei | 117 Ehrenmorde in der türkischen Gesetzgebung | 139 Türkischsprachige Studien über Ehrenmorde | 147 Blutrache als Sonderkategorie von Ehrenmorden | 161 Vergleich türkischer mit deutsch- und englischsprachiger Fachliteratur | 167

1.4

Zwischenfazit  | 169

2

Erklärungsansätze  | 173

2.1 2.2 2.3 2.4

Geschlechtersoziologie | 176 Rechtssoziologische und anthropologische Überlegungen | 186 Handlungstheorie nach Colemans Mehrebenenmodell | 195 Zwischenfazit | 205

3

Methodischer Teil: Medienanalyse und Experteninterviews  | 207

3.1 3.2 3.3

Medienanalyse als Untersuchungsmethode | 207 Experteninterviews als Forschungsinstrument | 213 Zwischenfazit | 215

4 Ergebnisse  | 217 4.1 Medienanalyse | 217 4.1.1 Der Umgang mit Ehrenmorden in türkischen Medien | 217 4.1.2 Analyse der Berichterstattung in der Tageszeitung Posta | 225 4.1.2.1 Art der Berichterstattung | 226 4.1.2.2 Darstellung der Mordmotive | 234 4.1.2.3 Merkmale der Mordopfer | 241 4.1.2.4 Merkmale der Täter | 244 4.1.2.5 Die Täter-Opfer-Beziehung | 246 4.1.2.6 Gemeinsame Merkmale der Tatorte | 248 4.1.2.7 Mordmethoden | 251 4.1.2.8 Zwischenfazit | 252 4.2 Auswertung der Experteninterviews | 254 4.2.1 Perspektive der Experten aus unterschiedlichen Disziplinen | 254 4.2.2 Perspektive der Frauenorganisationen bezüglich der Ehrenmorde | 277 4.3

Zwischenfazit | 291

5

Fazit und Ausblick  | 293

6

Literaturverzeichnis  | 309



Onlineressourcen | 324

7

Anhang  | 327 Ehrprinzip in verschiedenen Kulturen | 327 Internationale Konferenzen über Ehrenmorde  | 330 Internationale Verbreitung von Ehrenmorden und Blutrache  | 333 Türkeikarte | 339 Fallbeispiele für Blutrache und Artun Ünsals Studie | 339 Collagen | 344

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4:

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5:

Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12:

Unterscheidungsmerkmale bei Tötungsdelikten mit Beziehungshintergrund (eigene Darstellung) | 40 Ehrenmorde in verschiedenen Ländern (eigene Darstellung) | 54 Verwendete Daten der Printmedienanalyse (eigene Darstellung) | 226 Bewertung der Hauptthesen der Arbeit (eigene Darstellung) | 297

Kulturelle Einflussfaktoren auf familiäre Konflikte (eigene Darstellung) | 100 Ursachen der Ehrenmorde (eigene Darstellung) | 124 Forschungsschwerpunkte (eigene Darstellung) | 169 Colemansche Badewanne zur Erklärung kollektiver Regelmäßigkeiten (Coleman, J. 1991, S. 53f.). | 197 Modell zur Erklärung des Fortbestands des Ehrprinzips und der Praxis der Ehrenmorde (eigene Darstellung in Anlehnung an Colemans Mehrebenenmodell) | 201 Posta vom 2.10. 2005: Dört sevinç bir hüzün: Vier mal Freude, einmal Trauer | 227 Posta vom 22.11.2005: Cinnet günü: Tag der Abrechnung | 227 Posta vom 28.1.2005: Sokakta 26 bıçak: 26 Messerstiche auf offener Straße | 228 Posta vom 4.4.2005: Çılgın koca dehşet açtı: Der wahnsinnige Ehemann richtet ein Blutbad an | 228 Posta vom 7.4.2005: Ömür boyu azap: Lebenslang Reue | 229 Posta vom 23.6.2005: Töre cinayetine aĝır tahrik indirimi: Strafminderung beim Ehrenmord | 229 Posta vom 5.5.2005: Burun kesenleri daha önce serbest bırakmışlar: Die Täter, die dem Opfer ihre Nase abschnitten, wurden freigelassen | 230

8

Morde ohne Ehre

Abbildung 13: Posta vom 12. 1. 2005: Pantolon giydi diye aĝabeyi öldürdü: Ihr Bruder brachte sie um, weil sie eine Hose trug | 231 Abbildung 14: Posta vom 23.6. 2005: Töre canavarları: Monster der Traditionen | 232 Abbildung 15: Posta vom 3.6.2005: Silikonları söküldü, erkek gibi gömüldü: Silikonimplantate wurden entfernt und er wurde als Mann beigesetzt | 233 Abbildung 16: Häufigkeit der angegebenen Mordmotive (eigene Darstellung) | 235 Abbildung 17: Geschlecht der Opfer (eigene Darstellung) | 241 Abbildung 18:   Familienstand der weiblichen Opfer (eigene Darstellung) | 242 Abbildung 19:   Alter der weiblichen Opfer (eigene Darstellung) | 243 Abbildung 20: Alter der männlichen Opfer (eigene Darstellung) | 244 Abbildung 21: Alter der männlichen Täter (eigene Darstellung) | 245 Abbildung 22: Alter der weiblichen Täter (eigene Darstellung) | 246 Abbildung 23: Täter-Opfer-Beziehung (eigene Darstellung) | 247 Abbildung 24: Tatorte der Verbrechen (eigene Darstellung) | 248 Abbildung 25: Tatorte der Ehrenmorde (eigene Darstellung) | 249 Abbildung 26: Mordmethoden (eigene Darstellung) | 251 Abbildung 27: Türkeikarte mit Stadtangaben (Sönmez, E. 1985, S. 74f.). | 339 Abbildung 28: Türkeikarte nach Regionen (Sönmez, E. 1985, S. 37f.). | 339 Abbildung 29: Collage verschiedener Zeitungsartikel (Posta 2005) | 344 Abbildung 30: Darstellung eines Opfers eines Ehrenmordes aus Palästina in Anlehnung an das Opferschlachten nach dem Fastenmonat Ramadan (Quelle: Jordan Times November 2006) | 345

Widmung

Bevor ich zu den persönlichen Danksagungen übergehen möchte, sei dieses Buch gewidmet allen Opfern und Überlebenden von Ehrenmorden; denen, die gegen das Auftreten dieser Morde kämpfen und die Rechte und Freiheiten der Frauen schützen, insbesondere das Recht der Frauen, selbst über ihr eigenes Leben zu bestimmen. Es ist vollbracht und jetzt kommt der Moment der Danksagungen, an diejenigen, ohne die diese vorliegende Arbeit entweder nie realisiert worden oder ohne die die Arbeit halb so gut wäre. Mein größter Dank geht an meinen persönlichen Förderer, meine Schwester, Nesche Yazgan. Ohne ihre tatkräftige und finanzielle Unterstützung hätte ich meine Promotion und insbesondere meinen Forschungsaufenthalt in der Türkei niemals realisieren können. Worte können meine Dankbarkeit – auch für vieles andere – kaum wiedergeben. Herzlichsten Dank an meinen Bruder, dem »Formatierungsexperten«, Alper Yazgan, der mir bei der Formatierung, Realisierung der Folien und allen technischen Fragen eine große Hilfe war und immer viel Zeit und Nerven für seine »kleine Schwester« übrig hatte. Größter Dank an meine Mutter, Heidi Yazgan, für ihre Unterstützung in jeglicher Art. Auch herzlichen Dank an meine fleißigen Profi- und Hobbylektoren, die beim Korrekturlesen der Arbeit eine große Hilfe waren: Diese wären Hergen Hillen, Anne Meichssner, Saskia Bercht, Juliane, Christine Hoops und Dominik Sienkiewicz. Bei der grafischen Darstellung der Folien war mir neben meinem Bruder Lothar Asselborn eine große Hilfe. Vielen Dank dafür und für alles andere. Während meines Forschungsaufenthaltes in Istanbul wurde ich tatkräftig von Mine und Emir Yardımcı unterstützt. Auch an sie richten sich meine Dankesgrüße. Mein herzlichster Dank geht an meinen Doktorvater, Prof. Dr. Sebastian Scheerer. Er war mir stets eine große fachliche Unterstützung und Hilfe bei der Reali-

10

Morde ohne Ehre

sierung dieser Arbeit. Auch Professor Leo Montada stand mir bei Fragen bezüglich forensischer Psychiatrie zu Seite. Danke auch an Feo Aladaĝ, Drehbuchautorin/Regisseurin und Produzentin des Filmes »Die Fremde«. Es war mir eine große Freude und eine Inspiration, an ihrem Film als wissenschaftliche Beraterin mitwirken zu dürfen. Auch herzlichste Dankesgrüße an die türkischen Experten, die mir eigens ihre persönlichen Unterlagen sowie zum Teil unveröffentlichtes Material zur Verfügung gestellt haben! Diese wären insbesondere Vildan Yirmibeşoĝlu, Mehmet Faraç, Pιnar Ilkaracan und Leyla Pervizat. In liebevoller Erinnerung an Anne Meichssner, Jutta Erenler und Renate Bercht. Am Ende angekommen möchte ich in liebevoller Erinnerung an meinen Vater, Abdullah Yazgan, gedenken, der den Abschluss meiner Promotion leider nicht mehr erleben durfte. Er ist dem Auge fern, aber dem Herzen nah.

Einleitung

»Wenn die Tochter der Familie gegen den Willen ihrer Familie das Haus verlässt und zu ihrem Geliebten geht, ist die Familie dazu verpflichtet, sie und ihren Liebhaber zu töten. Eine standesamtliche oder religiöse Eheschließung ändert nichts an dieser Tatsache, vor allem wenn die Eltern nicht zugestimmt und kein Brautpreis erhalten haben. Wenn eine verheiratete Frau ihren Mann verlässt und zu einem anderen Mann geht, muss sie in einer anderen Stadt leben als ihr Ehemann. Der Ehemann ist dazu verpflichtet, ihr zu folgen und sie und ihren Geliebten umzubringen« (Faraç, M. 2004, S. 20).1

In jedem Jahr kommen auf der ganzen Welt hunderte, wahrscheinlich tausende von Menschen durch so genannte Ehrenmorde ums Leben. Die Taten sind typischerweise besonders grausam, die Täter zeigen in der Regel weder ein schlechtes Gewissen noch irgendeine Reue. Die Opfer der Taten sind überwiegend Frauen und Mädchen. Ehrenmorde in westlichen Großstädten, meist begangen von Personen mit Migrationshintergrund, erregen öffentliches Aufsehen. Die Wurzeln dieser Taten aber liegen in ländlichen Gegenden mit einer eher archaisch-patriarchalen Sozialstruktur. Während sich Verbrechen der Ehre auch im nicht islamischen Mittelund Südamerika, im nördlichen Mittelmeerraum und anderswo ereignen, gehören manche islamische Länder – wie etwa Pakistan und die Türkei – doch zu den Regionen, in denen Ehrenmorde besonders häufig anzutreffen sind (vgl. Pervizat, L. 2005, S. 37f.). Als Wissenschaftlerin, die in der Türkei geboren wurde und dort bis zu ihrem zwölften Lebensjahr auch ihre Kindheit verbrachte und noch heute häufig in die Türkei reist und eng mit der türkischen Gesellschaft verbunden ist, die gerade deshalb aber auch mit dem Konzept der »Ehre« in der türkischen Kultur auf die verschiedenste Weise konfrontiert wurde, interessierte die Verfasserin schon lange das Thema der vorliegenden Arbeit. 1 | Dieses Zitat stammt aus dem historischen Dokument Urfa Şalnamesi, das vom Bürgermeister der südanatolischen Stadt Urfa, Uzun Hasan, im Jahr 1927 verfasst wurde. Noch heute berufen sich noch viele Täter im Namen der Ehre auf diese Quelle.

12

Morde ohne Ehre

Während sich die Autorin mit der Literatur zu Ehrenmorden befasste, stellte sie zudem eine starke Dominanz der westlichen Forschungen und Theorien und eine – teils wohl auch durch die Sprachbarrieren bedingte – Vernachlässigung türkischer Studien fest. So entstand die persönliche Motivation für die Erforschung des Themas unter Berücksichtigung nicht nur der international gängigen Literatur, sondern unter Einbeziehung von drei weiteren, aufschlussreichen Aspekten: erstens der türkischen Fachliteratur (einschließlich sozialwissenschaftlicher Untersuchungen), zweitens einer selbst durchgeführten Analyse der Zeitungsberichterstattung und drittens selbst vorgenommenen Experteninterviews mit türkischen Wissenschaftlern, Vertretern mit diesem Problem konfrontierten Berufsgruppen und sowie mit Vertretern von Frauenorganisationen. Die Erhebungen in der Türkei waren durch einen Methodenpluralismus gekennzeichnet, sodass stets mehrere klassische Instrumente (teilnehmende Beobachtung, Expertenbefragungen) der empirischen Sozialforschung eingesetzt wurden. Zur Vervollständigung der gesammelten Daten wurden vergleichende Materialien aus der reichhaltigen anthropologischen, soziologischen, kriminologischen, volkskundlichen, wirtschaftswissenschaftlichen und politologischen Sekundärliteratur herangezogen. Hinzu kamen Zeitungsarchiv- und Bibliotheksrecherchen, die bei der Analyse der türkischen Literatur und der Berichterstattung über Ehrenmorde von großem Nutzen waren. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Analyse der Tageszeitung Posta hinsichtlich ihrer Berichterstattung über Ehrenmorde im Untersuchungszeitraum 2005. Die Durchführung der Recherchen in der Türkei war mit zahlreichen praktischen Problemen verbunden. Bevor die Autorin ihren Forschungsaufenthalt in der Türkei begann, stellte sie mehrere Anträge beim türkischen Innenministerium und bat die türkische Polizei um Einsichtnahme in Prozessakten über Ehrenmorde. Obwohl das Ministerium mit dem Hauptsitz in Ankara positiv antwortete, stellte sich die Hauptdienststelle der Polizei in Istanbul gegen diese Bitte, und verweigerte die Akteneinsicht »in letzter Minute«, als die Autorin bereits nach Istanbul gereist war. Die Verfasserin vermutet, dass die türkische Polizei die Akteneinsicht wegen allgemeiner Rechtsunsicherheit und der Tatsache, dass sie aus einem europäischen Land kam, verweigerte. Daher beschloss die Verfasserin, frei verfügbare Datenquellen zu nutzen. Neben der internationalen und vor allem der türkischen Fachliteratur sollte die Berichterstattung in den Medien näher analysiert werden, da diese Vorgehensweise von keiner türkischen Instanz oder Institution abhängig war. Die intensive Berichterstattung über Ehrenmorde, die insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre zugenommen hat, war schon zu Beginn der Recherchen ein auffälliges Merkmal. Neben der täglichen Berichterstattung in der auflagenstärksten Tageszeitung Posta wurden in den Zeitungsarchiven von Posta, Hürriyet, Milliyet und Cumhuriyet recherchiert. Die Archive enthielten wichtige Artikel, Kommentare, Chronologien wichtiger Ereignisse und Beiträge über einschlägige Gesetzesänderungen. Auch wenn die Autorin es bevorzugt hätte, die Polizeiakten zu analysieren, stimmt sie der Aussage des türkischen Soziologen Ünsal zu, dass türkische

Einleitung

Zeitschriften einen »soziologischen Bodenschatz« und eine wertvolle Datenquelle bilden (vgl. Ünsal, A. 1995, S. 76). Die Analyse der Printmedien erwies sich insgesamt als ein geeignetes Instrument für die Erhebung von aussagekräftigen Daten über die Verbreitung und Erscheinungsformen von Ehrenmorden in der Türkei. Des Weiteren recherchierte die Verfasserin in den Bibliotheken der Bilgi und Istanbul Universität nach türkischer Fachliteratur. Die Datengrundlage für diese Arbeit bilden die Pilotstudie über die Berichterstattung von Ehrenmorden, die türkisch-, englisch- und deutschsprachige Literatur über dieses Thema, die Experteninterviews sowie eigene Erfahrungen und Beobachtungen der Autorin. Dieser Arbeit zugrunde liegenden Publikationen zum Thema Ehrenmord können wie folgt unterteilt werden: Im englisch- und deutschsprachigen Raum begegnet man verstärkt anthropologischen Auseinandersetzungen über den Ehrkodex in den mediterranen Gesellschaften (vgl. Giordano 1992, Peristiany 1992, Gilmore 1990, Schneider 1976, Davis 1977). Im deutschsprachigen Raum bilden die Arbeiten von Schiffauer (1993, 1987, 1985), Yalçın-Heckmann (1993), Kelek (2005) und Petersen (1998) bezüglich der Bedeutung des Ehrkodexes die Hauptbezugsquellen. Die ausführlichsten Studien über Ehrenmorde wurden von der Frauenorganisation Terre des Femmes (2005) und dem Bundeskriminalamt (2007) veröffentlicht. Im englischsprachigen Raum lässt sich die vorhandene Literatur drei Gruppen zuordnen: Arbeiten über den Ehrkomplex in mediterranen Gesellschaften, Studien über Ehrenmorde in einigen europäischen Ländern wie zum Beispiel die Studie über die Präventivmaßnahmen bezüglich des Auftretens der Ehrenmorde der schwedischen Regierung (Kvinnoforum von 2005) oder Van Ecks Untersuchung der Ehrenmorde in Holland (2003). Die englischsprachigen Veröffentlichungen über die Verbrechen im Namen der Ehre im arabischsprachigen Raum bilden die dritte Gruppierung (Welchmann/Hossein 2005, Al- Khayyat 1991, Goodwin 2003, Moghadam 1993, Zuhur 2005 und Mojab/Abdo 2003). Die verfügbare Literatur in der Türkei wird in drei Kategorien gegliedert: Studien von Vertretern aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen (Yirmibeşoĝlu 2005, Pervizat 2005, Faraç 2004, Ilkaracan, P. 2002, Sır 2005); die Veröffentlichungen der türkischen Regierung oder der staatlichen Instanzen; die Studien und Veröffentlichungen der türkischen Frauenvereinigungen (Kamer 2004, Amargi 2002, New Ways 2002). Die Experteninterviews, die für die Untersuchung in Istanbul durchgeführt wurden, bildeten eine weitere Datenquelle. Es wurden Experten kontaktiert, die sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt haben (Yirmibeşoĝlu, Faraç, Beyaz, Ilkaracan, Pervizat, Sır etc.). Die Interviews gewährleisteten eine interdisziplinäre Sichtweise über Ehrenmorde, die für die Behandlung der Thematik eine wichtige Voraussetzung darstellt. Neben der Analyse von Pritnmedien und wissenschaftlicher Literatur sowie den Experteninterviews vor Ort besuchte die Autorin mehrere Gerichtsverhandlungen des Strafgerichts in Istanbul (Eminönü), an dem einige Ehrenmordfälle

13

14

Morde ohne Ehre

verhandelt wurden. Neben der Bitte um Akteneinsicht bat sie die jeweiligen Strafverteidiger bei den Gerichtsverhandlungen um ein Gespräch mit den Angeklagten oder mit dessen Angehörigen. Leider war dies bei keinem der Fälle möglich. Auch die Bemühungen, mit den Anwesenden in den Gerichtsverhandlungen in Kontakt zu kommen, schlugen fehl. Nur im Rahmen der Konferenz zur Vorstellung der Dokumentation »Dialoge in der Dunkelheit« war es möglich, eine Angehörige einer von einem Ehrenmord bedrohten Frau als Gesprächspartner für ein Interview zu gewinnen. Des Weiteren nahm die Autorin an weiteren Konferenzen zu diesem Thema teil: Aile içinde şiddet (Gewalt innerhalb der Familie, Seminar der Menschenrechtsorganisation Amnesty International im Februar 2005 in Istanbul) und Karanlıkta Diyaloglar (Vorstellung der Dokumentation »Dialoge in der Dunkelheit« und zugleich ein Symposium über Ehrenmorde am 25.12. und 26.12.2005 in Istanbul). Bei beiden Veranstaltungen traf die Autorin weitere Experten wie Nebahat Akkoç (Leiterin der Frauenorganisation Kamer in Diyarbakır) oder die Journalistin Nicole Pope. An diversen Veranstaltungen und Treffen der Frauenorganisationen Amargi, Gökkuşaĝı Derneĝi oder Mor Çatı nahm die Verfasserin ebenfalls teil. Dank der freundlichen Unterstützung des Rechtsanwalts Tugay Demirci durfte die Verfasserin einige Akten über Ehrenmorde einsehen. Auch bei juristischen Fragen stand er mit Rat zur Seite. Ebenfalls waren viele Experten (Pervizat, Yirmibeşoĝlu, Beyaz, Faraç, Sır), mit denen die Interviews durchgeführt wurden, sehr zuvorkommend und stellten ihre Forschungen sowie zum Teil persönliche und unveröffentlichte Unterlagen zur Verfügung. Auch die Vertreter der Frauenorganisationen waren bei den Recherchen oder bei der Herstellung von Kontakten zu anderen Experten behilflich. Enttäuschend war dagegen die Haltung der Frauenvereinigung Kamer in Diyarbakır, die auf den Schutz von bedrohten Frauen spezialisiert ist. Trotz mehrmaliger Anfragen war es nicht möglich, der Autorin ihre Schriften und Studien zukommen zu lassen, die nur bei der Frauenvereinigung zu erwerben und noch nicht veröffentlicht sind. Obwohl die Autorin auf Datenquellen wie Gerichts- und Polizeiakten, persönlichen Gesprächen mit Betroffenen wider Willen verzichten musste, fiel die Datensammlung in der Türkei vielseitig aus. Mit der Dissertation wird das Ziel verfolgt, auf der Basis der vorhandenen Literatur sowie auf Basis eigener Beobachtungen, der Printmedienanalyse und in Gesprächen gewonnenen Einsichten die Thematik der Ehrenmorde zu untersuchen. Die Charakterisierung der Ehrenmorde in der Türkei anhand ihrer Merkmale, Erscheinungsformen und Häufigkeit ist der Gegenstand der Dissertation. Daher lautet die zentrale Fragestellung für diese Arbeit: Wie sind die Ehrenmorde nach dem heutigen Forschungsstand und vor allem am Fallbeispiel des Untersuchungslandes Türkei zu charakterisieren? Um diese Fragen zu beantworten, wird der weltweite Forschungsstand bezüglich dieser Thematik näher untersucht und ausführlich erläutert.

Einleitung

Welche typischen Merkmale charakterisieren die Ehrenmorde in der Türkei? Hieraus ergeben sich nachstehende Unterfragen: • Welche Rolle spielen die Diskrepanz zwischen der dörflichen und städtischen Kultur und vor allem der Islam bei dem Auftreten dieser Verbrechen? • Warum sind Frauen mehrheitlich als Opfer betroffen? Wie ist ihre gesellschaftliche Stellung in der Türkei? • Wie erklären türkische Experten einzelner wissenschaftlicher Disziplinen, die unterschiedlichen Berufsgruppen und Vertreter von Frauenorganisationen dieses Phänomen? • Welche gesellschaftliche und gesetzliche Akzeptanz genießen diese Verbrechen? Nachfolgende Aspekte, die den sozialen Kontext der Täter und Opfer bedingen, werden ebenso näher analysiert und durch verschiedene Theorien erklärt: Die Betrachtung der Ehre als Lebensmaxime und die Orientierung an Traditionen; die patriarchalen Beziehungen innerhalb der Familie; die sozioökonomischen Bedingungen; der Erwartungsdruck des sozialen Umfeldes, der insbesondere in sozial schwachen Gebieten durch soziale und wirtschaftliche Diskriminierung der Betroffenen zum Ausdruck kommt; Persönliche Faktoren wie Eifersucht oder Misstrauen. Neben den Ursachen der Ehrenmorde war die Art der Berichterstattung über Ehrenmorde in türkischen Medien sowie die Perspektive der türkischen Experten weitere zentrale Fragestellungen der Arbeit: • Wie ist die türkische Berichterstattung über Ehrenmorde? Gibt die Berichterstattung die verschiedenen Merkmale dieser Verbrechen wieder? • Aus welcher Perspektive beurteilen türkische Experten die Ehrenmorde und welche Präventionsmöglichkeiten schlagen sie vor? Die Hauptthesen der Arbeit, die bezüglich ihrer Validität untersucht werden, lauten: 1. Es gibt vier Arten von Ehrenmorden in der Türkei: Die traditionellen Brauchmorde, bei denen der Familienrat den Tod des Opfers und den Ausführenden der Tat beschließt; individuell begangene Ehrenmorde infolge von gesellschaftlichem Druck; Ehrenmorde an Männern, die die Ehre einer Frau verletzt haben; Ehrenmorde infolge von Affekthandlungen und Eifersucht (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 75f.). 2. Die Mehrzahl der Opfer sind verheiratete Frauen (Faraç, M. 2004, S. 42). 3. Die Täter sind in der Mehrheit männlich und haben eine enge Beziehung zum Opfer oder sind mit ihm verwandt (Pervizat, L. 2005, S. 89).

15

16

Morde ohne Ehre

4. Die meisten Ehrenmorde finden in schwach entwickelten Gebieten, im Osten und Südostanatolien der Türkei statt, die im Vergleich zum Westen der Türkei ökonomische, kulturelle und soziale Rückständigkeit aufweisen (Faraç, M. 2004, S. 85). 5. Die Täter fühlen sich durch das Verhalten und die spezielle Lebensweise des Opfers in ihrem Ehrgefühl verletzt. Uneheliche Beziehungen, Gerüchte über das unehrenhafte Verhalten des Opfers und die eigenständige, westlich orientierte Lebensweise des Opfers gehören zu den Motiven bei den Ehrenmorden. Dennoch ist das eigentliche Hauptmotiv der Ehrenmorde, die soziale Integrität des Täters und seiner Familie wiederherzustellen (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005 S. 74 und Faraç, M. 2004, S. 65). 6. Der Ehrenmord als Tötungsdelikt zeugt von großer Brutalität und beinhaltet oftmals mehrere Tötungsversuche (vgl. Pervizat, L. 2005, S. 85). 7. Der Ehrenmord findet auf einem öffentlichen Platz statt (vgl. Faraç, M. 2004, S. 91). Analog zur Fragestellung ist die Arbeit wie folgt aufgebaut: Das erste Kapitel befasst sich mit der Charakterisierung der Ehrenmorde in der Türkei. Zunächst wird untersucht, wie die Ehrenmorde historisch fundiert sind, der Ehrenkodex zu charakterisieren ist und in welchem Umfang die Verbrechen im Namen der Ehre weltweit verbreitet sind. Die Täter von Verbrechen im Namen der Ehre berufen sich in der Mehrheit auf das Ehrprinzip, um eine Tat zu rechtfertigen. Die zentrale Frage in diesem Abschnitt ist, warum die Vorstellung von Ehre das Verhalten der Täter bis hin zum Mord beeinflusst. Neben der Herkunft des Begriffes werden in Abschnitt 1.1.1 verschiedene Definitionen von Ehre und die Funktion dieses Ehrprinzips wiedergegeben. Es folgen Aussagen über den Stellenwert der Ehre in verschiedenen Ländern, mit dem Ziel die Gemeinsamkeiten des Ehrenkomplexes in diesen Gesellschaften darzustellen. Im Abschnitt 1.1.2 erfolgt die Auseinandersetzung mit den drei Deliktarten Ehrenmord, Affekttat und Blutrache, um einen Beitrag zur kontroversen Diskussionen bezüglich des Begriffsgebrauchs in der Fachliteratur beizutragen. Die internationale Verbreitung der Ehrenmorde und deren rechtliche Einordnung werden in Abschnitt 1.1.2 untersucht, um einen Überblick über die verschiedenen Formen, Gründe, Ursachen sowie über die Verbreitung von Ehrverbrechen wiederzugeben. Zunächst werden das Auftreten und der rechtliche Rahmen im Umgang mit Ehrenmorden in Lateinamerika und in Europa erläutert. Dieser Darstellung folgen die detaillierte Wiedergabe der Ehrenmorde und deren Behandlung in der Gesetzgebung in islamischen Ländern. In Abschnitt 1.1.3 werden die internationalen und wissenschaftlichen Studien und Veröffentlichungen über Ehrenmorde aus dem englisch- und deutschsprachigen Raum vorgestellt. Dabei bilden die Arbeiten von Werner Schiffauer, Clementine Van Eck, der Frauenvereinigung Terre des Femmes und die englischsprachigen

Einleitung

Schriften aus dem arabischen Raum (Mojab, Abdo, Zuhur, Khan, Welchman, Hossein, Curry und Al- Khayyat) die Hauptbezugsquellen. In Abschnitt 1.2 wird das Untersuchungsland Türkei anhand demografischer Daten, Bevölkerungsverteilung, wirtschaftlicher und politischer Lage, Staatsreligion und dem türkischen Bildungssystem vorgestellt, um die Lebensumstände der Betroffenen von Ehrenmorden zu verstehen. In Abschnitt 1.2.1 wird die Frage gestellt, inwieweit die dörfliche und die städtische Kultur die allgemeine Stellung der Frauen prägen und das verstärkte Auftreten der Ehrenmorde insbesondere bei den Tätern mit ländlicher Herkunft erklären. Die Auseinandersetzung mit der »Stellung der Frau in der türkischen Gesellschaft« erfolgt in Abschnitt 1.2.2 Herausgestellt wird, dass das Konzept der Ehre in der Türkei mit dem Status und der Sexualität der Frauen in Verbindung gebracht wird .Es besteht eine große Diskrepanz bezüglich der Stellung der Geschlechter zwischen der dörflichen und städtischen Kultur. Daher war es notwendig, beide Kulturen mithilfe der türkischsprachigen Literatur und Studien über die Lage der Frauen in diesen beiden Kulturen zu untersuchen. Die Auseinandersetzung mit der Rolle des Islam beim Auftreten der Ehrenmorde wird in Abschnitt 1.2.3 wiedergegeben. Falsche Interpretationen islamischer Leitsätze, mangelnde Informationen und die hohe Diversität der muslimischen Gesellschaften lassen meist ein nicht der Wirklichkeit entsprechendes und wenig transparentes Bild des Islam entstehen. Der Islam wird daher mit Fokus auf die für den Untersuchungsgegenstand relevanten Leitsätze und Glaubensrichtungen untersucht. In Abschnitt 1.3 folgt die Untersuchung über Erscheinungsform von Ehrenmorden in der Türkei anhand ihrer charakteristischen Merkmale. In Abschnitt 1.3.1 werden die rechtliche Lage der Frauen und der rechtliche Rahmen für Ehrenmorde in der türkischen Gesellschaft erforscht, neueste Gesetzesänderungen in Bezug auf die Frauenrechte und das Strafmaß der Täter von Ehrenmorden analysiert. In Abschnitt 1.3.2 folgt die Vorstellung der türkischsprachigen Studien über die Verbrechen im Namen der Ehre. Hierbei bilden die Arbeiten von Yirmibeşoĝlu, Faraç, Ilkaracan, Pervizat, Sır und die Forschungen der Frauenorganisationen Kamer und Amargi die hauptsächliche Literatur. Da die Literatur und Datenrecherche über die Blutrache als eine Unterkategorie von Ehrenmorden sehr ausführlich ausgefallen ist, wird sie separat in Abschnitt 1.3.3 anhand der Arbeiten von Ünsal, Faraç und Şimşek ausführlicher dargestellt. Das zweite Kapitel setzt sich mit den Erklärungsansätzen bezüglich der Ursachen der Ehrenmorde auseinander. Da die einzelnen Theorien nur teilweise die Ehrenmorde erklären, wurde hier bewusst eine interdisziplinäre Perspektive gewählt. Die Autorin vertritt die These, dass die patriarchalen Beziehungen innerhalb der Familie infolge des Machtungleichgewichts der Geschlechter und der Kontrolle der Männer über Frauen den sozialen Kontext der Täter und Opfer enorm prägen. Daher werden in Abschnitt 2.1 geschlechtersoziologische Theorien über die

17

18

Morde ohne Ehre

Beziehung der Geschlechter, patriarchalische Familienstrukturen (Walby, Millet, Brownmiller, Delphy und andere) und die männlich dominierte Kriminalität (Katz, Kersten, Whitehead, Connell) vorgestellt. Die Auseinandersetzung mit rechtssoziologischen und anthropologischen Überlegungen folgt in Abschnitt 2.2. Da der Ehrkomplex zu dem gesellschaftlichen Wertesystem einer Gesellschaft angehört, wird eine Analyse von Bedeutung und Funktion von Werten vorgenommen. Hierbei bilden die Erläuterungen von Rauh, Teubner, Durkheim und Luhmann wichtige Quellen. Ehrenmorde werden von vielen Forschern wie zum Beispiel Pervizat oder Delaney als ein kulturelles Phänomen angesehen, das durch den Kulturkonflikt zwischen dem traditionellen und modernen Wertesystem entsteht. Bei den kriminalsoziologischen Theorien liefern die Ansätze von Messerschmidt, der Mehrfaktorenansatz von Weiner und Pearson, die Control-Balance-Theorie von Charles Tittle und die Neutralisationstheorie von Sykes und Matza wichtige Erklärungen für Ehrenmorde. Die Handlungstheorie unter besonderer Berücksichtigung von Colemans Mehrebenenmodell wird in Abschnitt 2.3 vorgestellt, da diese den theoretischen Hintergrund der Dissertation bildet. Die eigene Interpretation des Mehrebenenmodells soll dabei die verschiedenen Einflussfaktoren hervorheben, die auf die Täter von Ehrenmorden am Fallbeispiel der Türkei einwirken. Da Ehrenmorde in ihrer Erscheinungsform sehr komplex sind, ist es wissenschaftlich nicht vertretbar, die Ehrenmorde anhand einer einzigen Ursache zu erklären. Folglich wird der Versuch unternommen, die für Täter von Ehrenmorden in der Türkei relevanten Einflussfaktoren in ein Theoriemodell zu integrieren, in dem alle genannten Phänomene berücksichtigt werden. Das dritte Kapitel bildet den methodischen Teil dieser Arbeit und stellt die angewendeten Forschungsinstrumente vor. In Abschnitt 3.1 wird die Bedeutung der Medienanalysen, der Medienwirkungsforschung untersucht und die Medienwirklichkeit in Bezug auf die mediale Darstellung der Ehrenmorde in der Türkei vorgestellt. Die Experteninterviews werden in Abschnitt 3.2 behandelt. Das vierte Kapitel gibt die Ergebnisse der Inhaltsanalyse und der Experteninterviews wieder. Die Medienlandschaft im Untersuchungsland Türkei und Beispiele für Filme, die Ehrenmorde behandeln, werden in Abschnitt 4.1.1 dargestellt. In Abschnitt 4.2 werden die Ergebnisse der Printmedienanalyse bezüglich der Berichterstattung über Ehrenmorde wiedergegeben. Während des Forschungsaufenthalts 2005 wurden auch andere Zeitungen herangezogen und in Zeitungsarchiven nach älteren Fällen recherchiert. Die Zeitungsarchive, die in Bezug auf ältere Fälle und den rechtlichen Rahmen der Ehrenmorde untersucht wurden, erwiesen sich durch unregelmäßig aufgenommene und lückenhafte Datenbestände als wenig ergiebig. Nur die auflagenstarke und als unparteiisch geltende Posta berichtete regelmässig über Ehrenmorde, und zwar auch dann, wenn in anderen Zeitungen keine Meldungen über aktuelle Fälle erschienen. Dies führte zu der Entscheidung, die Berichterstattung über Ehrenmorde in Posta im Untersuchungszeitraum täglich auszuwerten und als die Hauptquelle für die Datenerhebung zu verwenden.

Einleitung

Bei der Analyse der Tageszeitung wurden folgende Merkmale untersucht: Die Art der Berichterstattung über Ehrenmorde, die angegebenen Mordmotive, die Merkmale der Mordopfer sowie Täter, die Täter- Opferbeziehung, die Mordmethoden und die gemeinsamen Merkmale der Tatorte. Die Auswertung der Experteninterviews erfolgt in Abschnitt 4.3. Die Verfasserin führte während ihres Forschungsaufenthalts in der Türkei in Istanbul 15 Interviews mit Vertretern verschiedener wissenschaftlicher Bereiche durch. Die Auswertung der Interviews ist sehr umfangreich ausgefallen, daher wurden die Ergebnisse in zwei Gruppen aufgeteilt: zum einen die Perspektive der Experten aus unterschiedlichen Disziplinen in Abschnitt 4.3.1 und zum anderen die Perspektive der Frauenorganisationen in Abschnitt 4.3.2 Die türkische Frauenorganisationen spielen für den Schutz der Frauenrechte eine wichtige Rolle. Nach Ansicht der Verfasserin wären zahlreiche Gesetzesnovellen ohne den Einsatz der Frauenorganisationen nicht zustande gekommen. Daher werden in diesem Abschnitt neben den Interviews mit Vertretern von drei Frauenorganisationen auch die wichtigsten Frauenvereinigungen in der Türkei vorgestellt. Im Abschnitt 4.3 folgt ein Vergleich der Fachliteratur von türkischen, westlichen und arabischen Forschern zum Forschungsstand. Ziel dieser Gegenüberstellung ist, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten bezüglich der Herangehensweise der Experten und der Ursachenforschung herauszustellen. Im letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Präventionsmöglichkeiten bezüglich der Konfrontation mit Ehrenmorden. Dieses abschließende Kapitel trägt die in der Analyse gewonnenen Erkenntnisse zusammen. Hier erfolgt auch – soweit dies möglich ist – eine Bewertung der Ergebnisse sowie Vorschläge für Untersuchungen, die an diese Arbeit anknüpfen könnten.

19

1 Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

»I was proud to do it, to clear my family’s name. My sister had committed a mistake. And it’s better to have one person die, than the whole family die of shame. I put four bullets in her head. I did not regret this action. It is like a box of apples with a rotten apple in it. Would you keep it or throw the rotten apple away? I just threw it away. Now the men in my family can sit with other men, without losing face« (Zitat von Abdullah Saruhan, der seine Schwester im Namen der Ehre tötete: Goodwin, J. 2003, S. 267)

Ehrenmorde sind ein universal verbreitetes Phänomen, das sich auch in vielen Regionen der Türkei ereignet. Nach Angaben der türkischen Polizei kamen in den Jahren 2000 bis 2006 1190 Personen infolge von Ehrenmorden um (vgl. Posta vom 4.3.2006). Dennoch ist die Dunkelziffer weitaus höher, da viele Ehrenmorde als Selbstmorde getarnt und insofern nicht als Ehrenmorde registriert werden1 . Der türkische Staat hat das Ausmaß dieser Verbrechen erst in den letzten Jahren realisiert und infolgedessen Gesetzesänderungen für härtere Bestrafung von Tätern dieser Morde veranlasst. Die Bemühungen der Frauenorganisationen und Menschenrechtlern sowie intensive Medienkampagnen über die Sinnlosigkeit dieser Verbrechen hatten hierbei den entscheidenden Einfluss für die Änderung der Gesetze zugunsten der Opfer von Ehrenmorden. Im Folgenden werden Ehrenmorde in der Türkei anhand ihrer charakteristischen Merkmale, ihrer Erscheinungsformen und ihrer Verbreitung unter Einbeziehung von Forschungsergebnissen und strafrechtlichen Rahmenbedingungen beschrieben.

1.1 D as P hänomen E hrenmorde »Ein Mann ist wie ein Goldbarren und eine Frau wie ein Stück weisse Seide. Wenn Gold schmutzig wird, dann wischt man es einfach ab. Aber wenn ein Stück Seide schmutzig wird, kriegt man es nie wieder sauber – dann kann man es genauso gut wegschmeissen«

1  | Auch die erhöhte Selbstmordrate bei Frauen in den östlichen und südostanatolischen Gebieten bekräftigt diese Annahme (vgl. Sır, A. 2006 und Halis, M. 2001).

22

Morde ohne Ehre (Zitat eines englischen Staatsanwalts mit Migrationshintergrund. In: Die Weltwoche, Nr. 41, S. 35f.).

Ehrenmorde sind Verbrechen und zugleich Menschenrechtsverletzungen, die sowohl in muslimischen als auch in nicht islamischen Kulturen praktiziert werden. Der Ehrkodex an sich ist universal und kann unabhängig von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und Nationalität auf unterschiedliche Weise verletzt werden. Die Reaktion darauf differiert von Kultur zur Kultur. Verbrechen im Namen der Ehre gab es schon immer, die Medien wurden auf diese Verbrechen jedoch erst seit Mitte der 1990er verstärkt aufmerksam. Bei Ehrenmorden zeigt sich insbesondere die Gewalt gegenüber Frauen, die überwiegend die Opfer sind. Ein Ehrenmord ist ein Begriff, der die vorsätzliche Tötung eines Menschen bezeichnet, durch die – aus der Sicht des Täters – die Ehre des Getöteten, des Täters oder einer dritten Person oder Personengruppe wiederhergestellt werden soll. Neben dem Tatmotiv der Ehre ist das als unehrenhaft und nicht normkonform beurteiltes Verhalten des Opfers ein wichtiger Faktor. Delikte der Ehre sind ein universell verbreitetes Phänomen, welchem nicht nur Frauen, sondern auch Männer zum Opfer fallen. In dieser Arbeit werden Blutrache und Morde an Männern im Namen der Ehre ebenfalls diesen Verbrechen zugeordnet. Maßgeblicher Faktor bei der Kategorisierung der Verbrechen als Ehrenmorde ist nicht das Geschlecht oder der maritale Status der Opfer, sondern dass der Mord im Namen des Ehrprinzips ausgeübt wurde. Jährlich werden laut der United Nation Funds weltweit 5.000 Morde im Namen der Ehre ausgeübt. Diese hohe Anzahl, bei der die Dunkelziffer nicht berücksichtigt wurde, ist besorgniserregend. In dieser Arbeit wird die Dunkelziffer der jährlichen Ehrenmorde weltweit auf über 50.000 Opfer geschätzt. Tahira Khan hingegen schätzt diese Zahl auf 100.000 (Khan, T. 2005, S. 32). Ehrenmorde kommen meist in traditionell ländlichen Strukturen vor, obwohl sie auch in westlichen Ländern auftreten können. In Ländern wie Deutschland, England oder Schweden geschehen Ehrenmorde vorwiegend in Großstädten und Ballungszentren mit einem hohen Anteil muslimischer Einwanderer. Dass sich viele internationale Vereinigungen und Konferenzen in den letzten Jahren mit dem Thema befasst haben, trug zu deren Medienpräsenz bei (Beispiele für Vereinigungen und Konferenzen sind z.B. die CEDAW, das Kvinnoforum, die UNIFEM, die »Beijing +5« oder die CSW – Commission on the Status of Women). Neben der internationalen Verbreitung ist die Toleranz dieser Morde in verschiedenen Gesetzgebungen ein interessantes Merkmal dieser Verbrechensarten. In vielen Ländern, sowohl in islamischen wie nicht islamischen, vor allem aber in südamerikanischen Ländern, genießen die Täter oftmals Straffreiheit oder erhalten eine deutliche Strafminderung (Pervizat, L. 2005, S. 112f.). Die verschiedenen Merkmale wie Öffentlichkeitscharakter, sozialer Druck oder die große Brutalität werden anhand einiger Fallbeispiele exemplarisch vorgestellt:

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Die anfangs zitierte Aussage von Sarhan Abdullah, der seine 16-jährige Schwester im März 1996 mit vier Kopfschüssen tötete, weil sie ohne die Erlaubnis ihrer Familie mehrmals ausgegangen war, verdeutlicht die Skrupellosigkeit, welche bei Ehrenmorden zum Vorschein kommt (Goodwin, J. 2003, S. 267). Wie kommt es, dass ein junges Mädchen wie »ein verrotteter Apfel« von ihrer Familie im Namen der Ehre »entsorgt« wird, nur weil sie nicht das erwartete Verhalten zeigte? Oder wie ist es möglich, dass die 18-jährige Rabia Oĝuz im Jahr 1995 in der anatolischen Stadt Urfa auf einer belebten Einkaufsstraße vor mehreren Zeugen mit dem Traktor mehrmals überfahren und in Stücke gerissen wurde? Warum schossen die Täter nach der Tat begeistert in die Luft und feierten ihren Sieg über ihre wieder hergestellte Ehre und warteten geduldig auf die Polizei (Faraç, M. 2004, S. 19f.)? Die Öffentlichkeit war auch bei dem Ehrenmord an Sevda Gök im Jahr 1996 Zeuge, als ihr inmitten des Marktplatzes der Stadt Urfa vor vielen Zeugen von ihrem Cousin die Kehle durchgeschnitten wurde, weil sie mehrmals von zu Hause geflohen war. Der Mord an der 19-jährigen Şekha Aslan wirft ebenfalls Fragen auf. Sie wurde am 11.1. 2001 von ihrem 29-jährigen Bruder Hüseyin Aslan mit einem Jagdgewehr erschossen, nachdem sie ihrer Familie davon berichtete, dass sie vor acht Jahren vergewaltigt worden war. Warum wurde sie und nicht der Täter für die Vergewaltigung bestraft? Wie ist es zu erklären, dass zum Beispiel bei der von der türkischen Juristin Yirmibeşoĝlu durchgeführten Umfrage mit 560 Personen in anatolischen Städten, 39 Prozent der Befragten die Ehre mit dem Ausleben der weiblichen Sexualität entsprechend den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen gleichsetzen (Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 51)? Warum machten 25 Prozent der Personen die Aussage, eine Frau, die sich unehrenhaft verhält, könne getötet werden? 26 Prozent gaben an, dass sie einer Frau, die sich nicht an den Ehrkodex hält, verzeihen würden. Daher wird diese Arbeit der Fragestellung nachgehen, warum diese Morde bis heute in der Gesellschaft toleriert werden.

1.1.1 Der Begriff Ehre »Ehre ist des Lebens einziger Gewinn; Nehmt Ehre weg, so ist mein Leben hin« (William Shakespeare in »König Richard III«. In: Vogt, L., Zingerle, A. 1994, S. 211).

Die Täter von Verbrechen im Namen der Ehre berufen sich in der Mehrheit auf das Ehrprinzip, um ihre Tat zu ›rechtfertigen«. In diesem Kapitel werden neben der Herkunft des Ehrbegriffs dessen gesellschaftliche Funktionen untersucht. Ehre gehört zu den Begriffen, deren Bedeutungsinhalt sich verändert je nach Kultur und Epoche, in der sie verwendet werden. Der Ehrenkodex gehört zu den am meisten untersuchten Themen innerhalb mediterraner Gesellschaften. Insbesondere beschäftigten sich viele Wissenschaftler wie Peristiany (1965), Blok (1982),

23

24

Morde ohne Ehre

Herzfeld (1984), Schiffauer (1985), Pervizat (2005), Giordano (1992), Vogt (1994) oder Pitt-Rivers (1992) mit diesem Thema. Als Beispiel definieren John Peristiany und Michael Herzfeld die mediterranen Gesellschaften fast ohne Ausnahme als »honour and shame societies« und betonen, dass die Ehre als eine transkulturelle Erscheinung eine zentrale Kategorie der Wertorientierung dieser Gesellschaften darstellt. Brades drückt diese intensive Auseinandersetzung vieler Forscher mit dem Ehrenkodex in mediterranen Gesellschaften aus: »In more ways than one, honour and shame have become the bread and butter of Mediterranean studies« (Gilmore, D. 1990, S. 122). Die mediterranen Gesellschaften weisen trotz ihrer ethnischen und kulturellen Diversität viele Parallelen in Bezug auf die Vorstellungen von Ehre, Beziehungen der Geschlechter und die innerfamiliären Strukturen auf. Sie ausschließlich als »Honour and shame societies« zu bezeichnen, ist dennoch einseitig, da die mediterranen Gesellschaften soziokulturell und ethnisch betrachtet sehr heterogen sind (vgl. Gilmore, D. 1990, S. 170f.). Auch in der Literatur stößt man sehr häufig auf die Auseinandersetzung von Autoren mit dem Ehrenkodex: Moliére lässt beispielsweise in seinem Werk Don Juan seinen Hauptprotagonisten wie folgt über die Ehre sprechen: »Ehre ist unendlich viel kostbarer als das Leben, und wir sind zu nichts verpflichtet, wenn wir unser Leben einem Manne verdanken, der uns der Ehre beraubt hat« (Moliere 1983, S.  39).2 Vielen weiteren literarischen Werken diente die Ehre ebenfalls als Hauptmotiv. Eine große Rolle spielte sie insbesondere in Romanen, die das Duell zum Motiv haben, wie beispielsweise Tolstois Krieg und Frieden oder Theodor Fontanes Effi Briest (S. 271f.). Das Ehrprinzip, bei dem die Ehre eines Menschen als zentraler Wert betrachtet und das menschliche Handel davon bestimmt wird, geht bis in die Antike zurück (Schneider, J. und Schneider, P. 1976, S. 95f.). Schon damals gab es in ausgeprägten Agrargesellschaften, die sich gegen Eroberer und feindliche Feldzüge verteidigen mussten. Mithilfe ihrer Ehre konnten die Familien ihre Integrität vor den Machthabern bewahren. Da verschiedene Landsherren immer Anspruch auf die weiblichen Familienmitglieder erhoben, hatten die Familien das Ehrprinzip im Lauf der Zeit entwickelt, um sich bei solchen Angriffen auf ihre Ehre zu berufen. Jane und Peter Schneider sehen unter anderem darin die Grundlage für das Ehr-

2 | Ein weiteres Literaturbeispiel ist das Drama »La Casa de Bernarda Alba« des Schriftstellers Federico Garcia Lorca (1898-1936) oder das Theaterstück »Die Narrenkappe« des sizilianischen Schriftstellers Luigi Pirandello (1867-1936) aus Spanien (S. 174). Für Christian Giordano ist es auffällig, wie oft die Ehrenthematik in vielen Romanen, Novellen und Dramen, die aus dem Mittelmeerraum stammen, behandelt worden ist (Giordano, C. 1992, S. 343). Nach seinen Angaben ist die spanische Literatur dafür paradigmatisch, in der die verletzte und gerächte Ehre besonders von Ehemänner honra oder dem klassischen sinverguenza, also einem Schamlosen, der den kulturell legitimierten und konventionell garantierten Normenkodex der Ehrbaren infrage stellt.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

prinzip und betonen, dass das Ehrprinzip vor allem aufgrund des Schutzes der weiblichen Sexualität entstanden ist. Während Wissenschaftler wie Max Weber oder Georg Simmel die Rolle der Gesellschaft und die Werte bei ihren Definitionen von Ehre betonen, akzentuieren andere Autoren wie Leyla Yalçın-Heckmann oder Carol Delaney die sexuelle und die Geschlechterbedingte Dimension des Ehrprinzips. Eine weitere Gruppe marxistisch orientierter Forscher wie Ortner oder Khan beschreiben die Ehre in Anlehnung an das kapitalistische System. Peristiany, Schiffauer und Davis machen hingegen in ihren Ausführungen auf die gemeinschafts- und Schichtbezogenen Aspekte der Ehrenvorstellungen aufmerksam. Eine weitere Gemeinsamkeit vieler Definitionen ist, dass die Autoren den geschlechtsspezifischen Aspekt der Ehre betonen und zwischen der individuellen und kollektiven Ehre unterscheiden. Jane und Peter Schneider betonen den wertenden und den Gemeinschaftsbezogenen Aspekt der Ehre wie folgt: »Honour refers to a person’s worth as judged by others. One’s virtue, dignity, morality and status constitute one’s honour. In Mediterranean societies, honour is an attribute not only of individuals but also of kinship groups« (Schneider, J., Schneider, P. 1976, S. 86). Für Pitt-Rivers, einen bedeutenden englischen Ethnologen, der die mediterranen Gesellschaften unter anderem bezüglich des Ehrprinzips untersucht hat, ist der Ehrbegriff so komplex, dass eine eindeutige Definition praktisch unmöglich ist. Deshalb unterscheidet er folgende Dimensionen: (a) Ehre könne zum einen als ein Gefühl oder als ein spezifischer Bewusstseinszustand aufgefasst werden. Diese individualistische Dimension betone, dass der Richter der eigenen Ehre das Subjekt selbst ist. (b) Der zweite Aspekt betreffe das praktische Verhalten als Manifestation des erwähnten Bewusstseinszustandes. Ehre könne ein Gefühl sowie dessen Ausdruck im Handlungssystem sein, doch sie habe zugleich mit Demonstration, Wettbewerb und vor allem Reputation zu tun. Daher betrachtet er die Ehre als ein Gefühl oder als einen spezifischen Bewusstseinszustand: »Honour and shame reciprocal moral values representing primordial integration of individual to group« (Pitt-Rivers, J. 1963, S. 503). Er unterteilt die Ehre in zwei moralische Kategorien: »Honour of precedence and honour of virtue«. Die Prinzipien wie Hierarchie, Macht, Sexualität, Endogamie, Religion und das Sakrale würden in dem Begriff Ehre ebenfalls zum Ausdruck kommen (Gilmore, D. 1990, S. 2). Wie Schopenhauer unterscheidet er zwischen der männlichen und der weiblichen Ehre und betont, dass die Ehre der Frau als Scham, sexuelle Keuschheit und Reinheit betrachtet wird, während die männliche Ehre selbst als Wille und Fähigkeit empfunden wird, die eigene Reputation zu garantieren und zu verteidigen (Pitt-Rivers,1977, S. 22). Ein weiterer bedeutender Anthropologe, Peristiany, betrachtet die Ehre als: »Universal aspects of social evaluation. Honour and shame are social evaluations und thus participate of the nature of social sanctions, the more monolithic the jury, the more trenchant the judgement. They are the reflection of the social personality in the mirror of social ideas« (Peristinay, J. 1966, S. 11). Seine Definition der Ehre als ein soziales Phänomen beinhaltet daher die Berücksichtigung der Verhaltens-

25

26

Morde ohne Ehre

ideale der gegebenen Gesellschaft, die als Richtlinien für die Handelnden gelten.3 Die Ehre beurteilt er als eine temporale hierarchische Ordnung, welche die Individuen in zwei Gruppen unterteilt: die Ehrenhaften und die Ehrlosen. Der deutsche Soziologe Werner Schiffauer beschäftigte sich mit den allgemeinen Merkmalen der türkischen Dorfkultur und hier intensiv mit dem Ehrprinzip. Er beschreibt die Ehre als ein geschlechtsspezifisches und an das Individuum gebundenes Phänomen, das aber zugleich einen gruppenspezifischen Aspekt habe (Schiffauer, W. 1983, S. 65). Das Ehrprinzip kommt in dem Gedanken der Rechtseinheit, die die einzelnen Haushalte im Dorf darstellen, zum Ausdruck. Die Ehre wird verletzt, wenn ein Außenstehender die Familie in irgendeiner Weise beleidigt oder sich ein Familienmitglied unehrenhaft verhält. Sana Al-Khayyat, eine irakische Soziologin, die den Ehrenkomplex im Irak untersuchte, gibt an, dass die Ehre im arabischen Lexikon als das »Gesetz der konventionellen Verhaltensnorm« definiert wird (Al-Khayyat, S.  1990, S.  22f.). Die Vorstellungen von Ehre und nicht ehrenhaftem Verhalten in den arabischen Kulturen stimmen mit den Vorstellungen der türkischen Kultur überein. Sie gibt an, dass das Arabische zwei Ausdrücke besitze, um die subtilen Unterschiede des Ehrbegriffs zu benennen; der erste Begriff sharaf meint die Ehre im weiteren Sinn; der andere Terminus ird bezieht sich dagegen nur auf das sexuelle Verhalten. Es gibt noch einen anderen Begriff im Zusammenhang mit Ehre aib, der sich als unanständig übersetzen lässt (S. 23). Wie bei Al-Khayyat haben für Khan, eine pakistanische Politologin, die Worte für Ehre in der türkischen wie in der arabischen Sprache izzat oder ghairat ähnliche Bedeutungen. Männer sind demnach die einzigen Besitzer und Verteidiger der Ehre. Deshalb bezeichnet sie die Ehre als ein »männliches Attribut«. Der Gegensatz von Ehre ist die Scham, die mit dem Verlust der Ehre gleichgesetzt wird. Wenn sich vor allem Frauen gegen geltende Normen auflehnen oder außerhalb der von der patriarchalen Institution der Familie definierten Grenzen bewegen würden, würden sie die Ehre ihrer Familie beschmutzen.4 Über die Funktion und die gesellschaftlichen Konsequenzen des Ehrprinzips gibt es viele wissenschaftliche Beiträge, von denen einige im Folgenden wiedergegeben. Sie wurden in die zwei Hauptkategorien – die Gemeinschaftsbezogene Dimension und Geschlechterbezogene Dimension – eingeteilt: Der Gemeinschaftsbezogene Aspekt der Ehre äußert sich dadurch, dass sich die Ehre auf Individuen, aber auch auf Kollektive wie die Familie oder die Nation beziehen kann. Sie ist zudem von Handlungen bestimmt: sie kann verliehen, angestrebt, errungen, gemehrt, vermindert, zu- und abgesprochen werden (Vogt, L., 3 | Peristiany forschte im Jahr 1954 unter anderem sechs Monate lang in einem zyprischen und griechischen Dorf namens Alona, um die Bedeutung dieser Begriffe aus Sicht der Dorfbewohner zu untersuchen.

4 | Khan, T. 2005, URL: http://usconsulate-istanbul.org.tr/reppub/vawo/tkhan.html, Zugriff am 24.1.2005.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Zingerle, A. 1994, S. 16). Als wichtige Funktionen der Ehre sind festzuhalten, dass das Ehrprinzip das künftige Handeln des Trägers stabilisiert und dem sozialen Umfeld eine Interpretations- und Verhaltenssicherheit gibt. Ehre dient sowohl als Mittel der sozialen Kontrolle als auch der sozialen Differenzierung. Viele Forscher definieren die Ehre in Anlehnung an die unterschiedliche Stellung der Geschlechter in der Gesellschaft. Der Philosoph Arthur Schopenhauer unterscheidet zum Beispiel zwischen der Ehre einer Frau und der des Mannes. Nach seiner Auffassung ist die Ehre einer Frau eine Schutzmaßnahme des weiblichen Geschlechts zur Sicherstellung der Eheversorgung (Marquez, G. 1993, S. 106). Die marxistische Perspektive, die unter anderem von Ortner und Davis vertreten wird, betrachtet hingegen die Ehre als eine ideologische Mythisierung, um Frauen zu unterdrücken. Davis bezeichnet die weibliche Sexualität in diesem Zusammenhang als »den sozialen Index für die maskuline Reputation« (Gilmore, D. 1990, S. 5). Ähnlich wie bei Pitt-Rivers beinhaltet auch bei Giordano, einem Sozialanthropologen, das Normensystem einer Gesellschaft eine scharfe Rollentrennung zwischen der weiblichen und der männlichen Ehre.5 Carol Delaney, eine bedeutende Sozialwissenschaftlerin, definiert die Ehre in Anlehnung an die Geschlechterbeziehungen und betrachtet sie als einen »genetischen Kode«, eine Struktur von Beziehungen (Delaney, C. 1991, S. 35). Auch Herzfeld unterstreicht die Geschlechterbedingte Dimension des Ehrbegriffs und setzt den Verlust der Ehre eines Mannes mit dem Verlust seines sozialen Prestiges, seiner männlichen Identität und Maskulinität gleich. Daher bezeichnet er Ehre als »a libidinized social reputation« (Gilmore, D. 1990, S. 75f.). Er suggeriert wie der deutsche Soziologe Werner Schiffauer, dass Ehre durch den Begriff »Hospitality« – der Gastfreundschaft – ersetzt werden sollte, weil er den Ehrbegriff angesichts der Vielseitigkeit der mediterranen Kultur als suspekt betrachtet (Schiffauer, W. 1987, S. 16). Nach Werner Schiffauer bedeutet der Ehrbegriff, dass im Wesentlichen nur die Familie zählt, und Außenstehende weniger Bedeutung für den Einzelnen haben (Schiffauer, W. 1985, S.  26). Neben der Unterscheidung von Innen und Außen schafft der Ehrbegriff eine prinzipielle Asymmetrie im Verhältnis von Mann und 5  | Die Ehre wird nach Giordano tagtäglich neu definiert, sodass die Reputation einer Person keine Konstante darstellt. Das Sozialsystem in den mediterranen Gesellschaften kann daher als ein System sozialer Beziehungen zwischen rivalisierenden Individuen und Kollektiven angesehen werden. Folglich sei das Denkmuster sehr verbreitet, dass die Gesellschaft außerhalb der eigenen Familien- bzw. Verwandtschaftskreise von potenziellen Rivalen konstituiert werde, die man unbedingt überprüfen müsse (vgl. Giordano, S. 356f.). Die Ehre ist für ihn ein Instrument der sozialen Differenzierung, da der Wettbewerb um die Ehre die Angst vor sozialer Degradierung beinhaltet, die wiederum ein Zeichen für den hierarchischen Gesellschaftsaufbau ist.

27

28

Morde ohne Ehre

Frau. Der Ehrbegriff, der die Familie zum Maßstab des Handelns macht, rechtfertige die aggressive Handlung gegenüber der Außenwelt. Daher unterliegt der Wert der Ehre der Vorstellung einer klaren Grenze, die das Innen, den Bereich der Familie vom Außen, der männlichen Öffentlichkeit des Dorfes oder der Stadt, unterscheidet (S. 65f.). Die Ehre eines Mannes gilt dann als beschmutzt, wenn diese Grenze überschritten werde, wenn jemand von außen einen Angehörigen der Familie, möglicherweise eine der Frauen, belästigt oder angreift. Pitt-Rivers spricht in diesem Zusammenhang von der »sozialmoralischen Arbeitsteilung« zwischen Mann und Frau, die letztlich die Aufrechterhaltung der kollektiven Ehre garantiert (Pitt-Rivers, J. 1977, S. 78). Es gibt beim Ehrkomplex neben den vielen regionalen Varianten auch schichtenspezifische Norm- und Verhaltenskodizes. Die Normen für die weibliche Ehre sind präziser formuliert als die für den Mann (vgl. Giordano, C. 1992, S. 346f.). Eine Frau, die sich in mediterranen Gesellschaften allzu oft in der Öffentlichkeit zeigt oder durch ihr demonstratives Verhalten auffällt, wird stets als suspekt betrachtet. In den traditionellen Agrargesellschaften könne, so Giordano, daher die außerhäusliche Arbeit einer Frau zu einem Ehrverlust führen.6 Zudem werde die Frau in mediterranen Gesellschaften meist als ein schwaches Wesen angesehen, das sich weder gegen die feindliche Umwelt außerhalb der Familie noch gegen die »dämonischen Kräfte« der sozialen Umgebung wehren könne. Folglich müsse ihre weibliche Ehre stets bewacht und kontrolliert werden. Die Beaufsichtigung der Ehre übernehmen die männlichen Verwandten oder die älteren Frauen, wenn die Männer nicht anwesend sind. Nachdem die Bedeutung des Ehrbegriffs von deutsch- und englischsprachigen Autoren wiedergegeben wurde, folgt die Analyse des türkischen Ehrbegriffs namus. Da die griechische Bezeichnung Nomos (Ordnung) lautet, wird angenommen, dass Nomos der etymologische Ursprung von Namus, türkischen Begriff von Ehre ist. Dieser Begriff, der ursprünglich Gesetze und Regeln bedeutet, ist in anderen orientalischen Sprachen bekannt, unter anderem im Persischen oder Kurdischen (Namûs). Das lateinische Wort honor hat verschiedene Bedeutungen und wird mit Prestige, Respekt und Status assoziiert. Yirmibeşoĝlu, eine türkische Juristin und Expertin für Ehrenmorde, zitiert das türkische Wörterbuch, um die Bedeutung des Ehrbegriffes zu analysieren: »Namus: (1) Bir toplum içinde ahlak kurallarına karşı beslenen baĝlılık (Ehre: die gesellschaftliche Verbundenheit gegenüber Sittlichkeitsregeln) (2) Dürüstlük, doĝruluk (Ehrlichkeit, Angebrachtheit) (3) Sililik, iffet (Keuschheit, Reinheit)« (Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 23f.). Die deutsch-türkische Ethnologin Leyla Yalçın-Heckmann übersetzt Namus als Ehrgefühl, während sie Şeref mit Wertschätzung gleichsetzt und die Bedeutung 6 | Davis nennt als Beispiel die Einwohner von Pisticcis (Lukanien), die bei der Tabakernte lieber fremde Arbeitskräfte einsetzen, obwohl ihre Frauen bei der Ernte mithelfen könnten und dies ökonomisch günstiger wäre. Sie ziehen diese Arbeitsteilung vor, um die Ehrbarkeit der eigenen Frauen nicht in Gefahr zu bringen (Davis, J. 1973, S. 106).

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

dieser drei zentralen Begriffe in der türkischen Sprache wie folgt beschreibt: »Eine sittliche, moralisch gefestigte Person (ahlaklı bir kişi) ist in ihrer Umgebung als ehrenhaft (namuslu) und ehrbar (şerefli) bekannt und empfindet darauf einen berechtigten Stolz (gurur). Die anderen achten diese Person wegen dieser Vorzüge, oder es wird zumindest erwartet, dass man Achtung (saygı) erweist. Ehrenhaftigkeit (namus) und Ehrbarkeit (şeref) sind in dieser Bedeutung so etwas wie das Antlitz, das das Individuum der Gesellschaft zeigt, zugleich ein Abbild dessen, wie es von der Gesellschaft angesehen wird. Şeref dagegen ist ein Rang für Dienste an der Gesellschaft, den man benötigt, um in die gesellschaftlich anerkannte Stellung einer wegen bestimmter Vorzüge geschätzten Respektperson aufzusteigen« (Yalçın-Heckmann, L. 1993, S. 144f.). Die Verhaltensweisen entscheiden, ob man eine Wertschätzung oder Sanktionierung der Handlung als Gegenreaktion bekommt. Folglich hat namus einen absoluten Charakter, da man ihn entweder hat oder nicht, wogegen die Wertschätzung (şeref) ab- oder zunehmen kann. Sie weist darauf hin, dass şeref erblich ist, da die Abstammung aus einer guten Familie automatisch ein höheres Ansehen und gesellschaftliche Wertschätzung bedeutet. Den Begriff der Ehre namus ordnet sie der introvertierten, ichbezogenen Seite der Ehre und den şeref der extrovertierten, der Gesellschaft zugewandten Seite der Ehre zu. Bei den Funktionen der Ehrbegriffe hebt Yalçın-Heckmann hervor, dass sie zur Ausgrenzung, zur Annäherung und zur Integration in den zwischenmenschlichen Beziehungen eingesetzt werden (S.  143f.). Den sexuellen Bedeutungsgehalt dieser Begriffe in der türkischen Sprache erklärt sie hingegen so: »Seine Ehre bereinigen« (namusu temizlemek), »ehrabschneidend reden« (namusuna dil uzatmak), »Ehrenschande« (namus belası) – beinahe all diese Redewendungen werden im Zusammenhang mit einem Verhalten gebraucht, bei dem entweder die Geschlechtsidentität eines Individuums angegriffen wurde, ein Verhalten als Angriff darauf aufgefasst wurde oder die Geschlechtsidentität einer nahe stehenden Person betroffen war. Eine Person kann einen Angriff auf ihre Geschlechtsidentität als Verletzung ihrer Ehre auslegen« (Yalçın-Heckmann, L. 1993, S. 144f.). Der türkische Soziologe Sefa Şimşek definiert die Ehre zunächst als einen Gefühlszustand, der persönlich und durch das soziale Umfeld beurteilt wird und einen persönlichen Wert wiedergibt (Şimşek, S.  1998, S.  20f.). Er unterscheidet zwischen der persönlichen und der kollektiven Ehre. Als »kollektive Ehre« bezeichnet er die Art der Ehre, die beispielsweise den Mitgliedern einer Familie zukommt und die von diesen verteidigt werden muss, wobei die Blutrache für ihn den wichtigsten Ausdruck von kollektiver Ehre darstellt. Die Ehre, die einer Person selbst zuteil und von ihr selbst immer wieder aufs Neue definiert wird, bezeichnet er dagegen als die »persönliche Ehre«. Ehrbegriffe können nach geschlechtsspezifischen Identitäten normativ und scharf getrennt werden. Für Yalçın-Heckmann sind Geschlechtsidentität und Geschlechterbeziehungen Bereiche, die die emotionale und moralische Empfindsamkeit betreffen. Daher stehen die die meisten in türkischen Flüchen verwendeten Worte und Redewendungen in Zusammenhang mit Geschlecht, Sexualität und

29

30

Morde ohne Ehre

Geschlechtsidentität (S. 145). Folglich beziehe sich der schlimmste türkische Fluch immer als erstes auf die Ehefrau: »Avradını, ananı« (ich werde Geschlechtsverkehr mit deiner Frau und Mutter haben). Sie betont, dass jeder Mensch mit Ehre (namus) auf die Welt kommt und dass man die Ehre einer Person erst in der Pubertät infrage stellen darf. Wenn man beispielsweise einen heranwachsenden Jugendlichen als ehrlos beschimpfe, sei es ihm überlassen, ob er diesen Angriff annehme oder entsprechend des Verhaltenskodexes seines sozialen Umfelds abwehre. Sein Verhalten hinge insbesondere von der sozialen Schicht ab, der er angehört. Folglich ist für Yalçın-Heckmann die Ehre ein Wertkomplex, der maßgeblich über Hierarchie- und Machtbeziehungen in der Männergesellschaft entscheidet. Sie weist darauf hin, dass mit der sozialen Mobilität die alten Werte ihren Einfluss und ihren Absolutheitscharakter verloren haben. Zudem sei die soziale Mobilität durch die Prozesse der Modernisierung und Verstädterung gestiegen. Somit hätten die alten Werte ihre absolute Gültigkeit verloren und würden je nach Gruppe oder Schicht unterschiedlich aufgefasst und interpretiert. Auch nach Petersen ist die Ehre einer Frau an ihre sexuelle Reinheit gebunden (Petersen, A. 1988, S. 11f.).7 Sie muss als Jungfrau in die Ehe gehen und ihrem Ehemann treu sein. Ihre Keuschheit ist der Kern ihrer Ehre, die sie von der unehrenhaften Frau, der Hure, unterscheidet. Eine Ausdrucksform der weiblichen Ehre ist für Petersen die Schamhaftigkeit. Sie macht darauf aufmerksam, dass die den Frauen zugewiesene Ehre vom Verhalten zum anderen Geschlecht abhängig ist, während das Ehrgefühl der Männer von ihren Handlungen innerhalb dem eigenen Geschlecht geprägt ist (S. 27). Die Ehre eines Mannes ist nach ihren Angaben kurz nach der Heirat und später noch einmal, wenn seine Töchter heiratsfähig werden besonders verletzlich. Die Ehre gehört zu den wichtigsten Werten vieler traditioneller, orientalischer und mediterraner Gesellschaften und ist zugleich ein zentraler Wert innerhalb der Familie und den innerfamiliären Autoritätsbeziehungen. Obgleich verschiedene Gesellschaften und Kulturen insbesondere im Mittelmeerraum ähnliche Auffassungen in Bezug auf Ehrenkodex aufweisen, sollte man bei der Analyse des Ehrprinzips die Verhaltensideale der gegebenen Gesellschaft berücksichtigen, die je nach Ort, Zeit und Kultur voneinander differieren können. Die Auseinandersetzung mit dem Ehrprinzip in verschiedenen Kulturen zeigt, dass sie sich in vielen Aspekten ähneln. Auffällig ist ebenso, dass es Unterschiede in den Definitionen zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen gibt. Während der abendländische Kulturkreis die Ehre eher als ein positives Bild betrachtet, das sich aus der Gesamtheit charakterlicher Werten wie beispielsweise Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit ergibt, ist im orientalischen Kulturkreis die Einhaltung der tradierten Regeln und das äußere Verhalten der Person für die Begriffsbestimmung maßgeblich (vgl. Bau7 | Die Ethnologin Andrea Petersen unternahm im Sommer 1977 und im Frühjahr 1978 für die Dauer von sechs Monaten eine teilnehmende Beobachtung in zwei anatolischen Dörfern.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

meister, W. 2007, S. 46f.). Die Wiedergabe verschiedener Definitionen von Ehre offenbart, dass dieser Begriff von der Mehrheit der vorgestellten Wissenschaftler als geschlechtsspezifisch betrachtet wird. Diese Erkenntnis trifft auf die türkische Gesellschaft zu, denn insbesondere in der Türkei gelten unterschiedlich strenge Vorstellungen über die Ehre (Faraç, M. 2004, S. 57f.). Neben der weiblichen und der männlichen Ehre, die eine Rollentrennung im Normensystem bewirken, unterscheidet sich das Ehrprinzip durch die beiden Begriffe individuelle und kollektive Ehre. Dennoch wird darauf hingewiesen, dass sich aufgrund der Urbanisierung und Modernisierung insbesondere die städtische Bevölkerung zunehmend vom traditionellen Wertesystem löst und deshalb das Ehrprinzip eher in der ländlichen Bevölkerung seine ursprüngliche Bedeutung beibehalten hat. Im Gegensatz zu den Städten werden in den Dörfern die Traditionen mehr beachtet, und es findet eine stärkere soziale Kontrolle statt, die wiederum von der öffentlichen Meinung geprägt wird. Inwieweit das Ehrprinzip als Lebensmaxime betrachtet wird, hängt daher von der sozioökonomischen Lage und vom kulturellem Umfeld der Betroffenen ab (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 43f.).

1.1.2 Bedeutung der Ehre in traditionellen Gesellschaften Nachdem der Begriff Ehre, die Funktionen der Ehre und das Ehrprinzip in verschiedenen Kulturen allgemein wiedergegeben wurde, folgt eine Auseinandersetzung mit der Funktion der Ehre in traditionellen Gesellschaften (vgl. Pervizat, L. 2006, S. 23f.). Es stellt sich die Frage, über welche Gemeinsamkeiten die Gesellschaften verfügen, in denen Ehrenmorde verstärkt auftreten. In allen betroffenen Ländern steht die Ehre in der Werteskala der Tugenden an oberster Stelle (vgl. Baumeister, W. 2007, S. 45f.). Des Weiteren kommen zum Beispiel die Delikte der Ehre seit Jahrhunderten meist in patriarchalen Gesellschaften vor (vgl. Pervizat, L., 2005, S. 61). Die Mehrheit der Länder wie Jordanien, Pakistan oder Afghanistan sind ökonomisch schwache Länder, in denen die soziale Kluft zwischen Arm und Reich sehr groß ist. Aufgrund der großen Armut nehmen persönlich angeeignete und zugesprochene Werte wie die Ehre eine lebenswichtige Stellung im Alltag der Menschen ein. Die Recherchen bestätigen die Auffassung von Pierre Bourdieu, der die Ehre bei den Betroffenen von Ehrenmorden als ihr wichtigstes soziales Kapital bezeichnet.8 Der sozioökonomische Status der Personen ist ebenfalls entscheidend, 8  | Das Ehrverhalten entspricht demnach jenen Prozessen von Investition, Akkumulation und Profitmaximierung, wie sie die in engerem Sinn wirtschaftliche Kapitalbewegungen kennzeichnen (vgl. Bourdieu, P. 1983, S. 183f.). So seien alle Sphären der Sozialwelt durch ökonomische Nutzenkalküle gekennzeichnet. Um diesen Zusammenhang systematisch zu verdeutlichen, nimmt Bourdieu eine Ausweitung des traditionellen Kapitalbegriffs um die Konzepte »kulturelles Kapital« und »soziales Kapital« vor. Diese bezeichnen die Bildung

31

32

Morde ohne Ehre

denn bei Wohlhabenden spielen Prestige und Besitztümer und nicht die Ehre zentrale Rolle. Über die Ehre identifiziert sich das Individuum als Mitglied der Gruppe, die ihm ihrerseits Status, Würde und Wert in den sozialen Beziehungen innerhalb und außerhalb der Gruppe verleiht. In sozialschwachen Gruppen wird die Ehre zum wichtigsten Statussymbol. Sie mögen nicht ausreichend finanziell abgesichert oder nicht gut ausgebildet sein, entscheidend ist, dass sie sich ehrenhaft und erhobenen Hauptes in ihrem sozialen Umfeld behaupten können. Die Ehre ist die einzige Kapitalform, die ihnen das Überleben im sozialen Umfeld ermöglicht und absichert. Da ihnen soziale Aufstiegchancen durch Bildungs- oder Karrieremöglichkeiten aufgrund sozioökonomischer Missstände versperrt bleiben, können sie sich nur über ihre Ehre definieren. Dementsprechend reagieren die Betroffenen sehr extrem, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Ehre – ihr wertvollstes Gut – durch ein unangemessenes Verhalten verletzt wird. Die vielen Ehrenmorden vorausgehende soziale Diskriminierung im sozialen Umfeld bekräftigt viele Täter in ihrer Sichtweise, dass sie nur nach der Wiederherstellung der Ehre wieder sozial lebensfähig sein können. Weitere Gemeinsamkeiten der traditionellen Kulturen sind neben der patriarchalen Familienstruktur die damit verbundene Benachteiligung der Frauen gegenüber Männern. Daher wird die Ehre eines Mannes auch durch das ehrenhafte Verhalten der weiblichen Familienmitglieder definiert. Die Verletzung der Ehre einer Frau ist daher umso dramatischer für alle Beteiligten. Des Weiteren sind Frauen in traditionell geprägten Gesellschaften besonders benachteiligt, da sie zum Beispiel nur dann heiraten und Respekt in ihrem sozialen Umfeld genießen und ihrem sozialem Umfeld akzeptiert werden, wenn sie als ehrenhaft gelten. Aufgrund dessen reagieren die Familien sehr sensibel und überaus drastisch, wenn die Ehre ihrer Tochter als beschmutzt gilt. Dieser soziale Makel vermindert nicht nur die Heiratschancen der Tochter, bei der eine Hochzeit aufgrund der verbreiteten Praxis des Brautpreises auch einen finanziellen Zugewinn der meist verarmten Familien darstellt, sondern auch den Ruf aller Familienangehörigen des Familienmitglieds, dessen Ehre als unrein gilt. In den islamischen Gesellschaften kommt oftmals die falsche Interpretation islamischer Glaubenssätze hinzu, die wiederum zu einer extrem fundamentalistischen Religiosität führen kann. Die Ursache für das gewissenslose Vorgehen bei Ehrenmorden ist in vielen Fällen diese »falsche Religiosität«, da Ehrenmorde durch die islamische Lehre nicht zu begründen sind. Die Gesetze in den ausgewählten Ländern, die im folgenden Abschnitt vorgestellt werden, belegen, dass Täter bei Ehrenmorden durch ein geringeres Strafmaß begünstigt und diese Verbrechen größtenteils von den eher traditionell geprägten Gesellschaftstypen toleriert werden. Ehrenmorde treten verstärkt in Kulturen auf, und das Wissen, die Kulturgüter, Titel und Diplome. Soziales Kapital ist dagegen das Netz aus Beziehungen und Bekanntschaften, das sich über Familien, Klubs etc. aktivieren lässt. Das symbolische Kapital dagegen ist der sichtbare Ausdruck der anderen Kapitalformen.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

in denen die Traditionen noch geachtet werden. Für die Betroffenen sind diese Traditionen Leitsätze, nach denen sie ihren Alltag ausrichten. Sie richten sich nach dem, was als vorgegeben und kulturell fundiert gilt. So kommt es, dass das Jahrtausendalte Ehrprinzip eine überdimensionale Stellung in ihrem Leben einnimmt: Man lebt für die Ehre und tut alles, um sie zu beschützen, gegebenenfalls nimmt man den Tod eines geliebten Menschen in Kauf, wenn dafür die Ehre der ganzen Familie wiederhergestellt wird. Der Mord zur Reinigung der befleckten Ehre wird als ein notwendiges und unvermeidbares Opfer betrachtet. Nur der Ehrenmord kann die soziale Diskriminierung und den sozialen Tod verhindern. Herzfeld zum Beispiel setzt den Verlust der Ehre eines Mannes mit dem Verlust seines sozialen Prestiges, der männlichen Identität und der Maskulinität gleich. Daher bezeichnet er die Ehre als »a libidinized social reputation« (Herzfeld, M. 1985, S. 343f.). Aufgrund des engen gesellschaftlichen Zusammenlebens in dörflichen und traditionellen Strukturen und des hohen Stellenwerts der sozialen Kontrolle ist es für alle betroffenen Familienmitglieder kaum möglich, sich nach einer Ehrverletzung in ihrem sozialem Umfeld – sei es auf persönlicher als auch auf beruflicher Ebene – zu behaupten. Daher berichten viele Täter, dass sie in ihrem Umfeld sozial diskriminiert und regelrecht zu der Tat motiviert wurden und die Tat als den einzigen Ausweg gesehen haben. Die soziale wie physische Existenzbedrohung im Fall der Nichtwiederherstellung der Ehre ist ein wichtiger Motivationsfaktor für die Täter. Werner Baumeister weist in diesem Kontext auf die wichtige Rolle der Großfamilien beim Fortbestehen der Delikte der Ehre hin. Die Struktur und Art der sozialen Einbindung des Einzelnen in die Großfamilie wäre für das Verständnis vom Einzelnen und seiner Familie von großer Bedeutung. Bei den patriarchalisch organisierten Großfamilien würde es sich meist um Menschen aus armen Regionen handeln. Der Grundsatz unbedingter Solidarität innerhalb der Familie sei ebenso entscheidend. Diese unbedingte Solidarität bedinge es, dass die Familie die Konsequenzen der Ehrverletzung gemeinsam trage und sich von einer Ehrverletzung kollektiv betroffen zeige (Baumeister, W. 2007, S. 25f.). Ehrverletzungen, die ungerächt bleiben, führen zur Ehrenlosigkeit der ganzen Familie, da sie infolgedessen ausgegrenzt und missachtet wird. Ein türkisches Sprichwort »besser, das Leben zu verlieren als die Ehre« verdeutlicht diesen Anspruch (S. 146). Der Öffentlichkeitscharakter der Ehre ist sehr entscheidend, da die Ehre nicht nur angestrebt, sondern auch öffentlich in der Gemeinschaft ausgelebt werden muss. Zudem sind die traditionellen Gesellschaften unter anderem durch eine starke Gemeinschaftsbildung gekennzeichnet. Sie ist daher von Handlungen bestimmt, die sich im extremsten Fall durch einen Mord äußern können (vgl. Vogt, L., Zingerle, A. 1994, S.  16). Zudem bezieht die Ehre außer ihren Trägern stets noch deren soziales Umfeld mit ein und konstituiert sich deshalb erst in der Interaktion zwischen beiden Ebenen. Daher ist sie keine konstante Größe, sondern muss immer aufs Neue angestrebt, verteidigt und gemehrt werden.

33

34

Morde ohne Ehre

Der deutsche Soziologe Georg Simmel untersuchte die Ehre in Abhängigkeit von so genannten »Normierungsarten«, die in traditionellen Gesellschaften sehr ausgeprägt sind und der sozialen Gruppe als Mittel der Selbsterhaltung dienen (Gilmore, D. 1990, S.  22f.). Er identifiziert folgende Normierungsarten: Sittlichkeit, Ehre und Recht. Im Fall der Ehre habe die Verletzung der Normen teils innere, teils sozial-objektive und äußerlich wirksame Konsequenzen. Die spezifische Leistung der Ehre sei dabei die Internalisierung der Gruppennormen und ihre sozialintegrative Funktion. Jedes Mitglied einer Gruppe sehe die eigene Ehre angegriffen, wenn die eines anderen Mitglieds oder aber die kollektivpersönliche Ehre der gesamten Gruppe angegriffen werde. Dieser Aspekt wird bei den Ehrenmorden zum Beispiel dadurch verstärkt, dass aufgrund der verstärkt traditionellen Erziehung das Ehrprinzip bei den Betroffenen sehr stark verankert ist. Christian Giordano definiert das Sozialsystem in den mediterranen Gesellschaften, die man den traditionell geprägten Kulturen zuordnen kann, als ein »System sozialer Beziehungen zwischen rivalisierenden Individuen und Kollektiven«. Folglich sei das Denkmuster sehr verbreitet, dass die Gesellschaft außerhalb der eigenen Familien- bzw. Verwandtschaftskreise von potenziellen Rivalen konstituiert wird, die man unbedingt überprüfen müsse (Giordano, C. 1992, S. 356f.). Die Ehre stellt für ihn wie für Georg Simmel in erster Linie ein Instrument der sozialen Differenzierung dar. Zusammenfassend sei festgehalten, dass die Ehre in mediterranen Gesellschaften ein Instrument der sozialen Differenzierung und ein geschlechtsspezifisches Phänomen darstellt, das von Handlungen bestimmt wird und deshalb auch durch bestimmte Handlungen, die die Ehre der Person betreffen, verliehen oder abgesprochen werden kann. Deshalb beinhaltet der erbitterte Wettbewerb um Ehre und die Verteidigung der Ehre bei Bevölkerungsschichten mit geringem sozioökonomischem Status die außerordentliche Angst vor sozialer Degradierung. Diese Angst kann so weit gehen, dass eine Ehrverletzung unter gewissen Umständen zu einem Mordakt führt. Weitläufigere Berührungspunkte der betroffenen Länder, in denen Ehrenmorde stark verbreitet sind, sind neben ihrer südlichen Lage auf der Weltkarte die hohen Temperaturen. Des Weiteren kommt es hinzu, dass die betroffenen Länder eine lange kulturelle Tradition bezüglich der wichtigen Stellung des Ehrprinzips aufweisen. In diesem Kontext sind die Untersuchungen der amerikanischen Soziologen Robert Nisbett und Dov Cohen von Bedeutung, die mit ihrem Buch Culture of Honor die Gründe für das verstärkte gewalttätige Verhalten der Amerikaner im Süden des Landes im Vergleich zum Norden des Landes untersucht haben (Nisbett, R., Cohen, D. 1996, S. 5f.).9

9  | Obwohl die amerikanische Gesellschaft nicht traditionellen Gesellschaften in dem Sinne zugeordnet werden kann, zeigen diese Untersuchungen, dass die überdimensionale Stellung der Ehre auch bei ihnen, insbesondere im Süden des Landes, eine große Rolle

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Exkurs: Culture of honor Nisbett und Cohen weisen darauf hin, dass der Süden der USA (Staaten wie Tennesse, Kentucky und West Virginia mit eingeschlossen) im Laufe der Geschichte mehr Hang zum gewalttätigen Handeln zeigten als der Norden des Landes. Dieses Ergebnis begründen sie damit, dass der Süden des Landes seine eigene Auffassung von Ehre, die so genannte culture of honor habe und daher für gewalttätiges Handeln anfälliger sei. Als ein wichtiges Merkmal der Kultur der Ehre bezeichnen Nisbett und Cohen ähnlich wie die türkischen Autoren Faraç oder Yirmibeşoĝlu die Reaktion der Südländer auf eine Beleidigung: »A key aspect of the culture of honor ist he importance placed on the insult and the necessity to respond to it. An insult implies that the target is weak to be bullied. Since a reputation for strength is of the essence in the culture of honor, the individual who insults someone must be forced to retract; if the instigator refuses, he must be punished- with violence or even death« (S. 5). Im Rahmen ihrer Untersuchungen stellten sie fest, dass die Mordraten im Süden des Landes im landesweiten Vergleich am höchsten waren. Dabei untersuchten sie die folgenden vier Gründe, welche sie mit den höheren Raten für gewalttätiges Handeln im Süden verbinden: • die hohen Temperaturen im Süden (erwies sich im Laufe ihrer Recherchen als nicht zutreffend, weil die Mordraten in den kühleren Gebieten des Süden höher waren) • Tradition der Sklaverei, da im Laufe der Geschichte des Landes dadurch Gewalt als Kontroll- und Disziplinmittel legitimiert wurde (auch nicht als zutreffend erwiesen, weil die Mordraten in den Gebieten ohne die historische Tradition der Sklaverei nicht höher waren) • höhere Armutsrate im Süden (konnte von den Forschern nicht bestätigt werden, da keine großen regionalen Unterschiede diesbezüglich festgestellt wurden) • eine spezifische »Kultur der Ehre« im Süden und damit verbundene spezifische Attitüden und Verhaltensweisen (wurde von den Autoren so bestätigt). Nisbett und Cohen analysierten und verglichen auf der Grundlage der Statistiken des Justizministeriums die Mordraten zwischen 1976 und 1983. Die Mordrate im Norden des Landes betrug in dem Untersuchungszeitraum 2.13 pro 100.000 Bewohner, während diese Zahl im Süden 8.77 pro 100.000 Bewohner betrug und somit sehr viel höher war als im Norden. Sie analysierten ebenso die Befragungen durch die National Opinion Research Centres und gelangten zu der Schlussfolgerung, dass Südstaatler eine persönliche Beleidigung viel schwerwiegender empfanden als die Zerstörung ihres Eigentums (S. 26). 70 Prozent der Südstaatler befürworteten zum Beispiel das Töten einer Person infolge von Selbstverteidigung, spielt und infolgedessen andere Verhaltensweisen aufweisen kann als in Gebieten, bei denen die Ehre keinen zentralen Wert hat.

35

36

Morde ohne Ehre

während sich 56 Prozent der Nordstaatler dafür aussprachen. Bei der Frage, ob ein Mann dazu berechtigt sei, jemanden umzubringen um seine Familie zu verteidigen, gaben 80 Prozent der Südstaatler »Ja« als Antwort an, während nur 66 Prozent der Nordstaatler eine solche Reaktion befürworteten. Bei Auseinandersetzungen waren 75 Prozent der Südstaatler eher bereit, einen Konflikt mit Gewalt zu beenden aber nur 25 Prozent der Nordstaatler. Auch biologische Messungen während der Befragungen zeigten bei Südstaatlern einen höheren Testosteronspiegel bezüglich der Gewaltanwendung in pikanten Situationen (S. 44f.). Des Weiteren testeten die Autoren die Einstellungen der Befragten bezüglich der Anwendung von Gewalt in fiktiven Situationen mit jeweils unterschiedlichen Endszenarien. Hierbei handelte es sich um Konfliktsituationen, die infolge der Verletzung des Ehrgefühls eines Mannes entstehen könnten, beispielsweise, wie die Befragten darauf reagieren würden, wenn ihre Tochter sexuell missbraucht würde oder wenn ihre Ehefrau sie betrügen würde. Während 47 Prozent der Südstaatler die Tötung des Täters als legitim betrachteten, befürworteten nur 26 Prozent der Nordstaatler solch eine Tat (S. 31). Auch bei der Kindererziehung empfanden fast 50 Prozent der Südstaatler es als legitim, falls notwendig ihre Kinder mit leichten Schlägen zu »disziplinieren«, während nur 25 Prozent der Nordstaatler zustimmten (S. 34). Ein weiteres beachtliches Ergebnis liefert der Vergleich bezüglich der Vollstreckung der Todesstrafe in den beiden Regionen. Während in den Nordstaaten nur bei 12 Prozent die Todesstrafe vollstreckt wurde, betrug diese Zahl im Süden über 67 Prozent (S. 70). Zusammenfassend halten die Autoren drei Gründe für die höhere Gewaltbereitschaft im Süden fest: Südstaatler hätten weniger Hemmungen, Gewalt auszuüben als die Bewohner des Nordens. Es sei spezifisch für Südstaatler, dass sie unter bestimmten Umständen die Gewaltanwendung für gerechtfertigt halten. Gesetze und gesellschaftliche Institutionen würden die Gewaltanwendung unter bestimmten Umständen legitimieren. In der Summe dieser drei Faktoren sei der historische und kulturelle Hintergrund des Südens als eine Culture of Honor der wichtigste Faktor bei dieser Betrachtung (S. 70). Obwohl diese Studie veraltet ist und es zu überprüfen gilt, ob diese Ergebnisse heute noch zutreffen, liefert sie interessante Details über die erhöhte Gewaltbereitschaft der Südstaatler, die aufgrund kulturellen und geographischen Parallelen auf die Angehörigen der mediterranen Kulturen im weitesten Sinne übertragen werden könnte.

1.1.3 Begriffsabgrenzung: Ehrenmord – Blutrache – Affekttat In der Fachliteratur begegnet man kontroversen Diskussionen bezüglich des Gebrauchs des Ehrenmordbegriffs und den Unterschieden zwischen den drei Deliktarten Ehrenmord, Affekttat oder Blutrache. Im Folgenden sollen diese drei Deliktarten unabhängig voneinander hervorgehoben und deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede abgegrenzt werden.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Ehrenmord Der Begriff Ehrenmord wird in der Wissenschaft mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung des Tatmotivs, der Ursachen und der ungleichen Auslegung des Täter- sowie Opferkreises definiert. Das Bundeskriminalamt hat zum Beispiel im Rahmen einer Studie von 2006 den Begriff wie folgt definiert: »Tötungsdelikte, die aus vermeintlich kultureller Verpflichtung heraus innerhalb des eigenen Familienverbandes verübt werden, um der Familienehre gerecht zu werden«.10 Obwohl diese Definition die Ursachen für Ehrenmorde in ihrer Komplexität durch den Bezug auf die kulturelle Verpflichtung der Täter wiedergibt, schränkt sie den Täterkreis auf den eigenen Familienverband des Opfers ein. Die Frauenrechtsorganisation Terre Des Femmes deutet den Begriff als: »Eine Form von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die innerhalb stark patriarchalisch strukturierter Familien und Gesellschaften vorkommt. Die Gewalt wird mit der Wiederherstellung von Ehre gerechtfertigt und von männlichen Verwandten ausgeübt. Ein in der Gesellschaft vorherrschender traditioneller Ehrenkodex bildet die Grundlage von Ehrverbrechen«.11 Bei dieser Definition ist zu erkennen, dass ausschließlich Frauen als Opfer dargestellt werden, diese Annahme aber nicht immer zutrifft, da auch Männer Opfer von Ehrenmorden sein können. In dieser Arbeit definiert die Autorin hingegen diese Deliktarten als vorsätzliche Tötungsdelikte, die als Tatmotiv die Wiederherstellung der Familienehre haben, die infolge des als unehrenhaft beurteilten Verhaltens des Opfers verletzt wurde. Eine eigene Definition wird aus diesem Grunde vorgestellt, weil sich die oben exemplarisch vorgestellten Definitionen meist nur auf einen Teilaspekt oder eine Ursache der Ehrenmorde beziehen und die Komplexität dieser Tötungsdelikte daher teilweise wiedergeben. Daher wurden bei der eigenen Definition der Tätersowie Opferkreis bewusst offen gehalten und die Tatmotiv – die Wiederherstellung der Ehre – betont. Der Begriff Ehrenmord wird von internationalen Gremien und Fachleuten kontrovers diskutiert, weil kein Mord ›ehrenvoll« sein kann oder das Ehrprinzip diese Morde nicht rechtfertigt (Terre des Femmes, 2005, S. 6; Pervizat, L. 2004, S. 89.). Da aber das Tatmotiv Ehre diese Morde auslöst, vertritt die Autorin die Auffassung, dass die Ehre deshalb als Begriff legitim ist. Anderenfalls sollten Begriffe wie Affektmorde oder Lustmorde ebenfalls infrage gestellt werden, weil bei ihnen das Tatmotiv ebenso den Namen der Verbrechensart ausmacht. Auch zum Zeitpunkt des Forschungsaufenthaltes in der Türkei konnte eine hitzige Diskussion darüber wahrgenommen werden, ob die türkische Bezeichnung für einen traditionell bedingten Mord töre cinayeti mit dem Begriff Ehrenmord na10 | Vgl. BKA 2005, URL: www.bka.de/pressemitteilungen/2006/060519_pi_ehrenmorde. pdf, Zugriff am 1.1.2007.

11 | Vgl. Terre des Femmes 2005, URL: www.frauenrechte.de/tdf/pdf/EU-Studie_Ehrenmord.pdf, Zugriff am 11.4.2005, S. 5.

37

38

Morde ohne Ehre

mus cinayeti gleichgesetzt werden kann. In der türkischen Literatur wird die Blutrache oder der Ehrenmord als Brauch umschrieben, d.h. als »eine auf ungeschriebenen, mündlich tradierten Regeln beruhende mit staatlichen Zwangsmitteln nicht durchsetzbare, von der Bevölkerung getragene Verhaltensweise« (Baumeister, W. 2007, S. 18). Diese Diskussion wurde entfacht, weil bei den Gesetzesänderungen der Begriff »traditionell bedingte Morde« und nicht der Begriff Ehrenmord in die türkische Gesetzgebung aufgenommen wurde, was auf erhebliche Kritik bei einem Teil der Bevölkerung stieß. Mehmet Faraç, türkischer Journalist und Autor, erklärt den Unterschied im Rahmen des mit ihm durchgeführten Experteninterviews wie folgt: »Auch wenn das Ehrprinzip ein Teil der Tradition darstellt, sind Ehrenmorde doch spezifisch. Man muss beide Mordarten getrennt behandeln. Bei traditionellen Morden werden die Täter von der Gesellschaft dazu gezwungen. Wenn wir zu all diesen Morden Ehrenmorde sagen, dann müsste man auch die Affektmorde in Europa als Ehrenmorde bezeichnen. Es kommt auch auf die Örtlichkeit an. Im Anatolien kann ein Vater durchdrehen, wenn schlecht über seine Tochter geredet wird. Derselbe Vater dagegen würde anders reagieren, wenn er in Istanbul leben würde. Die geografischen Bedingungen und die sozialen Faktoren prägen enorm das Verhalten des Individuums« (Interview mit Mehmet Faraç, vom 11.10.2005). Der türkische Gerichtsmediziner Şevki Sözen dagegen ist aus folgenden Gründen gegen eine Trennung dieser Begriffe: »Traditionelle Morde sind die Morde, die von der Familie gemeinsam beschlossen werden. Ehrenmorde haben überwiegend individuelle Aspekte. Ich bin dagegen, diese beiden zu trennen oder zu klassifizieren, da beide Arten auf alten überkommenen Traditionen beruhen. Es ist viel wichtiger, Maßnahmen gegen diese traditionell bedingte Mordarten zu treffen als über die Korrektheit dieses Begriffes zu diskutieren« (Interview mit Şevki Sözen vom 6.12.2005). Bei einer Affekttat handelt es sich um eine »Straftat, bei deren Zustandekommen eine erhebliche seelische Belastung des Täters als mitursächlich angesehen wird« (Pervizat, 2004, S.  42f.). Ehrenmorde werden von einigen Forschern mit Affekttaten verglichen und sogar gleichgesetzt, da beide ähnliche Tatmotive haben (vgl. Pervizat, L. 2004, S. 56f.; Halis, M. 1995, S. 27f.). Bei den Affekttaten handelt es sich um Beziehungstaten, bei denen Männer ihre Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen umbringen. Eine Affekttat wird von Tätern meist allein begangen und ungeplant durchgeführt. Ähnlich wie bei Ehrenmorden sind häufig Männer und dem Opfer bekannte Personen die Täter. Affekttaten werden fast ausschließlich von dem derzeitigen oder ehemaligen Partner des Opfers verübt, während bei Ehrenmorden oft nahe Verwandten des Opfers wie zum Beispiel Väter, Onkel oder Cousins mehrheitlich Täter sind (vgl. Terre des Femmes 2005, S. 10). Ein Verbrechen im Namen der Ehre liegt vor, wenn der Familienrat den Tod des Opfers und den Ausführenden der Tat bestimmt, häufig eine gemeinschaftliche Planung der Tat durch den Familienrat voraus, während eine Affekttat von einem Täter – meist ungeplant – im Affekt ausgeübt wird.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Das Unrechtsbewusstsein des Täters ist ein weiterer Unterschied zwischen einem Ehrenmord und einer Beziehungstat: Ein Ehrenmörder ist sich bei der Mehrheit der Fälle keiner (moralischen) Schuld bewusst und fühlt sich durch das Ehrprinzip in seinem Handeln legitimiert. Ein Affekttäter hingegen zeigt nach der Tat meist Schuldgefühle und Unrechtsbewusstsein. Ein weiterer Unterschied ist, dass ein Ehrenmord meist nicht im Affekt begangen wird, auch wenn die Täter unter einem enormen gesellschaftlichen Druck stehen. Für den Täter kann die Affekttat ähnlich motiviert sein wie der Ehrenmord, da sich in beiden Fällen der Täter in seiner Ehre oder in seiner Männlichkeit verletzt fühlt und infolgedessen tötet. Dennoch stellt die Wiederherstellung der Familienehre bei Ehrenmorden das Hauptmotiv der Täter dar, während bei Affekttaten die »emotionale Ausnahmesituation des Täters« und die Kompensation der psychologischen Demütigung des Täters durch das Opfer zum Tatzeitpunkt im Vordergrund steht. Eine Gemeinsamkeit beider Mordarten ist, dass die Gründe für Gewalt im Namen der Leidenschaft und Gewalt im Namen der Ehre in einigen Fällen ineinander übergehen können, da es bei beiden Tötungsdelikten um die Kontrolle der weiblichen Sexualität geht. Ehrenmorde infolge von Affekthandlungen und Eifersucht gehören zum überschneidenden Bereich dieser beiden Deliktarten, denn sie werden infolge von Untreue oder Verdacht auf Untreue des Opfers begangen. Die Täter dieser Kategorie von Ehrenmorden rechtfertigen ihre Tat neben dem Ehrprinzip auch mit ihrem emotionalen Zustand während der Tat (vgl. Faraç, M. 2004, S. 97f.). Die Wiederherstellung der verletzten Ehre ist die wichtigste Triebfeder der Blutrache, bei dem die Tötung eines Familienmitglieds durch die Tötung eines Familienangehörigen des Täters gerächt wird (Ünsal, A. 1995, S. 67f.). Der Blutrache geht immer eine Handlung voraus, die mit einer Ehrverletzung verbunden ist. Daher ist die Wiederherstellung der Ehre sowohl beim Ehrenmord als auch bei der Blutrache das Ziel und Hauptmotiv der Tat (vgl. Baumeister, W. 2007, S. 71f.). Die Autorin zählt daher die Blutrache zu einer Sonderkategorie des Ehrenmords, die sich insbesondere hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs der Tat am deutlichsten von einem Ehrenmord unterscheidet. Die Unterschiede zwischen einem Ehrenmord und einer Blutrache sind unter anderem, dass die Streitereien um Landbesitze die Hauptursache bei Blutrache bilden, während bei Ehrenmorden mehr individuell bedingte persönliche Motive wie Eifersucht, Lebensweise des Opfers die Hauptgründe für die Delikte ausmachen. Des Weiteren ist Blutrache mehr kollektiver Natur, da überwiegend Klanstrukturen betroffen sind, während bei einem Ehrenmord verstärkt Einzelpersonen als Täter und Opfer involviert sind. Ein weiterer Unterschied ist, dass Blutrache zeitlich unbegrenzter und eher langfristiger Art ist, während sich Ehrenmorde in einem bestimmten, im Vergleich zur Blutrache in einem kürzeren Zeitrahmen ereignen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich ein Ehrenmord in Blutrache umwandeln

39

40

Morde ohne Ehre

kann, wenn die Familie des Opfers die Tat durch die Tötung einer Angehörigen des Täters rächt. Die Auseinandersetzung mit den drei Deliktarten zeigt, dass bei dem Tatmotiv ähnliche Motive vorhanden sind. Differenzierungen ergaben sich überwiegend aus dem Täterkreis und dem zeitlichen Ablauf der Tat, wie die folgende Tabelle zeigt. Ehrenmord

Blutrache

Affektmord

Hauptmotiv

- Ehrenprinzip - Ehrenprinzip - Individuell bedingte - Sozioökonomische Motive Motive

- Persönliche und psychologisch bedingte Motive

Zeitfaktor

Kurzer zeitlicher Vorlauf

Zeitlich unbegrenzte „Kettenhandlung“

Affekthandlung

Täterschaft

Meist individuelles Agieren

Meist individuelles Handeln mit stärkerem Individuelles Agieren Kollektivbezug (Klanstrukturen)

Tabelle 1: Unterscheidungsmerkmale bei Tötungsdelikten mit Beziehungshintergrund (eigene Darstellung)

1.1.4 Internationale Verbreitung von Ehrenmorden Ehrenmorde sind Verbrechen und zugleich Menschenrechtsverletzungen, die sowohl in muslimischen als auch nicht islamischen Kulturen unabhängig von Gesellschaft und Ethnie praktiziert werden. In der Mehrheit sind Frauen Opfer von Ehrenmorden. Im Folgenden werden die Verbreitung und die Erscheinungsform der Ehrenmorde in verschiedenen Ländern analysiert. Hierbei wird die folgende Unterteilung vorgenommen: Zunächst wird auf die Gemeinsamkeiten in den betroffenen Ländern eingegangen, danach das Auftreten der Ehrenmorde in Lateinamerika und in Europa wiedergegeben. Dieser Darstellung folgt die ausführliche Wiedergabe der Ehrenmorde in einigen islamischen Ländern. Ehrenmorde kommen meist in patriarchalen Gesellschaften vor. Bis zum 18. Jahrhundert begegnete man diesem Phänomen auch in Schottland, Nordafrika, Asien und Afrika. Heutzutage kann man Ehrenmorde noch in vielen Mittelmeerländern, in Lateinamerika, Indien und China vorfinden (Pervizat, L., 2005, S. 61). Bei der Mehrheit der ausgewählten Länder, wie Jordanien, Pakistan oder Afghanistan handelt es sich um ökonomisch schwache Länder, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich sehr groß ist. Aufgrund der erheblichen Armut nehmen persönlich angeeignete und zugesprochene Werte wie die Ehre eine wichtige Stellung im Alltag der Menschen ein. In den islamischen Gesellschaften kommt in vielerlei Hinsicht die falsche Interpretation islamischer Glaubenssätze und daraus resultierenden fundamentalistischen Grundhaltungen hinzu. Zudem belegen die

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Strafgesetze in den ausgewählten Ländern, dass Täter durch die Verhängung geringerer Strafmaße begünstigt werden und dass diese Verbrechen von der jeweiligen Gesellschaft zum größten Teil toleriert werden und nur wenig Widerspruch erfahren. So profitieren zum Beispiel Ehrenmörder in den folgenden Staaten von Strafmilderungen: Peru, Argentinien, Bangladesch, Ecuador, Ägypten, Iran, Israel, Jordanien, Syrien, Libyen und Venezuela (Pervizat, L. 2005, S. 79f.). Nach Studien der UNO werden ungefähr 5.000 belegte Fälle von Ehrenmorden weltweit bekannt. Da die wenigsten Fälle jedoch strafrechtlich verfolgt werden, liegt die Dunkelziffer vermutlich weitaus höher. Die Schätzungen liegen zwischen 10.000 und 100.000 Fällen jährlich, sodass hier keine verlässlichen Aussagen gemacht werden kann. Die ältesten den Ehrenmord legitimierenden Gesetze stammen aus dem Recht des assyrischen Reichs (17. Jahrhundert v.  Chr.). Des Weiteren gilt das römische Strafrecht als eine weitere Quelle bezüglich der historischen Fundierung von Delikten der Ehre. Der so genannte Codex Hammurabi aus dem Jahr 1700 vor Christus schrieb vor, dass untreue Männer und Frauen gemeinsam ins Wasser geworfen und ertrinken sollten. Eine Ehefrau, die ihren Ehemann wegen eines anderen Mannes töten ließ, wurde gepfählt. Auch in Japan wurden in diesem Kontext zwei untreue Personen vor einigen Jahrhunderten sofort hingerichtet. Bei den Griechen durfte der Familienvater den Täter straflos umbringen, wenn er sich an einem weiblichen Familienmitglied vergriffen hatte. Auch in Israel und bei den Alttürken wurde ein Fremdgeher mit dem Tode bestraft. Bei den Germanen wurden die Ehemänner, die ihre untreuen Ehefrauen umbrachten, nicht bestraft. Frauen, die sich der Prostitution schuldig machten, wurden hingegen in Sumpfgebieten ertränkt. In Peru wurden 1200 v. Chr. Ehebrecher mit dem Hungertod bestraft. Ein Mann durfte seine Frau töten, wenn er sie zum Beispiel bei außerehelichem Verkehr überraschte oder einen solchen vermutete. Hingegen verfiel eine Frau selbst der Todesstrafe, wenn sie ihren Ehemann aus dem gleichen Grunde tötete. 150 v. Chr. praktizierte man im Tal von Mexiko die Steinigung oder die Erdrosselung für den Ehebruch der Frau, nachdem der Ehemann diesen bewiesen hatte (Pervizat, L. 2005, S. 82). Die türkische Soziologin Leyla Pervizat untersuchte das Ehrprinzip im römischen Strafrecht und betonte, dass auch im alten Rom dem Familienältesten das Recht vorbehalten war, eine unverheiratete, aber sexuell aktive Tochter im Namen der Ehre zu töten. Das römische Strafrecht wird nach ihrer Ansicht nach in dieser Hinsicht als Grundstein aller heutigen Gesetzbücher akzeptiert (Pervizat, L, 2005, S. 89f.). Alle weiblichen Familienmitglieder im alten Rom waren der Verantwortlichkeit des Vaters unterstellt. Nur die Kinder von verheirateten Paaren wurden als ehrenhaft anerkannt. Frauen und Männer, die mehr als zweimal verheiratet waren, wurden ebenfalls als ehrenhaft betrachtet. Nach dem Gesetz des Lex Julia durfte zum Beispiel ein Familienvater seine Tochter nur unter Erfüllung folgender Bedingungen umbringen: (1) Er musste ihr leiblicher Vater sein. (2) Er musste sie und

41

42

Morde ohne Ehre

ihren Geliebten auf gleiche Art und Weise umbringen. (3) Er musste sie bei sich zu Hause in einer eindeutig unsittlichen Situation aufgefunden haben (S. 94). Das Alte Testament (Levitikus und Deuteronomium) und die Halacha (jüdisches Gesetz) schrieben schon die Todesstrafe für zahlreiche Formen sexuellen Missbrauchs bei Männern wie bei Frauen vor.12 Die Untreue zweier verheirateter Personen sollte mit der Todesstrafe geahndet werden. Inzestuöse Beziehungen wurden ebenfalls mit der Todesstrafe belegt. Genauso verboten war es, gleichzeitig polygame Beziehungen zu einer Frau und deren Mutter zu unterhalten. Auch der sexuelle Missbrauch von Tieren wurde mit dem Tod geahndet (aus dem Altem Testament/Thora, Drittes Buch Moses: Levitikus 20). In anderen Kulturen wurden Verletzungen der Familienehre mit Verstümmelung verstraft. So wurde bei den Chinesen Untreue bei Frauen mit dem Abschneiden der Nase und bei Männern durch Kastration bestraft. Heute noch gibt es insbesondere im Südosten der Türkei Gebiete, in denen als Warnung vor einem bevorstehenden Ehrenmord dem Opfer die Nase abgeschnitten wird, damit es sein unehrenhaftes Verhalten nicht fortsetzt.13 In Ägypten war es auch eine weit verbreitete Praxis, dem untreuen Ehemann das Geschlechtsteil und der Frau die Nase abzuschneiden.

Lateinamerika Bei der Untersuchung des gesetzlichen Rahmens der Ehrenmorde in Lateinamerika zum Beispiel kam Leyla Pervizat zu folgenden Ergebnissen (Pervizat, L. 2005, S. 112f.). Insbesondere im lateinamerikanischen Raum werden Verbrechen im Namen der Ehre mit Affektmorden gleichgesetzt. Verbrechen aus Leidenschaft haben häufig einen speziellen Status vor dem Gesetz. In die Strafgesetze vieler Nationen, die ihre moderne Rechtsprechung auf den Code Napoleon gründeten, ging zum Beispiel eine bis zum Jahre 1975 gültige Vorschrift aus dem französischen Strafrecht ein, nach dem ein Ehemann seine Frau töten durfte, wenn er sie beim Ehebruch ertappte. Jedoch werden Verbrechen aus Leidenschaft (als Affekttat) regelmäßig von einem vorsätzlichen Verbrechen gegen einen ehebrechenden Gatten unterschieden. Pervizat macht in ihren Untersuchungen auf die Gesetzesänderungen in den folgenden Ländern aufmerksam: In Argentinien wurde 1998 das Gesetz über Ehrverbrechen, das seit 1987 in Kraft war, als Verbrechen gegen die Gleichberechtigung umdefiniert, um die 12 | »Der Mann, der eine verheiratete Frau verführt, muss genauso wie die untreue Frau umgebracht werden« (Levitikus, 20:10).

13 | Im Untersuchungszeitraum wurde von einem Fall berichtet, bei dem die Nase einer jungen Frau, deren Name nicht veröffentlicht wurde, von ihrem Cousin abgeschnitten wurde, weil sie sich in den Augen ihrer Familie unehrenhaft verhalten hatte. Der Cousin gab an, dass er sie nicht bewusst tötete, damit sie sich ihr Leben lang an ihr unehrenhaftes Verhalten durch ihre entstellte Nase erinnern soll. Sie wurde von ihren Nachbarn gerettet. Der türkische Staat übernahm die Kosten für die ästhetische Operation des traumatisierten Opfers (Posta vom 22.3.2006).

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Rechtfertigung von Verbrechen im Namen der Ehre zu verhindern. Zudem wurde Paragraf 132 StGB abgeschafft, wonach der Täter einer Vergewaltigung sein Opfer heiraten musste, um Straffreiheit zu erlangen. Paragraf 81 verspricht in diesem Kontext Strafminderung für Affektmorde. Diese Tatsache lässt auch Strafminderung für Ehrenmorde vermuten (Pervizat, L. 2005, S. 123f.). In Ecuador verspricht Paragraf 22 des Strafgesetzbuches den Ehemännern Straffreiheit, die ihre beim Ehebruch ertappten Frauen umbringen. In Mexiko werden Affektmorde nach Paragraf 370 StGB nur mit Haftstrafen zwischen zwei Jahren und sieben Jahren bestraft.In Peru wurde ein ähnliches Gesetz 1996 abgeschafft. Der Paragraf 109 Strafgesetz verspricht jedoch Strafminderung bei Ehrenmorden. In Venezuela gibt es ebenfalls Strafminderung bei Ehrenmorden oder dem Töten eines unehelichen Babys (Paragrafen 413 und 423 Strafgesetz). In Brasilien werden Ehrenmorde als Strafminderungsgründe des Mannes für die Verletzung seiner Ehre anerkannt. So verspricht Paragraf 121 Strafgesetz bei Morden im Namen der Ehre eine Strafminderung von bis zu ein Drittel der Strafe wegen mildernder Umstände (S. 125). Ein Mord ohne strafmildernde Umstände wird dagegen mit einer Haftstrafe zwischen 12 und 30 Jahren bestraft. Gemäß § 107 Strafgesetz werden Vergewaltigungen in der Ehe nicht als Straftat angesehen. Die spanischen Juristen Pimentel, Pandjiarjian und Belloque betonen in diesem Kontext, dass viele lateinamerikanische Staaten wie Mexiko oder Venezuela Strafminderung vorsehen, wenn die Morde im Affekt begangen worden. In Mexiko gibt es nach § 293 Strafgesetz Strafminderung für Verbrechen im Namen der Ehre: »Homicide for honour, known in other states as homicide in the heat of passion, guarantees a lesser punishment to individuals who kill their spouses on the ground of seeing him/her in sexual intercourse or close to its consummation« (Pimentel, S.; Pandjiarjian, V.; Belloque, J. 2005, S. 250).

Ehrenmorde in islamisch geprägten Ländern Ehrenmorde kommen verstärkt in islamischen Ländern vor, d.h. im arabischen, persisch-afghanischen, türkischen und kurdischen Kulturkreis. In der islamischen Gesetzgebung verfügt der Ehrenmord über keinerlei Rechtfertigung und fällt somit nach den islamischen Vorstellungen in die Kategorie Mord, einer Tat, die laut der islamischen Rechtsprechung, der Sharia, als die größte Sünde betrachtet wird. Nach Jan Goodwin liegt die Ursache der Ehrenmorde unter anderem in der Unterdrückung der Frauen in islamischen Ländern sowie in dem zunehmenden islamischen Extremismus, der alle Aspekte des öffentlichen, privaten und spirituellen Lebens beeinflusst (Goodwin, J. 2003, S. 7f.). Die Autoren Lynn Welchman und Sara Hosseini hingegen begründen das Auftreten der Ehrenmorde damit, dass die Familie in arabischen Gesellschaften ähnlich wie in der Türkei als die zentrale Einheit des ökonomischen, sozialen und religiösen Lebens betrachtet wird und deshalb die Verletzung der Ehre eines Familienmitglieds als Verletzung der Ehre der ganzen Familie wahrgenommen wird.

43

44

Morde ohne Ehre

Die offiziell bekannten Zahlen der Ehrenmorde im arabischen Raum sind an dieser Stelle hervorzuheben. In Ägypten wurden zum Beispiel im Jahr 1995 52 Ehrenmorde, in Jemen im Jahr 1997 400 Ehrenmorde und im Jahr 2002 461 Morde im Namen der Ehre registriert. Über die Situation in Jordanien mutmaßt die Journalistin Rana Husseini, dass ein Drittel der Morde Ehrenmorde sind (Husseini, R. 2005. In:Welchmann, L; Hossein, S. 36f.). Das Strafgesetzbuch Algeriens sieht für den Täter, der beim Ehebruch auf frischer Tat ertappten Frau sogar einen vollständigen Straferlass vor (Artikel 59). Auch in allen anderen betroffenen Ländern kann eine bereits verminderte Strafe ganz aufgrund großen familiären oder gesellschaftlichen Drucks vollständig entfallen. Im Folgenden wird exemplarisch die Verbreitung von Ehrenmorden in vier Ländern mit islamischer Mehrheit vorgestellt, die im Vergleich zu anderen islamischen Ländern höhere Anzahl an Ehrenmorden aufweisen. Die »Mitgiftmorde« in Indien werden ebenso vorgestellt, weil sie ähnliche Motive wie Ehrenmorde haben.

Pakistan Allein im Jahr 1999 wurden in Pakistan 364 Mädchen im Namen der Ehre getötet oder Frauen im Namen der Ehre verbrannt (vgl. Newel, K. 2000, S. 19f.). Im Jahr 1994 registrierten die Behörden 1600 solcher Fälle in Rawalpindi und Islamabad. In den Jahren 1998 bis 2003 wurden in Pakistan 4101 Ehrenmorde gemeldet, wobei dabei 2774 Frauen und 1327 Männer ihr Leben lassen mussten (vgl. Warraich, S. 2005, S. 79). Asma Jahangir, Mitbegründerin einer pakistanischen Frauenrechtsorganisation behauptet, dass 75 Prozent der inhaftierten Frauen in Pakistan wegen sexueller Untreue inhaftiert seien. (Goodwin, J. 2003, S.  47f.). Sie macht darauf aufmerksam, dass nach ihren Recherchen 72 Prozent der Frauen, die mit der Polizei in Kontakt kamen, physisch und sexuell missbraucht wurden14 . Es sei üblich, dass Frauen getötet würden, wenn sie beispielsweise nur Mädchen zur Welt brächten oder wenn ihre Brautaussteuer als zu gering betrachtet würde (S. 69f.). Die korrupte Polizei würde bei diesen Morden ein Auge zudrücken15 . Die dort häufigste 14 | Die Frauenrechte wurden, seit General Zia-al-Haq an die Macht kam, häufiger missachtet. Er war auch derjenige, der Benazir Bhuttos Vater, Zulfikar Ali Bhutto, exekutieren ließ. Nach Goodwin konnte Benazir Bhutto kaum Veränderungen bewirken, da sie zum Instrument des traditionellen Systems gemacht wurde. Als 1958 die »Shariah Bill« von den fundamentalistischen Kräften im Parlament verabschiedet wurde, verschlechterte sich die Lage der Frauen enorm. Sie durften nicht einmal im Fernsehen gezeigt werden. Das Tanzen wurde ebenfalls verboten, weil dies als »unislamisch« empfunden wurde (Goodwin, J. 2003, S. 53).

15 | Folgendes Beispiel illustriert die Lage der Frauen in Pakistan: Im April 1999 wurde hier die Tochter eines Abgeordneten, Samia Sarwar getötet, weil sie sich von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden lassen wollte. Ihre Mutter brachte dem Auftragskiller als

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Mordmethode sei die Verbrennung der Frauen mit Kerosin. Jan Goodwin berichtet, dass pro Monat im Durchschnitt mehr als 50 Frauen allein in einer einzigen Stadt in diesem Land dieser Tötungsart zum Opfer fielen. Nilofar Ahmad, die Gründerin der pakistanischen Frauenorganisation Daughters of Islam, die Frauen über ihre Rechte im Islam aufklärt, erklärt den Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Ehrenmorde und der falschen Interpretation islamischer Glaubensvorstellungen wie folgt: »Most either could not or had never bothered to read the Koran in the original, and so they relied on the interpretations of it by men. Islam is a religion that liberated women, and that same religion is being used to oppress them. The backward position of Muslim women today is due to the misinterpretations – intentional or unintentional – of the primary resources of Islam. If I have any message for Muslim women it is that they must study their religion for themselves, learn what it really says, not accept someone else’s idea. Only then they will be able to fight for their rights with the very weapon currently used against them – the Koran« (Goodwin, J. 2003, S. 57). In Pakistan haben die Ehrenmorde je nach Region eine andere Bezeichnung: im Süden, Punjab-kalakali; in Sindh karokari, in Balochistan siyakari und im Nordwesten taurtoora (Warraich, S. 2005, S. 79). Karo steht nach den Angaben der pakistanischen Soziologin Tahira Khan für einen schwarzen Mann und Kari für eine schwarze Frau, wobei die Farbe Schwarz für moralische Beflecktheit und Unreinheit steht. Obwohl beide Beteiligten des Ehebruchs nach den moralischen Vorstellungen umgebracht werden sollen, sind 90 Prozent der Opfer Frauen. Männer würden seltener diesen Morden zum Opfer fallen, weil sie durch eine Geldzahlung oftmals ihre Schuld wiedergutmachen könnten. Da die Frauen keine eigenen Besitztümer haben und finanziell von ihren Familien abhängig sind, steht für sie der Weg einer Entschädigungszahlung häufig nicht offen. Bei diesen Ehrenmorden ist in den meisten Fällen der Ehemann der untreuen Frau der Täter. Nach islamischer Sitte darf die untreue Frau weder beerdigt werden, noch darf jemand um sie trauern. Khan berichtet von Fällen, bei denen die Frauen post mortem als kari bezeichnet wurden. Es gäbe ebenso Fälle, bei denen die getöteten Frauen nicht einmal die Männer kannten, mit denen sie der Untreue bezichtigt wurden. Es sei ebenfalls vorgekommen, dass ein getöteter Mann zu einer Frau gebracht wurde und sie daraufhin ebenfalls umgebracht wurde, damit es nach einem Karo -Kari Mord aussah. Nicht selten stünden dabei ökonomische Motive im Raum, weil man so einen unschuldigen reichen Mann einer Liebesbeziehung mit einer Frau verdächtigen könne, um sich durch den Beschuldigten großzügig entschädigen zu lassen. Ebenso sei es »eine Tradition«, junge Mädchen zwischen zwölf und dreizehn Jahren umzubringen, wenn diese sich weigerten, einen älteren Mann zu heiraten. Es sei üblich, dass ein betrogener Ehemann zwar als »Entschädigung« Geld anstiftende Mittäterin die Mordwaffe. Die Täter wurden nicht bestraft und ein Gesetzesvorschlag über die Bestrafung der Ehrenmorde wurde, auch von dem Vater des Opfers, der ein Parlamentsmitglied war, abgelehnt.

45

46

Morde ohne Ehre

von dem Liebhaber seiner Frau kassiere, aber seine Frau trotzdem wegen ihrer Untreue umbrächte. Manche Schwiegermütter würden diese Morde ebenfalls als eine Möglichkeit nutzen, um sich von ihrer ungeliebten Schwiegertochter zu entledigen. Sie würden bewusst falsche Gerüchte in die Welt setzen, damit ihr Sohn seine Frau umbringe.16

Jordanien »Beating a woman does not hurt her dignity. This is impossible, because a woman is born without dignity« (Zitat aus einer jordanischen Zeitung: Goodwin, J. 2003, S. 250).

Jan Goodwin macht in seinen Ausführungen auf die schlechten sozioökonomischen Bedingungen in Jordanien aufmerksam. Die große soziale Armut habe insbesondere durch die Golfkrise zugenommen und daher würde 30 Prozent der Bevölkerung in Armut leben und ein Drittel sei arbeitslos. Ein Fünftel der Bevölkerung lebe in Flüchtlingscamps unter miserablen Bedingungen. Aufgrund der zunehmenden schlechten wirtschaftlichen Situation hätten die fundamentalistischen Bewegungen wie beispielsweise die islamistische Gruppierung Muslimbruderschaft an Macht und Einflussnahme gewonnen. Sie versprächen den Familien finanzielle Unterstützung, wenn alle weiblichen Familienmitglieder den traditionellen hijab trügen. Sie hätten sogar öffentliche Medienkampagnen initiiert, um Frauen aus der aktiven Politik fernzuhalten, da ihnen hierfür die Kompetenz fehle und sie zu sehr von ihren Emotionen geleitet seien. Ähnlich wie in anderen islamischen Ländern ist die Jungfräulichkeit vor der Ehe für die jordanischen Frauen zwingend. Daher sei es durchaus üblich, das Jungfernhäutchen vor der Hochzeitsnacht durch einen chirurgischen Eingriff wieder herzustellen. Dieser chirurgische Eingriff wird in der Türkei oder in anderen muslimischen Ländern ebenfalls praktiziert. Die jordanische Königin Rania engagiert sich verstärkt gegen Ehrenmorde und übernahm die Schirmherrschaft für mehrere Kampagnen bezüglich der Gleichberechtigung der Frauen und Aufklärung der Bevölkerung über die Sinnlosigkeit dieser Delikte. Im März 2000 wurde sie zur Beauftragten für Menschenrechte des jordanischen Parlaments ernannt; ihr Einfluss in dieser Funktion ist jedoch gering geblieben. Die starken konservativen Kräfte im Parlament widersetzen sich regelmäßig einer gesetzlichen Umsetzung frauenrechtlicher Initiativen. So lehnte etwa das jordanische Parlament den Vorschlag einer Gesetzesänderung ab, dem zufolge Ehrenmorde genau wie andere Morde behandelt werden sollten. Solch eine Gesetzesänderung verletze die Werte und die Würde der jordanischen Familie, argumentierten manche Politiker (S. 273).

16 | Khan, T. 2005: Honour Killings, URL: www.usconsulate-istanbul.org.tr/reppub/vawo/ tkhan.html, Zugriff am 13.8.2005.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

In Jordanien ist gemäß Jan Goodwins Angaben einer von vier Morden ein Ehrenmord. Jordanien habe von allen Ländern, die er bezüglich der Ehrenmorde untersuchte, die höchste Rate von Ehrenmorden. Die Strafen seien vernachlässigbar: Wenn die Täter überhaupt bestraft würden, bekämen sie meist nur eine Gefängnisstrafe von elf bis zwölf Monaten. Bei Morden, die Untreue zum Motiv haben, erhalten die Täter nach § 340 Strafgesetz strafmildernde Umstände (Pervizat, L. 2005, S. 133). Oft bewegt sich der Strafrahmen dann bei zwei Jahren. Genauso wie in vielen anderen Ländern erhalten die Täter nach § 308 Strafgesetz keine Strafe, wenn sie das Opfer ihrer Vergewaltigungen heirateten. Die Unehelichkeit eines Babys wird auch im Rahmen der Abtreibungsvorschriften strafmildernd berücksichtigt. Ehrenmorde hingegen behandelt das jordanische Strafgesetz bislang als ein minderes Vergehen und als ein durch das »unrechte und gefährliche Handeln des Opfers« gerechtfertigtes Verhalten. Artikel 340 Strafgesetz sieht Straffreiheit für Täter von Ehrenmorden vor, die ihre Frauen »in flagranti« erwischen: »A husband or a close blood relative who kills a woman caught in a situation highly suspicious of adultery will be totally exempt from sentence«.17 Damit nicht genug müssten vielmehr die Vergewaltigungsopfer sogar zu ihrem eigenen Schutz inhaftiert würden, damit sie nicht von ihren männlichen Verwandten umgebracht werden. Die folgende Äußerung eines jordanischen Täters, der seine vergewaltigte Schwester getötet hatte, spiegelt insoweit eine weit in der Gesellschaft verbreitetes falsch verstandenes Ehrverständnis wider: »I was proud to do it, to clear my family’s name. My sister had committed a mistake, even if it was against her will. And it’s better to have one person die, than the whole family die from shame. I was waiting for her when she came home at 8.15. At 8.20 she was dead. I put four bullets in her head. I did not regret this action. It is like a box of apples with a rotten apple in it. Would you keep it or throw the rotten apple away? I just threw it away. Now the men in my family can sit with other man, without losing face« (Goodwin, J. 2003, S. 278). Yasmeen Abdullah (16) wurde im März 1996 vergewaltigt und ging deshalb zur Polizei. Die Polizei nahm sie wegen ihrer eigenen Sicherheit in Gewahrsam. Als ihr Vater eine »Garantieschrift« darüber verfasste, dass niemand ihr was antun würde, konnte er sie mit nach Hause nehmen. Aber drei Tage später wurde Yasmeen von ihrem 26 Jahre alten Bruder, Sarhan, mit vier Kopfschüssen getötet. Ihr Bruder machte die oben zitierte Aussage. Douglas Jehl hebt in diesem Kontext hervor, dass eine unehrenhafte Frau in Jordanien einen schlechteren Ruf als eine Mörderin genießt, da sie im Gegensatz zu einem wirklichen Mord, bei dem es nur ein Opfer gibt, all ihre Familienangehörigen mit in den Schmutz ziehe.18 17 | Gendercide Watch, 2006: Case Study: »Honour Killings and Blood Feuds«, URL: www. gendercide.org/case_honour.html, Zugriff am 1.9.2005.

18 | Jehl, D.: Arab Honor’s Price: A Woman’s Blood: URL: www.polyzine.com/arab women.html, Zugriff am 3.1.2005.

47

48

Morde ohne Ehre

Palästina »When a man kills another man in a war, you do not consider it a crime, but an act of heroism. When a woman violates the most sacred socio-cultural code, she puts herself in a state of war where there are no winners, the actor cannot be considered a criminal either.« (Ein palästinensischer Richter über den heroischen Aspekt der Ehrenmorde: Welchmann, L., Hosseini, S. 2005, S. 174f.)

Gemäß den Ausführungen von Leyla Pervizat werden Ehrenmorde in Palästina nur mit einem Strafmass von einigen Monaten bestraft. Sie schätzt, dass es sich bei 70 Prozent um Ehrenmorde handelt. Es ist Sitte, dass der Täter dem Vater eines vergewaltigten Mädchens Geld für die Wiedergutmachung seiner Tat gibt und dass im Anschluss als Symbol für die Wiederherstellung der Familienehre die Familie des Opfers eine weiße Flagge auf dem Dach platziert. Täter von Delikten der Ehre würden nach § 216b Strafgesetz strafmildernde Umstände geltend machen (Pervizat, L. 2005, S. 136f.). Charmuta nennen die Palästinenser nach den Angaben von Souad, eine Überlebende eines versuchten Ehrenmords, eine unehrenhafte Frau, während der arabische Begriff für Ehrenmorde Jamirat al- Sharaf lautet (Souad, 2002, S. 50f.). Über die Menschenrechte in ihrem Land schreibt Souad: »I didn’t have the right, because rights do not even exist. There are customs. This is the way it is and that is all. If your father points to a corner of the room and tells you to stay in that corner the rest of your life, you won’t move from there until you die«. Das Zeigen der blutbefleckten Decke während der Hochzeitsnacht sei ebenfalls eine Tradition in Palästina. Souad betont, dass der Jungfräulichkeitstest während der Hochzeitsnacht der größte Test sei, den eine Frau in Palästina bestehen müsste. Das folgende Zitat des Autors Abu-Odeh gibt die Bedeutung der Jungfräulichkeit der Frauen in den arabischen Gesellschaften sehr gut wieder: »The sexual, physical and social lives of women become hymenised« (Welchmann, L., Hosseini, S. 2005, S. 177).19

Libanon Die Autoren Hoyek, Sıdawı und Mrad befassten sich mit Ehrenmorden im Libanon im Zeitraum von 1980 bis 2003. Im Libanon befasst sich Artikel 562 Strafgesetz mit den Ehrenmorden (Welchman, L., Hosseini, S. 2005, S. 111f.). Sie konnten im Untersuchungszeitraum 25 Fälle ausfindig machen. 75 Prozent der Opfer waren verheiratet. 44 Prozent von ihnen waren zwischen 20 und 24 Jahren alt. Sie fanden heraus, dass die meisten Täter aus der Familie des Opfers stammten. In Libanon war wie in der Türkei lange Paragraf 188 Osmanisches Grundgesetz, in Kraft, das Artikel 324 des französischen Strafgesetz aus dem Jahr 1810 nachempfunden wurde: »He who sees his wife or any of his mahrams with another 19 | Albadeel Coalition Against Family Honor Crimes ist eine Koalition aus verschiedenen Frauenorganisationen, die sich seit 1994 gegen Ehrenmorde engagiert.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

person in a situation of disgraceful zina and beats, injures or kills one or both of them shall be exempted. He who sees his wife or one of his mahrams with another person in an unlawful bed and beats, injures or kills one or both of them shall be excused« (S. 114). Artikel 562 libanesisches Strafgesetz lautet: »Whosoever surprises his spouse or one of his ascendants or descendants or his sister in an observed crime of adultery (flagrante delicto) or in a situation of unlawful intercourse and kills or injures one of them, without deliberation, shall benefit from the excuse of mitigation«.

Indien In Indien treten traditionell bedingte Morde an Frauen verstärkt auf, obwohl es sich bei Indien nicht um eine Kultur handelt, die ausschließlich vom Islam geprägt wird. Die Autoren Cheryl Benard und Edith Schlaffer haben die Verbrechen gegenüber Frauen in Indien näher untersucht und stellten fest, dass die Verwitwung für jede Frau einer sozialen und persönlichen Katastrophe gleichkommt (Benard, C.; Schlaffer, E. 1995, S. 93f.). Vor allem Frauen der höheren Kasten müssten den Rest ihres Lebens unverheiratet bleiben. Sie dürften sich nur in Weiß kleiden, sich in keiner Weise schmücken oder attraktiv aussehen. In manchen Teilen Indiens ist es Brauch, den Kopf der Witwen kahl zu rasieren. Früher zwang man Witwen häufig dazu, sich im Grabfeuer ihres Mannes mit zu verbrennen. Dieser indische Brauch der Sati-Witwenverbrennung« wurde durch die britische Regierung verboten, wird aber heute noch in Einzelfällen praktiziert.20 Die so genannten Mitgiftmorde, die neben der Witwenverbrennung verbreitet sind, weisen Ähnlichkeiten zu Ehrenmorden auf und haben den folgenden Hintergrund: In Indien herrscht die Vorstellung, dass eine Frau – da sie von ihrem Mann ernährt werden muss und somit für diesen eine »Last« darstelle – eine Mitgift in ihre Ehe einzubringen hat. Väter werden als verantwortlich für ihre Töchter angesehen und müssen deshalb einen Beitrag in Form einer einmaligen größeren Zahlung und weiterer Geschenke und Zahlungen zu bestimmten Gelegenheiten leisten. Dieser Brauch ähnelt der Praxis des Brautpreises, der in der Türkei heute noch zu beobachten ist. Für die indische Unterschicht ist dieser Brauch nicht relevant, da sie keinen Brautpreis in der Lage sind zu leisten. Für die Oberschicht ist ein Brautpreis kein Problem, da die Familien beider Seiten über genügend finanzielle Mittel verfügen. Aber in der aufsteigenden Mittelschicht sind die Mitgiftzahlungen als besonders wichtig zu bewerten, denn sie können bei einem niedrigen Brautpreis 20 | Der Begriff stammt von Sati, die nach indischen Überlieferungen die Braut des Gottes Shiva war. Der Legende nach beleidigte ihr Vater ihren Mann, indem er ihn nicht zu einem Fest einlud. Aufgebracht über diese Kränkung ihres Mannes beging Sati Selbstmord, indem sie sich verbrannte. Der Anzahl der Mitgiftmorde werden nach Benard und Schlaffers Angaben auf 20.000 pro Jahr geschätzt (S. 331). Im Oktober 2006 ereignete sich erneut ein Fall von Witwenverbrennung in Bhopal, URL: www.archive.gulfnews.com/arti cles/06/08/23/10062030.html, Zugriff am 12.10.2006.

49

50

Morde ohne Ehre

eine Unterbewertung oder geringe Wertschätzung der Braut zur Folge haben (vgl. Benard, C.; Schlaffer, E. 1995, S. 102). Allein in Neu-Delhi werden laut offizieller Statistik jährlich 500 junge Frauen umgebracht, weil ihre Mitgift zu gering ist. Es gibt verschiedene Sichtweisen über die Ursachen der Mitgiftmorde: Politisch links eingestellte Inder geben dem Imperialismus die Schuld für dieses Verhalten, weil er das Profitdenken nach Indien gebracht habe. Fromme Hindus klagen dagegen den Islam an. Die Situation würde sich zudem durch die sozialen Umstände verschärfen. Die Brauteltern würden versuchen, durch weitere Zahlungen und Geschenke eine bessere Behandlung ihrer Töchter zu erkaufen. Wenn sie dazu nicht bereit seien, würden ihre Töchter in der Mehrheit der Fälle misshandelt, um den Druck auf ihre Familie zu verstärken. Im Extremfall könne sich dieser Druck bis hin zu einem Mord steigern. Zudem sei die korrupte indische Polizei gerne bereit, den Tod einer ungeliebten Schwiegertochter gegen entsprechende Entlohnung als Selbstmord oder Unfall hinzustellen. Die Eltern würden in der Mehrheit der Fälle schweigen, da sie sich mitschuldig fühlten, weil sie wüssten, in welche Situation sie ihre Tochter gebracht hätten. Im Zusammenhang mit diesen Morden heben Benard und Schlaffer hervor, dass die Selbstmordrate gerade bei jungen Frauen in Indien besonders hoch ist. So sei die Altersgruppe zwischen 13 und 30 Jahren, ein Alter, in dem sich diese Frauen mit Ehe- und Familienproblemen auseinandersetzen müssten, fünfmal so selbstmordgefährdet wie gleichaltrige Männer. Als Tötungsmethoden würden sie entweder das Ertrinken in einem Brunnen oder die Selbstverbrennung durch Übergießen mit Benzin wählen.

Ehrenmorde in Europa In europäischen Ländern treten Ehrenmorde vorwiegend in Großstädten und Ballungszentren mit einem hohen Anteil muslimischer Einwanderer auf. Manchmal geschehen sie als Folge eines Konflikts von Migranten der dritten oder vierten Generation. Auch die Männersubkultur der jugendlichen Migranten spielt hierbei eine wichtige Rolle. Werner Baumeister betont in diesem Kontext, dass das Fortbestehen der Ehrendelikte bei den Zuwanderern durch das zähe Festhalten an überkommenem Brauch, Defizite in der Durchsetzbarkeit staatlicher Macht und die engen Verknüpfung mit einem außerordentlich hoch eingestuften ethischen Faktor geprägt ist (Baumeister, W. 2007, S. 95).

Italien Seit 1889 erhielten nach Angaben des Autors Boukerbout in Italien Täter von Vergewaltigungen nach dem so genannten Zanardelligesetz keine Strafe, wenn sie das Opfer danach ehelichten. Artikel des so genannten Rocco Codes befasst sich mit Tötungen im Namen der Ehre und legt fest, dass Täter von Ehrverbrechen im Höchstfall eine Strafe von drei bis sieben Jahren zu erwarten haben. Artikel 592 Straffgesetz verspricht Strafminderung für die Tötung von unehelichen Neugeborenen (Boukerbout, M. 2005, S. 230f.).

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Deutschland In Deutschland gibt es ebenfalls einige Fälle von Ehrenmorden, die große Medienaufmerksamkeit auslösten. In der jüngsten Vergangenheit hat besonders der Fall Hatun Sürücü die Öffentlichkeit erregt. Sie wurde im Februar 2005 von ihrem Bruder Ayhan Sürücü, vermutlich nach einer entsprechenden Entscheidung des Familienrats, in Berlin auf offener Straße umgebracht. Die deutsche Justiz verurteilte nur Ayhan Sürücü, obwohl seine Brüder bei der Tat anwesend waren. Die Tatsache, dass sich das Opfer von einem Mann scheiden ließ, mit dem sie zwangsverheiratet war, führte neben ihrer als zu westlich und unehrenhaft beurteilten Lebensweise zu der Mordtat.21 Die Zwangsheirat, die bei Frauen mit Migrationshintergrund vorkommt, wurde inzwischen als besonders schwerer Fall von Nötigung ins deutsche Strafrecht aufgenommen. Der Mord an Hatun Sürücü hat eine seit Jahren andauernde politische Diskussion um die Integration von Ausländern in Deutschland entfacht. Im Jahr 2005 berichteten die deutschen Medien von neun Ehrenmorden, von denen sechs in Berlin stattfanden. Eine wichtigere Arbeit bezüglich der Ehrenmordthematik im deutschsprachigen Raum ist Werner Baumeisters Buch über Ehrenmorde und insbesondere Blutrache, in dem er die gesetzlichen Rahmenbedingungen dieser Delikte in Deutschland analysiert (Baumeister, W. 2007, S. 126f.). Als Mordmerkmal bei Ehrenmorden kommt aus der ersten Merkmalsgruppe des § 211 Absatz 2 StGB praktisch nur »sonstige niedere Beweggründe« in Betracht. In diesem Kontext wären fremde Wertvorstellungen ausschlaggebend für die Bejahung niederer Beweggründe bei Ehrenmord- und Blutrachefällen. Die Tötung im Zuge der Blutrache zum Beispiel sei grundsätzlich als besonders verwerflich und sozial rücksichtslos anzusehen und deshalb prinzipiell als ein niedriger Beweggrund einzustufen, wenn es dem Täter nicht möglich gewesen sei, seine gefühlsmäßigen Regungen, die sein Handeln bestimmen, gedanklich zu beherrschen und willensmässig zu steuern. Infolgedessen könne wegen des fehlenden Tatbestandsmerkmals der niederen Beweggründe auf Totschlag erkannt werden. Begriffe wie »fremdkulturelle Vorstellungen« oder »Moralvorstellungen«, denen man in diesem Rahmen in der Rechtsprechung begegnet, sind für Baumeister als Begriffsbestimmungen zu allgemein angelegt, um die entscheidenden tatrelevanten inneren Vorgänge beim Täter mit der notwendigen Klarheit zu erfassen. Baumeister plädiert dafür, dass der Umstand, dass die Täter überkommenen Wertvorstellungen oder Brauchtumsregeln sehr verhaftet sind, mehr berücksichtigt und strafmildernd wirken sollte (S. 149). Die Berücksichtigung fremder Sitten sollte eine Konsequenz für eine Gesamtwürdigung und des ihr zugrunde liegenden Schuldprinzips sein. Der Frage, inwieweit es dem Täter bis zur Tatzeit gelungen war, sich von diesen traditionellen Bindungen zu lösen, sei nachzugehen und als Schuldmindernder Umstand zu beurteilen. Die inneren Antriebkräfte beim Täter 21 | Vgl. Ayfer Yazgan: Türkische Justiz urteilt härter. In: Süddeutsche Zeitung vom 22.4.2006.

51

52

Morde ohne Ehre

seien wichtiger als der Umstand, ob seine Wertvorstellung in unserer Kultur anerkannt oder akzeptiert werden. Daher plädiert Baumeister für die Verurteilung eines Ehrenmörders als Totschläger und nicht als Mörder aus niederen Beweggründen. Diese Sichtweise wird im Kontext dieser Arbeit nicht vertreten, da jegliche Strafmilderungen für die Täter dieser Taten – unabhängig vom betroffenen Land – sie in ihrer Vorgehensweise stärken und das Ehrprinzip als strafmilderndes Mordmotiv legitimieren. Auf diesen Aspekt wird im Fazit näher eingegangen.

Schweden In Schweden wurde die Öffentlichkeit erst seit den 1990er Jahren in Bezug auf die Thematik der Ehrenmorde sensibilisiert. Der Ehrenmord an Fadime Şahindal im Januar 2002 machte die schwedische Bevölkerung auf dieses Problem besonders aufmerksam (Elden, A. 2003, S. 91). Sie wurde von ihrem Vater erschossen, weil sie einen schwedischen Freund hatte und sich von der Familie abgewandt hatte. Şahindal engagierte sich für die Integration von muslimischen und benachteiligten Frauen und hielt mehrere Reden vor dem schwedischen Parlament. Die schwedische Regierung engagiert sich gegen Ehrenmorde. Schweden ist daher das Land in Europa, das sich am meisten für die Aufklärung der Öffentlichkeit bezüglich der Ehrenmorde einsetzt. Mehrere internationale Konferenzen oder die Veröffentlichung eines »Manuals bezüglich des Umgangs mit Ehrenmorden« zeugen von dem Einsatz der schwedischen Regierung.22 Die Ausführung der Verbreitung der Ehrenmorde in den jeweiligen Ländern zeigt, wie universell dieses Phänomen ist und dass insbesondere Frauen unabhängig von Gesellschaft und Kultur weltweit Opfer von Ehrenmorden werden. Die in den Strafgesetzen der Länder vorgesehen Strafen für Ehrenmorde beweisen, dass die Täter weltweit lange Zeit eine hohe Toleranz erhielten und teilweise noch erhalten. Viele der Autoren gaben als Gemeinsamkeiten der Länder, in denen die Ehrenmorde auftreten, die patriarchalen Strukturen, die überdimensionale Stellung der Familie und die sozioökonomischen Missverhältnisse an. Obwohl Ehrenmorde von vielen Wissenschaftlern wie Nicole Pope und Leyla Pervizat (2005) mit Affektmorden gleichgesetzt werden, treten Ehrenmorde insbesondere in islamischen Gesellschaften neben den oben erwähnten Aspekten auch aufgrund falscher Interpretation der islamischen Glaubensvorstellungen verstärkt auf. In der folgenden Tabelle werden zusammenfassend die Verbreitung dieser Mordarten und einige Besonderheiten ihrer Strafbewehrung in den betroffenen Ländern wiedergegeben:

22 | Swedish Government Offices 2006: Patriarchal Violence – An Attack on Human Security, URL: www.sweden.gov.se/content/1/c6/05/68/94/42d6d51b.pdf, Zugriff am 13. 4. 2006.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

1.1.5 Internationale Studien über Ehrenmorde Weltweit gibt es ausführliche Untersuchungen über den Begriff Ehre und Bedeutung für die einzelnen Gesellschaften. Es gibt jedoch nur wenige internationale und wissenschaftliche Datenquellen zu Ehrenmorden. Die meiste Literatur zum Thema stammt aus dem türkisch- und arabischsprachigen Raum. Bei den weltweiten Untersuchungen sind folgende drei Forschungsrichtungen von Bedeutung: Die ausführlichste nicht türkischsprachige Studie über Ehrenmorde wurde von der holländischen Autorin Clementine Van Eck durchgeführt. Die zweite Gruppierung besteht aus den deutschsprachigen Untersuchungen, die unter anderem vom Bundeskriminalamt und der Frauenorganisation Terre des Femmes zum Thema Ehrenmord veröffentlich wurden. Die letzte Kategorie bilden die Arbeiten von verschiedenen Autoren aus dem arabischen Raum.

53

54

Morde ohne Ehre

Tabelle 2: Ehrenmorde in verschiedenen Ländern (eigene Darstellung)

Clementine Van Ecks Untersuchungen Van Ecks veröffentlichte ihre Studie mit dem Titel »Purified by blood – Honour killings amongst Turks in the Netherlands« im Jahr 2003. Darin untersuchte sie die Ehrenmorde in Holland in den Jahren 1972 bis 1993 und wählte 20 Fallbeispiele aus.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Die europäische Version der Tageszeitung Hürriyet bildete ihre Hauptdatenquelle. Bei dem kulturellen Hintergrund der Täter schließt sie die urbane Türkei vollständig aus, da Ehrenmorde nach ihrer Ansicht nur in der ruralen Kultur traditionell verankert seien. Sie unterscheidet zwei Stadien der Verletzung der Ehre: zum einem gibt es die erste Phase, in der die Ehre einer Person lediglich als »verschmutzt« gilt. Dem folgt der türkische Begriff, namussuz, was mit dem absoluten Verlust der Ehre gleichgesetzt werden kann. Wenn das weibliche Familienmitglied nicht aufgrund eigenen Verhaltens, sondern aufgrund des Verhaltens eines Aggressors, z.B. eines Vergewaltigers, als unehrenhaft gilt, bedeute dieser Zustand, dass ihre Ehre befleckt sei. Wenn sie aber selbst durch irgendeine Handlung für ihr unehrenhaftes Verhalten verantwortlich ist, dann gelte sie als ehrlos, namuzsuz. Die Bedeutung der Ehre würde aber erst im Fall einer Ehrverletzung bewusst werden, weil man erst dann über den Sinn der Ehre nachdenken und diskutieren würde. Auch die Beziehungen der Geschlechter seien von den Ehrenvorstellungen geprägt. Viele türkische Männer würden Verdacht schöpfen, wenn ihre Ehefrauen zu spät nach Hause kämen. Dieses Verhalten würde man vom Ehemann erwarten, ebenso seine Eifersucht. Es gebe zahlreiche türkische Ehefrauen, die stolz darauf seien, dass ihre Männer eifersüchtig seien oder ihnen Dinge verbieten. Dieser Aussage stimmt die Autorin nicht zu: Das beschriebene Verhalten ist eher selten bei türkischen Ehepaaren zu beobachten und es wird ganz sicher nicht von der Ehefrau begrüßt wie von Van Eck angenommen. Van Eck unterscheidet folgende Arten von Ehrenmorden (Van Eck, C. 2003, S. 55f.): • »Ehrenmassaker« (namus katliamı): Diese Deliktart der Ehre umschließt die Tötung mehrerer Personen.23 • »Ehrenmorde mit rituellem Charakter«: Van Eck beschreibt diese Deliktarten wie folgt: »Honour killing is a cleansing or purification ritual involving the elimination of pollution in a formalized, dramatic way. The ritual should clearly demonstrate the kind of person the victim was« (S. 73). • »Präventive Ehrenmorde« sind Morde, die von Frauen zur Verteidigung ihrer Ehre infolge eines unsittlichen Angriffs oder einer sexuellen Belästigung ausgeübt werden (S. 89). • »Ehrenmorde als Affekttaten und Ehrenmorde infolge von sexueller Belästigung oder persönlicher Beleidigung« bilden eine weitere Kategorie. • »Pathologische Ehrenmorde«, wenn die Tat nur aufgrund von angeblichen und nicht begründeten Verdächtigungen durchgeführt wird. Pathologische Besessenheit wird auch Othellosyndrom genannt. Die Personen, die darunter leiden, ha23 | Fallbeispiel: In Istanbul wurden im Oktober 1996 zum Beispiel zehn Menschen getötet, weil eine verheiratete Frau in ihr Elternhaus geflohen war. Der Ehemann fand seine Frau im Haus seiner Schwiegermutter und tötete dort außer seiner Frau auch ihre Mutter und Geschwister sowie weitere Personen.

55

56

Morde ohne Ehre

ben das Gefühl, von allen, auch von ihrer Ehefrau oder Freundin, betrogen zu werden (S. 146). Bei den Motiven unterscheidet Van Eck die folgenden Kategorien: Bestimmte Heiratsrituale oder das Versprochensein aneinander können je nach Verletzung des Protokolls zur Ehrenmorden führen (S. 99). Auch Van Ecks Recherchen ergaben, dass Frauen mehrheitlich die Opfer und die Täter die eigenen Familienmitglieder sind. Ein weiteres Merkmal von Ehrenmorden ist überwiegend ihr verstärktes Auftreten in Dörfern. Dies begründet sie mit der in den Städten herrschenden Anonymität und Individualisierung. Es kann jedoch vorkommen, dass Migranten in den Städten ihre Traditionen fortführen und die homogene Nachbarschaft die Rolle der überwachenden Dorfgemeinschaft übernimmt (S. 27). Van Eck beschreibt nachstehende Charakteristika der Ehrenmorde, die teilweise mit den von der der Autorin identifizierten übereinstimmen: Der Ehrenmord finde an einem öffentlichen Platz statt, meist bei Tageslicht und in Anwesenheit mehrerer Zeugen. Der traditionelle Mordplatz sei der Marktplatz eines Dorfes. Der Mordakt würde immer mit mehreren Messerstichen oder Schüssen ausgeführt. Der Angreifer reagiert in einer ruhigen und emotional kalten Weise. Der Täter ist sich der Konsequenzen seiner Tat bewusst. Nach der Tat stellt sich der Täter widerstandslos der Polizei und sagt aus, dass er seine Ehre bereinigt hat. Er würde meistens am Tatort auf die Polizei warten. Auf diese Weise demonstriert er, dass es ein Ehrenmord war, und dass er sich nicht zu schämen braucht. Der Ehrenmord habe meist einen symbolischen Aspekt. In vielen Fällen gebe es eine bestimmte Anzahl an Tötungsversuchen.24 Van Eck betont, dass nicht alle Ehrenmorde diese Merkmale aufweisen müssen, aber die Recherchen der Autorin haben ergeben, dass viele dieser Kriterien durch andere Studien und die eigene Printmedienanalyse bestätigt werden. Die Thesen, wonach sich die Täter der Polizei stellen, nach der Tat keine Reue zeigen oder der Mordakt aufgrund der genauen Planung der Tat einen hohen rituellen Charakter hat, werden mit Skepsis betrachtet, weil sich zum einen die Mehrheit der Täter nicht der Polizei stellen und weil es zum anderen kaum Studien und Untersuchungen über die Beweggründe der Täter und deren Motive vorliegen. Auch van Ecks Ausführungen über den Tatverlauf und die symbolischen Aspekte treffen nach eigenen Recherchen nur auf einen geringen Anteil der Ehrenmorde zu. Dieser Ansicht stimmt die Autorin nicht zu, weil für die meisten betroffenen Familien die Ehre nur durch Mord wieder herzustellen ist. Sie haben in der Regel nicht die die Chance, den Konflikt alternativ zu lösen. In einigen Fällen und ins24 | Manchmal werde die Leiche des Opfers demütigend, z.B. mit auseinander gespreizten Beinen, präsentiert. In seltenen Fällen würde dem Opfer im Zusammenhang mit dessen Untreue ein Geschlechtsteil abgeschnitten. Es ist ebenfalls üblich, dass den Frauen ins Gesicht geschossen würde (S. 77f.).

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

besondere in städtischen Kulturen können jedoch die folgenden Handlungsalternative das Leben des Opfers retten (S. 157): • Verheiratung der betroffenen Frau, dessen Ehre beschmutzt beziehungsweise verletzt wurde. Je schneller die Betroffene verheiratet wird, umso schneller werden die Gerüchte über sie aufhören. • Wegschicken der Frau, deren Ehre befleckt ist • Scheidung • Verstoßen: Diese drastische Maßnahme wird vorgenommen, wenn der Ehemann oder die Familie des Opfers die Person mit der befleckten Ehre verstößt. Dadurch signalisieren beide Instanzen, dass das Opfer symbolisch betrachtet für sie nicht mehr existiert und sie deshalb für ihre Ehre nicht verantwortlich sind. • Selbstmord: Selbstmord wird von vielen als eine Alternative zum Ehrenmord betrachtet. Wenn eine Frau Selbstmord begeht, wird es so interpretiert, dass sie sich aus Scham umgebracht habe, weil sie nicht mehr so weiterleben konnte.25 • Sich so verhalten, als wäre nichts passiert: In manchen Fällen erzählen die Frauen, deren Ehre zum Beispiel durch eine Vergewaltigung befleckt wurde, ihren Familien nichts, weil sie Angst vor den existenziell bedrohlichen Konsequenzen haben. • Akzeptieren: Manche Fälle von Ehrverletzungen werden angenommen, wenn ein eventueller Ehrenmord ökonomische Nachteile mit sich bringen würden.26 • Versöhnen: Bei religiösen Festen versuchen lokale Führungspersönlichkeiten, die verfeindeten Familien zu versöhnen. Doch diese Versuche sind selten erfolgreich und helfen meist nur in den Fällen, wenn die Eltern eines Brautpaares anfänglich gegen die Hochzeit waren, aber sich später doch versöhnen. • Warnungen: Es gibt Fälle, bei denen der Aggressor oder das Opfer verbal oder durch irgendeine Handlung vorgewarnt werden. • Finanzielle Wiedergutmachung: Je nach Art der Ehrverletzung und der finanziellen Möglichkeiten der Betroffenen kann dieser Konflikt durch eine große Geldsumme gelöst werden. Diese Verhaltensweise ist bei Brautentführungen erfolgreich, wenn man im Nachhinein der Familie der Braut eine große Summe als Entschädigung für die Entführung schenkt. 25 | Die erhöhte Selbstmordrate bei Frauen in Anatolien bestätigt, dass sich viele junge Mädchen wegen familiärer Probleme das Leben nehmen (Halis, M. 2001; Sır, A. 2003). Hinzu kommen die Fälle von Ehrenmorden, die als Selbstmord getarnt werden oder bei denen die Familie das Opfer zur Selbsttötung auffordert. Überlebende berichten, dass Familienangehörige ihnen Seile oder Waffen in ihr Zimmer gelegt und sie eingesperrt hätten, damit sie sich selbst töten.

26 | Ein Beispiel aus Diyarbakır aus den 1970ern verdeutlicht dies: Eine Witwe begann eine Affäre mit einem reichen Mann. Anfangs wollten ihre Söhne ihn töten, doch da er sehr reich war und ihr Studium finanzierte, duldeten sie ihn und die Ehrverletzung. (Faraç, M. 2004, S. 92).

57

58

Morde ohne Ehre

• Umziehen: Diese Handlungsmöglichkeit wird hauptsächlich bei Blutrachefällen ausgeübt. Doch den meisten Familien fehlen die finanziellen Möglichkeiten, um dem Konflikt auf diese Weise zu entkommen. • Gerichtsverhandlungen: werden selten in Anspruch genommen, weil die Konflikte als eine persönliche Angelegenheit betrachtet werden. In manchen Fällen von Blutrache greift man jedoch bei Streitereien um einen Landbesitz auf eine juristische Lösung zurück. Gemäß Van Eck sind Ehrenmorde kulturell bedingt und traditionell verankert und können deshalb nicht nur auf die türkische oder arabische Kultur reduziert werden (S. 183). Es gibt folgende Faktoren, die einen Ehrenmord begünstigen können: Druck von der Gemeinschaft, Provokationen, spezifische Charaktermerkmale des Täters, Situationsbezogene Variablen, Alkoholmissbrauch und individuelle Merkmale. Ob ein Konflikt wegen des Ehrprinzips zu einem Ehrenmord führt, hängt davon ab, wie eng die Verbindung des Täters zu seinem sozialen Umfeld ist, denn es wäre von sozialer Bedeutung, dass er wegen der Ehrverletzung nicht sozial ausgeschlossen wird. Das Ausmaß des öffentlichen Wissens über die Angelegenheit entscheidet, ob ein Ehrenmord stattfindet oder nicht. Je mehr Leute darüber Bescheid wissen würden, umso wahrscheinlicher sei ein Ehrenmord. Van Eck beschreibt diesen Zusammenhang wie folgt: »Public opinion weighs very heavily. If the matter is not yet known, the family will usually want to settle it behind closed doors – and they can achieve this by arranging a marriage. If that is not possible, or if too many people know about it, the family’s honour is much more stake« (S. 185). Folglich würden die meisten Morde nach einer öffentlichen Anschuldigung des Täters stattfinden. Auch die soziale Isolation des Täters vor der Tat ist entscheidend. Vor der Tat würden sich die Täter aufgrund der sozialen Isolation nicht vor die Tür trauen und erst nach der Tat fühlten sie sich von ihrer sozialen Isolation befreit. Viele Täter haben zum Beispiel darüber berichtet, dass sie sich nach der Tat wie neugeboren gefühlt haben. Auch die drei Merkmale Arbeitslosigkeit, enge Beziehung zum männlichen Aggressor und die Persönlichkeit des Täters sind bei der Ausführung der Tat entscheidend (S. 199). Jemand, der arbeitslos ist, hätte weniger soziales Ansehen und folglich bedeute eine Ehrverletzung einen größeren Schaden für seinen sozialen Status als für jemanden mit mehr Ansehen: »If they lose their job, their world shrinks; if they lose their namus on top of that, their world is reduced to nothing. Men from lower socio-economic groups tend to display more extreme forms of masculine behaviour because their sense of inferiority to higher status men«. Wenn der Täter aus dem Bekanntenkreis der Familie des Opfers stammt, würde die Wahrscheinlichkeit für einen Ehrenmord ebenfalls steigen. Zusammenfassend zu Van Ecks Studie kann festgehalten werden, dass sie ausführliche und wertvolle Informationen über die zentrale Rolle des sozialen Umfeldes oder die alternativen Handlungsmöglichkeiten vor der Ausführung eines Ehrenmordes analysiert. Vom Nachteil wird betrachtet, dass viele Ehrenmorde betreffende wichtige Aspekte zwar angesprochen aber nicht explizit weiter aus-

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

geführt werden. Des Weiteren enthält die Studie enthält wenig Informationsgehalt über Ursachen von Ehrenmorde. Auch bei den Motiven beschränkt sich Van Eck auf zwei, ohne diese ausführlicher zu erläutern. Obwohl sie Zeitungsberichte über Ehrenmorde untersucht hat, gibt sie nur einige Fallbeispiele wieder und nimmt keine Kategorisierung oder Analyse der Fälle vor. Dennoch handelt es sich bei ihrem Werk jedoch um die zurzeit umfangreichste englischsprachige Studie über Ehrenmorde.

Deutschsprachige Studien In Deutschland liefern das Bundeskriminalamt (2006) und die Frauenorganisation Terre des Femmes (2005) ausführliche Informationen zu Ehrenmorden unter den Migranten in Deutschland und in anderen europäischen Ländern.27

Die BKA-Studie Das Bundeskriminalamt hat im Jahr 2006 eine Studie zu diesen Verbrechen veröffentlicht.28 Nach dieser Studie gab es in Deutschland im Untersuchungszeitraum vom 01.01.1996 bis 18.07.2005 70 Fälle (einschließlich Tötungsversuche). Weitere Ergebnisse sind: • 36 Frauen und 12 Männer starben. Bei den untersuchten Fällen waren 48 vollendete und 22 versuchte Tötungshandlungen. Es gab insgesamt 70 Opfer, davon waren 48 weiblichen und 22 männlichen Geschlechts. • Die Mehrheit der weiblichen Opfer waren über 21 Jahre alt (45 Fälle). Sieben weibliche Opfer sind der Altersgruppe zwischen 18 und 21 Jahren alt und sechs zur Altersgruppe unter 18 Jahren zuzuordnen. Bei den männlichen Opfern war die Mehrheit (20 Fälle) über 21 Jahre alt und zwei Opfer waren unter 14 Jahren. Von den 70 Opfern waren 35 türkischer, 18 deutscher aund 6 serbischer Herkunft, Die übrigen Opfer stammten überwiegend aus islamisch geprägten Ländern (S. 12). Täter und Opfer waren überwiegend Erwachsene. 31 der Opfer hatten eine Beziehung mit dem Täter, 20 Opfer waren enge Verwandte des Täters (S. 15). • Partnerschaftskonflikte waren die häufigste Ursache für diese Tathandlungen. In 30 Fällen und somit der Mehrheit war das Tatmotiv der Trennungswunsch des Opfers, in elf Fällen war eine außereheliche Beziehung, in sieben Fällen eine nicht geduldete Beziehung, in vier Fällen der westliche Lebensstil des Op27 | Die Thematik der Ehrenmorde ist in Deutschland seit einigen Jahren aktuell: Der Begriff Ehrenmord wurde im Jahr 2005 sogar zum Unwort des Jahres gewählt.

28 | Die Fälle, bei denen der Mord im Ausland verübt wurde, wurden bei der Analyse nicht berücksichtigt. Nicht in die Analyse aufgenommen wurden auch die Fälle, wo Blutrache oder Eifersucht die Hauptmotive waren oder der Täter psychisch krank war. Die Nationalität der Täter konnte auch nicht genau untersucht werden, da viele Täter als Nachfahren von Einwanderern die deutsche Staatsangehörigkeit hatten.

59

60

Morde ohne Ehre

fers und für 3 Fälle gab es keine erkennbaren Motive (S. 16). Nur ein Teil der als Ehrenmord polizeilich untersuchten Fälle entspricht dem in den Medien und der Literatur dargestellten Phänomen in vollem Umfang. • Bei den Motiven der Täter war der islamische Glauben ausschlaggebend. Als Herkunftsland der Täter und Opfer konnte in den meisten Fällen die Türkei ausgemacht werden. Als Ursachen für diese Taten gab die BKA-Studie die auch nach der Migration andauernde starre Verwurzelung in vormodernen agrarischen Wirtschafts- und Sozialstrukturen und das damit verbundene patriarchalische Familienverständnis an. • Aus der Studie des BKA sind nicht die Tatmotive Blutrache und Eifersucht zu nehmen. Außerdem fehlen die Fälle von Ehrenmorden, die von psychisch kranken Tätern begangen wurden. Für die Analyse der Ehrenmorde, bei denen Eifersucht eine Rolle spielt, sollte maßgeblich sein, dass die Eifersucht gemeinsam mit dem Ehrprinzip als Tatmotive anzusehen ist. Bei der Analyse der Ehrenmorde, die von psychisch Kranken begangen wurden, sollte das Ehrprinzip als Tatmotiv und nicht die psychische Verfassung des Täters entscheidend sein. Des Weiteren sollten Fälle von Blutrache als Sonderkategorie von Ehrendelikten ebenso in die Untersuchungen mit aufgenommen werden.

Studie der Frauenorganisation Terre des Femmes Als Gründe für Ehrverbrechen führt die Studie der Frauenorganisation Verletzung von Normen an und hebt insbesondere die Rolle der sozialen Nachrede bei diesen Morden hervor. Die Autoren setzen sich mit der Bedeutung der männlich dominierten Geschlechterbeziehungen und die traditionellen Rollenverteilungen bei den Betroffenen auseinander sowie mit den Auswirkungen des sozialen Drucks auf die Betroffenen und der gesellschaftlichen Toleranz dieser Tötungsdelikte.29 Psychische Gewalt in Form von Unterdrückung und Bedrohung der Frauen im Namen der Ehre oder die physische Gewalt in Form von Missbrauch zählt diese Studie auch zur Gewalt im Namen der Ehre (S. 7). Als typische Tötungsmethoden werden neben Erschießen, Erwürgen und Erstechen Säureattentate genannt. Die Studie geht auch auf die internationale Verbreitung der Ehrenmorde insbesondere im arabischen Raum ein und kritisiert die Strafminderungen und die geringe Aufklärungsrate für diesen Deliktbereich in Ländern wie Jordanien oder Pakistan. Des Weiteren setzt sich diese Untersuchung mit den Ehrenmorden in der Türkei, Schweden, Großbritannien und Pakistan auseinander (S. 11f.). Bezüglich der Ehrenmorde in der Türkei weisen die Autoren darauf hin, dass diese häufiger in den östlichen und südanatolischen Gebieten auftreten und dass die Selbstmordrate bei Frauen, die bereits mehrfach in dieser Arbeit erwähnt wurde, in diesen Gegenden sehr hoch ist. Sie kritisieren in diesem Zusammenhang die unzurei-

29 | Terre des Femmes 2005, URL: www.frauenrechte.de/tdf/pdf/EU-Studie_Ehrenmord. pdf, Terre des Femmes, Zugriff am 11.4.2005.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

chenden Frauenschutzhäuser in der Türkei und die gesellschaftliche Tolerierung dieser Verbrechen. Die Ehrenmorde in Migrantenfamilien in Europa bilden einen weiteren Schwerpunkt der Studie. In der vorliegenden Arbeit werden jedoch nur die Ehrenmorde in Deutschland näher vorgestellt. Die Studie hebt hervor, dass in Deutschland die Diskussion über Ehrenmorde, Integration der Migranten oder Zwangsheirat zwar seit 2004 zugenommen habe, die Ehrenmorde als wichtiges Thema jedoch erst seit der Ermordung von Hatun Sürücü im Jahr 2006 wahrgenommen worden sind (S. 17). Im Zuge dieser Diskussion sei die Öffentlichkeit verstärkt auf die patriarchalen Parallelgesellschaften der Migranten und die dort übliche Unterdrückung der Frauen aufmerksam geworden. An dieser Stelle ist anzumerken, dass im Zuge des größeren öffentlichen Problembewusstseins auch das Anzeigeverhalten, emanzipatorische Bestrebungen junger Frauen und auch der Umgang mit dem Problem in den Familien geändert hat (vgl. Pervizat, L. 2005, S. 42f.). In diesem Zusammenhang hat die Organisation Terre des Femmes im Jahr 2004 eine zweijährige Kampagne »Nein zu Verbrechen im Namen der Ehre« ins Leben gerufen. Im Rahmen dieser Kampagne kritisiert die Vereinigung, dass der deutsche Staat aufgrund des so genannten »Multikulturalismusgedankens« und der Toleranz gegenüber fremden Kulturen lange Zeit diese Menschenrechtsverletzungen an Migrantinnen geduldet habe, um nicht als rassistisch bezeichnet zu werden. Terre des Femmes bemängelt, dass es in Deutschland kaum Studien über Ehrenmorde gibt, außer der von der Organisation finanzierten Untersuchung der Papatya Schutzeinrichtung, die in den Jahren 1996 bis 2004 die Ehrenmorde in den deutschen Medien analysierte und von 49 Fällen berichtet (S. 19). Bezüglich der Verbreitung der Ehrenmorde bei Migrantenfamilien betont die Organisation, dass viele Familien aus der zweiten und der dritten Generation Heimat verbunden und konservativer eingestellt sind als ihre Vorfahren. Die fehlende Integration der Betroffenen in die deutsche Kultur und der zunehmende Fundamentalismus haben diese Entwicklung negativ beeinflusst und die Abschirmung der Migrantinnen von der Mehrheitsgesellschaft und ihre Unterdrückung in patriarchalisch strukturierten Familien verstärkt. Auch die hohe Arbeitslosigkeit und die fehlenden Sprachkenntnisse der Migranten hätten die Bildung von konservativen Parallelgesellschaften innerhalb Deutschlands begünstigt (S. 20). Aufgrund dieser Aspekte sind insbesondere die jungen Töchter dieser Familien einem Wertekonflikt zwischen der traditionellen und der westlich deutschen Kultur ausgesetzt. Da es durch diesen Wertekonflikt zu einer Gefährdung der Ehre der jungen Mädchen kommen könnte, würden viele Migrantinnen von ihren Eltern sehr früh und oft gegen ihren Willen verheiratet. In Bezug auf Zwangsverheiratungen unterscheidet die Studie drei Formen (S. 21):

61

62

Morde ohne Ehre

• Junge in Deutschland geborene Frauen werden in dem Herkunftsland ihrer Eltern verheiratet. • »Importbräute«, junge Frauen aus dem Herkunftsland des Bräutigams, werden nach Deutschland gebracht. • in Deutschland geborene junge Migrantinnen werden dazu benutzt, die Einwanderung eines Bräutigams aus dem Herkunftsland zu ermöglichen. Als problematisch betrachten die Autoren dieser Studie, dass junge Frauen, die in ihr Herkunftsland geschickt werden, nach sechs Monaten ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland verlieren und der deutsche Staat nur innerhalb der eigenen Grenzen für den Schutz dieser bedrohten Frauen präventiv vorgehen kann. Die Verweigerung einer Zwangsheirat ist ein häufig auftretendes Motiv bei Ehrenmorden. Die Studie untersuchte des Weiteren den kulturellen Hintergrund der Opfer und Täter in Deutschland (S. 22f.). Sie kam zu dem Ergebnis, dass Täter mit türkischem kulturellem Hintergrund mit 77 Prozent die Mehrheit ausmachten. Ihnen folgten mit 10 Prozent libanesische Täter, mit 7 Prozent Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien und mit jeweils 2 Prozent Täter aus Afghanistan, Jordanien und Marokko. Bei den insgesamt 68 Opfern waren 62 Prozent der Betroffenen weiblichen und 38 Prozent männlichen Geschlechts (S. 23). Bei den Gründen für die Tat war mit 44 Prozent der Trennungswunsch des Opfers, mit 32 Prozent eine außereheliche Beziehung des Opfers, 15 Prozent andere Gründe und bei 9 Prozent eine Zwangsheirat maßgeblich. Somit ist das Selbstbestimmungsrecht des Opfers in Beziehungsfragen das Hauptmotiv bei Ehrenmorden in Deutschland. Beziehung zwischen Täter und Opfer: In der Mehrheit der Fälle war der Ehemann des Opfers der Täter (36 Prozent). Bei 28 Prozent war es der Bruder, bei 19 Prozent der Vater, bei 4 Prozent die Mutter, bei 9 Prozent waren es andere Verwandte des Opfers und in 4 Prozent der Fälle wurde der Mord von einem Auftragsmörder durchgeführt (S.  25). Bei der hohen Dunkelziffer dieser Taten weist die Studie auf die Möglichkeit für die Betroffenen hin, eine junge Frau, die die Ehre ihrer Familie verletzt hat, in ihr Herkunftsland zu schicken, um sie dort zu töten. Bei dem Alter der Opfer sei es eine Auffälligkeit, dass junge Frauen zwischen 22 und 25 Jahren mit 53 Prozent die Mehrheit der Opfer ausmachen (S. 27). Ihnen folgen mit jeweils 24 Prozent die Altersgruppen 18 bis 21 und 31 bis 40 Jahren. Mit 14 Prozent sind die Altergruppen zwischen 26 und 30 Jahren, mit 7 Prozent die Altergruppe unter 17 Jahren und mit 2 Prozent die Altersgruppe zwischen 41 und 53 Jahren vertreten. Dass weniger Minderjährige Opfer von Ehrenmorden werden, erklärt die Studie damit, dass sich die jungen Mädchen beispielsweise nicht gegen Zwangsverheiratungen oder anderen Formen von Unterdrückung widersetzen würden. Ab dem 18. Lebensjahr, wenn junge Mädchen das heiratsfähige Alter erreichen, sei ihre Ehre am meisten gefährdet.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Alter der Täter: Die Mehrheit, 24 Prozent ist zwischen 26 und 30 Jahren alt und somit ungefähr so alt wie die Opfer, weil sie in der Mehrheit mit dem Opfer verheiratet waren. Mit jeweils 21 Prozent sind die Altersgruppen 31 bis 40 und 41 bi 62 (meist die Väter der Opfer) vertreten. 11 Prozent der Täter (vermutlich die Brüder des Opfers) waren zwischen 15 und 18 Jahren alt und 10 Prozent zwischen 19 und 21 Jahren alt (S. 28). Nicht von der Hand zu weisen ist die Beobachtung, dass die Ergebnisse der Studie fast mit den Ergebnissen der eigens durchgeführten Analyse der Printmedien übereinstimmen, obwohl der Untersuchungszeitraum, Anzahl der Fälle und das Untersuchungsland unterschiedlich sind.

Rechtliche Aspekte Die Autoren der Studien weisen darauf hin, dass es im deutschen Strafrecht keinen eigenen Straftatbestand für Ehrenmord gibt und dass ein Ehrenmord von den Kriterien her entweder den allgemeinen Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB) oder den Mordtatbestand (§ 211 StGB) erfüllt (Baumeister, W. 2007, S. 29). Auch eine Bedrohung im Namen der Ehre erfüllt demnach keinen eigenen Straftatbestand, sondern nur den allgemeinen Straftatbestand der Bedrohung (§ 241 StGB). Viele Frauenorganisationen wie Terre des Femmes kritisieren, dass in Einzelfällen in Deutschland Täter nicht wegen Mordes, sondern lediglich wegen Totschlags verurteilt wurden. Die Verneinung eines Mordmerkmals in diesen Fällen – infrage kommt insbesondere das Merkmal der niedrigen Beweggründe – wurde mit den traditionellen patriarchalen Werten der Heimat des Täters und deren Einfluss auf sein Verhalten gerechtfertigt. Tatsächlich können gesellschaftlich abweichende Wertevorstellungen den Täter entlasten, wenn sie in dem Kulturkreis, dem er angehört, prägend und nicht etwa auch dort geächtet sind; überdies kommt es im Einzelfall darauf an, wie lange und in welchem Umfang der Täter Gelegenheit hatte, sich mit den in Deutschland geltenden Maßstäben vertraut zu machen (vgl. StV 97, 565f.). Das bloße egozentrische Beharren auf einer überholten oder auch im Heimartland nicht (mehr) mehrheitsfähigen Sexualmoral (z.B. Untreue von Frauen, vorehelicher Geschlechtsverkehr von Mädchen sei todeswürdig) kann eine Tötung zum Zweck seiner Durchsetzung oder Demonstration nicht in milderem Licht erscheinen lassen (vgl. Tröndle, Fischer, 51. Aufl. § 211, Rn 14). Dennoch wird unter anderem von der Frauenorganisation Terre des Femmes kritisiert, dass das deutsche Strafrecht auf diese Weise nicht an jeden Menschen – gleich welcher Herkunft – die gleichen Maßstäbe anlege und so ein ZweiklassenStrafrecht entsteht, das so nicht geduldet werden kann. Das deutsche Recht darf sich nicht auf diese Weise rückständigen oder sonst rechtlich missbilligten Moralund Wertevorstellungen öffnen. Als positiv beurteilen deutsche Frauenorganisationen und Menschenrechtler das noch immer in Beratung befindliche neue »Gesetz zur Bestrafung von Zwangsverheiratung«. Der Gesetzesentwurf sieht in einer Zwangsheirat einen besonders

63

64

Morde ohne Ehre

schweren Fall von Nötigung, der mit einer Haftstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft werden kann. Negativ auf die Bestrafung der Täter und für den Schutz der bedrohten Frauen erweisen sich die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen. Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund sind häufig von ihren Eltern oder dem Ehemann aufenthaltsrechtlich abhängig. Junge Mädchen können zum Beispiel nur unter bestimmten Voraussetzungen und erst mit 16 Jahren ein eigenständiges Aufenthaltsrecht beantragen. Aufgrund dieser Bestimmungen sind die Opfer von Ehrenmorden häufig der Willkür ihrer Familien und Ehemänner ausgesetzt. Die meisten würden die Gewalt erdulden aus Angst, in das Herkunftsland abgeschoben und dort im Extremfall im Namen der Ehre von den in der Heimat gebliebenen Verwandten ermordet zu werden. Aufgrund dieser rechtlichen Aspekte begrüßt Terre des Femmes die Einführung des »neuen Zuwanderungsgesetzes« von 2005, in das »frauenspezifische bzw. nicht staatliche Verfolgungsgründe als Asylgrund« zumindest beim so genannten »kleinen Asyl« nach der Genfer Konvention mit aufgenommen wurden (§ 60 Abs. 1 Satz 3 Aufenthaltsgesetz).30

Studien aus dem arabischsprachigen Raum Im arabischen Raum bilden die Studien der jordanischen Journalistin Rana Husseini und der Politologin Tahira Khan neben den Arbeiten von Sherifa Zuhur, Sana Al- Khayyat, Mojab und Abdo die wichtigsten Quellen in Bezug auf das Problem.

Tahira Khans Untersuchungen – Pakistan Die pakistanische Politologin Tahira Khan vertritt die These, dass Ehrenmorde zwar kulturell differieren, aber gemeinsame Ursachen haben. Ihre marxistische Perspektive betont die Bedeutung von ökonomischen Systemen, die die Gemeinschaft und den sozialen Status der Frauen enorm beeinflussen und dazu führen, dass Frauen aufgrund ökonomischer Motive im Namen der Ehre umgebracht werden.31 Khan führt es auf ökonomische Faktoren zurück, dass Männern im Vergleich zu 30 | Vgl. Urteil vom Bundesgerichtshof vom 18.01.2004: Zum Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe bei ausländischen Tätern, Aktenzeichen: 2 StR 452/03; Vgl. dazu auch: Urteil vom Bundesgerichtshof vom 23.03.2004 Mord (niedrige Beweggründe bei Blutrache und kurdisch-jezidischer Wertvorstellung), Aktenzeichen 4 StR 466/03 und Urteil vom Bundesgerichtshof vom 20.02.2002: Mord; niedrige Beweggründe (abweichende Kulturvorstellungen einer Volksgruppe in Deutschland; Maßstab der Bewertung), Aktenzeichen 5 StR 538/01).

31 | Die Arbeiten von Khan geben die sozioökonomischen und die Geschlechtsbedingten Ursachen der Ehrenmorde sehr gut wieder. Die von ihr aufgeführten Ursachen treffen in vielen Bereichen auch auf die Ehrenmorde in der türkischen Gesellschaft zu (vgl. Khan, T. 2006, URL www.usconsulate-istanbul.org.tr/reppub/vawo/tkhan.html, Zugriff am 23.1.2006.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Frauen in diesen patrilinearen Gesellschaften ein höherer Wert beigemessen wird: Der Familienstatus hängt von der Position des Vaters ab. Söhne würden bevorzugt, Frauen hätten einen geringeren sozialen Status. Wie fast alle mit dem Thema Ehrenmorde befassten Forscher vertritt auch Khan die These, dass die Ehre einer Frau sehr eng mit ihrer Sexualität und ihrem normkonformen Verhalten in Zusammenhang steht.

Aufsatzsammlungen von Shahrzad Mojab und Nahla Abdo – Mittlerer Osten Die iranische Politologin und Pädagogin Shahrzad Mojab und die palästinensische Soziologin Nahla Abdo veröffentlichten mehrere Aufsatzsammlungen über Ehrenmorde und Lage der Frauen im Mittleren Osten. Beide vertreten die Auffassung, dass die Dominanz des männlichen Geschlechts im arabischen Raum von vielen sozialen Institutionen wie Sprache, Religion, Gesetze, Familie, Kultur und Medien produziert und reproduziert wird und zur Entstehung einer patriarchalen Gewalt führt. Die Staaten und deren rechtlich-politische Struktur würden die Fundamente des patriarchalen Systems stützen und dessen Fortbestand sichern (Mojab, S., Abdo, N. 2003, S. 1f.). Mojab analysierte die Ehrenmorde in »Kurdistan« und Irak. Sie gibt an, dass sich zum Beispiel im Jahr 2001 66 Ehrenmorde in den kurdischen Gebieten ereigneten (S. 6f.). Sie weist darauf hin, dass viele Ehrenmorde hätten verhindert werden können, wenn man frühzeitig auf verschiedene Warnsignale reagiert hätte. In diesem Zusammenhang lobt sie die Arbeiten der kurdischen Frauenvereinigung KWAHK (Kurdish Women Action Against Honour Killing), die sich im Kampf gegen diese Morde engagiert und den bedrohten Frauen Zuflucht bietet. Abdo untersuchte die Ehrenmorde in Israel und Palästina. Sie sieht den fundamentalistischen Islam als eine der Hauptursachen für das Auftreten von Ehrenmorden und betrachtet ihn als nicht »Gottgewollt« oder islamisch gerechtfertigt, sondern als »man-made« und somit als eine reine Auslegungsfrage (S. 61f.). Für sie ist es wichtig, Ehrenmorde nicht auf die islamischen Länder zu beschränken, da sie beispielsweise auch in Israel bei jüdischen Frauen genauso häufig vorkommen würden.

Untersuchungen von Sharon Araji – arabischer Raum Die Soziologin Sharon Araji untersuchte die historischen und kulturellen Beziehungen zwischen Gewalt gegenüber Frauen und dem Konzept von Ehre und Scham. Sie befasste sich mit der Frage, warum Ehrenmorde verstärkt in den arabischen Ländern auftreten und inwieweit das gewalttätige Verhalten gegenüber Frauen in den westlichen Gesellschaften von dem Ehrenkonzept geprägt wird.32 Ihre zentrale These ist, dass die Gewalttätigkeit gegenüber Frauen in der west32 | Araji, S. 2007, Crimes of Honor and Shame: Violence against Women in Non-Western and Western Societies, URL: www.critcrim.org/redfeather/journal-pomocrim/vol-8-sha ming/araji.html, Zugriff am 12.4.2007.

65

66

Morde ohne Ehre

lichen Gesellschaft unter anderem auf der Ehrenideologie aus anderen Ländern beruht und davon geprägt ist. Diese Situation ist durch die hohe Anzahl von Minderheiten in den jeweiligen Einwanderergesellschaften bedingt. Die Gewalttätigkeit gegenüber Frauen betrachtet sie wie viele andere feministische Wissenschaftler als Ausdruck patriarchaler Gesellschaftsstrukturen und der damit verbundenen sozialen Benachteiligung der Frauen (Barnett, Miller-Perrin; Perrin, 1997; Population Reports, 2000; Baker, Gregware; Cassidy, 1999). Das aggressive Verhalten bis hin zu Ehrenmorden gegenüber Frauen erklärt sie mit dem Kontrollverlust der Männer über das Verhalten der Frauen. Die Ehre könnte nur dann wiederhergestellt und die Scham, die durch diesen Kontrollverlust entsteht, nur beseitigt werden, wenn die Frau bestraft würde. Kontrolle und Scham betrachtet Araji als zwei wichtige Dimensionen des Ehrenkonzepts. Auch die Studie von Araji kommt zu dem Ergebnis, dass für die Ehre der Männer zwar ihr sozialer Status, ihre Herkunft und ihr soziales Engagement eine gewisse Rolle spielen, ihre Ehre letztlich aber von der erfolgreichen Kontrolle des Sexualverhaltens der weiblichen Familienmitglieder abhängt.33 Daraus beziehen die Männer das Recht, ihre Ehre und die Ehre der weiblichen Familienmitglieder mit allen Mitteln zu verteidigen.

Aufsatzsammlungen von Lynn Welchmann und Sara Hossain – arabischer Raum In einer weiteren Aufsatzsammlung über Ehrenmorde der Islamwissenschaftlerin Lynn Welchmann und der Frauenrechtlerin und Journalistin Sara Hossain kommen viele Forscher wie Sen oder Shalhoub-Kevorkian aus dem arabischen Raum zu Wort (Welchmann, L., Hosseini, S. 2005): Purna Sen, eine englische Expertin für Gewalt gegenüber Frauen, sieht Ehrenmorde als ein kulturelles und nicht ausschließlich als ein Phänomen der islamischen Gesellschaften. Sie weist auf folgende vier für Ehrenmorde wichtige Aspekte hin: Die Beziehungen der Geschlechter zueinander seien entscheidend, wobei die Kontrolle des weiblichen Verhaltens den Zentralaspekt dieser Relationen bil33 | Araji weist darauf hin, dass in traditionellen Gesellschaften non konformes Verhalten geschlechtsspezifisch beurteilt und bestraft wird (S.  4): Während eine Frau für eine uneheliche Affäre mit dem Tod bestraft werden kann, ein Mann für das gleiche Verhalten nicht verurteilt. Dennoch gibt es einige Situationen, wo Männer zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie die Frau, die sie vergewaltigen oder verführen, heiraten müssten und gegebenenfalls geschlagen werden. In den westlichen Gesellschaften hat die zunehmende Individualisierung die Entwicklung von der Großfamilie zur Kleinfamilie gefördert. Der Mann würde sich nunmehr verstärkt als Wächter der Ehre seiner Familie betrachten, da die in der traditionellen Gesellschaftsstruktur verankerte Kontrollfunktion der biologischen Großfamilie der Frau, die für deren Ehre verantwortlich ist, entfällt. Modernisierung und Verwestlichung bewirken nicht die Aufhebung der Traditionen, sondern in manchen Fällen sogar eine striktere Befolgung.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

det. Die Rolle der Frauen bei der Kontrolle des Verhaltens anderer Frauen sei ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor bei Ehrenmorden. Die kollektiven Entscheidungen bei einem Ehrenmord sieht Sen als ein Zeichen für das gemeinsame Überschreiten der Grenzen und schreibt ihnen daher eine wichtige Rolle zu. Die fehlenden Sanktionen des Staates kritisiert sie und betont, dass die Staaten den Weg für Ehrenmorde durch zu geringe Strafen legitimieren (S. 60).

Sana al-Khayyat – Irak Die Soziologin Sana al-Khayyat setzt sich mit der Bedeutung des Ehrprinzips und Stellung der Frauen im Irak auseinander. Sie betont, dass das Benehmen einer Frau nicht als Ausdruck ihrer individuellen Persönlichkeit, sondern als Spiegel der ganzen, weit verzweigten Familie gesehen wird. Die benachteiligte Rolle gegenüber den dominanten Männern würde sich auch darin äußern, dass die Frauen selten mit dem eigenen Namen sondern eher nach dem Namen ihres ältesten Sohnes angesprochen werden; z.B. Mutter von Muhammad, Um Muhammad). Die Unterdrückung der irakischen Frauen zeigt sich vor allem in der Erziehung nach dem traditionellen Rollenverständnis. Al-Khayyat betont, dass die Unterdrückung der Frauen durch die Familie alle Lebensbereiche erfasst (S.  209f.). Die Frauen sind gesellschaftlich isoliert und ihr Lebensraum beschränkt sich ausschließlich auf das Haus. Von einer »guten Frau« sprechen die Iraker nur dann sprechen, wenn die Frau gegenüber ihrem Mann unterwürfig und gehorsam ist. Typisch ist ebenso, dass Frauen in dem Glauben erzogen werden, dass Sex schmutzig, unehrenhaft und sündhaft sei. Trotzdem wird von ihnen erwartet, dass sie pflichtbewusst die sexuellen Bedürfnisse ihrer Männer zu erfüllen haben und dass dies auch ihre Pflicht gegenüber Gott ist. Deshalb betrachtet sie die Ehen in Irak als die religiös gestattete Form von Sexualität und nicht als eine Verbindung von Liebenden.34

Studie von SAF (Sisters Arab Forum for Human Rights) – Jemen Die Studie untersucht Ehrenmorde, die in Sana’a im Jemen begangen wurden. Die Mitglieder von SAF führten 78 Interviews mit Personen aus den drei Berufsbereichen, die täglich mit Ehrenmorden konfrontiert werden; Gesundheitspersonal, Polizei und Juristen. Die häufigsten Ursachen und Motive für Ehrenmorde in Sana’a waren demnach: Verdacht der Untreue, der niedrige Bildungsstand der Täter, die mangelnde sexuelle Aufklärung der jungvermählten Männer und der Einfluss der Stammeskultur und der jemenitischen Kultur (S. 39)

34 | Die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi betont in diesem Zusammenhang, dass in den westlichen Kulturen die Frauen wegen biologischer Aspekte unterdrückt werden. In den arabischen Ländern dagegen basiere die Unterdrückung auf der Überzeugung, dass die Frau ein mächtiges und sexuell gefährliches Wesen ist.

67

68

Morde ohne Ehre

Seit den 1990er Jahren stellen die Autoren eine Zunahme bei Ehrenmorden im Jemen fest. Dies erklären sie mit dem Zusammenprall der Modernisierung und der traditionellen Stammeskultur. Eine Auffälligkeit ist, dass die Ehrenmorde im Jemen mehr in Städten als in ruralen Gebieten vorkommen. Diesen Unterschied begründen sie damit, dass die Frauen in den Dörfern wenig Kontakt zu fremden Männern haben und ihr soziales Umfeld ihnen deshalb bekannt ist. In den Städten dagegen müssen die Ehemänner den ganzen Tag arbeiten. Sie sind deshalb schneller misstrauisch und verdächtigen ihre Frauen zum Beispiel leichter, eine außereheliche Affäre zu haben (S. 48).

Rana Husseini – Jordanien Die jordanische Journalistin Rana Husseini hat mehrere Kampagnen zur Aufklärung über Ehrenmorde geleitet und über zehntausend Unterschriften für Änderungen in der jordanischen Gesetzgebung gesammelt.35 Auch ihre Darstellung von verschiedenen Ehrenmordfällen in der jordanischen Zeitung Jordan Times trug viel zur Sensibilisierung der jordanischen Bevölkerung gegenüber dieser Thematik bei. Husseini definiert einen Ehrenmord wie folgt: »An honour killing occurs when a male relative decides to take the life of a female relative because, in his opinion, she has dishonoured her family’s reputation by engaging in an immoral act. An immoral act could be that she was simply seen with a strange man or that she slept with a man. In many cases, women are killed just because of rumours or unfounded suspicions«.36 Sie betrachtet die Verbrechen im Namen der Ehre nicht als religiöse Angelegenheit, sondern als eine kulturelle Praxis, die in ärmeren und ungebildeten Bevölkerungsschichten stattfindet, den Islam falsch interpretieren. Sie gibt an, dass sie bei ihrer journalistischen Tätigkeiten mit mindestens 30 Fällen pro Jahr konfrontiert wird, aber die Dunkelziffer sehr viel höher ist. Kritik übt sie gegenüber der jordanischen Gesetzgebung, die Tätern von Ehrenmorden eine Strafe von höchstens sieben Monate vorsieht. Für Husseini stellen die Täter desgleichen Opfer dar, weil sie aufgrund des großen Drucks ihres sozialen Umfeldes zu dieser Tat gezwungen würden. Sie gibt an, dass junge minderjährige Mädchen die Mehrheit unter den Opfern ausmachen und nach ihrem Tod geächtet werden, in dem sie beispielsweise keinen Grabstein erhalten. Die Vorstellung der internationalen Studien über Ehrenmorde zeigte: Die Opfer von Ehrenmorden sind in der Regel junge Frauen, die Täter in der Regel ihre Ehemänner oder andere männliche Verwandte. Ehrenmorde werden überwiegend in patriarchalisch strukturierten Gesellschaften verübt. Die Ehre 35 | URL: http://www.amanjordan.org, National Jordanian Campaign to Eliminate Honour Crimes in Jordan, Zugriff am 10.3.2006.

36 | Husseini, R. 2006, URL: www.pbs.org/speaktruthtopower/rana.html, Zugriff am 13.4. 2006.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

eines Mannes ist dem normkonformen Sexualverhalten seiner Frau gleichzusetzen. In den aufgeführten Ländern nimmt die Sensibilisierung gegenüber den Ehrenmorden und den anderen Formen der Unterdrückung von Frauen zu. Das Phänomen Ehrenmorde ist Länder übergreifend verbreitet und tritt in europäischen Ländern verstärkt bei Menschen mit Migrationshintergrund auf, da Migranten vielfach ihre traditionellen Ehr- und Wertvorstellungen in der Mehrheitskultur nicht aufgeben. Modernisierung und Verwestlichung traditioneller Gesellschaften führen nicht zur Verringerung der Ausübung von Ehrenmorden, da die Menschen in Umbruchzeiten oft verstärkt an ihren Ehr- und Wertvorstellungen festhalten. Ehrenmorde werden immer noch in vielen Gesellschaften toleriert. Insbesondere sollen in europäischen Ländern mit islamischen Minderheiten Ehrverbrechen keinen Sonderstatus genießen, sondern gemäß der der jeweiligen Gesetze als Tötungsdelikte angemessen bestraft werden. In Deutschland hat die Diskussion über Ehrenmorde dazu beigetragen, verstärkt über die Verbesserung der Integration von Migranten nachzudenken: Der Beginn der Integrationsarbeit in Kindergärten und Schulen sei das beste Mittel zur Verhinderung dieser Morde.

1.2 U ntersuchungsland Türkei In diesem Kapitel wird die Türkei, anhand der Merkmale wie demographische Daten, Bevölkerungsverteilung, wirtschaftliche Lage, geografische Besonderheiten und Bildungssystem dargestellt, um die Lebensumstände der Betroffenen von Ehrenmorden besser einordnen zu können.

Geografische Besonderheiten Einige geografische Besonderheiten des Landes prägen insbesondere die Lebensweise der Betroffenen von Ehrenmorden entscheidend mit. Die Türkei umfasst eine Fläche von 779.452 km². Nach der Volkszählung im März 2006 betrug die Einwohnerzahl über 74 Millionen. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist, dass sich das Land über zwei Kontinente erstreckt und sich zu 97 Prozent auf dem asiatischen und zu 3 Prozent auf dem europäischen Kontinent befindet. Die kulturelle Vielfalt der in der Türkei lebenden Ethnien wird auch dadurch geprägt, dass die Türkei an acht direkte Nachbarstaaten grenzt (Griechenland, Bulgarien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Iran, Irak und Syrien). Im Westen der Türkei liegt das Ägäische Meer im Süden das Mittelmeer und im Norden das Schwarze Meer. Die Türkei wird in sieben geographische Regionen unterteilt, die in Bezug auf Klima und Bedingungen der Vegetation sehr stark voneinander differieren (vgl. Anhang Türkei Karte S.  280f.): die Marmararegion, die Ägäis und Schwarzmeerregion, Zentralanatolien, die Mittelmeerregion sowie Ost- und Südostanatolien. Da die geografisch benachteiligte Lage der anatolischen und südostanatolischen Gebiete einen großen Einfluss auf das Alltagsleben der Bevölkerungsschichten ausübt,

69

70

Morde ohne Ehre

die sozial benachteiligt sind und die größte Gruppe der Täter ausmachen, werden die geographischen Gegebenheiten der zentralanatolischen und der südostanatolischen Gebiete ausführlicher wiedergegeben: Die inneranatolischen Hochebenen sind von der zentralanatolischen Region umgeben. An diesen Hochebenen befinden sich neben einigen Seen große Gebirgsketten. Diese Gebiete zählen zu den trockensten Gebieten in der Türkei und weisen ausgeprägte Steppen- und teilweise auch Wüstenlandschaft auf. Zu den hauptsächlich angebauten landwirtschaftlichen Produkten gehören Weizen, Gerste und Obst. Im Südosten der Türkei existieren noch Nomaden. Die Bewohner dieser Region müssen im Sommer mit fast tropischen Temperaturen und im Winter mit sehr kalten Temperaturen bis zu -20 Grad rechnen. Die südostanatolischen Gebiete der Türkei werden von vielen türkischen und nicht türkischen Autoren als die älteste Kulturregion der Türkei betrachtet (Faraç, M. 2004, S. 75). Zu den geographischen Besonderheiten dieses Gebietes gehören das Taurusgebirge und die beiden Flüsse Euphrat und Tigris. Viele Staudämme (Südostanatolien-Projekt GAP – Güney Anadolu Projesi) wurden in diesen Regionen errichtet, um die knappen Wasservorräte dieser Gebiete besser zu nutzen und die Landwirte bei der Bewässerung zu unterstützen. Ostanatolien liegt höher und ist damit in langen Wintern kälter als der Westen, sodass der Anbau kultivierbarer Pflanzen begrenzt ist. Der Anteil gebirgiger und damit schwer erschließbarer Landesteile ist besonders hoch. Die potentiellen Wirtschafts- und Siedlungsräume sind ebenfalls begrenzt und liegen voneinander isoliert. Ihre Erreichbarkeit ist durch lange Winter, hohe Pässe und weite Straßendistanzen eingeschränkt. Diese geographischen Gegebenheiten erschweren das wirtschaftliche Überleben in diesen Gebieten und tragen ebenso wie die fehlende medizinische Versorgung und eine mangelhafte Infrastruktur und fehlende Modernisierungsmaßnahmen dazu bei, dass die Lebensqualität dort sehr viel schlechter ist als im Westen der Türkei. Die genannten Faktoren erklären die kulturelle Rückständigkeit der Bevölkerung in diesen Gebieten und ihr starres Festhalten an Traditionen und Werte. Die harten Bedingungen ihrer Umwelt und die fehlenden ökonomischen Alternativen führen dazu, dass die meisten Familien nur in semifeudalen Klanstrukturen überleben können. Diese gegenseitige Abhängigkeit verstärkt die Beziehungen zwischen den einzelnen Familien und auch die überdimensionale Stellung der Familienehre innerhalb des Klansystems. Die Besonderheiten der dörflichen Kultur in diesen Gebieten werden aber in Abschnitt 1.2.1 näher erläutert.

Wirtschaft Die wirtschaftliche Situation der Türkei ist gemäß den Ausführungen des Politologen Ergün Sönmez immer noch sehr widersprüchlich. Es besteht eine große Kluft zwischen dem Westen mit moderner Industrie (insbesondere den großen Metropolen) einerseits und dem agrarisch strukturierten und wenig entwickelten Osten andererseits. In fast allen modernen Wirtschaftsbereichen wird der Westen und Nordwesten der Türkei bevorzugt. Der überwiegende Teil der Investitionen wird

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

im westlichen Teil der Türkei, insbesondere in den Großstädten getätigt. Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei sei bis heute geprägt durch einen wirtschaftspolitischen Balanceakte zwischen Versorgungsengpässen (Zweiter Weltkrieg, Ölkrise) und kurzfristigen wirtschaftlichen Booms, die sich in hohen Inflationsraten äußert.37 Neben wirtschaftlichen Problemen hat eine wachsende Radikalisierung der politischen Kräfte zu Spannungen in der Bevölkerung geführt, die sich unter anderem in Streiks und Demonstrationen entladen hätten. Die neue Funktion der Türkei als Wirtschaftsbrücke zwischen Europa und dem Nahen Osten trägt dazu bei, eine erträgliche Lösung zu finden, für diesen Konflikt zwischen der Orientierung nach Westen und der Orientierung an islamischen Traditionen. Neben der enormen Diskrepanz zwischen den östlichen und westlichen Gebieten der Türkei gibt es eine große Kluft zwischen den Großstädten und den ländlichen Teilen hinsichtlich der Lebensqualität der Bevölkerung. Da der Verstädterungsprozess in der Türkei sehr weit vorangeschritten ist, leben ca. 74 Prozent der Gesamtbevölkerung in den Städten. Dieser Prozess wird durch die massive Binnenwanderung vom Osten der Türkei in die westlich gelegenen Städte verstärkt. Zu den einwohnerstärksten Städten in der Türkei gehören neben Istanbul Ankara, Izmir, Bursa und Diyarbakır. Die Hauptstadt der Türkei ist mit über 3 Millionen Einwohnern Ankara. Doch die eigentliche, inoffizielle Hauptstadt der Türkei, das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes, ist Istanbul. Die offiziellen Statistiken sprechen von über acht Millionen Einwohnern, doch die Einheimischen schätzen die Bevölkerungszahl in Istanbul aufgrund der großen Anzahl von nicht registrierten Binnenwanderern auf 12 Millionen. Im Südosten der Türkei zählen Diyarbakır, Urfa und Adana zu den wichtigsten Großstädten mit historischer und kultureller Bedeutung. Im Landesinneren, in Zentralanatolien ist Konya die wichtigste und größte Stadt und gilt zudem als Hochburg und »grüne Hauptstadt« der islamisch gesinnten Bevölkerung. Als einen benachteiligenden Aspekt für die Entwicklung der Türkei kann das oben beschriebene starke Ost-West-Gefälle zwischen der Europa zugekehrten Landesteilen und der östlichen Peripherie erwähnt werden. Dieses Ost-West-Gefälle zeigt sich auch bei der Verbreitung von nicht unbedingt nur modernen Sozialund Versorgungseinrichtungen. Ungleichheiten gibt es ebenso bei der Anzahl der Ärzte in den Städten und in anatolischen Gebieten (Hütteroth, W. 2002, S. 189f.). Da vielen Ärzten die Lebensqualität auf dem Land oftmals unerträglich erscheint, lassen sie sich eher in Städten nieder. Deshalb muss in anatolischen Gebieten ein Arzt mehrere Zehntausend Einwohner versorgen. In Ostanatolien gibt es manche Landkreise, die über keinen Arzt verfügen. Fachärzte und Apotheken gibt es meist nur in den Provinzhauptstädten.38 Die medizinische Grundversorgung ist mit 37 | Deshalb sei am 1. Januar 2005 die alte »Türkische Lira« durch die »Neue Türkische Lira« (Yeni Türk Lirası) ersetzt worden.

38 | Beim Lebensstandard, der durch den »Human Development Index« repräsentiert wird, liegt die Türkei weltweit auf dem 96. Platz (Stand 2003). Damit gehört sie zu den

71

72

Morde ohne Ehre

finanziellen Teilbeiträgen der Patienten verbunden, die wiederum dazu führen, dass viele aufgrund finanzieller Not keine ärztlichen Dienste in Anspruch nehmen können. Da es immer noch keine Arbeitslosenversicherung in der Türkei gibt, leben insbesondere Familien mit arbeitslosen Familienmitgliedern in großer Armut. Der relative Entwicklungsunterschied zwischen dem Westen und dem Osten des Landes verstärkt sich tendenziell, da der türkische Staat zurzeit weder über das Geld noch über die Macht und Mittel verfügt, um diesem Trend entgegenzuwirken. Trotz einzelnen staatlichen Initiativen wie wichtige Verkehrserschließungsmaßnahmen, durch die Kommunikation und Informationsaustausch schreitet die Modernisierung dieser Gebiete langsam voran (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 32). Neben den Unterschieden in der türkischen Gesellschaft in Bezug auf Status, Bildung und Vermögen, zwischen nahöstlich-islamischen und modernen westlichen Bräuchen spielt die ethnische Diversität eine große Rolle.

Bevölkerung In der Türkei leben viele ethnische Gruppen, die einem permanenten kulturellen Austausch ausgesetzt sind. Einige türkische Autoren gehen soweit, die Auffassung zu vertreten, dass Ehrenmorde ausschließlich ein Phänomen bestimmter Bevölkerungsgruppen- oder Ethnien wie zum Beispiel der kurdischen oder arabischstämmigen Bevölkerung seien und ernten für diese Sichtweise große Kritik seitens der betroffenen Ethnien. Da bei den Volkszählungen in der Türkei die ethnische Zugehörigkeit der Personen nicht erfasst wird, lässt sich über die ethnische Zusammensetzung nur mutmaßen. Diese Tatsache wird dadurch verstärkt, dass aufgrund der Migration vieler Volksgruppen viele Familien ethnisch betrachtet divers sind, letztlich aber insbesondere deren Nachfolgegeneration sich als Türken definieren. Nach Angaben der türkischen Regierung leben in der Türkei folgende Volksgruppen: 75 Prozent Türken, ca. 20 Prozent Kurden, 2 Prozent Zaza, 2 Prozent Araber, 1 Prozent Albaner, 0,5 Prozent Tscherkessen, 0,5 Prozent Georgier sowie diverse andere ethnische Gruppen und Nationalitäten.39 Die Türkei ist gleichzeitig ein Auswanderungs- und Einwanderungsland, denn aus dem Balkan, dem Nahen Osten, Griechenland, Iran, Zentralasien, der Krim usw. emigrierten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs viele Einwanderer in die türkische Republik. Den bedeutendsten muslimischen Bevölkerungsanteil mit nicht türkischer Sprache bilden die Kurden, die in Südostanatolien ein relativ geschlossenes Verbreitungsgebiet einnehmen. Während Vildan Yirmibeşoĝlu oder Mehmet Faraç die Ehrenmorde als ein »spezifisches kurdisches und arabisches Problem« betrachten, stellen sich die Vertreter der türkischen Frauenorganisationen und die Soziologin Ländern mit einem mittleren Entwicklungsstand (zum Vergleich: Deutschland belegt den 19. Platz).

39 | Aleviten, Abchasen, Aramäer, Armenier, Assyrer, Bosniaken, Bulgaren, Griechen, Lasen, Tschetschenen, Tataren, Usbeken, Kasachen, Turkmenen, Uiguren, Terekme (vgl. Ethnien in der Türkei, URL: www.die.gov.tr, Zugriff am 27.3.2005).

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Leyla Pervizat gegen diese Behauptung (Yirmibeşoĝlu, V. 2005; Beyaz, Z. 2005; Pervizat, L. 2005). Da die türkischen Studien über Ehrenmorde die ethnische Herkunft der Täter nicht berücksichtigen, handelt es sich um Hypothesen. Zur kurdischen Bevölkerung in der Türkei: Die Kurden stellen kein einheitliches Volk im europäischen Sinne dar, da sie in Wirklichkeit Angehörige verschiedener Dialektgruppen sind (vgl. Hütteroth, W. 2002, S. 184f.). Die Auseinandersetzungen um kurdische Autonomiegebiete begannen, als das Osmanische Reich den Ersten Weltkrieg verlor. Die Siegermächte beschlossen 1920 im Vertrag von Sévres, das Siedlungsgebiet der Kurden auf die Türkei, Iran, Irak und Syrien zu verteilen. Kurdistan wird daher oft als ein politisches Postulat kurdischsprachiger Nationalisten betrachtet, das den Gesamtraum in unterschiedlichen Staaten (Türkei, Iran, Irak, Syrien sowie GUS) umfasst, in dem Menschen mit kurdischen Dialekten wohnen. Die Kurden kämpfen bis heute für ein befreites »Kurdistan« und werden daher von den regierenden Staaten als eine Bedrohung empfunden. Doch das Siedlungsgebiet ist aufgrund seiner Bodenschätze und geopolitischen Lage zu bedeutend, als dass sich die Länder auf die Abspaltung dieser Gebiete einigen können. In der Türkei werden Kurden erst in den letzten Jahren als eine autonome Volksgruppe akzeptiert.40 Nach eigenen Beobachtungen ist bei einigen türkischen Bevölkerungsgruppen in den letzten Jahren eine Aversion gegenüber den Kurden entstanden. Kurdische Migranten gelten als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt, man kritisiert den Kinderreichtum der kurdischen Familien, die in den letzten Jahren in großer Zahl in die Städte gezogen sind und ihre dörfliche Lebensweise in den Städten fortsetzen. Man wirft ihnen vor, zu viele Kinder auf die Welt zu bringen, die sie nicht ausreichend versorgen könnten. Der erhebliche Bevölkerungszuwachs, die mangelhafte medizinische Versorgung beeinflussen die Lebensqualität in ländlichen und östlichen Gebieten der Türkei negativ. Trotz hohen Geburtenraten auf dem Land überwiegt dennoch die Anzahl der städtischen Bevölkerung. Die ländliche Bevölkerung wächst hingegen gerade in den Landesteilen mit den geringen agrarischen Expansionschancen am stärksten.41

40 | 1984 nahm die radikale kurdische Gruppierung der PKK ihren bewaffneten Kampf gegen türkische Sicherheitskräfte auf. Diese Auseinandersetzungen kosteten sowohl auf der kurdischen als auch auf der türkischen Seite über 30.000 Menschen das Leben.

41 | Über die Geburtenzahl können folgende Aussagen gemacht werden: Während in den Dörfern des Westens die Kinderzahl pro Frau bis 1990 durchschnittlich 3,06 betrug, lag der entsprechende Wert für Ostanatolien immer noch bei 4,34. Bei Frauen mit gehobener Schulbildung in Großstädten lag die Kinderzahl unter dem Durchschnitt westlicher Industrienationen. Diese geringe Zahl kann auf die Berufstätigkeit der Frauen zurückgeführt werden. Seit der Republikgründung im Jahr 1923 ist die Bevölkerung der Türkei erheblich angewachsen. 1927 lebten 14 Millionen Menschen in der Türkei 2003 knapp 70 Millionen. In den letzten Jahren hat sich das Bevölkerungswachstum verlangsamt. Während

73

74

Morde ohne Ehre

Religion Der Islam, Staatsreligion der Türkei, spielt im Alltagsleben und Denken der Bevölkerung eine große Rolle. Nach offiziellen Statistiken der türkischen Regierung sind 99,8 Prozent der türkischen Bevölkerung Muslime (a.a.O.). Davon sind etwa 65 bis 70 Prozent Sunniten, die restlichen 30 bis 35 Prozent Aleviten. Außerdem leben in der Türkei 0,2  Prozent Christen (125.000) und 0,04  Prozent Juden (23.000). Diese Zahlen sind jedoch ungenau, weil jeder türkische Einwohner automatisch als Muslim erfasst wird (vgl. Hütteroth, W. 2002, S. 174f.).

Kemalismus »Ich bin die Türkei« (Zitat Mustafa Kemal Atatürks, in: Altındal, A. 2004, S. 34).

Die kemalistische Ideologie ist ein nicht wegzudenkender Bestandteil der türkischen Kultur, die auf den Visionen des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk aufbaut.42 Im Laufe seiner Amtszeit führte Atatürk tief greifende Reformen im politischen und gesellschaftlichen System durch, die die Türkei in einen modernen, säkularen, weltlichen und am Westen orientierten Staat verwandelten und insbesondere für die Gleichberechtigung der Frauen von großer Bedeutung waren. Im Zuge seiner Reformen bewirkte Atatürk eine Abkehr von den islamischen Traditionen der osmanischen Zeit und die Übernahme weltlicher und westlicher Bräuche (S. 43f.). Zu Atatürks wichtigsten Reformen gehören: 1922 wurde noch vor der Ausrufung der Republik am 29. Oktober 1923 das Sultanat und am 29. Oktober 1923 das Kalifat abgeschafft. 1924 schaffte die Türkei die religiösen Gerichte ab. Turban, Kopftücher und Fes wurden durch das so genannte Hutgesetz verboten. Islamische Schulen wurden geschlossen und religiöse Orden verboten. In den folgenden Jahren wurde ganze Rechtssysteme aus europäischen Ländern übernommen und den türkischen Verhältnissen angepasst.43 Das Rechtssystem war vor Atatürks Reformen sehr zerstückelt. In familien- und erbrechtlichen Angelegenheiten unter Moslems waren immer noch die Auslegungen islamischer Präzedenzfälle durch die Muftis, den religiösen Gelehrten, maßgeblich. 1928 wurde die Säkularisierung ausgerufen und im gleichen Jahr die arabische Schrift durch die Lateinische ersetzt. Im Zuge weiterer Reformen wurde 1930 das aktive Fraues im Jahr 2000 noch 1,7 Prozent betrug, waren es 2004 1,13 Prozent (Hütteroth, W. 2002, S. 152f.).

42 | Nach dem Parteiprogramm von Atatürks Republikanischer Volkspartei (CHPCumhuriyet Halk Partisi) basiert der Kemalismus auf sechs Prinzipien: Nationalismus, Laizismus, Republikanismus, Etatismus, Revolutionarismus und Populismus (vgl. Rüstow, D. 2002, S. 23f.). 43 | 1926 wurde zunächst das Schweizer Zivilrecht – und damit die Einehe mit einer Gleichstellung von Mann und Frau – übernommen. Es folgten das deutsche Handelsrecht und das italienische Strafrecht.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

enwahlrecht eingeführt und seit 1934 dürfen sich Frauen auch selbst zur Wahl stellen. Die Veränderungen der Kleidung und des Alphabets waren hauptsächlich symbolischer Natur, aber gerade deshalb nahmen konservative Kräfte zutiefst Anstoß an diesen äußerlichen Veränderungen. In einigen wichtigen Punkten behielt Atatürk die osmanische Tradition bei. Ein Beispiel dafür ist der Kalender der Feiertage, an denen Ämter, Banken, Schulen und die meisten Geschäfte in der ganzen Türkei geschlossen bleiben. Nur wenige Reformen, etwa Atatürks Idee, dass in den Moscheen statt auf Arabisch nur noch auf Türkisch gebetet werden sollte, erwiesen sich als undurchführbar und wurden zurückgenommen.44 Trotz aller Versuche, die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft auf der laizistischen Ebene zu schwächen, blieb der Glaube ein wichtiger Bestandteil in der türkischen Gesellschaft. Die Gefahr stieg sogar, dass die Religion durch Kreise instrumentalisiert werden könnte, auf die der Staat keinen Einfluss hatte. Daher wurde 1924 das Amt für Religiöse Angelegenheiten gegründet. Nach dem Tode Atatürks wurde der Kemalismus zum grundlegenden Staatsprinzip der Türkei erklärt und 1937 wurden die genannten sechs Prinzipien in die Verfassung aufgenommen. Die Staatsprinzipien des Staatsgründers Kemal Atatürk begleiten bis heute als politische Leitgedanken den schwierigen Weg des türkischen Staates hin zur Integration in die europäische Staaten- und Wirtschaftswelt. Die türkische Politik wird noch heute vom Kemalismus beeinflusst. Insbesondere die Vertreter der türkischen Streitkräfte und Politiker betrachten sich als Erbe von Atatürks Ideen und Hinterlassenschaften. In den Schulen steht der Kemalismus vom ersten Schuljahr an auf dem Lehrplan. Zudem kann man in jedem Klassenzimmer oder bei öffentlichen Einrichtungen ein Bild von Atatürk finden. Auch in den Parteien werden kemalistische Ideen sowohl von rechten als auch von linken Parteien für eigene Zwecke instrumentalisiert. Als Widersacher der kemalistischen Ideen betrachten sich die islamisch orientierten Parteien, da der Kemalismus die Trennung vom Staat und Religion vorschreibt.

Politik Im Folgenden wird kurz die politische Entwicklung der Türkei bis heute wiedergegeben, um die politischen Rahmenbedingungen näher zu erläutern. Nachdem Atatürk am 10. November 1938 starb, wurde sein enger Weggefährte Ismet Inönü zweiter türkischer Staatspräsident. Inönü war bestrebt, die Modernisierung der Türkei fortzuführen und die außenpolitische Neutralität beizubehalten. Die Demokratische Partei errang bei den Wahlen am 14. Mai 1949, unter der Führung von Adnan Menderes, die Mehrheit der Sitze im Parlament. Die Türkei trat 1952 in die NATO ein. 1960 proklamierte der regierende Ministerpräsident Menderes ein Ermächtigungsgesetz, um die politische Opposition auszuschalten. Gegen diese 44 | Lokale Aufstände gegen Atatürks Reformen ereigneten sich in mehreren Städten, da viele streng religiöse Bürger den Islam nicht aus ihrem Alltag und politischen Leben verbannen wollten (Karaşan-Dirks, S. 1986, S. 65).

75

76

Morde ohne Ehre

Maßnahmen putschte 1960 das Militär. Menderes und andere Politiker wurden unter Korruptionsvorwurf zum Tode verurteilt. Nachdem das Militär 1961 eine neue Verfassung einführte, gab es seine Macht an eine Zivilregierung ab. Inönü wurde Ministerpräsident und regierte von 1961 bis 1965. Linke und rechte Terroraktivitäten nahmen zu und die Wirtschaftslage verschlechterte sich. 1971 griff die Armee erneut in die Politik ein. Um einen Zusammenschluss zwischen Griechenland und Zypern zu verhindern, entsandte Ministerpräsident Bülent Ecevit Truppen auf die Insel. Nach schweren Kämpfen wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der zur bis heute dauernden Teilung der Insel in einen selbstständigen und einen von der Türkei kontrollierten Teil führte.45 Das Militär putschte sich am 12. September 1980 zum dritten Mal an die Macht. Auslöser war die sehr instabile Phase in den 1970er Jahren, die durch wechselnde politische Koalitionen, politische und wirtschaftliche Instabilität und Terrorakte aus dem extremen politischen Spektrum geprägt war (Rüstow, D. 1990, S. 78f.). Kenan Evren wurde ohne Gegenkandidaten zum Präsidenten gewählt. Kopftuch und Kinnbart wurden an den Universitäten verboten. Während dieser Zeit wurden alle Parteien vor dem Putsch verboten und ihre führenden Köpfe für die kommenden fünf Jahre entmachtet. Das Militär unter General Kenan Evren verhängte das Kriegsrecht über das Land und verbot alle politischen Parteien. Am 7. November 1982 wurde die von den Militärs vorgelegte neue Verfassung in einem Volksentscheid angenommen. Während des Golfkriegs (1980-1988) zwischen Iran und Irak hat die Türkei die volle Neutralität bewahrt und dadurch den beiden Kriegsparteien die Möglichkeit gegeben, einen großen Teil des Außenhandelswege auf türkischen Überlandsrouten umzuleiten. Turgut Özal gewann die ersten Wahlen nach dem Putsch, der die Privatisierung vieler staatlicher Bereiche bewirkte. Dem symbolischen Verkauf der Bosporusbrücke folgte der Verkauf des gesamten riesigen Netzes türkischer staatlicher Wirtschaftsunternehmen. 1988 gewährte die Türkei 70.000 Kurden Zuflucht, die in der letzten Phase des Golfkrieges aus dem Iran geflohen waren (S. 6). Ab Mitte der 1980er bestimmte der Kurdenkonflikt die innenpolitische Debatte in der Türkei. Die »Kurdenproblematik« wurde bis dahin von der Politik totgeschwiegen und war nicht im Bewusstsein der türkischen Gesellschaft. Die Assimilierungspolitik der Türkei führte zur Unterdrückung der kurdischen Kultur und Identität. Als Reaktion darauf entstand im Jahr 1984 die »Arbeiterpartei Kurdistans« (PKK) mit Abdullah Öcalan an der Spitze. Sie nahm im Südosten den bewaffneten Kampf für einen unabhängigen sozialistischen Staat Kurdistan auf. Am 16. Februar 1998 nahm der türkische Geheimdienst Abdullah Öcalan, den Führer der PKK, in Kenia gefangen und brachte ihn in die Türkei. Daraufhin erklärte die PKK einen einseitigen Waffenstillstand, der erst wieder 2004 gebrochen wurde. Unter der Regierung Ecevits (1999 bis 2002) begannen umfassende Reformen im Zivilrecht, um die Menschen- und Freiheitsrechte (z.B. Versammlungs- und Demonstrationsrecht) 45 | Am 15. November 1983 wurde die Türkische Republik Nordzypern (TRNZ) unter Rauf Denktaş proklamiert.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

zu stärken. Unter anderem wurde die Todesstrafe abgeschafft, die Folter verboten und die kulturellen Freiheiten der kurdischen Minderheit gestärkt. So wurden der Gebrauch der kurdischen Dialekte, Kurdischunterricht und kurdische Radio- und Fernsehkanäle erlaubt. Seit 2004 sind die Kämpfe zwischen der türkischen Regierung und der PKK wieder entflammt und 2005 nahmen sie nochmals an Intensität zu. Nach 40-jährigen Bemühungen erreichte die Türkei am 3. Oktober 2005 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Obwohl alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union allen bisherigen Stadien des Beitrittsprozesses zugestimmt haben, ist ein Beitritt der Türkei umstritten. Neben den Befürwortern (zum Beispiel die britische Regierung unter Tony Blair) gibt es auch Regierungen, die einen türkischen EU-Beitritt skeptisch sehen (insbesondere die österreichische Regierung). Auch die USA haben den Staaten der EU eine Aufnahme der Türkei mehrmals nahe gelegt, weil sie einen geostrategischen Vorteil für die westliche Welt durch die Integration der Türkei in die EU sehen (S. 7f.). Inwieweit die sozioökonomischen Missstände die Türkei in ihrer Entwicklung hemmen, zeigt Sönmez marxistisch orientierte Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Türkei als ein Entwicklungsland betrachtet werden kann oder nicht. Er bejahte diese Fragestellung, weil er die folgenden Merkmale der Türkei den allgemeinen Merkmalen eines Entwicklungslandes zuordnet (Sönmez, E. 1985, S. 4f.): Sönmez zählt die Türkei zu dem Entwicklungslandtypus, bei dem der Kapitalismus sehr stark entwickelt ist und ein entsprechender staatsmonopolistischer Kapitalismus ausgebaut ist. Ein weiteres Merkmal der Unterentwicklung des Landes sei das ungenügende öffentliche Versorgungssystem, denn 97 Prozent der gesamten türkischen Dörfer seien nicht mit Strom versorgt und ca. 50 Prozent der Dörfer verfügten zudem über keine Verkehrsverbindung. Die kapitalistische Produktionsweise habe sich als die herrschende Produktionsweise durchgesetzt, aber besonders in der Ost- und Südosttürkei seien die feudalen und halbfeudalen Wirtschaftsverhältnisse erhalten geblieben. Das dritte Merkmal, das die Türkei als Entwicklungsland kennzeichnet, sei die Ausbeutung und Benachteiligung, die in ihren Beziehungen zu den entwickelten kapitalistischen Ländern zum Ausdruck komme. Ein viertes Merkmal, sei durch die vollständige ökonomische, politische und militärische Abhängigkeit der Türkei von anderen Ländern gegeben. Als fünftes Merkmal seien dagegen der niedrige Lebensstandard der türkischen Bevölkerung und die Rückständigkeit im kulturellen Bereich, die sich insbesondere in den ruralen Gebieten äußere, zu nennen. Bezeichnend für die kulturelle Rückständigkeit sei das Analphabetentum, das noch nicht ganz abgeschafft werden konnte.

Das türkische Bildungssystem Da die Mehrheit der Täter von Ehrenmorden ein geringes Bildungsniveau aufweist, folgt eine Darstellung der Gründe dafür und eine kurze Vorstellung des türkischen Bildungssystems. Die größte soziale Kluft entsteht nicht durch ererbten

77

78

Morde ohne Ehre

Status oder Einkommen, sondern durch den Bildungsstand. Das Bildungswesen ist nach Dankwart Rüstow eine »starke Triebfeder für die Westorientierung und die Forderung nach sozialer Gleichheit und der wichtigste Faktor zur Erlangung sozialer Mobilität« (Rüstow, D, 1990, S. 30f.). Ein Blick in die Geschichte mag verdeutlichen, wie stark die jeweils herrschende politische und gesellschaftliche Konstellation die Möglichkeiten von Frauen und Mädchen beeinflusst hat (vgl. Akkent, M./Franger, G. 1987, S. 39f.): In der Tanzimatperiode (1839 bis 1876) des Osmanischen Reiches wurden zahlreiche Maßnahmen getroffen, die den militärischen Bereich, die Verwaltung, das Rechtswesen und die Ausbildung regelten. 1869 wurde zum Beispiel die Grundschulpflicht für Mädchen eingeführt. Die Ausbildung in Mittelschulen und Gymnasien stand ihnen ebenfalls offen. 1870 wurden die ersten Lehrerausbildungsstätten, die Darülmuallimat für Mädchen gegründet. Aber erst nach der Einführung von Atatürks Reformen standen den Frauen alle Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten offen. Einen Weg, auch Mädchen auf dem Dorf zu erreichen, versuchte die Pädagogik von Tonguç, dem Gründer der türkischen Dorfinstitute. Obwohl die Fertigkeiten noch geschlechtsspezifisch vermittelt wurden, eröffneten sich neue Horizonte für die Mädchen. Die Dorfinstitute hatten die Bekämpfung des Analphabetismus und die Vermittlung von bestimmten Handwerkstechniken zum Ziel. Der Wahlsieg der Demokratischen Partei im Jahr 1950 bedeutete das Ende der Dorfinstitute sie wurden in normale Schulen umgewandelt und 1954 per Gesetz endgültig aufgelöst. Im Schulwesen der Türkei bestehen aufgrund mangelnder Finanzierung und der hohen Zahl schulpflichtiger Kinder und des Ost-West-Gefälles erhebliche Defizite. Ca. 25 Prozent der türkischen Bevölkerung sind im schulpflichtigen Alter. So gibt es im Osten eine große Zahl von einzügigen Schulen mit mehr als 50 Schülern pro Klasse. Lediglich 93 Prozent aller schulpflichtigen Kinder, meist Mädchen, gehen nach Angaben der türkischen Regierung zur Schule.46 Die Türkei besitzt 53 staatliche Hochschulen und 24 staatlich anerkannte private Stiftungsuniversitäten.47 Jährlich wird durch die Türkische Zentralstelle für Studentenvermittlung eine Aufnahmeprüfung durchgeführt. Das Ergebnis dieser Prüfung ist für die Wahl der Hochschule und des Studienfachs entscheidend. Die Beschränkung des Zugangs zu den Ausbildungsstätten, die in Großstädten konzentriert sind, betrifft nicht nur die Mädchen, sondern alle Gruppen der türkischen Gesellschaft. Die Benachteiligung verläuft nicht zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen Stadt und Land, wobei festgestellt werden kann, dass die Ausbildungschancen für die Mädchen der städtischen Oberschicht günstiger sind als die Chancen der männlichen ländlichen Unterschicht. Die Programme der öffentlichen Schulen reichen zur Vorbereitung auf die Universitätsprüfungen nicht aus. Aber nur 46 | Besonders betroffen sind Mädchen, von denen laut einer Weltbank-Studie ca. 600.000 nicht eingeschult sind.

47 | Brockhaus 2006: Türkei, URL: www.brockhaus.de/suche/index.php?begriff=tuerkei &bereich=mixed, Zugriff am 12.3.2006.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

die Angehörigen der wohlhabenden sozialen Schichten können sich zusätzliche Privatkurse leisten, um ihre Chancen für die Prüfung zu erhöhen. Neben diesen Aspekten spielen auch die Geschlechterbeziehungen eine wichtige Rolle bei der Einschulung von Mädchen, da viele konservative Familien befürchten, dass ihre Töchter in den gemischten Schulen einen »unehrenhaften Kontakt« mit männlichen Mitschülern haben könnten. Zusammenfassend kann festhalten werden, dass die Kultur der heutigen Türkei aufgrund ihrer vielseitigen Geschichte eine Verschmelzung verschiedener Kulturen darstellt. Neben der ethnischen Diversität hat die unruhige politische Lage einen großen Einfluss auf den sozialen Wandel und den kulturellen Austausch zwischen den einzelnen Ethnien. Gegenwärtig ist die zunehmende Modernisierung und Demokratisierung vieler Bereiche nach europäischem Vorbild zu beobachten. Dennoch gibt es viele gesellschaftliche Bereiche wie beispielsweise die dörfliche Kultur, in der die alten und traditionellen Denkweisen noch immer dominieren. Der türkische Staat bemüht sich, geeignete Maßnahmen zur Vereinheitlichung der Infrastruktur des Landes, des Bildungssystems und des Gesundheitswesens zu treffen, um allen Bevölkerungsschichten, unabhängig davon, ob sie auf dem Land oder in der Stadt wohnen, vergleichbare Lebensbedingungen und Bildungschancen einzuräumen.

1.2.1 Der Einfluss der türkischen Kultur Der Entwicklungsrückstand vieler dörflicher Gebiete, insbesondere im Osten und Südosten der Türkei, ist einer der erklärten Gründe für das Festhalten vieler Familien an alten überkommenen Traditionen und deren Handlungsvorschriften. Deshalb ist es sinnvoll zu analysieren, inwieweit sich die ländlichen Gebiete von den städtischen Bereichen unterscheiden und wie die Dorfkultur die Lebens- und Denkweise der Bewohner und insbesondere die Stellung der Frauen beeinflusst. Auch wenn die meisten Täter von Ehrenmorden in Großstädten leben, sind sie jedoch ruralen Ursprungs und in der Mehrheit der Fälle in zweiter Generation aus ihrem Dorf in die jeweiligen Städte ausgewandert (vgl. Vildan Yirmibeşoĝlu, Anwältin, Interview vom 16.11.2006 und Mehmet Faraç, Journalist, Interview vom 11.10.2006). Es ist zu betonen, dass allgemeingültige Aussagen über die türkische dörfliche Kultur und die vielseitige türkische Familie kaum möglich sind. Zahlreiche Studien bestätigen jedoch, dass trotz vieler ethnischer, regionaler und kultureller Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerung bestimmte Anschauungen in Bezug auf die soziale Rolle des Mannes, die Ehrbarkeit der Frau, Geschlechtertrennung und Rollenverständnis gelten. Insbesondere zur Lebenssituation der ländlichen Bevölkerung allgemein und der Frauen in türkischen Dörfern gibt es zahlreiche türkischsprachige und europäische Studien. Neben türkischen Forschern wie Pınar und Ipek Ilkaracan (1995, 2003,2005), Meral Akkent (1987), Müjgan Halis (2001) und Vildan Yirmibeşoĝlu (2005) haben sich deutsche Forscher wie Werner

79

80

Morde ohne Ehre

Schiffauer (1983 und 1987), Andrea Petersen (1988) oder Lilo Schmitz (1985) mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Die Feldstudien von Carol Delaney (1991) gehören dagegen zu den ausführlichsten Dorfstudien englischsprachiger Forscher.

Die dörfliche Kultur in der Türkei In der Türkei leben seit Jahrhunderten aufgrund verschiedenster Wanderungs- und Flüchtlingsbewegungen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Traditionen zusammen (vgl. Schmitz, L. 1986, S. 1f.). Lilo Schmitz betont, dass zwar der türkische Staat versucht habe, durch ein einheitliches Schulsystem, die obligatorische Amtssprache Türkisch, und den einheitlichen Militärdienst eine nationale Einheit zu schaffen, doch dieses Vorhaben sei ihm vollständig gelungen. Die in westlichen Veröffentlichungen oft anzutreffende Differenzierung zwischen Westtürkei und Osttürkei reicht jedoch nicht aus, um die Vielfalt sozialer und ökonomischer Wirklichkeit in der ländlichen Türkei zu erfassen.

Werner Schiffauers Untersuchungen Im Rahmen einer achtmonatigen Feldforschung in dem Dorf Subay in den Jahren 1977 und 1983 untersuchte der Soziologe Werner Schiffauer das soziale Umfeld eines türkischen Dorfes. Da er als Mann kaum Zugang zu der Frauenwelt hatte, bezieht sich seine Arbeit, die heute noch auf viele türkische Dörfer zutrifft, vor allem auf die Männerwelt in einem Dorf. Schiffauer geht in seinen Arbeiten auf die familiären und gesellschaftlichen Strukturen und Lebensbedingungen in dörflichen Gegenden ein. Die in einem Haushalt lebenden Familien, die eher einer Großfamilie zugeordnet werden, stellen für ihn Produktions- und Konsumeinheiten dar. Ihren Kern bildet die Produktion von Lebensmitteln für den Eigenbedarf (S. 103). Die Arbeitsteilung sieht so aus, dass im Wesentlichen Männer außerhalb des Hauses landwirtschaftliche Produkte erzeugen, die die Frauen im Haus verarbeiten und veredeln (S. 110f.). Die Unterschiede zwischen Männer- und Frauenarbeit heben sich dagegen auf, sobald es sich um Lohnarbeit handelt. Die Produktion in Heimarbeit ist für die Frauen sehr anstrengend und müsse von den Frauen auf dem Land zusätzlich zu ihren übrigen Pflichten erbracht werden (vgl. Schmitz, L. 1985, S.  8). Durch den Verkauf der selbst hergestellten Güter gewinnen die Frauen an Selbstbewusstsein und sehen den Mann nicht mehr als den alleinigen »Ernährer der Familie«. Die außerhäusliche Arbeitstätigkeit der Frauen dagegen wird mehr und mehr zu einem bestimmenden Merkmal in türkischen Dörfern. Das Wirtschaften im Dorf wird vom Tausch und dem »Reziprozitätsprinzip« geprägt, wobei Schiffauer zwischen symmetrischer und asymmetrischer Reziprozität unterscheidet (vgl. Schiffauer, W. 1987, S. 32). Bei der symmetrischen Reziprozität handelt es sich um eine Form der Gegenseitigkeit, bei der die Gegengabe in einem überschaubaren Zeitrahmen zur Gabe erfolge. Zu dieser Form der Gegenseitigkeit zählen nahezu alle Beziehungen, die im täglichen Geschäft zwischen den Haushalten bestehen. Um asymmetrische Reziprozität handele es sich dagegen, wenn

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

die Gabe und die Gegengabe im großen zeitlichen Abstand aufeinander folgen. Eine Gabe definiert Schiffauer als »die Einlösung und Neubegründung einer Verpflichtung, welche die Beziehungen innerhalb eines Haushalts bestimmen« würde. Die Funktion dieser Gaben sei es zum Beispiel, die Ehre und das Ansehen der anderen Person zu würdigen und deshalb werde die Verweigerung einer Gabe mit Demütigung gleichgesetzt. Die zwischenmenschlichen Beziehungen beinhalteten durch diese Gaben und Gegengaben ökonomische, politische und soziale Aspekte. Während der Gabentausch eher den rechtlichen und politischen Aspekt einer Beziehung bestimmt, steht die Idee des Teilens dafür, dass die Beziehung zwischen den Beteiligten eine soziale Einheit darstellt. Den Brautpreis, der in diesem Kapitel näher erklärt wird, zählt Schiffauer ebenfalls zu den Formen des asymmetrischen Tauschs. Die einzelnen Haushalte und nicht die Individuen sind die Rechtssubjekte der dörflichen Gesellschaft (S. 23f.). Dieser Gedanke der Rechtseinheit kommt in dem Ehrprinzip gut zum Ausdruck. Werner Schiffauer bezeichnet die Ehre als »die Integrität, die Unantastbarkeit und die Unbescholtenheit eines Haushaltes«. Die einzelnen Familienmitglieder verkörpern jeweils einen besonderen Aspekt der kollektiven Familienehre. Während der Vater die Einheit des Haushaltes verkörpere, repräsentieren Söhne seine Stärke und Wehrhaftigkeit. Es ist ihre Aufgabe, die Integrität des Hauses zu schützen, notfalls mit Waffengewalt. Werner Schiffauer untersuchte die Folgen der Binnenwanderung und der Migration ins Ausland für das Dorf. Die Wanderungsbewegungen haben die Familienstrukturen stark verändert. Es ist üblich, dass die Väter versuchten, alle ihre Söhne bis auf den jüngsten Sohn in die Stadt ziehen zu lassen, um so von den wirtschaftlichen und sozialen Vorteilen eines »integrierten Stadt-Landhaushalts« zu profitieren: Da das Wirtschaften im Dorf nicht ausreichend für das Überleben ist, sind die Familien auf die Binnenwanderung angewiesen. Doch diese Idee des Stadt- Landhaushalts hat nicht langfristig funktioniert, da keiner der Söhne im Dorf bleiben wollte. Zudem haben sich die Haushalte in den Städten zunehmend als unabhängige soziale Einheiten verstanden (S. 47). Durch die Bedeutungsabnahme der Großfamilie gewännen demnach Nachbarschaften zunehmend an Einfluss und nehmen eine Reihe von Kontroll- und Unterstützungsfunktionen der alten Großfamilie wahr. Dies trifft nach Beobachtungen der Verfasserin insbesondere auf die Nachbarschaften der Binnenwanderer aus dem Osten in den Großstädten zu. Hier übernehmen die Nachbarschaften die Rolle des sozialen Umfeldes und der sozialen Kontrolle der Verwandtschaft und des Klans in den Dörfern. Für die kommunalen Strukturen im Dorf sind Dorfvorsteher und Gerichte von Bedeutung. Der Dorfvorsteher, Aĝa, auch Muhtar genannt, ist entweder der reichste Bauer oder der Patriarch einer bedeutenden Großfamilie. Eine seiner Aufgaben ist es, in inoffiziellen Versammlungen der Männer möglichst Konsens über alle Dorfangelegenheiten zu erreichen und bei Streitereien zu schlichten. Er repräsentiert zudem die Dorfgemeinschaft nach außen auch gegenüber staatlichen Autoritäten. Sie haben meist mehr Macht als staatliche Instanzen, die viel zu weit von dem Dorf entfernt sind, um wirkungsvoll zur Regelung von Alltagsproblemen

81

82

Morde ohne Ehre

eingesetzt werden zu können. Für eine dauerhafte Konfliktregelung ist daher die Auseinandersetzung innerhalb des Dorfes, unabhängig von den Gerichten, eine zwingende Notwendigkeit (S. 81). Eigens durchgeführte Recherchen bestätigen, dass diese politischen Führungspersönlichkeiten eine große Rolle als Schlichter bei Streitigkeiten im Dorf spielen. Es gibt zahlreiche Fälle, bei denen die Dorfvorsteher zwischen verfeindeten Familien vermitteln und sogar eine Blutfehde oder einen Ehrenmord verhindern konnten. Aufgrund ihres hohen sozialen Ansehens haben diese Personen einen erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen im Dorf. Die Anwältin Gülşen Tunç berichtete in einem Interview, dass ihre Schwester, die zu ihrem Freund geflohen war, nur deshalb nicht im Namen der Ehre getötet wurde, weil der Dorfvorsteher ihren Vater um Nachsicht mit ihr bat und ihn von der Ungerechtigkeit eines Ehrenmords überzeugen konnte (Gülşen Tunç, Rechtsanwältin, Interview vom 9.12.2005).

Traditionelle Erziehung Die Erziehung in der dörflichen Kultur basiert auf den Vorstellungen der traditionellen Geschlechterrollen und auf der Arbeitsteilung. Es ist kennzeichnend für die Art der Erziehung, dass die Mädchen die Verantwortung für Haushalt und Geschwisterversorgung tragen. Die wesentlichen Merkmale der Jugendphase in den westlichen Gesellschaften, wie beispielsweise Loslösung vom Elternhaus, Hinwendung zu Gleichaltrigen, Aufnahme des Kontakts zum anderen Geschlecht, erste emotionale und sexuelle Erlebnisse und die Entwicklung des Wunsches nach Beruf und Ausbildung treten bei den Jugendlichen im Dorf kaum auf. Die Soziologin Andrea Petersen betont in diesem Kontext, dass männliche Jugendliche auch bei der Erziehung viele Vorteile gegenüber ihren Schwestern genießen. Männliche Jugendliche werden als »heißblütig« (delikanlı) und als unerfahren (cahil) bezeichnet. Diese Ausdrücke sind zudem eine Entschuldigung für ihr oft impulsives Fehlverhalten in manchen Situationen (vgl. Petersen, A. 1988, S. 27). Die amerikanische Anthropologin und Expertin für Genderstudies Carol Delaney machte ähnlich wie Werner Schiffauer eine teilnehmende Forschung in dem anatolischen Dorf, Gökler, das 50 km entfernt von der Hauptstadt Ankara liegt, untersuchte insbesondere die Beziehungen der Geschlechter und die Organisation des Alltags im Dorf (Delaney, C. 1991, S. 14).

Das Heiratsverhalten Das Heiratsverhalten in den Dörfern ist symptomatisch für die Geschlechterbeziehungen und die soziale Ordnung. In den Dörfern ist es meist üblich, dass die Brautwerber, dünürler, lange vor der Hochzeit eine passende Braut für den Familiensohn suchen (vgl. Schiffauer, W. 1987, S.  180f.). Die Brautwerber sind meist nahe Verwandte, Nachbarinnen oder sozial angesehene Personen. In einigen Dörfern kommt es vor, dass sich das Brautpaar vor der Hochzeit nicht kennt oder sehen darf. In der Zeit zwischen diesen Beratungen und der Hochzeit wird meist der

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Brautpreis übergeben. Je nach Gegend und ethnischer Zusammensetzung differieren die Rituale, die während der Eheschließung ausgeübt werden. Bemerkenswert ist, dass die Feiern meist in Geschlechtergetrennten Gruppen stattfinden und die Frauen sich um das leibliche Wohl kümmern, während die Männer untereinander feiern. Werner Schiffauer betrachtet die Verheiratung der Tochter an einen anderen Haushalt als den wichtigsten und bedeutsamsten Tauschakt im Dorf. Deshalb sind junge Menschen wichtige Bindungselemente für die Beziehungen der Haushalte untereinander. Durch eine Heirat wird das neue Mitglied in den Haushalt inkorporiert. Nach der Heirat muss ihr Schwiegervater sich um ihre Ehre und guten Ruf sorgen, während die Schwiegermutter an ihrer Arbeitsfähigkeit interessiert ist. Bei den Eheschließungen spielen die sozialen Beziehungen zwischen den Familien eine größere Rolle als Liebesmotive oder die gegenseitige Anziehungskraft, wie es das folgende Zitat eines Vaters zu seinem Sohn belege: »Wenn deine zukünftige Frau nicht schön genug ist, dann geh halt ins Bordell!« (S. 204). Die Angehörigen einer Gruppe oder einer Schicht heiraten meist innerhalb der eigenen Gruppe, um die Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe und ihren spezifischen Werten bedeute (vgl. Delaney, C. 1991, S. 100). Dieses Verhalten war in früheren Zeiten besonders für nomadische Gesellschaften wichtig, damit die eigene Tochter mit ihrer Familie weiterziehen konnte. Auf die Frage, was sie bei einer Frau bevorzugen, antworteten zum Beispiel die von Carol Delaney im Rahmen ihres Forschungsaufenthalts befragten Männer: ihre Ehrlichkeit, ihre Arbeitsfähigkeit und dass sie gut mit ihrer Schwiegermutter auskommen müssten. Schönheit und Liebe erwähnten sie dagegen selten. Die Frauen gaben an, dass für sie am wichtigsten sei, dass ihre Ehemänner für sie sorgen könnten und nicht zuviel Alkohol tränken. Die türkische Übersetzung für das Wort heiraten, evlenmek, beschreibt sehr gut die häusliche Dimension der Eheschließung durch die Gründung eines gemeinsamen Haushalts, denn evlenmek bedeutet zugleich »häuslich werden«. Carol Delaney macht darauf aufmerksam, dass Ehepaare in Dörfern wenig miteinander kommunizieren und sich eher als ökonomische Gemeinschaft und als Partner für sexuelle Intimität sehen. Die jungen Mädchen bekommen ihren Platz in der Gesellschaft erst durch eine Heirat. Erst dann dürften sie auch ohne Begleitung jemanden besuchen gehen. Die Freiheiten, die heranwachsende Mädchen genießen, differieren von Dorf zu Dorf (S. 56f.). Eine junge Frau gilt dann als eine gute Partie für den Sohn, wenn die Familie einen guten Ruf hat, sie als fleißig und gehorsam gilt. Schönheit oder Liebe spielen als Heiratsmotiv selten eine Rolle. Genauso kann es aber passieren, dass Klatsch und üble Nachrede Zweifel an dem Ruf des Mädchens aufkommen lassen. So stehen Frauen, die über das übliche ländliche Heiratsalter hinaus noch unverheiratet sind, oft im Verdacht, irgendeinen verborgenen Makel an sich oder in ihrer Vergangenheit zu tragen, sodass ein Bewerber von der Eheschließung absieht. Auch Männern sind der gute Ruf ihrer Familie und deren Besitz sehr wichtig.

83

84

Morde ohne Ehre

Brautpreis Die Einrichtung des Brautpreises, der Gedanke, dass das Hergeben der Tochter an einen anderen Haushalt einer Gegengabe bedarf, ist für Werner Schiffauer kennzeichnend für das Rechtsdenken der Bauern (Schiffauer, W. 1987, S.  27). Diese Tradition finde man nach Yirmibeşoĝlus Ausführungen auch in Afrika, Japan und Asien (Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 89). Es sind drei Rechtsverhältnisse, die durch den Brautpreis gestiftet und gelöst werden; der Vater der Braut verzichtet auf seine Rechte gegenüber seiner Tochter; der Vater des Ehemannes bekräftigt sein Recht über seinen Sohn, da er den Brautpreis bezahlt; die Ehefrau überträgt die Verpflichtungen, die sie bisher dem Vater gegenüber hatte, auf den Ehemann. Brautpreis ist Ausdruck des Rechtsprinzips der Gabe, bei dem alle Rechte und Pflichten aus dem Prinzip der Gegenseitigkeit abgeleitet werden. Den Brautpreis betrachtet Yirmibeşoĝlu als eine Art wirtschaftliche Wiedergutmachung für die Brauteltern, da die Arbeitstätigkeit der Braut bei ihrer Familie mit der Eheschließung endet. In einer Untersuchung der Psychologin Pınar Ilkkaracan sprachen sich 78,9 Prozent der befragten Frauen gegen den Brautpreis aus, während 19,3 Prozent der Meinung waren, dass dieser notwendig sei; 1,5 Prozent kommentierten diese Frage nicht. 19,3 Prozent gaben an, deshalb für den Brautpreis zu sein, weil er den Wert der Frau zeige und außerdem eine ökonomische Unterstützung für die Finanzierung der Aussteuer sei. 61,2 Prozent der Ehemänner mussten einen Brautpreis zahlen. Die Einrichtung des Brautpreises zeigt, dass Frauen wie eine Ware von der eigenen Familie zu der Familie ihres Mannes weitergereicht werden.

Endogamie Die Endogamie, Eheschließungen innerhalb einer bestimmten Gruppe, meist innerhalb der Verwandtschaft, ist eine häufig auftretende Heiratsform in den Dörfern, Sie garantiert Loyalität der Frau gegenüber den eigenen Verwandten. Ein weiterer Grund ist, dass sich künftige Ehemänner keine Gedanken über die Vergangenheit ihrer Frauen machen müssen, weil sie aufgrund des gemeinsamen familiären Hintergrunds wissen, wie und bei wem sie aufgewachsen sind. Auch vom Standpunkt der Frau ist die Heirat mit einem nahen Verwandten nach Ansicht der Betroffenen vorteilhaft, weil sie nicht in eine fremde Gegend umziehen muss und den Schutz ihrer Herkunftsfamilie wirksamer in Anspruch nehmen kann als in der Fremde. Endogamie ist daher verbreitet, weil man durch diese Eheform die Beziehungen innerhalb der Familie bekräftigt und es keine »bösen Überraschungen« aufgrund der zweifelhaften Vergangenheit einer fremden Braut geben kann. Doch die möglichen gesundheitlichen Folgen für die Kinder aus diesen Ehen sollten ebenfalls betont werden, da viele Kinder aufgrund der Verwandtschaft – meist zwischen Cousins – der Ehepartner behindert auf die Welt kommen. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1982 des türkischen Soziologen Timur zeigt, dass Endogamie in erster Linie nicht aufgrund traditioneller Normen oder religiöser Motive, sondern zur Sicherung des Familienbesitzes praktiziert wird: Im Landesdurchschnitt von 29,2 Prozent der Paare, in den Städten von 18,2 Prozent Ein Argument für die

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Endogamie ist auch, dass die für eine Hochzeitsfeier anfallenden Kosten innerhalb einer einzigen Familie leichter zu erbringen sind (Timur, M. 1982. In: Pervizat, L. 2005, S. 85f.).

Polygamie Da das türkische Gesetz Polygamie nunmehr verbietet, wird die religiöse Trauung oft von denjenigen vollzogen, die bereits offiziell verheiratet sind, aber eine Zweit- oder Drittfrau ehelichen wollen. Die türkische Psychologin Pınar Ilkkaracan kam in ihrer Studie aus dem Jahre 1998 zu folgenden Ergebnissen, in Bezug auf das Heiratsverhalten der Frauen und Häufigkeit von endogamen oder polygamen Ehen in den ruralen Gebieten (Ilkaracan, P. 1998, S. 175f.): Eine von fünf befragten Frauen hatte eine religiöse Eheschließung vollzogen, während 5,8 Prozent standesamtlich und 74,4 Prozent auf beide Arten der Eheschließungen getraut wurden. Die meisten Frauen gaben an, dass sie gerne standesamtlich geheiratet hätten, dies jedoch nicht möglich war, da bei 31,1 Prozent der Betroffenen die Ehemänner bereits verheiratet waren, 29,7 Prozent keine standesamtliche Eheschließung wollten und 9,6 Prozent der Frauen zum Zeitpunkt der Heirat nicht im legalen Heiratsalter von 18 Jahren waren. Zwei Drittel aller Ehen in Südostanatolien und ein Drittel der Ehen im Osten der Türkei sind polygam. Bei 11,6 Prozent der Ehen hatten die Ehemänner drei Ehefrauen, bei 1,9 Prozent vier Ehefrauen, bei 50,4 Prozent zwei Frauen und 4 Prozent nur eine Frau. 58 Prozent der Frauen, die in einer polygamen Ehe lebten, betonten, dass sie mit den anderen Frauen ihrer Ehemänner im selben Haus zusammenwohnen müssten. Trotzdem stimmten 50 Prozent der Frauen der polygamen Form der Ehe zu. 66,2 Prozent der polygamen Ehen wurden auf Wunsch der eigenen Familie geschlossen, 16,6 Prozent aufgrund des persönlichen Wunschs. Endogamie ist, so Ilkaracan, hingegen »nur« bei 34,3 Prozent der Ehen vertreten, davon seien 78,5 Prozent jedoch Ehen zwischen Verwandten ersten Grades. Diese Ergebnisse zeigen, dass über die Hälfte der Frauen der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens, einen geeigneten Ehemann zu finden, nicht involviert waren und kaum Mitspracherechte hatten (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 93f.).

Heiratsarten Der türkische Soziologe Lütfi Sezen untersuchte in seiner Studie im Jahr 2004 die Heiratsformen in der Türkei und beschreibt folgende Arten der Eheschließungen, deren Bezeichnungen mangels ähnlicher deutscher Begriffe nicht wortgetreu übersetzt werden können (Posta Artikel vom 13.1.2005: Evlenme türleri: Heiratsarten): Görücü usulü: Die Familien, Bekannten oder Verwandte suchen einen Partner für ihre heiratsfähigen Kinder aus. Die Mitsprache des heiratsfähigen Kindes hängt von der jeweiligen Einstellung der jeweiligen Familie ab.

85

86

Morde ohne Ehre

Kız kaçırma: Die Brautentführung wird durchgeführt, wenn die Familien gegen die Hochzeit sind oder wenn der Bräutigam den Brautpreis nicht zahlen kann. Der Bräutigam hofft, dass die Brauteltern nichts mehr gegen eine Eheschließung unternehmen können, da er durch die Entführung die »Ehre« der Frau verletzt hat. Aus diesem Grund gibt es viele Ehrenmorde aus Rache an Brautentführern. Mehmet Faraç schildert einen Fall, bei dem der Brautentführer 30 Jahre später getötet wurde, obwohl er die Braut sofort nach der Entführung geehelicht hatte (Faraç, M. 2004, S. 56). Başlık: Der Brautpreis bietet die Sicherheit, die Braut zu heiraten, weil der Familie ein Entgelt gezahlt wird. Die Höhe des Brautpreises differiert je nach Ort und den finanziellen Möglichkeiten des Brautwerbers. Oturak alma: Die Braut flieht mit ihrer Aussteuer zu dem Mann, den sie liebt. Sie hofft, dass ihre Eltern sich nicht mehr gegen die Hochzeit stellen. Doch es gibt auch Fälle, bei denen die Braut aufgrund dieses als unehrenhaft verurteilten Verhaltens getötet wurde. Neben der Brautentführung wird diese Methode am häufigsten angewendet, wenn die Eltern der beiden Betroffenen gegen die Eheschließung sind. Baş Örtüsü Kaçırma: Die Entführung eines persönlichen Gegenstandes der Braut ist ein symbolischer Akt, der in manchen Gegenden der Entführung der Braut gleichkommt. In solch einem Fall müssen sich die Brauteltern mit dem Bräutigam in Verbindung setzen und die baldige Hochzeit arrangieren. Dieser Brauch ist sehr veraltet und findet heutzutage kaum noch Anwendung. Beşik kertmesi: Die Kinder werden schon bei ihrer Geburt dem Sohn eines Bekannten oder Verwandten versprochen. Dieser Heiratsform begegnet man recht häufig in den anatolischen Dörfern. Tay geldi: Eine verwitwete Frau heiratet einen bereits verheirateten Mann oder umgekehrt. Dieser Form der Eheschließung begegnet man eher in urbanen Gebieten, da verwitweten Frauen in Dörfern häufig ohne Versorgung bleiben oder innerhalb der eigenen Familie erneut verheiratet werden. Kuma getirme: Diese Heiratsart bezieht sich auf die polygame Eheform. Wenn die Frau unfruchtbar ist oder dem Mann keine Söhne schenkt, heiratet der Mann eine weitere Frau. Dass der Mann die Ursache für die Kinderlosigkeit sein könnte, wird erst dann in Erwägung gezogen, wenn der Mann trotz mehrerer Ehefrauen kein Kind zeugen konnte. Berdel: ist die Heiratsform, bei der zwei Familien mehrere ihrer Kinder miteinander verheiraten. In dörflichen Gebieten wird diese Heiratsform häufig bei Zwillingspaaren angewandt.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Levirat: Wenn eine verwitwete Frau den Bruder ihres verstorbenen Ehemannes heiratet, spricht man von levirat. Hierbei geht es der Familie des verstorbenen Bräutigams darum, dass die verwitwete Frau ohne den Mann in ihrer Ehre als sehr angreifbar gilt. Durch die Eheschließung mit dem Bruder des Verstorbenen hoffen sie, dass ihre Ehre wieder von einem Familienmitglied »bewacht« wird. Sorarat: Ein verwitweter Mann heiratet die Schwester seiner verstorbenen Frau. Iç güveyi evliliĝi: Die Brauteltern nehmen den Bräutigam in ihrem Haushalt auf, weil sie keinen Sohn haben. Para karşılıĝı evlenme: Kinder werden aus den Schulen genommen und gegen eine große Summe verheiratet. Dieser Brauch kommt eher bei finanziell schlecht gestellten Familien vor. Der Brautpreis dient in diesen Fällen häufig dem Überleben der Familie. Kan parası karşılıĝı evlenme: Die Ehe wird als Wiedergutmachung im Fall einer Blutrache beschlossen. Der Familie des Opfers wird von der Familie des Täters neben finanziellen Geschenken auch die eigene Tochter als Heiratskandidatin angeboten. So versucht man, den Tod des Opfers »wieder gutzumachen« und der Blutrache durch die Hochzeit ein Ende zu bereiten. Neben den unterschiedlichen Heiratsformen gibt der Stellenwert der Sexualität einen Einblick in die Beziehungen zwischen den Geschlechtern.

Sexualität in der dörflichen Kultur Die Expertin für Genderstudies Carol Delaney vertritt die These, dass sich die Symbolik der Reproduktion auch im Alltagsleben und in der Lebensweise der Dorfbewohner zeigt. Sie gibt an, dass Männer als das kreative Geschlecht betrachtet werden, weil sie durch ihren Samen das Leben an die Frauen weitergeben. Die Frauen dagegen seien nur »die Felder«, in die die Männer ihre Saat setzten. Deshalb bezeichnet sie diese These als die »Seed and the soil theory«. Im Koran steht in Sure 2:223 ebenfalls geschrieben, dass die Frauen die Felder symbolisieren, die von den Männern entsprechend ihren Wünschen besät werden müssten (Sure 2:223): »Eure Frauen sind eure Felder. Setzt eure Saat in sie, wie es euch beliebt!«. Benard und Schlaffer haben sich mit der Struktur und Funktion von Geschlechtergetrennten Gesellschaften auseinandergesetzt: Sie führen an, dass Geschlechtergetrennte Gesellschaften von einer »tief liegenden sexuellen Unsicherheit« geprägt sind (Benard, C., Schlaffer, E. 1995, S. 20f.). Die Frauen würden hierbei als sexuelle Gefahren personifiziert und dementsprechend aus der Öffentlichkeit verbannt werden, da sie die Männer vom Pfad der Selbstbeherrschung zerren könnten. Dadurch wird aber die Faszination für die Sexualität nur gesteigert. Wie aus

87

88

Morde ohne Ehre

der historischen Forschung hervorgeht, sind weder Geschlechtertrennung noch Verschleierung Merkmale der ursprünglichen türkischen Kultur. Die Sexualität der Frauen ist in traditionell patriarchalen Ordnungen mit Angst besetzt. Die Männer versuchen, jede Facette der weiblichen Sexualität fest unter Kontrolle zu behalten. Trotzdem fürchten sie die reproduktiven Fähigkeiten der Frauen. Aus der Abtrennung, Verschleierung und Verhüllung der Frau wird deutlich, dass die Frauen für die »wandelnde Sexualität an sich« gehalten werden. Auf der anderen Seite werden von der Frau gerade als junges Mädchen, später aber auch als Frau und Mutter, eine internalisierte Keuschheit und ein sexuelles Desinteresse verlangt. Pınar Ilkkaracan vertritt die These, dass insbesondere in dörflichen Gegenden gesellschaftliche und religiöse Werte oft dazu missbraucht würden, um die weibliche Sexualität zu kontrollieren: »The internalization of gender role by women in a particular culture is often directly related to the impact of specific mechanisms controlling women’s sexuality, which are often a collective nature. The social pressure on women to marry, early and forced or arranged marriages, the tradition of bride money, extended exchange of wives between families, and the extent of the threat of violence against women who transgress the limits on sexual behaviour as imposed by traditions constitute some of these control mechanisms« (Ilkkaracan, P. 1995, S. 65).

Auf ihre sexuelle Bestimmung reduziert, gewinnen Frauen, so Benard und Schlaffer, in patriarchalen Gesellschaften gerade aus dieser Begrenzung eine gewisse Kraft. Diese These sollte mit Skepsis betrachtet werden, da die Frauen in der dörflichen Kultur nicht über die notwendigen Freiräume verfügen, in denen sie ihre angebliche sexuelle Überlegenheit gegenüber den Männern demonstrieren und für eigene Zwecke einsetzen können. Die Männergesellschaft, die der Kontrolle der weiblichen Sexualität eine solche Bedeutung zumisst, verleiht dieser Sexualität damit ein hohes destruktives Potenzial. Verstöße der Frauen gegen diese Normen können Familienstrukturen durcheinander bringen und bis zu Mord und Totschlag führen. Das männliche Sexualleben wird im Dorf als ein ungehemmter Trieb angesehen. Die dauernde Beschäftigung mit der Sexualität in Witzen, Gebärden, anzüglichen Gesprächen gehört deshalb bei Jugendlichen und erwachsenen Männern zu den Selbstverständlichkeiten. Die zum größten Teil phantasierten Schilderungen sexueller Begegnungen mit zahlreichen Frauen nehmen einen beträchtlichen Raum bei allen Männerzusammenkünften ein und wer nicht mithalten kann, wird als impotent beschimpft oder homosexueller Neigungen verdächtigt. Die Sexualität stellt ein dauerndes Gesprächsthema unter den Männern der Dorfgemeinschaft dar und gemeinsames Ansehen von Porno-Videos, freizügigen Zeitschriften und gemeinsame Besuche in Bordellen der Stadt sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil der dörflichen Männerkultur (vgl. Schmitz, L. 1985, S. 21).

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Diese Diskrepanz zwischen dem sexuell aktiven Mann und dem ehrenhaften Familienvater erklärt Lilo Schmitz: Einerseits würde vom Mann verlangt werden, dass ausgerechnet er zum Wächter des moralischen Lebenswandels der Frauen seiner Familie wird: »Der Rolle als Potenzprotz in der Männergruppe entspricht er, indem er Frauen außerhalb der Dorfgemeinschaft auf der Straße mit anzüglichen Reden belästigt. Als Bruder, Ehemann oder Vater muss er seine Frauen vor solchen Belästigungen schützen und – sind seine Frauen das Opfer des männlichen Sexualtriebs geworden, diese Entehrung bitter rächen« (S. 46). Nach traditionellen Vorstellungen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erhalt der männlichen Ehre das Sexualverhalten der Ehefrau, Schwestern und Töchter (vgl. Schmitz, L. 1985, S. 47). Hierbei stehen nicht nur normkonformes, »ehrenhaftes« Leben im Zentrum, sondern auch biologische Abweichungen von der Norm, wie z.B. Kinderlosigkeit oder Schicksalsschläge wie eine Vergewaltigung oder die Lösung einer Verlobung, welche die Ehre der Familie schmälern oder verletzen könnten. Eine Vergewaltigung bedeutet eine Schande für die Frau, die nach den Vorstellungen vieler Dorfbewohner nur durch ihren Tod oder durch den Tod des Aggressors wieder »reingewaschen« werden könne. Die Schuld an der Kinderlosigkeit gibt man ebenfalls immer der Frau.

Rolle des Islam in der dörflichen Kultur Die Mehrheit der Ehrenmorde kommt nach Auffassung von Vildan Yirmibeşoĝlu und Mehmet Faraç gehäuft bei fanatisch religiösen Tätern und in konservativen Gegenden vor (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 154; Faraç, M. 2004, S. 58). Wie sehr die religiösen Vorstellungen und deren Interpretationen die Superiorität der Männer betonen, zeigt das Zitat eines islamischen Gelehrten, der von Carol Delaney während eines Forschungsaufenthalts in der Türkei interviewt wurde: »The Muslim family is the miniature of the whole of the Muslim Society. The father’s authority symbolizes that of God in the world« (Delaney, C. 1991, S. 33). Der Islam bestimmt den Tagesablauf im Dorf, denn allein die fünf Ezans – Aufruf des Muezzins für den Namazgebet – am Tag führen dazu, dass die Dorfbevölkerung ihren Tagesrhythmus nach ihnen richtet. Zudem beeinflusst der Islam neben den hygienischen Vorschriften auch alle körperlichen Aktivitäten des Menschen. Ein Zitat eines islamischen Gelehrten verdeutlicht diese Annahme: »Islam is a constant attention paid to one’s own body. A Muslim upbringing is a training that makes one permanently aware of the physiological side of life. Eating, having sexual intercourse, vomiting, bleeding, shaving, cutting one’s nails. All of this is the object of meticulous prescription of formulas to be recited before; during and after each act it comes very close to an obsession« (Delaney, C. 1991, S. 25). Für Werner Schiffauer ist der Islam zugleich Gesetz und Religion, da er die gemeinschaftsbezogene und eine existenzielle Dimension in den Mittelpunkt stellt. Die Furcht vor Gott gilt dabei als das Hauptmotiv für gesellschaftliches Handeln (Schiffauer, W. 1987, S.  244f.). Er spricht von dem Verhältnis von Gott, Mensch und Gesellschaft, das in zwei Konzepten formuliert werden kann; das erste sei das

89

90

Morde ohne Ehre

Konzept der Verschuldung (borç), das zweite dagegen das Konzept der guten und schlechten Werke. Die religiösen Gebete wie namaz oder das Fasten werden dabei als Verschuldungen gegenüber Gott betrachtet. Die Jenseitsorientierung der Dorfbewohner bestimmt auch das Alltagsleben. Während einer Trauerfeier spiegelt sich zum Beispiel die Ungleichheit der Geschlechter wider: Während der Leichnam der Männer zunächst in der Moschee aufgebahrt wird, werden die Leichname der Frauen direkt zum Friedhof gebracht. Die Tatsache, dass die Frauen in vielen Gegenden nicht an Beerdigungen teilnehmen dürfen, bestärkt, den Ausschluss der Frauen aus der religiösen Gemeinschaft und ihr Bild in der Glaubensgemeinschaft als Wesen mit mangelnder spiritueller Identität. Doch auch das Befolgen dieser Vorstellung differiert in den Regionen (Delaney, C. 1991, S. 83f.). Der Autorin sind Dörfer bekannt, in denen es als selbstverständlich betrachtet wird, dass die Frauen an den Beerdigungen teilnehmen. Notwendig ist nur, dass sie während der Zeremonie ein Kopftuch tragen. Die religiöse Erziehung erfolgt nach Akkent und Franger sowohl in der Stadt wie auf dem Land durch die Mütter (Akkent, M., Franger, G. 1987, S. 42f.). Das Beten, tägliche rituelle Waschungen, im Gespräch verwenden religiöse Ausdrucksweisen (Bismallah, Inşallah oder Maşallah) sind Anlässe zur Wahrnehmung, auch zur Imitation für die Heranwachsenden, die später zur mehr oder weniger ausgeprägten Identifikation mit den dazugehörenden Normen und Denkweisen führen. Darüber hinaus wird die Religion häufig als Druckmittel benutzt, wenn die Eltern in ihrer Erziehung nicht weiterwissen. Über die allgemeine Situation der Frauen in den Dörfern im Osten und Südosten der Türkei wurden zahlreiche Studien durchgeführt: Die Studie von Müjgan Halis aus dem Jahr 2001 kommt zu dem Ergebnis, dass 54 Prozent der Frauen in ruralen Gebieten und 44 Prozent in urbanen Gebieten Gewalt erfahren. In ruralen Gebieten können zudem nur 44 Prozent der Frauen lesen und schreiben. 64 Prozent der Frauen in ruralen Gebieten kämpfen mit Gesundheitsproblemen, während diese Rate in den Städten 50 Prozent beträgt (Halis, M. 2001, S. 22). Sie gibt an, dass im Westen der Türkei 70 Prozent der Bevölkerung Maßnahmen zur Geburtenkontrolle praktizieren, während es im Osten nur 42 Prozent sind. Dieses Ergebnis erklärt auch, dass 11 Prozent der Frauen im Osten der Türkei zwischen 15 und 19 Jahren zum ersten Mal schwanger werden. 40 Prozent aller Geburten würden zudem ohne ärztliche Aufsicht ablaufen. Pınar Ilkaracans Cluster-Sampling-Studie, an der 599 Frauen zwischen 14 und 79 Jahren teilnahmen, untersuchte die drei Lebensbereiche: Frau in der Familie – Frau als Bürger – Frauenrechte. Face-to-face Interviews ergaben folgende Ergebnisse: 45,8 Prozent gaben an, dass sie keine schulische Ausbildung haben, während 33 Prozent die Grundschule und 5,8 Prozent das Gymnasium absolviert haben. Als ihre Muttersprache bezeichneten 55,3 Prozent Kurdisch, 32,8 Prozent Türkisch, 5,6 Prozent Zaza, 3,6 Prozent Arabisch und 2 Prozent Azerbaycan (Ilkaracan, P. 2002, S. 48). Diese sprachlichen Orientierungen belegen die ethnische Diversität in den

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

dörflichen Gebieten. Trotz der Verlängerung der Schulpflicht seit 1990 auf 8 Jahre sind im Osten der Türkei immer noch 21,6 Prozent der Frauen Analphabeten. Mehr als die Hälfte aller Frauen betonten, dass sie der Gewalt ihres Mannes ausgesetzt sind: 75 Prozent der verbalen Gewalt, 48 Prozent der emotionalen Gewalt, 60 Prozent der physischen Gewalt und 51 Prozent der sexuellen Gewalt. Eine weitere Studie von Pınar Ilkkaracan, die 446 Frauen in der Osttürkei interviewte, zeigt, dass Frauen von ihrem Recht, sich scheiden zu lassen, umso häufiger Gebrauch machen, desto höher ihre schulische Ausbildung ist. Doch sie betont, dass viele Frauen nicht daran glauben, dass sie im Fall einer Scheidung durch Unterhaltszahlungen gesichert wären (Ilkaracan, P. 1998, S. 183f.) oder Unterstützung von ihrer Familie erhielten. Gleichzeitig fürchten einige Frauen vor einer Rufschädigung für die eigene Familie. Im Fall einer Affäre denken 65 Prozent, dass ihr Ehemann sie umbringen würde und 27,3 Prozent, dass der Ehemann sich von ihnen scheiden lässt (S.  188). Pınar Ilkaracan weist auf die Auffälligkeit hin, dass je höher die schulische Bildung der Befragten war, desto weniger daran geglaubt wurde, dass ihr Ehemann sie im Fall der Untreue umbringen würde. Die von ihren Männern geschlagenen Frauen reagierten wie folgt: 22,1 Prozent verließen den Ehemann temporär, 14,7 Prozent suchten Hilfe bei der Familien, 2,9 Prozent verließen den Ehemann und nur 2,7 Prozent suchten Hilfe bei der Polizei. Die Frauen berichteten aber auch davon, dass ihre Männer vom sozialen Umfeld ausgeschlossen und von anderen geschlagen würden, wenn die Öffentlichkeit erfahren würde, dass die Männer ihre Frauen geschlagen haben (Zitiert in Ilkaracan, P. 1998, S. 92f.): »Alle anderen haben meinen Mann ausgeschlossen.« »Sein Vater war wütend auf ihn.« »Er wurde dann auch geschlagen.« »Ich habe nichts mehr für ihn gekocht und nicht mit ihm geredet. Das war Strafe genug.«

Doch dies ist als eine selten auftretende Verhaltensweise zu beurteilen. Şen Kaya zitiert in seinen Studien den Kommentar eines Mannes aus einem anatolischen Dorf über den Stellenwert der Gewalttätigkeit gegenüber einer Frau in der türkischen Kultur: »In der türkischen Kultur ist das Schlagen einer Frau genauso normal wie das Trinken von türkischem Tee« (New Ways, 1995, S. 52). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Leben in einem türkischen Dorf durch einen Verarmungsprozess, durch traditionelle Arbeitsteilung und Erziehung der Geschlechter, durch starke Binnen- und Auslandswanderungen und einen Umbruch in den ökonomischen und sozialen Beziehungen gekennzeichnet ist. Da die Modernisierung in vielen ruralen Gebieten noch keinen Einzug gefunden hat, sind diese Gebiete weiterhin durch ökonomische und kulturelle

91

92

Morde ohne Ehre

Rückständigkeit gekennzeichnet. Die Autorin dieser Arbeit kann diese Merkmale bestätigen, da sie auf ihrer Forschungsreise in den Südosten der Türkei ebenfalls diese Beobachtungen gemacht hat. Das Ost-West-Gefälle war einschneidend, dass sie Regionen als gegensätzliche Kulturen empfand.

Besonderheiten der städtischen Kultur Die meisten türkischen Städte sind im Hinblick auf Stadtbild, Lebensstil, Konsumvorstellungen und Wertemuster den europäischen Städten ähnlicher, je westlicher ihre Lage ist. Im Südosten der Türkei, insbesondere in Diyarbakır, ist die Infrastruktur nicht so ausgeprägt wie in anderen Städten. Zudem ergibt sich ein völlig neues Landschaftsbild, sobald man sich etwas von der Stadt entfernt hat und sich in den Dörfern aufhält. Diese persönlichen Beobachtungen entsprechen der These vieler Autoren wie Pınar Ilkkaracan, Mehmet Faraç oder Vildan Yirmibeşoĝlu, dass der Westen der Türkei viel entwickelter und moderner ist und einen großen Kontrast zum Osten der Türkei bildet. Auffallend ist auch, dass die Lebensweise in ländlichen Gegenden sehr von der in städtischen Gebieten abweicht. In Zusammenhang mit Ehrverletzungen sind insbesondere die Angehörige der städtischen Unterschicht sowie der Gecekondukultur Betroffene von Delikten der Ehre (vgl. Faraç, M. 2004, S. 48f.). Um die bürgerliche Kultur in den Städten zu charakterisieren, nimmt die Autorin eine Unterscheidung zwischen der Gecekondukultur, der städtischen Unterschicht, und der bürgerlichen Mittelschicht vor.

Gecekondugebiete Die Lebensweise in den türkischen Städten ist abhängig vor allem von dem Stadtviertel, in dem die Menschen wohnen. In der Türkei ist es üblich, dass Angehörige sozialer Schichten und ethnische Gruppen entsprechend ihrer Einkommenssituation bestimmte Stadtviertel bewohnen. Dies ist insbesondere in Istanbul der Fall. Je mehr man sich vom Stadtzentrum entfernt, desto heruntergekommener und einfacher wird das Gesamtbild der Viertel. Dieses Bild der parallelen Welten in einer Stadt kommt bei den so genannten Gecekonduvierteln zum Ausdruck, die sich außerhalb des Stadtzentrums befinden. Diese Gegenden werden von mittellosen Migranten bewohnt, die von ihren Dörfern in die Großstadt gezogen sind und meist aus dem Osten oder Südosten der Türkei stammen.48 Der Wunsch nach besseren finanziellen Möglichkeiten war dabei das zwingende Motiv, das Hunderttau-

48 | Der wichtigste politische Grund für die Stadtflucht war, dass der türkische Staat seit den 1980er Jahren aus Sicherheitsgründen wegen des damaligen PKK-Terrors 3193 Dörfer räumen ließ. Aufgrund dessen mussten über 385.000 Dorfbewohner umsiedeln (vgl. Ilkaracan, P. und Ilkaracan, I. 2003, S. 309). Im Zuge des PKK-Terrors wurden zahlreiche Dörfer zerstört.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

sende von Dorfbewohnern zunächst in die Elendsviertel am Rande der türkischen Großstädte emigrieren ließ (vgl. Rüstow, D. 1990, S. 50).49 Der Zustrom in die Städte wird durch eine Einrichtung des nahöstlichen Gewohnheitsrechtes gefördert, wonach jede Behausung, die auf ungenutztem Land gebaut wird und am Morgen vier Wände und ein Dach hat, nicht abgerissen werden darf. Der Begriff Gecekondu bedeutet »über Nacht gebaut«. Bei einem Gang durch die Gecekondu-Stadtviertel stellt man fest, dass sich zumindest die ärmeren, schlichteren Wohngebäude kaum von denen in der ländlichen Umgebung unterscheiden. Außerdem bewohnen die Angehörigen bestimmter ethnischer Gruppierungen oder Bürger bestimmter Städte aus dem Osten oder Südosten der Türkei dieselben Stadtviertel. Deshalb betonen die Autoren Hütteroth und Höhfeld, dass neben Familien- und Sippenangehörigkeit auch Gruppenbindungen nach Konfession und Religion, nach regionaler Herkunft, nach politischer oder wirtschaftlicher Loyalität oder Abhängigkeit oder ganz schlicht der Nachbarschaft als Grundlage der Differenzierung der Wohnviertel dienen können (Hütteroth, W., Höhfeld, D. 2002, S. 167). In der Vergangenheit versuchten die jeweiligen Regierungen die Zunahme der illegal gebauten Gecekondu mit Räumungsaktionen und Sprengungen zu kontrollieren. Die immer noch vorhandene Großfamiliensolidarität ermöglicht den Neuankömmlingen, bei Verwandten in den städtischen Gecekondus aufgenommen zu werden. Ein Großteil dieser Bevölkerung lebt mit der ganzen Familie in einem einzigen Wohnraum unter völlig unzureichenden Lebensbedingungen zusammen. Die zunehmende Stadtflucht verstärkt nicht nur die ohnehin schon überbevölkerten Gecekondu-Gebiete der Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir, sondern belastet auch kleinere Städte, in denen die infrastrukturellen Folgen wie Wohnungsnot, Arbeitskräfteüberschuss oder neue Elendsgebiete noch stärker sichtbar werden. Gecekondu-Häuser sind vor allem infrastrukturell unterversorgt. Mangelhaften Anschluss an die Wasser-, Strom- und Verkehrverbindungsnetze kennzeichnen heute noch die meisten Gecekondu-Gebiete (vgl. Schmitz, L. 1985, S. 23). Lilo Schmitz setzte sich mit der Frage auseinander, ob die Dorfkultur in Gecekondugebieten fortgesetzt wird (Schmitz, L. 1985, S. 23f.): Die unter dem Druck extremer Armut entstehenden veränderten Denk-, Einstellungs- und Verhaltensformen verlaufen Konfliktbeladener als vergleichbare Urbanisierungserscheinungen. Rollenkonflikte und Existenzängste führen zu einem Aufeinanderprallen dysfunktionaler traditioneller und industrieller Verhaltensmuster, die oft in einer verstärkten Unterdrückung der ohnehin benachteiligten Frauen Ausdruck kom49 | Genauso wichtig war neben der inländischen Emigration die Migration nach Deutschland und in andere westeuropäische Länder. Diese Phase begann nach Angaben von Karaşan-Dirks in den 1960er Jahren, als der neue Status der Türkei als assoziiertes Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften Bürgern ermöglichte, auf dem europäischen Arbeitsmarkt mit seinen wesentlich höheren Löhnen zu konkurrieren (KaraşanDirks, S. 1986, S. 167).

93

94

Morde ohne Ehre

men. Lilo Schmitz weist darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit ein großes Problem für die Bewohner von Gecekondu-Gebieten darstellt. Durch das Überangebot an billigen Arbeitskräften sinkt ebenfalls die niedrige Zahl der Sozialversicherten Arbeitnehmer. Die meisten Gecekondu-Bewohner können sich nur als Tagelöhner oder jederzeit fristlos kündbare billige Arbeitskräfte anwerben lassen. Deshalb gehört es auch zum Stadtbild in der Türkei, dass viele Männer sich an bestimmten Plätzen der Stadtviertel (zum Beispiel in Istanbul in Mecidiyeköy oder Baĝcılar) versammeln und den ganzen Tag darauf warten, für einen Tagesjob engagiert zu werden. Die Verbesserung der Lebenssituation im Vergleich zum Dorfleben zeigt sich darin, dass die Kinder eine bessere schulische Ausbildung bekommen. Viele Emigranten leben in den Städten unter schlechteren Bedingungen als früher. Die Kinder leiden unter schlechteren Ausbildungsbedingungen, weil ihren Eltern meist das Geld dazu fehlt, ihre Kinder zur Schule schicken zu können. Deshalb sind viele emigrierte Familien auf Betteln und Diebstähle angewiesen, um zu überleben (vgl. Ilkaracan P., Ilkaracan, I. 2002, S. 309f.). Ipek und Pınar Ilkkaracan führten im Jahr 1997 in den Gecekondu-Gebieten von Istanbul, hauptsächlich in dem Stadtviertel Ümraniye eine Studie mit 599 Face-to-face-Interviews durch (Ipek/Pınar Ilkkaracan, 1990 und 1998b). Die Frauen gaben an, auf Wunsch ihres Ehemannes (34 Prozent), wegen der Suche nach neuer Arbeit (51 Prozent), wegen besseren Ausbildungsmöglichkeiten für ihre Kinder (4,8 Prozent) in die Städte gewandert zu sein (S. 311). Auffallend ist hierbei, dass 62,1 Prozent wegen der Entscheidung ihrer Ehemänner oder ihrer nahen Verwandten und weniger als die Hälfte, 37,8 Prozent, auf eigenen Wunsch in die Stadt gekommen waren. Von den Befragten waren 77,9 Prozent mit ihrer Familie und 20,8 Prozent mit der Großfamilie in die Stadt emigriert. Die Hälfte der Befragten betonen, dass ihre Freiheiten in der Stadt sehr eingeschränkt und ihre Rolle auf die Hausfrauentätigkeit reduziert sei. Die andere Hälfte freute sich über die Erweiterung ihrer Perspektiven durch die neuen Arbeitsmöglichkeiten. 71,1 Prozent freuten sich über ein besseres Einkommen als im Dorf, während 19,7 Prozent betonten, dass es keine Unterschiede zur vorherigen Situation gäbe, 7,6 Prozent sagten, dass es ihnen finanziell deutlich schlechter ginge als in ihrem Herkunftsort. Ihren allgemeinen Lebensstandard beurteilten 69,4 Prozent mit besser als im Dorf, 16,8 Prozent mit unverändert und 12,3 Prozent mit schlechter (S. 314). Zu der Frage, ob sie jeder Zeit wieder emigrieren würden, antworteten 54,5 Prozent mit Ja und 44,7 Prozent mit Nein. Als positiv beurteilten die Frauen, dass sie in den Großstädten weniger arbeiten müssten und sich sicherer fühlten, bessere Ausbildungsmöglichkeiten für ihre Kinder hätten und das soziale Leben in der Großstadt schätzten. Als negativ betrachteten sie das schlechte Wetter, das Wasser, die Verschmutzung und das Fehlen von nahen Verwandten, die nicht am selben Ort lebten.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Sexualität in der Gecekondu-Kultur Lilo Schmitz setzte sich des Weiteren mit der Sexualität in der städtischen Unterschicht auseinander und kam zu dem Ergebnis, dass Sexualität in der urbanen Unterschicht von beengten Wohnverhältnissen, wirtschaftlicher Not und Arbeitslosigkeit geprägt ist, die ihrerseits sexuelle Spannungen und Konflikte verursachen. Aufgrund der engen räumlichen Verhältnisse muss der Geschlechtsverkehr meist heimlich und versteckt ausgeführt werden (Schmitz, L. 1985, S. 49f.). Besonders das Aufeinanderprallen von städtischer Unterschicht und bürgerlicher Kultur in den Großstädten führt häufig zu sexuellen Belästigungen gegen modisch gekleidete Frauen, die von den Frauen als lästig empfunden werde.

Hohe Arbeitslosigkeit Die Arbeitslosigkeit der Ehemänner und die Möglichkeit der Arbeitstätigkeit der Frauen löse insbesondere bei den Männern eine Rollen- und Identitätskrise aus (Schmit, L. 1985, S. 26f.). Die männliche Autorität, die auf der Funktion des Familienernährers basiert, scheint ins Wanken zu geraten zu sein. Die soziale Misere treibt viele Männer dazu, ihre Furcht vor Autoritätsverlust in der Familie durch ein despotisches Auftreten zu kompensieren. Die Krise der Männer äußert sich in der Misshandlung von Frauen und Kinder. Die Frauen in diesen GecekonduGebieten sind in der Regel völlig schutzlos den Misshandlungen ihres Mannes ausgesetzt, da die Dorfgemeinschaft fehlt, die noch halbwegs in der Lage gewesen wäre, abweichendes Verhalten wie übermäßiges Glücksspiel, Alkoholismus und Frauenmisshandlung zu kontrollieren. Die Nachbarschaft hat zwar, so Lilo Schmitz, einen Teil der Funktionen der ehemaligen Großfamilie übernommen, könnte und würde aber in Familienstreitigkeiten nicht eingreifen. Das soziale Umfeld hat auch in der Stadt eine starke Kontrollfunktion hat und spielt insbesondere bei der Entstehung von sozialer Nachrede eine wichtige Rolle. Auch nach Ansicht von Mehmet Faraç ist das soziale Umfeld in der Stadt ein gleichwertiger Ersatz für die Verwandten und das soziale Umfeld im Dorf (Mehmet Faraç, Journalist, Interview vom 11.10.2005). Durch die eigene Arbeitslosigkeit und die Familie wenigstens über ein Minimum an Familieneinkommen verfügen kann, müssen sich viele Männer der städtischen Unterschicht damit abfinden, dass ihre Frauen einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen. Viele Männer reagieren auf ihre neue Rollen- und Statusunsicherheit in der städtischen Umgebung, die ihnen die berufliche Anerkennung verweigert, mit einem übertriebenen Rückzug in ihre nach traditionellen Vorstellungen bestehenden Autoritäts- und Befehlsrechte. Die Tatsache, dass sich die Frau zum Zweck ihrer Berufstätigkeit außerhalb des Hauses, ja sogar des Stadtteils bewegt, öffentliche Verkehrsmittel benutzt, mit männlichen Kollegen und Arbeitgebern in eigenständigen Kontakten tritt, gibt der Frau eine neue Sicherheit bezüglich ihrer Außenkontakte und führt dazu, dass ihr soziales Verhalten, was in der dörflichen Kultur eher eingeschränkt war, neue Dimensionen bekommt. Das früher geltende Verbot in der Dorfgemeinschaft, beispielsweise mit

95

96

Morde ohne Ehre

fremden Männern in Kontakt zu treten, muss angenommen und geduldet werden. Die Männer begründen ihre notwendige Toleranz damit, dass das Leben in der Stadt völlig anders sei als im Dorf (Schiffauer, W. 1991, S. 249). Sie versuchen, sich auf die internalisierte Selbstkontrolle der Frauen zu verlassen, weil das soziale Umfeld in der Stadt diesbezüglich keine große Kontrollfunktion auszuüben vermag. Auch bei den in der Stadt heranwachsenden Mädchen vollzieht sich ein Einstellungswandel, da ihre neuen Kontakte, über ihren Wohnort hinaus und durch neue Perspektiven, durch ihre Bildung, durch den Zugang zu Medien weit über den familiären und dörflichen Rahmen hinausgehen. Der Alltag und das Selbstverständnis der Mädchen als Frau in ihrer Familie und ihrer Rolle in der Gesellschaft sind jedoch je nach ökonomischen Gegebenheiten unterschiedlich (vgl. Akkent, M./Franger, G. 1987, S. 14f.). Da die Mädchen durch ihr neues Leben in der Stadt neue Perspektiven erhalten, kann dies den Generationenkonflikt mit den Eltern noch mehr verstärken(vgl. Mehmet Faraç, Journalist, Interview vom 11.10.2005). Für die in der traditionellen Dorfkultur mit der urbanen Lebensweise aufgewachsenen Eltern ist die Stadt in vielen Bereichen viel zu modern und westlich orientiert, sodass Konflikte und infolgedessen strenge Freiheitseinschränkungen der Mädchen absehbar sind. Die Soziologin Çiĝdem Kaĝıtçıbaşı vertritt die Auffassung, dass sich bei der städtischen Unterschichtfamilie, die täglich mit dem Konsumverhalten und der Kultur der Oberschicht konfrontiert sei, Aufstiegserwartungen herausbilden würden, die sich besonders auf die Kinder beziehen. In ihrer Untersuchung zum generativen Verhalten türkischer Familien stellte sie fest, dass vor allem hohe Bildungserwartungen an die Kinder bestehen (Kaĝıtçıbaşı, Ç. 1982, S.  45). Da eine finanzielle Aufstiegsbasis in den Unterschichtfamilien nicht gegeben ist, würden sie häufig einen familiären Aufstieg über Schul- und Berufsausbildung der Kinder anstreben. Die Aufstiegsorientierung und die geographische Nähe der weiterführenden Schulen haben ebenfalls einen positiven Effekt auf die schulische Förderung ihrer Kinder.

Partnerwahl Bei der Partnerwahl spielen die Partnerwahlkriterien Status, Berufsausbildung und Attraktivität eine größere Rolle als in der dörflichen Kultur. Durch die Übernahme westlicher Kulturnormen und die Identifizierung mit Vorbildern aus Film und Fernsehen streben die meisten jungen Leute in der städtischen Mittel- und Oberschicht heute eine Liebesheirat an. Den Mädchen werden zudem in Abhängigkeit ihrer Schichtzugehörigkeit mehr oder weniger Freiheiten eingeräumt. Dabei genießen die Mädchen aus höheren sozialen Schichten mehr Freiheiten als Mädchen aus sozial schwachen Schichten. Die Freiheiten der jungen Frauen beziehen sich auf ihre Freizeitgestaltung und Kleidung. Doch gibt es viele Jugendliche, die sich zwar modern kleiden und einige Freiheiten genießen, deren Eltern aber z.B. sehr darauf achten, dass ihre Töchter als Jungfrauen in die Ehe gehen. Die Autorin machte die Beobachtung, dass viele Verhaltensweisen seitens der Jugendlichen

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

nicht den typischen Erwartungen ihrer Eltern entsprachen. Bei vielen, der Autorin bekannten Jugendlichen, gab es eine große Diskrepanz zwischen dem Lebensstil, den die Eltern ihren Kindern vorschrieben und dem Lebensstil, den sie tatsächlich pflegten. Viele junge Mädchen erweckten in ihren Familien den Anschein, als hätten sie keinen Freund, doch in Wahrheit waren sie nach eigenen Angaben in der Mehrheit sexuell aktiv.

Sexualität und Heiratsverhalten Die Sexualität in der bürgerlichen Kultur ist weniger an traditionelle und religiöse Vorstellungen gebunden, da die große Aufklärungswelle seit den 1970er Jahren, insbesondere durch das Erscheinen von zahlreichen Zeitschriften wie zum Beispiel Kadınca, die öffentliche Meinung und die Vorurteile positiv beeinflusst haben (vgl. Schmitz, L. 1985, S. 51). Dennoch gibt es Reste von traditionellen Einschränkungen: der Jungfräulichkeitskult und die Forderung nach einem tadellosen Ruf spielen zum Beispiel immer noch eine große Rolle für eine konfliktfreie Heirat. Zudem liegt die Aufsichtpflicht der weiblichen Mitglieder der Familie immer noch bei den Eltern und den Brüdern, auch wenn sie diese Pflicht individuell unterschiedlich wahrnehmen. Junge Mädchen können sich tagsüber außerhalb des Hauses aufhalten, wenn sie die Schule, die Universität besuchen oder einen Beruf ausüben. Am Wochenende und in den Abendstunden achten viele Familien heute noch sehr genau darauf, dass die Mädchen sich zu Hause aufhalten. Das Verhältnis der türkischen Gesellschaft zur Homosexualität ist dagegen von einem deutlichen Unterschied zwischen Einstellung und tatsächlichem Verhalten geprägt. Besonders die männliche Homosexualität wird als Verlust der männlichen Potenz und Zeugungskraft verachtet und die Schimpfwort »Schwuler« oder »Tunte« gehören neben den Beleidigungen der Familienehre zu den schlimmsten Schimpfwörtern der türkischen Sprache. Demgegenüber existiert voreheliche Homosexualität in allen Bevölkerungsschichten. Besonders in der städtischen Unterschicht sind homosexuelle Kontakte und homosexuelle Prostitution an der Tagesordnung (vgl. Schmitz, L. 1985, S.  55f.). In Istanbul kann man viele Angehörige der sozialen Unterschicht dabei beobachten, wie sie offen die Dienste von Transvestiten und Transsexuellen aufsuchen. Die Prostitution dient dazu, die widersprüchlichen Definitionen von Moral, Sexualität, Potenz und Ehre aufrechtzuerhalten. Lilo Schmitz weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine »ehrlose« Frau die Gemüter trotz allem mehr aufregt als eine wirkliche Prostituierte. Daher würden die Prostituierten »der ehrenhaften« Gesellschaft als Kontrapunkt, als extremes Gegenbild dienen, das die eigene Selbstdefinition nur stützt und bestätigt, die Kategorien von »schwarz« und »weiß«, »ehrenhaft« und »ehrlos« ohne mögliche Zwischenstufen und die herrschende Moral nicht in Frage stellt« (S. 56). Die widersprüchliche Definition des Mannes – einerseits als unbegrenzt triebhaftes Sexualwesen, andererseits als »Wächter der Ehre« einer tugendhaften Frau – findet in dem Phänomen Prostitution eine Ventilfunktion.

97

98

Morde ohne Ehre

Eine Scheidung bedeutet trotz vieler liberaler Sichtweisen immer noch einen gewaltigen Schritt, auch für eine Frau aus der Mittel- und Oberschicht. Selbst offenkundige Untreue des Ehemannes muss vonseiten der Frau in der Mehrheit der Fälle geduldet werden, solange die materielle Versorgung der Familie nicht gefährdet ist. Auch die Heiratschancen der Töchter verschlechtern sich durch die dubiose Herkunft aus einer geschiedenen Ehe. Hierbei spielt es ebenso eine wichtige Rolle, dass sich die meisten unglücklichen Ehefrauen aus finanziellen Motiven nicht scheiden lassen. Da die ausreichende Versorgung der Frau nach einer Scheidung durch das Sozialsystem des Staates kaum gewährleistet ist und nicht alle Frauen eine finanziell Wohlsituierte Familie haben, die sie bei einer Scheidung unterstützen können, wissen sie nicht, wie sie ohne ihre Ehemänner finanziell überleben sollen. Sie kennen sich mit den rechtlichen Aspekten einer Scheidung kaum aus und glauben nicht daran, dass sie ein Recht auf Unterhaltszahlungen haben. Dies ist ein weiterer bedeutender Grund für die geringe Anzahl von Scheidungen. Der Klatsch spielt in der bürgerlichen Kultur eine wichtige Rolle, da die Eltern darauf bedacht sind, dass kein Gerede über ihre Töchter entsteht. Lilo Schmitz vertritt die These, dass Angehörige der städtischen Kultur zwar weniger als die Landbevölkerung auf Klatsch hören, aber dem Klatsch dennoch eine Bedeutung schenken würden. Das wichtigste Erziehungsziel für ein junges Mädchen sind nicht internalisierte Moralmaßstäbe, sondern die Fähigkeit, »nicht ins Gerede zu kommen« und die Jungfräulichkeit zu behalten. Ipek Ilkaracan beschäftigte sich in ihrer Studie Kentli kadınlar ve çalışma yaşamı aus dem Jahre 1998 mit der Lebensweise und Berufstätigkeit der Frauen in türkischen Großstädten: In der Türkei sind im Durchschnitt drei von zehn Frauen erwerbstätig. Vergleichbare Studien der EU ergaben zudem (1992 bis 1994), dass die Türkei unter 116 Ländern an 98. Stelle stand in Bezug auf Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter am Arbeitsleben (Ilkaracan, I. 1998b, S. 285f.). Im Durchschnitt dauert das abhängige Arbeitsverhältnis einer türkischen Frau acht Jahre. Ilkaracan führt diese geringe Dauer auf die hohen Kinderzahlen zurück, weil viele berufstätige Frauen ihre Arbeitstätigkeit wegen ihren Kindern aufgeben müssen. Sie macht dabei auf den Zusammenhang von Schulbildung und Berufstätigkeit der Frauen aufmerksam und gelangt zu der Schlussfolgerung: je besser die schulische Ausbildung der Frauen war, desto häufiger und länger waren sie produktiv tätig. Sie nahm die folgende Zuordnung bei den berufstätigen Frauen vor: In der ersten Gruppe befinden sich die Frauen, die in der Landwirtschaft ohne Lohn Arbeit verrichten müssen. Deshalb haben sie keine soziale Sicherheit und müssen sich meist unter schweren Arbeitsbedingungen betätigen. Die zweite Gruppe besteht aus den Frauen, die in Großstädten für einen geringen Lohn tätig sind. Diese Gruppe setzt sich meist aus Migranten zusammen, die von den Dörfern in die Städte emigriert sind und vorwiegend in der Textilindustrie oder im Servicesektor arbeiten. Die Universitätsabsolventen, die in ihrem Beruf arbeiten, ordnet sie der dritten Gruppe zu.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Ilkaracan zitiert folgende Ergebnisse aus der so genannten Ümraniye Studie aus dem Jahr 1997, 599 Frauen wurden in dem Stadtviertel, Ümraniye in Istanbul interviewt. Von den Befragten hatten 17 Prozent keine Ausbildung, 50,4 Prozent hatten einen Grundschulabschluss, 14,1 Prozent hatten die Mittelschule besucht, 14 Prozent hatten eine Hochschulreife und 4,5 Prozent waren Universitätsabsolventen. Bemerkenswert ist die Angabe von 59,2 Prozent der Frauen, die das Geldverdienen als eine »Männerangelegenheit« beurteilten. Über eigene Erwerbstätigkeit machten die weiblichen Befragten folgende Angaben: Von den Befragten waren 23,1 Prozent erwerbstätig. 0,5 Prozent gaben an, dass sie eine Arbeitsstelle suchten. 62,1 Prozent bezeichneten sich als Hausfrauen und 1,4 Prozent machten die Aussage, dass sie zu krank seien, um zu arbeiten. Bei den Ehemännern der Befragten waren 69,2 Prozent erwerbstätig, während 6,5 Prozent arbeitslos waren und 14,8 Prozent an Weiterbildungsmaßnahmen teilnahmen. 5,4 Prozent bezeichneten ihre Ehemänner als Rentner. Die Frauen gaben folgende Gründe dafür an, warum sie nicht berufstätig waren: 35,8 Prozent der Frauen hatten nicht die Zustimmung ihrer Familie für eine Erwerbsarbeit bekommen. Bei 25 Prozent hatten die Ehemänner eine Erwerbstätigkeit ausdrücklich verboten. Bei 10,8 Prozent der Frauen erlaubten andere Familienmitglieder keine Erwerbstätigkeit außer Haus. 24,9 Prozent gaben an, dass sie nicht arbeiten gehen konnten, weil sie auf ihre Kinder aufpassen müssten (S. 292f.). Die berufstätigen Frauen machten die folgenden Angaben über ihre Lebens- und Arbeitssituation: Während 57,9 Prozent der Frauen in der Textilindustrie arbeiteten, waren 27 Prozent als Putzfrauen tätig. Ein Drittel der arbeitenden Frauen stellte fest, dass sie zu Hause mehr Mitspracherecht hätten, seitdem sie arbeiten gingen. Über das Beschäftigungsverhältnis bei den Frauen lässt sich festhalten, dass zwei Drittel der Frauen zwar dazu fähig waren, arbeiten zu gehen, diese Möglichkeit aber aus unterschiedlichen Gründen nicht realisieren konnten. Ein Drittel hatte kein Interesse, erwerbstätig zu sein. Die Mehrheit der Frauen, die gerne arbeiten würde, gab als Hauptmotiv an, ökonomisch unabhängig zu sein und die Familie finanziell unterstützen zu wollen. Außerdem glaubten sie daran, durch eine Arbeitsstelle mehr soziale Kontakte zu haben. Zusammenfassend kann festhalten werden, dass die Teilnahme der Frauen am Arbeitsleben von der traditionellen Rollenverteilung der Geschlechter und den soziokulturellen Unterschieden zwischen den Geschlechtern geprägt wird. Die türkische Familie hat ihr Gleichgewicht zwischen den weiterhin existierenden Traditionen einerseits und den Forderungen und Ansprüchen des modernen Lebens nicht eindeutig gefunden. Zudem übertragen sich die traditionellen Bräuche und Einstellungen in den Familien von einer Generation zur nächsten. Sie prägen zwar weiterhin das Handeln und Denken der Einzelnen, besitzen aber nur noch in abgelegenen Dörfern ihren früheren ethischen Wert. In den Großstädten scheint die türkische Familie der Mittelschicht oder der höheren Schichten den Familien in den industriell hoch entwickelten Ländern Europas zu gleichen und zunehmend die Charakteristika der modernen Kernfamilie anzunehmen. Dennoch werden die

99

100

Morde ohne Ehre

Werte und Vorstellungen der dörflichen Kultur bei vielen Familien, insbesondere bei der städtischen Unterschicht, immer noch ausgelebt. Die soziale Kontrolle verstärkt den Generationen- und den Wertekonflikt. Die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen bringen neue Verhaltens- und Wertemuster hervor und die Familie verliert zunehmend ihre Gültigkeit. Die neuen Freiräume eröffnen insbesondere jungen Frauen neue Perspektiven, stellen aber zugleich ein großes Konfliktpotenzial für die Familien dar, die nach überkommenen Vorstellungen und Traditionen leben möchten. In der Türkei treffen die Merkmale einer westlich orientierten Kultur eher auf die bürgerliche Mittelschicht und die höheren Schichten in Städten zu. Einen großen Gegensatz dazu bildet die dörfliche Kultur, die nach alten Traditionen lebt und immer noch durch eine patriarchalische Gesellschafts- und Familienstruktur gekennzeichnet ist. Die Koexistenz der drei Kulturen – dörfische, städtische und Gecekondu-Kultur und deren Einfluss auf die Betroffenen wird in der folgenden Abbildung dargestellt:

Dörfische Kultur

GecekonduKultur

Städtische Kultur

• Entwicklungsrückstand

• „westlicher Lebensstil“

• traditionell-patriarchalische Kultur

• Ehre

• Ehre

• Bildung als Aufstiegskriterium

• „Über Nacht gebaute Slumviertel in Städten“ • Migranten aus Dörfern • Bewahrung der Dorftkultur • Ehre

Abbildung 1: Kulturelle Einflussfaktoren auf familiäre Konflikte (eigene Darstellung) Die Auseinandersetzung mit der türkischen Fachliteratur sowie die Recherchen vor Ort zeigten, dass die Mehrheit der Täter aus ländlichen Strukturen stammt (vgl. Faraç, M. 2004, S. 74f. und Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 38). Bei den Ehrenmorden, die in Städten ausgeübt wurden, war ebenso auffällig, dass die meisten Täter auch von Dörfern in die Städte emigriert waren. Daher wird in dieser Arbeit von der These ausgegangen, dass die Betroffenen der Ehrenmorden ähnlich wie bei einem Kulturkonflikt von der Koexistenz dieser drei näher charakterisierten Kulturarten geprägt werden (vgl. Faraç, M. 2004, S. 91). Da die dörfische Kultur durch sozioökonomische Rückständigkeit und eine traditionell-patriarchalische Struktur gekennzeichnet ist, stehen neben dem Ehr-

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

prinzip die Kollektivität- in Form von Familie oder Klanstrukturen – auch aufgrund fehlender anderer Ressourcen im Zentrum der sozialen und ökonomischen Überlebensfähigkeit der Betroffenen. Die städtische Kultur ist hingegen westlich geprägt und aufgrund des erweiterten Zugangs der Betroffenen zu anderen gesellschaftlichen Aufstiegsfaktoren wie zum Beispiel Bildung, bildet die Ehre nicht das zentrale Kriterium für die soziale Überlebensfähigkeit. Die Gecekondukultur, die durch Städteflucht entstanden ist, befindet sich in der Schnittmenge der dörfischen und städtischen Kultur. Binnenwanderer gleicher Herkunft bewohnen diese infrastrukturell unterversorgten Stadtviertel, in denen Arbeitslosigkeit sehr hoch ist. Der Kulturkonflikt ist hier von besonderer Bedeutung, da die Betroffenen sich entweder durch Integration in die Stadtkultur anpassen oder durch die Rückbesinnung auf Traditionen ihr dörfisches Leben in der Stadt fortsetzen können. Ehre wird daher entweder neu definiert und sogar von Betroffenen strenger ausgelegt, da sie in der Stadt mit anderen Alltagsproblemen konfrontiert werden.

1.2.2 Stellung der Frau in der türkischen Gesellschaft »Wenn man das Niveau einer Gesellschaft messen will, sollte man die Lebensbedingungen der Frauen in der jeweiligen Gesellschaft untersuchen« (Zitat von Stuart Mill, Amargi 2004, S. 53).

Wie bereits dargelegt, belegen zahlreiche Studien aus unterschiedlichen Ländern, dass Frauen in der Mehrheit Opfer von Ehrenmorden sind (vgl. Pervizat 2005, Yirmibeşoĝlu 2005). Für die Auseinandersetzung mit dem Thema Ehrenmorde in der Türkei scheint es wichtig, die Stellung der türkischen Frauen anhand verschiedener Merkmale zu untersuchen. Valentine Moghadam, eine iranische Soziologin und Feministin, untersuchte die Stellung der Frauen in den muslimischen Gesellschaften. Ihre Untersuchungsergebnisse sind von Bedeutung, da sie dem mit Modernisierung, Revolution, kulturellem Umbruch verbundenen sozialen Wandel die entscheidende Rolle für die Erlangung der Frauenrechte beimisst. Sie vertritt die These, dass Frauen aus der Mittelschicht die wichtigsten Agenten des Modernisierungsprozesses sind (Moghadam, V. 1993, S. 4f.). Neben religiösen Faktoren betont Moghadam die mangelnde ökonomische Kraft der Frauen als die Hauptursache für Geschlechterungleichheit (S. 37). Sie weist darauf hin, dass man die ökonomische, politische und soziale Entwicklung eines Landes nicht ohne die Berücksichtigung der Genderdynamik analysieren kann. Viele muslimische Länder sind durch die Politisierung des Geschlechts und des Familienrechts gekennzeichnet (S. 250). Im Folgenden wird die Auseinandersetzung mit der türkischen Gesetzgebung bezüglich der Rechte der Frauen wiedergegeben, um zu untersuchen, inwieweit der türkische Staat die Frauenrechte schützt. Insbesondere am Beispiel der Türkei zeigt sich für die ländlichen Regionen das Problem, dass die Rechte der Frauen nur schriftlich niedergelegte Verhaltens-

101

102

Morde ohne Ehre

gebote darstellen, die sich im alltäglichen Leben noch nicht bewährt haben. Die Psychologin Pınar Ilkaracan weist darauf hin, dass die Gesetze neben ihrer fehlenden Relevanz wenig zum Einsatz kommen, weil sie manchen geltenden islamischen Vorstellungen oder Traditionen widersprechen würden: »In the Eastern region, where a high rate of female illiteracy, a desolate economic situation, a variety of customary and religious practices are often in breach of official laws, and specific forms of cultural violence and collective mechanisms aimed at controlling women’s sexuality, produce a wide range of violations of women’s human rights« (Ilkaracan, P. 1995, S. 23). Nebahat Akkoç, Leiterin der Frauenorganisation KAMER betont, dass türkische Frauen von der Gleichberechtigung weit entfernt sind und unter ständiger Angst leben müssen: »Im allgemeinen leben wir türkische Frauen unter Angst. Wir haben Angst vor unseren Vätern, Brüdern und Ehemännern. Wir haben Angst, weil wir Gewalt erfahren. Wir haben es satt, gegen unseren Willem jemandem Unbekannten versprochen zu werden, jemanden zu heiraten, den wir nicht einmal gesehen haben, haben es satt, keine schulische Ausbildung zu bekommen, oder so früh verheiratet zu werden. Wir haben es satt, unter ständiger Angst zu leben!« (Nebahat Akkoç, Zitat aus ihrer Rede bei der Vorstellung der Dokumentation »Dialoge in der Dunkelheit« vom 24.11.2005). Es wird an dieser Stelle betont, dass die Missstände bezüglich der schlechten Lage der Frauen eher auf die Angehörigen der sozialschwachen Schichten und mit dörflicher Herkunft zutreffen. Die Benachteiligung der Frauen zeigt sich in folgenden Bereichen: Mangelnde Aufklärung: Ipek Ilkaracan weist darauf hin, dass insbesondere die Frauen in den östlichen und dörflichen Gebieten keinen Zugang zu Verhütungsmitteln haben und in der Mehrheit auch nicht darüber aufgeklärt sind (Ilkaracan, I. 2003, S. 69). Manche Frauen werden erst nach der Eheschließung aufgeklärt und kommen deshalb erst nach der Heirat mit Verhütungsmitteln in Kontakt. Mangelnde medizinische Betreuung: Da die medizinische Betreuung in den ländlichen Regionen sehr schlecht ist, versuchen die meisten Frauen ihre ungewollten Babys selbst abzutreiben. Dabei wenden sie folgende Methoden an: Von einem höher gelegenen Standort runterspringen, Seife in den Uterus injizieren, schwere Sachen tragen oder mit einer Stricknadel in den Uterus eindringen. Keine Entscheidungs- und Freiräume: Die Erziehung der Frauen in den unteren Schichten und in ländlichen Gebieten erfolgt nach traditionellen Rollenvorstellungen. Ihre Rolle als Hausfrau und Mutter lässt ihnen für alle anderen Lebensbereiche wenig Spielraum. Die Mitarbeiter der Frauenorganisation Amargi beschreiben diesen Aspekt wie folgt: »Uns steckt man in Kopftücher und lange Gewänder. Man nimmt uns jeglichen Freiheitsdrang. Nicht mal alleine erlaubt man uns zu reisen. Sich schön anzuziehen, wird dann zu

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem einer Sünde. Ständig trichtert man uns ein, dass unser Platz zu Hause ist. Wir werden als Geburtsmaschinen betrachtet. Und wehe, wenn wir keine Söhne auf die Welt bringen. Wir werden dazu gezwungen, unsere Kinder mit traditionellen Rollenvorstellungen zu erziehen. Alle unsere Entscheidungen werden von den Männern getroffen. Wir haben kein Mitspracherecht. Oft werden wir wegen der ökonomischen Abhängigkeit dazu gezwungen, mit unseren Männer weiterverheiratet zu bleiben, weil man uns eintrichtert, dass wir ohne sie nicht existieren können« (Amargi, 2002, S. 8f.).

Ungleicher Zugang der Geschlechter zum Bildungssystem: Studien und Statistiken der türkischen Regierung belegen, dass zwar im Laufe der Jahre die Zahl der Frauen, die das Bildungsangebot nutzen, zugenommen hat, aber insgesamt noch weit unter 100 Prozent liegt. Valentine Moghadam stellte in ihren Untersuchungen fest, dass in den 30er Jahren ein Viertel der türkischen Schüler weiblich und in den 1980er auch nur ein Drittel der Schüler weiblich waren (Moghadam, V. 1993, S. 137). Diese Zahlen verdeutlichen, dass sich in den 1960 Jahren nach der Gründung der türkischen Republik nicht sehr viel an der Einstellung der Eltern verändert hat, ob sie ihre Töchter zur Schule schicken oder nicht. Der Analphabetismus betrug in den 1980er Jahren bei den Männern 14 Prozent und bei den Frauen 38 Prozent (S. 122). Mehmet Faraç berichtet von einer Studie über das Bildungsniveau der Stadtbewohner Urfa, eine südostanatolische Stadt, die zu dem Ergebnis führte, dass 58 Prozent der Frauen und 42 Prozent der Männer Analphabeten waren (Faraç, M. 2004, S. 71). Diese hohe Analphabetisierungsrate bei Frauen, insbesondere in den dörflichen Gebieten, hängt auch mit der Angst der Eltern zusammen, dass sie ihre Töchter nicht in die Schulen schicken möchten, weil sie dort in Kontakt mit Jungen kommen und deshalb ihre Ehre verletzt werden könnte. Bei vielen Familien jedoch spielen ökonomische Gründe eine wichtige Rolle, weil vielen Eltern, die mehrere Kinder haben, das Geld fehlt und die sich dafür entscheiden, bevorzugt ihre Söhne zur Schule zu schicken, da sie nach den traditionellen Rollenvorstellungen für den Erwerb des Familieneinkommens mitverantwortlich sind, während die Tätigkeit der Mädchen auf den häuslichen Bereich reduziert wird. Benachteiligung im Berufsleben: Dieser Aspekt wird von vielen türkischen Frauenrechtlern und Autoren wie Leyla Pervizat oder Emre Kongar hervorgehoben (vgl. Pervizat, L. 2005, S.  76f.). Sie weisen darauf hin, dass die Frauen weniger Lohn als Männer bekommen. In der Mehrheit müssen sich berufstätige Frauen mit Nachwuchs eine neue Stelle suchen, da ihr Arbeitsplatz wegen Mutterschutz nicht freigehalten wird. Benachteiligung bei Erbangelegenheiten: Die Ümraniye Studie von Pınar Ilkaracan befragte Frauen, welche Bestimmungen bei Erbangelegenheiten für ihr Geschlecht maßgeblich waren. Die Antworten lauteten (Ilkaracan, P. 1998 a, S. 77): 26,1 Prozent türkische Gesetzgebung, 61,3 Prozent traditionell festgelegten Normen und Gesetze, 7,5 Prozent religiöse Normen und 5,1 Prozent sonstige Gründe. Mangelnde Möglichkeiten der politischen Teilhabe: Laut der Ümraniyestudie nahm in ruralen Gebieten nur die Hälfte der Befragten an Wahlen teil, während

103

104

Morde ohne Ehre

es in Städten zwei Drittel der Befragten waren. Ilkaracan vertritt in diesem Zusammenhang die These: je höher die schulische Ausbildung der befragten Frauen ist, die Frauen umso mehr ihre eigenen Entscheidungen, sei es in der Politik, Kleidung, Freizeitgestaltung oder Familienplanung, treffen (Ilkaracan, I./Ilkaracan, P. 2003a, S. 84). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es viele Benachteiligungen für die Frauen in der Türkei gibt, deren Ursachen in den Traditionen und religiösen Wertvorstellungen, dem traditionellen Rollenverständnis, den patriarchalen Familienstrukturen den geringen Bildungschancen und in der ökonomischen Abhängigkeit wurzeln. Die Reformen des Zivilgesetzbuchs sind hinsichtlich der Gleichberechtigung der Geschlechter als positiv zu beurteilen. Dennoch wird das Leben der Frauen in den dörflichen Gebieten trotz fortschrittlicher Gesetze von religiösen Normen, sozial festgelegten Werten und Traditionen bestimmt. Die Gesetze, die formal festgehalten sind, müssen in die Realität umgesetzt werden.50 Wichtig dabei ist, einen Zugang zu den Frauen zu finden, sie über ihre Rechte aufzuklären und ihnen die Freiräume zu gewährleisten, von diesen Rechten gegebenenfalls Gebrauch zu machen. Neben den gesetzlichen Änderungen sind weitere Reformen im Bildungswesen notwendig, um Frauen den gleichen Zugang zum Bildungssystem zu ermöglichen.

1.2.3 Die Rolle des Islam »Ehrenhaft zu sein bedeutet, nach den Prinzipien des Islams und der türkischen Kultur zu leben« (Zitat eines Universitätsabsolventen im Rahmen einer Umfrage, Türkiye Cumhuriyeti Başbakanlık Kadının Statüsü ve Sorunları Genel Müdürlüĝü, 1999, S. 20).

Die terroristischen Anschläge im Namen des Islam, Ehrenmorde, Genitalbeschneidungen sowie Jungfräulichkeitstests haben ein negatives Bild über Muslime in der Weltgesellschaft geprägt. Falsche Interpretationen islamischer Leitsätze, mangelnde Informationen und die weite Diversität der muslimischen Gesellschaften lassen meist ein nicht der Wirklichkeit entsprechendes und undurchsichtiges Bild des Islam entstehen. Im Folgenden wird der Islam unter anderem durch seine Leitsätze, Glaubensrichtungen und die Stellung der Geschlechter charakterisiert. Einen besonderen Untersuchungsgegenstand bilden dabei die Stellung der Frauen im Islam, Einstellungen zur Sexualität und die Frage nach der Rechtfertigung von Ehrenmorden im Islam. Der Islam ist mit ca. 1,2 Milliarden Anhängern nach dem Christentum (ca. 2,0 Milliarden Anhänger) die zweitgrößte Religion der Welt. Seine Anhänger werden als Muslime und als Moslems bezeichnet (im Türkischen Müslüman). Heute wird der Islam in vielen Ländern des Nahen Ostens, Nordafrikas, Zentral- und Südost50 | In der Kriminologie wird dieser Unterschied zwischen Gesetz and Handeln in der Alltagswelt auch als »law in the books« and »law in action« bezeichnet.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

asiens praktiziert. Die Anhängerzahl des Islam wird auf zwischen 900 Millionen und 1,4 Milliarden geschätzt (Hütteroth, W. 2002, S. 83f.). Der Islam ist eine monotheistische Religion, die sich streng von der christlichen Vorstellung von Inkarnation und Trinität distanziert. Er gründet sich auf den Koran, der für Muslime das unverfälschte Wort Gottes darstellt. Als weitere Erkenntnisquellen neben dem Koran werden die Worte (Hadiths) und Handlungen (Sunna) des Propheten Mohammed betrachtet. Im Gegensatz zu westlich-christlichen Gesellschaften hat der Islam einen großen Einfluss auf das Alltags- und Familienleben der Gläubigen. Neben den vielen Moschee-Neubauten deuten unter anderem Frauen mit Kopftüchern, bärtige Männer mit ihren Käppchen, die Abschiedsformel Allaha ısmarladık (Behüt dich Gott) Grußformeln wie Bismillah (im Namen Gottes) und Maşallah (Gott schütze dich) deuten darauf hin, dass der Islam eine große Rolle im Alltagsleben der islamischen Gesellschaften spielt. Nur wenige Türken machen eine Aussage oder ein Versprechen über die Zukunft, ohne den Begriff Inşallah (so Gott will) zu benutzen. Allah göstermesin (Gott bewahre) sagt man dagegen, wenn man unangenehme Ereignisse von sich abwenden will (vgl. Rüstow, D. 1990, S. 39f.). Das Leben eines Muslims ist von der Geburt, über Beschneidung, Heirat, Kindererziehung bis hin zum Tod eng in die Gemeinschaft des Islam eingebettet, viel enger als heute das im Leben der meisten Europäer ins Christentum (vgl. Hütteroth, W. 2002, S.  343f.). Dennoch ist zu betonen, dass viele türkische Gläubige manche religiöse Pflicht eher gelassen sehen und vorwiegend die ländliche Bevölkerung streng religiös lebt. Während den Forschungsreisen der Verfasserin in die anderen Städte der Türkei war eine wichtige Beobachtung, dass die Menschen sich zunehmend religiöser verhalten haben und traditionsbewusst gekleidet waren, je mehr man sich in den östlichen Teilen des Landes bewegte. Aber auch in Istanbul konnte man die unterschiedlichen Ausführungen des Glaubens beobachten. Nur in bestimmten Stadtvierteln, in denen meist Angehörige der sozialen Unterschicht und Migranten aus dem Osten der Türkei lebten, waren die Bürger traditionell gekleidet und leben dort streng religiös.

Entstehung des Islam Der Religionsgründer, Muhammad (Arabisch für der Vielgelobte), wurde um 570 als Sohn eines Händlers aus dem Stamme der Quraisch in Mekka im heutigen Saudi-Arabien geboren. Im Alter von etwa 40 Jahren erschien ihm der Erzengel Gabriel, der ihm die göttlichen Offenbarungen diktierte, die im Koran schriftlich festgehalten sind. Muhammad wird von der islamischen Gemeinde stets als ein Prophet und nicht als Sohn Gottes verstanden. Die von Muhammad verkündete Botschaft eines kompromisslosen Monotheismus konnte im polytheistischen Mekka jener Zeit wenige Anhänger begeistern. Darüber hinaus sah sich die junge muslimische Gemeinde unter dem Druck ihrer Gegner gezwungen, Mekka zu verlassen. Allgemein wird das Jahr 622 n. Chr., die Flucht Muhammads, die Hedschra, vor seinen Gegnern, als der Beginn der islamischen Ära angenommen. Bei der

105

106

Morde ohne Ehre

Übersiedlung in das nördlich gelegene Yathrib (Medina) kam Muhammad mit den dort siedelnden jüdischen Stämmen in Kontakt, die er aber nicht vom Islam überzeugen konnte. Ihre Weigerung, ihn als eigenen Propheten anzuerkennen, ließ die islamische Vorstellung reifen, dass Juden und Christen vom rechten Weg des einen Gottes abgewichen waren und ihre Offenbarungen verfälscht seien.

Die fünf Säulen Die Grundsätze des Islam, die als die fünf Säulen bezeichnet werden, die zu erfüllen jeder Muslim verpflichtet ist, sind folgende (vgl. Karaşan-Dirks, S.  1986, S. 60f.): Das Glaubensbekenntnis Schahada: »Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer dem einzigen Gott und Mohammed ist der Gesandte Gottes«. Das Aussprechen der Schahada in ehrlicher Absicht (niya) reicht nach islamischen Vorstellungen aus, um Muslim zu werden. Sie ist zudem das Erste, das einem Neugeborenen ins Ohr geflüstert wird, und der letzte Gruß an einen Sterbenden. Das Gebet namaz ist eine weitere religiöse Pflicht. Es wird zu festgelegten Zeiten verrichtet, zu denen der Muezzin ruft: in der Morgendämmerung, mittags, nachmittags, abends und nach Einbruch der Nacht. Das Verkürzen, Zusammenlegen, Vorziehen oder Nachholen von Gebeten ist unter bestimmten Bedingungen gestattet, etwa auf Reisen oder bei Krankheit. Am Freitag wird das Mittagsgebet (Freitagsgebet) in der Gemeinschaft der Männer, meist in der Hauptmoschee der Stadt oder des Viertels, verrichtet. Vor dem Gebet erfolgt die rituelle Reinigung mit reinem Wasser (abdest). Neben dem Beten fordert der Islam rituelle Waschungen nach dem Beischlaf, nach jedem Samenerguss, nach der Menstruation, nach unregelmäßigen Blutungen und nach der Geburt für die Frau. Frauen befinden sich aufgrund der natürlichen Umstände wie Menstruation oder Kindergebären ständig im Wechsel zwischen reinen und unreinen Phasen. Dies ist der Grund, warum die Frauen während ihrer Menstruation nicht fasten dürfen und die im Zuge dessen versäumten Tage nach dem Ramadan nach fasten müssen. Die Almosensteuer Sadaka schreibt vor, dass man einen Teil des eigenen Einkommens an Bedürftige, Kranke, für die Befreiung Gefangener oder zum Aufbau religiöser Schulen verwenden soll. Der Betrag ist sowohl von der Einkunftsart als auch von der Besteuerungsgrundlage abhängig und soll zwischen 2,5 bis 10 Prozent des Gesamteinkommens ausmachen. Im Fastenmonat Ramadan der sich jedes Jahr um 11 Tage verschiebt, wird von Beginn der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang gefastet, nichts gegessen, nichts getrunken, nicht geraucht, kein ehelicher Verkehr und Enthaltsamkeit im Verhalten geübt. Die Pilgerfahrt Hadsch ist die fünfte Säule im Islam. Jeder Muslim hat demnach die Aufgabe, einmal in seinem Leben die Pilgerfahrt nach Mekka anzutreten, um dort u.a. die heilige Kaaba siebenmal zu umschreiten. Ob die Pilgerfahrt für den Einzelnen zur Pflicht wird oder nicht, hängt von seinen finanziellen und gesundheitlichen Lebensumständen ab.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Zu den Glaubenssätzen im Islam gehören sechs Glaubensartikel, nämlich der Glaube an den einzigen Gott (Arabisch: Allah), an seine Engel, an seine Offenbarungen (heilige Bücher: Thora, die Evangelien, der Koran etc.), an seine Gesandten, die Propheten Gottes (darunter Adam, Abraham, Moses, Jesus und zuletzt Muhammad) an den Tag des jüngsten Gerichts und das Leben nach dem Tod.51 Als zweite Rechtsquelle der islamischen Gesellschaft können die persönlichen Aussagen von Muhammad (hadiths) und die Überlieferungen (Sunna) gezählt werden (vgl. Karaşan-Dirks, S. 1986, S. 19f.). Aus diesen Quellen ist das islamische Recht (Sharia) entstanden, das durch Ehe-, Kauf-, Vertrags- und Strafrecht sowohl die zwischenmenschlichen Beziehungen regelt als auch durch das Kriegsrecht des Jihad die Beziehungen zu der nicht muslimischen Welt, wobei die Jihadsuren in ihrem historischen Kontext bewertet werden sollten. Der Islam schreibt die unauflösbare Einheit von Religion und Staat sowie von Religion und Recht vor. Das islamische Recht wird als eine religiöse Pflichtenlehre betrachtet, die das Verhalten des Einzelnen sowohl zu Gott als auch zu seinen Mitmenschen regelt und moralisch bewertet. Die strikte Haltung an die Sharia findet man überwiegend in arabischen Ländern. Die streng disziplinierte Wissenschaft des Islam wird als Fıkıh bezeichnet, zu der die Universität der Islamwissenschaften, die so genannte Medresse und ihr Gelehrtenkorpus, die Ulemma gehören. Die Ehe nimmt eine zentrale Stellung im Islam ein, weil eine körperliche Beziehung zwischen den Geschlechtern nur im Rahmen einer Ehe legitimiert wird. Die Ehe verhindert das Leben in Sünde und legt dem Mann die Pflicht auf, für Frau und Kinder Sorge zu tragen. Die Frau ist nach Hadithen diesbezüglich nicht zur Haushaltsführung, wohl aber zum Gebären von Kindern verpflichtet.

Glaubensrichtungen Der Islam ist in mehrere Glaubensrichtungen gespalten. Die Sunniten bilden mit etwa 90  Prozent die zahlenmäßig größte Gruppe. Sie unterteilen sich wiederum in die sunnitischen Rechtsschulen der Hanafiten, Malikiten, Hanbaliten und Schafiiten. Die Rechtsschulen operieren in unterschiedlichen geographischen Gebieten, so begegnet man zum Beispiel den Hanafiten eher in der Türkei und den Malikiten eher in Nordafrika (vgl. Karaşan-Dirks, S., 1986, S. 18f.). Die Hanafiten zählen zu dem moderneren und gemäßigten Teil der islamischen Glaubensgemeinschaft. Der Theologe und Islamwissenschaftler Zekeriya Beyaz begründet diese Entwicklung damit, dass die Hanafiten die erste Glaubensrichtung war, die sich sofort nach dem Tod von Muhammad zusammengeschlossen hatten und seine Überlieferungen originalgetreu, ohne eigene Interpretationen befolgt hätten 51 | Erwähnt werden diese Glaubensartikel im Koran in Sure 4, Vers 136: »Ihr Gläubigen! Glaubt an Gott und seinen Gesandten und die Schrift, die er auf seinen Gesandten herabgeschickt hat, und an die Schrift, die er schon (früher) herabgeschickt hat! Wer an Gott, seine Engel, seine Schriften, seine Gesandten und den jüngsten Tag nicht glaubt, ist (damit vom rechten Weg) weit abgeirrt.«

107

108

Morde ohne Ehre

(Zekeriya Beyaz, Professor der Islamwissenschaften, Interview vom 12.12.205). Im Gegensatz dazu nennt er andere Glaubensabspaltungen wie die Schiiten, die viele islamische Grundvorstellungen falsch interpretiert hätten und sehr viel später nach Muhammads Tod entstanden seien. Für die Sunniten ist beispielsweise der Kalif ein Führer, der von seinen Anhängern aufgrund seiner weltlichen, administrativen Fähigkeiten gewählt wird. Für die Schiiten dagegen kann der ›Imam« nur ein rechtmäßiger Nachfolger Muhammads oder gleichzeitig ein Nachfolger von Ali sein, den sie mehr verehren als Muhammad. Während der Kalif also nur als ein weltlicher Verteidiger der Religionsgemeinschaft gesehen wird, ist der Imam nach dem Glauben der Schiiten ein geistliches Oberhaupt, das sich durch Unfehlbarkeit und weiteren göttlichen Fähigkeiten wie beispielsweise Segenskraft auszeichnet. Die unterschiedlichen Glaubensrichtungen im Islam führen zur unterschiedlichen Interpretationen der islamischen Grundgedanken. Daher differieren die einzelnen Richtungen neben ihren Vorstellungen auch bezüglich der Stellung der Frauen oder der Ausübung religiöser Praktiken. In der Türkei wurde die Sharia, die islamische Rechtsprechung, mit Atatürks Republikgründung abgeschafft. Doch sieht die soziale Realität in Teilen der Gesellschaft anders aus. So existiert zum Beispiel die offiziell nicht anerkannte islamische Ehe, zumindest in ländlichen Gebieten. Unmenschliche Strafen, auf dem Koran basierende Strafen (Hadd) wie Amputation oder Steinigung finden in relativ wenigen islamischen Ländern eine systematische Anwendung (Saudi-Arabien, Sudan, Iran) und werden innerhalb der islamischen Gemeinde kritisiert, weil dabei meist die in der Sharia vorgeschriebenen strengen Schutzbedingungen für Angeklagte außer Acht gelassen und Menschenrechte verletzt werden. Im Folgenden werden islamische Vorstellungen bezüglich Polygamie, die Stellung der Frauen und die Sexualität näher untersucht, weil diese drei Bereiche bei Ehrenmorden eine wichtige Rolle spielen:

Polygamie im Islam Der Koran gestattet dem Mann die bis auf vier Frauen begrenzte Mehrehe, wenn er auf eine andere Weise seine Sorgfaltspflichten nicht erfüllen kann (Sure 4:3). Eine notwendige aber auch fast nicht realisierbare Bedingung ist, dass er alle Frauen gleich gut behandeln muss (4: 128). Der angesehene, aber auch umstrittene, ägyptische Gelehrte Yusuf Al-Qaradawi betont in einer seiner zahlreichen Analysen, welche Verhaltensweisen im Islam erlaubt und verboten sind. Die Mehrehe hält aus folgenden Gründen für angebracht und legitim (Qaradawi, Y. 1998, S. 165): Wenn die Ehefrau unfruchtbar ist, wäre es ihr gegenüber fairer, dass der Mann sie nicht verlässt und dafür eine zweite Frau ehelicht. Es sei natürlich, wenn der Ehemann ein größeres sexuelles Bedürfnis als seine Frau hat, weil sie zum Beispiel kein Verlangen hat oder krank ist. Es sollte ihm erlaubt sein, eine andere Frau zu ehelichen, damit er »keinen Freundinnen nachjage«.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

In den Zeiten, in denen es mehr Frauen als Männer gibt (zum Beispiel in Phasen des Krieges), würde es den Interessen der Frauen entsprechen, eine von mehreren Frauen eines Mannes zu sein, als alleine zu bleiben und nicht den sexuellen Bedürfnissen nachgehen zu können. In der westlichen Welt würden die Männer mehrere Freundinnen gleichzeitig haben, ohne ihren moralischen Pflichten nachzukommen. Die Mehrehe sei daher der Vielzahl aufgrund von ungerechten und unmoralischen Beziehungen zu bevorzugen. Bevor der Islam das Familienleben der Araber zu regeln begann, war die Stellung der Frau gemäß den Ausführungen von Sabine Karaşan-Dirks die schlechteste, die man sich denken kann (Karaşan-Dirks, S. 1986, S. 17f.). Der Koran hätte die Zahl der Gattinnen eines Mannes auf vier beschränkt, und dies nur unter der Bedingung der perfekten Behandlung der Frauen durch den Mann. Obwohl es in der Türkei verboten ist, werden Zweitfrauen aus so genannten »Imam-Ehen« geduldet und regelmäßig durch Amnestien legalisiert. Polygamie kommt meist im Osten und Südosten der Türkei vor (vgl. Ilkaracan, P. 2003b, S.  45). Das islamische Recht untersagt Männern, die nicht jeder Frau einen eigenen Hausstand einrichten können, die Polygamie. Die Beschränkung der Mehrehe auf vier Frauen basiert auf dem Koran, Sure 4:3: »Heiratet, was euch an Frauen gut ansteht, zwei, drei oder vier; und wenn ihr fürchtet, nicht gerecht zu sein, [heiratet] So könnt ihr am ehesten Ungerechtigkeit vermeiden.« Einige Muslime betonen hingegen, dass der Koran die Polygamie verbiete. Dabei berufen sie sich auf Sure 4:129: »Und ihr könnt zwischen den Frauen keine Gerechtigkeit üben, so sehr ihr es auch wünschen möget«. In Verbindung mit dem Gebot der Gleichbehandlung nach Sure 4, Vers 3 und Argumenten aus dem näheren Kontext ziehen sie die Schlussfolgerung, dass eine Mehrehe nur in wenigen besonders außergewöhnlichen Situationen erlaubt sein sollte; als Beispiel wird Männermangel infolge eines Krieges genannt. Grundsätzlich sei jedoch die Einehe vorzuziehen, zumal die Familie als eine heilige Institution angesehen wird. Während der Mann auch Gläubige anderer Religionen heiraten darf, darf die Frau nach islamischem Recht nur einen Angehörigen ihrer Religion heiraten. Der Koran schreibt jedoch vor, dass alle Unterhaltskosten vom Mann übernommen werden müssen und er alle seine Kinder anerkennen muss (vgl. Karaşan-Dirks, S. 1986, S. 22f.). Es gibt zwei Arten der Ehe-Auflösung: einmal die vom Richter ausgesprochene Scheidung und die Repudiation oder die Verstoßung, die auf Wunsch des Mannes stattfindet. Bei der Verstoßung fordert der Mann die Frau auf, das gemeinsame Haus zu verlassen. Während der Mann nach dem islamischen Recht bis zu vier Frauen ehelichen und so viele Konkubinen unter seinen Frauen halten darf, wie er möchte, ist die Treue der Frau eine Notwendigkeit. Der Koran verbietet den ehelichen Seitensprung. Bei besonderen Vorkommnissen solle man aber dem Koran nach eher der Frau Glauben schenken. Die bedeutende Stellung der Ehe zeigt die islamische Interpretation der künstlichen Befruchtung, wonach

109

110

Morde ohne Ehre

bei der künstlichen Befruchtung nur Eizellen benutzt werden dürfen, die von verheirateten Ehefrauen stammen.

Sexualität im Islam Der Islam hat eine ambivalente Haltung zur Sexualität. Auf der einen Seite wird sie zu den Freuden des Lebens gezählt, die auch als Trieb ausgelebt werden muss. Aber auf der anderen Seite ist sie nach islamischen Vorstellungen dazu im Stande, die Gesellschaft in einen chaotischen Zustand zu versetzen, da die Menschen den Verlockungen der Sexualität kaum nachgeben könnten. Die Gefahr der Fitna (Chaos) führe dazu, dass Männer als hilflose Opfer der weiblichen Verführungskünste betrachtet werden.52 Die islamische Konzeption der Sexualität setzt eher auf eine äußere Kontrolle über die Individuen als auf eine durch Schuldgefühle getragene innere Kontrolle des Einzelnen (vgl. Petersen, A. 1985, S.  18). Die Libido gilt wie der Hunger als etwas Natürliches Die Befriedigung beider Bedürfnisse wird ebenfalls als natürlich angesehen und beiden Geschlechtern gleichermaßen zugestanden. Deshalb ist das Zölibat im Christentum für den Islam unverständlich. Der Islam schreibt jedoch vor, dass die Sexualität nur innerhalb der Ehe befriedigt werden darf. Das ist auch der Grund, warum streng religiöse Täter von Ehrenmorden eine uneheliche Beziehung oder Affäre moralisch verurteilen, das Opfer töten und sich dabei auf islamische Grundsätze berufen. Der Sexualität der Geschlechter misst man im Islam eine große Bedeutung zu. Immer, wenn ein Mann einer Frau begegnet, kann laut Koran die so genannte Fitna auftreten und die Männer der von Frauen ausgehenden Sexualität nicht widerstehen können (S. 20f.). Die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse der Frauen wird dabei als das beste Mittel betrachtet, um ihre »gefährliche Sexualität« zu verhindern. Folglich werden Impotenz oder der Verlust der Geschlechtsorgane des Mannes nach dem Koran als zwei der wenigen Scheidungsgründe akzeptiert, die von Frauen geltend gemacht werden können. Der voreheliche Geschlechtsverkehr ist im Koran verboten und wird moralisch verurteilt. Von Männern wird verlangt, dass sie ihren Blick senken, wenn sie eine nicht mit ihnen verwandte Frau wahrnehmen. Laut Koran (Sure 24 Vers 30) heißt es: »Sprich zu den gläubigen Männern, dass sie ihre Blicke zu Boden schlagen und ihre Keuschheit wahren sollen. Das ist reiner für sie. Wahrlich, Allah ist dessen, was sie tun, recht wohl kundig.« Damit ein Mann eine Frau begehrend anschauen darf, muss er nach islamischen Vorstellungen mit ihr verheiratet sein. Das islamische Recht will Zina, vor- oder außereheliche Sexualkontakte, durch diese oben genannten Maßnahmen verhindern. Bezüglich des Verhaltens der Frau heißt es in Sure 24 Vers 31: »Sprich zu den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke zu Boden schlagen und ihre Keuschheit wahren und ihren Schmuck nicht zur Schau tragen sollen – bis auf das, was davon sichtbar sein darf, und dass sie ihre Tücher um ihre 52 | Fitna stammt aus dem Arabischen und bedeutet gesellschaftliche Unordnung, Chaos oder Verführung.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Kleidungsausschnitte schlagen und ihren Schmuck vor niemand (anderem) enthüllen sollen als vor ihren Gatten oder Vätern oder den Vätern ihrer Gatten oder ihren Söhnen oder den Söhnen ihrer Gatten oder ihren Brüdern oder den Söhnen ihrer Brüder oder Söhnen ihrer Schwestern oder ihren Frauen oder denen, die sie von Rechts wegen besitzen, oder solchen von ihren männlichen Dienern, die keinen Geschlechtstrieb mehr haben, und den Kindern, die der Blöße der Frauen keine Beachtung schenken. Und sie sollen ihre Füße nicht so (auf den Boden) stampfen, dass bekannt wird, was sie von ihrem Schmuck verbergen«. Gleichfalls müssen die muslimischen Frauen ihre Körper vom Kopf bis zu den Zehen verhüllen, um ihre weiblichen Reize zu verstecken und somit Fitna oder Zina zu vermeiden: »Prophet, sprich zu deinen Frauen und deinen Töchtern und zu den Frauen der Gläubigen, sie sollen ihre Übergewänder reichlich über sich ziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie (dann) erkannt und nicht belästigt werden. Und Allah ist allverzeihend und barmherzig.« Doch viele Muslime sind sich bei diesem Punkt nicht einig, ob diese Sure das Tragen von Kopftüchern ausdrücklich vorschreibt oder nur darauf hinweist, dass die Geschlechtsteile angemessen bedeckt werden sollen. Die Verfasserin schließt sich der zweiten Sichtweise an (Sure 33 Vers 59). Die türkische Psychologin Pınar Ilkaracan hat sich mit dem Missbrauch islamischer Glaubensvorstellungen auseinandergesetzt, der die Kontrolle der Frauen zum Ziel habe. Der Islam wird oft als Kontrollmechanismus missbraucht. Hierbei sollte man jedoch die ökonomischen und politischen Aspekte berücksichtigen. Dabei würde der Koran die Gleichberechtigung der Geschlechter fordern und betonen, wodurch die Sexualität und der Geschlechtsverkehr etwas Natürliches seien. Der eheliche Verkehr wird dabei nicht auf Reproduktion beschränkt, sondern umfasst auch die sexuelle Erfüllung. Andererseits wird der Mann im Koran als das rationale Wesen mit der Fähigkeit zur Selbstkontrolle und die Frau als das emotionale Wesen mit fehlender Selbstkontrolle dargestellt (Ilkaracan, P. 2001, S. 61f.). Sie vertritt außerdem die These, die den Missbrauch des islamischen Glaubens und die Globalisierung der Frauenkörper zum Konfliktträger von politischen Interessen zum Inhalt hat: Die Restriktionen von Frauenrechten, die im Namen Allahs gerechtfertigt werden, sind nicht das Resultat islamischer Vorstellungen über die weibliche Sexualität, sondern sie entstehen aus einer Kombination von politischen, ökonomischen und sozialen Ungleichheiten. Die Religion wird dabei als ein mächtiges Element missbraucht, um die Restriktion der Frauenrechte zu legitimieren (S. 754f.). Nevin Meriç, eine türkische Theologin, hat sich mit der Bedeutung von sexuellen Handlungen im Islam beschäftigt. Sie führte viele Interviews durch und sammelte die häufigsten Fragen, die türkische Frauen in Bezug auf ihre Sexualität in Verbindung mit islamischen Vorstellungen stellten. Sie kam zu dem Ergebnis, dass viele Frauen verunsichert darüber waren, welche sexuellen Handlungen nach der islamischen Ethik erlaubt sind und keine Sünde bedeuten. Als Beispiel kam sie zu dem Ergebnis, dass viele Frauen Anal- oder Oralsex als eine Sünde betrachten

111

112

Morde ohne Ehre

und mit Pornographie nichts zu tun haben wollten. Folgende Fragen der weiblichen Befragten verdeutlichen die Hemmungen der Frauen und das Durchdringen aller Lebensbereiche durch den Islam (Meriç, N. 2004, S. 30f.): »Ist es eine Sünde, über die religiösen Feiertage Geschlechtsverkehr zu haben?« »Mein Mann schlägt mich dauernd, ist es eine Sünde, wenn ich zurückschlage?« (S. 174). »Wenn man nach einer Vergewaltigung abtreibt, ist es eine Sünde?« (S. 166). »Ist Geburtenkontrolle eine Sünde?« (S. 163). »Wenn ich pornographische Sachen im Fernsehen sehe, sündige ich dann?« (S. 146).

Diese Fragen zeigen auf, dass Frauen viele Bereiche und Praktiken der Sexualität als eine Sünde sehen. Hierbei zeigt sich, dass Sexualität heute noch ein Tabuthema in der Türkei ist und eine verstärkte Aufklärung zum Tabuabbau und damit zur Verbesserung der Situation der türkischen Frauen beitragen könnte. Obwohl der Koran auch Frauen Rechte einräumt, sind zum Beispiel nach Aytunç Altındal Männer das überlegene Geschlecht, das für die Versorgung der Frauen aufkommen muss. Als Beispiel dafür gibt er an, dass zwei weibliche Zeugen im Koran mit einem männlichen Zeugen gleichgesetzt werden (Altındal, A., 2004, S. 36f.). Die folgenden Beispiele aus dem Koran geben die benachteiligende Stellung der Frauen im Vergleich zu Männern wieder (a.a.O.): »Die Moschee der Frau ist ihr Zuhause«. »Wenn eine Frau mit einem fremden Mann alleine ist, ist der Teufel der dritte Anwesende«. »Frau, wenn dein Mann dich zu Bette ruft, dann folge seinem Willen, sonst wirst du den Wut Allahs auf dich ziehen«. »Die Hölle besteht am meisten aus reichen und sich unsittlich benehmenden Frauen«. »Wenn eine Frau durch den Willen ihres Mannes stirbt, wird sie in den Himmel kommen«.

Widersprüchlich zu all diesen Aussagen betrachtet Altındal die Tatsache, dass eine Mutter als eine Heilige angesehen wird, der sich der Sohn bedingungslos unterordnen muss: »Die größte Macht über eine Frau hat ihr Ehemann, doch die größte Macht über einen Mann hat seine Mutter« (S. 42). An dieser Stelle zeigt sich, dass die Mütter sowohl in der türkischen als auch in der islamischen Gesellschaft ein hohes Ansehen genießen. Die bedeutende Rolle der Mutter lässt sich mit den oben aufgeführten Koransuren belegen. Daher könnte die passive Haltung vieler betroffener Mütter bei Ehrenmorden kritisiert werden, wenn sie sich der Mitwisserschaft und Mittäterschaft durch Unterlassung schuldig machen. Die meisten von ihnen haben weitaus mehr Einfluss, als sie sich zugestehen möchten.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

1.2.4 Sind Ehrenmorde islamisch legitimiert? In den Medien werden immer wieder die Suren des Korans zitiert, um Phänomene wie Blutfehden um Frauenehre, Jungfrauenkult und Geschlechtersegregation zu rechtfertigen. Ehrenmorde sind aber eine vorislamische Praxis, die mit der Theologie des Islam nicht begründet werden kann. Sie sind charakteristisch für archaische, tribal organisierte Gesellschaften, vor allem im Mittleren Osten. Allerdings sind in islamisch geprägten Gesellschaften angestammte Ehrvorstellungen mit gesellschaftlich akzeptierten religiösen Werten eng verbunden, da der Koran und die Überlieferungen für das sittsame Verhalten der Frau zahlreiche Vorschriften enthalten. Der Ehrenmord wird nicht ausschließlich im islamischen Umfeld praktiziert, allerdings ist eine besondere Häufung der Ehrenmorde in islamischen Gesellschaften zu beobachten. Gleichzeitig gibt es aber auch islamische Gesellschaften wie zum Beispiel Indonesien, denen Ehrenmorde völlig fremd sind. Daher gilt es hervorzuheben, dass der Ehrenmord im Islam keine Begründung findet, zumal die Tradition der Ehrenmorde wesentlich älter ist als der Islam.53 Wie in anderen Religionen zählt auch der Islam die Tötung eines Menschen zu den größten Sünden. Dieses Recht ist im Islam allein dem Allmächtigen vorbehalten. Im Koran ist demnach auch nicht schriftlich festgelegt, dass jemand über das Leben eines Menschen bestimmen und ihn im Namen der Ehre umbringen darf. In Sure 5:173 des Koran betont: »Wer einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die gesamte Menschheit getötet; und wer einem Menschen das Leben erhält, so ist es, als hätte er der gesamten Menschheit das Leben erhalten« (5:32). Es ist nach dem Koran keinem Muslim erlaubt, Selbstjustiz auszuüben oder über Leben und Tod zu entscheiden. Der Koran erlaubt bei Mord Vergeltung durch die Todesstrafe, dennoch steht es den Muslimen frei, den Täter zu Schadenersatz zu verpflichten und von Vergeltung abzusehen. Zur Blutrache steht in Sure 2, Vers 178 folgender Hinweis: »Ihr Gläubigen! Bei Totschlag ist euch die Vergeltung vorgeschrieben: Ein Freier für einen Freien, ein Sklave für einen Sklaven und ein weibliches Wesen für ein weibliches Wesen. Und wenn einem von Seiten seines Bruders etwas nachgelassen wird, soll die Betreibung auf rechtliche und die Bezahlung an ihn auf ordentliche Weise vollzogen werden« (Baumeister, W. 2007, S. 65). Mit dem so genannten Kisas entsprechend dem Shariarecht hingegen wurde bei vorsätzlicher, widerrechtlicher Tötung oder Körperverletzung der Opferfamilie ein privatrechtlicher Anspruch eingeräumt, die Todesstrafe durch eines ihrer Mitglieder am Täter zu vollstrecken oder ihm eine der Ursprungstat entsprechende Körperverletzung zuzufügen. 53 | Schirrmacher, C. 2007: Ehrenmorde zwischen Migration und Tradition, URL: www. igfm.de/Ehrenmorde_zwischen_Migration_und_Tradition_rechtliche_soziol.972.0.html, Zugriff am 21.7.2007.

113

114

Morde ohne Ehre

Vorstellungen von Sexualität und Weiblichkeit in islamischen Gesellschaften spielen ebenso wie das Konzept von Ehre und Schande eine tragende Rolle bei Erklärungsversuchen, welche auslösenden Faktoren einen Ehrenmord rechtfertigen. Inwieweit die islamischen Grundprinzipien zur Kontrolle der weiblichen Sexualität missbraucht werden, hängt eher von einer entsprechenden falschen Interpretation islamischer Offenbarungen durch die jeweiligen Glaubensrichtungen ab. Die Soziologin Necla Kelek umschreibt dieses Problem: »Es gibt unzählige Strömungen, Sekten und Schulen, die um die gottgefällige Auslegung des Korans streiten, obwohl eigentlich Konsens herrscht, dass der Koran gar nicht auslegbar ist, weil er Gottes Offenbarung ist« (Kelek, N. 2005, S. 149). Der Koran ist daher eine absolute »Richtschnur für ein gottgefälliges Leben« dar, der aber auch viel Raum für Eigeninterpretationen lässt. Dazu kommen die weiteren islamischen Quellen wie Hadiths oder die Sunna, die weitere Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Der Ehebruch wird als Zina bezeichnet und umfasst außerdem jeglichen außerehelichen Geschlechtsverkehr. Der Vorfall des Ehebruchs muss dem Koran zufolge durch vier Augenzeugen bestätigt werden (24: 4). Als Strafe nennt der Koran 100 Peitschenhiebe und für Verheiratete die Steinigung (24:2). Sure 4:15 wird in diesem Kontext als der »Frauenkerkervers« bezeichnet: »Und wer von euern Weibern eine Hurerei begeht, so nehmet vier von euch zu Zeugen wider sie. Und so sie es bezeugen, so schließt ein in die Häuser, bis der Tod ihnen naht oder Allah ihnen einen Weg gibt«. Obwohl die Scheidung erlaubt ist, wird sie nicht akzeptiert. Das Scheidungsrecht ist für beide Beteiligten kompliziert und verspricht dennoch dem Mann mehr Rechte als der Frau. (S. 44f.). Die Ehe kann von einer Frau durch einen Rechtsentscheid, dem so genannten Faskh erwirkt werden. Die wichtigsten Gründe hierfür sind Verletzung der Unterhaltspflicht durch den Ehemann, Ehebruch, psychische und physische Grausamkeit, Impotenz, lange Verschollensein des Ehemannes, Erkrankung des Mannes oder dauernde Zwietracht. Das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau in islamischen Ländern wird durch die im islamischen Eherecht verankerte Forderung nach Gehorsam der Ehefrau gegenüber dem Ehemann gegenüber verstärkt. Die zahlreichen von Muhammad überlieferten Äußerungen, die eine Züchtigung der Ehefrau im Konfliktfall als legitim erachten, intensivieren die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern (vgl. Sure 4:34). Auch wenn viele islamische Gelehrte diese Deutung ablehnen, schaffen die tradierten Texte und konservativen Auslegungen in islamisch-patriarchalen Gesellschaften dennoch ein Klima, in dem Gewalt gegen Frauen vielfach toleriert wird ebenso wie das Gehorsamsprinzip und die Einschränkung von Frauenrechten. Das Motiv für den Mord ist daher mit dem durch die islamische Religion legitimierten Ehrbegriff verbunden, der in islamisch sozialisierten Familien die Frauen zum Besitz der Männer macht. Dies kommt in der Sure »Die Frau ist die Ehre des Mannes« besonders zum Ausdruck (vgl. Kelek, N. 2005, S. 34f.). Ehre und Schande im patriarchalen Sinn lassen sich nicht aus dem Koran ableiten, sondern sind vielmehr von vorislamischen Traditionen be-

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

stimmt. Diese traditionellen Auffassungen entsprechen eher einem archaischen Ehren- und Stammeskodex. Der Islam legitimiert nicht die Ausübung von Gewalt. Frauen haben die gleichen Rechte auf eine gewaltfreie Erziehung, ein selbstbestimmtes Leben und die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit wie Jungen und Männer. Der Koran sagt: »Es gibt keinen Zwang im Glauben« (2:256). Diese Aussage bezieht sich auf Zwang jeglicher Art. Der Zwang zu einer anderen Lebensweise als auch der Zwang zu einer Ehe kann nicht von der islamischen Lehre abgeleitet werden. Das in vielen islamischen Ländern ausgeübte Züchtigungsrecht des Mannes basiert auf Sure 4:34: »Und wenn ihr befürchtet, dass eure Ehefrauen widerspenstig sind, dann ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie. Wenn sie euch (daraufhin wieder) gehorchen, dann unternehmt nichts gegen sie! Allah ist erhaben und groß«. Zahlreiche Überlieferungen betonen dieses Recht des Mannes in Konfliktsituationen, in denen die Frau rebelliert. Das Züchtigungsrecht hängt eng mit der islamischen Vorstellung über die Familienehre zusammen und wird daher in der Praxis nicht auf die Beziehung zwischen Mann und Frau beschränkt. »So billigen nicht wenige muslimische Gelehrte das Züchtigungsrecht auch Vätern gegenüber ihren Töchtern und Brüdern gegenüber ihren Schwestern zu, damit sie Verhaltensweisen, die der Familienehre schaden, unterbinden können«. Eine mit islamischen Werten begründete traditionell-konservative Auffassung der Rolle der Frau schafft also ein begünstigendes Klima für die Kontrolle der Frau und für die Legitimierung von Gewalt. An dieser Stelle soll auf religiöse Führungspersönlichkeiten hingewiesen werden, die sich ausdrücklich gegen die Praxis der Ehrenmorde ausgesprochen haben. Der libanesische geistliche Führer Fadlallah hat in diesem Kontext eine Fatwa gegen Ehrenmorde veröffentlicht.54 In seiner Fatwa betont der schiitische Geistliche, dass Ehrenmorde »nicht entschuldbare Verbrechen« darstellen, die auf eine »überholte patriarchalische Stammesmentalität« beruhen würden. Zudem dürfe ein Verbrechen dem Koran nach niemals von einem Individuum geahndet werden, sondern nur von einem Gericht. Auch der palästinensische Mufti, Sheikh Abd al-Karim Kahlut, forderte in diesem Zusammenhang die Todesstrafe für Ehrenmörder, da sie nach der Sharia nicht berechtigt seien, die Todesstrafe zu vollziehen. In Deutschland hat sich der Shurarat Hamburg, Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg, in einer Presseerklärung gegen Ehrenmorde und jegliche Formen von physischer und psychischer Gewalt gegenüber Frauen geäußert.55 Das 54 | NZZ Online: Endlich eine Fatwa gegen Ehrenmorde, URL: www.nzz.ch/nachrichten /wissenschaft/endlich_eine_fatwa_gegen_ehrenmorde_1.557387.html, Zugriff am 7.4. 2007.

55 | Schura Hamburg verurteilt Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde, URL: www.mei ne-islam-reform.de/index.php/blog/45-news/187-schura-hamburg-verurteilt-zwangs verheiratungen-und-ehrenmorde.html, Zugriff am 13.6.2008.

115

116

Morde ohne Ehre

Benennen des Islam als Ursache für diese Straftaten bewertet der Rat als besorgniserregend. Trotz dieser fortschrittlichen Äußerungen islamischer Instanzen ist die parallele Existenz von unterschiedlichen Fatwas und die Deutung von Suren oder islamischen Schriften durch unterschiedliche Rechtsschulen oder Gelehrte das größte Problem bei der Verbreitung eines moderaten Islamverständnisses bezüglich der Sinnlosigkeit der Ehrenmorde dar. Je nach Rechtsschule und Islamverständnis des jeweiligen Gelehrten werden die Ehrenmorde unterschiedlich beurteilt. In der Praxis kommen Gelehrten zu unterschiedlichen Rechtsmeinungen. Es gibt für Ehrenmorde keine Instanz, die eine für die Muslime insgesamt verbindliche Entscheidung fällen könnte. Nebeneinander bestehende Auffassungen und islamistisch gesinnte Instanzen, die zum Beispiel Ehrenmorde nicht verurteilen, sind die Folge (vgl. Faraç, M. 2004, S. 23f.). Auch ein auf der Sharia basierendes Familienrecht wie es beispielsweise in Ägypten oder Jordanien angewendet wird, birgt zahlreiche Probleme, da es Männer und Frauen nicht gleichberechtigt behandelt. Zu den unterschiedlichen Rechtsschulen kommt das weite Spektrum der Haltungen dazu, bei denen man zwischen traditionalistischen, reformistischen, modernistischen, islamistischen und jihadistischen Strömungen unterscheidet. Jede Rechtsschule geht davon aus, dass die eigene religiöse Interpretation die verbindliche Norm sei. Folglich fehlt es auch hier an einer zentralen Instanz, die von allen islamischen Abspaltungen anerkannt ist und über die Sinnlosigkeit dieser Verbrechen aufklärt. Zusammenfassend lässt sich festgehalten, dass es in der Türkei überlieferte islamische Vorstellungen über Frauen gibt, die so interpretiert werden können, dass sie diskriminierende Handlungen rechtfertigen. Dennoch ist bei dieser Diskussion Ehrenmorde bei muslimischen Frauen der Rahmen für deren Lebenssituation zu berücksichtigen. Zu diesem Rahmen gehört nicht nur die Religion, sondern hier fließen ebenfalls Traditionen und Recht (Gesetzgebung) der einzelnen Länder mit ein. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Islam den Alltag und alle Gesellschaftsbereiche vor allem in ländlichen Gebieten durchdrungen hat und eine bedeutende Rolle im Leben der Menschen spielt. Dennoch sollten die islamischen Vorstellungen, die insbesondere in der Türkei je nach Schicht, religiöser Zugehörigkeit und Ort stark voneinander differieren können, nicht polarisierend als die einzige Ursache, sondern als einer der möglichen Einflussfaktoren beim Auftreten der Ehrenmorde betrachtet werden.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

1.3 E rscheinungsformen und V erbreitung der E hrenmorde in der Türkei »Die Ehrenmorde sind die blutenden Wunden einer Gesellschaft« (Hasan Gemici, Parlamentsmitglied. Zitiert in: Faraç, M. 2005, S. 167).

Basierend auf den in vorausgegangenen Kapiteln dargestellten Untersuchungen werden in dieser Arbeit Ehrenmorde als vorsätzliches Tötungsverbrechen definiert, das als Tatmotiv die Wiederherstellung der Familienehre hat, die infolge des als unehrenhaft und nicht normkonform beurteilten Verhaltens des Opfers verletzt wurde. Ein Ehrenmord ist zugleich die vorsätzliche Tötung eines Menschen, durch die – aus der Sicht des Täters – die Ehre des Getöteten, des Täters oder einer dritten Person oder Personengruppe wiederhergestellt werden soll. Als Verletzung der Ehre gilt, wenn eine Frau die ihrem Geschlecht auferlegten Regeln und Normen verletzt, beispielsweise wenn eine Frau eine außereheliche sexuelle Beziehung eingeht bzw. auch nur im Verdacht steht, dies getan zu haben. Von der Verletzung der Ehre ist die ganze Familie betroffen, vor allem die männlichen Verwandten, die als verantwortlich für den Schutz der Ehre gelten. Die Ehre gilt dann ebenfalls als verletzt, wenn eine Frau vergewaltigt wird. Ehrenmorde sind Verbrechen, die aufgrund der Auffassung über die Ehre an Frauen ausgeübt werden, die nach Ansicht der Täter die Ehre ihrer Familie befleckt hätten (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 175). Infolgedessen wird die Frau entweder durch den Familienbeirat oder durch die Entscheidung des Mannes umgebracht. Als weitere charakteristische Merkmale eines Ehrenmords werden noch folgende Aspekte hervorgehoben: • Die Familie, insbesondere die männlichen Verwandten des Opfers, sind der Ansicht, dass sie über die zugrunde liegenden Vorkommnisse urteilen können und dementsprechend befugt sind, das Strafmaß zu bestimmen. • Das soziale Umfeld und das Prinzip der Ehre üben einen großen Druck auf die Familie aus. • Die Frau, deren Ehre verletzt wird, wird als ein »beflecktes Objekt« angesehen. • Die Betroffenen glauben fest daran, dass die Familie durch den Mord ein höheres Ansehen bekommt und durch die Tat die Ehrverletzung wieder gutmachen kann. • Ehrenmorde sind ein Phänomen der östlichen und südöstlichen Teile der Türkei (S. 276). Im westlichen Strafrecht gibt es keinen Tatbestand Ehrenmord, sondern nur Mord. Da Ehrenmorde als Verbrechen dem Mord zugeordnet werden, werden die Merkmale eines Mordes kurz wiedergegeben: Ein Mord wird als die vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen unter besonders erschwerenden Umständen bezeichnet (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 56).

117

118

Morde ohne Ehre

Alle Staaten, Gesellschaften und Religionen verurteilen die Tötung von Menschen, unterscheiden jedoch nach den Umständen und machen Ausnahmen. In Deutschland ist die rechtliche Grundlage für den Mordbegriff im Strafgesetzbuch (StGB) verankert. 211 StGB lautet: »Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus sonstigen niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet«. Im deutschen Recht unterscheidet sich der Mord vom Totschlag (§ 212 StGB) dadurch, dass mindestens eines der in § 211 Abs. 2 StGB genannten Mordmerkmale im Rahmen der Tötung verwirklicht wird. Die Mordmerkmale müssen aufgrund der absoluten Strafandrohung aus Absatz 1 sehr restriktiv ausgelegt werden. Man unterscheidet in der Rechtslehre zwischen drei Merkmalsgruppen (zwei auf die Täter bezogene Kategorien und eine auf die Tat bezogene Kategorie): Bei den auf die Täter bezogenen Motiven unterscheidet man zwischen niedrigen Beweggründen, zu denen man zum Beispiel die Mordlust, die Habgier, die Befriedigung des Geschlechtstriebs oder andere Beweggründe zählt. Bei der Mordlust ist allein die Tötung eines Menschen an sich Zweck der Tathandlung. Die Befriedigung des Geschlechtstriebs tritt häufig als Mordmotiv auf (Beispiel Lustmord). Die Befriedigung erfolgt entweder direkt durch den Akt der Tötung oder im Nachhinein an der Leiche. Unter dem Mordmotiv Habgier wird das rücksichtslose Streben nach Vermögensmehrung oder Besitzerhaltung um jeden Preis verstanden. Zu den sonstigen niedrigen Beweggründen gehören Motive, die sittlich auf niedrigster Ebene angesiedelt sind. Darunter fallen z.B. Neid, Rassenhass und Rachsucht, Wut oder Eifersucht. Auch die Ehrenmorde können unter »sonstige niedrige Beweggründe« subsumiert werden. In die zweite Gruppe von Mordmotiven fallen besonders verwerfliche Vorgehensweisen bei der Tat. Die Tat selbst muss dieses Merkmal erfüllen, und zwar indem sie entweder heimtückisch oder grausam war oder mit gemeingefährlichen Mitteln durchgeführt wurde. Die auf die Täter bezogene Verwerflichkeit der auf das Delikt bezogenen Zielsetzung bildet die dritte Kategorie der Motive. Auf einen Mord steht in Deutschland eine lebenslange Freiheitsstrafe, sofern nicht das Jugendstrafrecht greift oder der Täter nicht voll schuldfähig ist. Jedem Ehrenmord geht die Verletzung der Ehre durch das Opfer voraus. Die Autorin geht auf die Gründe von Ehrverletzungen ein, die zu einem Ehrenmord führen können aber nicht müssen, da situations- und täterspezifische Faktoren auch eine wichtige Rolle hierbei spielen. Je nachdem, wie streng der Ehrbegriff ausgelegt wird, kann die Ehre einer Person sehr schnell verletzt werden. In vielen Fällen reicht als Motiv für den Täter aus, dass eine Frau von ihren Menschenrechten wie Selbstbestimmungsrecht über ihr Leben und freie Partnerwahl Gebrauch macht. Aber auch der Verdacht auf ein nicht konformes Verhalten oder unbegründete soziale Nachrede rechtfertigen für viele Täter den Mord. Vor allem empfinden die Männer die Angriffe auf die Geschlechtszugehörigkeit als eine Ehrverletzung. Viele Wissenschaftler wie zum Beispiel Carol Delaney oder Leyla Pervizat behaup-

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

ten, dass die Ehrbegriffe nach geschlechtsspezifischen Identitäten normativ und scharf getrennt werden müssen (vgl. Delaney, C. 1991, S. 72f.; Pervizat, L. 2005, S. 65f.). Jeder Mensch kommt mit Ehre (namus) auf die Welt, und man darf die Ehre einer Person erst in der Pubertät infrage stellen. Wenn man beispielsweise einen heranwachsenden Jugendlichen als ehrlos beschimpft, ist es ihm überlassen, ob er diesen Angriff annimmt oder orientiert an Verhaltenskodex seines sozialen Umfelds reagiert. Sein Verhalten hängt insbesondere von der angehörenden sozialen Schicht ab. Folglich ist die Ehre ein Wertkomplex, der maßgeblich über Hierarchie- und Machtbeziehungen in der Männergesellschaft entscheidet, über Kontrolle und Kontrolliert-Werden, über Akzeptiert-Werden oder AusgeschlossenSein. Werner Schiffauer vertritt eine ähnliche Ansicht, dass sich die Ehre des Mannes und seiner Verwandten unter anderem über die sexuelle Integrität der Frauen in der Familie, insbesondere über ihre sexuelle Enthaltsamkeit definiert (Schiffauer, W. 1987, S. 91f.). Die Ehre der zukünftigen Ehefrau und ihrer Familie könne nur dann bewahrt werden, wenn sie jungfräulich in die Ehe ginge. Die Ehre des Mannes sei aber auch bei der Überschreitung der Grenzen seines Besitzes, der Felder und des Hauses sowie bei verbalen oder physischen Angriffen auf die Angehörigen seiner agnatischen Gruppe in Gefahr. Dem Wert der Ehre (namus) liegt die Vorstellung einer klaren Grenze zugrunde, die zwischen dem »Innen«, den Bereich der Familie und dem »Außen«, der (männlichen) Öffentlichkeit des Dorfes oder der Stadt unterscheidet. Die Ehre des Mannes gilt beschmutzt, wenn diese Grenze überschritten wird, wenn jemand von außen einen Angehörigen der Familie, womöglich eine der Frauen, belästigt oder angreift. Der Mann soll sich gesellschaftlich dafür verantworten, wenn die Tochter sich nicht der Konvention gemäß kleidet; sich im Umgang mit Männern unehrenhaft verhält; wenn er von seiner Frau betrogen wird; aber auch, wenn er andere schwere persönliche Beleidigungen ohne eine Reaktion hinnehmen muss. Bei der Verletzung der Ehre drohen der Familie Grenzverletzungen und Provokationen. Der Prozess der Ausgrenzung aus der Rechtsgemeinschaft des Dorfes verläuft langsam, fast unmerklich, aber auch unaufhaltsam (S. 46f.). Der Satz »Wir leben für die Ehre« (Biz namus için yaşıyoruz) bezieht sich auf die Überzeugung, dass Integrität und Würde höher zu achten sind als das bloße Leben. Sehr wichtig ist es für die Ehre der jungen Frauen, unberührt in die Ehe zu gehen. Der Blutfleck auf dem Bettlaken, der durch die Entjungferung in der Hochzeitsnacht verursacht wird, gilt in manchen Gesellschaften als Beweismittel für die Jungfräulichkeit der Braut. In den östlichen, meist von Kurden bewohnten Regionen der Türkei wird das blutbefleckte Bettlaken als Ehrenrose bezeichnet, nach der Hochzeitsnacht, öffentlich sichtbar, stolz vor die Tür des Hauses gehängt. In den Großstädten der Türkei gilt diese Sitte meist als überholt und auch nicht als zuverlässiger Beweis, da die verursachte Blutung variabel ist und auch ganz ausbleiben kann. Unverheiratete junge Frauen suchen unter Umständen freiwil-

119

120

Morde ohne Ehre

lig einen Frauenarzt zur Attestierung ihre Jungfräulichkeit auf, um dem sozialen Druck durch Gerüchte zu entgehen. Weitere Merkmale sind für einen Ehrenmord charakteristisch:

Der kollektive Aspekt Aufgrund der sozialen Struktur in den von Ehrenmorden betroffenen Ländern werden Ehrverletzungen vom sozialen Umfeld der Betroffenen sehr streng sanktioniert. Deshalb sollte die Ehrenmordproblematik nicht als eine individuelle Angelegenheit, sondern auch als ein Phänomen mit kollektivem Charakter betrachtet werden. Da die Familie des Täters und Opfers von dem Ausmaß der Ehrverletzung und deren Wiederherstellung betroffen ist und oft am Entscheidungsprozess vor der Tat aktiv beteiligt ist, ist der kollektive Aspekt der Ehrverbrechen von zentraler Bedeutung. Nach Yılmaz zum Beispiel gibt es drei Arten von Familienehre; das normkonforme Verhalten der Frau, die Scham, die bei einer Ehrverletzung zum Vorschein kommt und das Einbeziehen des sozialen Umfelds (Kadın Araştırma Dergisi, 1996, Band 8, S. 75). Der kollektive Aspekt dieser Verbrechen kommt bei den traditionell bedingten Ehrenmorden besonders zum Ausdruck, bei denen der Familienrat den Tod des Opfers beschließt.

Der Öffentlichkeitscharakter Als einen besonderen Aspekt der Ehrenmorde betont die Juristin Vildan Yirmibeşoĝlu ihren Öffentlichkeitscharakter (S. 148). Die meisten Ehrenmorde finden auf öffentlichen Plätzen statt, um der Gesellschaft die Wiederherstellung der Ehre auch öffentlich zu demonstrieren. Da die Täter das Gefühl haben, dass die Tat vom sozialen Umfeld toleriert und sogar erwartet wird, ist die öffentliche Demonstration der Tat sehr wichtig. Als Fallbeispiel könnte man die Ermordung von Sevda Gök nennen, die zur Mittagszeit auf einem Marktplatz vor Hunderten vor Zeugen von ihrem Cousin getötet wurde. Der Täter Mehmet Tamer (14) machte die folgende Aussage bei der Polizei: »Diejenige, die ich am 26. 2. 1996 um 16 Uhr mit mehreren Messerstichen erstochen habe, war meine von mir sehr geliebte Verwandte Sevda Gök. Sie war häufiger abgehauen und hatte unsere Ehre immer wieder beschmutzt. Am Tag der Tat nahm ich ein Brotmesser von zu Hause mit. Ich sah Sevda durch Zufall in einem belebten Stadtviertel. Sie war wieder einmal abgehauen und ging alleine am Marktplatz spazieren. Weder an diesem Tag noch zu einem anderen Zeitpunkt habe ich sie mit Männern gesehen. Ich sagte Sevda, sie solle ihre Jacke ausziehen. Als sie sie auszog, stach ich in ihren Magen. Dann hielt ich sie an ihren Haaren fest und schnitt ihr die Kehle durch. Sie wehrte sich nicht und hat nicht geschrieen. Als einige Leute, die Zeugen wurden, dazwischen gehen wollten, verschreckte ich diese mit dem Messer. Ich lebe für meine Ehre, den Ruf und für das wenige Gehalt, das ich verdiene! Ich bereue die Tat nicht. Warum auch? Ich habe nur meine Ehre bereinigt« (Faraç, M. 2004, S. 67f.).

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Bei dem Ehrenmord an der 18-jährigen Rabia Oĝuz im Jahr 1995 war die Öffentlichkeit ebenfalls Zeuge des Verbrechens. Sie wurde in der anatolischen Stadt Urfa auf einer belebten Einkaufsstraße vor mehreren Zeugen mit dem Traktor mehrmals überfahren und in Stücke gerissen. Nach der Tat schossen die Täter begeistert in die Luft und feierten ihren Sieg über die wieder hergestellte Ehre und warteten geduldig auf die Polizei (Faraç, M. 2004, S. 19f.). Viele weitere Fallbeispiele, bei denen die Opfer an öffentlichen Plätzen wie belebten Straßen, am Arbeitsplatz des Opfers oder an einem öffentlichen Treffpunkt getötet werden, demonstrieren ebenfalls den Öffentlichkeitscharakter dieser Morde.

Der Druck des sozialen Umfeldes Dass die Täter durch ihr soziales Umfeld oder ihre Familie zu der Tat motiviert werden, betrachtet Yirmibeşoĝlu als einen weiteren Aspekt der Ehrenmorde (S.  163). An erster Stelle stehen die Gemeinschaft im Dorf oder Stadtviertel, die zur Tat motivieren und Druck ausüben. An zweiter Stelle steht bei den traditionell bedingten Ehrenmorden der Familienrat, der sich aus den männlichen Mitgliedern der Familie zusammensetzt. Leyla Pervizat betont, dass die Beteiligten vor der Tat sozial diskriminiert werden. Bevor der Familienrat zum Beispiel den Tod des Opfers beschließt, ist die Familie von ihrem sozialen Umfeld ausgeschlossen (Pervizat, L. 2005, S.  150f.). In dieser Periode erfahren die Familienangehörigen emotionale, physische und ökonomische Gewalt. Ihr Umfeld boykottiert sie im geschäftlichen Leben, sie werden von ihrem Umfeld nicht einmal auf der Straße begrüßt und des Weiteren von allen sozialen Aktivitäten ausgeschlossen. Wenn die Männer zu ihrem Stammcafé gehen, werden sie meist nicht bedient und keiner unterhält sich mit ihnen. Deshalb fühlen sich insbesondere die männlichen Familienangehörigen als »Wächter der Ehre« der Frauen (namus bekçisi), weil sie die soziale Diskriminierung am deutlichsten in ihrem Umfeld spüren. Viele Familien und Täter beschreiben in zahlreichen Interviews, dass sie sich vor der Tat in der Öffentlichkeit blamiert fühlten und vom ihrem Umfeld sozial diskriminiert wurden. Sie wären oft mit diesen Fragen konfrontiert worden: »Habt ihr eure Hure immer noch nicht umgebracht?« oder »Gehe und bereinige deine Ehre, erst dann kannst du mit mir sprechen wie ein Mann« (Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 86). Der türkische Soziologe Doĝu Ergil spricht in diesem Zusammenhang vom »sozialen Tod von ehrlosen Männern« (Pervizat, L. 2005, S. 36f.). Er betont, dass die Wurzeln der Ehrenmorde bei der ruralen Bevölkerung liegen, die von der Landwirtschaft lebt. Die Angehörigen der höheren Schichten sind nicht so häufig von Ehrenmorden betroffen, weil sich ihr soziales Kapital nicht auf die Ehre beschränkt. So würde sich ein Angehöriger der Oberschicht bei Untreue scheiden lassen, während jemand aus den unteren Schichten seine Frau umbringen würde.

121

122

Morde ohne Ehre

Der geschlechtersoziologische Aspekt Auch die geschlechtersoziologischen Aspekte spielen eine große Rolle bei diesen Morden, da jüngere Männer zum Beispiel Ehrenmorde unter anderem deshalb begehen, weil sie eher dem Männlichkeitskult huldigen und ihre Männlichkeit unter Beweis stellen müssen (vgl. Ergil, D. 1980, S.  210). Die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen dem Mann und der Frau sind ebenfalls von Bedeutung, da diese auf Ungleichheit basieren und die Unterdrückung der Frauen fördern (vgl. Ilkaracan, P. 2002, S. 34; Pervizat, L. 2005, S. 56). Wie sehr die Person, deren Ehre befleckt ist, von den Angehörigen und dem sozialen Umfeld missachtet wird, zeigt das folgende Zitat einer Mutter, bei der die Tochter Zuflucht suchte: »Auch wenn du dich in einem Grab versteckst, sie werden dich nicht leben lassen. Wenn ich höre, dass du gestorben bist, dann werde ich selbst dein Grab öffnen, werde ich noch einen Schuss abfeuern. Nur so glaube ich an deinen Tod. Du hast uns blamiert« (Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 99). Viele Fälle, aber auch die Berichterstattung über Ehrenmorde belegen, dass die Leichen der ermordeten Frauen post mortem oft geschändet werden. Der Gerichtsmediziner Şevki Sözen bestätigte diese Annahme in dem mit ihm durchgeführten Interview vom 6.12.2005.

Das hohe Gewaltpotenzial und die Kaltblütigkeit der Täter ist ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Morde. Es gibt sehr viele Fallbeispiele, die von der außergewöhnlichen Brutalität dieser Taten zeugen: Bei einem Ehrenmord in der ostanatolischen Stadt Aĝrı gab ein Ehemann insgesamt Schüsse auf seine Frau ab, weil er sie der Untreue verdächtigte (Amargi, 2004b, S. 12). Viele Fälle, bei denen dem Opfer Salzsäure auf ihr Gesicht gespritzt und die danach gefoltert worden, sind weitere Beispiele für das hohe Gewaltpotential bei der Mehrheit dieser Morde (vgl. Faraç, M. 2004, S. 45). Oft wenden die Täter mehr Gewalt an, als es für das Töten des Opfers notwendig ist. Dies wird in der Fachliteratur mit dem Begriff Overkill bezeichnet. Auch einige Sanktionen vor der Tat sind von extremer Aggressivität geprägt. In östlichen Teilen der Türkei kommt es heute noch – allerdings selten – vor, dass einer Frau, deren Ehre als befleckt gilt, als Warnung vor einem Ehrenmord die Nase abgeschnitten wird. Eine 29-jährige Frau aus Batman, die nur die Grundschule absolviert hat, erwidert die Frage bei einer Umfrage des Fraueninstituts KSGM, warum manchen Frauen als Warnung vor einem Ehrenmord die Nase abgeschnitten wird: »Um sie zu beschämen, denn schließlich hat sie auch Schande über ihre Familie gebracht. Warum schneidet man nicht einen Finger ab, sondern die Nase? Weil sie die anderen Körperstellen verstecken kann, aber die Nase nicht. Mein Mann würde mir das Gleiche antun. Natürlich. Er würde es machen, ohne Mitleid zu haben« (Aĝduk, M., Kardam, F. 2005, S. 31).

Einteilung der Ehrenmorde in Bezug auf Motiv und Status der Täter Die traditionellen Brauchmorde, bei denen der Familienrat den Tod des Opfers und den Ausführenden der Tat beschließt. Im Englischen werden diese Morde

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

als Custom related killings und im Türkischen als Töre cinayetleri umschrieben. Die Blutrache wird als eine Kategorie dieses Mordtypus betrachtet. Die traditionellen Brauchmorde werden meist an jungen Mädchen ausgeübt, die aufgrund ihres nicht konformen Verhaltens oder des Verdachts dieses unmoralischen Verhaltens von einem Familienmitglied getötet werden. Dass die Täter versuchen, das Opfer vor dessen Tötung zum Selbstmord zu überreden, kommt ebenfalls vor, weil kein Familienmitglied des Opfers für die Tat ins Gefängnis gehen möchte. Es ist üblich, dass die jüngsten Söhne, die Brüder des Opfers die Tat ausführen, weil sie für ihre Familie keinen so großen wirtschaftlichen Verlust bedeuten wie zum Beispiel das Familienoberhaupt. Die geringeren Strafen für jugendliche Täter bilden einen weiteren Anreiz, dass jüngere Familienmitglieder des Opfers vom Familienrat zum Täter bestimmt werden. Typisch für individuell begangene Ehrenmorde ist die Empfindung des Täters, dass seine Ehre durch das Verhalten des Opfers beschmutzt wurde. Dass der Täter die Tat allein plant und sie allein ausführt, sind weitere Kennzeichen dieser Morde. In der Mehrheit dieser Fälle ist der Täter der Partner oder der ehemalige Lebensgefährte des Opfers. Ehrenmorden an Männern, die die Ehre einer Frau verletzt haben: Bei diesen Ehrenmorden sind Männer die Opfer. Der Täter oder oft auch die Täterin versucht durch die Tat denjenigen zu töten, der die Ehre einer anderen Person, meist die Ehre des Täters oder der Täterin beschmutzt hat. Im Gegensatz zur anderen individuell begangenen Ehrenmorden wird hier nicht die Person mit der befleckten Ehre, sondern der Verursacher der Ehrverletzung getötet. Diesem Mordtypus begegnet man insbesondere infolge von sexuellen Belästigungen an Frauen. Ein auffallender Aspekt dieser Verbrechen ist, dass die Frauen im Gegensatz zur anderen Arten von Ehrverbrechen genauso häufig wie die Männer als Täter agieren. Ehrenmorde infolge von Affekthandlungen und Eifersucht haben viele Gemeinsamkeiten mit Affektmorden in westlichen Ländern. Dazu zählen Morde, die aufgrund von Untreue oder des Verdachts von Untreue seitens des Opfers begangen werden oder bei denen das Opfer die Gefühle des Täters nicht erwidert. Leyla Pervizat zum Beispiel schreibt alle Formen von Ehrenmorden diesem Typus zu. Als Ursachen für Ehrenmorde, die auf Täter dieser Deliktarten zeitgleich einwirken, betrachtet die Verfasserin folgende Aspekte: 1. die Betrachtung der Ehre als Lebensmaxime und die Orientierung an Traditionen 2. die patriarchalen Beziehungen innerhalb der Familie infolge des Machtungleichgewichts der Geschlechter und der Kontrolle der Männer über Frauen 3. die sozioökonomischen Bedingungen 4. der Erwartungsdruck des sozialen Umfeldes, der insbesondere in sozial schwachen Gebieten durch soziale und wirtschaftliche Diskriminierung der Betroffenen zum Ausdruck kommt 5. persönliche Faktoren wie Eifersucht oder Misstrauen, die insbesondere bei Ehrenmorden mit Affektcharakter auftreten.

123

124

Morde ohne Ehre

Ursachen der Ehrenmorde Persönliche Faktoren

Ehrenkodex als Lebensmaxime

Sozioökonomische Bedingungen

Patriarchalische Beziehungen

TÄTER

Erwartungsdruck des sozialen Umfeldes

Falsche Interpretation islamischer Glaubensvorstellungen

Abbildung 2: Ursachen der Ehrenmorde (eigene Darstellung) Doĝu Ergil unterscheidet zwei Gewaltformen in der türkischen Gesellschaft: Blutrache und Ehrenmorde (Ergil, D. 1999, S. 187). Beide sind überwiegend in Regionen mit dörflicher Bevölkerung anzutreffen und werden durch die besonderen Gegebenheiten in diesen Regionen verursacht. Da die rurale Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten Einschränkungen, hinnehmen muss, sind als Ausgleich die innerfamiliären Beziehungen von enormer Bedeutung. Die Unterentwicklung der dörflichen Gebiete hat zudem dazu beigetragen, dass sich moderne gesellschaftliche Regeln nicht etablieren konnten. Auch ist die moderne Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau nicht in diese Gebiete vorgedrungen. Dadurch beruht die Aufgabenverteilung weiterhin auf traditionellen Maßstäben und stärkt so die Identifizierung mit den traditionellen Rollenmustern. Nach Mahmut Tezcan führen die kulturellen Ursprünge von Gewalt in der türkischen Kultur zur Ehrenmorden und spiegeln zudem das Wertesystem der ruralen Bevölkerung wider (Tezcan, M. 2000, S. 21). Er vertritt die These, dass Ehrenmorde häufiger in unteren sozialen Schichten auftreten und daher ein Phänomen der Unterschicht sind, da sie dort vom sozialen Umfeld toleriert und sogar gefordert werden. Die engen Verwandtschaftsbeziehungen in der dörflichen Bevölkerung würden die Morde begünstigen und im Widerspruch zur Modernisierung stehen, die eher durch Individualität gekennzeichnet. Dass Ehrenmorde auch in Städten auftreten, erklärt Tezcan damit, dass die Migranten aus den Dörfern ihr Wertesystem in Städten als ein Parallelsystem zu der städtischen Kultur befolgen. Der Journalist Mehmet Faraç vertritt die These, dass die sozioökonomischen Missstände in den dörflichen Gebieten die Hauptursache für Ehrenmorde sind. Er betont, dass in dem so genannten GAP (Güney Anadolu Projesi) Gebiet 70 Prozent aller Häuser aus Gecekondus bestehen.56 Dass viele Kinos, Gaststätten oder 56 | GAP ist das größte regionale Entwicklungsprojekt der Türkei. Ziel dieses Projekts ist es, mithilfe von Staudämmen, Bewässerungsanlagen und Wasserkraftwerken entlang der

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

andere Örtlichkeiten zwischen 1980 und 2000 von den regierenden Bürgermeistern geschlossen wurden, hätte die kulturelle Entwicklung dieser Gebiete fast um 50 Jahre zurückgeworfen (Faraç, M. 2005, S. 175f.). Die geringe Bildung der Bevölkerung dieser Gebiete hätte zudem das starre Festhalten an überkommenen Traditionen verstärkt. Die hohe Arbeitslosigkeit wäre ein weiteres Problem. Da die Familien weder über finanzielle Mittel noch über eine umfassende Bildung verfügen würden, blieben ihnen nur ihre Ehre und ihr Glaube. Das feudale System, die Klanstrukturen und die extreme Religiosität gibt Faraç als weitere Gründe für das Auftreten dieser Verbrechen an. Da er bei den Taten die sozioökonomischen Bedingungen unterstreicht, denen Täter und Opfer gleichermaßen unterliegen, führt er an, dass nicht die jeweilige Gesellschaft die Ehrenmorde verursacht, sondern die fast mittelalterliche Lebenssituation der Täter. Im Folgenden äußern sich Führungspersönlichkeiten aus den anatolischen Gebieten über die Ursachen der Ehrenmorde. Feridun Yazar, ein Lokalpolitiker aus der südostanatolischen Stadt Urfa, meint: »Ursache der Ehrenmorde sind die ökonomischen Schwierigkeiten, die der Kapitalismus und das feudale System hervorrufen. Die Menschen, die diese Morde begehen, konnten weder von der Modernisierung noch von der Kultur oder dem Rechtssystem profitieren. Das Einzige, was sie kennen, sind die alten Traditionen, nach denen sie sich seit Jahrhunderten richten. Die Ehrenmorde geschehen ebenfalls in den Großstädten, weil die dorthin emigrierte Dorfbevölkerung mit der neuen sozialen Struktur der Großstädte und der damit verbundenen Modernisierung nicht zurechtkommen« (Faraç, M. 2004, S. 154).

Der Anwalt Müslüm Akalın aus Urfa erklärt die zunehmende Landflucht in diesen Gebieten mit folgenden Argumenten: »Die Landreformen, das GAP-Projekt und die Angst vor dem PKK-Terror sind die Hauptursachen dafür, warum die ländliche Bevölkerung in die Städte emigrierte. Doch die ländliche Bevölkerung nahm ihre Traditionen und ihre Lebensweise mit in die Großstädte. Das Konfliktpotenzial ist sehr groß, da in den Städten die ländliche Lebensweise auf die moderne Lebensweise trifft« (a.a.O.).

In diesem Zusammenhang kritisiert der ehemalige Bürgermeister der Stadt Urfa aus den 1990er Jahren, Şehabettin Harput, dass der türkische Staat in die ökonomische Struktur der anatolischen Gebiete zum Beispiel durch das GAP Projekt viel investiert habe, aber dabei die Investitionen in die schulische Bildung in diesen Gegenden außer Acht ließ: beiden Flüsse Euphrat und Tigris das Wasserpotential der südostanatolischen Gebiete zu kontrollieren und den wirtschaftlichen Fortschritt dieser sonst trockenen Gebiete zu fördern.

125

126

Morde ohne Ehre »In unserer Bevölkerung gibt es viele nicht gebildete Unwissende und gebildete Unwissende. Als Drittes kommt dazu, dass unsere Bevölkerung sehr religiös ist. Aber wenn Unwissenheit mit extremer Religiosität zusammentrifft, ist dies sehr gefährlich. Wenn die Menschen daran glauben, dass sie ihre Tat für ihre Religion begehen, ist es sehr schwer, sie vom Gegenteil zu überzeugen«.

Die Soziologen Aygül Fazlıoĝlu und Ibrahim Tuĝrul heben mit ihren Argumenten die Rolle der Medien im Konflikt zwischen den traditionellen Werten und den westlichen Kulturwerten hervor. Die Frauen in den anatolischen Gebieten seien von den amerikanischen Seifenopern sehr fasziniert und diese Faszination würde sie motivieren, sich gegen die bestehenden Traditionen aufzulehnen. Sencer, ein Mitarbeiter des GAP-Projekts, ist der Meinung, dass die Auswirkungen des feudalen Systems wie zum Beispiel die Klanbildung oder der große Respekt gegenüber den Landbesitzern, für die die Mehrheit der Bauern arbeitet, die Menschen in ihren Freiheiten einengt (S. 160). Er berichtet in diesem Zusammenhang von der ersten Versammlung gegen die Ehrenmorde, die am 28.3.1998 in Şanlıurfa stattfand. Bei dieser Versammlung sprach Ibrahim Harput wie folgt an die 299 Anwesenden »Niemand darf den anderen im Namen der Religion oder der Traditionen umbringen. Töten ist das Unmenschlichste überhaupt. Vertraut dem Rechtssystem. Bringt niemanden um! Rettet den Ruf unserer Gegend! Verkauft eure Töchter nicht! Sind sie irgendwelche Güter? Heiratet sie nicht gegen ihren Willen! Es ist ganz normal, wenn sie dann flüchten. Wenn ihr sie umbringt, nennt ihr das Tradition! Es gibt keinen Mord aus traditionellen Motiven! Die Ehrenmorde müssen ein Ende haben!« (S. 163f.). Leutnant Salih Güloĝlu machte das folgende bizarre Angebot an die Zuhörer: »Unsere Gegend wird nur mit den Ehrenmorden in Verbindung gebracht. Niemand berichtet von unseren kulturellen und ökonomischen Errungenschaften. Es liegt in Eurer Hand, dies zu ändern. Wenn ihr unbedingt jemanden töten wollt, dann macht das in Rahmen von Gesetzen und kommt zum Militär und bringt eure Feinde um, aber nicht euch!« (S. 163f.).

Alle 299 Teilnehmer, unter anderem viele Klanführer und Landbesitzer, unterschrieben eine Erklärung, in der sie sich gegen die Blutrache, den Brautpreis und die damit verbundenen Verbrechen äußerten. Aber zwei Stunden nach dem Ende der Versammlung gab es zwei Blutracheverbrechen zwischen zwei Teilnehmern, bei denen zwei Menschen starben. Ehrenmorde finden in unterentwickelten Gebieten mit sozioökonomischen Problemen einen Nährboden (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 275f.). Insbesondere die schlechte finanzielle Situation der Familien zwingt sie, an alten Traditionen festzuhalten und ständig in Angst davor zu leben, dass die Ehre eines Familienmitglieds durch irgendein Verhalten bedroht werden könnte. Die Juristin Vildan Yirmibeşoĝlu kritisiert den türkischen Staat, weil die staatlichen Organisationen diese unterentwickelten Gebiete nicht erreicht hätten. Gegenüber staatlichen In-

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

stitutionen würden die Bewohner dieser Gegenden Scheu und Angst empfinden. Dazu habe beigetragen, dass während der PKK-Zeiten viele Dorfbewohner dazu gezwungen wurden, ihre Dörfer aufzugeben. Die ökonomischen Bedingungen, die Religiosität und die schlechte Bildung der Menschen führten dazu, dass sich alte Wertvorstellungen im Zuge der Modernisierung noch nicht geändert hätten. Schuld an der Unterentwicklung dieser Gebiete ist die Tatsache, dass Atatürks Reformen in diesen Regionen auch nach 70 Jahren noch nicht umgesetzt wurden. Folgende Verhaltensweisen der Opfer gelten als Tatmotiv für die Täter: Scheidungs- oder Trennungswunsch, neuer Partner, erwiesene Untreue oder Verdacht auf Untreue, Heirat der Mutter des Täters mit einem anderen Mann, eine voreheliche Beziehung des Opfers, Nachrede über eine angebliche Beziehung, außereheliche Schwangerschaft des Opfers, Flucht des Opfers aus dem Elternhaus, Heiraten ohne die Zustimmung der Eltern, Brautentführung, Verlust der Jungfräulichkeit vor der Heirat, freizügige Kleidung des Opfers,Vergewaltigung, Belästigung des Täters durch das Opfer, Beleidigung der Familienehre. Diese aufgeführten Verhaltensweisen können gemäß den Angaben von Yirmibeşoĝlu entsprechend dem Status des Opfers infolgende Kategorien zusammengefasst werden (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 277): 1. Bei den unverheirateten Mädchen sind meist folgende Verhaltensweisen für einen Ehrenmord ausschlaggebend: Klatsch wegen »zuviel« Unterwegssein, Lebens- und Kleidungsweise nach westlichen Standards, eine voreheliche Beziehung, Flüchten zum Liebhaber, keine Blutung in der Hochzeitsnacht zu haben, eine uneheliche Schwangerschaft oder Opfer einer Vergewaltigung zu werden. 2. Bei verheirateten Frauen spielen diese Gründe eine Rolle: sich nicht nach dem Willen des Mannes zu richten, Scheidungswunsch, soziale Nachrede, eine uneheliche Beziehung, Flucht zum Liebhaber, Verdacht auf Untreue und die Verweigerung der Versöhnung mit dem Ex- Mann. 3. Witwen können dagegen aufgrund folgender Verhaltensweisen im Namen der Ehre getötet werden: Flüchten zum Liebhaber, erneuter Heiratswunsch oder Heiraten, nicht mit der Familie ihres verstorbenen Ehemannes leben wollen, allein zu wohnen oder Opfer von sozialer Nachrede zu werden. Als Alternativen zu einem Ehrenmord sieht Vildan Yirmibeşoĝlu folgende Möglichkeiten: Zum Selbstmord zwingen, der Familie des Opfers eine Geldsumme anbieten (zum Beispiel infolge einer Vergewaltigung) oder im Austausch die Schwester des Opfers zu heiraten (wenn beispielsweise eine Tochter der Familie zu ihrem Freund flüchtet und als Wiedergutmachung für diese Schande ihre Schwester mit dem Bruder des Bräutigams ohne Brautpreis geehelicht wird). Umzug in eine andere

127

128

Morde ohne Ehre

Stadt sei eine weitere Möglichkeit, könne aber aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen selten realisiert werden. Yirmibeşoĝlu spricht in ihren Studien von folgenden Reaktionsmöglichkeiten des Opfers vor einem bevorstehenden Ehrenmord: Fliehen, Selbstmord begehen, zur Polizeiwache gehen, Hilfesuchen bei Dorfvorstehern oder anderen lokal wichtigen Persönlichkeiten, Hilfesuche bei Frauenhäusern, »wie ein Opferlamm auf den Tod warten«, nicht die eigene Familie anzeigen, Fliehen zum Nachbarn oder Hilfe bei staatlichen Einrichtungen suchen (S. 98). Für die Familie des Opfers gäbe es dagegen nur drei Möglichkeiten: (a) Sie unternimmt nichts. (b) Sie ruft den Familienrat zusammen und beschließt den Tod des Opfers. (c) Die Familie zieht in eine andere Stadt. Als Mordwaffen und Tötungsmethoden unterscheidet sie folgende Varianten: (1) Messer (Axt, Küchenmesser); (2) Waffen (Schusswaffe, Jagdgewehr, Kalaschnikow); (3) Erwürgen (mit der Hand oder mit einem Seil); (4) Steinigung des Opfers oder Erschlagen mit einem Stock; (5) den Hals brechen; (6) Folter; (7) Überfahren (z.B. mit einem Traktor); (8) Ertrinken. Die Verstümmelung der Geschlechtsteile käme ebenfalls vor. Als Tatorte der Ehrverbrechen gibt sie folgende Örtlichkeiten an: zu Hause, auf der Straße, am Flussufer, auf dem Feld, im Auto und am Arbeitsplatz des Opfers (S. 145). Yirmibeşoĝlu bemängelt bei den polizeilichen Ermittlungen, dass in vielen Fällen nicht gut recherchiert wird und dass die Beweise am Tatort nicht genauestens inspiziert werden (S. 152). Hinzu kommt die Tatsache, dass die Zeugen ihre Aussagen vor dem Gericht ändern würden, weil sie oft von der Gegenseite bedroht würden, wenn sie keine Falschaussage machen würden. In den meisten Fällen würden deshalb die Zeugenaussagen im Gericht mit den zuvor bei der Polizei gemachten Aussagen nicht übereinstimmen. Als Grund dafür würden sie bei der Gerichtsverhandlung angeben, dass die Polizei sie dazu gezwungen habe oder dass sie Angst vor der Polizei gehabt hätten. Dass die Zeugen in den meisten Fällen nahe Angehörige des Täters wären, würde die Angelegenheit schwieriger gestalten und zudem würde eine Aussage gegen den Täter dem Verrat an der ganzen Familie gleich kommen. Aufgrund dieser falschen Aussagen würden die Täter viel kürzere Strafen bekommen oder mangels Beweise entlassen. Auch die Autorin machte diese Beobachtung. Als sie mehrere Gerichtsverhandlungen zu Ehrenmorden am Strafgericht in Istanbul als Zuhörerin verfolgte, nahmen viele Zeugen während der Verhandlung die Aussagen, die sie zuvor der Polizei gemacht hatten zurück. Ein weiteres Problem ist, dass man den Vorsatz dieser Verbrechen schwer nachweisen kann. Auf der Seite des Opfers steht nur die Staatsanwaltschaft. Nur diejenigen können im Namen des Opfers Anklage erheben, die durch die Tat Schaden erlitten haben. Hinzu kommt, dass alle Versuche von engagierten Anwälte und Frauenrechtlern, die das Opfer verteidigen wollen, abgelehnt werden, da sie von der Tat nicht direkt betroffen sind.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Konsequenzen der Nichtausführung der Tat Im Folgenden wird darauf eingegangen, welche Konsequenzen sich daraus ergeben können, wenn die Täter nicht mit einem Ehrenmord auf die Ehrverletzung reagieren. Die Konsequenzen betreffen die soziale Diskriminierung der betroffenen Familie durch das soziale Umfeld und sich die daraus ergebenden sozialen, wirtschaftlichen und persönlichen Nachteile. Die vielen Ehrenmorden vorausgehende soziale Diskriminierung im sozialen Umfeld bekräftigt viele Täter in ihrer Sichtweise, dass sie nur nach der Wiederherstellung der Ehre wieder sozial lebensfähig sein können. Der Verlust oder die Beschädigung des sozialen Ansehens oder Rufes machen den Täter als angreifbar. Die soziale Diskriminierung ist hingegen umso größer, je enger die Beziehungen der Täter zu ihrem sozialen Umfeld und je mehr sie der Kontrolle durch das soziale Umfeld ausgesetzt sind. Familienmitglieder werden nicht im sozialen Umfeld respektiert und genießen nicht mehr den Schutz, den sie als ehrenhafte Mitglieder der Gemeinschaft vorher genossen haben. Als Beispiel werden alle weiblichen Familienmitglieder der Person, deren Ehre als beschmutzt gilt, ebenso als unehrenhaft empfunden. Im Zuge dessen könnten sie jeder Zeit von anderen belästigt und schlecht behandelt werden, da sie nicht mehr den Schutz und Respekt der Gemeinschaft genießen. Mehmet Faraç berichtet in diesem Kontext von Vergewaltigungen an den weiblichen Mitgliedern der als unehrenhaft geltenden Familien (vgl. Faraç, M. 2004, S. 45f.). Genauso könne es vorkommen, dass die weiblichen als auch die männlichen Familienmitgliedern schlechte Chancen auf Eheschließungen hätten, weil der Ruf ihrer Familie geschädigt ist. Ein wichtiger Faktor, der das soziale Überleben der Familie bedroht, ist die Gefährdung der finanziellen Ressourcen. Es ist üblich, dass die betroffenen Familien bei ihren Erwerbstätigkeiten bewusst diskriminiert werden und großen wirtschaftlichen Schaden davon tragen. Betroffene Familien berichten davon, dass ihre Geschäfte von ehemaligen Kunden nicht mehr aufgesucht wurden und dass sie infolge der wirtschaftlichen Verluste ihre Geschäfte schließen mussten (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2004, S. 24f.). Von der Nachbarschaftshilfe, die insbesondere in ländlichen Gebieten im Zuge der sozioökonomischen Missstände sehr wichtig ist, können die betroffenen Familien in der Mehrheit nicht mehr profitieren und im Alltag auf sich allein gestellt. Üblich ist auch, dass die betroffene Familie von allen sozialen Aktivitäten der Gemeinschaft ausgeschlossen wird und am sozialen Leben nicht mehr teilnehmen ann. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die engen sozialen und gemeinschaftlichen Kontakte in dörflichen Gegenden von großem Nachteil (vgl. Pervizat, 2005, S. 59f.). Die als unehrenhaft geltende Familie wird von der Gemeinschaft als ein schwaches Glied wahrgenommen, das nicht entsprechend den Traditionen und Regeln der Gemeinschaft reagiert hat. Bei Blutrache kommen die ökonomischen Nachteile besonders zur Geltung. Auch hier gilt das Prinzip des Stärkeren. Das Überleben der Stärkeren in diesen Gebieten erklärt ein Dorfvorsteher so: »Wenn eine Familie schwächer als die ver-

129

130

Morde ohne Ehre

feindete Familie ist, traut sie sich manchmal nicht, sich der anderen Familie zu widersetzen. Der Stärkere reißt dann den Grundbesitz der anderen Familie an sich und ändert zum Beispiel den Verlauf der Wasserkanäle. Die schwächere Familie hat drei Möglichkeiten – entweder wird sie den Mord auf sich nehmen, die Nachteile in Kauf nehmen oder ihre Heimat verlassen« (Faraç, M. 2006, S. 54). Mehmet Faraç weist in diesem Kontext auf die Statusunterschiede zwischen den einzelnen Schichten hin und betont, dass die Folgen einer Ehrverletzung bei sozial schwachen Familien größer und dramatischer Natur sind als bei Angehörigen der sozial besser gestellten Schichten: »Die Töchter von reichen Familien werden nie umgebracht. Die Wohlhabenden haben ihr Prestige und ihren Besitz, da wird es keiner wagen, das Verhalten der Familientochter infrage zu stellen. In Anatolien kann ein Vater durchdrehen, wenn schlecht über seine Tochter geredet wird. Derselbe Vater dagegen würde anders reagieren, wenn er in Istanbul leben würde. Die geografischen Bedingungen und die sozialen Faktoren prägen enorm das Verhalten des Individuums. Die Menschen im Südostanatolien werden von der Gesellschaft mehr unter Druck gesetzt« (Interview mit Mehmet Faraç, vom 11.10.2005). Man lebt für die Ehre und tut alles, um sie zu beschützen, gegebenenfalls nimmt man den Tod eines geliebten Menschen in Kauf, wenn dafür die Ehre der ganzen Familie wiederhergestellt werden kann. Der Mord zur Reinigung der befleckten Ehre wird als ein notwendiges und unvermeidbares Opfer betrachtet. Nur der Ehrenmord kann die soziale Diskriminierung und den sozialen Tod verhindern. Leyla Pervizat gab eine schlüssige Antwort bezüglich der sozialen Diskriminierung der Täter: »Es geht hier um einen Existenzkampf. Eine als ›unehrenhaft« betrachtete Person wird von der Gesellschaft ausgeschlossen, keiner begrüßt diese auf der Straße, keiner redet mit ihr. Damit meine ich, dass all dies eine Weile andauert und die Ehrenmorde nicht sofort begangen werden. Bei diesen Morden haben wir eine große physische Gewalt gegenüber den Frauen, aber genauso hohe psychische Gewalt gegenüber Männern. Die Männer werden regelrecht zu dieser Tat gezwungen. Die Menschen, die von diesen Morden betroffen sind, fühlen sich außerhalb dieser Gesellschaft. Die Mörder empfinden die Tat als lebensnotwendig und keiner kann sie daran hindern« (Interview mit Leyla Pervizat, vom 7.10.2005). Die Frauenrechtlerin Nebahat Akkoç erklärt den sozialen Druck auf den Täter wie folgt: »Wenn sich eine Frau im Augen ihrer Familie unehrenhaft verhalten hat, wird sie nicht sofort umgebracht. Es vergeht eine Weile, meistens zwischen 3 und 5 Monaten. Das soziale Umfeld übt einen enormen Druck auf diese Familie aus. Die Familie wird bedroht. Man diskriminiert sie wirtschaftlich, aber auch sozial. Die Nachbarn ziehen sich zurück. Die Familie verliert an Macht und Status. Um die Familie zu retten, opfern sie die Frau. Das machen sie auch nicht mit Freude. Ich kenne Mütter, die zwei Jahre lang um ihre getöteten Töchter getrauert haben. Aber die Familie weiß nicht, wie sie sonst sozial überleben kann. Diese Menschen

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

haben einen sehr geringen Status in der Gesellschaft. Folglich haben sie nichts anderes als ihre Ehre. Dass die Täter keine Reue zeigen, hängt mit dem gesellschaftlichen Druck und den Erwartungen zusammen. Es gibt auch viele Familien, die in andere Städte ziehen, um nicht ihre Tochter zu opfern« (Interview mit Nebahat Akkoç vom 9.11.2009).

Das Verhalten der gesellschaftlichen Instanzen Das Verhalten dieser Instanzen ist von Bedeutung, weil sie durch ihre Reaktionen die gesellschaftliche Tolerierung dieser Morde schwächen, aber auch bekräftigen können. Im Folgenden werden einzelne Gruppierungen bezüglich ihre Rolle bei diesen Morden untersucht:

Die Rolle der Frauen Leyla Pervizat vertritt die These, dass Frauen erst dann zu Opfern von Ehrenmorden werden, wenn sie sich gegen die Männergesellschaft und deren Wertesystem stellen. Dennoch ist zu betonen, dass Frauen nicht nur in der Opferrolle vertreten sind. Beispielsweise gibt es Fälle, bei denen Frauen diese Morde begangen haben oder sie Beihilfe zum Mord geleistet haben. Auch bei übler Nachrede und Klatsch kommt den Frauen ebenfalls eine große Rolle zu (vgl. Pervizat, L. 2005, S. 50f.). Nach Angaben von Vildan Yirmibeşoĝlu sind die Täter meist die Väter, Brüder, Verwandte oder Lebenspartner der Frauen. Dass Frauen an den Morden beteiligt sind, ist ebenfalls zu beobachten. Manchmal sagt eine Mutter ihrer Tochter, deren Ehre befleckt ist, dass sie sich ihren Selbstmord wünscht. Anderenfalls würde ihr Sohn sie umbringen und ins Gefängnis kommen. Somit hätte sie zwei Verluste, aber wenn sich ihre Tochter umbringen würde, müsste sie nur um ein Kind trauern. Einige Frauen sind bei der Realisierung der Tat ebenfalls aktiv beteiligt. Oft verlassen alle Familienmitglieder zum Tatzeitpunkt das Haus, damit keiner anwesend ist, wenn das Opfer umgebracht wird. Die Frauen seien es, die mit oft streng traditioneller Einstellung auf Wahrung der Familienehre achten und folglich auch zu der Tat drängen, bisweilen sogar sich selbst an der Durchführung der Tat beteiligen würden (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 24f.).

Rolle der staatlichen Instanzen Nach Yakın Ertürk hat eine Untersuchung der Menschenrechtskommission der Europäischen Union ergeben, dass die Polizei im Jahr 2004 bei 22 ermordeten Frauen nichts zu deren Schutze beigetragen hat, als diese sich vor ihrem Tod an sie gewandt hätten. Unter anderem auch bei Güldünya Tören, die von der Polizei in Bitlis Schutz suchte, aber wieder nach Hause geschickt wurde. Die Polizei war auch nicht fähig, die schwer verletzte, auf der Intensivstation liegende Güldünya vor ihrem Bruder zu schützen, der im Krankenhaus erneut auf sie geschossen hatte. Die Polizei hätte längst vorher bei dem ersten versuchten Totschlag die Brüder als Tatverdächtige festnehmen müssen. Die Gendarmerie, die in Dörfern meist die erste Anlaufstelle für gefährdete Frauen ist, verhält sich oft genauso und schickt

131

132

Morde ohne Ehre

die Mädchen, die Zuflucht suchen, nach Hause zurück, wo sie dann später umgebracht werden. Vildan Yirmibeşoĝlu kritisiert in diesem Zusammenhang die Verhaltensweisen staatlicher Instanzen wie die Dorfbeschützer, die vom türkischen Staat als Schutz gegen den PKK-Terror eingesetzt wurden. Viele Ehrenmorde seien seltsamerweise mit den Waffen dieser Personen verübt worden (S. 172f.). Einige Ärzte verhalten sich ebenfalls problematisch, wenn sie beispielsweise die gesetzlich verbotenen Jungfrauentests vornehmen würden, obwohl ihnen bewusst sei, dass die jungen Mädchen im Fall des Verlustes ihrer Jungfräulichkeit meist umgebracht werden (S. 116). Als positiv beurteilt Yirmibeşoĝlu die Schrift »Über Ehre und Keuschheit« des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten. In der Schrift wird betont, dass Keuschheit und Sexualität im Rahmen der gesellschaftlich vorgeschriebenen Normen ausgelebt werden sollte. Wenn man sich nach den religiösen Werten richtet und in diesem Rahmen seine Sexualität auslebt, kann man so am besten seine Ehre verteidigen. Dies würde sich auf beide Geschlechter beziehen und nicht nur auf die Frauen. Zudem verurteilt diese Schrift alle, die sich selbst anmaßen, über die Ehre einer anderen Person zu bestimmen und sie im Fall der Ehrlosigkeit zu töten (S. 117). Zu kritisieren wäre hierbei, dass nur das Ausleben der Sexualität im Rahmen einer Ehe als ehrenhaft betrachtet wird. Yirmibeşoĝlu berichtet von ihren Erfahrungen bei Gesprächen mit wichtigen Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung. Sie gibt an, dass viele Politiker Eh­ renmorde tolerieren und manche ihre Toleranz sogar offen zum Ausdruck bringen würden. Sie zitiert aus einem Gespräch mit einem Bürgermeister einer südöstlich gelegenen Großstadt, der einen Ehrenmord, bei dem ein Mädchen wegen einer unehelichen Schwangerschaft umgebracht wurde, wie folgt kommentierte: »Also, warum wollen Sie darüber reden? Das Mädchen hat es verdient, zu sterben« (S. 117). Im Folgenden werden einige prägnante Fallbeispiele wiedergegeben, die Aufsehen erregten und im Zusammenhang mit öffentlichen Diskussionen immer wieder von den türkischen Medien zitiert werden. Der Journalist Mehmet Faraç berichtet von folgenden außergewöhnlichen Ehrenmorden, die sich in seinem Herkunftsort Şanlıurfa zwischen 1994 und 1996 ereigneten (Faraç, M. 2004, S. 19f.): • Der 26-jährige Salih Ocak bringt nach dem Freitagsgebet in der Moschee seine Schwester um, weil sie sich gegen ihn aufgelehnt habe. Er zeigte sich überzeugt, dass es eine gute religiöse Tat sei. • Die 18-jährige Rabia Oĝuz wurde auf einer belebten Einkaufsstraße vor mehreren Zuschauern mehrmals mit dem Traktor überfahren und in Stücke gerissen. Nach der Tat schossen die Täter in die Luft und feierten ihren Sieg über ihre wiederhergestellte Ehre und warteten auf die Polizei. • Zwei junge Mädchen wurden wegen des Verdachts einer vorehelichen Beziehung vor den Moscheen ihrer Heimatstadt Urfa im Jahr 1995 vor vielen Zuschauern getötet. Ihnen wurde die Kehle durchgeschnitten.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

• Am 11.1.2001 wurde die 19-jährige Şekha Aslan von ihrem Bruder Hüseyin Aslan (29) mit dem Jagdgewehr erschossen, nachdem sie ihrer Familie davon berichtete, dass sie vor acht Jahren vergewaltigt worden war. Die folgenden Fallbeispiele erregten ein großes Aufsehen und geben Einblicke in die Motive und Tatumstände der jeweiligen Fälle. Darüber hinaus werden diese Fälle aufgrund ihres besonders dramatischen Charakters häufig zitiert und fast wie Präzedenzfälle behandelt. Dem Journalisten Mehmet Faraç war es möglich, die Gerichts- und Polizeiakten dieser Fälle zu untersuchen und mit den Tätern oder Angehörigen dieser Morde Interviews durchzuführen:

Der Ehrenmord an Sevda Gök In Şanlıurfa, wo meist kurdische Bürger leben, wurde Sevda Gök (17) in der Mitte des Marktplatzes, auf dem Süleymaniye Platz, von ihrem Cousin, Mehmet Tamer (14), umgebracht, indem er ihr die Kehle durchschnitt (S. 67f.). Der Täter machte folgende Aussage bei der Polizei: »Diejenige, die ich am 26.2.1996 um 16 Uhr erstochen habe, war meine von mir sehr geliebte Verwandte Sevda Gök. Sie war mehrmals abgehauen und hatte unsere Ehre immer wieder beschmutzt. Ich hörte, dass sich meine Verwandten im Haus von Sevdas Eltern trafen, um ›die Sache« zu besprechen. Viele Leute auf den Straßen ignorierten und missachteten uns. Viele Freunde von mir sagten zu mir, ich solle zuerst unsere Ehre bereinigen, bevor ich mich überhaupt auf die Straße trauen dürfe. Sevdas Vater, Hadi Gök, rief mich zu sich nach Hause. Er sagte mir dort, dass er Sevda umbringen wird. Mein Onkel sagte dann zu ihm: »Du hast doch Kinder, lass doch Mehmet sie umbringen!« Ich sagte Sevdas Vater, dass seine Söhne ihre Schwester umbringen sollen und bin fort gegangen. Dann sind drei oder vier Tage vergangen. Ich habe durch Zufall Sevda an einem belebten Stadtviertel gefunden, weil sie wieder abgehauen war und habe sie nach Hause gebracht. Das war schon so oft passiert. Ich habe sie immer draußen spazieren gesehen. Aber ich habe sie nie mit Männern gesehen. Am 26.2.1996 habe ich ein Brotmesser von zu Hause mitgenommen. Am selben Tag sah ich, wie Sevda am Marktplatz spazieren ging. Als ich Sevda abfing, beschloss ich, sie an diesem Tag umzubringen. Dann rief ich den Sohn meines Onkels, Celal Tamer an, damit er mir half. Celal kam mit seinem Bruder Murat zum Marktplatz. Ich sagte Sevda, sie solle ihre Jacke ausziehen. Als sie sie auszog, stach ich in ihren Magen. Dann habe ich sie an ihren Haaren gehalten und schnitt ihr in die Halskehle. Sie hat sich nicht gewehrt und hat nicht geschrieen. Als einige Leute, die Zeugen wurden, dazwischen gehen wollten, habe ich sie mit dem Messer verschreckt. Dann bin ich mit Celal und Murat vom Tatort weggefahren und habe später das Messer der Polizei übergeben. Ich lebe für meine Ehre, den Ruf und für das Brotgeld, das ich verdiene! Ich bereue die Tat nicht. Warum auch? Ich habe nur meine Ehre bereinigt«. Der Mittäter Celal Tamer machte dagegen diese Aussage: »Meine Cousine Sevda ist immer von zu Hause fortgelaufen. Sie wurde immer wieder gewarnt, machte

133

134

Morde ohne Ehre

aber immer dieselben Fehler. Sevda wurde zu dem Gesprächsstoff bei unseren Verwandten und in der Nachbarschaft. Deswegen bin ich zum Marktplatz gefahren, um Mehmet zu helfen« (Faraç, M. 2004, S. 71). Der Vaters des Opfers Hadi Gök kommentierte den Mord so: »Wir haben über die Situation meiner Tochter zu Hause diskutiert. Viele sagten zu mir, ich solle meiner Aufgabe als Vater bewusst sein. Ich musste etwas machen. Alle übten Druck auf mich aus«. Hadi Gök zeigte aber die beiden Täter an, um sich nicht der Mitwisserschaft schuldig zu machen. Während der Gerichtsverhandlung gaben viele Zeugen an, die Tat nicht gesehen zu haben, obwohl sie anwesend waren. Mehmet Faraç vermutet, dass sie von der Familie der Täter bedroht wurden. Im Gericht argumentierten die Anwälte der Täter damit, dass bei der Tat auch die schlechten sozioökonomischen Bedingungen der Stadt Şanlıurfa eine Rolle spielten. (S. 72). Der Täter Mehmet Tamer bekam eine Haftstrafe von 24 Jahren, die aufgrund seiner Minderjährigkeit auf sieben Jahre reduziert wurde. Mehmet wurde bereits nach zwei Jahren und neun Monaten wegen guter Führung aus dem Gefängnis entlassen. Sevda Göks Mord wurde in den Medien sehr intensiv diskutiert. Die Öffentlichkeit war empört über diesen Mord und vor allem über den Tatverlauf, da die Ermordung des Mädchens am helllichten Tag auf einem belebten Marktplatz von vielen Zeugen beobachtet wurde. Viele Frauenorganisationen und Parteivertreter legten an dem Tatort Blumen nieder. Şanlıurfa wurde in den Medien aufgrund dieses blutigen Mords in Kanlıurfa umbenannt (Şanlıurfa bedeutet die stolze Stadt Urfa – Kanlırfa die blutige Stadt Urfa).

Die »Hinrichtung« der 13-jährigen verheirateten Hatice S. Hatice S. war 13 Jahre alt, als sie mit einem 17-jährigen verheiratet wurde (S. 81f.). Sie konnte nicht zur Schule gehen, weil ihre Familie nicht wohlhabend war und sie neun Geschwister hatte. Ihr Mann durchschnitt ihr die Kehle auf einer belebten Straße. Er tötete sie, weil sie ohne seine Erlaubnis mit einer Freundin in ein Kino gegangen war. Ihr Ehemann Ali sagte bei der Polizei aus: »An dem besagten Tag um 6:30 Uhr in der Früh kamen die Töchter meiner Schwester, Dilber und Sevda, zu uns. Sie sagten zu meiner Ehefrau, dass sie mit ihr irgendwohin gehen wollten und haben dann das Haus gemeinsam verlassen. Ich wurde misstrauisch. Ich fragte mich, was machen sie bloß, wo sind sie hin? Ich nahm ein Messer und ging ihnen hinterher. Ich sah, wie sie alle ausgestiegen waren und anfingen, um Geld zu betteln. Ich sagte mir, ich bringe sie um, wenn sie was Falsches machen. Dann sah ich sie, wie sie ins Kino gingen. Ich ging hinterher und zerrte beide aus dem Kino. Zuerst schlug ich auf Dilber ein. Als Hatice mich anschrie und sagte, was ich überhaupt da suchen würde und dass sie machen würde, was sie wolle, bin ich durchgedreht und stach auf sie ein. Ich habe sie umgebracht, weil sie schlechte Sachen machte. Sie hatte mich angelogen. Sie sagte, sie würde Wasser aus dem Brunnen holen gehen, dabei ging sie ohne meine Erlaubnis ins Kino. Sie waren eine halbe Stun-

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

de im Kino. Aber ich konnte nicht sehen, was sie darin taten. Deshalb wurde ich wütend und stach auf sie ein« (S. 83). Diese Aussage des Täters gibt die Angst der Männer vor dem Kontrollverlust über ihre Frauen wieder. Die Tatsache, dass er seine Frau für eine halbe Stunde nicht kontrollieren konnte, war für ihn ausreichend, ein »unehrenhaftes Verhalten« anzunehmen und sie deshalb zu töten. Die Aussage des Vaters von Hatice deutet darauf hin, dass durch die Ermordung der Tochter eine eventuelle Blutracheauseinandersetzung anfängt: »Sie verstanden sich nicht. Meine Tochter wurde umgebracht, weil sie ins Kino ging. Wenn der Mörder beweist, dass sich meine Tochter wirklich unehrenhaft verhalten hat, dann gebe ich ihm Recht. Er wollte meine ganze Familie in ein schlechtes Licht rücken und brachte Hatice deshalb auf einem öffentlichen Platz um, damit es jeder sehen konnte. Wir werden ihn nicht aus den Augen lassen, so lange er nicht tot ist«. Die Aussage von Hatices Mutter Zeynep bestätigt die Annahme, dass Hatices Familie ihren Tod rächen möchte: »Der Staat soll die gerechte Strafe geben! Er hat meine Tochter wie ein Huhn geschlachtet. So lange er lebt, werden wir nicht zur Ruhe kommen. Wie ich jetzt um meine Tochter trauere, wird seine Mutter um ihn trauern«. Der Täter bekam zunächst eine Haftstrafe von 24 Jahren, aber aufgrund seiner Minderjährigkeit wurde diese Strafe auf 10 Jahre reduziert. Vor Gericht argumentierten die Verteidiger des Täters, dass das Mordopfer ebenfalls schuldig sei, weil es ohne die Erlaubnis ihres Mannes ins Kino gegangen sei. Außerdem sei es ein großer Fehler von Hatice gewesen, ihrem Mann während der Tat zu widersprechen und ihm zu sagen, er dürfe sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischen.

Der Ehrenmord an Şemse Kaynak In Bakışlarköyü wurde am 15.2.1998 Şemse Kaynak von ihrem Bruder und ihrem Vater mit dem Traktor überfahren, weil sie infolge einer Vergewaltigung schwanger wurde (Faraç, M. 2004, S. 138). Ihr Bruder Ibrahim leugnete zunächst die Tat, die er wie einen Unfall aussehen lassen wollte: »Wir mussten heute Baumwolle ernten. Auf dem Traktor saßen meine Schwester Şemse und mein Bruder Buĝdat. Als ich zu schnell fuhr, stürzte Şemse vom Traktor und kam unter die Räder. Ich habe aber nach 25 Metern angehalten«. Alle weiteren Zeugen betonten, dass es ein Unfall gewesen sei und Şemse seit einer Woche bei ihren Eltern leben würde, weil sie Probleme in ihrer Ehe mit Salih, dem Sohn ihres Onkels, gehabt habe. Ein anonymer Anrufer bei der Polizei dagegen gab an, dass Şemse das Opfer eines Ehrenmords geworden sei. Bei der zweiten Vernehmung bekannten sich die Befragten schuldig. Einer der Täter, ihr Bruder Ibrahim, machte folgende Aussage bei der Polizei: »Es war Dezember 1997. Şemse war ledig, doch wir wurden skeptisch, als ihr Bauch immer mehr wuchs. Als wir sie zum Arzt brachten, bestätigte der Arzt, dass sie im vierten Monat schwanger sei. Als wir nach Hause kamen, redeten wir mit ihr. Sie berichtete, dass Salih Kaynak, der Sohn unseres Onkels, sie vergewaltigt habe. Darauf hin redeten wir mit Salihs Vater. Salih gab die Tat zu und war bereit,

135

136

Morde ohne Ehre

Şemse zu heiraten. Dann heirateten beide. Ich schlug beiden vor, das Dorf zu verlassen, weil alle mitbekamen, dass Şemse vor der Ehe schwanger geworden war. Ich wollte, dass Şemse abtreibt und habe sie deshalb zum Arzt gefahren. Doch der Arzt wollte die Abtreibung nicht vornehmen, weil das ungeborene Baby sehr groß war. Alles wurde schlimmer, als Salih in der Öffentlichkeit leugnete, der Vater des ungeborenen Kindes zu sein. Wir haben Şemse wieder zur Seite genommen und sie gefragt, von wem sie schwanger ist. Sie versicherte uns, dass es Salih war. Wir sagten ihr, dass sie die Schande unserer Familie wäre und dass wir sie umbringen würden. Wir beschlossen, sie mit dem Traktor zu überfahren und es so aussehen zu lassen, als wäre es ein Unfall. Als wir mit Şemse auf dem Traktor fuhren, warf sie sich vor die Räder, weil sie wusste, dass wir sie umbringen wollten. Wir wollten sie dann ins Krankenhaus bringen, aber sie war auf dem Weg dahin bereits tot. Alles ist passiert, weil Salih Şemses Schwangerschaft verleugnete. Er ist der Schuldige in dieser Angelegenheit.« Am 15. Februar, einen Monat vor ihrer Ermordung, hatten sich die Verwandten im Hause von Şemses Eltern versammelt. Dieser Fall ist besonders dramatisch, weil Şemse als Opfer eines Vergewaltigers ihren Peiniger heiraten musste und am Ende auch noch verantwortlich für dieses Verbrechen und dessen Konsequenzen gemacht wurde. Zudem zeigt dieser Fall, dass es meist einige Wochen dauert, bis der Ehrenmord ausgeführt wird. Die Leiterin der Frauenorganisation Kamer Nebahat Akkoç weist ebenfalls auf diesen Zeitraum hin, in dem man den bedrohten Frauen helfen könnte (Interview mit Nebahat Akkoç vom 26.12.2005).

Der Ehrenmord an Güldünya Tören Güldünya Tören stammte aus Bitlis und war 22 Jahre alt, als sie vom Ehemann ihrer Cousine vergewaltigt und daraufhin schwanger wurde.57 Als die Familie dies herausfand, schickten sie sie nach Istanbul zu ihren Verwandten, damit sie dort ihr Baby auf die Welt bringen und ihr Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben konnte. Güldünya wusste, dass sie nach ihrer Schwangerschaft von ihrer Familie umgebracht werden würde und suchte deshalb Hilfe bei der Polizei. Die Polizei übergab Güldünya einem befreundeten religiösen Gelehrten der Familie Alaattin Ceylan, weil sie hoffte, dass er Güldünya mit ihrer Familie versöhnen würde. Doch zum selben Zeitpunkt trafen sich die männlichen Familienmitglieder von Güldünya, der so genannte »Familienrat«, und beschlossen ihren Tod. Dabei entschieden sie, dass ihre beiden Brüder Irfan (24) und Ferit Tören (20) die Tat ausführen sollten. Die beiden Brüder kamen nach Istanbul, um Güldünya zu besuchen und wollten sie nach eigenen Angaben mit nach Hause nehmen. Auf dem Weg zum 57 | Große Medienaufmerksamkeit erregte der Ehrenmord an Güldünya Tören, die am 27.2.2004 infolge eines Ehrenmords starb. Es gibt viele Lieder über ihr Schicksal, unter anderem das von den Künstlern Zülfü Livaneli oder Aylin Aslım, die im Abschnitt 3.1.1 vorgestellt werden.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Busbahnhof schoss Ferit aus dem Hinterhalt auf die eigene Schwester. Sie überlebte die Tat und befand sich zum Zeitpunkt des zweiten Mordversuchs im Krankenhaus. Obwohl eine Polizeiwache vor ihrem Krankenhauszimmer postiert war, konnte ihr Bruder Irfan zu ihr durchkommen, weil er sich als ein Verwandter von ihr ausgab. Am Krankenbett schoss Irfan einmal auf den Kopf seiner Schwester. Ferit Tören bekam eine lebenslängliche Haftstrafe und Irfan Tören eine Strafe von 14 Jahren. Aufgrund ihrer gezeigten Reue vor dem Gericht wurde ihre Strafe auf 11 Jahre reduziert. Die Öffentlichkeit war empört darüber, dass die Polizei Güldünya beide Male nicht retten konnte.

Der Ehrenmord an H. A. Ein weiterer Fall stellt der Ehrenmord an H. A. dar, die am 10.9.2002 von ihrem eifersüchtigen Ehemann im Namen der Ehre in Istanbul getötet wurde. Der Anwalt Tugay Demirci war so freundlich und hat der Autorin die Gerichtsakten dieses Falles unter der Bedingung der Wahrung der Anonymität zur Verfügung gestellt. H. A. wurde 1963 in Giresun geboren. Acht Jahre vor der Tat hatte sie sich von ihrem Ehemann T. S. scheiden lassen, mit dem sie eine gemeinsame Tochter hatte. Drei Monate vor der Tat erfuhr ihr Exmann, dass sich seine Exfrau mit einem jungen Mann verlobt habe. Am 10.9.2002 nahm er seine Waffe und fuhr nach Istanbul, um mit seiner geschiedenen Ehefrau über die neue Beziehung zu sprechen. Zuerst setzte er sich an den Strand und leerte dort eine Flasche Whisky. Danach ging er zu der Wohnung seiner Frau und versteckte sich im Kohlekeller des Hauses. Als sie um 17:30 Uhr nach Hause kam und Kohle aus dem Kellerraum holen wollte, wurde sie aus dem Hinterhalt von ihrem Exmann erschossen. Der Polizist M. D. betonte, dass sie die Aussagen des Täters erst am Morgen nach der Tat aufgenommen haben, da er direkt nach der Tat zu sehr unter Alkoholeinfluss gestanden habe. Ihr Exmann machte die folgende Aussage bei der Polizei, die er später widerrief: »An dem Tag hatte ich eine Auseinandersetzung mit ihr über unsere gemeinsame Tochter. Infolge dieser Auseinandersetzung starb meine Frau. Dies war nur ein Unfall. Ich hatte keinen Grund, sie zu töten. Jedes Mal, wenn ich meine Tochter abholen kam, stritten wir uns beide. Sie hatte auch eine Waffe und bedrohte mich häufig damit. An diesem Tag bedrohte sie mich erneut, aus Angst nahm ich meine Waffe heraus und diese ging dann ohne mein Wollen los. Da es ein Unfall war, kann ich die Schuld nicht auf mich nehmen. Ich stand zudem unter Alkoholeinfluss«. Später widersprach er seiner eigenen Aussage: »Ich habe sie nicht umgebracht. Der Bruder meiner Ehefrau K. K. hat sie umgebracht! Als ich meinen Jahresurlaub in Istanbul verbrachte, teilte mir dieser Folgendes mit; »Schwager, meine Schwester hat einen 20-jährigen Jüngling gefunden und hat sich mit ihm verlobt. Wir müssen diese Heirat verhindern. Es ist deine Aufgabe, unsere Ehre zu bereinigen. Oder bist du kein Mann?« Ich sagte darauf: »Ich werde deshalb keinen Mord begehen und es interessiere mich nicht. Ich habe mich vor 8 Jahren von ihr getrennt.

137

138

Morde ohne Ehre

Sie kann doch heiraten, wen sie will. Am selben Tag um 17:30 Uhr begegnete ich K. in der Nähe der Wohnung meiner Exfrau. Er sagte: »Ich habe unsere Ehre bereinigt. Ich habe es getan, aber stell« du dich der Polizei, damit es so aussieht, als hättest du Eure Ehre bereinigt. Du warst Alkoholiker und hast sogar eine Therapie hinter dir und hast mehrere Gutachten über deine Krankheit. Sie werden dich kaum bestrafen. Daraufhin bin ich zur Polizei gegangen und habe mich mit der Waffe, die mir Kutsal gab, der Polizei gestellt. Da es mir egal ist, ob und wen meine Exfrau heiratet, gibt es kein Motiv für mich. Die Familie meiner Exfrau sah ihre Verlobung als einen Schandfleck an«. Der Bericht über die Tatwaffe belegte, dass sie entsichert war und nicht, wie es der Angeklagte angab, einfach losgegangen ist. Ein Tatzeuge berichtete zudem, dass er nachdem er einen Schuss hörte, T. S. aus dem Kohlekeller kommen sah. Auch die DNA-Analysen am Tatort bestätigten, dass nur der Ex-Mann des Opfers am Tatort anwesend war. Zum späteren Zeitpunkt machte T. S. diese Aussage: »Es stimmt, dass ich H. umgebracht habe, aber ich hatte es nicht beabsichtigt. Zudem war ich zum Tatzeitpunkt sehr betrunken. Ich hatte es mit meiner Exfrau vereinbart, dass sie und ich nie wieder heiraten würden. Dies war unter anderem die Voraussetzung für unsere Scheidung. Doch als ich einmal mit ihr telefonierte, erzählte sie mir von der Verlobung mit dem jungen Mann, der mehr Geld hätte als ich. Zudem betonte sie, dass ich während unserer Ehe für nichts gut genug gewesen sei und dass er viel besser sei als ich. Dies hat mich sehr wütend gemacht und hat mich in meiner Ehre verletzt! Ich wollte mich wieder mit ihr versöhnen, ich wollte nicht, dass sie jemanden anderen heiratet. An dem Tag kam ich nach Istanbul. Zuerst setzte ich mich an den Strand und trank. Dann fuhr ich zum Haus meiner Exfrau, wartete dort in dem Kohleraum auf sie und trank währenddessen weiter Alkohol. Ich bin seit mehreren Jahren Alkoholiker. Die drei Therapien, die ich machte, brachten keinen Erfolg. Als sie kam und mich sah, sagte sie zu mir, ich solle verschwinden. Ich wollte mit ihr reden, aber sie ließ mich nicht. Daraufhin wollte ich sie mit meiner Waffe erschrecken. Als ich die Waffe herausnahm, ging ein Schuss los. Ich war viel zu betrunken gewesen, um sie vorher zu sichern. Bevor sie kam, hatte ich aus lauter Langeweile mit der Waffe gespielt. Es kann sein, dass ich die Waffe dabei, ohne es zu wollen, entsichert habe. Wenn H. mir nicht gesagt hätte, dass ich verschwinden soll und dass nichts zwischen uns zu besprechen gäbe, hätte ich die Waffe gar nicht gezogen. Es war ein Unfall. Ich wollte sie nicht töten und habe die Waffe nicht deshalb mit mir gehabt. Ich trage sie seit 20 Jahren immer bei mir. Als ich sah, wie H. auf den Boden stürzte, habe ich Angst bekommen und bin geflüchtet. Ich habe ihr aber nicht aufgelauert. Ich habe nur in dem Kohlekeller gewartet, weil es an dem Tag sehr heiß war und ich mich vor der Sonne schützen wollte. Dann ging ich zur Polizei, um zu melden, dass ich meine Frau verletzt habe. Ich betonte, dass ich es sehr bereue.« Seit 1999 war der Angeklagte in psychologischer Behandlung und man stellte bei ihm eine antisoziale Persönlichkeitsstörung fest. Die Verteidigung von T. plädierte auf mildernde Umstände aufgrund seiner Alkoholsucht, Depressionen und der Tatsache, dass seine Frau ihn mit ihren Bemerkungen sehr gereizt

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

habe. Durch den Gerichtsbeschluss vom 23.6.2003 wurde er bei Anwendung des Strafgesetzes 448 zu 30 Jahren Haft verurteilt. Er bekam nach § 51.1 ein Viertel der Haftstrafe erlassen und eine Haftstrafe von nur 22 Jahren und 6 Monaten. Wegen der Offenheit in seinen Aussagen, seiner Kooperationsbereitschaft vor Gericht und seiner psychischen Erkrankung wurde seine Strafe auf 18 Jahre reduziert. Die Verteidigung plädierte auf strafmildernde Umstände, insbesondere wegen des Alkoholeinflusses, unter dem der Angeklagte zum Tatzeitpunkt stand. Zudem hätte er nur einmal auf sie geschossen und gar nicht gemerkt, dass er sie getötet habe. Sie wäre infolge der Blutungen gestorben. Doch die Staatsanwaltschaft betonte die Tötungsabsicht des Täters aufgrund der Tatsache, dass er das Opfer im Keller des Hauses auflauerte. Die Darstellung verschiedener Fallbeispiele zeigt, dass die Ehrenmorde in der Türkei in ihrer Erscheinungsform vielseitig sind. Hervorzuheben ist, dass nicht alle Situationen, die die Ehre einer Person beschädigen, zu einem Ehrenmord führen. Die Wiedergabe der charakteristischen Merkmale und der Ursachen dieser Verbrechen zeugen von der Komplexität dieser Mordart. Bei den Ursachen spielen neben psychologischen insbesondere sozioökonomische Faktoren eine große Rolle. Weitere Faktoren sind die weitgehende Tolerierung dieser Morde durch die Gesellschaft, der Druck des sozialen Umfeldes bei der Tatausführung ebenso wie die patriarchalische Struktur der türkischen Gesellschaft und die daraus resultierenden Unterdrückung der Frauen. Die Rolle der dörflichen Kultur bei diesen Verbrechen muss ebenfalls hervorgehoben werden, da viele Studien und Quellen die Ehrenmorde als ein Phänomen der dörflichen Kultur betrachten: Die Mehrheit der Täter ist ruraler Herkunft und zeichnet sich durch niedrigen Bildungsstand, Festhalten an alten Traditionen und an traditionellen Geschlechterrollen aus.

1.3.1 Ehrenmorde in der türkischen Gesetzgebung Die Behandlung der Ehrenmorde in der türkischen Gesetzgebung ist ein wichtiger Untersuchungsgegenstand, weil viele Täter bis zum Jahre 2005 deutliche Strafminderungen erhalten haben. Es gilt zu untersuchen, warum die Strafmilderung erst kürzlich abgeschafft wurden und warum diese Verbrechen so lange einen Sonderstatus genossen haben, statt wie andere Tötungsdelikte behandelt zu wurden. Welche Rolle dabei der gesellschaftlichen Toleranz dieser Morde zukommt, ist ebenfalls zu analysieren. Eine weitere Frage ist, was der türkische Staat unternimmt, um die Rechte der Frauen zu stärken. Diesbezüglich werden die neuesten Gesetzesänderungen in Bezug auf die Frauenrechte und das Strafmaß für Täter von Ehrenmorden analysiert und anhand von Fallbeispielen und der Analyse von Gerichtsakten näher erläutert. Das alte türkische Zivilgesetz, das nach dem schweizerischen Vorbild im Jahr 1926 eingeführt wurde, wiesen Frauen eine untergeordnete Rolle in der Familie zu. Der Ehemann als Familienoberhaupt hatte alle wichtigen Entscheidungen zu treffen. Seitdem wurden einige Anläufe unternommen, das Zivilgesetz zu ändern,

139

140

Morde ohne Ehre

aber diese Versuche scheiterten meist an der unruhigen politischen Lage in der Türkei. Erst die Entstehung einer feministischen Bewegung in den 1980er Jahren konnte einige Veränderungen bewirken. Die meisten Erfolge bezüglich der Verbesserung der Frauenrechte konnten die Frauenbewegungen jedoch im Rahmen der Beitrittsbemühungen der Türkei zur Europäische Union erzielen (vgl. New Ways, 2002, S. 3f.). Das neue türkische Zivilgesetz, das 1030 Artikeln umfasst, trat im Juni 2005 in Kraft. Für die Gesetzesänderungen setzten sich 126 verschiedene Frauenbewegungen ein. Ihre größten Widersacher waren der nationalistisch-konservative Flügel türkischen Parlaments, der gegen die Abschaffung der alten Vorschriften war. Nationalisten und Konservative begründeten ihre Befürwortung der alten, von der traditionellen Rollenvorstellungen geprägten Gesetze: »The equality between men and women creates anarchy and chaos in the family and this threatens the foundations of the Turkish Nation. Besides that the equal sharing between spouses of property acquired during the marriage is against Turkish traditions, changes the family from a matrimonial union to a corporation, destroys love and affection in the family and increases the rate of divorce and consequently ruins the Turkish society« (Frauenorganisation New Ways, 2002, S. 6). Das Zivilgesetz enthält unter anderem die folgenden Gesetzesreformen: Eine der wichtigsten neuen Definitionen ist die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Ehe durch § 21: »The family is the foundation of Turkish Society and is based on equality between spouses.« Weitere Neuheiten sind die rechtliche Gleichstellung unehelicher Kinder mit ehelich geborenen Kindern. Darüber hinaus wird nicht verheirateten Personen die Adoption von Kindern erlaubt (Frauenorganisation New Ways, 2002, S. 3f.). Gemäß Artikel 194 müssen alle Entscheidungen, die die Familie oder das Familienvermögen betreffen, nun von den Eheleuten gemeinsam getroffen werden (a.a.O.). § 192 schafft den Genehmigungsvorbehalt des Mannes bezüglich der Berufstätigkeit seiner Ehefrau ab. Die Gesetzesneuerung bedeutet einen großen Schritt für die ökonomische Unabhängigkeit der türkischen Frauen. Gemäß § 149, 150 und 151 hat eine Frau das Recht, ihre Eheschließung innerhalb von fünf Jahren annullieren zu lassen, wenn die Ehe ohne ihre Zustimmung beschlossen wurde (§ 126 und 127). Mit diesen Regelungen setzt der Staat ein rechtliches Zeichen gegen Zwangsverheiratungen. § 143 besagt, dass eine lediglich religiös geschlossene Ehe nicht rechtsverbindlich ist und nicht vor der standesamtlichen Ehe, sondern erst danach erfolgen darf. Damit versucht der Staat, Polygamie zu bekämpfen und zivil verheiratete Frauen in ihren Rechten zu stärken. Polygamie selbst wurde durch Artikel 130 und Endogamie durch § 15 verboten. Eine verheiratete Frau darf laut § 162 die Scheidung beantragen, wenn sie von ihrem Mann schlecht behandelt oder ihr Mann kriminell wird (§ 163). Zudem ist der Mann nach § 164 zu Unterhaltszahlungen verpflichtet, wenn er seine Frau verlässt.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Der neue § 187 überlässt es einer verheirateten Frau, ob sie ihren Nachnamen behalten oder den ihres Mannes annehmen möchte. Früher war eine Frau gezwungen, den Nachnamen ihres Ehemannes anzunehmen. Eine Neuheit ist § 4320 »zum Schutze der Familie«, der bereits 1998 ins Parlament eingebracht wurde, aber erst 2005 in die Gesetzgebung aufgenommen wurde. Demnach kann ein Familienmitglied jederzeit Anzeige gegen ein Familienmitglied bei der Gendarmerie, Polizeistelle oder direkt bei einem Richter erstatten, wenn dieses Mitglied die Familie gefährdet. Gewalt in der Familie wurde somit erstmals als Straftatbestand anerkannt. Infolge der Vorschrift »Zum Schutze der Familie« wurden seither 18.707 Gerichtsverfahren eingeleitet. Leider wurden jedoch auch einige Frauen, die solch ein Verfahren eingeleitet hatten, nach Recherchen von Yirmibeşoĝlu von ihren Männern getötet, da sie trotz ihrer Anzeige nicht ausreichend von Polizei und Gerichten vor ihren Ehemännern geschützt wurden (Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 112). Die politische Gleichberechtigung der Geschlechter wird in den § 12 und 5237 des Zivilgesetzes festgehalten (S. 43f.). Auch arbeitsrechtliche Vorschriften wurden zugunsten einer Stärkung der Frauenrechte geändert: Nach § 70 Arbeitsgesetz dürfen Frauen sechs Wochen vor und nach einer Schwangerschaft nicht zum Arbeiten gezwungen werden. Im Anschluss steht ihnen die Möglichkeit offen, einen sechsmonatigen unbezahlten Mutterschaftsurlaub in Anspruch nehmen. Auch dürfen Schwangere in einigen als gefährlich eingestuften Berufen nicht arbeiten und zum Beispiel keine Nachtschichten übernehmen (S. 41). Früher verfügten die werdenden Mütter über keines dieser Rechte und waren von der Rücksichtnahme ihrer Arbeitgeber abhängig. Im Strafgesetz war die Vergewaltigung in der Ehe kein Strafbestand. Zudem wurde nur der Geschlechtsverkehr wider Willen als Vergewaltigung definiert, nicht aber das Einführen von Gegenständen in die Geschlechtsorgane. Im Zuge der Gesetzesänderungen wurde der Straftatbestand der Vergewaltigung neu definiert und das Einführen von Gegenständen in den Intimbereich als Vergewaltigung anerkannt. Darüber hinaus erfüllt nun auch die Vergewaltigung in der Ehe einen Strafbestand (§ 414 Strafgesetz). Bei Vergewaltigungen genügen nun auch psychologische Gutachten über den Zustand des Opfers, um den Täter anzuklagen. Zuvor mussten die Opfer ein medizinisches Gutachten vorlegen, d.h. körperliche Verletzungen nachweisen. Eine bis dato gesetzlich festgeschriebene Ausschöpfung des Strafrahmens nur im Fall der Jungfräulichkeit des Opfers wurde ebenfalls aufgehoben. Eine Norm, die Straflosigkeit für den Vergewaltiger vorsah, wenn er das Opfer heiratete, wurde außer Kraft gesetzt (Frauenorganisation Amargi, 2005a, S.  58). Ebenso verfuhr man mit § 438 Strafgesetz, der bei Vergewaltigung einer Prostituierten eine Strafmilderung von bis zu ein Drittel der regulären Strafe vorsah. Viel Zuspruch ernteten die § en 421 und 84 des Strafgesetzes, wonach die sexuelle Belästigung einer Frau, ob verbal oder durch physischen Kontakt, als Straftatbestand anerkannt und mit einer Strafandrohung von zwei bis drei Jahren be-

141

142

Morde ohne Ehre

legt wurde. Außerdem wurde die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erstmals als Straftat aufgenommen (Frauenorganisation Amargi, 2005 a, S. 58f.). Abtreibung ist in § 471 und 468 Strafgesetz geregelt und nur bis zur zehnten Schwangerschaftswoche legal, während einer medizinisch notwendigen Abtreibung jederzeit durchgeführt werden darf (§ 468). Eine Sterilisation dürfen verheiratete Frauen dagegen immer noch nur mit der Zustimmung ihrer Ehemänner vornehmen (§ 471). Die für diese Arbeit wichtigste Neuerung war die Abschaffung des § 462 Strafgesetz, der Strafmilderungen für Täter von Ehrenmorden vorsah. Diese Vorschrift wurde bereits in den Jahren 1936, 1938 und 1953 geändert. Bei der ersten Änderung wurde mehr betont, dass es sich bei diesen Morden in der Mehrheit um Frauen als Opfer handelt. Bei der zweiten Änderung wurde die Strafmilderung auf ein Achtel der regulären Gesamtstrafe festgelegt. Zudem wurde die Todesstrafe bei diesem Delikt ausgeschlossen und das Strafmaß auf zwei bis fünf Jahre festgelegt. 1995 hatte der Richter Ali Güzel einen Antrag an das Verfassungsgericht gestellt und auf die Verfassungswidrigkeit dieses Paragraphen hingewiesen. 1998 stimmte das Verfassungsgericht über diesen Paragraphen ab, doch nur vier Richter waren für die Außerkraftsetzung, während sieben Richter für die Verfassungsmäßigkeit dieses Paragraphen plädierten. § 453 Strafgesetz wurde mit § 139 neu formuliert, aber inhaltlich nicht geändert. Kindsmord im Namen der Ehre ist demnach weiter ein Strafmilderungsgrund. Vor allem betroffene Frauen sehen dadurch einer Strafe zwischen vier und acht Jahren entgegen.58 § 448 und 449 Strafgesetz beziehen sich auf Tötungsdelikte, für die eine Haftstrafe zwischen 24 und 30 Jahren vorgeschrieben ist. § 82 sieht nunmehr für traditionell bedingte Morde, wie zum Beispiel Ehrenmorde, die Höchststrafe.59 Blutrache wird im türkischen Strafgesetz gemäß § 450 Absatz 10 Strafgesetzbuch ausdrücklich als Strafschärfendes Merkmal bei einer vorsätzlichen Tötung genannt und bestraft. Tests zur Überprüfung der Jungfräulichkeit dürfen den neuen strafprozessualen Regelungen zufolge nur dann durchgeführt werden, wenn ein Verbrechen vorliegt. Die Durchführung obliegt dem forensischen Gesundheitsamt. Zuvor konnte eine solche Untersuchung von Familienangehörigen oder vom Schulpersonal angeordnet werden. Die Tests wurden bis vor einigen Jahren vor allem in staatlichen 58 | Dieses Gesetz stammt nach Pervizats Angaben aus dem alten Römischen Gesetz, wonach es den Frauen frei war, ihre Kinder wegen der Unehre umzubringen (sui generis) (Pervizat, L. 2005, S. 230). Demnach hatten die Väter das Recht, ihre Kinder umzubringen (Ius vital ac necis), sie zu verkaufen (ius vendendi) und Neugeborene zu verlassen (ius noxa dandi). Das Recht der Frauen, ihre Kinder umzubringen, nannte man parricidium. Die alten deutschen, italienischen und französischen Gesetze bis zum 20. Jahrhundert versprachen Strafminderung bei Tötung von Neugeborenen (Deutschland § 1871, Italien § 1803).

59 | Nähere Informationen unter: www.kadinkurultayi.yahoogroups.com

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Studentenheimen für Mädchen durchgeführt, wenn die Mädchen abends zu spät in ihr Heim zurückgekehrten. Die Vertreter der Frauenorganisation Amargi kommentieren: »Unsere Töchter in staatlichen Studentenheimen werden wie potenzielle Huren behandelt. Man zwingt sie zur Jungfräulichkeitskontrollen« (Frauenorganisation Amargi, 2002, S. 11). § 17 Strafgesetz verbietet in diesem Zusammenhang medizinische Tests oder Eingriffe ohne das Einverständnis des Betroffenen. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Dunkelziffer der Ärzte, die die gesetzlich verbotenen Jungfrauentests weiterhin vornehmen, nicht unerheblich ist, obwohl ihnen bewusst ist, dass das Leben der Mädchen bedroht ist, wenn sie ihnen ihre Jungfräulichkeit nicht attestieren. Eine Untersuchung von Dilek Cindoĝlu verdeutlicht die Einstellung von Medizinern zu Jungfrauentests in der Zeit vor dem neuen Gesetz: Die Soziologin führte Faceto-Face-Interviews mit 13 Gynäkologen (sechs weiblichen und sieben männlichen Geschlechts) im Jahr 1992 in Istanbul, Ankara und Izmir durch. Die Befragten vertraten die Ansicht, dass sie diese Tests nur im Fall einer Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch als medizinisch vertretbar ansähen. Ihren Erfahrungen nach wurden die meisten Jungfräulichkeitstests nach der ersten Hochzeitsnacht durchgeführt, wenn zum Beispiel die Bettlaken nicht wie erwartet blutverschmiert waren. Drei Sichtweisen kristallisierten sich bei den befragten Ärzten bezüglich der Thematik »Rekonstruktion des Jungfernhäutchens« heraus: • Die traditionell islamische Sichtweise: Die Vertreter dieser Perspektive lehnen diesen Eingriff ab und betonen, dass dies nicht legal und nicht mit ihren moralischen Wertvorstellungen vereinbar sei. • Liberale Einstellung: Die Ärzte führen Rekonstruktionsoperationen durch und finden sie zudem moralisch vertretbar. Manche argumentierten ökonomischrational und meinten, dass sie aufgrund der großen Nachfrage diese Leistung anbieten. • Eine eher neutrale Einstellung hatten die Ärzte, die zwar diese Eingriffe nicht vornehmen, aber trotzdem damit einverstanden sind, wenn es ihre Kollegen tun. Zu dieser Gruppe zählten die meisten befragten Mediziner. Cindoĝlu hält ihre Eindrücke von der Umfrage und der Praxis der Jungfräulichkeitstests fest: »The reconstructive virginity surgery and virginity tests can be considered as the interventions of medicine in the social fabric in a very patriarchal manner. Regardless of their personal strategies for dealing with patriarchy, whether they perform surgery and tests or not, medicine as an institution or physicians as professionals are contributing to the reproduction of patriarchal values. Consequently, medicine plays a significant role in controlling women’s bodies in contemporary Turkish society. Going through a virginity surgery not only re-establishes her assets in the social context, but also in a sense empowers women within the patriarchal society and patriarchal relations. Women’s utilization of virginity surge-

143

144

Morde ohne Ehre

ry and tests can be understood as a strategy to combat the patriarchal expectations of the family and society without compromising their desire for premarital sexual relations« (S. 226f.).

Kritikpunkte Die oben genannten Gesetzesänderungen wurden von Frauenorganisationen und Anwälten grundsätzlich positiv aufgenommen. Es gab jedoch zahlreiche Kritikpunkte und Änderungsvorschläge: Frauenrechtlerinnen setzen sich unter anderem dafür ein, dass das Recht auf Abtreibung auf 12 Wochen erhöht wird und Jugendliche unter 18 Jahren auch ohne die Zustimmung ihrer Eltern Geschlechtsverkehr haben dürfen. Weitere Änderungsvorschläge sind: Sexualdelikte nicht als Taten gegen die Familie, Sittlichkeit und die Gesellschaft, sondern als Taten gegen ein Individuum zu betrachten; Bestrafung der Personen, die ohne einen Gerichtsbeschluss Jungfräulichkeitstest durchführen; härtere Bestrafung des Kindesmissbrauchs; Abschaffung des § 453, der eine Strafmilderung für die Tötung von Neugeborenen im Namen der Ehre vorsieht. Vildan Yirmibeşoĝlu fordert, dass Ehrenmorde als normale Tötungsdelikte und nicht als traditionell bedingte Morde in die Gesetzgebung aufgenommen werden sollen. Des Weiteren sollte der Schutz der Zeugen von Ehrenmorden verbessert werden und der Familienrat mitbestraft werden. Die Fürsorgepflicht von Polizei und öffentlichen Instanzen gegenüber bedrohten Frauen sollte ebenso gesetzlich verankert werden.

Umsetzung der neuen Gesetze Die neuen Gesetze enthalten viele Paragraphen von denen Frauen profitieren können. Eine Untersuchung von Vildan Yirmibeşoĝlu im Jahr 2000, bei der sie 560 Personen in acht ost- und südanatolischen Städten über ihre Einstellungen zum Ehrprinzip befragte, bestätigt, dass das Vertrauen der Befragten in die Gesetzgebung bislang sehr gering ist. Erstaunlich war das Ergebnis, dass nur 3 Prozent der Befragten eine juristische Lösung im Fall einer Ehrverletzung vorziehen würden, während 25 Prozent die Person töten, 26 Prozent der Person verzeihen, 13,7 Prozent sie verstoßen, 13.4 Prozent die Entscheidung darüber, was geschehen soll, dem Familienrat überlassen, 13 Prozent sie bestrafen und 4.6 Prozent sich von der Person scheiden lassen würden (Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 51). Die Anwältin Ayşegül Kaya gab in dem mit ihr durchgeführten Interview auch an, dass die Missachtung der Justiz durch die Täter bei diesen Morden jede abschreckende Wirkung der Bestrafung verhindert (Interview mit Ayşegül Kaya vom 5.10.2005). Diese Missachtung könne unter anderem mit der geografischen Distanz der Gerichte in dörflichen Gegenden zusammenhängen. Darüber hinaus dauere es in der Regel sehr lange, bis eine Anklage verhandelt wird. Dass das Ehrprinzip gesellschaftlich über alle anderen geltenden sozialen wie juristischen

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Normen gestellt wird, spielt vermutlich die wichtigste Rolle bei der Ausübung der Selbstjustiz. Als eine positive Entwicklung ist die Einrichtung einer Kommission für die Untersuchung von Ehrenmorden im türkischen Parlament im Jahr 2005 zu betrachten. Auch wenn die Einrichtung sehr spät erfolgte, zeigt es die Sensibilisierung der Politiker für dieses Thema.60 Der Beschluss des TBMM (Türkiye Büyük Millet Meclisi), des türkischen Parlaments, zur Einrichtung der Kommission zwecks Analyse der Ehrenmorde und Gewalt gegenüber Frauen und Kindern wurde am 18.5.2005 durch den Beschluss Nr. 849 rechtskräftig. Diese Kommission besteht aus 12 Personen. Ihre Arbeitsdauer wurde auf drei Monate beschränkt, wobei diese Kommission im Jahr 2006 immer noch aktiv war. Die Abgeordnete Canan Arıtman hatte die Kommission ins Leben gerufen und darauf aufmerksam gemacht, dass Gewalt gegenüber Frauen und Kindern in 90 Prozent der türkischen Bevölkerung vorkommt und ihren Höhepunkt in Ehrenmorden findet. Sie zitierte in ihren Reden vor dem Parlament diese Sprichwörter, die die Stellung der Gewalttätigkeit gegenüber Frauen bekräftigen: »Kocanın vurduĝu yerde gül biter« (Da, wo dein Mann dich schlägt, wird eine Rose blühen.) oder »Kadının karnından sıpayı, sırtından sopayı eksik etmeyeceksin« (Man sollte eine Frau immer schwängern und sie durch Schläge bei Laune halten.) (Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 119). Den Umgang des Staates mit den Ehrenmorden und die Einstellung der staatlichen Autoritäten zu diesem Thema gibt der Briefwechsel zwischen dem Regierungsminister Çiçek und der Soziologin Erbatur sehr gut wieder. Darin bat Erbatur die Regierungsminister, eine Stellungnahme über die staatlichen Maßnahmen bezüglich der Konfrontation mit Ehrenmorden abzugeben (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 123): Als wichtigste Maßnahmen des Staates diesbezüglich betrachtet Çiçek die Abschaffung § 462 Strafgesetz und die Zusammenarbeit der Regierung mit den Frauenorganisationen bei den Gesetzesänderungen. Er betont, dass die finanziellen Subventionen für Frauenhäuser und für die Therapie von Kindern und Frauen, die Opfer von Missbrauch geworden sind, erhöht wurden. Als positiv sieht er die Einrichtung des Familienforschungsinstituts und der Telefonhotline 183 – Alo Kadın Dayanışma Hattı Projesi – (S.O.S.- Hotline für Frauen) an, an die sich Frauen mit privaten Problemen wenden können. Dass die Türkei den Vorsitz bei der Untersuchung der Verbrechen im Namen der Ehre bei der 59. Sitzung des Europäischen Parlaments innehatte und eine schwere Bestrafung der Ehrenmorde durch die neuen Gesetze anregte, sind weitere lobenswerte Entwicklungen.

60 | Beschluss des türkischen Parlaments zur Gründung der Kommission für die Analyse der Ehrenmorde und Gewalt gegenüber Frauen und Kindern (18.5.2005), Beschluss No. 849: Bei dieser Kommission befinden sich Abgeordnete der Parteien AKP (8 Frauen) und CHP (3 Frauen und ein männlicher Abgeordneter).

145

146

Morde ohne Ehre

Çiçek betont, dass die Regierung am 25.11.2004 eine Kampagne gegen Gewalt gegenüber Frauen gestartet hat. Darüber hinaus gründete sie eine weitere Plattform gegen Gewalt und ein Projekt für die Gleichberechtigung der Geschlechter sei ebenfalls in Vorbereitung. Kritisch zu betrachten ist dagegen seine Ansicht, fünfzehn staatliche Frauenhäuser in der Türkei seien ausreichend. Ein praktisches Problem bei den Gerichtsverhandlungen, die Ehrenmorde behandelt, ist das Zeugenproblem. 90 Prozent aller Zeugen bei den Gerichtsverhandlungen sind Männer und 40 Prozent der Täter sind unter 17 Jahren. Die Zeugen ändern ihre Aussagen vor Gericht, weil sie von der Gegenseite bedroht würden. In den meisten Fällen stimmten die Aussagen der Zeugen vor Gericht mit ihren ursprünglichen Aussagen bei der Polizei nicht überein. Als Grund dafür geben die Zeugen in der Gerichtsverhandlung an, dass die Polizei sie zu der Falschaussage gezwungen hätte. Außerdem sind die Zeugen in den meisten Fällen nahe Angehörige der Täter, die sich nicht nur mit dem Täter, sondern auch mit der Tat solidarisieren. Eine Aussage gegen den Täter kommt daher einem Verrat an der ganzen Familie gleich. Aufgrund dieser falschen Zeugenaussagen werden Täter nicht selten aufgrund fehlender Beweisen freigesprochen (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 78).

Analyse von Gerichtsurteilen Bei den 300 Gerichtsakten stieß Yirmibeşoĝlu auf 213 weibliche und 142 männliche Mordopfer und insgesamt auf 355 Tötungsdelikte. 14 Prozent der Opfer waren unter 17 Jahre alt. Nach Angaben von Yirmibeşoĝlu dauert es bei Ehrenmorden meist bis zu einem Jahr, bis die Täter verurteilt werden. Ihr Strafmaß bewegt sich zwischen 12 und 20 Jahren, wobei viele Täter aufgrund strafmildernder Umstände nach zwei bis fünf Jahren entlassen würden (S. 55). Da die meisten Ehrenmorde im Affekt begangen werden, gelten sie nicht als vorsätzliche Tötungen mit einem entsprechenden Strafrahmen. Die ursprüngliche Strafe kann von 20 Jahren auf 15 Jahre verkürzt werden. Hinzu kommt Geständigkeit des Täters vor Gericht, wodurch die Strafe auf 10 Jahre verkürzt werden kann (§ 19 Strafgesetz). Wenn der Täter jünger ist, wird diese Strafe nochmals um ein Drittel gemindert. Es ist ebenfalls zu kritisieren, dass der türkische Staat gegen Blutrache massiver vorgeht als gegenüber Ehrenmorden, die immer noch gesellschaftlich toleriert und als »Kavaliersdelikte« betrachtet werden. Während ein Täter bei Blutrache bis zu 12 Jahren Haftstrafe bekomme, erhalten die Täter von Ehrenmorden im Durchschnitt eine sechsjährige Haftstrafe, wobei sie meist nach zwei Jahren wegen guter Führung entlassen würden (S.  27). Im Rahmen ihrer Untersuchungen begegnete Yirmibeşoĝlu der Anwendung von § 46 Strafgesetz nur in 27 Fällen der von ihr analysierten 300 Fälle. Umso häufiger wurde dagegen der § 51 (haksız tahrik) angewendet, der Strafmilderung für Affekttaten vorsieht (S. 230). Auffallend ist auch, dass in vielen Gerichtsakten die Ehrenmorde mit Formulierungen wie »entsprechend den Bräuchen dieser Gegend« oder »den Traditionen zufolge« oder »die Sittlichkeitsregeln verletzende Verhaltensweise« beschrieben

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

würden.61 Diese Ausdrücke zeigen, wie sehr die Ehrenmorde durch bestehende Traditionen gerechtfertigt angesehen werden.62 Die Soziologin Leyla Pervizat untersuchte 200 Gerichtsbeschlüsse, die sie aber nicht komplett in ihre Analyse aufnahm, in den Städten Adana, Diyarbakır, Gaziantep und Şanlıurfa (Pervizat, L.2005, S.  138f.). Bei den Fällen handelt es sich um Ehrenmorde, die Tötung von Neugeborenen im Namen der Ehre und Beihilfe zum Selbstmord. Sie betont, dass die Richter trotz der Einführung neuer Gesetze immer noch Strafminderung für Ehrenmörder beschließen. Ihr ist ebenfalls aufgefallen, dass es immer die getöteten Frauen waren, die im Gericht aufs Neue verurteilt und kritisiert worden sind. Ihre Kleidung und Lebensweise wurden in den Gerichtsakten genau wiedergegeben (S. 202f.). Eine umfassende Strafminderung hätten die Täter erhalten, wenn dem ermordeten Opfer ein unsittlich geführtes Leben im Sinne der Prostitution nachgewiesen werden konnte. Eine weitere Auffälligkeit ist, dass die Richter bei ihren Urteilen immer die Bedeutung von Traditionen und Gebräuchen betont hätten. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die neuen Gesetzesänderungen positiv zu beurteilen sind, einen großen Schritt in Richtung einer Gleichberechtigung der Geschlechter bedeuten und zugleich wiedergeben, dass die türkische Gesellschaft hinsichtlich der Ehrenmorde sensibler geworden ist. Dennoch ist zu bezweifeln, ob die Gesetzesänderungen ohne den starken Einsatz der Frauenorganisationen wirklich durchgeführt worden wären. Unterstützend gewirkt haben sicherlich auch die Beitrittsbemühungen der Türkei in die Europäische Union. Das Leben der Frauen wird in der Praxis weiterhin mehr von religiösen Normen, sozial festgelegten Werten und Traditionen geprägt als von den neuen Gesetzen. Hinzu kommt, dass die Täter immer noch viel zu sehr von der Akzeptanz und Toleranz der Ehrenmorde profitieren und trotz gesetzlicher Reformen keine langen Haftstrafen erhalten. In der neuen Zivil- wie Strafgesetzgebung gibt es einige Regelungen, die geändert oder gänzlich abgeschafft werden müssten, wie zum Beispiel die Jungfräulichkeitstests. In den nächsten Jahren müssen vor allem die Normen, die vorläufig nur auf dem Papier bestehen, in die Realität umgesetzt werden. Wichtig wird es auch sein, die Frauen über ihre Rechte aufzuklären.

1.3.2 Türkischsprachige Studien über Ehrenmorde Die zahlreichen türkischen Studien zum Thema Ehrenmorde, die im Folgenden analysiert werden, sind insgesamt die ausführlichsten Datenquellen für dieses 61 | Vgl. Bingöl, Strafgericht 1997/38-1997/54, Van Strafgericht, 1998/21-1998/155, Gaziantep Strafgericht, 1993/174-1993/186) (S. 29).

62 | Auch in Deutschland sei nach Baumeister üblich, dass in höchstrichterlichen Entscheidungen die Begriffe »Blutrache oder Ehrenmord« oft gemieden und umschreibende Ausdrücke wie »fremde (Wert)Vorstellungen« oder »Selbstjustiz zur Rettung der Familienehre« in diesem Kontext verwendet werden (Baumeister, W. 2007, S. 17).

147

148

Morde ohne Ehre

komplexe Thema. Dies könnte man mit dem persönlichen Bezug der Autoren erklären, da Ehrenmorde stärker in islamischen Ländern auftreten als in Europa, wo sich die englisch- und deutschsprachigen Studien mehr auf die Ehrenmorde von Migranten beziehen.

Yirmibeşoĝlus Untersuchungen Die Arbeiten und Untersuchungen von Vildan Yirmibeşoĝlu sind die bedeutendsten türkischsprachigen Studien zu diesem Thema. Die Juristin untersuchte 355 Ehrenmorde zwischen 1995 und 2000 (Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 48f.). Ihre Recherchen konzentrierten sich auf die Ehrenmorde in Städten, von denen die meisten im Osten und Südosten der Türkei liegen. Sie untersuchte 300 Gerichtsakten und stieß dabei auf 213 weibliche und 142 männliche Mordopfer und insgesamt auf 355 Tötungsdelikte (S. 88). 14 Prozent der Opfer waren unter 17 Jahren. Einige der Opfer waren Analphabeten und konnten kein Türkisch, da sie eine andere ethnische Zugehörigkeit hatten. Die meisten Betroffenen, sowohl Täter als Opfer, verfügten über keinen hohen Bildungsgrad, konnten nur lesen und schreiben und verfügten außer der Grundschule über keine Bildung genossen. In den meisten Fällen arbeiteten die Täter in der Landwirtschaft oder als einfache Arbeiter. Die Opfer waren in der Mehrheit mit den Tätern verheiratet oder standen in einer meist engen verwandtschaftlichen Beziehung zu den Tätern. Im Jahr 2000 hat sie des Weiteren in acht Städten Diyarbakır, Şanlıurfa, Mardin, Kilis, Van, Adana, Batman und Gaziantep) mit 320 Männern und 240 Frauen Face-to-face-Interviews durchgeführt. Das wichtigste Ergebnis ihrer Untersuchungen lautet wie folgt: Die Menschen aus dem Hauptuntersuchungsgebiet setzen Ehre mit dem Ansehen der Familie gleich. Ohne Ehre sehen sie keinen Sinn im Leben. Yirmibeşoĝlus Fragen an ihre Interviewpartner und die aussagekräftigsten Antworten lauten: Was verstehen Sie unter Ehre? • 39 Prozent sehen die Ehre als das Ausleben der weiblichen Sexualität entsprechend der gesellschaftlichen Normen und Erwartungen. • 16,4 Prozent verstehen unter der Ehre gesellschaftliche Werte und eine den Erwartungen des sozialen Umfeldes entsprechende Lebensweise. • 15,7 Prozent, sehen die Ehre als gleichbedeutend mit ihren Familien. • 12,8 Prozent verbinden den Ehrenkodex mit islamischen Glaubensinhalten. • 9,6 Prozent bezeichnen die Ehre als ein Kontrollmechanismus nach außen. • 3,3 Prozent waren der Ansicht, dass Ehre bedeute, dass kein Klatsch über das Liebesleben einer Frau entstehe.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Ist für Sie die Ehre einer Frau anders als die des Mannes und hat sie somit für jedes Geschlecht eine andere Bedeutung? • 37,1 Prozent sahen keinen Unterschied. 35,7 Prozent stimmten dieser Aussage zu. 9,2 Prozent gaben keine Antwort. Was würden Sie mit einer Frau machen, deren Ehre befleckt wurde? • • • • • • •

26 Prozent würden der Frau verzeihen. 25 Prozent würden sie töten. 13,7 Prozent würden sie von ihrer Familie ausschließen. 13,4 Prozent würden diese Entscheidung dem Familienrat überlassen. 13 Prozent würden sie selbst bestrafen. 4,6 Prozent würden sich scheiden lassen. 3 Prozent würden ein Gericht entscheiden lassen.

Wodurch wird die Ehre einer Frau befleckt? • • • • •

23,7 Prozent durch Vergewaltigung 22 Prozent durch Untreue 18 Prozent durch eine außereheliche Schwangerschaft 16 Prozent wenn die Frau sich prostituiere 15 Prozent betonten, dass sie auf die Entscheidung des Familienrats warten würden, bevor sie die Ehre einer Frau als befleckt betrachten würden (S. 52f.).

Wie denken Sie über die Institution des Familienrats? • 31,7 Prozent betrachteten ihn als eine wichtige Institution, die auf alten Bräuchen basieren würde. • 29 Prozent waren der Auffassung, dass er nur die Entscheidungen der Familie betreffe. • 28,7 Prozent gaben an, dass der Familienrat das letzte Wort in der Familie habe. • 4,4 Prozent vertraten die Ansicht, dass er eine überkommene Institution wäre, die man nicht brauchen würde. Was halten Sie von den Jungfräulichkeitstests? • 34,1 Prozent waren für die Abschaffung dieser Tests. • 33,92 Prozent waren für die Beibehaltung. • 17,6 Prozent gaben an, dass es auf die Person und die jeweilige Situation ankomme. • 7,6 Prozent betrachteten sie als eine überkommene Tradition.

149

150

Morde ohne Ehre

Die Untersuchungen der Juristin Yirmibeşoĝlu sind sehr umfassend. Die Antworten der Befragten zeigen jedoch, dass die Meinungen doch sehr weit auseinander gehen. Dieser Zustand macht einen gesellschaftlichen Konsens zum Thema sehr schwierig. Dass Yirmibeşoĝlu nicht auf den theoretischen Hintergrund der Ehrenmorde eingeht und viele seiner Ursachen nur anschneidet, ohne sie ausführlicher zu erläutern, wären die einzigen Kritikpunkte.

Studien von Leyla Pervizat Die Frauenrechtlerin und Soziologin Leyla Pervizat analysierte in ihrer Dissertation die Ehrenmorde mit einer verstärkt geschlechtertheoretischen Perspektive. Sie betrachtet die Ehrenmorde als ein universelles Phänomen, das mit den Affektmorden im Westen gleichgesetzt werden kann. Ihre zentrale These ist, dass das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern und dessen Auswirkungen in Abhängigkeit von Zeit, Raum und sozialen Umstände die Hauptursachen für das Auftreten der Ehrenmorde bilden. Die internationalen Diskussionen über Ehrenmorde und die wichtigsten Entwicklungen bezüglich der Menschenrechte bilden weitere Schwerpunkte ihrer Arbeit. Des Weiteren bekam sie die einmalige Gelegenheit, mehrere Gerichtsurteile zu Fällen von Ehrenmord aus soziologischer und juristischer Sicht zu bewerten. Sie analysierte insgesamt 200 Gerichtsakten (Pervizat, L. 2005, S.  138f.). Bei ihren Recherchen macht sie auf die Sprache aufmerksam, die in den Gerichtsakten verwendet wurde. Hier kommen Sätze vor, wie »Frau wurde ihrem Vater übermittelt« oder »Sie kam dahin, wo sie hingehört«, die die Sichtweise, dass die Frauen als ein Besitztum ihrer Familien angesehen werden, offenbaren (S. 168).63 Bei einigen Fällen handelte es sich um Ehrenmorde, die Tötung von Neugeborenen und Beihilfe zum Selbstmord im Namen der Ehre. Sie betont, dass mit diesen Fällen nur einen kleinen Teil dieser Morde dokumentiert wird, da die Dunkelziffer erheblich höher ist. Leyla Pervizat fordert Studien über Ehrenmorde in anderen Regionen der Türkei, z.B. am Schwarzen Meer und im östlichen Anatolien. Es sei nicht korrekt, diese Morde nur den südanatolischen Gebieten zuzuschreiben, wenn diese Tötungsdelikte in anderen Regionen noch nicht untersucht worden sind. Dieser Ansicht kann die Autorin nicht folgen, da eigene Recherchen und zahlreiche Studien belegen, dass unabhängig davon, wo die Ehrenmorde auftreten, die Täter meist aus ruralen südostanatolischen Gebieten stammen.

63 | Die nachstehenden Gerichtsurteile sprechen für sich: Urteil vom 10.11.1988 (40044025): »Das Ehepaar befand sich im Trennungsprozess. Doch dass das Opfer vor den Augen ihres Mannes mit einem anderen Mann tanzte, reicht als Grund aus, ihren Mann zu provozieren.« Der Täter bekam aufgrund dieser Argumentation eine deutliche Strafminderung: »Die Tatsache, dass das Opfer ihrem Mann ihre sexuelle Affäre gestand, reicht als Mordmotiv aus« (Urteil vom 25.6.1990, 1-176, 194).

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Ihre Untersuchungen hätten gezeigt, inwieweit die Frauen in der Türkei in ihren Rechten eingeschränkt sind und dass sie nicht als Menschen sondern als zu besitzende Objekte betrachtet werden. Alle Opfer der Ehrenmorde hätten gemein, dass sie sich den allgemeinen Moralvorstellungen und dem Ehrenkodex widersetzen und ein den sozialen Maßstäben nicht angepasstes Verhalten aufweisen. Die jungen Täter betrachten diese Morde als ein Statusritual, das ihnen mehr Anerkennung in der Männerwelt verschaffen soll. Vielen Tätern von Ehrverbrechen würden in den Gefängnissen als ein Zeichen der Hochachtung von anderen Gefangenen die Füße gewaschen. Pervizat berichtet in diesem Kontext von zwei ungewöhnlichen Bräuchen bei Ehrenmorden in der Türkei: Am Schwarzen Meer wird Männern, die wegen Untreue getötet werden, das Geschlechtsorgan nach dem Tod in den Mund gesteckt. In der anatolischen Stadt Gaziantep werden die Leichen der ermordeten Frauen nach der Tat weiß gefärbt. Die Ehrenmorde haben zudem viel mit Ängsten der Männer bezüglich ihrer Männlichkeit zu tun: Sie haben z.B. Angst davor, dass ihr Kind von einem anderen Mann gezeugt sein könnte. Die Untreue einer Frau bedeutet, dass ihr ein Mann nicht mehr ausreicht. Diese Minderwertigkeitskomplexe gegenüber anderen Männern zwingen sie zu diesen Gräueltaten. Dass ein aggressives Verhalten in der männlich dominierten und patriarchalisch strukturierten türkischen Gesellschaft eine hohe Zustimmung bekommt, verstärkt diese Motive (S. 256). Deshalb vertritt Pervizat die These, dass Ehrenmorde nur durch eine kulturelle Perspektive oder nur durch die Stellung der Geschlechter erklärt werden können. Pervizats Arbeit ist in Bezug auf die geschlechtertheoretische Dimension der Ehrenmorde sehr bereichernd. Sie nimmt jedoch kaum Bezug auf die Studien von türkischen Wissenschaftlern und berücksichtigt in erster Linie englisch- und arabischsprachige Arbeiten. Auf die Gesellschaftsstruktur und die Unterschiede zwischen dörflicher und städtischer Kultur geht sie nicht ein. Auch eine systematische Aufarbeitung der Gerichtsakten nach Berufsgruppen, Altersgruppen oder Motiven der Täter sowie eine Analyse der Gerichtsurteile in Bezug auf die Strafzuweisung für die Täter fehlen vollständig.

Studien von Mehmet Faraç Mehmet Faraç zitiert in seinem Buch über Ehrenmorde »Töre kıskacında kadın« insbesondere die Untersuchungen des Ministerium für Frauenangelegenheiten (Kadının Statüsü ve Sorunları Genel Müdürlüĝü) und gibt viele Fallbeispiele von Ehrenmorden wieder, die bei dieser Arbeit mehrfach zitiert wurden. Er vertritt die These, dass Ehrenmorde verstärkt in sozioökonomisch schwachen Gebieten wie im östlichen oder südostanatolischen Raum auftreten. Die oben benannte Studie zeigt zum Beispiel, dass die meisten Ehrenmorde in Şanlıurfa stattfanden und die Mehrheit der Täter arabischer Herkunft waren (Faraç, M. 2005, S.  175). Die Mehrheit der untersuchten Ehrverbrechen wurde von den jüngsten männlichen Familienangehörigen des Opfers begangen und in vielen Fällen wurden die Täter aufgrund ihrer Minderjährigkeit nach zwei bis drei Jahren Haft entlassen. Die ge-

151

152

Morde ohne Ehre

ringe Bildungsrate der Beteiligten an diesen Morden bestätigt Faraçs These, dass eher Personen mit einem niedrigen Bildungsgrad als Täter und Opfer in Frage kommen.

Doĝu Ergils Untersuchungen Doĝu Ergil analysierte im Zeitraum zwischen 1970-75 über 273 Fälle von Ehrenmorden anhand von Polizeidokumenten in Istanbul, Ankara und Izmir mit Fokus auf die Berufe der Täter und auf die soziale Schicht (Ergil, D.1980, S. 199f.). Nach seiner Auffassung sind Ehrenmorde eine Folge des sozioökonomischen Wettbewerbs, der charakteristisch für sozial schwächere Schichten ist. Seine Hauptthesen, die heute nur noch teilweise auf die Ehrenmorde zutreffen, lauten: 89 Prozent der untersuchten Ehrenmorde würden von Männern ausgeübt, die der sozialen Unterschicht zuzuordnen seien. Diese These kann heute noch anhand aktueller Quellen bestätigt werden. Männer bilden die Mehrheit der Opfer. Die aufgeführten Studien und die eigenen Untersuchungen der Autorin belegen hingegen, dass die Mehrheit der Opfer weiblich ist. Die Täter sind älter als die weiblichen Opfer. Auch diese Aussage ist nicht mehr ganz zutreffend. Aus neueren Studien und aus der eigens durchgeführten Printmedienanalyse geht hervor, dass die Mehrheit der Täter nicht viel älter als die Opfer ist, da sie in den meisten Fällen der Partner oder der Ehemann des Opfers waren. Als Mordmotive hält Ergil fest: Selbstverteidigung, Streitereien zwischen den Familien, Streiterei zwischen den Ehepartnern, unehrenhaftes Verhalten der Frau, verbale Beleidigung, Eifersucht, etc (S.  216). Wenn der Täter nach dem Mord einen Selbstmord begeht, spricht Ergil von »zweifachem Ehrenmord«. Tötung mittels Waffen insbesondere durch Erschießen gibt er als die am meisten gewählte Tötungsmethode an. Als Tatorte der untersuchten Fälle hält er fest: das eigene Haus, öffentliche Plätze (Straße, Café, Basar), Dorf, Arbeitsplatz, Haus eines Bekannten oder Verwandten, Gerichtssaal- oder Gebäude. Auch wenn Ergils Studien etwas älter sind und keine Aussagen über die Ursachen der Verbrechen enthalten, ist er ein oft zitierter Experte für dieses Thema und viele seiner Thesen treffen heute noch auf die Erscheinungsform dieser Verbrechen zu.

Studien über Ehrenmorde des Instituts für Frauenangelegenheiten Das Institut für Frauenangelegenheiten wurde 1990 gegründet, um die Lage der Frauen in der Türkei zu untersuchen und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern. Leitsatz des Instituts ist der § 10 Grundgesetz, in dem die Gleichberechtigung der Geschlechter verankert ist. Im Jahr 1999 führte das Institut erstmal eine Untersuchung zum Thema Ehrenmorde durch (Türkiye Cumhuriyeti Başbakanlık Kadının Statüsü ve Sorunları Genel Müdürlüĝü, 1999). Eine zweite Untersuchung, der so genannte Rapport über Ehrenmorde »Namus Cinayetleri Raporu«, der im Auftrag des United Nations Population Fund – UNFPA

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

(Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen) von Meltem Aĝduk und Filiz Kardam im Jahr 2005 veröffentlicht wurde, ist eine weitere häufig zitierte Studie. Im Auftrag des Instituts führte die Forschungsabteilung der Gazi Universität ein Panel zum Thema Ehrenmorde durch. Zu den Leitern dieses Panels gehören bedeutende türkische Forscher wie Mahmut Tezcan (Experte für Blutrache), Filiz Kardam und Odyakmaz. Diese drei Experten leiteten neben diesem Panel vier Feldstudien in Istanbul, Adana, Batman und Şanlıurfa, die 195 Gespräche mit verschiedenen Personen einschlossen (S.  16f.). Während 86 Personen aus den drei Untersuchungsgebieten stammten, waren die restlichen Befragten Vertreter bestimmter Berufsgruppen. Da diese Studie nur auf Beobachtungen beruht, betonen die Verfasser der Studie, dass sie nicht verallgemeinert werden kann, aber dennoch wertvolle Informationen über die Einstellung vieler Bürger zu den Ehrenmorden liefert. Die Teilnehmer wurden befragt, welchen Stellenwert das Ehrprinzip in ihrem Leben habe. Die Mehrheit der Befragten gab an, dass die Ehre das Wichtigste in ihrem Leben sei und sie dafür leben würden. Diesen Personen war gemeinsam, dass sie aus ruralen Gebieten stammten oder erst seit Kurzem aus ihrem Heimatdorf in die Städte emigriert waren. Zudem wurde bei dieser Umfrage die Beobachtung gemacht, dass die Antworten der jungen Generation viel aggressiver und extremer ausfielen als die der älteren Generation. Viele der Befragten gaben an, dass die Ehre der Frauen die eigene Ehre sei und dass die Ehre direkt mit der Treue ihrer Frauen zusammenhinge. Wie sich ein ehrenhafter Mensch zu verhalten hat, wurde ebenfalls gefragt. Ein 25-jähriger Abiturient aus Batman schilderte die Aufgaben einer ehrenhaften Frau wie folgt: »Eine ehrenhafte Frau muss zu Hause bleiben und immer ihrem Mann dienen. Sie soll keine Schande über ihre Familie bringen. Sie darf ihre Mutter nicht anrufen und sich darüber beschweren, wenn ihr Mann sie geschlagen hat. Sie darf sich auch nicht scheiden lassen oder sich mit anderen Männern treffen« (S. 119). Einige Befragte gaben an, dass ihr Land und die Nation ebenfalls zu ihrer Ehre gehören würden. Ein 50-jähriger Universitätsabsolvent aus Urfa hob hervor, dass die Ehre nicht mit der Sexualität einer Frau gleichgesetzt werden dürfe: »Die Ehre ist im Kopf eines Menschen und nicht zwischen seinen Beinen! Natürlich sollte die Sexualität im Rahmen der gesellschaftlichen Normen ausgelebt werden. Aber es kann nicht angehen, ein junges Mädchen zu töten, nur weil sie eine voreheliche Beziehung hatte« (a.a.O.). Eine 40-jährige Frau aus Adana beschreibt die Ehrlosigkeit wie folgt: »Alles wird als die Ehre der Frau betrachtet, ob sie mit einem Mann gesehen wird, ob sie einen kurzen Rock anhat oder ob sie sich nur mit einem Mann unterhält. Ich verstehe das nicht. Es gibt Familien, die ihre Töchter für 60 Milliarden TL an einen 60-jährigen Mann regelrecht verkaufen. Das ist für mich die absolute Ehrlosigkeit« (S. 24).

153

154

Morde ohne Ehre

Auch bei dieser Untersuchung war sich die Mehrheit der Befragten aus Istanbul einig, dass die Ehre als ein Phänomen Südostanatoliens und die Ehrenmorde als ein Ausdruck der feudalen und patriarchalen Struktur zu betrachten sind. In diesen Untersuchungen analysierten die Autoren 49 vollendete Ehrenmorde und versuchte Ehrenmorde, von denen 14 Fälle mit dem Tod des Opfers endeten (S. 28f.). Als wichtige Gemeinsamkeiten der untersuchten Fälle halten die Autoren folgende Aspekte fest: Verheiratete Frauen wurden härter bestraft und auf brutalere Weise getötet als ledige Frauen (S. 43). Einige Fälle konnten durch finanzielle Wiedergutmachung gelöst werden. Wenn die Seite des Ehrverletzers wohlhabend war und der Familie des Mädchens eine große Summe Geld anbot, konnte der Fall zwischen den Familien geregelt werden, ohne dass jemand getötet wurde. In arabischen Klans kam es am häufigsten vor, dass die Ehrverletzung durch finanzielle Wiedergutmachung beigelegt werden konnte. Je geschlossener das soziale Umfeld der Betroffenen war, desto härter war die soziale Diskriminierung der Familie und desto intensiver wurde die Familie durch dieses Umfeld gedrängt, den Ehrenmord zu begehen. Bei den Interviews konnten die Autoren vier Gruppen bezüglich der Einstellung gegenüber Ehrenmorden herausarbeiten: Absolute Befürworter von Ehrenmorden; Personen, die diese Verbrechen nur unter bestimmten Voraussetzungen befürworten; Personen, die Ehrenmorde als Folge des gesellschaftlichen Drucks rechtfertigen; strikte Gegner von Ehrenmorden (S. 44). Soziale Gegebenheiten wie die ökonomische Rückständigkeit der genannten Regionen und die herrschenden feudalen und semifeudalen Klanstrukturen wurden neben den ungleichen Geschlechterbeziehungen von den Befragten als bestimmende Faktoren angegeben. Viele Befragte betonten, dass die Medien durch die Darstellung der Ehrenmorde die Täter zu ihrer Tat motivieren würden. Zudem vertraten einige Befragte die Auffassung, dass insbesondere freizügige TV-Programme die Sittlichkeit der Jugendlichen schlecht beeinflussen könnten (S. 49f.).64

64 | Die Veröffentlichungen der türkischen Polizei über die Ehrenmorde in den Jahren 2000 bis 2006 sind eine weitere wichtige Datenquelle. Der Kriminalhauptkommissar Ismail Çalışkan publizierte Teile dieser Studie in türkischen Zeitungen. Nach dieser Studie ereigneten sich die meisten Ehrverbrechen in den drei Großstädten Ankara, Izmir und Istanbul. Die Mehrheit der Täter war jedoch östlicher und südanatolischer Herkunft. Bei diesen Verbrechen verloren 480 Frauen und 710 Männer und somit insgesamt 1190 Menschen ihr Leben. Leider können an dieser Stelle nur diese Informationen wiedergegeben werden, weil diesen Angaben lediglich ein Zeitungsartikel zugrunde liegt. Die türkische Polizei veröffentlichte die Ergebnisse dieser Studie ausschließlich in Zeitschriften (vgl. Posta vom 4.3.2006: Savaş bilançosu gibi).

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Ergebnisse der Frauenvereinigung Akader Die Frauenorganisation Akader in Diyarbakır organisierte 2003 ein internationales Symposium über Ehrenmorde mit Vertretern verschiedener Frauenvereinigungen und veröffentlichte die nachstehenden Ergebnisse.65 Zu den sozialen Ursachen von Ehrenmorden werden folgende Aspekte aufgeführt: Gruppenzusammengehörigkeit; geringer sozialer Status der Frauen; Rollenerwartung an Frauen und die traditionelle Arbeitsteilung; die außerordentliche Stellung der Ehre im Gesellschaftssystem; geringe Ausbildung der Beteiligten; psychische Verfassung der Beteiligten zum Tatzeitpunkt (S. 51). Zitiert wird in der Veröffentlichung eine Meinungsumfrage bei Studenten der Dicle Universität in Diyarbakır. Im dieser Befragung wurden im Jahr 2003 52 Studenten zwischen 17 und 30 Jahren interviewt. 75 Prozent der Befragten stammten aus Diyarbakır oder Umgebung, während die restlichen 21 Prozent nicht aus anatolischen Gebieten stammten. Die Studenten gehörten Familien mit mehr als 4 Familienmitgliedern bis hin zu Familien mit bis zu zehn Familienmitgliedern an. Auffallend war, dass die Eltern der Befragten im Durchschnitt nur über einen niedrigen Bildungsgrad verfügten (S. 56). Die Studenten wurden befragt, ob sie ihr Leben nach Traditionen ausrichten. 59 Prozent gaben an, dass sie sich manchmal nach ihnen richten, während beachtliche 29 Prozent betonten, dass sie sie immer befolgen würden. 12 Prozent dagegen vertraten die Meinung, dass sie sich unbedingt nach ihnen richten müssten. Auf die Frage, was sie tun würden, falls ihr Ehepartner untreu wäre, antworteten die Befragten wie folgt: 49 Prozent gaben eine sofortige Scheidung als Antwort an, 19 Prozent würden dagegen einen einmaligen »Fehltritt« verzeihen, während 13 Prozent es betonten, dass sie ihren Partner umbringen würden. 6 Prozent waren dagegen der Ansicht, dass Untreue eine natürliche Angelegenheit sei. 13 Prozent stimmten den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten nicht zu. Die Frage, was sie tun würden, wenn ein weibliches Familienmitglied aus dem Elternhaus fliehen würde, antworteten die Befragten wie folgt: 46 Prozent der Frauen und 39 Prozent der Männer betonten, dass dies kein Problem sei, wenn sie zurückkäme und sich für ihr Verhalten entschuldigen würde. 19 Prozent der Frauen und Männer meinten, dass sie dann nichts unternehmen würden, weil so etwas vorkommen könne. 4 Prozent aus beiden Geschlechtergruppen antworteten, dass sie sie töten und umbringen lassen würden. Dass sie die Entflohene ablehnen würden, gaben 15 Prozent der Männer und 8 Prozent der Frauen an. 23 Prozent dagegen zogen andere Alternativen als die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten vor (S. 59). Die Ergebnisse dieser Umfrage zeigen, wie sehr auch die jüngere Generation immer noch von alten Traditionen und dem Ehrprinzip geprägt ist.

65 | Akader 2003: Internationales Symposium über Ehrenmorde-2003 Diyarbakır. URL: www.akader.org

155

156

Morde ohne Ehre

Untersuchungen der Frauenorganisation Kamer Die Frauenorganisation Kamer mit Sitz in Diyarbakır hat schon vielen Frauen, die von einem Ehrenmord bedroht wurden, das Leben gerettet. Im Folgenden werden die Hauptergebnisse ihres Berichts über Ehrenmorde im Osten und Südosten der Türkei und die Entwicklung präventiver Maßnahmen aus dem Jahr 2005 wiedergegeben. Das Projekt zur langfristigen Vorbeugung von Verbrechen im Namen der Ehre im Osten und Südosten der Türkei umfasst 13 Städte im Projektgebiet.66 Das Ziel dieses Projektes ist, die Sicherheit der bedrohten Frauen zu gewährleisten und ihnen neue Lebensperspektiven, gegebenenfalls an einem anderen Ort anzubieten. Die Zentralstelle des Projekts operiert in Diyarbakır. Ein weiteres Ziel ist, die Ansiedlung von Frauenzentren in zunächst 13 und später auf insgesamt 23 Städten auszudehnen (S.  15). Danach sollen eigens geschulte Mitarbeiter versuchen, von diesen Zentren aus, die Frauen in abgelegenen Gebieten und in den Dörfern zu erreichen. Die Projektdauer beträgt drei Jahre. Ziel ist alle Frauen in diesen Gebieten zu erreichen: Her Kadın İçin Bir Fırsat, für jede Frau eine Möglichkeit. Das schwedische Konsulat und einige holländische Stiftungen übernahmen die Finanzierung des Projekts, das am 1. Juni 2005 startete und inzwischen 18 Frauenzentren in Städten eröffnete.

Analyse von Medienberichten Zwischen 2003 und 2005 analysierte Kamer vier Tageszeitungen in Bezug auf ihre Berichterstattung über Ehrenmorde (S. 19f.): Sie berichteten von 58 Ehrenmorden in den Medien. 38 Prozent dieser Morde wurden aufgrund der vermuteten Untreue der Frau, 26 Prozent wegen des nicht normkonformen Verhaltens des Opfers und 14 Prozent wegen sozialer Nachrede begangen. 24 Prozent der weiblichen Opfer waren unter 18 Jahre, 26 Prozent zwischen 18 und 25 und 34 Prozent über 25 Jahre alt. Auffallend in der Berichterstattung war, dass der Mordakt bis ins kleinste Detail geschildert wurde. Die Medien machten zudem verstärkt von dem Begriff traditionelle Morde (töre cinayetleri) anstatt vom Begriff Ehrenmord Gebrauch. Die Schlagzeilen wie »Traditionen befehlen es so« oder »Tradition fordert ihr Opfer« würden den Glauben bestärken, dass die Befolgung der Traditionen unabdingbar und der Drang einen Ehrenmord zu begehen, von den Menschen nicht zu kontrollieren sei. Durch die Fokussierung auf den allmächtigen Charakter der Traditionen würden die Täter der Morde oft in den Hintergrund rücken. Aber die Schlagzeilen würden auch die Verzweiflung und die Ohnmacht gegenüber diesen Taten wiedergeben.

66 | Güneydoğu Ve Doğu Anadolu Bölgelerinde »Namus« Kisvesi Altında İşlenen Cinayetler İle Mücadelede Kalıcı Yöntemler Geliştirme Projesi.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Präventive Maßnahmen gegen Ehrenmorde Ein weiterer Bericht der Organisation wurde unter dem Titel »Um nicht, schade, wir hätten mehr dagegen tun können, zu sagen« (Keşke dememek için) im Jahr 2004 veröffentlicht. Bei diesem Bericht setzt sich die Vereinigung mit den präventiven Maßnahmen gegen diese Verbrechen auseinander. Die vorgeschlagenen Arbeiten und die Maßnahmen werden in dem Abschnitt Perspektive der Frauenorganisationen näher erläutert.

Studien über die erhöhten Selbstmordraten bei Frauen »Meine Mutter gab mir ein Seil und sagte zu mir, ich solle unsere Ehre bereinigen. Ich ging in Elifs Zimmer und machte das Seil an der Decke fest und stellte ihr einen Stuhl hin. Dann habe ich sie auf den Stuhl gestellt und das Seil um ihren Hals gewickelt. Dann sagte ich ihr, dass sie sich gleich loslassen soll und bin aus dem Zimmer raus. Als wir eine Stunde später in ihr Zimmer kamen, war sie schon tot.« (Zitat von H. T., der seine Schwester wegen einer unehelichen Schwangerschaft zum Selbstmord aufforderte: Efe, N. 2005, S. 13).

Viele türkische Forscher nehmen an, dass die hohen Selbstmordzahlen bei Frauen im Osten der Türkei so genannte »getarnte Ehrenmorde« sind. Viele Frauen würden Selbstmord infolge von Unterdrückung verüben. Sie würden sich aber auch manchmal das Leben nehmen, nachdem ihre Familien sie wegen der Befleckung ihrer Ehre dazu gezwungen hätten. Zahlreiche Ehrenmorde würden als Selbstmorde bei der Polizei gemeldet. Ihre Annahme begründen die Forscher mit den zahlreichen Gesprächen, die sie mit Überlebenden von Selbstmordversuchen durchgeführt haben. Es gibt vier größere Studien bezüglich der Selbstmordraten bei Frauen im Osten der Türkei: die Arbeiten der Anwaltsvereinigung in Batman und die Untersuchungen von Halis, Sır und Yıldı, wobei die Mehrheit der Studien auf den Untersuchungen des türkischen Psychiaters Aytekin Sır anschließen.

Ergebnisse der Anwaltsvereinigung Batman In den Jahren 1999 bis 2000 analysierte die Anwaltsvereinigung in Batman die Selbstmorde in ihrer Stadt (Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 244f.). 47 Fälle wurden untersucht. Man stellte fest, dass viele betroffene Familien nach dem Selbstmord eines Familienangehörigen den Wohnort gewechselt haben. Eine weitere Auffälligkeit war, dass die Verstorbenen alle aus ähnlichen sozioökonomischen und kulturellen Verhältnissen stammten. Die erhöhten Selbstmordraten in dem Untersuchungszeitraum erklärt die Studie durch die Folgen der Migration in die Städte. In den Jahren 1985-1995 hätte es einen umfangreichen Ansturm von ehemaligen Dorfbewohnern nach Batman gegeben, die auf der Suche nach einer Arbeit in die Stadt kamen. Manche verließen ihre Dörfer, weil sie Angst vor dem PKK Terror hatten. Diejenigen, die kein Geld zur Verfügung hatten, zogen in die Gecekondugebiete ein.

157

158

Morde ohne Ehre

Als Gründe für die Selbstmorde gaben die Befragten Motive an, die mit der Migration in die Städte und dem damit verbundenen Wertekonflikt zwischen dörflicher und städtischer Kultur zusammenhingen: Ziellosigkeit, Traurigkeit und das Gefühl, sich nicht an die Gesellschaft anzupassen. 75 Prozent der Personen, die einen Selbstmordversuch unternahmen, waren Frauen. Diese Zahl ist deshalb so erschreckend, weil im internationalen Vergleich nur 25 Prozent der Personen, die einen Selbstmordversuch unternehmen, Frauen sind. Eine weitere Auffälligkeit ist, dass die Mehrheit der Selbstmörderinnen Familien angehörten, die nach 1985 aus Dörfern nach Batman emigriert waren. In den Dörfern hatten die Betroffenen bessere Möglichkeiten, sich am Alltags- und Erwerbsleben zu beteiligen. Doch in der Stadt lebten die meisten in unterentwickelten Gebieten, in denen sie keine Arbeit finden und weniger sozialen Kontakt hatten. Insbesondere die Frauen hätten nur zu ihrer Familie und ihren Verwandten engen Kontakt. Da das Stadtleben auf die Familienväter fremd wirkte, verhalten sie sich meist sehr streng zu ihren Töchtern. Die einzige Möglichkeit für Frauen, aus ihrem zu Hause wegzukommen, ist eine Heirat.

Aytekin Sırs Selbstmordstudien Sır führte mehrmals Untersuchungen über die Selbstmordraten bei Frauen durch und verglich die Raten in der Türkei mit den internationalen Zahlen über Selbstmorde.67 Sır analysierte im Jahr 1997 134 Fälle von Selbstmorden in Diyarbakır anhand von Gerichtsakten. Auf den Akten waren Geschlecht, Alter, Beruf und die gewählte Selbstmordmethode vermerkt. Des Weiteren befanden sich in den Akten die Autopsieberichte, Zeugenaussagen und gegebenenfalls der Abschiedsbrief des Opfers. Sır weist darauf hin, dass die Selbstmordrate in der Türkei im Durchschnitt sehr niedrig ist, aber die Raten in Diyarbakır insbesondere in den letzten fünf Jahren überproportional angestiegen sind. Auffallend ist auch, dass sich in Diyarbakır doppelt so viele Frauen das Leben nehmen wie Männer.68 Sır erklärt diese hohe Rate mit der benachteiligten sozioökonomischen Lage der Frauen im Südosten der Türkei. Dass die Selbstmordraten bei Frauen in anderen ostanatolischen Städten ebenfalls sehr hoch sind, untermauert diese These. Die Mehrheit der Selbstmordversuche wurde von Personen zwischen 15 und 24 Jahren vorgenommen. Mit dem Tod endeten die meisten Selbstmordversuche bei

67 | Er war so freundlich, der Autorin seine persönlichen Dokumente und Daten diesbezüglich zur Verfügung zu stellen.

68 | In den USA zum Beispiel ist die Selbstmordrate bei Männern dreimal so hoch wie bei Frauen (Roy 1996). Im Vergleich zu der Selbstmordrate der Männer ist die Selbstmordrate der Frauen in Hong Kong mit 1,9 Prozent weltweit am höchsten (s.o.). In Diyarbakır sei diese Rate mit 1,89 Prozent fast genau so hoch.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Frauen in den Altersgruppen zwischen 15 und 24 und bei den Männern zwischen 25 und 34. • Familienstand: Die Mehrheit von 57,7 Prozent der weiblichen und männlichen Personen war ledig, 34.6 Prozent verheiratet und 7.7 Prozent verwitwet. • Selbstmordmotive: Psychische Erkrankungen waren bei 46,1 Prozent maßgeblich, dem folgten familiäre Probleme und Probleme wegen einer Liebesbeziehung. Depressionen als hauptsächliche psychische Erkrankung traten bei 55,6 Prozent der Männer und bei 35,2 Prozent der Frauen auf. • Tötungsmethoden: Mit 42,3 Prozent war das Erhängen die am häufigsten gewählte Tötungsmethode. 26,9 Prozent versuchten sich, von einer höheren Stelle herunterzustürzen und 19,2 Prozent verwendeten eine Schusswaffe. Auffällig war, dass es offensichtlich eine Korrelation zwischen Bildungsstand, Selbstmordversuch und vollendeten Selbstmord gab: Insgesamt waren nur 1 Prozent derjenigen, die einen Selbstmordversuch unternahmen, Akademiker, aber 11,5 Prozent fanden dabei tatsächlich den Tod, während 40 Prozent der tödlich endenden Versuche von Analphabeten begangen wurden. Auch die Jahreszeiten beeinflussen die Selbstmordrate: Die Mehrheit der Selbstmorde, 38,5 Prozent, wurden im Winter begangen, 30,8 Prozent erfolgten im Herbst, 23 Prozent im Frühling und 7,7 Prozent im Sommer. Aytekin Sır hebt hervor, dass die jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren am anfälligsten für Selbstmordversuche sind, während bei Männern eher die Altersgruppe zwischen 20 und 24 Jahren betroffen ist. Diese hohen Raten in der jungen Generation erklärt Sır mit dem Generationenkonflikt und dem Wertewandel innerhalb den Familien. Die ältere Generation ist ab dem 55. Lebensalter von Selbstmordabsichten betroffen. Sır hebt hervor, dass eher arbeitslose Menschen Selbstmordversuche durchführen und 25 Prozent der missglückten Versuche von 30 Prozent der Personen zum späteren Zeitpunkt wiederholt wurden und dann mit dem Tod endeten. Zu den sozioökonomischen Faktoren, die die Selbstmordrate prägen, zählt Sır die Folgen der Städteflucht und den damit verbundenen Statusverlust vieler Migranten. Um gegen die erhöhten Selbstmordraten vorzugehen, schlägt er vor, dass sich staatliche Instanzen, Organisationen und vor allem die Medien mehr um die Aufklärung und Hilfmaßnahmen für bedrohte Menschen bemühen. Den Medien schreibt er hierbei ein großes Potential zu, um diese perspektivelosen Menschen zu erreichen.

Müjgan Halis Ausführungen Halis Untersuchung basieren auf den nachstehenden Studien von Aytekin Sır. Sie sind für die Analyse der Ursachen der Selbstmorde die wichtigste Bezugsquelle. Müjgan Halis, eine Journalistin, die ein Buch über die Ursachen der erhöhten Selbstmordraten veröffentlichte (Batman’da kadınlar ölüyor, vom 2001), weist auf die zunehmende Politisierung Südostanatoliens hin, die die Rechte der Frauen

159

160

Morde ohne Ehre

eingeschränkt und verschlechtert hat. Viele Städte in diesen Gebieten litten seit Jahrzehnten unter dem Terror von PKK und der extrem fundamentalistischen terroristischen Organisation Hizbullah (Halis, M. 2001, S. 7). Nach 1985 sind viele auf Druck des türkischen Staates nach Batman emigriert, da damals die PKK sehr aktiv war und die türkische Armee deshalb die Bewohner ganzer Dörfer zur Umsiedelung in Städte veranlasste. Diesen Menschen fiel es schwer, sich den Umständen in den Städten anzupassen. Die ökonomischen Probleme verstärkten die Anpassungsschwierigkeiten. Die Frauen durften sich nur zu Hause aufhalten. Das Fernsehen war oft der einzige Kontakt zur Außenwelt. Dabei wurde der Wertekonflikt verstärkt, weil sie im Fernsehen all den Freiheiten begegneten, die sie in ihrem Leben nicht hatten. Diese Lebensumstände hatten einen erheblichen Einfluss auf die Unzufriedenheit der Frauen. Nur durch eine Heirat könnten junge Mädchen dem Druck ihrer Familie entfliehen. Die meisten Ehen waren jedoch arrangiert uns waren daher nicht ohne massive Konflikte. Müjgan Halis stellte bei ihren Gesprächen mit Jugendlichen aus diesen Gebieten fest, dass sie den Generationenkonflikt als Hauptursache bei den Selbstmorden angaben (S. 71f.). Fehlende individuelle Freiheiten führten zu Selbstmordabsichten der Mädchen. Deshalb erklärt auch Halis die hohe Zahl der Selbstmorde bei Frauen in Diyarbakır damit, dass sie sehr unter dem enormen Druck ihrer Familien und des sozialen Umfeldes leiden. Ähnlich hohe Selbstmordraten in anderen anatolischen Gebieten mit traditioneller Lebensweise und traditionellen Wertvorstellungen bestätigen den Einfluss dieser Faktoren und der patriarchalen Machtstrukturen. Bei den Frauen, die sich das Leben nahmen, bilden Konflikte innerhalb der Familie die Hauptursache, während die Männer sich eher wegen finanzieller Probleme das Leben nehmen. Zusammenfassend hält die Journalistin vier Ursachen für den erhöhten Suizidanteil der Frauen fest: Für die politischen Gründe unterstreicht sie die langfristige Wirkung des jahrelangen PKK Terrors oder des Terrors der fundamentalistisch islamistischen Organisation Hizbullah.69 Aufgrund dessen wurden die Menschen aus diesen Regionen täglich mit dem Tod und Terror konfrontiert. Ökonomische Gründe sind die allgemeinen schlechten sozioökonomischen Bedingungen in diesen Gebieten, insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit. Zu den sozialen und kulturell bedingten Gründen zählt Halis die Folgen der Modernisierung und den damit verbundenen Wertekonflikt, die Diskrepanz zwischen der von den Medien vermittelten und der wirklichen Realität, die unzureichende Bildung, den Druck der Familie und des sozialen Umfeldes und die Gewalt innerhalb der Familie. Psychologische Gründe wie Depressionen 69 | Hizbullah ist eine 1979 gegründete islamitisch-fundamentalistische Organisation, deren Ziel die Errichtung eines islamistischen kurdischen Staates ist. Da sie auf der islamischen Ideologie beruht, betrachtet sie die PKK als einen Gegner, weil sie eine linksextremistische Ideologie verfolgt. Insbesondere in den 1990er Jahren wurden viele Bürger Opfer von Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Armee, der PKK und den Anhängern der Hisbollah. Auch viele Anschläge wurden von dieser Vereinigung ausgeübt.

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

oder andere psychische Krankheiten bilden die vierte Gruppe bei den Ursachen (S. 148).

Yıldız’ Ergebnisse Der Soziologe Yıldız untersuchte zwischen den Jahren 1999 und 2000 die Selbstmordraten in Batman. Von den 135 untersuchten Fällen endeten 43 mit dem Tod. Die Mehrheit der Fälle, 75 Prozent, wurde von jungen Menschen zwischen 13 und 25 Jahren begangen. Davon waren 80,8 Prozent Frauen und 19.2 Prozent Männer. Bei den Frauen machten die ledigen Frauen unter 25 Jahren 65 Prozent aus. Für diese Entscheidung nennt Yιldιz folgende Lebensumstände: Druck der Familie und des sozialen Umfelds, Sehnsucht nach der Lebensweise der »westlichen« Kultur, Wertewandel und der sich daraus ergebende Generationenkonflikt, geringe Bildungschancen, Gewalt in der Familie oder unglückliche Beziehungen. Bei den psychologischen Faktoren unterscheidet er Kontrollverlust, Angstzustände, Depressionen, posttraumatische Stresssituationen und das Gefühl, sich für alles verantwortlich zu fühlen. Als »Profil« einer Selbstmordgefährdeten Frau gibt Yıldız folgendes Bild an: »Eine Frau, die in jungen Jahren gegen einen Brautpreis »verkauft« wurde; die gegen ihren Willen 5 bis 6 Kinder auf die Welt brachte; die aus ihrem familiären und sozialen Umfeld durch die Heirat herausgerissen wurde; die keine Chance auf eine gute Ausbildung hatte; die wegen ihrer Hausfrauentätigkeit zu Hause eingesperrt war« (Kamer, 2004, S. 146).70 Die vorgestellten Untersuchungen geben verschiedene Merkmale der Ehrenmorde wie zum Beispiel den Öffentlichkeitscharakter oder die Rolle der Ehrauffassungen bei den Betroffenen mit meist südostanatolischer Herkunft sehr gut wieder. Die Rolle der sozioökonomischen Missstände und die geringe Bildungsstand der Betroffenen wurden von mehreren Studien als deutliche Merkmale hervorgehoben.

1.3.3 Blutrache als Sonderkategorie von Ehrenmorden »Blutrache ist wie eine endlose und genetische Krankheit einer Familie« (Zitat von Şevki Sözen, Gerichtsmediziner, Interview vom 06.12.2005).

Die Blutrache ist nach den Angaben von Artun Ünsal »ein Prinzip zur Sühne von Verbrechen, bei dem Tötungen durch Tötungen gerächt werden« (Ünsal, A. 1995, S. 67f.). Es stellt die Ultima Ratio der Konfliktbewältigung innerhalb der Fehde dar. Neben der Familie im biologischen Sinne kann es sich auch um einen Klan oder eine kriminelle Vereinigung handeln. 70 | Yıldız weist wie viele Forscher darauf hin, dass viele Ehrenmorde unter dem Deckmantel des Selbstmords stattfinden. Oft würden dann Kommentare wie diese vom sozialen Umfeld gemacht: »Sie hat sich das Leben genommen, weil sie sonst Opfer eines Ehrenmords geworden wäre« (a.a.O.).

161

162

Morde ohne Ehre

Werner Baumeister definiert die Blutrache, die er als ein Delikt der Ehre betrachtet, als: »Einen Brauch, wonach eine durch Tötung oder auf andere Weise herbeigeführte Ehrverletzung eines Einzelnen oder einer sozialen Einheit (Familie, Sippe, Clan), falls es nicht zu einem Rachverzicht oder ein vernehmlichen Sühneausgleich kommt, nur dadurch beseitigt werden kann, dass ein Mitglied dieser Einheit durch eine der Ehrverletzung angemessene Bluttat, sei es eine Tötung oder eine Körperverletzung, am Täter oder an einem seiner Angehörigen Rache nimmt« (Baumeister, W. 2007, S. 19). Mehmet Faraç analysierte in seinem Buch »Doĝu yakasında yeni birşey yok« (Im Osten nichts Neues) die Ehrenmorde und Blutrachefälle im Osten der Türkei. Beide Mordarten treten in der Mehrheit bei arabischen und kurdischstämmigen Familien auf. Nach seinen Angaben ist die Selbstjustiz in Form von »Survival of the Fittest« in diesen Gebieten immer noch an der Tagesordnung und führt zur Entstehung von zahlreichen neuen Morden. Blutrache ist für die Bewohner dieser Gebiete ein alltägliches Ereignis. Deshalb vergleicht er den Stellenwert der Blutrache mit dem täglichen Brot (Faraç, M. 2005. S. 16f.). Das Auftreten dieser Fälle begründet er mit der ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Rückständigkeit der Regionen und den fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den verfeindeten Familien (S. 34). Die Knappheit des Wassers in diesen Gebieten ist ein weiterer Grund für die zahlreichen Fälle, weil viele Blutracheauseinandersetzungen aus einem Streit um den Gebrauch und das Nutzungsrecht des knappen Wassers entstanden wären (S. 111). Das Buch »Kan Davası« (Blutrache) von Artun Ünsal, Rechtssoziologe, ist im türkischsprachigen Raum die fundierteste Studie zu diesem Thema. Ünsal definiert Blutrache als »eine Reaktion des Individuums auf sein soziales Umfeld«, die vor dem geschichtlichen Hintergrund der Bildung von diversen Klanstrukturen zur Zeiten des Osmanischen Reichs zu beurteilen ist (Ünsal, A. 1995, S. 74f.). Als Mustafa Kemal Atatürk die türkische Republik gründete, wurden Reformen auf allen Gebieten durchgeführt, doch die Abgeschiedenheit vieler Ortschaften und die Macht der Klans in Anatolien haben dazu geführt, dass nicht die Gesetze die Landaufteilung regelten, sondern die Klanführer. Dies hatte wiederum die Streitereien und die daraus folgenden Blutrachefälle entfacht (vgl. Ünsal, 1995, S. 31f.). Akman, ein Politiker in Südostanatolien beschreibt die Macht der Klans in diesen Gebieten: »Die Tatsache, dass die staatliche Autorität in diesen Gebieten versagt, verstärkt die Bindungen und die gegenseitige Abhängigkeit innerhalb des Klans. Zudem untermauern die kollektiven Bestrafungen die Stellung der Klans. Deshalb wenden sich die Menschen an ihren Klanführer, wenn sie Probleme haben. Wenn man dazu die unzureichende Bildung der Menschen in diesen zurückgebliebenen Gegenden addiert, kann man den Teufelskreis, in dem sich die Menschen befinden, besser nachvollziehen« (Faraç, M. 2006, S. 55). Bei Blutrache wirken soziale, kulturelle, ökonomische und politische Faktoren zusammen, die die Betroffenen zu dieser Tat motivieren. Man begegnet Blutrache-

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

fällen daher in der Mehrheit in unterentwickelten und ländlichen Gebieten, wo die staatliche Autorität über wenig Macht verfügt und die Klanstrukturen sehr ausgeprägt sind. Blutrachefälle können jedoch nicht allein durch soziokulturelle und politische Gegebenheiten erklärt werden, da die Psychologie der Täter ebenfalls von entscheidender Bedeutung ist. Die Blutrache ist ein gesellschaftliches rurales Phänomen, mit dessen Hilfe die betroffenen Familien ihrem sozialen Tod entgehen und die bestehenden patriarchalen Ordnungen bewahren können. Mehmet Çulha, Präsident der Anwaltsvereinigung in Trabzon, kommentiert diese Aspekte wie folgt: »Armut ist der Faktor, der die Menschen straffällig macht. Dazu kommt, dass die Menschen in der Region wenig besitzen. Deshalb bedeutet ihnen beispielsweise ein Stück Land mehr als ein Menschenleben. Darüber hinaus werden sie schnell wütend und aggressiv und sind von sturer Natur und so eskalieren die Auseinandersetzungen« (S. 53). In Bezug auf die Merkmale der Blutrache weist Artun Ünsal auf die unterschiedlichen Örtlichkeiten und die daraus resultierenden Klanstrukturen hin. Demnach sei z.B. die ›Klanstruktur« in Südostanatolien anders als die Klanstruktur in der Region am Schwarzen Meer oder in der Ägäis. In der Türkei komme die Blutrache am häufigsten im Mittelmeerraum und in der Region an den östlichen Gebieten vor: Diyarbakır, Şanlıurfa, Mardin, Giresun, Sivas, Ordu, Konya, Adana. Diese Städte belegen, dass die Hochburgen der Blutrache im Osten und Südosten der Türkei anzutreffen sind (S. 81). Am Schwarzen Meer waren am häufigsten die Städte Ordu, Giresun, Trabzon und Rize von Blutrache betroffen (S. 54). Der Politologe Sefa Şimşek unterteilt die Ursachen von Blutrache in zwei Gruppen: ökonomische und nicht ökonomische Ursachen (Şimşek, S. 1995, S. 62): Bei den ökonomischen Ursachen ist der knappe Landbesitz entscheidend. Diese Situation wird dadurch verstärkt, dass Erbschaften, aufgrund der hohen Kinderzahl in den dörflichen Gebieten, in viele Stücke aufgeteilt werden müssten. Bei den nicht ökonomisch bedingten Gründen findet man Verhaltensweisen wie beispielsweise Brautentführungen oder allgemeinen Einordnung der einzelnen Ursachen hilfreich. Der türkische Pädagoge Recep Cengiz dagegen hebt die folgenden Ursachen für Konflikte innerhalb einer Gruppe hervor: Streitereien wegen eines Landbesitzes oder Wettbewerb mit anderen Landbesitzern; Streitereien wegen der gemeinsamen Nutzung von Weideflächen; Streitereien wegen politischer Auseinandersetzungen im Dorf; Brautentführungen; Autoritätsverlust der staatlichen Instanzen; geringer Bildungsniveau der Beteiligten (Frauenorganisation Akader 2001, S. 69). Bei den juristischen Faktoren betont Cengiz die geringen Strafen, zu denen die Mehrheit der Täter verurteilt wird. Dies würde sie geradezu zu den Taten motivieren. Den Statistiken des Justizministeriums zufolge benötigen die Gerichte bei Blutrachefällen viel Zeit, bis es zu einer Urteilsverkündung kommt. Für schwere Verbrechen wie Tötungsdelikte werden im Durchschnitt 350 Tage gebraucht, während bei Strafdelikten von Jugendlichen der Abschluss eines Falles bis 755 Tagen dauern kann Diese langen Fristen ermutigen viele Täter, Selbstjustiz auszuüben,

163

164

Morde ohne Ehre

weil die staatlichen Rechtsmühlen »sehr langsam mahlen« würden (S. 72). Dies ist soweit ein wichtiger Faktor, da die soziale Existenz sowie die Ehre der betroffenen Familie von ihrer Reaktion auf die Ehrverletzung abhängt. Ein zu langes Warten auf die Vergeltung der Ehrverletzung durch die staatlichen Instanzen kann in der Zwischenzeit das Ansehen der Familie enorm schwächen. Die Arbeiten von Werner Baumeister gehören im deutschsprachigen Raum zu den ausführlichsten Werken in Bezug auf Blutrache. Er definiert in diesem Kontext vier Formen von Blutrache (Baumeister, W. 2007, S. 44f.): • Klassische Blutrache, in die zwei soziale Einheiten, meistens Familien oder Großfamilien, aber auch Sippen oder sogar Stämme involviert sind. • Eingeschränkte Blutrache, in der die soziale Einheit als kollektive Komponente auf einer Seite fehlt. • Rachetat ohne kollektive Komponente, bei der deshalb nur von einer der Blutrache ähnlichen Tat die Rede sein kann. • Bestrafung eines Mitglieds der eigenen sozialen Gemeinschaft wegen Verstoßes gegen die traditionellen, Ehrerhaltenden Verhaltensregeln entspricht dem Typus des Ehrenmords. Folglich betrachtet Baumeister die Blutrache auch als ein Delikt der Ehre. Als Eigenheiten der Blutrache beschreiben die oben zitierten Autoren Ünsal, Faraç und Şimşek folgende Aspekte: Artun Ünsal macht darauf aufmerksam, dass viele Klans im Osten bei Blutrachefällen auf die Hilfe von extremen politischen Gruppen wie Hizbullah oder PKK zurückgreifen und sie als Auftragskiller missbrauchen (Ünsal, A. 1995, S. 29). Diese These ist aber aufgrund ihrer politischen Brisanz kaum auf ihre Gültigkeit zu überprüfen. Bei Blutrachefällen sei es unüblich, Kinder oder Frauen zu töten. Zur weiteren Regeln der Blutrache gehörten, dass der Feind nicht getötet werden darf, wenn er zum Tatzeitpunkt schläft, trinkt, betet oder isst (Şimşek, S., 1995, S. 67). Es ist zudem ein Brauch, als Racheakt den Grundbesitz oder die Felder der verfeindeten Familien anzuzünden (S. 51). Dieses Merkmal wird auch von anderen Experten genannt (vgl. Faraç, M. 2004, S. 56f.). In den betroffenen Regionen gehört es zur Tagesordnung, dass die Richter, die die Blutrachefälle verhandeln, bedroht und sogar umgebracht werden. Infolge dessen habe die halbfeudale Ordnung mehr Macht in diesen Gebieten als der türkische Staat (vgl. Faraç, M. 2006. S. 74). Im Rahmen der durchgeführten Experteninterviews wurde mehrfach dieses Merkmal von Experten gestützt. Artun Ünsal betont, dass die Gendarmerie, die in diesen abseits gelegenen Orten die Polizei ersetzt, nicht gut geschult ist und nicht über die notwendigen Ermittlungsstrategien verfügt. Ein Richter aus der Region beschreibt dieses Dilemma wie folgt: »Wenn die Gendarmerie am Tatort eintrifft, ist der Zeuge bereits

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

weggelaufen, die Tatwaffen sind versteckt und all die anderen Zeugen sind ebenfalls weg« (S. 66). Frauen sind in diese Fälle involviert, wenn die männlichen Familienmitglieder aus diversen Gründen die Tat nicht ausführen können (S. 110). Einzelne Fallbeispiele, die während Recherchen in den Zeitungsarchiven ermittelt werden konnten, sprechen für diese These. Kinder werden in den betroffenen Gebieten unter anderem zur Aufrechterhaltung der Klanstrukturen gezeugt. In südostanatolischen Gegenden sei es üblich, den Neugeborenen die Namen der Blutracheopfer zu geben (vgl. Faraç, M. 2006, S. 67). Die Mütter spielen eine große Rolle für den Fortbestand der Blutrache, da sie als Hauptbezugspersonen der Kinder diejenigen sind, die den Hass gegenüber dem Feind an sie weitergeben (Faraç, M. 2006, S. 68). Mehmet Faraç gibt an, dass die Kinder wegen ihrer Minderjährigkeit oft zu Tätern »auserkoren« werden und dass es viele Fälle gibt, bei denen 13-jährige Jungen ihre Schulkameraden mit der Waffe ihrer Väter töten müssten. Viele jugendliche Täter machten die Aussage, dass sie in ihrem Dorf keine gute Braut bekommen hätten oder bei Streitereien immer damit konfrontiert würden, dass sie damals feige gewesen seien, wenn sie die Tat nicht ausgeführt hätten (S. 107). Ünsal vertritt in diesem Zusammenhang wie die Psychologin Ilkaracan die Auffassung, dass der Mord für die jugendlichen Täter auch ein Übergangsritual darstellt, mit dem sie in die Erwachsenenwelt aufgenommen werden und ihre Männlichkeit unter Beweis stellen können (S. 155). Das Überleben der Stärkeren in diesen Gebieten erklärt ein Dorfvorsteher: »Wenn eine Familie schwächer als die verfeindete Familie ist, traut sie sich manchmal nicht, sich der anderen Familie zu widersetzen. Der Stärkere reißt dann den Grundbesitz der anderen Familie an sich und ändert zum Beispiel den Verlauf der Wasserkanäle. Die schwächere Familie hat drei Möglichkeiten; entweder wird sie den Mord auf sich nehmen, die Nachteile in Kauf nehmen oder ihre Heimat verlassen« (Zitiert in: Faraç, M. 2006, S. 54). Religiöse Aspekte spielen ebenfalls eine große Rolle, denn Blutrache wird oft damit begründet, dass der Tote nicht in Frieden ruhen könne, wenn sein Mörder nicht getötet würde (S. 60). Um den Täter zu der Tat anzustacheln, sei es üblich, ihm das Grab oder die blutbefleckten Kleidungsstücke des letzten Opfers zu zeigen. Viele Familien lassen ihren Sohn manchmal nicht heiraten, damit seine Wut und Rachegelüste nicht abnehmen können (vgl. Ünsal, A. 1995, S. 149).

Sprichwörter über Blutrache Neben den oben genannten Merkmalen der Blutrache geben folgende türkische Sprichwörter den Stellenwert der Blutrache in der türkischen Gesellschaft sehr gut wieder:

165

166

Morde ohne Ehre

Kan bedeli 500 kesedir, namus bedeli ise 1000 kese: Dieser Spruch kann übersetzt werden mit »der Preis der Blutrache ist 500 Taler und der Preis der Ehre dagegen 1000 Taler«. Die Wiedergutmachung einer Ehrverletzung wird viel höher und schwieriger bewertet als die Wiedergutmachung bei einem Blutrachefall (Ünsal, A. 1995, S.  100). Zudem verdeutlicht dieser Spruch, dass finanzielle Wiedergutmachungen bei Blutrachefällen oder Ehrenmorden durchaus als legitim betrachtet werden. Wie sehr die Rolle eines Täters mit dessen Männlichkeit und Mut gleichgesetzt wird, zeigt dagegen dieses Sprichwort: »Bei uns findet man den mutigsten Mann entweder im Gefängnis oder im Grabe« (S. 153). Mehmet Faraç führt weitere Sprichworte als Beispiele auf: Üç koyuna onbir can! (Elf Menschenleben für drei Schafe) (Faraç, M. 2006, S.  13f.). Über die Bedeutung der Hochzeiten bei den Ehrenmorden hält er fest: »Jede Hochzeit könnte das Haus der Braut zum Todeshaus machen, wenn sie sich nicht als Jungfrau erweist« (S. 40). Her kan yeni acılar yaratır, her acı yeni kanlar akıtır (Jedes Blutvergießen verursacht neuen Kummer, und jeder Kummer lässt neues Blut fließen) (S. 87). Faraçs persönliche Erinnerung an eine Taxifahrt in Rize (eine Stadt am Schwarzen Meer) gibt auf einer sarkastischen Art den Stellenwert der Blutrache in der Region wieder: als Faraç den Taxifahrer fragt, wie viele Brüder er habe, beantwortet dieser die Frage mit Neun und fügt hinzu, dass man in dieser Gegend nicht genug Brüder haben könnte, damit die Familie nicht aussterbe, wenn es zur Blutrache käme (Faraç, M. 2006, S. 136). Fallbeispiele für Blutrache und die ausführliche Studie Artun Ünsals über Blutrache in der Türkei werden aufgrund ihres Umfangs im Anhang wiedergegeben.

Präventive Maßnahmen gegen Blutrache Zur Prävention bezüglich der Konfrontation mit Blutrache schlagen Artun Ünsal und Mehmet Faraç folgende Maßnahmen vor: Vom Staat finanzierte Kredite zur Gründung einer neuen Existenz für die Täter, da diese vor der Rückkehr zu ihrem Heimatort große Angst hätten, und in den meisten Fällen umgebracht würden; bessere Ausbildung der Betroffenen; Durchsetzung der staatlichen Gesetze gegen die Selbstjustiz, Verschärfung der Gesetze; Verbesserung der ökonomischen Missstände in den betroffenen Gebieten (S. 173). Neben diesen Aspekten müssen die biologischen, psychologischen, sozialpsychologischen, kulturellen und ökonomischen Faktoren untersucht werden. Eine zunehmende Industrialisierung und Modernisierung in den betroffenen Gebieten würden zudem das Festhalten an alten Traditionen auflockern und die ökonomische Unabhängigkeit der Familien stärken. Der Staat sollte besser geschultes Personal in den ruralen Gebieten, vor allem in den Kommissariaten einsetzen, damit diese die Blutrachefälle besser verfolgen können (S. 209). Die Verschärfung der Gesetze sei ebenfalls von großer Bedeutung, da es nicht gerechtfertigt sei, dass die Täter nach maximal zehn Jahren entlassen werden. Zudem sollten mehr erfahrene

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

Richter eingesetzt werden, denn es könnte nicht angehen, dass ein Richter für 150.000 Bürger verantwortlich sei, wie es zum Beispiel in der Stadt Sivas im Jahr 2004 der Fall war. Die Durchführung von fehlenden Landreformen und die Regelung des Waffenbesitzes könnten, so Ünsal, auch Erfolg versprechend sein. Mehmet Faraç schreibt vielen Medienpersönlichkeiten wie dem berühmten türkischen Journalisten Uĝur Dündar große Macht beim Kampf gegen den Fortbestand von Blutrache zu, da er im Rahmen seiner Fernsehsendungen mehr zur Versöhnung von verfeindeten Familien beigetragen hätte als der türkische Staat. Ebenso wie Dündar sei der 61-jährige Metzger Sait Şanlı eine wichtige Persönlichkeit, weil er in Südostanatolien seit dem Jahr 2000 über 400 verfeindete Familien miteinander versöhnt habe. Bei diesen Fällen handelte es sich nach Şanlıs Angaben bei 155 Fällen um Blutrache, bei 87 um Brautentführung, bei 52 um Autounfälle und bei 100 Fällen um Streitereien wegen Landbesitz oder Schulden. Seine Motivation als Schlichter aufzutreten beschreibt Şanlı wie folgt: »Ich habe all dies gemacht, damit die Mütter nicht ihren Kindern und die Kinder ihren Vätern nachweinen müssen. Ich musste den Menschen beibringen, wie man sich entschuldigt und jemandem anderen verzeiht«. Şanlı betont, dass er schon als Kind vielfach Zeuge von Blutrache wurde und sehr stolz darauf sei, dass er in vielen Fällen zu deren Ende habe beitragen können (S. 52). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Blutrache ein in der türkischen Tradition und Kultur verankerter Verbrechenstyp, welcher infolge einer Ehrverletzung ausgeführt wird und ähnliche Ursachen wie Ehrenmorde hat: die Rückständigkeit der dörflichen Gebiete, patriarchalische Strukturen und der Druck des sozialen Umfeldes.

1.3.4 Vergleich türkischer mit deutsch- und englischsprachiger Fachliteratur Die Analyse der englisch- und deutsch und vor allem türkischsprachigen Literatur bildete die dritte Datenquelle dieser Arbeit. Die Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand zum Themenkomplex der Ehrenmorde zeigt, wenn man an dieser Stelle zur Differenzierung eine Verallgemeinerung der Bewertung vornimmt, dass die Forscher aus den drei Kulturkreisen, westliche, arabischstämmige und türkische Forscher zum Teil unterschiedliche Forschungsschwerpunkte sowie Perspektiven setzen.

Westliche Forscher Bei westlichen Forschern zeigte sich neben einer verstärkt geschlechtersoziologischen Herangehensweise eine Fixierung der Täter und Opfer auf einzelne Migrantengruppen. Da die Ehrenmorde in westlichen Ländern verstärkt bei Bürgern mit Migrationshintergrund auftreten, ist diese Perspektive nachvollziehbar. Diese Herangehensweise lässt jedoch dem spezifischen kulturellen Hintergrund der Täter – einer der wichtigsten Ursachen der Delikte im Namen der Ehre – wenig Raum.

167

168

Morde ohne Ehre

Folglich bleiben die Herkunftsländer der Betroffenen meist unberücksichtigt (vgl. Van Ecks Studien zur Ehrenmorden in Niederlanden oder die BKA Studie aus dem Jahr 2006, die auf den kulturellen Hintergrund der Täter kaum eingehen). Auffällig ist ebenfalls, dass der Kulturkonflikt, von denen die Täter sowie Opfer betroffen sind, besonders ausgeprägt und zutreffend dargestellt wird. Aufgrund einer überwiegend geschlechtersoziologischen und eher disziplinären Herangehensweise wird die Komplexität der Ehrenmorde nur bedingt wiedergegeben (vgl. Delaney 1991, Van Eck 2003). Eine weitere Auffälligkeit ist, dass manche Forscher den Islam als die Hauptursache dieser Verbrechensformen darstellen und eine einseitige Sichtweise wiedergeben (vgl. Kelek 2005). Nicht der Islam, sondern die falsche Interpretation islamischer Glaubensvorstellungen können als eine der Ursachen, aber nicht als die einzige Ursache der Ehrenmorde angesehen werden (vgl. Faraç, M. 2004, S. 85f.und Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 56f.).

Arabischstämmige Forscher Ehrenmorde treten verstärkt bei arabischstämmigen Ländern auf, wo die Mehrheit der Bevölkerung dem islamischen Glauben angehört. Da in den betroffenen Ländern islamisch-konservative bis fundamentalistische Tendenzen dominieren, werden manche islamische Glaubensvorstellungen falsch interpretiert und ausgelegt, sodass sich viele Täter neben dem Ehrprinzip auch auf überkommene, islamische Leitsätze berufen. Folglich gehört die Auseinandersetzung mit dem Islam und der Geschlechtersoziologie, insbesondere der patriarchalen Machtstrukturen, von denen arabische Ländern geprägt sind, zu den Hauptforschungsschwerpunkten der arabischstämmigen Forscher (Moghadam, V. 1993; Khan, T. 2006). Die überdimensionale Rolle der Traditionen in den betroffenen Ländern sowie die sozioökonomischen Missstände werden von den meisten arabischen Forschern als die Hauptursachen der Ehrenmorde dargestellt. Da Ehrenmorde in vielen arabischen Ländern wegen des konservativen und patriarchalen Wertesystems zu einem Tabuthema gehören, sind insbesondere arabische Forscher Forschungseinschränkungen durch staatliche Instanzen ausgesetzt, besonders in Bezug auf die Anzahl der Ehrenmordfälle oder Zugänge zur Betroffenen der Ehrenmorden betrifft (Husseini, S. 2005, S. 82f.).

Türkische Forscher Die Stärke der türkischen Fachliteratur zeigte sich im Vergleich zu westlichen oder arabischstämmigen Forschern insbesondere bei Fallstudien, Ursachenforschung und empirischen Studien bezüglich der Meinungsforschung zu diesem Themenkomplex (Yirmibeşoĝlu, V. 2005; Sιr, A.; Ilkaracan, P. 2004; Pervizat, L. 2005). Eine interdisziplinäre Sichtweise wurde insbesondere von türkischen Forschern gewählt (Yirmibeşoĝlu, V. 2005 und Ilkaracan, P. 2004). Eine weitere Auffälligkeit bei türkischsprachigen Forschern ist, dass sie besonders die Rolle des kulturellen Hintergrunds der Täter, die sozioökonomischen Missstände sowie

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

die Rolle der falschen Interpretation von islamischen Glaubensvorstellungen als Hauptursachen identifizieren. Die Analyse der englisch- und deutsch und vor allem türkischsprachigen Literatur ergab, dass sich die hohen Erfahrungswerte der türkischen Forscher im Vergleich zu den nicht türkischen Forschern insbesondere bei den zahlreichen Präventionsmöglichkeiten zeigten. Die türkische Fachliteratur erwies sich aufgrund ihrer verstärkt gesamtgesellschaftlichen Betrachtung der Ehrenmorde und ihrer meist interdisziplinären Perspektive als eine große Bereicherung für den interdisziplinären Ansatz dieser Arbeit.

Türkische Forscher - Kultureller Hintergrund - Rolle der Traditionen - Sozioökonomische Aspekte - Hohe Erfahrungswerte - Konkrete Präventionsmöglichkeiten Forscher: Yirmibeşoĝlu, Pervizat, Faraç, Ilkaracan, Tezcan, Ergil, Sır, Şimşek

Interdisziplinäre und gesamtgesellschaftliche Perspektive

Forscher westlicher Herkunft - Geschlechtersoziologie - Rolle des Kulturkonflikts - Einzelne Migrantengruppen im Fokus - Teils auf Islam fokussiert - Disziplinäre Betrachtungsweise Forscher: Schiffauer, Delaney, Baumeister, Gilmore, Pitt-Rivers, Peristiany,Van Eck

Fokussierung auf einzelne Ursachen

Arabischstämmige Forscher - Stellenwert des Islam - Rolle der Traditionen - Sozioökonomische Aspekte - Geschlechtersoziologie Forschungseinschränkungen durch staatliche Instanzen Forscher: Moghadam, Khan, Al-Khayyat, Husseini, Warraich,

Fokussierung auf Geschlechtersoziologie und Islam

Abbildung 3: Forschungsschwerpunkte (eigene Darstellung)

1.4 Z wischenfazit Die intensive Auseinandersetzung mit der weltweiten Verbreitung von Ehrenmorden zeigte, dass diese Verbrechen in vielen Ländern praktiziert werden und nicht ausschließlich in muslimischen Kulturen auftreten. Auch das Ehrprinzip, das Hauptmotiv für Ehrenmorde, wird zwar je nach Kultur unterschiedlich definiert, gleicht sich aber in seiner Grundidee und kann als ein universal verbreiteter Verhaltenskodex bezeichnet werden. Die Ehre eines Mannes unterscheidet sich von der Ehre einer Frau. Bei der Definition der Ehre spielt die Geschlechtszugehörigkeit eine Rolle. Die weibliche Ehre hat in fast in allen Kulturen mit der Sexualität der Frauen zu tun, die Ehre wird verletzt, wenn sich die Frauen nicht entsprechend der für diesen Bereich gültigen Normen verhalten.

169

170

Morde ohne Ehre

Die Ehre ist ein wichtiges Instrument der sozialen Differenzierung und teilt die Gesellschaft in »Ehrbare« und »Ehrlose« auf. In mediterranen Gesellschaften ist die Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Ehre von zentraler Bedeutung. Aufgrund der engen familiären Bindungen und Verwandtschaftsbeziehungen nimmt die kollektive Ehre insbesondere in traditionellen und ländlichen Gesellschaften eine wichtige Stellung ein. Die Funktion der Ehre in traditionellen Gesellschaften ist sehr wichtig, da das Ehrprinzip eine lebenswichtige Rolle im Alltag der Menschen spielt. Persönlich angeeignete und zugesprochene Werte wie die Ehre sind ein wichtiges soziales Kapital. Der Ehrenmord bedeutet für die Menschen in diesen Gesellschaften die einzige Möglichkeit, dem sozialen Tod zu entgehen. Über das Untersuchungsland Türkei und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Täter und Opfer lässt sich festhalten: Die Türkei wird aufgrund ihrer einzigartigen Geschichte, der ethnischen Diversität und ihrer einzigartigen geografischen Lage von der westlichen Kultur genauso geprägt wie von traditionellen Normen und Wertvorstellungen, die besonders im Osten und Südosten der Türkei immer noch dominieren. Bedingt durch die Rückständigkeit der südostanatolischen ruralen Regionen, in denen im Gegensatz zu städtischen Gebieten die Modernisierung kaum Einzug gehalten halt, halten die Bewohner hier in allen Lebensbereichen an überkommenen Traditionen und Regeln des Ehrprinzips fest. Zusätzlich zu den sozioökonomischen Missständen in diesen Gebieten sind die unruhige politische Lage der Türkei verursacht durch innere Kämpfe im Land, die geografischen Bedingungen und das starke Ost-Westgefälle weitere Gründe für die überdimensionale Stellung des Ehrprinzips bei Menschen mit dörflicher Herkunft und für den Wertekonflikt zwischen alten Traditionen und den westlich demokratischen Werten. In der Auseinandersetzung über die Stellung der Frau in der türkischen Gesellschaft konnten sechs Ursachen für die fehlende Gleichberechtigung der Frauen in der Türkei hervorgehoben werden: Traditionen und religiöse Wertvorstellungen, das traditionelle Rollenverständnis, die patriarchalen Familienstrukturen, geringe Bildungschancen und die ökonomische Abhängigkeit der Frauen. Als weiteres Problem wurde hervorgehoben, dass die Frauen von ihren Rechten, die nur auf Papier festgehalten sind, kaum Gebrauch machen können, weil sie zum einen nicht ausreichend darüber informiert werden und zum anderen wenig Freiräume für entsprechende Aktivitäten haben. Die türkischsprachigen Studien über die Lage der Frauen zeigen, dass Frauen in vielen gesellschaftlichen Bereichen wie Privatsphäre, Ehe wie Familienleben, Arbeitsleben, Bildungsleben oder politischer Beteiligung benachteiligt sind. Auffällig ist ebenso, dass Frauen aus sozialschwachen Schichten in der Mehrheit Gewalt von ihren Ehemännern erfahren und nicht aus freiem Willen ihren Ehemann geheiratet haben. Diese Aspekte verstärken die Annahme, dass heute ein deutlicher Anteil der türkischen Frauen insbesondere in ländlichen Strukturen nicht von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen können und den traditionellen

Ehrenmorde als gesellschaftliches Problem

und patriarchalen Rollenvorstellungen unterworfen sind. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass diese Aspekte auf die Frauen der städtischen Kultur weniger zutreffen, da sie verstärkt nach westlich demokratischen Werten leben. Die Rolle des Islam beim Auftreten der Ehrenmorde wurde ebenfalls untersucht. Weder der Koran noch andere islamische Schriften und Leitideen Ehrenmorde legitimieren. Es gibt jedoch alte überlieferte islamische Vorstellungen über die Stellung der Frau, die falsch interpretiert werden können, um diskriminierende Handlungen gegenüber Frauen oder Ehrenmorde zu rechtfertigen. Die Fallbeispiele zeigen, dass die Ehrenmorde in der Türkei in ihrer Erscheinungsform vielschichtig und von komplexer Natur sind. Bei den Ursachen spielen insbesondere gesellschaftliche Faktoren wie die sozioökonomischen Rahmenbedingungen, in denen die meisten Täter aufgewachsen sind oder leben, neben den psychologischen Faktoren eine große Rolle. Die Duldung dieser Morde, der Druck des sozialen Umfeldes bei der Tatausführung bilden neben der patriarchalen Struktur der türkischen Gesellschaft und der daraus resultierenden Unterdrückung vieler Frauen insbesondere in dörflichen Kulturen weitere wichtige Faktoren für das Auftreten dieser Verbrechen. Aus türkischen Gesetzen geht hervor, dass die neuen Gesetzesänderungen positiv zu beurteilen sind, einen großen Schritt in Richtung Gleichberechtigung der Geschlechter bedeuten und zugleich die Sensibilisierung der türkischen Gesellschaft gegenüber den Ehrenmorden auch ermöglichen. Der türkische Staat muss jedoch noch viel unternehmen, damit die Frauen von ihren Rechten tatsächlich Gebrauch machen können. Die Blutrache wurde in dieser Arbeit als eine Sonderkategorie von Ehrenmorden dargestellt. Die Autorin unterstützt die These, dass Blutrache kulturell und traditionell bedingt ist und ähnliche Ursachen wie Ehrenmorde hat. Ökonomische und wirtschaftliche Missstände wie die fehlenden Landreformen oder die Wasserknappheit spielen jedoch die größte Rolle beim Auftreten dieser Verbrechen. Präventivmaßnahmen gegen Blutrache, die im abschließenden Kapitel näher vorgestellt werden, sollten sich daher eher auf die ökonomische und wirtschaftliche Ebene beziehen und die Betroffenen in ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit stärken, damit sie sich beispielsweise von den herrschenden Klanstrukturen lösen können. Im vorletzten Abschnitt dieses Kapitels wurde die Fachliteratur zur Ehrenmorden von westlichen, arabischstämmigen und türkischen Forschern bezüglich ihres Ansatzes und Schwerpunktsetzung miteinander verglichen. Es zeigte sich, dass sich die türkische Fachliteratur aufgrund ihrer verstärkt gesamtgesellschaftlichen Perspektive dem interdisziplinären Ansatz dieser Arbeit am nächsten kommt.

171

2 Erklärungsansätze

Die patriarchalen Beziehungen innerhalb der Familie infolge des Machtungleichgewichts der Geschlechter: Diese Ursache wird anhand der geschlechtersoziologischen Theorien (Walby, Millet, Brownmiller, Delphy und andere) über die Beziehung der Geschlechter, patriarchalische Familienstrukturen und männlich dominierte Kriminalität (Kersten, Whitehead, Connell) erklärt. Die Betrachtung der Ehre als Lebensmaxime und die Orientierung an Traditionen sind weitere wichtige Ursachen für Ehrenmorde. Bei der Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Funktion von Werten für Verbrechen sind die rechtssoziologischen und anthropologischen Erläuterungen von Rauh, Teubner, Durkheim, Araji und Luhmann wichtige Quellen. Die Kulturkonflikttheorie von Sellin liefert wichtige Informationen über den Werte- und Kulturkonflikt, von dem viele Täter aus dörflichen Gebieten betroffen sind. Die Neutralisationstheorie von Sykes und Matza kann auch diesem theoretischen Bereich zugeordnet werden, da sie wichtige Aussagen darüber macht, warum geltende Normen und Wertvorstellungen für die Täter von Ehrenmorden zum Tatzeitpunkt nicht befolgt werden. Jack Katz Theorie über »Rightheous Slaughter« liefert Erklärungen dafür, warum das Ehrprinzip von den Tätern über geltende Menschenrechte gestellt wird. Diese letzten zwei eher kriminalsoziologischen Theorien werden vorgestellt, da sie wertvolle Informationen über die Befolgung des Ehrprinzips und die Relevanz des Ehrenkodexes wiedergeben. Des Weiteren wird Bezug auf Christian Giordanos Überlagerungstheorie genommen. Hier werden aus einer historischen und anthropologischen Perspektive die Gründe für die herausragende Bedeutung des Ehrenkodex in den mediterranen Gesellschaften untersucht. Der Erwartungsdruck des sozialen Umfeldes spielt insbesondere in sozial schwachen Gebieten durch soziale und wirtschaftliche Diskriminierung der Betroffenen eine wichtige Rolle bei diesen Verbrechen. Hier liefern handlungstheoretische Modelle relevante Informationen. Die Auseinandersetzung mit Handlungstheorien und insbesondere mit James Colemans Mehrebenemodell beinhaltet das Ziel, zur Analyse der verschiedenen Einflussfaktoren beizutragen, die auf die Täter von Ehrenmorden in der Türkei einwirken.

174

Morde ohne Ehre

Die »Control Balance« Theorie des Soziologen Charles Tittle trifft nur in Teilbereichen auf die persönlichen Motive der Täter bei Ehrenmorden zu und daher wird er an dieser Stelle nur kurz behandelt. Kontrolltheorien beruhen auf der Annahme, dass ein Netz von sozialen Bindungen, Beziehungen und Verantwortlichkeiten zur Verhinderung von Delinquenz beitragen. Die sich daraus ergebenden Kontrollen können verinnerlichte und äußerliche Kontrollen sein, die Einfluss auf kriminelles Verhalten haben. Charles Tittles Theorie erklärt die Kriminalität als »einen Ausdruck mangelnden Gleichgewichts zwischen dem Ausüben von Kontrolle und dem Unterworfensein unter Kontrolle« (Tittle, 1995, S.  124f.). Bei ungleichgewichtigen Kontrollverhältnissen versucht der Mensch durch kriminelle Handlungen dieses Gleichgewicht wiederherzustellen. Art und Ausprägung des individuellen Kontrollverhältnisses werden dabei aus den spezifischen Rollen- und Statuseigenschaften einer Person abgeleitet. Tittle unterscheidet zwischen individuellen und Organisationsbezogenen Elementen des Kontrollverhältnisses. Individuelle Elemente sind die Merkmale, anhand derer sich das Kontrollverhältnis einer Person kennzeichnen lässt. Diese Gruppe besteht aus gruppen- und Persönlichkeitsbezogenen Elementen. Die Gruppenbezogenen Elemente umfassen die Rollen, den Status und die Reputation. Das Konzept der Motivation ist für Tittle ebenfalls wichtig. Er geht davon aus, dass Personen ein Kontrollungleichgewicht als Diskrepanz zwischen einem Idealerweise ausgeglichenen und ihrem aktuell erlebten Kontrollverhältnis wahrnehmen. Wahrgenommene Diskrepanzen ergeben sich aus einer Prädisposition von Akteuren für abweichendes Verhalten, aufgrund eines unausgeglichenen Kontrollverhältnisses und aus Provokationen, d.h. situationalen Einflüssen, die den Akteur sein Kontrollungleichgewicht erkennen lassen. Personen in niedriger sozialer Stellung unterliegen demnach einem Kontrolldefizit, weil sie überwiegend fremder Kontrolle durch ihr soziales Umfeld unterworfen sind. Diese Erkenntnis trifft bei den Tätern von Ehrverbrechen insoweit zu, als sie sich durch das Verhalten des Opfers in ihrem Ehrgefühl verletzt und sogar davon provoziert fühlen. Sie führen die Tat aus, um ihren sozialen Ruf und ihr Ansehen wiederherzustellen und somit ihre Stellung im sozialen Umfeld wieder ins Gleichgewicht, zu ihrer ursprünglich ehrenhaften Form, zu bringen. Kritisch ist anzumerken, dass diese Theorie keine Erklärungen darüber liefert, warum sich Personen unter den gleichen sozialen Bedingungen ganz unterschiedlich entwickeln und verhalten können.

Sozioökonomische Missstände Ökologischer Ansatz: Die Mehrheit der Ehrenmorde findet in ökonomisch schwachen und unterentwickelten Gebieten der Türkei statt (vgl. Faraç. M. 2004, S. 42). Deshalb eignet sich der ökologische, der so genannte »Area Approach« Ansatz von Clifford Shaw und Henry McKay, die Beziehung zwischen der ökologischen Situation eines Wohngebietes und dem Auftreten der Ehrenmorde näher zu untersuchen. Dieser Ansatz befasst sich mit der räumlichen Verteilung und den örtlichen

Erklärungsansätze

Entstehungsbedingungen der Kriminalität. Fehlende Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit und Slums sind Kriminalitätsfördernde Effekte, die in sozial schwachen Gebieten mehr auftreten als in wohlhabenden Regionen. Da diese Theorie am Beispiel von Chicago im Jahr 1942 gewonnen wurde, ist sie nur teilweise auf Ehrenmorde übertragbar. Darüber hinaus konzentriert sich diese Theorie auf die Begehung von Vergehen insbesondere von Jugendbanden. Dennoch macht dieser Ansatz zur Erklärung von Gewalt nicht nur auf die fehlende Infrastruktur in Slums, sondern auch auf die ökonomische Situation des Wohngebiets aufmerksam und betont deren Wirkung auf die Persönlichkeit und das Verhalten der Täter. Shaws erste Untersuchung bezog sich auf die Wohnsitze von 60.000 männlichen Jugendlichen in Chicago, die von der Polizei als Rechtsbrecher registriert worden waren. Die Gebiete, in denen extrem viele seiner Probanden lebten, nannte er »delinquency areas«. In diesen Stadtteilen ermittelten sie wiederum Gebiete, die im Vergleich zu anderen Stadtteilen durch besonders hohe Kriminalitätsraten auffielen. Eine nähere Untersuchung ergab, dass sich diese Gebiete wiederum nicht nur durch höhere Delinquenz- bzw. Schulschwänzerraten von anderen Teilen der Stadt unterschieden, sondern auch zum Teil durch hohe Säuglingssterblichkeit, Tuberkulose, Übervölkerung und durch mangelnde Angebote zur Freizeitgestaltung. Die Delinquenzgebiete lagen in Stadtteilen mit hoher Verwahrlosung. Dadurch entstanden – von den sozialen Strukturen aus gesehen – mehrere Ringe, die sich um die City gruppierten. Entsprechend dieser Verteilung von innen nach außen nahmen auch die Kriminalitätszahlen ab, und zwar umgekehrt proportional zur Entfernung vom Stadtzentrum (Zonentheorie). Obwohl Kriminalität in den Städten häufiger vorkommt als in ländlichen Gebieten, gibt es große Unterschiede innerhalb der Stadtgebiete, weil sich die Kriminalität meist auf bewohnte Gebiete mit geringer sozialer Kontrolle konzentriert. Auch wenn diese Theorie nicht in allen Aspekten auf die Ehrenmorde in der Türkei zutrifft, liefert sie wichtige Informationen über die Benachteiligung von ökonomisch schwachen Gebieten, die sich unter anderem durch verstärktes Auftreten von Ehrenmorden infolge eines starren Festhaltens an Traditionen äußert. Dass die Mehrheit der Täter aus dörflichen Gebieten stammt, bestätigt diese Annahme (vgl. Faraç, M. 2004, S. 78). Studien über das verstärkte Vorkommen dieser Verbrechen in bestimmten Städten und Stadtgebieten wären erforderlich, um die Validität dieser Theorie zu überprüfen, welche die Verteilung, aber nicht die Ursachen der Kriminalität untersucht. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es viele Theorien gibt, die kriminelles Verhalten erklären und teilweise auch auf die Ehrenmorde zutreffen. Dennoch eignen sich die drei Theoriebereiche, Geschlechtersoziologie, Rechtssoziologie und vor allem die Handlungstheorie, am besten, um die Ursachen von Ehrenmorden zu untersuchen.

175

176

Morde ohne Ehre

2.1 G eschlechtersoziologie Die Geschlechtersoziologie, die ein fester Bestandteil der Gender Studies ist und mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie Philosophie, Politik, Erziehungswissenschaften oder Geschichte eng verbunden ist, untersucht die Geschlechterverhältnisse und insbesondere die Geschlechterungleichheit in den jeweiligen Gesellschaften und Kulturen. In Bezug auf die patriarchalen Strukturen in der türkischen Kultur und insbesondere bei Betroffenen der Ehrenmorde liefern die folgenden Theorien diese Erklärungen: Das soziale Geschlecht wird im allgemeinen als ein Bestandteil der sozialen Ordnung verstanden, das im Familien- und Arbeitsleben, gesellschaftlichen Institutionen, in Religionen, in den jeweiligen Sprachen und vor allem in Verwandtschaftsbeziehungen überall präsent ist. Die Geschlechterordnung wird insbesondere von feministischen Autoren als ungleich empfunden, weil sie Unterscheidungen trifft in der Verteilung von Ressourcen, Machtdispositionen und Chancen zwischen den beiden Geschlechtern. Dies ist insbesondere in den ländlichen Regionen der Fall. Die Ansätze der feministischen Geschlechtersoziologie sehen die Unterdrückung der Frauen als systembedingt an und nennen dieses System »Patriarchat«. Viele türkische Autoren wie Leyla Pervizat, Vildan Yirmibeşoĝlu und Pınar Ilkaracan vertreten die These, dass die patriarchalen Familienstrukturen eine der wichtigen Ursachen für das Auftreten der Ehrenmorde sind. Englische Autoren wie Carol Delaney, Sylvia Walby oder Kate Millet stimmen dieser These insofern zu, als sie die Patriarchie als eine Unterdrückungsform der Frauen betrachten, die bis hin zur Gefährdung ihres Lebens führen kann. Die englische Soziologin Sylvia Walby diskutiert vier theoretische Perspektiven bei der Thematik der Geschlechterungleichheit und der Analyse der Patriarchie (Walby, S. 1990, S. 3f.): Der Radikalfeminismus drückt die Vorstellung aus, dass Männer Frauen dominieren und von ihnen profitieren. Die Radikalfeministinnen gehen von einer grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter aus und begründen die Geschlechterungleichheit mit männlich dominierten gesellschaftlichen Machtstrukturen und der Sozialisation der Geschlechter nach traditionellen Vorstellungen. Die Vertreter dieser Richtung geben die männliche Gewalt als die Hauptursache für Patriarche an und sehen sie als Kontrollinstrument für die Erhaltung der Geschlechterungleichheit. Bei diesem Ansatz ist die Verbindung zwischen der Patriarchie und der unterdrückten Sexualität der Frauen besonders ausgeprägt. Shulamith Firestone zum Beispiel betrachtet die Reproduktion und Susan Brownmiller die Vergewaltigung als die Basis der Patriarchie (Walby, S. 1990, S. 6f.). Diese Sichtweise reduziert aber die Geschlechterungleichheit auf die biologische Ebene. Der marxistische Feminismus betrachtet die Geschlechterungleichheit als eine Konsequenz aus der kapitalistischen Produktionsweise. Die Ausbeutung der Klassen wird mit der Ausbeutung der Frauen durch die Männer gleichgesetzt. Nachteil dieser Sichtweise ist, dass sie sich auf kapitalistische Gesellschaften bezieht und

Erklärungsansätze

keine Erklärungen für pre- und postkapitalistische Systeme bietet. Tong (1993) und Hearn (1987) betrachten die Patriarchie ebenfalls aus der marxistischen Perspektive (Whitehead, S. 2002, S. 77). Viele feministische Wissenschaftler entwickelten in diesem Zusammenhang dialektische Modelle der Patriarchie und des Kapitalismus, die die Gender- und Klassendynamiken mit einbeziehen. Delphy (1977), Walby (1986) und Cockburn (1991) und Coward (1993) sind Vertreter dieser Perspektive. Sie betrachten die Patriarchie als eine hierarchisch lokalisierte und ideologische Größe. Die Klassenanalyse hat nach Sylvia Walby den Vorteil, dass sie die ökonomischen und materialistischen Aspekte der Geschlechterungleichheit erklärt. Von Nachteil sei dagegen, dass sie die nicht ökonomischen Aspekte wie kulturelle oder soziale Ursachen außer Acht lassen würde. Diesem Ansatz stimmt die Verfasserin nur bedingt zu, da die patriarchalen Beziehungen auch in nicht kapitalistischen Gesellschaften wie zum Beispiel in Ländern der Dritten Welt vorkommen und sie sich nicht ausschließlich als Folge des Kapitalismus erklären lassen. John Goldthorpe, ein Vertreter dieser Sichtweise, stellt die These auf, dass die Familie die Basis der sozialen Ungleichheit und Stratifikation bildet, da die Frauen von den männlichen Mitgliedern in ihrer Familie unterdrückt werden. Christine Delphy betrachtet die Hausfrauen und die Ehemänner ähnlich wie Firestone als eigenständige Klassen. Ihrer Ansicht nach stellen die Hausfrauen die produzierende Klasse und die Männer die ausbeutende Klasse dar. In »Capitalism, Patriarchy and Crime« vertritt James Messerschmidt (1986) die Ansicht, dass kapitalistische Gesellschaften patriarchalisch strukturiert und Frauen doppelt benachteiligt sind. Da sie weniger als Männer am Arbeitsmarkt beteiligt und auf den häuslichen Bereich gedrängt werden, haben sie deutlich weniger Gelegenheiten als Männer für kriminelle Handlungen. Jedoch werden sie in dieser Frauenrolle zur Zielscheibe von kriminellen Handlungen der Männer. Dieser Sichtweise schließen sich Vertreter des Radikalfeminismus wie Daly, Chesney Lind und Simpson an, da sie die Machtdifferenziale zwischen den Geschlechtern auch als die primäre Ursache für die Benachteiligung von Frauen betrachten. Die doppelte Benachteiligung trifft auch auf die Frauen zu, die in Gebieten leben, in denen Ehrenmorde häufiger sind: auch ihr Leben und ihre Arbeit beschränkt sich auf den häuslichen Bereich, zudem sind es überwiegend Frauen, die Opfer von Ehrenmorden werden. Der Liberalismus betont den ungleichen Zugang der Geschlechter zu Bildungsmöglichkeiten und Arbeitsmöglichkeiten als wichtige Ursachen bei der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern.

Theorie der dualen Systeme Als Synthese zwischen dem Radikalfeminismus und dem marxistischen Feminismus bieten die »Theorie der dualen Systeme« eine weitere Perspektive. Ausgangspunkt ist die kapitalistisch-patriarchalische Gesellschaft. Hartmann, Eisenstein und Mitchell sind Vertreter dieser Sichtweise. Nach Sylvia Walbys Angaben gibt es

177

178

Morde ohne Ehre

sechs wichtige Aspekte, die das System der Patriarchie ausmachen, die sie als »a system of social strukturales and practices in which men dominate, oppress and exploit women« definiert: bezahlte Arbeit, Hausarbeit, Sexualität, Kultur, Gewalt und der Staat. Die Beziehungen zwischen diesen Aspekten würden dabei verschiedene Formen der Patriarchie begründen (Walby, S. 1990, S. 16). Sie misst den patriarchalen Produktionsbeziehungen eine große Bedeutung bei und unterscheidet zwei Formen: die private und die öffentliche Patriarchie. Die private Patriarchie ist mehr auf den häuslichen Bereich wie Familie oder Sexualität beschränkt, während sich die öffentliche Patriarchie durch die Ausbeutung der Frauen durch gesellschaftliche und staatliche Institutionen äußert. Mary Daly nimmt an, dass patriarchalische Ideen durch die Sprache und Glaubensvorstellungen vermittelt werden. Der marxistische Ansatz sieht die kapitalistische Produktionsweise als die Ursache sexueller Unterdrückung. Auch Cheryl Benard und Edit Schlaffer stimmen dieser These zu und heben hervor, dass die weibliche Sexualität von den Männern verwaltet wird (Benard, C./Schlaffer, E. 1995, S. 25). Nach ihrer Auffassung ist die sexuelle Entrechtung der Frau ein zentraler Pfeiler ihrer gesellschaftlichen Unterordnung und steht in engem Zusammenhang mit den anderen Aspekten ihrer Abwertung: mit der Geringschätzung ihrer Lebensberechtigung, mit der Enteignung ihres Körpers und der Missachtung ihrer Gesundheit. Neben den oben vorgestellten vier Hauptperspektiven gibt es noch folgende Kategorisierungen: Der dekonstruktivistische Feminismus besagt, dass das Geschlecht als Klassifikationseinheit abgelehnt werden muss, da sowohl das biologische wie soziale Geschlecht gesellschaftlich konstruiert seien. Die Unterschiede zwischen den Menschen und vor allem unterschiedliche Geschlechtsidentitäten, die aufgelöst und somit dekonstruiert werden, stehen im Zentrum dieser Sichtweise. Judith Butler gehört zu den Hauptvertretern dieser Perspektive. Bei dem psychoanalytisch orientierten Feminismus werden die Ursachen der Unterdrückung der Frauen in Anlehnung an Sigmund Freuds Theorien untersucht. Hierbei wird die Psychoanalyse als das Fundament des Feminismus betrachtet. Juliet Mitchell vertritt zum Beispiel Auffassung. Die autonomen Feministinnen betrachten die Unterdrückung der Frauen unabhängig von jeglichen politisch bedingten Faktoren und sehen sie als einen gesellschaftlichen Widerspruch an. Die Anhänger des Differenzfeminismus besagen, dass die Geschlechter grundsätzlich verschieden und naturgegeben sind. Der gynozentrische Feminismus erkennt die einzigartige Weiblichkeit der Frauen an und fördert die Anerkennung des femininen Charakters bei beiden Geschlechtern. Diese Bewegung konzentriert sich nicht auf die Geschlechtergleichheit sondern auf die Befreiung des unterdrückten weiblichen Geschlechts.

Erklärungsansätze

Der Individualfeminismus versucht die Rechte der beiden Geschlechter zu sichern und zu stärken. Im Zentrum steht daher die Verwirklichung des Individuums. Trotz vieler Unterschiede zwischen den einzelnen feministischen Bewegungen kann man folgende Gemeinsamkeiten hervorheben (vgl. Buchner et al. 2007, S. 22): Frauen sind wegen ihres Geschlechts benachteiligt (sexistische Position). Ihre Persönlichkeit und ihr Können treten hinter ihrem Geschlecht zurück. Frauen haben geschlechtsspezifische Bedürfnisse, die nicht befriedigt oder sogar verneint werden. Die Anerkennung weiblicher Bedürfnisse verlangt eine radikale Bewusstseinsänderung in allen Gesellschaften. Der Feminismus behandelt somit drei Bereiche: die kritische Auseinandersetzung mit der etablierten Wissenschaft; die wissenschaftliche Auseinandersetzung unter Frauen und die soziale Bewegung unter Frauen. Ausgehend von diesen drei Bereichen haben sich zwei klare Positionen innerhalb feministischen Bewegungen herauskristallisiert: Die erste Gruppe widmet sich der Analyse und Aufhebung bestehender gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Die zweite Gruppierung erforscht den »Status quo« der Situation der Frauen unter Verwendung wissenschaftlicher Methoden. Feminismus an sich erntet viel Kritik, weil er viele unterschiedliche Strömungen erfasst und unterschiedliche und sich widersprechende Aussagen über bestimmte Themen macht. Einige Wissenschaftler wie zum Beispiel der Kriminologe Michael Bock vertreten die These, dass der Feminismus an sich keine eigenständige Wissenschaft, sondern nur eine radikale Ideologie ohne wissenschaftliche Rationalität und Objektivität darstellt. Ebenso wird dem Feminismus Ethnozentrismus vorgeworfen, da dieser auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen aus anderen Kulturräumen wie z.B. den Entwicklungsländern nicht genügend eingehen würde. Unweibliches und aggressives Verhalten gegenüber allen traditionellen Vorstellungen sind weitere häufig angeführte Kritikpunkte gegenüber feministischen Forschern. Trotz dieser Kritikpunkte kann der Feminismus nicht so verallgemeinernd betrachtet werden. Ohne die Bemühungen von Feministen und feministische Kritik wären viele Krisenzentren oder Frauenhäuser nicht eröffnet worden. Auch viele gesetzliche Regelungen zugunsten der Geschlechtergleichheit wären ohne das Engagement feministischer Organisationen realisiert worden. Dass der Feminismus die Weltöffentlichkeit auf die benachteiligte Stellung der Frauen in allen Gesellschaften aufmerksam macht, ist ein weiteres wichtiges Verdienst.

Forschungen über Gewalttätigkeit gegenüber Frauen Die Ausübung von Gewalt wird heute noch gesellschaftlich akzeptiert und vor allem im familiären Bereich toleriert. Bei der Gewaltanwendung im familiären Bereich gelten meist die Frauen und die Kinder als wehrlos gegenüber den Ehemännern und Vätern, die wegen der vorherrschenden patriarchalen Struktur als Familienoberhaupt gelten.

179

180

Morde ohne Ehre

Die Gewaltanwendung in Form von Schlägen als erzieherisches Ordnungsund Disziplinierungsmittel war und ist heute noch in vielen Kulturen verbreitet. Die Gewalt innerhalb der Familie dagegen wird seit einiger Zeit aufgrund der Bemühungen der feministischen Bewegung als gesellschaftliches Problem wahrgenommen. Bevor die Arbeiten von feministischen Wissenschaftlern über diese Thematik vorgestellt werden, wird kurz der Feminismus an sich und dessen Hauptziele charakterisiert: In den 1960er Jahren konzentrierten sich feministische Autoren wie Simone de Beauvoir, Shulamith Firestone oder Kate Millet auf die Gewalttätigkeiten der Männer gegenüber Frauen und sahen sie als männliche Kontrolle über Frauen als patriarchalisches Disziplinierungsmittel. In den 1970er Jahren untersuchte Susan Brownmiller die direkten und offenen Gewaltformen, wie zum Beispiel die Vergewaltigung, die Rolle gesellschaftlicher Institutionen und die Bedeutung sozialer Vorurteile. Die Misshandlung der Frauen betrachtete sie nicht als ein individuelles Problem, sondern als ein Ausdruck der patriarchalen Machtverhältnisse. In den 1980er Jahren bildete sich eine Gegenbewegung, die sich unter anderem mit dem Zusammenhang zwischen der Gewalttätigkeit der Männer und der patriarchalen Muster in den gesellschaftlichen Institutionen auseinandersetzte und der Frage nachging, welche Bedeutung die Gewalt für die Aufrechterhaltung der männlich dominierten Gesellschaft hat oder ob unterschiedliche Gewaltmuster existieren. In der Gewaltforschung hingegen gibt es eine starke Konzentration auf die Erforschung der Ursachen von Gewalt: Trotha (1997) fordert in diesem Zusammenhang neue Theorien, die sich mit der Phänomenologie der Gewalt auseinandersetzen. Die gegenwärtige Gewaltforschung lässt sich in zwei Kategorien aufteilen: die »Mainstreamgewaltforschung« mit der Spezialisierung auf die Analyse der zeitpolitischen Gewaltphänomene und die »Neuere Gewaltforschung«, die versucht, sich als ein eigenständiges sozialwissenschaftliches Gebiet zu etablieren. Die allgemeine Gewaltforschung ist hingegen von konkurrierenden Ansätzen und unterschiedlichen Vorgehensweisen geprägt. Ihre Aufgabe ist, Theorien und Methoden zu erstellen, die die Herausbildung und Ausbreitung von Gewaltphänomenen beschreiben und Wege aufzeigen, um destruktive, Gewaltbesetzte Entwicklungen zu verhindern. Nach Anke Habermehl gibt es drei Ansätze in der Gewaltforschung: Personenzentrierte Theorien (Ursachen für Gewalt sind individuell und auf den persönlichen Bereich beschränkt); Sozialpsychologische Theorien (Bestimmte Faktoren aus der Umgebung der Betroffenen sind die Ursache von Gewalt, z.B. Lerntheoretische Ansätze); Soziostrukturelle Theorien (Individuelle Gewalt wird mit sozialen Strukturen und sozialen Normen in Verbindung gesetzt). Die Stresstheorien sind in vielen Bereichen auf die Ehrenmorde übertragbar. Diese Theorien nehmen an, dass gewalttätiges Verhalten durch bestimmte Formen von psychischen Belastungen ausgelöst wird, die unterschiedlichen Ursprung ha-

Erklärungsansätze

ben können. Je mehr Ereignisse oder Situationen die Familie belasten, umso mehr kommt es zur gewalttätigen Handlungen. Die Familie an sich ist durch das ständige Beisammensein sehr anfällig für Stress. Die Unterschichtfamilien, aus denen die meisten Opfer und Täter der Ehrenmorde stammen, sind aufgrund ihrer meist desolaten wirtschaftlichen und sozialen Lage dem Stress ganz besonders ausgesetzt. Richard Gelles hat in diesem Zusammenhang einen mehrfaktoriellen sozialpsychologischen Erklärungsansatz entwickelt, bei dem der Stress neben psychopathologischen und sozialen Faktoren wie die soziale Stellung der Eltern, die Schichtzugehörigkeit sowie Wert- und Normhaltungen und Gewalterfahrungen einbezogen werden. Auch andere empirische Arbeiten belegen, dass Stress gewalttätiges Handeln fördert: Wenn die Beteiligten in eine unerwartete Situation geraten, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für gewalttätiges Verhalten (Gelles 1971). Gemäß seiner Theorie sind folgende Faktoren Stress- und somit Gewalt fördernd: niedriges Einkommen, geringe Bildung, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse, Alkoholkonsum, geringe Zukunftsperspektiven (S. 29). Zu hinterfragen ist bei dieser Theorie, ob Stressbelastungen ausschließlich subjektiv und Situationsbedingt zu erklären sind. Die von Gelles aufgeführten Faktoren treffen auf die Täter von Ehrenmorden zu. Zudem tritt mit der Ehrverletzung eine unerwartete Situation für die Beteiligten ein, auf die der Täter in diesem Fall mit einem Tötungsdelikt reagiert. Für Susan Brownmiller, eine Vertreterin des Radikalfeminismus, ist die männliche Gewalt die Basis der Kontrolle der Männer über Frauen. Für sie ist die Vergewaltigung ein Instrument zur Kontrolle der weiblichen Sexualität. Kate Millets Arbeit von 1970 wird nach Sylvia Walby als der Beginn des radikalen Feminismus angesehen. Sie sieht die Familie als eine Institution des Patriarchats, die zur Unterdrückung der Frau führt (Walby, S. 1990, S. 37). Die Frauen würden aufgrund der traditionellen Rollenverteilung und sozialer Stigmatisierung dazu gezwungen, unter der Herrschaft der Männer zu leiden. Die Umsetzung der Geschlechterrollensozialisation sei die Ursache der Geschlechterungleichheit. Parallel zu einem gesteigerten Bewusstsein über die strukturelle, aber verdeckte Viktimisierung von Frauen in privaten Beziehungen und in ihren Arbeitsbeziehungen entsteht, im Zentrum des radikalen Feminismus die zeit- und Kulturübergreifende Gestalt des »violent heterosexual male«, wonach die Männer die Verkörperung des Bösen und des Gewalttätigen darstellen. Die Kriminalität hat nur zwei Seiten: männliche Täter und weibliche Opfer. Diese Zuordnung hält Walby für eine starke Verallgemeinerung, da Frauen ebenfalls kriminelle Verhaltensweisen aufweisen, auch wenn die Täter in der Mehrheit männlich sind. Nach den Angaben der türkischen Frauenorganisation New Ways gibt es fünf verschiedene Gewalt- und Missbrauchsarten, die sich gegenüber den Frauen in der Türkei zeigen: physische, emotionale, ökonomische, sexuelle und psychologische Gewalt (New Ways, 1998, S. 9f.). Die physische Gewalt äußert sich durch Schlagen, emotionale Gewalt durch Beleidigung, ökonomische Gewalt durch ein Verbot der Berufstätigkeit der Frau und der ökonomischen Abhängigkeit der Frau vom Ehe-

181

182

Morde ohne Ehre

mann, sexuelle Gewalt und psychologische Gewalt durch Bedrohungen, Isolierung der Frau vom sozialen Umfeld äußern. Bei der Analyse der Gewalt gegenüber Frauen gibt es nach Sylvia Walby drei Hauptperspektiven: Liberalismus (männliche Gewalt ist durch psychologische Ursachen bedingt), Klassenanalyse (männliche Gewalt wird durch Probleme der männlichen Klasse verursacht) und radikaler Feminismus (soziale und Geschlechterbedingte Ursachen). Die folgenden drei Erklärungsansätze werden von der türkischen Psychologin Aysel Yıldırım genannt (Yıldırım, A. 1998, S. 29f.): Feministische Ansätze: Männer schlagen Frauen, um sich überlegen zu fühlen und um ihre Kraft zu demonstrieren. Feministische Ansätze betrachten die Gewalttätigkeit durch Männer als ein Ausdruck der patriarchalen Herrschaftsverhältnisse. Diese Ansätze untersuchen die Beziehung zwischen Macht und Geschlecht, analysieren die Familie als eine gesellschaftliche Institution und versuchen, Frauen Orientierungshilfen zu geben. Ungleiche Arbeitsteilung und ungleiche Karrieremöglichkeiten würden die Grundsteine für die Gewalt gegenüber Frauen legen. Somit werde die Gewalt gegenüber Frauen durch bestimmte Gruppen institutionalisiert und systematisiert. Zu kulturell unterschiedlich ausgeprägten Gewalthandlungen gegenüber Frauen werden Hexenverbrennungen, Vergewaltigungen und vaginale Beschneidung gezählt. Bei den feministischen Theorien unterscheidet man zwischen dem »Feminismus der ersten, der zweiten und der dritten Welle«. Feminismus der ersten Welle konzentriert sich mehr auf die Bedingungen der Gleichheit der Geschlechter. Hierbei werden Begriffe wie die soziale Umgebung, traditionelle Beziehungen und die patriarchalen Konditionen betont. Die Probleme, die durch die Maskulinität verursacht worden sind, wurden als kulturell privilegierte und idealisierte Form des männlichen Verhaltens angesehen. Während die Vertreter des Feminismus der ersten Welle mehr die Bedeutung der Frauenrechte betonen, konzentrieren sich die Anhänger der zweiten Welle auf die damit verbundene Rolle der kulturellen Bedingungen. In den 1990er Jahren entwickelte sich in den USA eine dritte Welle der Frauenbewegung, die bisher nicht von allen als eine solche anerkannt wird. Diese dritte Welle will sich mehr an den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen. Weitere wichtige Themen dieser Bewegung ist das Infragestellen traditioneller Konzepte von Geschlechtsidentität und Sexualität. Soziokulturelle Theorien: Gelles (1982) erklärt die Gewalt gegenüber Frauen mit der so genannten »Ressource-Exchange-Theorie«. Demnach ist die Gewalt innerhalb der Familie ein Problem des sozialen Systems. Der Mann schlägt dann seine Frau, wenn er seinen Status innerhalb der Familie als gefährdet ansieht. Das gewalttätige Verhalten der Männer wird auf Erziehung und Schichtzugehörigkeit zurückgeführt. Während die Mädchen für ihre Mutter- und Hausfrauenrolle erzogen werden, werden die Männer mit der Gewalt zwischen den Gleichaltrigen konfrontiert.

Erklärungsansätze

Bei dieser Konfrontation würden sie feststellen, dass Gewalt ein geeignetes Mittel ist, um bestimmte Ziele durchzusetzen und zu legitimieren. Psychologische Theorien: Nach Freud weisen Frauen masochistische Züge auf und werden unter anderem geschlagen, weil sie sich unbewusst in eine Opferrolle zwingen lassen würden. Ayşe Akın, eine türkische Soziologin, definiert die Gewalt gegenüber Frauen als eine an die »Geschlechter gebundene Gewaltart, die einer Frau in physischer, psychischer oder sexueller Form begegnen kann« (Yıldırım, A. 1998, S. 40f.). Als spezifische Gewaltarten gegenüber Frauen unterscheidet sie die Tötung von weiblichen Babys, das Schlagen von Mädchen, Brautpreis, Ehrenmorde, den Missbrauch innerhalb der Ehe, ökonomische und psychische Druckmechanismen, genitale Beschneidung und Vergewaltigung. In diesem Zusammenhang erklärt sie das gewalttätige Verhalten durch folgende Merkmale: Verbale Angriffe werden durch Streitereien, Eifersucht oder Kontrollwunsch des Mannes ausgelöst. Physische Angriffe könnten meist durch Aggressionen, emotionale Labilität und übermäßigen Drogenmissbrauch erklärt werden. Bei den Auswirkungen der Gewalterfahrungen unterscheidet sie physische und psychische Konsequenzen. Unter den physischen Faktoren sieht sie die einzelnen Verletzungen, die gynäkologischen Probleme und die Krankheiten, die mit Geschlechtsverkehr übertragen werden. Zu den psychischen Auswirkungen zählt sie dagegen Depressionen, Stresssyndrome etc. Nach Angaben der türkischen Frauenorganisation Amargi gibt es drei gesellschaftliche Ursachen für die Gewalttätigkeit gegenüber Frauen (Frauenorganisation Amargi, 2005, S. 20). Religion ist die erste Ursache, da sie Frauen als sündhafte und unselbstständige Wesen darstellt. Das Justizsystem benachteiligt ebenfalls Frauen, weil alle Gesetze von Männern gemacht werden und das patriarchale System stützen. Die Medien sind die dritte gesellschaftliche Instanz, die bezüglich der Darstellung der Frauen mit sozialen Vorurteilen und Klischees agiert und somit die traditionellen Geschlechterrollen weitergeben würde. Die Forschungen, vor allem die feministischen Arbeiten über Gewalttätigkeit der Männer gegenüber Frauen zeigen, dass die Demonstration von Macht und Maskulinität des Mannes eine zentrale Rolle spielt. Im Folgenden werden einige Theorien über Maskulinität vorgestellt, die sich dem Phänomen »männliche Gewalt« widmen.

Theorien über Maskulinität Maskulinität umfasst die dem Mann in einer Kultur zugeschriebenen Eigenschaften. Diese Eigenschaften unterliegen dem sozialen und kulturellen Wandel. Die als männlich definierten Eigenschaften differieren je nach Kultur, Weltanschauung und Gesellschaft (vgl. Pervizat, L. 2005, S. 34f.). Die Maskulinität bestimmt patriarchalische Beziehungen und männlich dominierte Kriminalität.

183

184

Morde ohne Ehre

Die Theorie des Soziologen Joachim Kersten, der die Beziehungen zwischen kriminellem Verhalten und den kulturellen Konstrukten der Männlichkeit untersucht, erklärt die männlich dominierte Kriminalität bei Ehrenmorden: Männlichkeit wird als etwas Bösartiges, das naturgemäß mit Gewalt, Aggressivität und Zerstörung gleichgesetzt, während Weiblichkeit die Eigenschaften Sanftmut, Frieden und Liebe gleichgesetzt wird. In diesem Zusammenhang macht Kersten darauf aufmerksam, dass man bei männlichen Tätern sehr oft Hinweise auf Maskulinitätsbesessenheit, Probleme im sozialen Umfeld, in Familie und Schule finde. Maskulinitätsbesessenheit ist oft das Resultat von geschlechtsspezifischen Haltungen, die den Männern seit ihrer Kindheit eingeprägt worden sind. Zu diesen Grundhaltungen zählt er: Betonung und Zurschaustellung von Kampfbereitschaft, Hinnahme von Verletzungen und Narben, Todesverachtung, Betonung heterosexueller Potenz, Verachtung des Weiblichen, Legitimation von gewalttätigem Verhalten, Achtung normativer Werthaltungen wie Ehre oder Kameradschaft, Besitzansprüche und Beschützerhaltungen in Bezug auf weibliche Familienangehörige oder Partner. Hervorzuheben ist, dass die Erniedrigung und »Verweiblichung der Opfer«, während der Tat dem Täter einen Zuwachs an maskuliner Bestätigung bringt, auch in einer Situation sozialer und kultureller Benachteiligung. Gerade wenn sozialer Status und Perspektive, Bildung und andere Ressourcen fehlen, macht Gewalt am meisten Sinn. Joachim Kersten betont, dass in allen Industrieländern Männer in Kriminalitäts- und Viktimisierungsdaten häufiger vertreten sind als Frauen und interpretiert diese Formen männlich dominierter Abweichung und Kontrolle als »sozial und historisch eingebettete Bewerkstelligungen von Geschlechtszugehörigkeit« (Kersten, J. 1997, S. 47f.). Bei der Kriminalität sollte man zwischen der machtdifferenziellen Struktur in den genannten Kategorien Klasse, Rasse und Geschlecht, in denen Kriminalität stattfindet, und der sozial-kulturellen Praxis von kriminellem Verhalten unterscheiden. Die Sichtbarkeit der vorwiegend von Männern verübten Taten unterscheidet sich interkulturell. Sie kann zudem intrakulturell, in unterschiedlichen historischen Phasen deutlichen Schwankungen unterliegen. Die historische Entwicklung der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau ist eine Grundlage der sozialen, ökonomischen und kulturellen Ausprägung des Geschlechterunterschieds. Diese Erkenntnis trifft auch auf die Täter von Ehrenmorden zu, da sie aufgrund fehlender sozialer und beruflicher Aufstiegschancen ihren Status vorwiegend über ihre Maskulinität und ihre Beziehung zu den weiblichen Angehörigen definieren. Auch Stephen Whitehead untersuchte den Zusammenhang zwischen Maskulinität und Geschlechterbeziehungen. Er betrachtet die Männer als eine eigene politische Kategorie, da sie alle Ressourcen auf der Welt kontrollieren. Die Genderidentität – wie man andere betrachtet und von anderen betrachtet wird – spielen dabei die zentrale Rolle. Der Begriff »hegemonischen Maskulinität« betrifft einen weiteren wichtigen Untersuchungsbereich der Beziehung zwischen den Geschlechtern. Carri-

Erklärungsansätze

gan, Connell und Lee (1985) veröffentlichten den Artikel »Theory and Society«, in der sie Maskulinität mit wichtigen sozialen Institutionen wie dem Staat, dem Bildungssystem oder der Familie in Relation setzten. Maskulinität definierten sie als eine historisch variable Konstante der männlichen Dominanz. Das so genannte »Gendersystem« würde dabei die patriarchalen Strukturen verursachen. Die »hegemoniale Männlichkeit« ist, so Whitehead, ein besser geeigneter Begriff als die Patriarchie, da sie die Beziehungen zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen besser aufgreift. Robert Connell geht davon aus, dass Männlichkeit und Weiblichkeit keine biologisch begründeten Entitäten darstellen, sondern als soziale Konstrukte aufgefasst werden müssen, die durch das in der Gesellschaft vorherrschende Produktionsverhältnis geprägt werden. Gemeinsam ist den Vorstellungen von Männlichkeit die »patriarchale Dividende«, der Profit, den Männer in einer patriarchalen Gesellschaft erhalten. Zudem weist er auf die Kultur- und Milieubedingten unterschiedlichen Ausprägungsformen oder Muster von Männlichkeit hin. William Connell definiert die hegemoniale Männlichkeit als: »Jene Konfiguration Geschlechtsbezogener Praxis, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet« (Connell, R. 1999, S. 98). Dabei unterscheidet er zwischen der autorisierten und marginalisierten Männlichkeit. Unter marginalisierten Männlichkeiten versteht er Männlichkeiten von Männern, die aufgrund ihrer ethnischen oder ihrer Klassenzugehörigkeit weniger anerkannt sind. Außerdem unterscheidet er zwischen der hegemonialen und der untergeordneten Männlichkeit. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen männlicher Hegemonie und hegemonialer Männlichkeit. Der erste Begriff bezieht sich auf die Gesamtgruppe der Männer im Unterschied zu den Frauen, während sich die hegemoniale Männlichkeit auf Differenzierungen und Konkurrenz unter Männern bezieht. Jessie Krienert untersuchte die Frage, ob James Messerschmidts These zutrifft, dass Männer aufgrund ihrer Maskulinität anfälliger für kriminelles Handeln sind. In den USA würden zum Beispiel 83 Prozent aller Delikte von Männern begangen. Sie gibt an, dass die Anfälligkeit der Männer für kriminelles Handeln von vielen Forschern festgestellt wurde. Bereits Talcott Parsons (1964) wies darauf hin, dass kriminelles Handeln bei Männern häufiger als bei Frauen vorkommt. James Messerschmidt vertritt die These, dass ein kriminelles Verhalten dann als Ressource für die Demonstration von Maskulinität in Anspruch genommen wird, wenn andere Ressourcen nicht zur Verfügung stehen: »For example, if a person does not have a steady, reliable job, a stable family life, or other traditional indicators of succesful masculinity, violent behaviour may be considered as an acceptable way to convey the toughness that is linked with masculine traits« (S. 5). Zusammenfassend lässt sich zu den Theorien über Geschlechterungleichheit und Patriarchie festhalten, dass sie wertvolle Informationen über die Ursachen der Unterdrückung von Frauen oder über die Gewalttätigkeit der Männer gegenüber

185

186

Morde ohne Ehre

Frauen liefern. Da sie sich nur auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern beschränken und soziale Faktoren oder handlungstheoretische Überlegungen außer Acht lassen, können sie nur auf den Bereich der patriarchalen Beziehungen und der traditionellen Rollenverteilung innerhalb der dörflichen Kultur angewendet werden, die im Abschnitt 1.2.1 näher vorgestellt wurden.

2.2 R echtssoziologische und anthropologische Ü berlegungen Täter von Ehrenmorden rechtfertigen ihre Taten mit der Befolgung des Ehrprinzips, das sie über alle geltenden Gesetze und Menschenrechte stellen. Die zentrale Frage ist daher, warum die Täter den Ehrenkodex als Lebensmaxime betrachten und ihre menschenverachtende Tat damit rechtfertigen. Die Auseinandersetzung mit der allgemeinen Bedeutung von Werten, die Vorstellung von den Theorien von Katz, Tittle, Sykes und Matza geben hierbei Antworten auf diese Fragen ebenso wie Sellins Kulturkonflikttheorie. Christian Giordanos Überlagerungstheorie liefern, mit ihrer historischen und anthropologischen Perspektive die Gründe für die herausragende Bedeutung des Ehrenkodex in den mediterranen Gesellschaften. Emile Durkheims Theorie des Strukturfunktionalismus liefert wertvolle Informationen über die Befolgung der Traditionen und ist daher bezüglich der überdimensionalen Stellung des Ehrprinzips bei den Betroffenen als theoretischer Hintergrund relevant. Er erarbeitete ein wissenschaftliches Konzept für eine möglichst wertfreie Erfassung der institutionellen Familie in Wechselwirkung mit der Gesellschaft (Durkheim, E. 1984, S. 25f.). Demnach bildet jede Gesellschaft ihr passendes Familiensystem, das in Bezug auf die Tradition spezielle Normierungen, Sanktionen und Solidaritäten besitzt. Am Fallbeispiel der Türkei sind in diesem Kontext die patriarchalen Strukturen, die Rolle der Großfamilie und des sozialen Umfeldes sowie die Stellung des Ehrprinzips bedeutend. Bei Durkheim wird die Familie als die Institution des Normentransfers und dadurch als Institution der gesellschaftlichen Kontinuierung beschrieben.1 Sie ist dabei an kollektive Werte und Ziele gebunden, die den Einzelnen beeinflussen und für ihn obligatorisch sind. Die Funktion der Familie sieht er darin, dass die Werte, Gefühle und Einstellungen der Gemeinschaft in der Familie vergegenwärtigt und bewahrt werden sollen. Die türkische Familie spielt bei der Vermittlung von traditionellen Vorstellungen und Werten sowie Auffassungen über ein ehrenhaftes Verhalten eine sehr große Rolle, da das soziale Leben der Familienangehörigen, insbesondere in der dörflichen Kultur, zum größten Teil in der Familie stattfindet. König zum Beispiel betrachtet vorwiegend die Traditionen als heutigen Stabilitätsfaktor der Familie und hält fest: »Die Tradition ist der Kitt für den Aufbau des sozialen Lebens in der Zeit. Gewohnheiten, Bräuche, Sitten und allgemeine sozial-moralische Leitideen erschließen 1 | Durkheims Darstellung über die Familie als »Nomos« – Normen bildende Einheit sowie die Analysen der Intimierung – und Individualisierungsprozesse sind bis heute relevant.

Erklärungsansätze

dem Verkehr immer weitere Räume, bis schließlich umfassende soziale Systeme entstehen.« Die Werte an sich sind nach Niklas Luhmann die »allgemeinsten gesellschaftlichen Definitionen des Wünschenswerten«, weil sie Verhalten, Gegenstände, Sachverhalte und Ideen bewerten (Rauh, S. 1990, S. 116). Nach Susanne Rauh beziehen sich Normen auf konkrete Verhaltensanforderungen, deren Einhaltung durch Sanktionierung überwacht wird, und sie leiten sich oftmals von Werten ab. Diese Erkenntnis trifft auf die Befolgung des Ehrprinzips zu, da unehrenhaftes Verhalten zum Beispiel bei den Betroffenen mit Sanktionen belastet wird. Rauhs Arbeiten setzen sich des Weiteren mit dem Wertewandel in den Familien auseinander, der insbesondere die türkischen Familien in den Großstädten betrifft (Rauh, S. 1990, S. 10f.). Ehrenmorde haben einen deutlichen Öffentlichkeitscharakter, weil der Täter der Gemeinschaft symbolisiert, dass er seine »beschmutzte Ehre« durch den Mord bereinigt hat. Diese soziale Botschaft an die Gemeinschaft ist von hoher Bedeutung, damit er seinem drohenden »sozialen Tod« im sozialen Umfeld entgeht. Bei dieser Betrachtungsweise ist es hilfreich, auf die folgenden Überlegungen von Emile Durkheim und Albert Cohen zurückzugehen, um die Funktion des Verbrechens in Gesellschaften in traditionellen Gemeinschaften zu erklären: Emile Durkheim und Albert Cohen setzten sich mit den Funktionen des abweichenden Verhaltens für die Gesellschaft auseinander. Kriminelles Verhalten ist von den in der jeweiligen Gesellschaft anerkannten Normen abhängig und daher im Hinblick auf die Beziehung zwischen der überdimensionalen Stellung des Ehrprinzips und den damit verbundenen Verbrechen im Namen der Ehre anwendbar. Nach Albert Cohen kann deviantes Verhalten einen positiven Beitrag zum Erfolg und zur Lebensfähigkeit eines sozialen Systems leisten. Er sieht im devianten Verhalten beispielsweise die Funktion, die vorherrschenden Regeln genauer zu definieren (Cohen, A. 1968, S. 23f.). Diese Erkenntnis trifft insbesondere auf die Wechselwirkung zwischen der überdimensionalen Stellung des Ehrprinzips und dem Auftreten der Ehrenmorde zu. Als weitere positive Funktion erwähnt Cohen die Stärkung des Gruppenzusammenhalts, der sich bei Ehrenmorden zum Beispiel durch die Solidarität der Familienmitglieder mit dem Täters und der Tat äußert. Günther Teubner setzt sich mit der Wirkungsweise der Rechtsnormen und deren Außerkraftsetzung in Gabriel Marquez Werk »Chronik eines angekündigten Todes« (Teubner, G. 1992, S.  140f.) auseinander.2 Teubner interpretiert Marquez 2  | Gabriel Garcia Marquez’ Roman »Chronik eines angekündigten Todes« erzählt die Geschichte über die Tötung von Santiago Nasar, der die angeblich unbefleckte Braut Angela Vicario entehrt haben soll. Als Angela in ihrer Hochzeitsnacht wieder zu ihrer Familie zurückgebracht wird und Santiagos Namen ausspricht, sehen sich ihre Brüder genötigt, die Familienehre wiederherzustellen. Da die beiden nicht vollständig von dem Ehrprinzip überzeugt sind und machen sich auf die Suche nach jemandem, der sie von ihrem Vorhaben, Santiago umzubringen, abbringt. Sie erzählen fast jedem Einwohner in dem kolum-

187

188

Morde ohne Ehre

Werk aus der rechtssoziologischen Perspektive und stellt die Frage, warum die Protagonisten nichts gegen den angekündigten Tod eines Dorfbewohners im Namen der Ehre unternommen haben. Dabei stand im Mittelpunkt seiner Untersuchungen die Fragestellung, wie die Rechtsnormen wirken und warum sie am Fallbeispiel des kolumbianischen Dorfes eine niedrige Effektivität hatten, sodass man von der »kollektiven Normabweichung des gesamten Dorfes« sprechen kann. Alle Dorfbewohner haben gegen das Tötungsverbot des Strafrechts verstoßen. Nach Teubner ist das Verhalten der Dorfbewohner in der Chronik von der so genannten »Dissoziation von psychischen und sozialen Prozessen« geprägt, dem totalen Auseinanderklaffen von inneren Motiven und äußerem Handlungsgeschehen. In manchen relevanten sozialen Situationen wird eine bestimmte Rechtsnorm bei den Akteuren nicht kommuniziert, thematisiert oder anerkannt. So ähnlich ist es auch bei Ehrenmorden, die mit dem Wissen der Familie oder der Dorfgemeinschaft ausgeführt und geplant werden. Bei diesen Morden wird das Tötungsverbot ebenfalls außer Kraft gesetzt und die Sanktionsschwere des Verbrechens aufgrund des Ehrenkodexes, der als Lebensmaxime betrachtet wird, missachtet. Typisch für Ehrenmorde ist auch in diesem Kontext, dass vielen Verwandten oder Nachbarn das Vorhaben des Täters bekannt ist, aber dennoch nichts dagegen unternehmen.

Jack Katz’ Theorie Righteous Slaughter Jack Katz, ein amerikanischer Jurist und Soziologe, verfasste die Theorie »Righteous Slaughter«, welche die Bedeutung der Werte, an die der Täter glaubt und durch die er seine Tat rechtfertigt, hervorhebt. Für Katz steht die Analyse des Auftretens von unterschiedlichen Dynamiken im Vordergrund, die hinter jedem kriminellen Akt stehen. Die Tatsache, dass ein Mensch ohne einen wichtigen Hintergrund kriminell werden kann, sei so, als müsste man an Magie glauben. Folgende moralische Emotionen ordnet Katz den devianten Akten zu: Demütigung anderer, Rechthaberei, Arroganz, Lächerlichkeit, Zynismus, Rache und Selbstgerechtigkeit. Während der devianten Situation hätte der Täter das Gefühl, sich dieser Lage nicht entziehen zu können, ohne kriminell zu werden (Katz, J. 1988, S. 5f.). Der Täter hat die so genannte »self-righteous attitude«, welche ihm das Gefühl gibt, dass seine Handlung legitim ist und nicht gegen geltende Normen verstößt. In diesem Kontext zählt er als Mordarten mit dieser Motivation zum Beispiel das Töten eines Ehepartners wegen dessen Untreue. Die Tat erscheint in den Augen des Täters gerecht, da sie zum Schutz der heiligen Institution der Ehe vollzogen wird. Gerade bei Morden zwischen Ehe- oder Liebespartnern dominiert beim Täter das Gefühl, seine traditionellen Rechte in der Beziehung durch diesen Mord zu verteidigen.

bianischen Dorf von ihren Plänen. Doch niemand warnt Santiago vor der geplanten Tat. Die beiden Brüder bringen Santiago um, obwohl niemand ernsthaft daran geglaubt hat, dass Santiago der Urheber von Angelas Unglück gewesen sein könnte.

Erklärungsansätze

Der Täter beschützt die eigenen moralischen und persönlichen Werte, weil er sich während der Tat oder davor moralisch angegriffen fühlt. Diese Erkenntnis trifft auf Ehrenmorde zu, weil die Täter die Morde mit dem Ehrprinzip legitimieren. Die Täter empfinden das Verhalten des Opfers als Angriff auf ihre Moral und haben deshalb das Gefühl, dass sie nur durch den Mord ihre verletzte Ehre wiederherstellen oder die moralischen Werte ihres sozialen Umfelds und des sozialen Systems und der eigenen Person schützen können (S. 19).3 Ausschlaggebend ist auch, dass die Täter das veränderte Verhalten ihrer Opfer, zu denen sie eine persönliche Beziehung haben, nicht mehr tolerieren können. Katz betont, dass insbesondere dann, wenn die Tat in der Öffentlichkeit geschieht, die Täter das Gefühl hätten, dass sie der Situation nicht entfliehen könnten, ohne kriminell zu werden. Diese These trifft auf Delikte der Ehre ebenfalls zu, da sich die Täter meist nach dem Bekannt geben der Ehrverletzung »im Zugzwang« sehen (vgl. Pervizat, L. 2005, S. 56f.). Die Morde, auf die sich Katz bezieht, finden meist zu Hause oder in einem anderen privaten Rahmen statt. Der Täter will nicht mehr vorheucheln, dass alles in Ordnung ist und dass das Opfer mit seinem für ihn nicht mehr tolerablen Verhalten weiterkommt. Seine persönlich empfundene moralische Überlegenheit gegenüber dem Opfer manifestiert er durch den physischen Angriff auf das Opfer (S. 23f.). Die Demütigung der Täter durch das Verhalten des Opfers empfindet, kann dazu führen, dass er die Kontrolle verliert und daher zur Tat schreitet. Der Verlust oder die Beschädigung seines sozialen Ansehens hätte das Stigma des Ehrverlusts. Da diese Bereiche außerhalb der Kontrolle des Individuums liegen, wolle es durch sein Verhalten demonstrieren, dass es was dagegen tun kann. Als Demütigung empfindet das Individuum seine Furcht, durch andere kontrolliert zu werden und schafft es demnach nicht, mit der Demütigung klarzukommen. Wut und Wutausbruch werden, so Katz, stets mit Verrücktheit assoziiert. Oft höre man von Tätern »Ich war nicht ich selbst« oder »Ich weiß nicht mehr, wie das passieren konnte«. Damit zeigen sie, dass sie sich selbst nicht mehr unter Kontrolle hatten. Aber dabei würden sie sich nicht in der Rage, sondern eher in der Demütigung verlieren. Während Scham individuell bedingt und verursacht ist, zeigt sich Demütigung durch andere Verhaltensweisen. Katz betont, dass sich die Demütigung nicht sofort in Rage verwandelt und die letzte Variable, die den Täter zum Töten des Opfers hinbewegt, nicht bekannt ist (S. 43). Jack Katz bezeichnet den Tätertypen »Righteous Slaughter«, dem man die Täter von Ehrenmorden zuordnen kann, auch als »Would be killer« und ordnet ihm 3 | Auch Foucault weist auf den Öffentlichkeitscharakter vieler Verbrechen in früheren Jahrhunderten hin. Damals war es üblich, die Straftäter öffentlich auszustellen und sie in der Öffentlichkeit bis zum Tode zu foltern, um die Öffentlichkeit gegenüber dem Verbrechen zu sensibilisieren (Katz, J. 1988, S. 35).

189

190

Morde ohne Ehre

diese drei Merkmale zu: Der Täter interpretiert die Situation und das Verhalten des Opfers und betrachtet das Verhalten des Opfers als eine Beleidigung seiner moralischen Werte. Der Täter muss sich während der Tat einem emotionalen Prozess unterziehen, der mit der Beleidigung seiner Person durch das Verhalten des Opfers beginnt und sich steigert, bis er in Rage gerät. Indem der Täter sein Handeln als Eintreten für moralische Werte und daher als gerechtfertigt empfindet, hat er überdies das Gefühl, dass seine Tat einen sakralen Charakter hat. Die Theorie von Katz gibt über die Motive der Täter von Ehrenmorden wichtige Informationen wieder, wenngleich den besten theoretischen Hintergrund bezüglich der Motivation der Täter, da bei Ehrenmorden die Täter davon überzeugt sind, dass ihre im Namen der Ehre begangenen Taten moralisch gerechtfertigt sind und gleichsam sakralen Charakter haben (vgl. Faraç, M. 2004, S. 81f. und Pervizat, L. 2005, S. 29f.).

Neutralisationstheorie von Gresham Sykes und David Matza Ähnlich wie Katz setzt sich die Neutralisationstheorie von Gresham Sykes und David Matza mit Tätermotiven auseinander, die das Verbrechen in den Augen der Täter rechtfertigen bzw. »neutralisieren«. Diese im Jahr 1957 entwickelte Theorie wendet sich gegen die Annahme der Subkulturtheorie, die davon ausgeht, dass jugendliche Delinquente bestimmten Subkulturen angehören, deren soziale Normen von den gesellschaftlichen Normen abweichen. Nach Cohens Subkulturtheorie werden diese abweichenden Normen von den Jugendlichen verinnerlicht und sind für ihr abweichendes Verhalten verantwortlich. Sykes und Matza entwickelten einen Gegenentwurf, der von einem gesellschaftlichen Normsystem ausgeht, das im Prinzip von allen Mitgliedern der Gesellschaft anerkannt wird. Die Ursache für abweichendes Verhalten ist daher weniger eine unterschiedlich hohe Normenakzeptanz als eine hohe Flexibilität des Normsystems. Dieser Ansatz kann als Ergänzung und Modifikation der Kontrolltheorie aufgefasst werden und betont zudem die konkrete Handlungssituation, in der soziale Normen »aufgeweicht« werden. Es geht um Techniken, durch die die Geltung der Werte in einer bestimmten Handlungssituation neutralisiert wird. Damit ist z.B. gemeint, dass ein Individuum mit zunehmender eigener Delinquenz geneigt ist, Delikte milder zu beurteilen und selbst begangene Delikte als weniger schwerwiegend zu bewerten. Die Neutralisierung ermöglicht die Begehung von Straftaten ohne Reue- und Schuldgefühle und vor allem ohne Beschädigung der eigenen Identität. Die Normen bleiben dabei verbindlich, und der Täter kann besser vor sich und seinem Selbstbild bestehen. Die Täter erfinden für sich eine Nische, in der die Normen nicht gelten sollen. Strafrechtlich gesehen handelt es sich dabei um Momente, die als Unrechtsausschluss- oder Entschuldigungsgründe beschrieben werden. Sykes und Matza sprechen in diesem Sinne von folgenden Neutralisationstechniken des Täters, die auch auf Ehrenmorde zutreffen:

Erklärungsansätze

Ablehnung von Verantwortung (Denial of Responsibility): Der Täter sieht sich als wehrloses Opfer unbeeinflussbarer Kräfte. Dies äußert sich bei Ehrenmorden dadurch, dass die Täter nach der Tat oft keine Reue zeigen und ihre Tat als eine Notwendigkeit betrachten (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 244). Verneinung des Unrechts (Denial of Injury): Die Straftat scheint zwar als illegitim, aber als nicht moralisch verwerflich. Durch die Verneinung des Unrechts wird die Verbindung zwischen der Handlung und deren Konsequenzen unterbrochen. Im Fall der Ehrenmorde fühlt sich der Täter durch das Ehrprinzip zu seiner Tat legitimiert. Ablehnung des Opfers (Denial of Victim): Das Opfer wird als der eigentlich Schuldige hingestellt, an dem der Täter unter Anwendung illegitimer Mittel das eigene Gerechtigkeitsempfinden vollstreckt. Neben der moralischen Herabsetzung des Opfers wird die Tat durch den Täter als eine gerechte Strafe empfunden. Das Opfer wird zum Verursacher der Tat gemacht, an dem der Täter Gerechtigkeit übt, wenn auch mit illegitimen Mitteln. Neben den Ehrenmorden äußert sich dieses Motiv beispielsweise auch bei terroristischen Anschlägen. Verdammung der Verdammenden (Condemnation of Condemners): Der Täter verschiebt die Verantwortung für seine Tat auf diejenigen, die seine Tat moralisch verurteilen. In diesem Sinne zweifeln die Täter oft die Rechtschaffenheit der öffentlichen Instanzen wie Polizei oder Justiz an. Bei Ehrenmorden kommt es oft vor, dass die Täter während der Gerichtsverhandlungen wenig Respekt gegenüber staatlichen Autoritäten zeigen und ihnen die Strafe gleichgültig ist. Berufung auf höhere Instanzen (Appeal to higher Loyalties): Diese Technik betrifft bei Ehrenmorden die Befolgung von alten überkommenen Traditionen oder die falsche Interpretation islamischer Vorstellungen, um die Tat zu legitimieren. Wichtig ist ferner, dass die Fähigkeit zugefügtes Leid wahrzunehmen, eingeschränkt ist bzw. gar nicht erst empfunden wird und Eigensteuerung und Eigenverantwortlichkeit unter gruppendynamischen Einflüssen aufgegeben wird. Der Täter hat die Empfindung, durch seine Tat ein größeres Unrecht zu verhindern oder höheren Zielen zu dienen. Diese Neutralisationstechniken treffen auch bei Ehrenmorden zu und können daher wie Jack Katz‹ Thesen zur Erklärung der Motivation der Täter angewendet werden (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 67f., Ilkaracan, P. 2001, S. 50f.). Kritisch anzumerken ist, dass die Neutralisationstheorie keine Aussagen darüber macht, in welchen Situationen welche Neutralisationstechniken konkret ausgeübt werden. Ebenso gilt es nachzuforschen, ob diese Techniken vor der Tat vorhanden waren oder nach der Tat erst als Rechtfertigungsmittel dienen.

191

192

Morde ohne Ehre

Kulturkonflikttheorien Zahlreiche türkische Studien belegen, dass es sich bei der Mehrheit der Täter um aus dörflichen Gebieten zugewanderte Stadtbewohner handelt (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S.  34, Faraç, M. 2004, S.  67). Nach Vildan Yirmibeşoĝlu ist es für die meisten Migranten nicht leicht, sich in der westlich-modernen Kultur der Großstädte zurechtzufinden, da sie mit den Werten und Normen der dörflichen Kultur aufgewachsen sind. Die schlechten ökonomischen Lebensumstände führen dann zu einem Rückzug in alte traditionelle Wertesysteme, die eine gewisse Verhaltenssicherheit geben. Die gleichzeitige Existenz und das Ausleben der ruralen und urbanen Kultur können bei vielen Personen zu einem Kulturkonflikt führen. Dieser Konflikt könnte die Konsequenz haben, dass zwar manche alte Werte aus der ruralen Kultur neu definiert und uminterpretiert werden, andere Werte der dörflichen Kultur aber strikt beibehalten und teilweise extremer ausgelebt werden. Natürlich betrifft dieser Kultur- und Wertekonflikt nicht alle Migranten, da sich viele der Stadtkultur anpassen. Es ist dennoch auffällig, dass die Mehrheit der Täter durch ihre Tat wohl versuchte, den traditionellen Werten wie dem Ehrenkodex auch in städtischer Umgebung Nachdruck zu verleihen. Deshalb geht die Autorin von einem ausgeprägten Kultur- und Wertekonflikt bei den meisten Tätern aus (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 74f.). Bei Kultur- und Subkulturkonflikttheorien wird das kriminelle Verhalten der Jugendlichen auf die sozialstrukturellen und kulturellen Aspekte des Gemeinwesens zurückgeführt. Es gilt die Annahme, dass die Angehörige der sozialen Unterschichten, die in städtischen und sozial desorganisierten Wohnumgebungen leben, aufgrund ihrer Unfähigkeit, Werte der Mittelschicht zu realisieren, ein eigenes Wertesystem etablieren und diesem Wertesystem entsprechend leben (Eifler, S. 2002, S. 30). Sellins Theorie des Kulturkonflikts betont in diesem Kontext, dass die Angehörigen der Unterschichten eigene Werte- und Normensysteme entwickeln, die ihr Leben strukturieren (conduct norms). Er analysierte diese Normen- und Wertesysteme vor dem kulturellen Hintergrund der amerikanischen Einwanderer.4 Seine Thesen weisen darauf hin, dass Leitbilder, Normen- und Wertsysteme von Immigranten und Eingesessenen in den USA sehr unterschiedlich sind. In Zeiten eines gesellschaftlichen Wandels würden die unterschiedlichen Wertvorstellungen und Verhaltensstile miteinander in einen Konflikt geraten. Anomisches Verhalten entwickelt sich in diesem Kontext aus dem Konflikt zwischen unterschiedlichen kulturellen Wert- und Verhaltensnormen. Ein Kulturkonflikt entsteht, wenn die Regeln innerhalb der Subkultur als konform aber innerhalb der anderen Kultur als kriminell gelten. Die Täter von Ehrenmorden handeln 4  | Biller, K. 2006, URL: http://209.85.135.104/search?q=cache:Pw2SZjOJyAkJ, www.unikiel. de/Paedagogik/biller/pppInhalte/HS_O9GesellschaftlicheDimensionI.DOC+sellin,+kultur konflikttheorie&hl=de&gl=de&ct=clnk&cd=4, Zugriff am 21.4.2007.

Erklärungsansätze

in diesem Kontext entsprechend dem Ehrenkodex, obwohl der Mord an sich von der Mehrheit der Gesellschaft nicht toleriert wird und als kriminell gilt. Sellin bezieht sich in seinen Arbeiten auf die Gruppen der Migranten, die sich der Mehrheitskultur nicht anschließen können oder wollen. Ein »Außenkonflikt« entsteht, wenn sich die Gruppen neuen Normen verschließen und an ihren alten Normen festhalten. Verstärkt werden kann dieses Verhalten durch Gefühle der Orientierungslosigkeit und Ablehnung durch die Mehrheitsgruppe der eigenen Bevölkerung. Diese Theorie besagt, dass ein Immigrant zwei Kulturen bzw. zwei Normsystemen gegenübersteht; derjenigen des Heimatlandes und der des Gastlandes. Je mehr sie sich unterscheiden, desto größer ist die Versuchung für ein deviantes Verhalten. Soziale Probleme bekommen vor allem Menschen, die sich den neuen Verhältnissen der Wirtskultur (Adoptivkultur) nicht einzupassen vermögen (mangelnde Anpassungsfähigkeit) oder auch nicht einpassen (integrieren) wollen (mangelnde Anpassungswilligkeit). Der Einwanderer muss sich daher, wenn er eine neue soziale Identität aufbauen will, den Normen und Standards des Gastlandes anpassen, ein Prozess, der zu Stress führt und der umso stärker ausfällt, je weniger sich die Kulturen entsprechen. Aus dieser Stresssituation können Außen- und Innenkonflikte entstehen: Außenkonflikte liegen vor, wenn die Wertsysteme der Herkunfts- und neuen Adoptivkultur nicht übereinstimmen und sich der Ausländer zur Lösung des Konflikts nicht an den Normen bzw. am Ehrenkodex des Gastlandes, sondern an denen seiner von ihm verlassenen Heimat orientiert. Sellins Theorie erklärt abweichendes oder gewalttätiges Verhalten, das infolge von Konflikten zwischen Deutschen und Zuwanderern entsteht und Aussagen über das Verhältnis von Immigranten und Eingesessenen liefert. Mithilfe dieser Theorie lassen sich aber aufgrund des Akteurenkreises dieser Theorie – Migranten im Ausland – eher Ausführungen über den kulturellen Hintergrund der Täter im Ausland betätigen. Die Gründe für das starre Festhalten der Täter am Ehrenkodex liefert aus einer eher makrosoziologischen Perspektive: Christian Giordanos Überlagerungstheorie. Etwas allgemeiner und aus einer eher anthropologischen und historischen Perspektive setzt sich Christian Giordanos Überlagerungstheorie mit der Mentalität der mediterranen Gesellschaften und mit den Ursachen ihres starren Festhaltens an alten Traditionen auseinander. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die mediterranen Gesellschaften von einem so genannten »Überlagerungsmotiv« geprägt sind. Seine Überlagerungshypothese lautet: »Die Beharrungstendenzen im Denken und Handeln der mediterranen Gesellschaften ist ein Ergebnis der historischen Dynamik, die sich aus der dramatischen, Jahrhunderte langen Abfolge von Überlagerungen entwickelt hat« (Giordano, C. 1992, S. 27f.). Dankwart Rüstow ist ebenfalls ein Vertreter dieser Theorie. Christian Giordano unterscheidet bei den mediterranen Gesellschaftsformen folgende Dichotomien (S. 289): »(1) Jene, für die man arbeitet, und jene, die arbeiten: Nach einer solchen Gesellschaftsauffassung stellt die Verrichtung der Arbeit

193

194

Morde ohne Ehre

das hierarchisch gliedernde Prinzip dar. (2) Menschen aus der Stadt und Menschen vom Lande: Somit wird die Gesellschaft in die »sozial Besseren« – diejenigen, für die man arbeitet/die Menschen aus der Stadt und die »sozial Schlechteren« – die Menschen vom Lande – aufgegliedert. Diese Denkmuster sind in den ländlichen Gebieten der Türkei ebenfalls stark vertreten (vgl. Yirmibeşoĝlu, V. 2005, S. 37 und Faraç, M. 2005, S. 71). Nach den kollektiven Denkmustern beinhalten daher die Beziehungen zwischen denjenigen, die befehlen, und denjenigen, die gehorchen, Relationen, die der »Patron-Client« Beziehung entsprechen (S. 331). Die Gesamtheit der Interaktionen wird im Mittelmeerraum zwischen den Regierenden und Regierten als ein System rezitiert, in dem nicht der Klassenkonflikt, sondern das Prinzip der asymmetrischen Transaktionalität herrscht. Deshalb wird angenommen, dass es zwischen den Akteuren mit unterschiedlichen Chancen an Macht, Einfluss und Prestige einen regen Austausch von Leistungen und Gegenleistungen gibt, der durch vertraglich verankerte bzw. informelle Normen geregelt ist (S.  331f.). In diesem Kontext ist die Ehre einer Person von großer Bedeutung, da sie auf diese besagten soziale Prozesse einen wichtigen Einfluss ausübt, da nur als ehrenhaft angesehene Personen in diesem Austauschsystem sozial überleben können (vgl. Schiffauer, W. 1987, S. 45f.). In Bezug auf das geringe Vertrauen der Betroffenen von Ehrenmorden sind folgende Erläuterungen Giordanos von Bedeutung: Das abgrundtiefe Misstrauen der ländlichen Bevölkerung gegen die öffentliche Justiz ist von der Vorstellung geleitet, dass die staatliche Rechtsprechung ungerecht sei. In mediterranen Gesellschaften herrscht deshalb eine Koexistenz von staatlichem Rechtssystem und kulturspezifischen Handlungsrezepten, weil die Akteure durch ihre antistaatliche Gesinnung stets die legalen Einrichtungen infrage stellen würden. Trotz der anerkannten Illegalität greift man auf solche Akte der Selbstjustiz zurück, denn diese eindeutig strafbaren Handlungen haben ihre kulturell garantierte Legitimität in den Augen der Akteure nicht verloren (S. 420). Diese Erkenntnis trifft auf Ehrenmorde zu, da die Täter den Mord im Fall der Ehrverletzung als eine weitgehend kulturell legitimierte Verhaltensweise betrachten. Diese Tendenz tritt umso mehr in mediterranen Gesellschaften auf, in denen die staatliche Herrschaft als korrupt und Macht missbrauchend betrachtet wird. Diese These gilt auch für Ehrenmorde, da hier das Ehrprinzip als kulturelle Überlieferung über die geltenden Gesetze gestellt wird. Giordanos These ist, dass Menschen in mediterranen Gesellschaften die eigene kulturelle Geschichte als eine Reihe von Niederlagen empfinden. Deshalb fühlen sie sich fast ausnahmslos als die »Betrogenen der Geschichte«. Jene, für die man arbeitet, die Menschen aus der Stadt, die Reichen, die Besitzenden, die Regierenden, d.h. alle sozial besser Gestellten in den dichotomischen Gesellschaftstrennungen sind Kategorien von Individuen, die in der Vergangenheit bzw. in der Gegenwart entweder als objektive »Überlagerer« tatsächlich gewirkt haben oder aber durch ihr Verhalten als solche wahrgenommen sind. Daher sind die jenigen,

Erklärungsansätze

die arbeiten, die Menschen vom Lande, die Armen, die Besitzlosen, die Regierten, d.h. alle sozial schlechter gestellten Gruppen, eigentlich die »ewig Überlagerten«. Das Überlagerungsmotiv beinhaltet auch die Dichotomie zwischen den Ehrbaren und den Schamlosen. Die Ehrbaren sind diejenigen, die sich gegen Eroberungen seitens fremder Gruppen erfolgreich wehren; zugleich sind sie aber auch potenzielle Überlagerer, die sich im richtigen Moment gegen ihre benachbarten Feinde durchsetzen können. Die Schamlosen dagegen werden als die Überlagerten angesehen, die nicht in der Lage sind, ihr Territorium, ihren Besitz sowie ihre engsten Familien- und Verwandtschaftsmitglieder gegen fremde Bedrohungen zu verteidigen. Das primäre kulturelle Missverständnis zwischen diesen zwei Gruppierungen beruht auf den unterschiedlichen Einschätzungen der Zukunftsperspektiven. Diese Zusammenhänge treffen in der Türkei auf die Durchführung von Atatürks Reformen nach der Republikgründung zu, die zwar sehr wichtig, aber dennoch für die damalige gesellschaftliche Entwicklung sehr radikal waren und in sehr kurzer Zeit durchgeführt wurden. Die streng islamische Bevölkerung hatte damals und hat bis heute noch Schwierigkeiten, diese Reformen anzunehmen und die Lebenswelt an diese Regeln anzupassen. Das starre Festhalten der ländlichen Bevölkerung an Traditionen und islamischen Glaubensvorstellungen könnte ebenfalls durch diese These untermauert werden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass rechtssoziologische und anthropologische Theorien, Sellins Kulturkonflikttheorie, Giordanos Überlagerungstheorie oder die kriminologische Theorie von Katz wichtige Informationen für die überdimensionale Stellung des Ehrprinzips wiedergeben und daher diesen Teilaspekt der Ehrenmorde umfassend erklären.

2.3 H andlungstheorie nach C olemans M ehrebenenmodell Die dargestellten Theorien zeigen, dass sie zwar bestimmte Aspekte der Ehrenmorde erklären, aber nicht die Komplexität dieser Tötungsdelikte aufdecken. Deshalb wurde der Mehrebenenansatz von Coleman gewählt, um die Gründe eines Ehrenmords theoretisch darstellen zu können. Gemäß den Angaben von Sebastian Scheerer und Henner Hess verfügen Makro-Mikro-Makro-Modelle wie das Mehrebenenmodell von Coleman über viele Vorteile, die allgemein ausgelegte Theorien, die meist nur einen kausalen Zusammenhang erklären, nicht haben (Hess, H. und Scheerer, S. 2003, S. 69-92). Sie erleichtern die Suche nach Bedingungskomplexen, Eigendynamiken, Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichsten Elementen der Gesellschaft und der »Sinnprovinz der Kriminalität« insbesondere erleichtern. Susanne Krasmanns Definition der Kriminalität gibt die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, die ein kriminelles Handeln betreffen, entsprechend dieser Sichtweise wieder: »Das ist ein komplexes Ensemble von Akteuren und Handlun-

195

196

Morde ohne Ehre

gen, von Institutionen und Bewegungen, von sozialen Netzen und rechtlichen Regeln, von Machtverhältnissen und Konflikten, aber auch von Gefühlen, Fantasien, Symbolen, Diskursen und Geschichten der unterschiedlichsten Art, in dem sich jedes Element letztlich nur in seinem und durch seinen Kontext begreifen lässt« (S. 70). Jeder Akteur nimmt eine bestimmte Position in der Sozialstruktur ein. Die Verbindung der Makroebene mit der Mikroebene des Handelns wird dagegen hergestellt, indem man die Interpretation beschreibt, die der Akteur seiner Position und seiner strukturellen Situation gibt. Bei diesem Ansatz werden Handlungen und Handlungssequenzen als prozessartige Verläufe gesehen, bei denen sich sowohl die Handelnden als auch die Situationen, in denen sie handeln, verändern. Die Mehrfaktorenansätze können mehrere Faktoren gleichzeitig berücksichtigen: soziale und psychologische Faktoren, Einflussfaktoren wie Herkunft, ökonomische Verhältnisse, Religion, Familienverhältnisse, physische und geistige Bedingungen sowie Ausbildung. Aufgrund dieser vielseitigen Sichtweise eignen sie sich für die Erklärung verschiedener Ursachen von Ehrenmorden. Die integrativen Ansätze sind ebenfalls als theoretischer Rahmen geeignet, da sie alle mikro- und makrosoziologischen Theorien mit einbeziehen und eine differenzierte Sichtweise ermöglichen. Da das Mehrebenenmodell von Coleman bei dem eigenen Denkmodell die Bezugstheorie ist, werden im folgenden Colemans Mehrebenenmodell und seine Grundthesen bezüglich dieses Modells wiedergegeben: James Colemans Theorien sind dem methodologischen Individualismus und den »Rational Choice-Theorien« zuzuordnen. Diese Denkschule steht derjenigen der Systemtheoretiker gegenüber, deren Intention mit dem Begriff »Kollektivismus« bezeichnet wird. Coleman setzt in seiner Erklärung die gesellschaftlichen Strukturen (Makrophänomene) mit den Handlungen auf der Individualebene (Mikroebene) in Relation. Er erklärt die Gesellschaft mit dem Verhalten ihrer Akteure. Bei diesem Modell sind die zwei Ebenen – Ebene der kollektiven Phänomene – und die Ebene des Handelns individueller Akteure miteinander verbunden. Zunächst erfolgt die Rekonstruktion der sozialen Situation des individuellen Akteurs. In einem weiteren Teil werden unter Anwendung einer allgemeinen Handlungstheorie, der Werterwartungstheorie, die Bedingungen des Handelns individueller Akteure expliziert. Im dritten Schritt werden durch die Anwendung einer so genannten Aggregationsregel die Folgen des individuellen Handelns in kollektive Phänomene transformiert. Über diese drei Schritte gelingt die Formulierung einer Beziehung zwischen der sozialen Situation von Akteuren und dem zu erklärenden Sachverhalt durch den vierten Schritt und dem so genannten Aggregatmerkmal:

Erklärungsansätze

Grundschema der Erklärenden Soziologie Die Erklärung kollektiver Regelmäßigkeiten Kollektivhypothese

(1) Kollektivmerkmal

(4) Aggregatmerkmal

(a) Kontexthypothese (Brückenhypothese)

(2) Individualmerkmal (Akteur)

(c) Aggregationsregel

(3) Individualmerkmal (b) Individualhypothese

(Handeln)

Abbildung 4: Colemansche Badewanne zur Erklärung kollektiver Regelmäßigkeiten (Coleman, J. 1991, S. 53f.). Dieses Modell, das aufgrund seiner Form auch als »Colemansche Badewanne« bezeichnet wird, soll die Erklärung von gesellschaftlichen Phänomen (1 – Makro), die der Makroebene zugeordnet werden, explizit auf das Verhalten der Akteure auf der Mikroebene (2 und 3 – Mikro) und von dort aus wieder zurück auf die Gesellschaft (4 – Makro) erklären: Ein Makrophänomen (1) bedingt ein anderes Makrophänomen (4), indem es Einfluss auf den Akteur ausübt und die Randbedingungen setzt, nach denen sie ihre Handlungen richten (2). Es kommt zu den tatsächlichen Handlungen von Akteuren (im Schritt 3), die sich in der Summe wieder zu einem neuen Makrophänomen (im Schritt 4) zusammensetzen. Der erste Schritt von der Makroebene (1) zur Mikroebene (2) wird durch die Logik der Situation (a) erklärt. Die Handlungen der Akteure werden durch theoretische Entscheidungsregeln erklärt. Dieser Schritt wird als »Logik der Selektion« (b) bezeichnet. Der Schluss von der Mikro- zurück zur Makroebene erfolgt im letzten Schritt. Bei der »Logik der Aggregation« (c) muss erneut mit Hilfe von Regeln von den Handlungen der Akteure auf das Makrophänomen geschlossen werden. Diese Theorie besteht aus drei Komponenten: Komponente der individuellen Handlungen, einer Mikro-Makrokomponente und der Makro-Mikrokomponente. Die Konsequenz der individuellen Handlung wird auf andere Individuen übertragen. Aus den Handlungen mehrerer Individuen werden wiederum Ergebnisse für die Makroebene abgeleitet. Die Grundlage dieses Konzepts bildet die Annahme des rationalen Kosten- und Nutzenmaximierenden Akteurs, das auf der Theorie des »homo oeconomicus« aus der Volkswirtschaftslehre aufbaut. James Coleman weist in seiner Theorie auf die Möglichkeit des »Ökologischen Fehlschlusses« hin, die er wie folgt darstellt und erklärt: Ökologischer Fehlschluss bedeutet, der Schritt von 1 zu 4, wenn zum Beispiel die Bedingungen von 2 zu 3

197

198

Morde ohne Ehre

nicht gelten. Ökologisch bedeutet hier kollektiv. Entsprechend der Colemanschen Badewanne werden Zusammenhänge zwischen Aggregatdatenvariablen so interpretiert wie Zusammenhänge auf der Individualebene. Dies führt, so Coleman, in der Mehrheit zu falschen Ergebnissen. Die Interaktion zwischen Individuen führt zur Entstehung neuer Phänomene auf der Systemebene. Es besteht eine Unterscheidung zwischen expressiven und impulsiven Handlungen. Die impulsiven Handlungen sind nicht Ziel gerichtet, weil sie zu Ergebnissen führen können, die der Akteur nicht bevorzugt. Nach Coleman können Handlungen auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft sein und Ergebnisse auf der Makroebene verursachen. Das Handeln des Akteurs kann externe Effekte (positiv oder negativ) haben und Anreizstrukturen erzeugen (Coleman, J. 1991, S. 311f.). James Coleman weist darauf hin, dass die Ereignisse vielschichtige Konsequenzen für die Individuen und das System haben, in dem sie sich befinden. Ein soziales Optimum wird durch eine Handlung erreicht, wenn das Resultat des Ereignisses dem entspricht, das von der stärkeren Interessengruppe favorisiert wird. Die Sanktionen für Akteure resultieren entweder aus externen Handlungsreglementierungen oder sind interne Sanktionen, die vom Handlungsresultat abhängen. Wenn eine Handlung für andere Interessengruppen gewinnbringend ist, hat sie positive und wenn sie dem Akteur schadet, negative externe Effekte. Durch die Internalisierung der Norm entwickelt das Individuum ein inneres Sanktionssystem. Setzt man eine patriarchalische Familie voraus, wird zum Beispiel die maximale Befriedigung die Befriedigung des Familienoberhaupts stärker bewertet als die seiner Frau. Normen spielen bei Colemans Theorie eine wichtige Rolle. Sie entsprechen der Eigenschaft des Systems und nicht der des Akteurs. Die Vorstellung einer Norm existiert auf der Makroebene, beeinflusst aber das Verhalten des Individuums auf der Mikroebene. Für die Existenz der Normen sind einerseits die Existenz sozialer Beziehungen zwischen einem Akteur und den Personen, auf die er externe Effekte ausübt und andererseits die Geschlossenheit des Netzwerks und damit die Existenz von Beziehungen zwischen Personen wichtig, die externe Effekte aus der Handlung eines anderen erfahren. Bei dieser Theorie gibt es zwei Arten von Akteuren: Individuen und korporative Akteure, die das größere soziale Gebilde sind, also z.B. Unternehmen, Gewerkschaften, aber auch Staaten sein können. Bevor die eigene Interpretation des Mehrebenenmodells wiedergegeben wird, wird im folgenden ein Beispiel für die Anwendung von Colemans Theorie und die Verbindung von Mikro- und Makroebene vorgestellt, welches auch auf Ehrenmorde bezüglich der Rolle des sozialen Drucks zutrifft, dem der Täter ausgesetzt ist: Anja Schröders Untersuchung »A General Theory of Suicide Terrorism«. Diese Analyse untersucht die individuellen und gemeinschaftsbezogenen Aspekte bei Selbstmordattentätern, um die symbiotische Interaktion zwischen ihnen – dem Individuum (Terrorist) und der Organisation (terroristische Gruppe) – zu verdeut-

Erklärungsansätze

lichen. Schröder bezieht sich auf Cohens und Felsons »Routine Activity Approach« und trifft folgende Annahmen (Schröder, A. 2005, S. 8f.): Die Gemeinschaften, in denen die Täter leben, gehören meist traditionellen und hierarchisch aufgebauten Gesellschaftsformen an, in denen das private Leben sehr von der Öffentlichkeit dominiert wird. Die Existenz einer Gruppierung mit den gleichen Interessen wie die der Täter und mit den erforderlichen finanziellen Mitteln für die Tat ist notwendig. Diese Gruppe muss die Macht besitzen, das Individuum für seine Zwecke zu begeistern und es in Richtung des Attentats zu bewegen. Das Individuum kann nicht rational vorgehen, weil ihm die Handlungsalternativen fehlen. Der Täter ist meist das schwächste Mitglied der Gruppe. Deshalb sind oft Frauen oder Teenager die Täter. Die Gemeinschaft, die Gruppe und das Individuum bilden drei unabhängige Variablen. Sie beschreibt in Bezug auf die Erklärung der Gründe für Selbstmordattentate einen Pendelprozess, wobei das Pendel auf der linken Seite das Individuum repräsentiert. In der Mitte dagegen befindet sich das Pendel, das die Interessen der Gruppe symbolisiert. Das rechte Pendel steht für die Gemeinschaft. Am Anfang der Prozesse bewegt sich das mittlere Pendel-Symbol für die Gruppe – nach links und rechts. Die Schwingungen stehen für den Einfluss der Gruppe auf das Individuum und ihre Ambitionen, um das Individuum für das Attentat zu begeistern. Normalerweise sind diese Schwingungen sehr schwach und bewirken nicht viel. Doch wenn das mittlere Pendel ein schwächeres Individuum berührt, wird das linke Pendel ebenfalls sehr in Mitleidenschaft gezogen. Durch diese starke Schwingung wird das dritte Pendel, die Gemeinschaft, ebenfalls berührt. Der Moment, wo beide Pendel auf das mittlere Pendel treffen, ist der Akt des Selbstmordattentats. Dadurch bewirkt die Gruppe in der Mitte, dass bei dem Attentat das Individuum und die Gemeinschaft gleichermaßen betroffen werden. Anja Schröder unterscheidet bei ihrem Pendelmodell zwischen der »Community« und dem »Group Level«. Sie betont, dass die Theorie nicht alle Fälle von Selbstmordattentätern mit einbezieht und einen sehr verallgemeinernden Charakter hat. Diese Theorie ist für die Ehrenmorde anwendbar, da auch bei diesen Verbrechen verschiedene Faktoren auf der individuellen und der Gemeinschaftsebene auf den Täter einwirken und ihn zu seiner Tat motivieren. Man könnte die beiden Pendel bei Ehrenmorden auf die nahen Angehörigen und das soziale Umfeld des Täters beziehen, die starken Druck ausüben. Dies ist besonders bei Blutrache der Fall. In der Mehrheit wird der Täter von seinen Angehörigen zu der Tat aufgestachelt und regelrecht dazu motiviert. Wenn hierbei auch der Druck des sozialen Umfeldes in Form von sozialer Diskriminierung berücksichtigt wird, könnte sich der Täter bezüglich seines Vorhabens noch mehr legitimiert fühlen. Während nicht jede Ehrverletzung oder damit verbundener starker sozialer Druck zu einem Ehrenmord führen muss, könnten diese Faktoren ähnlich wie bei Schröders Modell Fall- und Personenbedingt doch erheblich zu einer Mordtat motivieren.

199

200

Morde ohne Ehre

Interpretation des Mehrebenenmodells Im Folgenden wird die eigene Interpretation des colemanschen Mehrebenenmodells sowie der soziale Kontext der Täter von Ehrenmorden und die Ursachen dieser Verbrechen vorgestellt: Die Ehrenmorde sind in ihrer Erscheinungsform sehr komplex. Bei den Ursachen unterscheidet die Autorin nachstehende Faktoren: Patriarchalische Familienstrukturen infolge des Machtungleichgewichts der Geschlechter; sozioökonomische Bedingungen; psychologische Faktoren; falsche Interpretation von islamischen Vorstellungen; dass das Ehrprinzip als Lebensmaxime betrachtet und dieses Prinzip über geltende Rechtsnormen gestellt wird, stellt eine weitere Ursache dar. Die Grundlage von James Colemans Konzept bildet die Annahme des rationalen kosten- und Nutzenmaximierenden Akteurs. Im Hinblick auf die Täter von Ehrenmorden trifft diese Annahme zu, denn die Täter vertreten die Auffassung, dass der Ehrenmord die Handlungsalternative mit dem größten Nutzen darstellt, weil sie dadurch nicht nur ihre persönliche Ehre, sondern auch die Ehre der ganzen Familie wiederherstellen können. Auch wenn die Täter nach der Tat eine Gefängnisstrafe erwartet, ist die Tat dennoch die Handlungsalternative mit dem größten Gewinn, da sie zur Wiederherstellung der Ehre führt. Außerdem wird angenommen, dass die Täter in einer patriarchalisch strukturierten Familie aufgewachsen sind. Deshalb betrachten sie sich als die Hüter der Familienehre und insbesondere der Ehre der weiblichen Familienmitglieder. Da sie von klein auf mit den Vorstellungen der Ehre und der als superior angenommenen Stellung der Männer über Frauen aufgewachsen sind, betrachten sie es als ihre Aufgabe, diese für sie notwendige Tat auszuführen. Bei den patriarchalen Familienstrukturen, aus denen die meisten Täter stammen, kann man bei dem theoretischen Hintergrund auf die Theorien über Geschlechterungleichheit von Walby, Daly, Benard und Schlaffer und Millet zurückgreifen. Nachdem die Annahmen des eigenen Denkmodells in Anlehnung an Colemans Mehrebenenmodell erläutert wurden, folgt die Interpretation von Colemans Modell zur Erklärung des Fortbestands des Ehrprinzips und der Praxis der Ehrenmorde.

Erklärungsansätze (1) Ursachen der Ehrenmorde

(2) Verletzung der Ehre des Akteurs

(4) Fortbestand des Ehrenprinzips und der Praxis der Ehrenmorde

(3) Ehrenmord

Abbildung 5: Modell zur Erklärung des Fortbestands des Ehrprinzips und der Praxis der Ehrenmorde (eigene Darstellung in Anlehnung an Colemans Mehrebenenmodell) Dieses Modell soll die Ursachen der Ehrenmorde (1 = Makroebene) anhand der Randbedingungen und Situationsmerkmale des Täters (2 und 3 = Mikroebene) und von dort aus wieder zurück auf die Gesellschaft (4 = Makroebene), den Fortbestand von Ehrvorstellungen und somit den Fortbestand der Ehrenmorde bei einer Ehrverletzung erklären: Das Makrophänomen – die verschiedenen Ursachen von Ehrenmorden – (1) wirkt auf ein anderes Makrophänomen – den Fortbestand der Ehrenmorde – (4), indem es zuerst auf die Akteure wirkt und die Randbedingungen setzt, an denen diese ihre Handlungen ausrichten (2). Es kommt zu den tatsächlichen Handlungen der Akteure (3), die sich dann in der Summe wieder zu einem neuen Makrophänomen (4) zusammensetzen. Dieser Zyklus bedeutet für Ehrenmorde, dass die einzelnen Ehrenmorde den Fortbestand dieser Verbrechen im Namen der Ehre begünstigen.

Schritt (1): Kollektivmerkmal »Ursachen der Ehrenmorde« Der erste Schritt von der Makroebene (1) zur Mikroebene (2) muss durch die Logik der Situation veranschaulicht werden. Es ist wichtig, zunächst die Determinanten der individuellen Handlungssituation zu bestimmen. Die so genannte »Logik der Situation« wird durch den individuellen Hintergrund der Handelnden und den sozialen Kontext strukturiert. Der Kontext bildet den Bezugsrahmen für die Aktionen und Interaktionen von Individuen und Gruppen in einer bestimmten Situation. Der soziale Kontext wird durch drei Bereiche erklärt: sozialer Bezugsrahmen (z.B. Normen), kultureller Bezugsrahmen (z.B. Werte) und Opportunitätsstruktur (Infrastruktur). Jeder dieser Bereiche verfügt über spezifische kollektive Eigenschaften, die zu kontextuellen Eigenschaften des individuellen Handelns werden.5 Der individuelle Hintergrund besteht aus zwei Dimensionen: einerseits hat jedes Individuum Zugang zu unterschiedlichen Ressourcen wie ökonomisches, soziales oder kulturelles Kapital. Die zweite Ebene, die psychosoziale Disposition, umfasst 5  | Vgl. Hang, 2002, URL: www.demogr.mpg.de/publications/files/1214_1036404461_1_ WorkingProzent20PaperProzent20Version.pdf, Zugriff am 17.4.2006.

201

202

Morde ohne Ehre

Elemente wie Werte oder Erwartungen und die Präferenzstruktur des Individuums. Am Beispiel der Täter von Ehrenmorden spielen situationsspezifische Faktoren wie die sozioökonomischen Bedingungen, die Geschlechterungleichheit und der Glauben an Traditionen eine wichtige Rolle. Dieses Kollektivmerkmal, das hier als »Ursachen Ehrenmorde« bezeichnet wird, bildet die Ausgangssituation der Täter und setzt die Randbedingungen, die für den sozialen Kontext des Täters von Bedeutung sind. Es wird angenommen, dass der Täter in einer patriarchalisch strukturierten Familie aufgewachsen ist. Seine traditionelle Erziehung und seine konservative Sichtweise bestärken seine Auffassung, dass er als das »stärkere Geschlecht« für die Ehre der weiblichen Familienmitglieder verantwortlich ist. Des Weiteren wird angenommen, dass er keinen hohen Bildungsstand hat und deshalb Berufe ohne große Verdienstmöglichkeiten ausübt. Daher betrachtet er seine Ehre als sein wichtigstes soziales Kapital (vgl. Faraç. M 2004, S. 45). Eine weitere Annahme ist, dass der Täter aus einem schwach entwickelten Gebiet stammt und entweder in diesem Ort wohnt oder infolge von wirtschaftlichen Schwierigkeiten in eine Stadt umgezogen ist. Der Täter verfügt über enge Kontakte zu seinem sozialen Umfeld und hat einen bestimmten Status in seinem Bekanntenkreis, den er in erster Linie über seine Ehre definiert. Die strenge Religiosität des Täters wird ebenfalls vorausgesetzt. Der Täter rechtfertigt seine Vormachtstellung in der Familie und über den Frauen unter anderem auch durch seine Interpretation von islamischen Vorstellungen. Alle diese Merkmale bilden die Randbedingungen, die den sozialen Kontext des Täters in verallgemeinerter Form ausmachen.

Schritt (2): Individualmerkmal: Verletzung der Ehre des Akteurs Beim Individualmerkmal handelt es sich bei diesem Modell um die Verletzung der Ehre des Akteurs. Hierbei können unterschiedliche Gründe maßgeblich sein. Der Akteur fühlt sich durch die Verletzung seiner Ehre provoziert und denkt über seine Handlungsmöglichkeiten nach. In dieser Phase ist er häufig der sozialen und wirtschaftlichen Diskriminierung durch sein soziales Umfeld ausgesetzt. Die soziale Diskriminierung äußert sich in der Ignoranz seiner Person durch Bekannte oder Verwandte. Die wirtschaftliche Diskriminierung kann sich zum Beispiel dadurch äußern, dass niemand mit ihm Handel treiben würde. Viele Täter berichten ebenfalls davon, dass sie von ihren Verwandten und sozialem Umfeld großen Druck erfahren hätten und zu der Tat regelrecht angestiftet worden seien. Wenn der Ehrenmord dem Typus der traditionellen Brauchmorde entspricht, dann wird in dieser Phase der Familienrat berufen, bei dem der Ehrenmord von männlichen Familienmitgliedern des Täters beschlossen und darüber entschieden wird, wer die Tat ausführen soll. Bei diesen Morden kann es bis hin zur einigen Wochen oder Monaten dauern, bis der Mord ausgeführt wird. Im Fall der individuell begangenen Ehrenmorde ist die Zeitspanne zwischen der Ehrverletzung und dem Ausführen der Tat kürzer, da der Täter oft im Affekt

Erklärungsansätze

handelt, aber sich dennoch der Folgen seiner Tat bewusst ist. Die Situation des Täters kann individuell differieren, wichtig ist, dass der Akteur aufgrund der Ehrverletzung jedoch darüber nachdenken muss, wie er seine angegriffene Ehre wiederherstellen kann. Dieser Schritt, den Coleman als »Logik der Selektion« bezeichnet, ist eng mit der Handlungstheorie verbunden. Hier wird der kausale Zusammenhang zwischen den individuellen Eigenschaften und der Wahl einer bestimmten Handlungsalternative untersucht. Dieser Zusammenhang trifft auf die Familienmitglieder des Täters zu, da sie alle von der Ehrverletzung betroffen sind.6 Ein »soziales Optimum« wird hingegen durch die Handlung erreicht, wenn das Resultat des Ereignisses dem Interesse der stärkeren Interessengruppe entspricht. In diesem Fall bedeutet es für den Täter, dass er sich für die Tat entscheidet, auch wenn er sie eigentlich nicht befürwortet. Ihm kann deshalb die Wiederherstellung der Ehre seiner Familie viel wichtiger sein als der Tod des Opfers oder die zu erwartende Gefängnisstrafe. Die These von Coleman besagt, dass eine Handlung für andere gewinnbringend sein kann, während sie dem Akteur schadet. Diese Handlungen führen zu den Ergebnissen, die der Akteur nicht bevorzugt, und die sogar selbst zerstörend sein können. Er weist ebenfalls darauf hin, dass die Akteure Sanktionen von anderen Personen erfahren können, wenn sie nicht ein bestimmtes Verhalten zeigen. Dies trifft bei den Ehrenmorden zu, da die Täter in der Mehrheit vor dem Mord vom sozialen Umfeld diskriminiert werden. Diese Diskriminierung ist umso größer, je enger die Beziehungen der Täter zum sozialen Umfeld sind. Aufgrund der engen sozialen Kontakte sind die Täter der Kontrolle durch das soziale Umfeld mehr ausgesetzt. Die Ehrverletzung wird von der Öffentlichkeit wahrgenommen und dementsprechend sanktioniert. Es wird angenommen, dass der Täter des Ehrenmords, der den Akteur in diesem Modell darstellt, folgende zwei Optionen hat: Bei der ersten Option fügt er sich dem Druck des sozialen Umfeldes und der Nahestehenden und entscheidet sich für die Tat. Damit entscheidet er sich für den Tod des Opfers und stellt sich über geltende Rechtsnormen und Menschenrechte. Die zweite Option ist, dass er sich dazu entschließt, nichts zu unternehmen und die Folgen seiner verletzten Ehre in Kauf zu nehmen. Es gibt viele Fälle, bei denen die Betroffenen in eine andere Stadt umgezogen sind, um der »öffentlichen Schande« in ihrem Herkunftsort und den Konsequenzen des »passiven Verhaltens« zu entkommen. In manchen Fällen konnten die Auseinandersetzungen durch finan6  | Auch der Rechtssoziologe Günther Teubner verweist auf dieses Problem, indem er behauptet, dass in manchen relevanten sozialen Situationen eine bestimmte Rechtsnorm bei den Akteuren nicht anerkannt wird (Teubner, G. 1992, S. 140-161). Der Täter lehnt die Verantwortung für die Tat ab und sieht sich als wehrloses Opfer unbeeinflussbarer Kräfte. Die Straftat scheint zwar als illegitim, aber nicht als moralisch verwerflich zu sein. Die Berufung auf höhere Instanzen betrifft speziell bei Ehrenmorden die Befolgung von alten überkommenen Traditionen oder die falsche Interpretation islamischer Vorstellungen, um die Tat zu rechtfertigen.

203

204

Morde ohne Ehre

zielle Zahlungen wieder ausgeglichen werden. Doch vielen betroffenen Familien fehlen meist die finanziellen Möglichkeiten, um von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.

Schritt (3): Individualmerkmal: Handeln Bei dem zweiten Individualmerkmal, dem Handeln, wird angenommen, dass der Täter das Opfer umbringt, das nach seiner Ansicht die Familienehre verletzt hat. Der Täter versucht, durch den Mord die eigenen und die moralischen Werte seiner Familie zu verteidigen. Das Opfer hat sich nach Auffassung des Täters durch sein Verhalten gegen die Familie gestellt und gleichzeitig die Ehre der Familie verletzt. Der Täter glaubt daran, dass er die soziale Achtung in seinem Umfeld nur durch eine schwere Bestrafung des Opfers zurückgewinnen kann. Deshalb versucht er, die erlittene Beschämung durch die brutale Tat zu kompensieren.

Schritt (4): Logik der Aggregation: These des Fortbestands von traditionellen Vorstellungen und der Praxis der Ehrenmorde Bei der Logik der Aggregation werden die Regeln erklärt, nach denen aus unintendierten Folgen individueller Handlungen kollektiv geforderte Konsequenzen entstehen. Für Ehrenmorde gelten die These des Fortbestands traditioneller Vorstellungen der Ehre und der Fortbestand der Praxis der Ehrenmorde im Fall einer Ehrverletzung. Durch den Ehrenmord hat der Täter der Gemeinschaft signalisiert, dass das Ehrprinzip für ihn eine Lebensmaxime darstellt und auf die Ehrverletzung mit dem Tod des Opfers reagiert hat. Seine Vorgehensweise kann einen Nachahmungseffekt bewirken und für andere Personen, die in der Zukunft ein ähnliches Schicksal erfahren werden, als Vorbild dienen. Seine Argumentation für die Rechtfertigung seiner Tat kann daher zum späteren Zeitpunkt von anderen ebenfalls als Vorwand für ein ähnliches Verhalten angenommen werden. Zum Beispiel könnte sich der Täter auf die Befolgung islamischer Glaubensvorstellungen berufen und die Verbreitung der falschen Interpretation islamischer Ideen begünstigen. Die Ursachen für Ehrenmorde müssen nicht unbedingt infolge eines »ökologischen Fehlschlusses« zur weiteren Ehrenmorden führen. Die internationale Verbreitung von Ehrenmorden zeigt jedoch, dass bestimmte Merkmale und Rahmenbedingungen wie patriarchalische Familienstrukturen, Missinterpretation islamischer Vorstellungen und die sozioökonomischen Bedingungen gemeinsame Merkmale der Länder und Kulturen sind, in denen Ehrenmorde verstärkt auftreten. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Colemans Mehrebenenmodell als einzige Theorie die Möglichkeit bietet, verschiedene Ursachen und entscheidende Faktoren komprimierend darzustellen. Daher eignet sich diese Theorie als theoretischer Hintergrund bezüglich der Darstellung des Zusammenwirkens mehrerer Faktoren bei Ehrenmorden.

Erklärungsansätze

2.4 Z wischenfazit Die Darstellung verschiedener Theorien sollte den theoretischen Hintergrund der die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche wie Familienleben, Geschlechterunterschiede und die Handlungsmöglichkeiten der Individuen betreffenden Einflussfaktoren wiedergeben, die bei Ehrenmorden eine große Rolle spielen. Um eine interdisziplinäre Sicht auf die vorhandenen Theorien zur Erklärung der Ursachen der Ehrenmorde zu ermöglichen, ordnete die Autorin einzelnen Ursachen verschiedene Theorien zu. Die sozioökonomischen Bedingungen wurden unter Einbeziehung verschiedener kriminalsoziologischer Theorien wie die »Control Balance Theorie« von Charles Tittle und dem ökologischen Ansatz von Shaw und McKay analysiert. Die patriarchalen Beziehungen innerhalb der Familie infolge des Machtungleichgewichts der Geschlechter und der Kontrolle der Männer über Frauen wurden anhand der geschlechtersoziologischen und feministischen Theorien dargestellt. Diese erklären die männliche Gewalt als die Hauptursache für Geschlechterungleichheit, die durch patriarchalische Strukturen und Unterdrückung der weiblichen Sexualität geprägt wird. Bei der Auseinandersetzung mit der herausragenden Bedeutung des Ehrenkodexes bei diesen Verbrechen bildeten die rechtssoziologischen und anthropologischen Erläuterungen von Rauh, Teubner, Durkheim, Araji und Luhmann wichtige Bezugsquellen. Die Kulturkonflikttheorie von Sellin konnte Informationen über den Werte- und Kulturkonflikt wiedergeben, dem viele Täter aus dörflichen Gebieten ausgesetzt sind. Die Neutralisationstheorie von Sykes und Matza und Jack Katz Theorie über »Rightheous Slaughter« verdeutlichten, warum geltende Normen und Wertvorstellungen aufgrund des Ehrprinzips nicht befolgt werden. Im Gegensatz zu Jack Katz, der die Ehrenmorde mit den moralischen Wertvorstellungen des einzelnen Täters erklärt, führt Christian Giordanos Überlagerungstheorie die Bedeutung des Ehrkodexes auf die Mentalität und die geschichtliche Entwicklung der mediterranen Gesellschaften zurück. Die Anwendung des colemanschen Mehrebenenmodells zeigt, dass viele Faktoren in einer komplexen Weise zusammenwirken müssen, damit sich der Täter zu dieser Tat entscheidet. Bei diesen Faktoren wurden die patriarchalen Familienstrukturen, die sozioökonomischen Bedingungen, die zentrale Bedeutung des Ehrprinzips im Leben der Betroffenen, die falsche Interpretation islamischer Glaubensvorstellungen und persönlich bedingte Faktoren analysiert. Der komplexe Charakter der Ehrenmorde wurde durch die Kombination von verschiedenen Ursachen und Theorien erklärt.

205

3 Methodischer Teil: Medienanalyse und Experteninterviews

Basis dieser Arbeit sind die nachstehenden Datenquellen: Die internationale und vor allem die türkische Fachliteratur zum Thema Ehrenmorde; Analyse der türkischen Medienlandschaft bezüglich der Behandlung der Ehrenmordthematik; Die Analyse der Berichterstattung über Ehrenmorde in der Tageszeitung Posta vom 1. Januar bis 31. Dezember 2005 und Experteninterviews. Als Erhebungs- und Analyseverfahren der Arbeit wurde die quantitative Inhaltsanalyse angewendet. Ergänzt wurden die oben erwähnten Datenquellen durch die Literaturstudien in türkischen Universitätsbibliotheken und Datenarchiven der Tageszeitungen, durch die teilnehmende Beobachtungen bei Gerichtsverfahren und durch die Teilnahme an Veranstaltungen über diese Thematik sowie durch allgemeine Beobachtungen während des Forschungsaufenthalts in der Türkei.

3.1 M edienanalyse als U ntersuchungsmethode Im Folgenden werden die Bedeutung der Medienanalyse, der Medienwirkungsforschung und die Darstellung der Medienwirklichkeit in Bezug auf die mediale Darstellung der Ehrenmorde in der Türkei wiedergegeben. Die Medienwirklichkeit ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, da es zu untersuchen gilt, durch welche Merkmale diese von den Medien dargestellte Wirklichkeit gekennzeichnet ist. Die Mediensprache und deren Kriterien bilden einen weiteren theoretischen Bezugsrahmen, da die Zeitungsberichte unter anderem nach inhaltlichen Kriterien untersucht worden sind. Da Ehrenmorde wie alle anderen Tötungsdelikte ein hohes Gewaltpotenzial aufweisen, wird auch die Darstellung von Gewalt in den türkischen Medien charakterisiert. Die Medien bestimmen, welche Themen die Rezipienten täglich erreichen. Sie wählen aus der Fülle von Nachrichten und Informationen einige wenige Themen aus und setzen sie auf die Tagesordnung. Häufig berichtete Themen werden vom

208

Morde ohne Ehre

Publikum als besonders wichtig empfunden. Die Aufmerksamkeit gegenüber bestimmten Themen wird durch die Strukturierung, Platzierung, den Umfang und die Anzahl der Wiederholungen von Themen in den Medien beeinflusst (vgl. Efe, N. 2005, S. 67). Die Medien bestimmen den Grad der Relevanz, die einem Thema in der Öffentlichkeit beigemessen wird. Bereits Max Weber verstand im Jahr 1910 das Zeitungswesen als ein relevantes Forschungsmedium, dessen Kulturbedeutung für das individuelle Leben erforscht werden sollte. Weber machte darauf aufmerksam, dass Medienanalyse als Kulturanalyse betrieben werden sollte.1

Medienwirkungsforschung Innerhalb der Medienanalyse spielt die Medienwirkungsforschung eine bedeutende Rolle. Daher wird im Folgenden der Versuch unternommen, durch vorhandene Theorien der Medienwirkungsforschung kurz dieser Frage im theoretischen Rahmen nachzugehen: Die Medienwirkungsforschung im Allgemeinen befasst sich mit den Wirkungen, von Medieninhalten auf die Rezipienten und die Wirkungsbereiche Verhalten, Wissen, Meinungen, Einstellungen und Emotionen. Es gibt verschiedene Modelle der Medienwirkungsforschung wie zum Beispiel das Stimulus-Response-Modell oder das Reiz-Reaktions-Modell, welche die Wahrnehmung der Medieninhalte durch die Rezipienten und ihre Reaktion untersuchen. Nach der Agenda-Setting-Theorie ist es eine Funktion der Massenmedien, die öffentliche Agenda allein durch das Setzen konkreter Themenschwerpunkte und Einschätzungen der öffentlichen Meinung zu bestimmen.2 Kritisch anzumerken ist hier die Nichtberücksichtigung von anderen Faktoren, die auf die Rezipienten wirken. Kritiker betonen, dass die von den Medien konstruierte Themenstruktur, die als Realität vermittelt wird, nicht als Spiegelbild der Realität gesehen werden darf, da viele Themen die Allgemeinheit überhaupt nicht erreichen. Obwohl der Ansatz keine Informationen über die Inhalte gibt, die die Einstellungen oder die Denkweise des Publikums betreffen, liefert er wertvolle Informationen darüber, 1 | Aber erst in den 1970er Jahren wurde das Zeitungswesen im Zusammenhang mit Cultural Studies erforscht. Viele Forscher gehen davon aus, dass Menschen generell durch Medien manipuliert werden und von den Ideologien der Medieninhaber gefangen sind. Deshalb sind populäre Medien neben jugendlichen Subkulturen, dem Erziehungssystem und der staatlichen Macht ein zentraler Untersuchungsgegenstand.

2 | Die theoretische Grundlage der Theorie des Agenda Setting bildet die These von Cohen (1963), wonach die Medien keinen großen Einfluss auf das hätten, was das Publikum zu einzelnen Themen denkt, aber einen Einfluss darauf, worüber es sich überhaupt Gedanken macht. Mc Combs und Shaw erweiterten dieses Modell in ihrer Studie »AgendaSetting-Function of Mass Media«, indem sie die Rangordnung der Themen in den Medien mit der Themenrangordnung auf der Publikumsagenda untersuchten.

Methodischer Teil: Medienanalyse und Experteninterviews

über welche Themen das Publikum aufgrund der Medienagenda nachdenken soll und wie die Medienagenda auf die Meinungsbildung einwirkt. In Bezug auf die mediale Darstellung der Ehrenmorde in der Türkei gilt, dass die verstärkte und kritische Berichterstattung in den türkischen Medien die Öffentlichkeit gegenüber diesen Tötungsdelikte sensibilisiert hat.

Ansätze der Medienanalyse Verschiedene Ansätze der Medienanalyse unterscheiden sich durch ihren erkenntnistheoretischen Hintergrund.3 Es gibt vier Ansätze der linguistischen Printmedienanalyse: Medienethnografie untersucht Produktions- und Rezeptionszusammenhänge von Medientexten; die Textsortenanalyse recherchiert die Realisierung konventioneller Darstellungsformen; die Variationsanalyse vergleicht ausgewählte Sprachmerkmale in zwei oder mehreren Trägermedien und die Diskursanalyse setzt sich mit den Ideologien in Medientexten auseinander: Die linguistische Medienanalyse fokussiert die Beziehungen zwischen Text und Kontext. Wichtiger als die sprachliche Struktur ist, die Art und Weise, wie politisch-soziale und ökonomische Rahmenbedingungen des untersuchten Mediums die Wahl sprachlicher Mittel den jeweiligen Text prägen.4 Bei der sprachstrukturellen Analyse werden die Makrostruktur des Textes, dessen thematische Entfaltung, verschiedene Modalitäten wie Ausmaß an Subjektivität und Ironie, die thematische und grammatische Kohärenz und mikrokulturelle Eigenschaften wie Wortschatz, rhetorische Mittel, Tempusgebrauch oder Metaphorik untersucht. Critic Linguistics befasst sich hingegen mit dem Zusammenhang zwischen sprachlicher Variation und ideologischer Positionierung. Die Verfechter dieser Methode Fowler (1991) und Kress (1986) vertreten die Auffassung, dass die sprachliche Struktur selbst ideologische Positionierungen enthält, die durch den Sprachgebrauch reproduziert werden. Demzufolge kann die Repräsentation der Realität in den Medien nicht ideologisch neutral sein. Daher ist auch Sprache in den Me3  | Die Hermeneutik befasst sich mit dem Vorgang des Verstehens und Interpretierens von Schriften. Gadamer vertritt in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass der Vorgang des Verstehens in historisch wandelbare Gegebenheiten eingebettet ist und damit den jeweiligen Horizont des Erkenntnisaktes berücksichtigen muss. Dieser Horizont sei durch Vorkenntnisse geprägt und würde durch das Rezipieren des Untersuchungsgegenstandes erweitert oder korrigiert. Das Dilemma der kreisförmigen Bedingtheit von Vorwissen und Auslegung bezeichnet Gadamer als »hermeneutischen Zirkel«. 4  | Übereinstimmend mit diskurstheoretischen Ansätzen geht auch die Objektive Hermeneutik davon aus, dass sich die Sinnstrukturierte Welt durch Sprache konstituiert. Für die Objektive Hermeneutik ist die Auseinandersetzung mit Texten von Interesse, da diese als Protokolle der Wirklichkeit verstanden werden.

209

210

Morde ohne Ehre

dien nicht frei von Evaluationen und ideologischen Stellungnahmen. Durch die Verbindung grammatischer und ideologischer Analyse wird gezeigt, dass scheinbar unbedeutende Details der sprachlichen Formulierung zur Reproduktion sozialer Stereotype bzw. Verschleierung politischer Verantwortung beitragen können. Doch hierbei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Interpretation einer Nachricht vielfach von der Biografie und der sozialen Stellung des Rezipienten abhängt (vgl. Boyd-Barret, 1994, S. 29). Das zentrale Anliegen der Handlungsorientierten Medienanalyse ist, die Handlungsweisen des Autors zu analysieren und zu erklären. Es gilt herauszufinden, warum der Autor schreibt, was er schreibt. Um die Motive offen zu legen, gibt es in Anlehnung an die Handlungstheorie sich gegenseitig ergänzende Ansätze.

Inhaltsanalyse als Untersuchungsmethode Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf eine Inhaltsanalyse über Berichterstattung von Ehrenmorden in der türkischen Tageszeitung Posta. Als Methode der empirischen Sozialforschung lässt die Inhaltanalyse Rückschlüsse auf bestimmte Themenkomplexe zu. Das Verfahren der Inhaltsanalyse erlaubt es, eine umfassende Untersuchung der Darstellung der Ehrenmorde bei den Printmedien zu systematisieren und bezogen auf den festgelegten Zeitraum eine Übersicht über die Art der Darstellung von Ehrenmorden zu erstellen. Die Kombination dieser Untersuchungsmethode mit den Experteninterviews und mit ausführlicher Literaturanalyse zum Forschungsstand ermöglicht eine ergänzende Sichtweise bezüglich der Charakterisierung der Ehrenmorde in der Türkei. Die Darstellung der Wirklichkeit in den Medien ist insofern von Bedeutung, da es hier zu untersuchen gilt, durch welche Merkmale die von den Medien dargestellten Ehrenmorde gekennzeichnet sind: »Medienwirklichkeit« ist ein Begriff, der in verschiedenen Journalismustheorien und der Medienwissenschaft Verwendung findet. Der Begriff steht nach Stefan Weber dafür, dass nicht das Wirkliche die Wirklichkeit bestimmt, sondern dass Mediale und die Medien wirklich sind (vgl. Weber, M. 2007). Ein Merkmal der Medienwirklichkeit ist dass nicht die Nachricht über ein Ereignis unsere Realität bestimmt, sondern die Art der Inszenierung in den Massenmedien. Der Realismus geht davon aus, dass es eher oder überhaupt nur die Wirklichkeit ist, die auf die Instanz einwirkt und nicht umgekehrt; während der Konstruktivismus behauptet, dass es eher oder überhaupt nur die Instanz ist, die im Akt des Erkennens die Wirklichkeit erzeugt. Die unterschiedlichen Instanzen, die Wirklichkeiten hervorbringen, sind mit den unterschiedlichen konstruktivistischen Strömungen verknüpft.5

5 | Realismus und Konstruktivismus haben sich daher mit der folgenden Frage beschäftigt: Ist die Wirklichkeit eine Entdeckung oder eine Erfindung? Spiegeln Medien die Wirklichkeit (deckungsgleich bis verzerrt) wider oder konstruieren sie sie erst? Ist es die Instanz,

Methodischer Teil: Medienanalyse und Experteninterviews

Die medial vermittelten Wirklichkeitsmodelle enthalten nicht nur Orientierungs- und Informationsangebote, sondern auch Erlebnis- und Emotionspotenziale (vgl. Bleichner, J. 2003, S. 61f.). So spricht man von dem so genannten »Möbiusband aus Wirklichkeit und medialer Vermittlung«, sodass sich die Wirklichkeit, ihre mediale Vermittlung und Wahrnehmung als ein endlos verflochtenes Band erweist. Die Mediensprache spielt für die Darstellung der einzelnen Ehrenmordfälle eine wichtige Rolle. Stilistik ist der Wissenschaftszweig, der die Anwendung der Sprache, den optimalen Sprachgebrauch und die Unterschiede in der Sprachanwendung untersucht. Der Stil ist von folgenden Rahmenbedingungen abhängig; von Gebrauchs- und Erwartungsnorm, Situation, Absicht, Rezipient und Medium. Journalistisch verfasste Zeitungsberichte bilden die Hauptbezugsquellen der in dieser Arbeit vorgenommenen Inhaltsanalyse bilden. Es werden Kriterien vorgestellt, mit denen sich die Qualität journalistischer Texte messen lässt: Allgemeinverständlichkeit für den Rezipienten, Bezug zum Rezipienten, Klarheit, Anschaulichkeit und Emotionalisierung.

Gewaltdarstellung in den Medien Die Untersuchung von Gewaltdarstellung in den Medien ist ein wichtiges Forschungsgebiet innerhalb der Medienforschung. Täter werden zum Beispiel in den Medien oftmals als Monster und Bestien bezeichnet. Diese Bezeichnungen erwecken Angst und erzeugen Feindbilder. Es ist jedoch in der Medienwirkungsforschung umstritten, ob die Medien vorhandene Gefühle und Einstellungen verstärken oder auch produzieren. Sicher ist, dass Medien bewusst Kriminalität und Gewalt thematisieren, um ihre Auflagen und Einschaltquoten zu verbessern. Auch gewöhnen sich Leser nach und nach an die Darstellung von Gewalt. Dieser Gewöhnungseffekt führt dazu, dass die Medien oft die Grausamkeiten bei Gewaltdarstellung steigern, um die Rezipienten weiterhin binden zu können. Zur Wirkung der Gewaltdarstellung in den Medien gibt es zwei unterschiedliche Positionen: Während viele Wissenschaftler davon überzeugt sind, dass Gewaltdarstellungen eine Ersatz- und Ventilfunktion haben (Katharsishypothese), argumentieren andere, dass Gewaltdarstellung zum Erlernen und zur Nachahmung stimulieren können (Stimulushypothese).6 In diesem Zusammenhang könnte die die Welt erzeugt (Konstruktivismus) – oder ist es die Welt, die auf die Instanz einwirkt (Realismus)?

6  | In der Gesamtschau der Forschungsergebnisse ergeben sich widersprüchliche Ergebnisse. Keine dieser Theorien konnte durchgängig empirisch bestätigt werden, unter anderem auch weil die Medienkonzerne die Forschungsprojekte in Auftrag geben und die Meinungslage beeinflussen. Deshalb ist es wichtig, das psychosoziale Setting des Rezipienten zu beachten.

211

212

Morde ohne Ehre

man die Identifikationsmuster mit den Tätern als negativ beurteilen, da manche Rezipienten die Täter zu ihrem Vorbild nehmen könnten, wenn sie in einer ähnlichen Situation wären. Für die Berichterstattung über Ehrenmorde würde diese Annahme bedeuten, dass ein betrogener Ehemann auch mit einem Ehrenmord auf die Ehrverletzung reagieren würde, weil er dieses Verhalten vielfach in den Medien beschrieben gefunden hatte. Nach Siegfried Lamnek und Walter Kiefl sind Verbrechen das »tägliche Brot« der Massenmedien, insbesondere der Boulevardpresse (Lamnek, S., Kiefl, W. 1986, S. 269). Die geschilderten Fälle sind dabei das Produkt eines Selektionsprozesses: Eine Straftat hat um so größere Chancen in die Berichterstattung aufgenommen zu werden, je mehr die folgenden Kriterien zutreffen: Die Tat erfolgt im Verbreitungsgebiet der Zeitung; es handelt sich um eine besonders grausame und seltene Tat; Opfer und Täter sind bekannt oder gar prominent; Opfer und Täter weisen Besonderheiten auf (Reichtum, Schönheit, ein bewegtes Vorleben). Auch für die Berichterstattung über Ehrenmorde fällt auf, dass der Lebenswandel des Opfers immer im Mittelpunkt steht. Frauenorganisationen kritisieren die patriarchalische Organisationsstruktur der Medien und ihre die Frauen diskriminierende Sprache. Joachim Kersten macht in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass die Medienperspektive unverändert auf stereotype Täter- und Opferbilder fixiert ist (Kersten, J. 1997, S.  128). Kamla Bhasins Argumente ähneln diesen Sichtweisen, da die Medien ihrer Ansicht nach sexistische Ideologien verbreiten und immer wieder die Superiorität der Männer betonen würden (Bhasin, K. 2006, S. 10f.).7 Neben der klischeehaften Gewaltdarstellung in den Medien ist auch die verzerrte Wiedergabe der Kriminalität als sehr problematisch und folgenreich einzustufen (a.a.O.). Die Berichterstattung über Gewaltdelikte (insbes. Tötungsdelikte) ist zum Beispiel um ein Vielfaches höher als die realen Häufigkeitsanteile (bis zum 300- Fachen), während Vermögensdelikte, die den hauptsächlichen Anteil der tatsächlichen Kriminalität bilden, in der Berichterstattung unterrepräsentiert sind. Auf diese Weise erhalten die Medienrezipienten ein sehr verzerrtes Bild über die tatsächlichen Kriminalitätsrisiken. Dies 7 | Zu den drei wichtigsten sprachlichen Tricks, die in den patriarchalen Medien täglich zur Imagepflege verwendet werden, seien folgende Aspekte: (a) die Löschung des Täters und seiner Verantwortlichkeit mittels der Passivkonstruktion. Das Beispiel »Kinder sexuell missbraucht« verdeutlicht diesen Zusammenhang, da der Begriff des Täters in dieser Schlagzeile überhaupt nicht vorkommt. (b) Die Erzeugung von Konfusion durch Fusion: Anstelle geschlechtsspezifischer werden geschlechtsneutrale Ausdrücke verwendet, sodass man es nicht genau unterscheiden kann, wer die Täter und wer die Opfer sind. In der Schlagzeile »Gewalt in der Familie« bleibt die Frage offen, wer der Täter war. (c) Verharmlosung und Verdrehung bezeichnet den Aspekt, dass die männlichen Täter entweder in der syntaktischen Versenkung der Passivkonstruktion und verwandter Konstruktionen oder in den beide Geschlechter meinenden Wörtern wie Gesellschaft, Familie, Kinder oder Eltern verschwinden.

Methodischer Teil: Medienanalyse und Experteninterviews

trifft auf die Ehrenmorde in der Türkei nicht zu, da nur über einige wenige Fälle berichtet wird. Zudem ist die Dunkelziffer der Ehrenmorde als sehr hoch einzustufen. Nachdem der theoretische Rahmen der (Medien-)Inhaltsanalyse als Untersuchungsmethode vorgestellt wurde, folgt die theoretische Ausführung einer weiteren, wichtigen Datenquelle dieser Arbeit: das Experteninterview.

3.2 E xperteninterviews als F orschungsinstrument Die mündliche Befragung wurde als Untersuchungsmethode gewählt, weil sie aufgrund der Möglichkeiten wie Motivation des Befragten oder gegebenenfalls Hilfestellung bei schwierigen Fragen eine bessere Kontrolle der Befragungssituation bietet. Wegen des komplexen Themas, war es wichtig, dass die Befragten vielfältig antworteten und ihre persönliche Sicht darstellen konnten. Da die verschiedenen Sichtweisen über die Charakteristika der Ehrenmorde – die Typisierung und nicht die Repräsentativität der unterschiedlichen Meinungen – dargestellt werden, eignen sich die qualitativen Interviews sehr gut, um die Vielfalt und Tiefe von Ursachenmustern der Ehrenmorde hervorzuheben (vgl. Bogner & Menz, 2001, S. 481). Im Gegensatz zu den andern Interviewformen wie zum Beispiel dem narrativen Interview bildet beim Experteninterview nicht die Person, sondern ihr Wissen den Gegenstand der Analyse. Aufgrund der interdisziplinären Perspektive dieser Arbeit wurden Interviews mit Experten aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen durchgeführt, die sich mit Ehrenmorden eng befasst haben. Als Experte galt eine Person also dann, wenn sie aus persönlichen und beruflichen Gründen mit dem Thema besonders vertraut war. Genauso wichtig wie die Recherchen vor der Durchführung der Experteninterviews war die Entscheidung der Autorin, ob diese Interviews innerhalb des Forschungsdesigns eine zentraleoder eine Randstellung einnehmen sollen. In dieser Dissertation wurden die Experteninterviews in Form einer Randstellung durchgeführt, das heißt bei gleichzeitiger Nutzung anderer Erhebungsverfahren. Zusätzliche Informationen wurden über die ausführliche Analyse von Sekundärliteratur und der eigenen Printmedienanalyse beigesteuert. Das Experteninterview wird im Allgemeinen als Untersuchungsmethode und eigenständiges Verfahren auch bei der industriesoziologischen Forschung sowie bei der soziologischen Verfahrensund Bildungsforschung eingesetzt. Michael Meuser und Ulrike Nagel unterscheiden drei Formen des Experteninterviews (a.a.O.): Das explorative Experteninterview: Diese Methode wird in der qualitativen und in der quantitativen Forschung eingesetzt und dient der ersten Orientierung in einem neuen oder unübersichtlichen Forschungsfeld. Es wird eingesetzt zur Schärfung des Problemwissens des Forschers, zur thematischen Strukturierung des Untersuchungsfeldes und der Hypothesengenerierung. Das Interview wird möglichst

213

214

Morde ohne Ehre

offen geführt, es gibt einen zentralen Ablauf, der als Leitfaden vorliegt. Es geht hierbei um eine vollständige Datensammlung und die Vergleichbarkeit von Daten. In dieser Forschungsarbeit kann man die durchgeführten Experteninterviews diesem Typus zuordnen. Das systematische Experteninterview: Dieses Interview dient der lückenlosen und systematischen Informationsgewinnung. Der Experte soll über objektive Tatbestände aufklären, weil er als Ratgeber gilt, der über Wissen verfügt, das dem Forscher nicht zugänglich ist. Im Vordergrund steht dabei das praktische Wissen des Experten. Das Theoriegenerierende Experteninterview: Dieser Typus bezieht sich auf die persönliche Dimension des Experten und darauf, wie er sein Wissen erlangt hat. Die Personen wurden bei dieser Arbeit anhand eines Leitfadens interviewt. Die Vorteile dieser Vorgehensweise sind, dass ein vorgegebener Gesprächsrahmen gewährleistet ist, auf das thematisch begrenzte Interesse des Forschers eingegangen und das Gespräch nicht zu einem narrativen Interview wird. Außerdem wird der Interviewer dem Expertenstatus des Gesprächspartners gerecht, da die Vorbereitung eines Leitfadens bedeutet, dass man sich mit dem Sachgebiet auseinandergesetzt hat, sodass der Interviewer auf den Interviewten nicht inkompetent wirkt. Ebenfalls beugt ein Leitfaden dem Risiko vor, sich in Themen zu verlieren, die für das Forschungsinteresse nicht relevant sind. Das Interview könnte vom Experten behindert werden, und zwar insbesondere in Phasen, in denen der Experte auch von seinen Lebensbereichen (Beruf, Familie, Verein) berichten würde. Irrelevante Informationen würden dadurch ins Interview gelangen. Doch diese negative Erfahrung wurde bei keinem der Interviewpartner gemacht. Die Auswertung von Experteninterviews orientiert sich an thematischen Einheiten sowie an inhaltlich zusammengehörigen, meist über den ganzen Text verstreuten Passagen und Aussagen (Meuser und Nagel, 1991, S.  455f.). Folgende Möglichkeiten wurden bei der Auswertung der Interviews berücksichtigt und ausgeführt: Transkription: Nach der Erhebung des in der Regel auf Tonband protokollierten Interviews folgte die Transkription. Paraphrase: Bei der Auswertung wird das Interview in der Chronologie des Gesprächsverlaufs paraphrasiert, d.h., man vergewissert sich in eigenen Worten des Wissens der befragten Experten, ihrer Meinungen, Urteile, Beobachtungen und Deutungen. Die hierfür notwendige Sequenzierung des Textes in Sinneinheiten erfolgt durch die thematische Zusammenfassung von Textpassagen.

Methodischer Teil: Medienanalyse und Experteninterviews

Überschriften: Im nächsten verdichtenden Schritt werden die paraphrasierten Textelemente mit Überschriften versehen. Hierbei hängt es von der Komplexität der jeweiligen Sequenz ab, wie viele Überschriften ihr zugeordnet werden. Anschließend werden Passagen, die gleiche oder ähnliche Themen behandeln, zusammengestellt, eine Hauptüberschrift für die subsumierten Passagen wird formuliert. Thematischer Vergleich: Nach Vorliegen aller Auswertungen in Form von Einzelfallanalysen wird in den Interviews nach vergleichbaren Textpassagen gesucht, die zusammengestellt und mit vereinheitlichten Überschriften versehen werden. Soziologische Konzeptualisierung: Erst in dieser Phase erfolgt eine Loslösung vom Primärmaterial und damit auch von der Terminologie der Interviewten; das Gemeinsame in den Interviews wird begrifflich gestaltet (vgl. Meuser und Nagel 1991, S. 462). Theoretische Generalisierung: In einem weiteren Schritt werden die rekonstruierten Kategorien, Deutungsmuster etc. komparativ verdichtet und theoretisch generalisiert. Ziel ist es, das Wissen der Experten in ihren Sinnzusammenhängen zu typisieren und zu einer Theorie zu verknüpfen. Lücken und Selektionen seitens der befragten Personen können dennoch nicht ausgeschlossen werden. Es wurden ausschließlich Leitfadenorientierte Face-toFace Interviews mit offenen Fragen durchgeführt und offene Fragen gestellt (vgl. Schnell, Hill/Esser 1999). Die Schwerpunkte konnten von den Befragten selbst gesetzt werden, das spontane Kommunikationsverhalten wurde somit unterstützt. Die Gespräche wurden auf Tonband aufgenommen und schriftlich und inhaltlich ausgearbeitet. Alle Interviews wurden in Istanbul in dem Untersuchungszeitraum zwischen 1.1.2005 und 31.12.2005 durchgeführt. Neben den Leitfragen, die bei jedem Interview identisch waren, wurden entsprechend ihrer fachlichen Qualifikation zusätzlich fachspezifische Fragen an die Experten gestellt. Die Auswertung der Ergebnisse wird im Abschnitt 4.2 wiedergegeben.

3.3 Z wischenfazit Bei der Vorstellung der Medienanalyse als Forschungsinstrument wurden verschiedene Ansätze und Begriffe wie Medienwirklichkeit, Mediensprache oder der Mediendiskurs kurz erläutert. Die Auseinandersetzung mit der Medienwirkungsforschung zeigte, dass den Medien eine Doppelrolle zugeschrieben wird. Sie sind als Berichterstatter über Ehrenmorde sowohl Dauerbeobachter des Geschehens, als auch Akteure. Daher wird die Art und Weise der medialen Darstellung der Berichte im kommenden Kapitel ausführlicher analysiert. Die Bedeutung und Funktion der Medienanalyse und der Medienwirkungsforschung zeigte, dass sie zwar

215

216

Morde ohne Ehre

Informationen über einen Untersuchungsgegenstand bereitstellen können, aber die Realität aufgrund ihrer verzerrten Darstellung nicht gänzlich wiedergeben. Bezogen auf die Ehrenmorde in der Türkei gibt die Berichterstattung in den Printmedien das Auftreten der Ehrenmorde unvollständig und nur zu einem Bruchteil wieder und geht auf die Ursachen oder Hintergründe dieser Fälle gar nicht ein. Daher soll die folgende Zeitungsanalyse nur darauf hin untersucht, ob die Zeitungen Merkmale der Ehrenmorde wiedergeben, wie es der Forschungsstand angibt. Sie sind eine bedingt gültige, aber dennoch wichtige Datenquelle, da sie nur bedingt auf die Gültigkeit der tatsächlichen Merkmale der Ehrenmorde untersucht werden können. Die Experteninterviews hingegen eignen sich neben der Medienanalyse als eine weitere Untersuchungsmethode, um das wertvolle Wissen der Befragten zu erschließen, die ein besonderes Wissen über dieses Thema besitzen. Daher bilden die verschiedenen Erhebungs- und Auswertungsmethode qualitativer Inhaltsanalyse einen wichtigen Teil dieses Kapitels. Aufgrund der interdisziplinären Perspektive dieser Arbeit eignen sie sich zudem sehr gut, um das spezielle Wissen der Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Richtungen und beruflichen Zweigen zu erschließen.

4 Ergebnisse

4.1 M edienanalyse Im Mittelpunkt der Medienanalyse steht die Frage, ob die Berichterstattung die Hauptmerkmale und Ursachen von Ehrenmorden, wie sie der heutige Forschungsstand charakterisiert, wiedergibt. Daher erfolgen in diesem Kapitel die Vorstellung der türkischen Medienlandschaft und die Auseinandersetzung der türkischen Medien, der Literatur und der Volksmusik mit dem Thema Ehrenmorde und die Printmedienanalyse. Die Behandlung der Thematik der Ehrenmorde bei türkischen Filmen bildet einen weiteren Teil dieses Kapitels.

4.1.1 Der Umgang mit Ehrenmorden in türkischen Medien Die türkische Medienlandschaft wird von drei großen Medienkonzernen geprägt, deren größter, die Aydın Doğan Gruppe, einen Gesamtmarktanteil von über 50 Prozent innehat (Çebi, M. 1994, S. 46f.). Der hohe Konzentrationsgrad, die Konkurrenz, das Nicht-Vorhandensein einer Berufsvertretung für Journalisten und staatliche Zensurmaßnahmen sind die wichtigsten Probleme für die türkischen Medienvertreter. Es gibt folgende multimediale Medienkonzerne in der Türkei: die Hürriyetgruppe, den Medienkonzern von Sabah, den Doĝankonzern sowie den Ihlas Journalismuskonzern (Çebi, M. 1994, S.  217f.). Die geografische Konzentration und die Auflagekonzentration, die sich bei den Zeitungen zeigen, spiegeln die sozialen und ökonomischen Diskrepanzen zwischen den urbanen Zentren und den unterentwickelten Regionen des Landes wider. So kommen beispielsweise insgesamt 20 Tageszeitungen aus Istanbul und nur eine aus Ankara. Somit ist Istanbul das dominierende Pressezentrum der Türkei, in dem alle nationalen Tageszeitungen produziert werden. Neben Istanbul vereinen die fünf urbanen Zentren der Türkei,

218

Morde ohne Ehre

Ankara, Izmir, Bursa, Konya und Adana 97 Prozent aller verbleibenden Zeitungsexemplare auf sich.1 Rundfunk und Fernsehen sind in der Türkei als duales System organisiert (a.a.O.). Die öffentlich-rechtliche Radio- und Fernsehanstalt TRT betreibt sieben (TRT1 bis TRT4, TRTint, TRTtürk, TRTgap) nationale Fernseh- und fünf Radiosender. Des Weiteren gibt es 16 nationale, 15 regionale und 229 lokale Fernsehstationen. Die Hörfunklandschaft ist ähnlich vielfältig. Die öffentlich-rechtlichen Kanäle werden von einer der Regierung ernannten Direktion geführt. Die Printmedien unterliegen der freiwilligen Selbstkontrolle des türkischen Presserates. Die Situation der Medienfreiheit in der Türkei war in der Vergangenheit sehr schwierig, da bis in die späten 1990er Jahre zahlreiche Journalistinnen und Journalisten verhaftet und Zeitungsredaktionen reihenweise geschlossen wurden. Auch vielen Fernsehsendern wurden zeitlich beschränkte Sendeverbote erteilt. Trotz zahlreicher Reformen der Verfassung und des Pressegesetzes, die infolge der Beitrittsbemühungen der Türkei entstanden sind, hat sich die Lage noch nicht ganz entspannt. Bestimmte Autoren und Journalisten werden aufgrund ihrer kritischen Berichterstattung immer noch verfolgt. Murat Çebi untersuchte die Pressestruktur der Türkei im Zeitraum zwischen 1980 und 1992 und setzte sich mit der Pressefreiheit in der Türkei auseinander (Çebi, M. 1994, S. 130f.). Da aktuelle Studien über dieses Thema fehlen, wird die ältere Studie zitiert, die einen Überblick über die Pressestruktur der Türkei gibt. Nach den Berichten des Internationalen Presseinstituts wird die Pressefreiheit in der Türkei eingeschränkt, indem anders denkende Journalisten verfolgt und kritische Zeitungen verboten werden. Die staatlichen Angriffe auf die Pressefreiheit werden als legitim angesehen oder sogar gerechtfertigt. Die Einschränkung der Pressefreiheit führt Çebi auf die politische Kultur der Türkei zurück, die der Gemeinschaft, der Nation und dem Staat eine Vorrangstellung über das Individuum einräumt. Heikle Themen für Journalisten bilden Berichte über das türkische Militär, die Kurden, den politischen Islam, die Homosexualität und den Völkermord an den Armeniern. Die Türkei verfügt seit den 1990er Jahren über ein besonders reichhaltiges Zeitungsangebot. Ende 1991 erschienen zum Beispiel insgesamt 694 Zeitungen. 338 sind dem Medium der Tageszeitung und 356 anderen Zeitungsarten zuzuordnen. Die Tatsache, dass die türkischen Zeitungen sehr günstig sind, trägt dazu bei, dass so gut wie alle Bevölkerungsschichten mindestens eine Zeitung am Tag lesen. Eine weitere Beobachtung während des Forschungsaufenthalts war, dass im Allgemeinen von Familien mehrere Zeitungen am Tag gekauft wurden. Ein Exemplar der Posta kostete während der Untersuchungsphase 250.000 Lira. Dieser Betrag 1 | Es gibt drei Hauptnachrichtenagenturen in der Türkei: AA-Anadolu Ajansı (Nachrichtenagentur Anatolien), UBA-Ulusal Basın Ajansı (Nationale Presseagentur), HHA-Hürriyet Haber Ajansı (Nachrichtenagentur Hürriyet), MILHA-Milliyet Haber Ajansı (Nachrichtenagentur Milliyet) und IHA-Ihlas Haber Ajansı (Ihlas Journalismus Agentur).

Ergebnisse

entspricht umgerechnet 13 Cent. Alle anderen Tageszeitungen kosteten zwischen 150.000 (ca. 7 Cent) und maximal 1 Million Lira (52 Cent). Die Mehrzahl der lokalen Presse steht in vielfacher Hinsicht in Opposition zur nationalen Tagespresse in Istanbul (S. 186f.). Die teilweise sehr rückständige technische Ausstattung der kleinen Lokalzeitungen, die lokale Reichweite, geringe finanzielle Mittel, mangelhafte Verbindungen zu Informationsquellen und schlechte bzw. gar nicht ausgebildete Journalisten sind die entscheidenden Merkmale, die den Qualitätsunterschied zwischen regionalen und überregionalen Zeitungen ausmachen. Die meisten nationalen Tageszeitungen kommen aus Istanbul und sind inhaltlich nach dem Vorbild der großen europäischen und amerikanischen Zeitungen aufgebaut. Sie verfügen über Sonderseiten, politische Kommentare und Leitartikel. Sie geben mehrmals wöchentlich kleinformatige Beilagen heraus, die sich auf spezielle Themen wie Kultur, Kunst, Tourismus, Mode und Unterhaltung beziehen. Die Mehrzahl der Zeitungen erscheint auch sonntags. Seit 1993 werden einige Tageszeitungen wie Hürriyet oder Tercüman zusätzlich im Ausland vertrieben. Die junge, innerhalb weniger Jahre zur auflagenstärksten türkische Tageszeitung avancierte Posta ist ebenso Teil des Medien- und Wirtschaftskonglomerat von Aydın Doğan, wie das angesehene Blatt Hürriyet und die beiden Zeitungen Milliyet und Radikal. Weiter findet man die Zeitungen Akşam, Türkiye, die zur Dinç-Bilgin-Gruppe gehörende Sabah, die gemäßigt islamistische Zaman, und die gemäßigt linke Cumhuriyet an den meisten türkischen Kiosken. Wochen- und Monatszeitschriften sind in der Mehrzahl auf ein bestimmtes Thema spezialisiert (Frauen-, Motor-, Sportmagazine etc.). Murat Çebi charakterisiert das Medienwesen der Türkei wie folgt: »Eine große Zahl von Zeitungen, lokale Bindung vieler Tageszeitungen, relativ wenige überregionale Blätter, eher schwach entwickelte regionale Blätter, Stagnation bei der Gesamtauflage der Tagespresse, eine eher schwache Parteipresse, eine kleine Zahl politischer Wochenzeitungen, ein reichhaltiges Zeitschriftenangebot« (S. 231).

Das türkische Fernsehen Das Fernsehen ist aus dem türkischen Alltagsleben nicht wegzudenken. Dem Medium Fernsehen schreiben auch die Soziologin Lilo Schmitz und der türkische Journalist Mehmet Faraç große Bedeutung für die Vermittlung von Inhalten und für die Meinungsbildung zu. Die Bedeutung des Fernsehens insbesondere für die dörfliche Kultur kommt bei den Fernsehabenden zur Geltung, die durch Geschlechtersegregation gekennzeichnet sind: für die Männer im Kaffeehaus, für die Frauen in Privathaushalten. Das einheitlich ausgestrahlte Nationalprogramm für Männer und Frauen bedeutet eine neue einheitliche Erfahrungswelt, deren Sozialisationseffekt nicht unterschätzt werden sollte (vgl. Schmitz, L. 1985, S. 12f.). Lilo Schmitz spricht in diesem Zusammenhang von den zahlreichen in der westlichen Welt hinreichend bekannten amerikanischen Familienserien, die komplizierte Internalisierungsund Identifikationsmechanismen in Gang setzen würden und eine Wertumorien-

219

220

Morde ohne Ehre

tierung zur Folge hätten. Auch Cheryl Benard und Edith Schlaffer weisen auf die Identifikationsmöglichkeit der Zuschauer mit den Darstellungen im Fernsehen hin: »Man denkt über die eigene Situation nach, nicht nur, weil man unzufrieden oder unglücklich ist, nicht nur aus Neugier, sondern weil einem die Möglichkeit eines anderen Lebens überhaupt erst vorstellbar wird; dies alles kann das Denken öffnen« (Benard, C. und Schlaffer, E. 1995. S. 56). Vor allem türkische junge Mädchen, die nach traditionellen Leitbildern erzogen werden und in ruralen Gebieten wohnen, bekommen mit dem Fernsehprogramm eine merkwürdig verzerrte Welt ins Haus geliefert. Sie identifizieren sich leicht mit den zahlreichen westlichen Darstellungen von Partnerschaften. Mehmet Faraç weist in diesem Zusammenhang auf folgende Gefahren dieser durch das Medium verzerrt vermittelten Wirklichkeit hin: »Wenn Sie sich die türkischen Kanäle angucken, dann werden Sie feststellen, dass viele Filme im Südostanatolien gedreht werden. Die Traditionen, die feudalen Strukturen sind die größte Quelle von türkischen Filmen oder der Literatur. Oft wird das Leben von großen Klans anhand von Klischees dargestellt, aber völlig realitätsfern und verzerrt. Ich vergesse nie die Serie »Gurbet kadını«. Da war ein junges Mädchen in engen Jeanshosen, Cowboystiefeln und Hut auf einem Pferd und brachte Männer beim Reiten um. Das ist solch ein Widerspruch zur Realität: in diesen Gegenden können die armen Frauen nicht mal einem männlichen Besuch in die Augen schauen! Die Medien sind sich ihrer Verantwortung bei der Nachahmung der Taten nicht bewusst« (Interview mit Mehmet Faraç vom 11.10.2005).

Die Darstellung von Ehrenmorden in der türkischen Presse Ehrenmorde sind in den türkischen Zeitungen ein Thema, über das seit Jahrzehnten berichtet wird. Die verstärkte Zunahme der Berichterstattung über Ehrenmorde seit den 90er Jahren ist mit der Sensibilisierung der türkischen Gesellschaft gegenüber diesem Thema und mit dem enormen Einsatz der Menschenrechtsorganisationen bezüglich dieser Thematik verbunden (vgl. Pervizat, L. 2005, S. 221). Warum Ehrenmorde wie auch andere Gewaltdarstellungen ein bevorzugtes Thema der Medien darstellen, kann dadurch erklärt werden, dass Verbrechen das »tägliche Brot« der Massenmedien, insbesondere der Boulevardpresse bilden (Lamnek, S., Kiefl, W. 1986, S. 269). Die geschilderten Fälle sind das Produkt eines Selektionsprozesses. In diesem Kontext ist für die Berichterstattung über Ehrenmorde relevant, ob die Tat im Verbreitungsgebiet der Zeitung geschah und sich durch besondere Brutalität auszeichnete. Opfer, die einen Normabweichenden Lebenswandel führen, unterliegen in besonderem Maße dem Risiko einer sekundären Viktimisierung. Dies trifft auf die Opfer der Ehrenmorde ebenfalls zu, da ihre Lebensweise in den Berichten oft als Rechtfertigungsgrund für den Mord dargestellt wird.

Ergebnisse

Expertenmeinungen zur Rolle der Medien bei Ehrenmorden Alle befragten Experten warfen den Medien mangelndes Verantwortungsbewusstsein bezüglich der Konfrontation mit Ehrenmorden vor: In diesem Zusammenhang schreiben die Anwältin Vildan Yirmibeşoĝlu, der Islamwissenschaftler Zekeriya Beyaz und der Anwalt Tugay Demirci den Medien mangelndes Verantwortungsbewusstsein bei der Berichterstattung über Ehrenmorde zu. Die Anwältin Ayşegül Kaya wirft den Medien vor, dass sie sehr verantwortungslos und gleichgültig mit dem Thema umgehen und es als Quotenrenner benutzen. Ebenso hält sie ihnen vor, dass sie die Sittlichkeit und das konforme Verhalten des Opfers durch ihre sexistische Sprache immer infrage stellen würden (Interview mit Ayşegül Kaya, vom 5.10.2005). Die Psychologin Pınar Ilkaracan weist darauf hin, dass sich die Medien auf die sexuellen Aspekte und die Gewalttätigkeit der Ehrenmorde konzentrieren und wirft ihnen daher vor, diese Morde als »juicy and sexy news« zu präsentieren (Interview mit Pınar Ilkaracan vom 18.10.2005). Die Medienwissenschaftlerin Şükran Esen fordert in diesem Zusammenhang strengere Auflagen des Staates gegenüber Medien, die sich ihrer Rolle und der Aufklärungsfunktion nicht bewusst sind (Interview mit Şükran Esen vom 9.11.2005). Der Rechtsanwalt Tugay Demirci beurteilt es positiv, dass die Medien aufgrund der neuen Gesetzen keine Namen von Personen angeben dürfen, die in eine Gerichtsverhandlung verstrickt sind, denn früher hätten falsche Meldungen den Betroffenen so sehr geschadet, dass sich manche infolge dieser Berichterstattung sogar umbrachten (Interview vom 17.2.2005). Gülşen Tunç, ebenso Juristin, findet es sehr schade, dass die Medien von ihrer Macht und ihrer aufklärenden Position wenig Gebrauch machen, obwohl sie das Potenzial dazu hätten, jeden zu erreichen (Interview vom 9.12.2005). Sie kritisiert auch die Tatsache, dass die Medien nie über die Ursachen dieser Morde berichten würden. Leyla Pervizat weist auf die Veränderung der Berichterstattung infolge der Ermordung von Şemse Allak hin, die von ihren Cousins zu Tode gesteinigt wurde. Dass sie erst nach acht Monaten ihren Verletzungen erlag, hätte eine große Medienaufmerksamkeit zur Folge gehabt (Interview vom 7.10.2005). Neben Pervizat gaben die Medienwissenschaftlerin Şükran Esen und die Psychologin Pınar Ilkaracan an, dass die Medien in den letzten drei Jahren sensibler mit den Ehrenmorden umgehen und sich mehr für die Menschenrechte einsetzen würden. Der Islamwissenschaftler Zekeriya Beyaz wirft den Medien vor, mit falschen Schlagzeilen über Ehrenmorde zu berichten und sie dadurch zur rechtfertigen. Schlagzeilen wie »Er hat seine Familienehre bereinigt« oder »drei Schüsse für die Untreue« würden unterstellen, dass die Tat rechtens und somit gerechtfertigt war (Interview vom 12.12.2005).

221

222

Morde ohne Ehre

Das Thema Ehrenmord in der türkischen Literatur Blutrache ist neben Ehrenmorden ein Thema, das in der türkischen Gesellschaft, vor allem in der türkischen Literatur und in Filmen sehr oft thematisiert wird. Auch der Journalist Mehmet Faraç vertritt die Auffassung, dass Blutrache und Ehrenmorde insbesondere in den letzen 50 Jahren zum Hauptthema der türkischen Literatur geworden sind. Der Soziologe Artun Ünsal weist in diesem Zusammenhang auf folgende wichtige Werke der türkischen Literatur hin: Basar Kemals Buch Akçasaz’ın Aĝaları handelt zum Beispiel über die Blutrache zwischen zwei turkmenischen Familien. Ismail Kadares Buch Kırık Nisan beschreibt einen seit über 70 Jahren andauernden Blutrachefall und die Geschichte des 44. Opfers dieser Auseinandersetzung (Ünsal, A. 1995, S. 22). Sefa Şimşek hingegen betrachtet die beiden Romane von Reşat Nuri Güntekin (Kan davası) oder Necati Cumalı (Susuz yaz) als weitere wichtige Werke der türkischen Literatur, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen.

Das Thema Ehrenmord im türkischen Liedgut Ähnlich wie in der Literatur ist auch die türkische Volksmusik von dieser Thematik geprägt. Unter den Oberbegriffen klassische Volksmusik und Halk Müziği wurde ab 1924 Musik aus Anatolien sehr beliebt. Seit den 1990ern dominieren moderne Musikrichtungen wie Pop und Rock neben den klassischen Volksmusikrichtungen wie Türk Halk Müziği und Türk Sanat Müziği. Die türkische Volksmusik thematisiert in zahlreichen Liedern die Ehrenmorde, das Ehrprinzip und die Sinnlosigkeit der Blutrache. Auch Rockgruppen wie Aylin Aslım oder Ayna thematisieren die Ehrenmorde bei einigen ihrer Lieder. Die Gruppe Aylin Aslım zum Beispiel veröffentlichte ein Album, bei dem das Lied Güldünya den Ehrenmord an Güldünya Tören thematisiert.2 Auch Zülfü Livanelis Lied Güldünya aus dem Album Hayata dair behandelt diesen Fall und kritisiert den Ehrenmord (Livaneli, Z. 2006).3

Das Thema Ehrenmord in Film und Fernsehen Da die Ehrenmorde in zahlreichen Filmen thematisiert werden und das Fernsehen ein sehr wichtiges Kommunikationsmedium in der Türkei darstellt, wurde die Darstellung dieser Verbrechen in türkischen Filmen und im türkischen Fernsehen näher untersucht und die laufenden TV-Programme während des Forschungsaufent2  | Aslım, A. 2006, URL: www.anatolianrock.com/Aylin_AslProzentC4ProzentB1m/, Zugriff am 19.3.2007.

3  | Güldünya (Album Gülyabani 2005): Das Lied kann wie folgt übersetzt werden: »Mein lieber Bruder, töte mich nicht. Lass mich noch leben. Wie kannst du deine Schwester töten? Waren wir nicht im gleichen Bauch? Haben wir nicht die gleiche Mutter? Wurden wir nicht von der gleichen Brust gestillt? Mit einem Schuss fällt Güldünya. Wen kümmert es? Die ganze Welt soll es wissen. Sag dem Familienrat im Dorf, wie ich als Kind von meinem Onkel missbraucht wurde. Sag ihnen, sie haben mich auf dem Gewissen. Ich werde sie als Geist verfolgen«.

Ergebnisse

halts im Hinblick auf dieses Thema verfolgt. Es wurde die Beobachtung gemacht, dass die Filme die Stellung der Frauen und die Behandlung dieses Themas in der türkischen Gesellschaft umfangreich wiedergeben. Türkische Filme sind im Land sehr beliebt und werden von der Mehrheit des türkischen Volkes den ausländischen Filmen vorgezogen. Das Massenkino umfasst Melodramen, triviale und leichte Komödien sowie Action-Filme. Aber es gibt auch gesellschaftskritische Filme wie zum Beispiel 40 qm Deutschland aus dem Jahr 1986 oder der Film Vizyontele aus dem Jahr 2001. Der kurdische Film Güneşe Yolculuk (1999) behandelt zum Beispiel die politische und soziale Situation der Kurden in der Türkei. Einer der wichtigsten türkischen Regisseure, Drehbuchautoren und Darsteller ist Yılmaz Güney (1937-1984). Er gewann als erster türkischer Regisseur mit seinem Film Yol (Der Weg) 1982 die Goldene Palme beim Filmfestival in Cannes. Der Film Uzak (Weit) von Nuri Bilge Ceylan erhielt 2003 den großen Jurypreis in Cannes. Im Folgenden werden wichtige Filme des türkischen Kinos wiedergegeben, die Ehrenmorde thematisieren. Hierbei bilden eigene Recherchen und eine wissenschaftliche Arbeit des türkischen Soziologen Faruk Nizam die Hauptbezugsquellen (vgl. Nizam, F. 1993, S. 78): Faruk Nizam betont, dass in den 1980er Jahren das Image von »guten« und »schlechten« Frauen in den Medien dominierte. Während eine »gute Frau« als eine gute Hausfrau und Mutter dargestellt wurde, waren die »schlechten Frauen« die sexuell aktiven und nicht verheirateten Frauen (S. 46). Zudem hätten in den 1980er Jahren nach den verstärkt vertretenen Pornofilmen der 1970er Jahren die sozialkritischen Filme die Medienlandschaft mehr geprägt. Bei den Filmen nimmt er die folgende grobe Kategorisierung vor: erotische Filme, Filme über drogenabhängige Frauen, die auf die schiefe Bahn geraten und die sozialkritischen Filme. Bei den sozialkritischen Filmen unterscheidet er folgende Gruppen: Filme über das Wesen der Frauen, Filme über die Migration aus den Dörfern in die Städte, gesellschaftlich und politisch kritische Filme, Filme über das Wesen der Filmindustrie und Filme über die Psychologie der Frauen. Zu den wichtigsten Regisseuren dieser Zeit zählen Atif Yılmaz, Şerif Gören, Başar Sabunu, Bilge Olgaç (S. 59). Folgende Filme behandeln das Leben in ruralen Gebieten der Türkei: Kaşık düşmanι (Feind des Löffels), Karanlık dünya (Dunkle Welt), Beyaz mendil (Weißes Taschentuch), Gelinin muradı (Schicksal der Braut), Yılanı öldürseler (Sie sollen die Schlange töten), Yol (Der Weg) (S. 77). Ehrenmorde werden in den nachstehenden Filmen thematisiert: Bir günün hikayesi (Die Geschichte eines Tages 1980 von Sinan Çetin): Dieser Film handelt von der verbotenen Liebe zwischen Zeynep (Nur Sürer) und Mustafa (Fikret Hakan), die nicht zusammen kommen, weil sie entsprechend den vorgeschriebenen Traditionen, anderen Partnern versprochen sind.

223

224

Morde ohne Ehre

Yılanı Öldürseler (Sie sollen die Schlange töten 1981): setzt sich mit der verbotenen Liebe zwischen Esme (Türkan Şoray) und Abbas (Mahmut Cevher) auseinander. Esme wird gegen ihren Willen mit Halim verheiratet. Als die uneheliche Beziehung zwischen Esme und Abbas bekannt wird, beschließt der Familienrat, dass Esmes Sohn, Hasan, sie umbringt. Yol (Der Weg von Yılmaz Güney): Der sich in der Haft befindende Seyit Ali (Tarık Akan) erfährt in einem Brief von der Untreue seiner Frau Zine (Şerif Sezer). Als er aus der Haft entlassen wird, findet er seine Frau im Stall, wo sie seit sieben Monaten von den Verwandten ihres Mannes eingesperrt wurde. Obwohl er sie nicht töten will, kann er nicht verhindern, dass sie von seinem Vater getötet wird. Fatmagül’un suçu ne? (Was ist Fatmagüls Schuld von Süreyya Duru): Fatmagül wird von fünf Jugendlichen vergewaltigt. Damit die Täter keine Strafe erhalten, wird einer der Täter Kerim (Aytaç Arman) dazu gezwungen, Fatmagül (Hülya Avşar) zu heiraten. Doch diese Zwangsheirat verwandelt sich mit der Zeit in eine Liebesbeziehung. Kaçak (Auf der Flucht 1982 von Mehmed Ün): Hacer (Fatma Girik) ist eine verheiratete Frau, deren Mann seit mehreren Jahren aus Deutschland nicht zu ihr zurückgekehrt ist. Sie verliebt sich in einen Mann, der aus dem Gefängnis entflohen ist. Tutku (Sucht 1984 von Feyzi Tuna): Dieser Film handelt von einer Mutter und ihrer Tochter, die sich in denselben Mann verlieben. Als dieser sich aber für die Tochter interessiert und sie gegen den Willen ihrer Mutter entführt, bringt ihn die Mutter des entführten Mädchens um, da sie es nicht ertragen kann, dass er ihre Tochter und nicht sie liebt. Ellerini çekip giden (Verlassen und einsam): Dieser Film erzählt die Blutrache zwischen zwei verfeindeten Familien im Ostanatolien. Tatar Ramazan: Dieser Film, bei dem Kadir Inanır die Hauptrolle spielt, erzählt die Lebensgeschichte von Ramazan, der wegen Blutrache seinen Gutsherrn erschießt und deshalb ins Gefängnis kommt. Nach seiner Entlassung wird er vom Bruder des Verstorbenen verfolgt und getötet. Sürü (Herde): Der Hauptdarsteller ist mit der Tochter einer verfeindeten Familie verheiratet. Als diese keine Kinder auf die Welt bringt, drängt ihn sein Vater, sie umzubringen oder zurück zu ihrer Familie zu schicken. Dieser sozialkritische Film von dem Regisseur Yılmaz Güney schaffte es, das raue Klima der 1980er Jahre und die Probleme der sozialschwachen Menschen einzufangen.

Ergebnisse

Gönül Yarası (Herzschmerz von Yavuz Turgul): Der Hauptprotagonist ist ein Grundschullehrer, der in Südostanatolien als Lehrer tätig war und wegen seiner Rente nach Istanbul zieht. In Istanbul arbeitet der Rentner Aydın als Taxichauffeur. Bei einer Taxifahrt lernt er Meltem kennen, die nachts in einem Bar türkische Folklorelieder singt und auf der Flucht vor ihrem geschiedenen Mann ist. In dem Taxifahrer findet sie einen Vaterersatz, der ihr und ihrer Tochter hilft. Als sie von ihrem Exmann schwer verprügelt wird, findet sie Zuflucht bei ihm. Sie stammt aus dem Osten der Türkei und wurde mit dreizehn von zwei Männern vergewaltigt. Darauf hin wurde sie mit ihrem Vergewaltiger verheiratet, damit ihre Ehre bereinigt wird. Nach einer misslungenen Versöhnung mit ihrem Exmann bittet sie Aydın, dass er sie und ihre Tochter abholt. Im Busbahnhof bringt ihr Exmann sie mit einer Waffe um, als er erfährt, dass sie ihn verlassen will. Danach richtet er die Waffe auf sich selbst. Folgende zwei TV Serien beschäftigten sich ausführlich mit Ehrenmorden: (a) Kan damlaları (Bluttropfen 2005): Ein Junge begeht als Kind einen Ehrenmord und kommt ins Jugendgefängnis, wo er einen Insassen umbringt. (b) Gerçek Kesit: (Wahre Begebenheiten 2005): Wahre Fälle über Ehrenmorde werden Folge für Folge von gleichen Darstellern nachgespielt. Die Moderatorin, die türkische Schauspielerin, Perihan Savaş, kommentiert die Fälle bis hin zum Strafmaß der Täter. Am Ende jeder Sendung verurteilt sie die Morde moralisch und ruft die Zuschauer dazu auf, über die Sinnlosigkeit dieser Morde nachzudenken. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Ehrenmorde durch verschiedene türkische Medien vor allem in der türkischen Literatur und in Filmen auf mannigfacher Weise oft thematisiert werden. Sie sind das Motiv zahlreicher Lieder, Bücher und Filmen. Durch ihre Thematisierung tragen sie auch zur Sensibilisierung der Gesellschaft bezüglich der Konfrontation mit diesen Verbrechensarten und deren Ursachen dar. Daher sind insbesondere die in letzten Jahren wahrnehmbare zunehmende kritischere Berichterstattung und Thematisierung dieser Delikte als positiv zu beurteilen.

4.1.2 Analyse der Berichterstattung in der Tageszeitung Posta Folgende Bedingungen führten zu der Entscheidung, die Berichterstattung der Posta als Analyserahmen für diese Arbeit zu verwenden und auszuwerten: Posta ist die auflagenstärkste türkische Tageszeitung und der Boulevardpresse zuzuordnen. Nur die Posta berichtete regelmäßig über Ehrenmorde, während andere Zeitungen aktuelle Fälle oftmals nicht in ihre Berichterstattung aufnahmen. Ältere Fälle, die in Zeitungsarchiven untersucht wurden, unterschieden sich in Bezug auf die Tatmotive und Berichterstattung nicht wesentlich von den in der Posta im Untersuchungszeitraum geschilderten Fällen.

225

226

Morde ohne Ehre

Es zeigte sich, dass in aktuellen Berichten der Posta und in den Zeitungsarchiven nur Angaben über das Alter, den Familienstand, die Täter-Opfer-Beziehung und die Namen der Opfer sowie die der Täter gemacht werden. Es fehlten Merkmale wie beruflicher Status der Opfer und der Täter, Bildungsstand oder Herkunft der Opfer und der Täter ebenso wie Angaben zur Tatzeit oder zu den Umständen der Tatsituation sowie Informationen über die Reaktionen des sozialen Umfeldes des Opfers nach der Tat. Die fehlenden aber für die Untersuchung wichtigen Informationen sollten durch Recherchen vor Ort ergänzt werden. Es war jedoch nicht möglich, diese Angaben auf anderen Wegen zu erhalten: Die mit den Fällen befassten Anwälte konnten die Gerichtsakten aus Datenschutzgründen nicht herausgeben und auch die Polizei verweigerte jegliche Akteneinsicht zu Ehrenmordfällen. Folglich war es nur möglich, neben der ausführlichen Literaturanalyse die Zeitungen darauf hin zu untersuchen, wie sie die Ehrenmorde charakterisieren. Die Analyse der Berichterstattung über Ehrenmorde in der Posta im Zeitraum Januar 2005 bis Dezember 2005 basiert auf den nachstehenden Zahlen und Fakten: Anzahl

Bemerkungen

Berichte über Ehrenmorde

125

die, in der Tageszeitschrift „Posta“ dargestellt wurden

getötete Personen

167

auch eingeschlossen „zufällige Opfer“ am Tatort wie beispielsweise Angehörige des Opfers

weibliche Opfer

104

Mehrheit der Opfer

männliche Opfer

58

Mit einem Anteil von etwa einem Drittel

getötete Kinder (ohne Angabe des Geschlechts)

5

Neugeborene

Täter

131

Diese Zahl ist höher als die Anzahl der Ehrenmorde, da in manchen Fällen mehrere Täter die Tat gemeinsam ausübten.

Tabelle 3: Verwendete Daten der Printmedienanalyse (eigene Darstellung)

4.1.2.1 Art der Berichterstattung Die Berichte über die Ehrenmorde wurden wie folgt präsentiert: Bei der Mehrheit der Berichte wurde ein Personalausweisfoto des Opfers mit abgedruckt, wobei man unterhalb des Fotos das Alter, den Namen und den Grund nachlesen konnte. Bei Ehrenmorden, bei denen eine Ehefrau von ihrem Mann getötet wurde, wurde meist das Hochzeitsfoto des Paares gewählt, um die Dramatik des Falles zu betonen. Von der Größe her entsprachen die Mehrheit der Berichte ein Drittel oder ein Viertel der Seite.

Ergebnisse

Abbildung 6: Posta vom 2.10. 2005: Dört sevinç bir hüzün: Viermal Freude, einmal Trauer

Abbildung 7: Posta vom 22.11.2005: Cinnet günü: Tag der Abrechnung Ein häufig verwendetes Fotomotiv bei der Darstellung der Fälle waren die Fotos der Kinder des Opfers, die ebenfalls von der Tat betroffen waren:

227

228

Morde ohne Ehre

Wenn über das Strafmaß für den Täter berichtet wurde, wurden meistens die Gerichtsfotos oder ein Foto des Täters vor dem Eingang des Gerichts verwendet, seltener Fotos von der Verhaftung des Täters durch die Polizei. In fast allen Fällen werden Fotos vom Tatort und des zugedeckten oder offen liegenden Mordopfers veröffentlicht (s.unten)

Abbildung 8: Posta vom 28.1.2005: Sokakta 26 bıçak: 26 Messerstiche auf offener Straße

Abbildung 9: Posta vom 4. 4. 2005: Çılgın koca dehşet açtı: Wahnsinniger Ehemann richtet ein Blutbad an Ein sehr bizarrer Fall war der Ehrenmord an Derya Yücel. Ihr Ehemann brachte sie auf offener Straße um, weil sie sich von ihm getrennt hatte. POSTA druckte das Foto vom Tatort ab, bei dem der Täter Reue zeigte und kniend seiner toten Frau die Hand küsste, um sich für die Tat zu entschuldigen (Abbildung 8: Posta vom 7.4.2005: Ömür boyu azap: Lebenslang Reue):

Ergebnisse

Abbildung 10: Posta vom 7.4.2005: Ömür boyu azap: Lebenslang Reue Ein weiteres Fotomotiv war, wie das später verstorbene Opfer auf dem Krankenbett liegt und die Verletzungen sichtbar sind. Der Täter wurde mit einem Personalausweisfoto abgebildet (s. Abb. 11). Viel Aufsehen erregte das folgende Fallbeispiel, bei dem in Diyarbakır der 15-jährigen R. G. als Warnung vor einem Ehrenmord die Nase abgeschnitten wurde. Die Täter waren ihr Schwiegervater Ekrem Gezginci und ihr Mann Turan Gezginci. Mit ihrem Mann wurde sie mit 12 Jahren gegen ihren Willen verheiratet, weil sie infolge der Vergewaltigung von ihm schwanger wurde. Sie schnitten ihr die Nase ab, weil über sie schlecht geredet wurde. Die Täter machten die Aussage, dass sie das Mädchen mit dieser Tat warnen wollten (s. Abb. 12: Posta vom 6.5.2005).

Abbildung 11: Posta vom 23.6.2005: Töre cinayetine aĝır tahrik indirimi: Strafminderung beim Ehrenmord

229

230

Morde ohne Ehre

Abbildung 12: Posta vom 5.5.2005: Burum kesenleri daha önce serbest bırakmışlar: Die Täter, die dem Opfer ihre Nase abschnitten, wurden freigelassen Journalisten, die Ehrenmorden kritisch gegenüber standen, setzten oft karikaturähnliche Zeichnungen ein, um ihrer Kritik Ausdruck zu verleihen. Eine weitere Auffälligkeit war, dass die Ehrenmorde meist auf der dritten Seite der Zeitungen platziert waren. Deshalb betiteln einige türkische Autoren die Zeitungsberichte über Ehrenmorde als »die Geschichten von der dritten Seite«, um somit auch ihre Kritik gegenüber der Boulevardpresse zum Ausdruck zu bringen. Die folgenden Schlagzeilen sollen einen Überblick über die Auswahl der Schlagwörter und den verwendeten Wortschatz geben.

Schlagzeilen, die herausstellen, wer wen wie und weshalb tötete: Posta vom 25.3.2005: Ütü kablosuyla karısını boĝdu: Erwürgte seine Frau mit der Bügeleisenschnur. Vatan vom 8.10.2005: Vurduĝu eşinin iyileştiĝini öĝrenince hastaneyi basıp kurşuna dizdi: Als er hörte, dass seine Ehefrau, die er zu töten versucht hatte, wieder gesund wurde, überfiel er sie im Krankenhaus und richtete sie mit mehreren Schüssen hin. Posta vom 26.11.2005: Evli kadına taciz baltayla son buldu: Sexuelle Belästigung einer verheirateten Frau wurde mit der Axt beendet. Posta vom 13.1.2005: Boşandıĝı eşi pavyonda çalışıyor diye öldürdü: Er tötete seine geschiedene Frau, weil sie in einem Nachtclub arbeitete. Posta vom 19.12005: Namus uĝruna öz annesini boĝdu: Tötete seine Mutter im Namen der Ehre.

Ergebnisse

Posta vom 21.1.2005: Erkeklerle gezen yengesini vurdu: Ermordete seine Schwägerin, weil sie mit Männern unterwegs war. Posta vom 28.1.2005: Pantolon giydi diye aĝabeyi öldürdü: Tötete seine Schwester, weil sie eine Hose trug.

Abbildung 13: Posta vom 12. 1. 2005: Pantolon giydi diye aĝabeyi öldürdü: Ihr Bruder brachte sie um, weil sie eine Hose trug Posta vom 28.1.2005: Dedikodu yüzünden iki kişiyi öldürdü: Tötete zwei Personen wegen übler Nachrede. Posta vom 2.6.2005: Yasak aşkla hamile kalan ablasını öldürdü: Tötete seine unehelich schwangere Schwester.

Schlagzeilen, bei denen der Tatort des Verbrechens in den Vordergrund gestellt wurde: Posta vom 24.5.2005: Eşini pazarda vurdu: Tötete seine Frau im Basar. Posta vom 26.5.2005: Durakta bıçaklandı: Wurde an der Bushaltestelle erstochen.

231

232

Morde ohne Ehre

Posta vom 17.7.2005: Yatak odasına kanlı baskın: Blutiger Überfall im Schlafzimmer. Posta vom 9.10.2005: Sokakta namus dehşeti: Ehrenblutbad auf der Straße.

Abbildung 14: Posta vom 23.6. 2005: Töre canavarları: Monster der Traditionen

Berichtüberschriften, die Kritik an Verbrechen im Namen der Ehre und der alten Traditionen in den Vordergrund stellen: Posta vom 7.2.2005: Töreniz batsın: Nieder mit Euren Traditionen/Bräuchen. Posta vom 23.6.2005: Töre canavarları: Monster der Traditionen. Posta vom 17.9.2005: Bu çaĝda bu kafa: Solch eine rückständige Denkweise in unserem Zeitalter. Posta vom 2.10.2005: Kanunlar böyle, polis ne yapsın: Die Gesetze sind so, was soll die Polizei da noch machen? Posta vom 9.10.2005: Yazık deĝil mi bu kıza: Ist es nicht schade um dieses Mädchen?

Schlagzeilen, die das hohe Gewaltpotential der Mordfälle thematisieren: Posta vom 27.7.2005: Kıskanç koca dehşet açtı: Der eifersüchtige Ehemann verursacht Blutbad. Posta vom 22.10.2005: Böyle vahşet görülmedi: Noch nie zuvor gesehene Grausamkeit. Posta vom 16.10.2005: Vahşet: Grausame Brutalität. Posta vom 25.1.05: 33 yıla 33 bıçak: 33 Messerstiche für 33 Ehejahre.

Ergebnisse

Ein besonders tragisches Beispiel für die geltenden traditionellen Rollenvorstellungen war ein Fall, bei dem einem Transsexuellen durch seine Eltern nach seinem Tod die Haare abgeschnitten und die Silikonimplantate entfernt wurden, weil sie ihn als ihren Sohn und nicht wie er es gewünscht hätte, als eine Frau beerdigen wollten. Dieses Fallbeispiel zeigt, dass die traditionell festgelegten Geschlechterrollen eine sehr große Rolle spielen, auch wenn dieser Fall nicht verallgemeinert werden kann.

Abbildung 15: Posta vom 3.6.2005: Silikonları söküldü, erkek gibi gömüldü: Silikonimplantate wurden entfernt und er wurde als Mann beigesetzt

Schlagzeilen, die Ehrenmorde als berechtigt/begründet darstellen: Posta vom 2.5.2005: Dayakçı damadını öldürdü: Er tötete seinen Schwiegersohn, der seine Frau schlug. Posta vom 18.1.05: Gereĝini yaptım, kardeşimi boĝdum: Ich habe getan, was nötig war und habe meine Schwester erwürgt. Posta vom 1.6. 2005: Aldatmaya 5 kurşun: 5 Kugeln wegen Untreue. Posta vom 4.2.2005: Namus uĝruna annesini boĝdu: Er erwürgte seine Mutter im Namen der Ehre. Posta vom 8.12.2005: Tecavüz intikamı: Rache wegen Vergewaltigung. Posta vom 20.12.2005: Töre adaleti: Gerechtigkeit der Traditionen. Posta vom 18.2.2005: Yasak aşk namus cinayeti: Ehrenmord wegen verbotener Liebe. Posta vom 15.6.2005: Karısını yatakta yakaladı: Er erwischte seine Frau im Bett. Posta vom 1.10.2005: Öldüren mesaj: Die tödliche SMS.

233

234

Morde ohne Ehre

Die wiedergegebenen Beispiele zeigen, dass die Berichterstattung über die Fälle überwiegend unseriöser und sensationsjournalistischer Art ist. Obwohl es auch kritische Berichte über diese Verbrechen gibt, werden sie jedoch meistens in einer Ehrenmorde legitimierenden Weise dargestellt. Die Bilder der unbedeckten toten Körper oder Bilder von den Opfern im Krankenbett oder kurz vor ihrem Tod bestätigen diese Annahme. Die Morde an sich werden mit allen gewalttätigen Aspekten bis ins kleinste Detail geschildert. Auffallend war, dass die Medien oft von dem Begriff der »traditionellen Morde« Gebrauch machten. Die Schlagzeilen wie »Traditionen befehlen es so« oder »Tradition fordert ihr Opfer« hinterlassen den Eindruck, dass die Befolgung der Traditionen im Vordergrund steht und daher außerhalb der polizeilichen, familiären und gemeinschaftlichen Kontrollmöglichkeiten steht. Durch die Fokussierung auf den allmächtigen Charakter der Traditionen rücken die Täter der Morde oft in den Hintergrund. Aber manche Schlagzeilen geben auch die Verzweiflung und die Ohnmacht der Täter wieder. Eine weitere Auffälligkeit war, dass die Lebensweise des Opfers überwiegend im Vordergrund stand und meist wie eine Rechtfertigung für die grausame Tat dargestellt wurde. Eine kritische Berichterstattung über Ehrenmorde ist zu wünschen, da diese die Öffentlichkeit gegenüber der Sinnlosigkeit dieser Verbrechen sensibilisieren könnte. Zudem sollten die Berichte mehr über die Ursachen und Hintergründe dieser Verbrechen als über den Tatverlauf informieren.

4.1.2.2 Darstellung der Mordmotive »Die schlimmsten Grausamkeiten der Menschheit sind als moralische Aufträge ausgeführt worden« (Zitat Albert Bandura, Psychologe und Experte für Aggressionsforschung: 1973, S. 75).

Die 125 untersuchten Fallbeispiele wurden bezüglich der angegebenen Mordmotive untersucht und in Kategorien zusammengefasst. Eine prozentuale Wiedergabe der Motive wurde gewählt, um die Häufigkeit der Mordmotive besser darzustellen. Die einzelnen Kategorien werden neben der grafischen Darstellung durch einzelne Fallbeispiele aus dem Untersuchungszeitraum näher erläutert:

Ergebnisse

4%

2%

2% 2%

5%

31%

6%

6%

6%

14% 11% 11%

Trennung oder die Scheidung Belästigung der Ehefrau/ Partnerin des Täters durch das Opfer Uneheliche Beziehung Kleidungsvorschriften/ Lebensweise des Opfers Uneheliche Schwangerschaft Persönliche Beleidigung des Täters durch das Opfer

Beziehung mit einem anderen Mann als der eigene Ehemann Gerüchte über eine Beziehung Blutrache Familie gegen die Eheschließung des Opfers Prostitution Andere Gründe

Abbildung 16: Häufigkeit der angegebenen Mordmotive (eigene Darstellung) Die in den Zeitungsberichten angegebenen Motive zeigen, dass die Motive eng mit der Lebensweise der Frau zusammenhängen, die vom Täter nicht toleriert wurden. Es ist hervorzuheben, dass der Trennungswunsch des Opfers mit 30,4 Prozent die Mehrheit darstellte und somit das Hauptmotiv für einen Ehrenmord war: Trennungswunsch des Opfers Posta vom 9.2.2005: Karısını affetmedi (Konnte seiner Frau nicht vergeben): Der Polizist Sunay Yaman (36) bringt seine Frau Songül (27) mit fünf Schüssen um, weil diese sich von ihm scheiden lassen und ein neues Leben anfangen wollte. Er erschoss sie auf offener Straße in Istanbul und stellte sich danach der Polizei. Posta vom 10.4.2005: Ikna edemedi, öldürdü (Konnte sie nicht zur Versöhnung überreden, tötete sie): Özlem Turunç (27) wurde von ihrem Exmann, Fahri Turunç (48), mit mehreren Messerstichen getötet, weil sie ihn verließ und sich angeblich mit anderen Männern traf. Der Täter war einen Tag vor der Tat wegen eines Tötungsdelikts aus dem Gefängnis entlassen worden. Diese Tat fand in Balıkesir statt. Der Täter betonte, dass er seine Ehre bereinigt habe und deshalb die Tat nicht bereue. Posta vom 27.2.2005: Katliam yaptı (Errichtete Blutbad): In Tekirdaĝ tötet Şeref Sarıgül (45) seine Ehefrau Hülya Aslantaş sowie seine Schwiegermutter, da seine Ehefrau nach seinen Angaben angeblich eine außereheliche Beziehung hatte. Posta vom 26.3.2005: Yasak aşka 4 bıçak (4 Messerstiche für die verbotene Liebe): Filiz Koçak (23) wurde von ihrem Mann, Burhan Çam (18), erstochen, als er sie mit ihrem Geliebten in ihrem Haus fand. Das Ehepaar stammte aus Diyarbakır,

235

236

Morde ohne Ehre

war aber zuvor nach Antalya umgezogen. Sie waren Cousins und nur kurz verheiratet. Posta vom 7.11.2005: Özgürüm dedi, bıçaklandı (Wurde erstochen, weil sie sagte, sie sei frei): In Izmir ließen sich der 28-jährige Ibrahim Gündüz, ein Handwerker, und die 25-jährige Dilek Gündüz vor drei Monaten scheiden. Als Ibrahim herausfand, dass seine Exfrau eine neue Beziehung hatte, drehte er nach Zeitungsangaben durch und lauerte ihr auf. Als er sie darauf ansprach, betonte sie, dass sie jetzt eine freie Frau sei und tun könne, was sie wolle. Daraufhin erstach sie Ibrahim mit dreizehn Messerstichen auf offener Straße. Belästigung Bei 11,2 Prozent der Fälle wurde die Ehefrau oder die Partnerin des Täters durch das Opfer belästigt: Posta vom 28.5.2005: Sapıĝı öldürdüm, pişman deĝilim (Ich habe einen Perversen umgebracht, bereue es nicht): In Izmir erzählte Yıldız Şener (40) ihrem Ehemann, Süleyman Şener (43), ein Verkäufer für Zahnersatzmitteln, dass der Anstreicher Ahmet Özer (29) sie mehrmals belästigt habe und sie sogar vergewaltigen wollte. Darauf hin rief Şener ihn an und bat ihn unter dem Vorwand eines Auftrags um ein Treffen. Als er sich zu ihm ins Auto setzte, sagte er ihm, dass er der Ehemann von Yıldız sei und erschoss ihn mit drei Kopfschüssen. Er sagte wie folgt bei der Polizei aus: »Ich bereue es nicht. Ich habe nur einen Psychopathen umgebracht und bin stolz darauf.« Posta vom 26.4.2005: Aşka iki kurban (Liebe fordert 2 Opfer): Göknur Kaplan (22) führte eine gleichzeitige Liebesbeziehung zu Serkan Erdoĝan und Emrah Bayar. Sie erzählte eines Tages Serkan, dass Emrah sie belästigen würde. Daraufhin erstach ihn Serkan auf offener Straße. Untreue/Verdacht auf Untreue Die Gerüchte über eine Beziehung des Opfers mit einem anderen Mann oder der Verdacht des Ehemannes auf die Untreue der eigenen Frau waren bei 11,2 Prozent das Mordmotiv: Posta vom 24.1.05: Aldatmaya 4 kurşun (4 Schüsse wegen Untreue): In Konya wird Baĝda Gezer mit vier Schüssen vom Bruder ihres Mannes, Ali Kalburcu, umgebracht, weil dieser den Verdacht hatte, dass seine Schwägerin seinen Bruder betrog. Beide Eheleute tragen verschiedene Nachnamen, da sie nicht standesamtlich, sondern religiös getraut wurden.

Ergebnisse

Posta vom 25.3.2005: Ütü kablosuyla karısını boĝdu (Tötete seine Frau mit der Bügeleisenschnur): In Istanbul erwürgte Ergün Deniz seine Frau Türkan (35), weil er sie der Untreue verdächtigte. Danach stellte er sich der Polizei. Posta vom 1.10.2005: Öldüren mesaj (Die tödliche SMS): In Konya bekam Havva Özerkoĝlu (49) in Anwesenheit ihres Ehemanns Mustafa (49) eine SMS-Nachricht auf ihr Handy. Als sie ihm nicht sagen wollte, von wem diese Nachricht war, wurde er sehr aggressiv. Ihre Tochter Mesude versuchte, die Unschuld ihrer Mutter zu verteidigen. Doch der Vater nahm eine unregistrierte Waffe zur Hand und schoss mehrmals auf seine Frau und seine Tochter. Uneheliche Beziehung Die Nicht-Duldung einer unehelichen Beziehung betraf 6,4 Prozent der Fälle: Posta vom 1.6. 2005: Aldatmaya 5 kurşun (5 Kugeln für die Untreue): In Zonguldak (Ereĝli) erschoss Emine Sönmez ihren Vater Hüseyin (52) mit 5 Schüssen in seinem Haus. Ihr Vater betrog ihre Mutter seit mehreren Monaten mit ihrer Mieterin. Zunächst suchte Emine ihren Vater auf und bat ihn, seine Geliebte zu verlassen. Als dieser sich weigerte, schoss sie auf ihn. Sie machte folgende Aussage bei der Polizei: »Meine Mutter ist so ein guter Mensch. Sie musste immer meinen Vater ertragen. Sie hat sein Verhalten überhaupt nicht verdient. Als eine Frau konnte ich dieser Ungerechtigkeit nicht länger zusehen«. Die Polizei vermutet aber, dass sie eventuell von einem Familienrat zu der Tat gezwungen wurde. Blutrache Dem Typus der Blutrache sind 6,4 Prozent der Fälle zuzuordnen, da die Opfer hier infolge der Rache für einen zuvor geschehenen Mord ermordet wurden: Posta vom 5.1.05: Katliamda kemer mesajı (Gürtelbotschaft im Blutbad): Die vierköpfige Familie, bestehend aus Şamil, Satı, Derya und Eren Çınar, wurde in ihrem Haus in Istanbul erschossen aufgefunden. Im Wohnzimmer des Hauses fand man zwei aneinander gebundene Gürteln, was nach Angaben der Polizei nach alter Tradition bedeutet: »Die Wurzeln der Familie sind erlöscht«. Der Polizei war bekannt, dass die Familie seit Jahrzehnten eine Blutfehde mit einer anderen Familie hatte, deren Name nicht veröffentlich wurde. Posta vom 12.1.05: Iki yıl kaçabildi (Konnte nur zwei Jahre entkommen): Ali Soysal, eine Reinigungskraft in Mersin wird vor den Augen seines Sohnes wegen einer Blutrachefehde erschossen. Die Blutrache fing 2002 an, als sein Bruder, Yusuf Soysal den Eyüp Bingöl aus unerklärlichen Gründen in Siirt umbrachte. Daraufhin flüchtete Ali Soysal mit seiner Familie nach Mersin, wo er vor den Augen seines Sohnes vor seiner Haustür von einem Unbekannten durch mehrere Schüsse umgebracht wurde.

237

238

Morde ohne Ehre

Familie gegen den Eheschließungswunsch des Opfers Bei 4,8 Prozent der Fälle war die Familie des Opfers gegen die Heirat des Opfers: Posta, vom 5.3.2005: Sevdiler diye yaşatmadılar (Haben sie getötet, weil sie sich liebten): Evrim Şimşek und Selahattin Sarıçiçek heirateten gegen den Willen ihrer Familien. Sie waren geflohen, weil Evrims Eltern gegen die Heirat mit Selahattin waren. Als sie in Istanbul Unterschlupf fanden, aber ihr Geld ausging, meldeten sie sich bei ihren Familien. Evrims Familie beschloss per Familienrat ihren Tod. Aber ihr Bruder Cenap, der den Mord ausüben sollte, konnte die Tat nicht ausführen und als er nach Urfa, in seine Heimatstadt zurückkam, beging er Selbstmord. Ein Monat nach diesem Vorfall wurden die schwangere Evrim und ihr Ehemann tot aufgefunden. Die Polizei vermutet, dass sie von ihren Familien umgebracht worden sind. Außereheliche Schwangerschaft Wegen einer außerehelichen Schwangerschaft wurden 4  Prozent der Betroffenen umgebracht. Hierbei handelt es sich neben der Tötung von drei Neugeborenen durch ihre Mütter um Fälle, bei denen das Opfer infolge einer unehelichen Schwangerschaft ermordet wurde: Posta vom 4.2.2005: Namus uĝruna annesini boĝdu (Tötete seine Mutter im Namen der Ehre): In Manisa wurde die Leiche von Mülkinaz Doĝan an einem Wasserkanal gefunden. Sie hatte am 6. Januar ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und es in einem Mülleimer vor einem Krankenhaus zurückgelassen. Ihr siebzehnjähriger Sohn gestand die Tat und berichtete, dass er seine Mutter erwürgt habe, weil sie durch das uneheliche Kind die Ehre seiner Familie beschmutzt habe. Der Ehemann der vierfachen Mutter war acht Jahre zuvor gestorben. Posta vom 6.5.2005: Katil anneye şeref tahliyesi (Stolze Belohnung für die mordende Mutter): In Adana brachte Neslihan Alkan (20) ihr neugeborenes Baby um, indem sie es erwürgte und in den Müll warf, weil dieses Baby aus einer flüchtigen Affäre stammte. Ihre Schwangerschaft konnte sie durch das Tragen einer Korsage vor ihrer Familie verstecken. Sie wurde zu acht Jahren Haft verurteilt, aber diese Strafe wurde wegen mildernder Umstände auf sechs Jahre verkürzt. Lebensweise des Opfers 5,6 Prozent der Opfer mussten sterben, weil der Täter entweder die Lebensweise oder den Kleidungsstil des Opfers nicht tolerierte: Posta vom 12.1.2005: Pantalon giydi diye aĝabeyi öldürdü (Weil sie eine Hose trug, brachte ihr Bruder sie um): Bei diesem Fall wurde ein 18-jähriges Mädchen, Halime B., von ihrem Bruder in Batman umgebracht, weil sie gegen seinem Willen eine Hose anzog und so gekleidet zu einer Hochzeit ging. Die Verfasserin möchte

Ergebnisse

hier darauf hinweisen, dass Batman als eine als sehr konservativ und islamistisch orientierte Stadt im Osten der Türkei gilt, wo die Selbstmordrate bei Frauen zudem den Höchststand in der Türkei hat. Bei den restlichen Fällen dieser Kategorie mussten die Opfer sterben, weil die Frau nach der Trennung von ihrem Ehemann nach der Ansicht des Exmannes ein »zu freies Leben« führte und auch arbeiten ging: Posta vom 7.2.2005: Töreniz batsın (Nieder mit euren Traditionen): Fatma Dündar (18) wurde umgebracht, weil sie ihr Elternhaus verließ und in Konya in einem Nachtclub arbeitete. Fatma Dündar (18) war kurz vor ihrem Tod von ihrem Elternhaus in Konya nach Hatay geflohen, wo sie in einer Nachtbar arbeitete. Ihr Vater (38) Abidin Dündar, der als Schneider arbeitete, fand sie dort und nahm sie mit nach Hause und ließ ihre Tochter in dem Glauben, dass er ihr verziehen habe. In der Nacht, in der er seine Tochter wieder nach Hause brachte, erstickte er sie im Schlaf mit einem Kissen. Er machte die folgende Aussage bei der Polizei: »Sie war meine kleine Tochter. Sie ist auf die schiefe Bahn geraten. Ich habe nur die Traditionen befolgt. Indem ich sie umbrachte, habe ich ihre und die Ehre meiner Familie gerettet«. Posta vom 10.2.2005: Boşandıĝı eşi pavyonda çalışıyor diye öldürdü (Tötete seine geschiedene Frau, weil sie in einem Nachtclub arbeitete): Nurdan Çelik (28) wurde von ihrem geschiedenen Ehemann Yavuz Çakar (32) in Bursa getötet, weil sie in einem Nachtclub arbeitete und ihr Ex-Mann dies als unehrenhaft bezeichnete. Prostitution Prostitution war bei 2,4 Prozent der Fälle ein Mordmotiv. Hierbei handelt es sich entweder um Fälle, bei denen die Frau vom eigenen Ehemann zur Prostitution gezwungen wurde und darauf hin ihren Mann umbrachte oder um Fälle, bei denen die Ehemänner/Partner der Frauen sie wegen ihrer Tätigkeit als Prostituierte töteten. Obwohl diese Fälle nicht direkt mit Ehrenmorden zusammenhängen, wurden diese Fälle in der Posta als Ehrenmorde betitelt. Posta vom 24.1.05: Kocasını öldürdü (Tötete ihren Mann): In Istanbul erschoss Nezahat Altan ihren Mann Mehmet Aygün mit 5 Schüssen, weil dieser sie an andere verkaufen wollte und sie mehrmals missbraucht hatte. Posta vom 22.1.05: Eşini öldürdü (Tötete seine Frau): In Samsun brachte Muzaffer Bilgin seine Ehefrau Servet Çakır um, weil sie nicht für ihn prostituieren wollte. Er erstach seine Frau mit mehreren Stichen in ihrer Wohnung.

239

240

Morde ohne Ehre

Beleidigung Bei 2,4  Prozent der Fälle fühlten sich die Täter vom Opfer persönlich beleidigt. Meist ging dem Mordakt eine Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter voraus: Posta vom 11.1.05: 3 yıl sonra intikam için çifte kurban (Rache nach drei Jahren kostet zwei Menschenleben): Armaĝan Çakıt, ein Imbissbesitzer, und sein Freund, Müjdat Şaraslan, werden von Murat Budanciĝer und seinen zwei Freunden erschossen, weil Çakıt den Tätern vor zwei Jahren kein Bier an seinem Imbiss verkauft hatte. Bei der Polizei gab er an, dass er sich damals in seiner Ehre verletzt gefühlt habe und ihn deshalb erschossen habe. Andere Gründe Diese Kategorie dagegen umfasst folgende zwei Fälle und macht 1,6 Prozent der Berichte aus. Posta vom 2.5.2005: Dayakçı damadını öldürdü (Tötete seinen Schwiegersohn, weil er seine Tochter schlug): In Kayseri schlug Orhan Asılöz (26) immer wieder seine 23-jährige Frau Hamiyet. Zuletzt hatte er ihr die Nase gebrochen. Als ihr Vater Ibrahim Ergani (60) davon erfährt, besucht er seinen Schwiegersohn und fordert ihn auf, seine Tochter nicht mehr zu schlagen. Es kommt zu einem Streit zwischen Schwiegervater und Bräutigam. Bei diesem Streit ersticht ihn Ibrahim mit drei Messerstichen. Als Motiv gab er an, dass er nicht länger zusehen konnte, wie sein Schwiegersohn immer wieder seine Tochter geschlagen und sie nicht ehrenhaft behandelt habe. Posta vom 19.5.2005: Kurşunlar susturdu (Die Schüsse haben sie zum Schweigen gebracht): Birgül Işık nahm am 13.5.2005 an der Frauensendung, Kadının Sesi (Stimme der Frau), moderiert von Yasemin Bozkurt, teil, weil sie dort von ihrem gewalttätigen Mann berichten wollte. Als sie nach der Sendung in ihre Heimatstadt Elazıĝ zurückkehrte, wurde sie von ihrem 14-jährigen Sohn erschossen, weil sie nach der Ansicht des Familienrats durch ihren Fernsehauftritt ihre Familie blamiert habe. Sie starb infolge ihrer schweren Verletzungen. Wahrscheinlich haben ihr Ehemann, Mehmet Emin Işık (38) und ihr Stiefsohn, Mehmet Ali Işık (19) den Vierzehnjährigen zu der Tat angestiftet. Bevor er fünf Mal auf seine Mutter schoss, hätte er nach den Berichten der Augenzeugen an dem Tatort, am Busbahnhof von Elazıĝ, gesagt, dass sie die Ehre der Familie beschmutzt habe. Darauf hin wurden diese Fernsehsendung und eine weitere ähnliche Frauensendung, Yalnız Deĝilsin (Du bist nicht allein), unter der Moderation von Ayşenur Yazıcı, sofort abgesetzt. Dieser Fall wurde bei der Analyse berücksichtigt, obwohl es sich um einen Tötungsversuch handelt, da er in seiner Erscheinungsform und vor dem Hintergrund der Frauensendung einzigartig ist.

Ergebnisse

Die Rechtfertigung der Tat durch die Befolgung des Ehrenprinzips durch die Täter in den analysierten Artikel zeigen, dass das Ehrprinzip Tätern als eine Art »Neutralisationstechnik« dient, welches die Tat durch das »Fehlverhalten« des Opfers legitimiert. Damit eignen sich die Täter eine Definitionsmacht über die Tat, das Opfer und ihre Motive an, die von der Presse nicht infrage gestellt und übernommen wird. Dabei wäre es gerade die Aufgabe der Presse, die Rechtfertigungen der Ehrenmorde durch die Aussagen der Täter oder ein angebliches »Fehlverhalten« des Opfers zu verurteilen. Dass die Berichte mehr über die Hintergründe der Opfer aussagen als über die Täter, spricht des Weiteren dafür, dass das Verhalten des Opfers und nicht die zu verurteilende Tat im Fokus der Berichte steht. Genauso zu kritisieren wären die Fotos der weiblichen Opfer, bei denen sie meist in einer degradierenden Art und Weise – im Krankenbett, mit abgeschnittener Nase oder ihre nicht abgedeckte Leiche – dargestellt werden. Bemerkenswert ist ebenso, dass Informationen über Täter sehr viel geringer sind als über Frauen. Die Darstellung über Täter beschränkt sich auf die verletzte Ehre. Im Mittelpunkt stehen die Frau und ihr vermeintlich sündhaftes und unehrenhaftes Verhalten.

4.1.2.3 Merkmale der Mordopfer Die Analyse der Zeitungsberichte zeigt, dass bei den 125 Ehrenmorden insgesamt 167 Menschen starben. Davon waren 104 Personen Frauen und Personen 58 Männer. Der Aspekt, dass bei den drei ermordeten Neugeborenen und bei zwei weiteren Kindern keine Geschlechtsangaben gemacht worden sind, führt dazu, dass diese 5 Personen als eigene Kategorie bei den Opfern bilden. Wenn man diese Anteile berücksichtigt, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass bei 62,3 Prozent die Frauen die Mehrheit der Opfer waren. Männer hingegen waren mit 34,7 Prozent in der Gruppe der Opfer vertreten. 3 Prozent der Opfer waren Neugeborene und Kinder. Diese Zahlen bestätigen die allgemein geltende These über die Opfer der Ehrenmorde, dass Frauen in der Mehrheit Opfer von Ehrenmorden sind. Babys/Kinder 3% Männer 35% Frauen 62%

Frauen Männer Babys/Kinder Total: 167

Abbildung 17: Geschlecht der Opfer (eigene Darstellung) Um den sozialen Status und die Beziehung zwischen Opfer und Täter zu analysieren, wurde untersucht, wie viel Prozent der weiblichen und der männlichen Opfer verheiratet, geschieden, verwitwet oder ledig waren.

241

242

Morde ohne Ehre

Bei den männlichen Opfern konnten folgende Zahlen herausgearbeitet werden: Von den insgesamt 58 Männer waren 48,3 Prozent verheiratet und 43,1 Prozent ledig. Bei 8,6 Prozent wurden keine Angaben zum Familienstand gemacht. Beim Familienstand der weiblichen Opfer ergab sich folgendes Bild: 61 (58,6 Prozent) weibliche Opfer waren verheiratet, während 30 (28,8 Prozent) ledig, 8 (7,7 Prozent) geschieden und eine (0,9 Prozent) verwitwet waren. Bei 4 (3,8 Prozent) Personen dagegen liessen sich keine Angaben über den Familienstand der Opfer ermitteln. Verheiratete Frauen bilden die Mehrheit unter den Opfern und sind die am meisten von Ehrenmorden gefährdete Gruppe. Ledige Frauen sind mit 28,8 Prozent ebenfalls in großer Zahl vertreten.

61

30

8 4

1 Ehefrauen

Ledig

Geschieden

Verwitwet

Ohne Angaben

Total=104

Abbildung 18: Familienstand der weiblichen Opfer (eigene Darstellung)

Alter der Opfer Weibliche Opfer Folgende Unterteilung der Altersklassen wurde vorgenommen: Anzahl = 104