»The Power of Love«: Heteronormativität und Bürgerlichkeit in der modernen Liebesgeschichte [1. Aufl.] 9783839423950

Ein Mann - eine Frau - eine Liebe, die alle Hindernisse überdauert: Diese Geschichte wird seit Jahrhunderten immer wiede

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German Pages 270 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
1.1 Für eine Genealogie der modernen Liebesgeschichte
1.2 Liebesgeschichten analysieren: Forschungsstand, Romanauswahl, Methode
2. Die Liebe, der viktorianische Roman und das bürgerliche Subjekt der Moderne. Kontextualisierungen
2.1 Liebe und moderne Subjektivität
2.2 Die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse und der Aufstieg des Bürgertums
2.3 Der viktorianische Roman als Forum des aufstrebenden Bürgertums
3. Liebe im viktorianischen Roman
3.1 Liebe als Thema und Plot
3.2 Liebe als Heiratsgrund
3.2.1 Liebe – modern, jung, radikal
3.2.2 Liebe als demokratisierende Macht
3.2.3 Liebe als Emanzipationsdiskurs
3.2.4 »Wahre« Liebe als Heiratsgrund
3.3 Liebe als Glücksversprechen
3.3.1 Beschreibungen von Liebesglück
3.3.2 Liebe als phantasmatische Wunscherfüllung
3.3.3 Glück, Freiheit und Selbsttransformation: Utopische Versprechen des Liebesdiskurses
4. Begehren und begehrt werden: Bürgerliche Subjektivierungsweisen in der Liebe. Analysen von The Tenant of Wildfell Hall und The Small House at Allington
4.1 »See, the conquering hero comes«: Unheroische und verunsicherte Männlichkeit
4.1.1 Heldenhaftigkeit und Regency rake: Kontrastfolien für bürgerliche Männlichkeit
4.1.2 Männlichkeitsideal ohne Idealfigur: Ambivalente Helden
4.1.3 Neue Männlichkeit: Die normalisierende Macht der Liebe
4.2 Jungfräulichkeit, Tugend, Leidenschaft: Weiblichkeit zwischen Konventionalität und Individualisierung
4.2.1 Im Zentrum viktorianischer Weiblichkeitsnormen: Jungfräulichkeit
4.2.2 Sexuelle Grenzziehungen: Den Rahmen abstecken
4.2.3 Individualisierte Weiblichkeit: Das Begehren nach Einzigartigkeit
4.2.4 Normalisierte Weiblichkeit: Reproduktion universalisierter bürgerlicher Werte
5. Die eigene Liebe erzählen: Selbstautorisierungsstrategien des erzählenden/liebenden Subjekts. Analysen von Jane Eyre und The Woman in White
5.1 Erzählstimme und Subjektivierung: Vorbemerkungen
5.2 »And I am so plain you see...«: Weibliche Bescheidenheit und narrative Kontrolle in Jane Eyre
5.2.1 Plainness und Begehren: Die Erzählerin als liebendes Subjekt
5.2.2 Plainness und Wahrheit: Bürgerliche Individualisierung
5.3 »...in the words of the brief, plain, studiously simple abstract...«: Erzählen als bürgerliche Männlichkeitsperformance in The Woman in White
5.3.1 Telling the plain truth: Die Objektivität des Gerichts und die Subjektivität der Liebe
5.3.2 Telling the truth plainly: Realistisches Schreiben und detektivisches Aufklären als männliche Herrschaftstechnologien
6. Schlussbemerkungen
Literatur
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»The Power of Love«: Heteronormativität und Bürgerlichkeit in der modernen Liebesgeschichte [1. Aufl.]
 9783839423950

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Judith Coffey »The Power of Love«

Band 13

Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.

Judith Coffey (Dr. phil.) ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind populäre Literatur und Kultur, Erzähltheorie und Geschlechterforschung.

Judith Coffey

»The Power of Love« Heteronormativität und Bürgerlichkeit in der modernen Liebesgeschichte

Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam, 2013.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Hannah Fitsch Umschlagabbildung: © namosh – Fotolia.com Satz: Judith Coffey Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2395-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I nhalt Danksagung

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1. Einleitung

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1.1 Für eine Genealogie der modernen Liebesgeschichte

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1.2 Liebesgeschichten analysieren: Forschungsstand, Romanauswahl, Methode

21

2. Die Liebe, der viktorianische Roman und das bürgerliche Subjekt der Moderne. Kontextualisierungen

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2.1 Liebe und moderne Subjektivität

38

2.2 Die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse und der Aufstieg des Bürgertums

49

2.3 Der viktorianische Roman als Forum des aufstrebenden Bürgertums

54

3. Liebe im viktorianischen Roman

65

3.1 Liebe als Thema und Plot

65

3.2 Liebe als Heiratsgrund

74

3.2.1 Liebe – modern, jung, radikal

74

3.2.2 Liebe als demokratisierende Macht

80

3.2.3 Liebe als Emanzipationsdiskurs

83

3.2.4 »Wahre« Liebe als Heiratsgrund

89

3.3 Liebe als Glücksversprechen

92

3.3.1 Beschreibungen von Liebesglück

92

3.3.2 Liebe als phantasmatische Wunscherfüllung

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3.3.3 Glück, Freiheit und Selbsttransformation: Utopische Versprechen des Liebesdiskurses

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4 . Begehren und begehrt werden: Bürgerliche Subjektivierungsweisen in der Liebe. Analysen von The Tenant of Wildfell Hall und The Small House at Allington

103

4.1 »See, the conquering hero comes«: Unheroische und verunsicherte Männlichkeit

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4.1.1 Heldenhaftigkeit und Regency rake: Kontrastfolien für bürgerliche Männlichkeit

106

4.1.2 Männlichkeitsideal ohne Idealfigur: Ambivalente Helden

116

4.1.3 Neue Männlichkeit: Die normalisierende Macht der Liebe

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4.2 Jungfräulichkeit, Tugend, Leidenschaft: Weiblichkeit zwischen Konventionalität und Individualisierung

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4.2.1 Im Zentrum viktorianischer Weiblichkeitsnormen: Jungfräulichkeit

143

4.2.2 Sexuelle Grenzziehungen: Den Rahmen abstecken

154

4.2.3 Individualisierte Weiblichkeit: Das Begehren nach Einzigartigkeit

162

4.2.4 Normalisierte Weiblichkeit: Reproduktion universalisierter bürgerlicher Werte

175

5. Die eigene Liebe erzählen: Selbstautorisierungsstrategien des erzählenden/ liebenden Subjekts. Analysen von Jane Eyre und The Woman in White

199

5.1 Erzählstimme und Subjektivierung: Vorbemerkungen

199

5.2 »And I am so plain you see...«: Weibliche Bescheidenheit und narrative Kontrolle in Jane Eyre

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5.2.1 Plainness und Begehren: Die Erzählerin als liebendes Subjekt

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5.2.2 Plainness und Wahrheit: Bürgerliche Individualisierung

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5.3 »...in the words of the brief, plain, studiously simple abstract...«: Erzählen als bürgerliche Männlichkeitsperformance in The Woman in White

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5.3.1 Telling the plain truth: Die Objektivität des Gerichts und die Subjektivität der Liebe

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5.3.2 Telling the truth plainly: Realistisches Schreiben und detektivisches Aufklären als männliche Herrschaftstechnologien

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6. Schlussbemerkungen

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Literatur

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D anksagung Danksagungen sind der schwierigste Teil eines Buches, heißt es oft. Das hat natürlich damit zu tun, dass sie der Ort in einem wissenschaftlichen Werk sind, wo Privates öffentlich gemacht wird, wo ein kleiner (wenn auch meist verklausulierter) sneak peak auf die echte Person hinter dem Text gewährt wird. Doch so wie die Objektivität des wissenschaftlichen Blicks im Text als Legitimationsstrategie eingesetzt wird, so ist auch die in Danksagungen erzeugte Authentizität ein textueller Effekt, der in die Konventionen des Genres eingebettet ist. Trotzdem ist es mir ein echtes Anliegen, Dank auszusprechen, auch wenn es sich dabei wie mit der Liebe verhält: Es gibt nur formelhafte Sätze, die immer schon ein Zitat sind. Und doch bedeutet diese Zitathaftigkeit nicht, dass die Sätze unecht sind, sondern nur, dass ihre Echtheit auf bestimmte Art und Weise produziert wird – wie in diesem Buch in Bezug auf den Liebesdiskurs nachzulesen ist. Dieses Buch ist die Druckfassung meiner im Mai 2012 an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam eingereichten Dissertation, und diese Dissertation hat mich in den letzten Jahren einige Nerven gekostet. Ohne die vielen Menschen in meinem Leben, die mich während dieser Zeit in verschiedenster Weise unterstützt haben, gäbe es dieses Buch heute nicht. Meine Betreuerin, Gertrud Lehnert, hat mich von den ersten Themenideen bis zur erfolgreichen Disputation begleitet. Ich bin ihr sehr dankbar dafür, dass sie mir größtmögliche Freiheit gelassen hat, meine eigenen Gedanken zu entfalten und mich dabei auch manchmal zu verzetteln. Gleichzeitig konnte ich mich immer an sie wenden, wenn ich Beratung, Hilfe oder Ermutigung brauchte. Ein großes Dankeschön gebührt auch meinem Zweitgutachter, Dirk Wiemann – nicht nur für die Begutachtung, sondern auch für anregende Gespräche. Seit 2008 bin ich wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Potsdam, zuerst bei Juliane Jacobi als Koordinatorin des Netzwerks Interdisziplinäre Geschlechterforschung, dann zusammen mit IwanMichelangelo D’Aprile im Projektmanagement des EU-finanzierten Projekts Englobe – Enlightenment and Global History. Beiden gebührt Dank dafür, dass sie meine berufliche Weiterentwicklung gefördert haben – auf eine Weise, die mir trotzdem noch genug Zeit für meine eigene Forschung ließ.

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»The Power of Love«

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Sabine Hark danke ich für die inoffizielle Mitbetreuung meiner Arbeit und für die Möglichkeit, an ihrem Doktorand_innencolloquium teilzunehmen. Die intensiven, engagierten, respektvollen Diskussionen, die ich in diesem Zusammenhang führte, haben die Konzeption und theoretische Rahmung meiner Arbeit maßgeblich beeinflusst und mich immer wieder zu mehr Präzision und analytischer Genauigkeit angestachelt. Sehr wertvoll war darüber hinaus die gemeinsame Reflexion über die Strukturen, in denen wir uns beim Promovieren bewegen, und darüber, wie wir sie verändern können, sowie unsere Versuche einer kollektiven und kritischen wissenschaftlichen Praxis. Für den langjährigen und intensiven Austausch danke ich insbesondere Ilka Borchardt, Sahra Dornick, Lukas Engelmann, Hannah Fitsch, Thomas Gloy, Inka Greusing, Mike Laufenberg, Hanna Meißner, Silke Meyer, Aline Oloff, Stanislawa Paulus, Tino Plümecke, Thomas Viola Rieske, Anja Rozwandowicz und Anna Voigt. Harrie Tosch, Stefanie Mayer und Hannah Fitsch haben zu unterschiedlichen Zeitpunkten Teile der Arbeit gelesen und mir mit ihrem Feedback sehr weitergeholfen. Leo Wild hat die ganze Arbeit korrekturgelesen. Bei der Vorbereitung dieses Buches rettete mich Dagmar Venohr vor dem drohenden Layoutchaos, indem sie mir ihre Formatvorlage zur Verfügung stellte. Von Hannah Fitsch stammt der Entwurf, der dem Coverdesign zugrunde liegt. Sie alle haben ein großes Stück dazu beigetragen, dass meine Dissertation nun in dieser Form vorliegt: Danke! Last but not least möchte ich all den Menschen danken, die sich über die Jahre hinweg für meine Arbeit interessierten, Fragen stellten, zuhörten. Die den Wortschwall meiner neuesten Erkenntnisse über sich ergehen ließen und mich ermutigten, wenn es gerade nicht gut lief – oder mich zwischendurch auch einfach mal auf ganz andere Gedanken brachten. Diese Liste ist endlos, aber mein ganz besonderer Dank geht an: Hannah, Harrie, Leo, Peter, Toni, Jessica, Sylvana, Georg, Steve, und an den Dragzhaufen. Danke auch an die Bürogemeinschaft, die mir die intensiven Monate vor der Abgabe versüßte und mich davor bewahrte, gänzlich dem Wahnsinn zu verfallen. Meinem »Mitbewohner*« Roman Klarfeld danke ich dafür, dass er einen großen Teil der anfallenden Reproduktionsarbeit übernommen hat. Ohne ihn wäre ich vermutlich verhungert und im Dreck versunken. Aber nicht nur das: Er war über all die Jahre für mich da, hat mich ermutigt und auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und war immer der unerschütterlichen Überzeugung, dass meine Dissertation am Ende gut und interessant und relevant werden würde. Für all das und noch vieles mehr danke ich ihm von ganzem Herzen.

1 . Einleitung »[...] I can’t believe you’re reading Wuthering Heights again. Don’t you know it by heart yet? [...] I don’t understand why you like it. The characters are ghastly people who ruin each others’ lives. I don’t know how Heathcliff and Cathy ended up being ranked with couples like Romeo and Juliet or Elizabeth Bennet and Mr. Darcy. It isn’t a love story, it’s a hate story. [...] Honestly, [...] why do you read it over and over? [...] What is it that appeals to you?« His sincere curiosity disarmed me. »I’m not sure,« I said, [...] »I think it’s something about the inevitability. How nothing can keep them apart – not her selfishness, or his evil, or even death, in the end...« His face was thoughtful as he considered my words. [...] »I still think it would be a better story if either one of them had one redeeming quality.« »I think that may be the point,« I disagreed. »Their love is their only redeeming quality.« (St. Meyer 2008, 28 f., Hervorh. i.O.)

1.1 Für eine Genealogie der modernen Liebesgeschichte Die vorangestellte Passage stammt aus Eclipse, dem dritten Band der Twilight Saga von Stephenie Meyer, einem vierbändigen Romanzyklus, der sich um die Liebe von Bella (einem menschlichen Mädchen) und Edward (einem Vampir) dreht. Alle Bände sind in kurzer Folge zwischen 2005 und 2008 erschienen und erreichten innerhalb kürzester Zeit unglaubliche Verkaufszahlen, Platzierungen an der Spitze der Bestsellerlisten und eine enorme mediale Aufmerksamkeit. In vielerlei Hinsicht tritt Meyer damit die Nachfolge von J. K. Rowlings Harry Potter-Serie an (vgl. Byron 2008, 167). Doch während die Twilight-Bücher wie Harry Potter ein zentrales FantasyElement aufweisen (mit Vampiren und Werwölfen statt Zauberern und Hexen), steht hier die Liebesgeschichte ganz klar im Mittelpunkt. Warum beginne ich eine Arbeit zur viktorianischen Liebesgeschichte mit einem Zitat aus einem populären Roman des 21. Jahrhunderts? Dafür gibt es mehrere Gründe, anhand derer sich gut erläutern lässt, wie die vorliegende Arbeit angelegt ist, in welche Felder sie sich einordnet und worin ihre Brisanz und Notwendigkeit liegt. Zuallererst fällt natürlich auf, dass sich Meyer mit Wuthering Heights von Emily Brontë explizit auf einen viktorianischen Roman bezieht, und zwar nicht nur in dem zitierten Aus-

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»The Power of Love«

schnitt. Der intertextuelle Bezug1 wird immer wieder aufgerufen, indem sich die Figuren von Eclipse mit denen aus Wuthering Heights vergleichen (vgl. z.B. St. Meyer 2008, 517). Wuthering Heights wird aber auch benutzt, um zu verhandeln, was Liebe ist. Wie diese Verhandlung genau funktioniert, wäre mindestens Thema eines eigenen Aufsatzes. Dennoch werden schon in diesem kurzen Zitat einige zentrale Charakteristika der Liebe deutlich. In erster Linie ist sie unausweichlich, oder, anders gesagt, schicksalhaft: »nothing can keep them apart«. Liebe wird als magnetische Kraft entworfen, vor der es kein Entkommen gibt. Sie hat aber auch die Macht, das liebende Individuum zu transformieren und zu erlösen. Egal, ob die Liebenden selbstsüchtig oder böse sind, ob sie sich gegenseitig das Leben zerstören, ob sie eine einzige gute Eigenschaft haben – solange sie fähig sind zu einer solchen Liebe, ist ihnen die Erlösung sicher: »their love is their only redeeming quality«.2 Mit einem solchen Liebesverständnis knüpft Meyer über die intertextuellen Bezüge hinaus an die Tradition des viktorianischen Romans an. Das ist natürlich nicht die einzige Tradition, an die sie anschließt. In der zitierten Passage werden zwei weitere Bezugspunkte explizit erwähnt: Jane Austens Pride and Prejudice und Shakespeares Romeo and Juliet. In dieser Hinsicht ist Meyer voll und ganz konventionell: Sie ruft die Liebesgeschichten auf, die ikonischen Status genießen. In dieser Reihe scheint es jedoch die viktorianische Liebesgeschichte zu sein, die am meisten Fragen aufwirft, weil hier eine Spannung besteht zwischen den Charakteren, die alles andere als perfekt sind, und der Liebe, die dennoch ganz und gar rein und gut sein soll. Gleichzeitig ist es die viktorianische Liebesgeschichte, die in vielerlei Hinsicht das Modell für die Twilight-Romane liefert, vor allem in Hinblick auf die Erzählstrukturen. Mit der Frage, wie die viktorianische Liebesgeschichte im Detail strukturiert ist und was es daher bedeutet, an das

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Der intertextuelle Bezug funktioniert auch quasi umgekehrt: Mittlerweile ist bei Harper Collins eine Ausgabe von Wuthering Heights im Twilight-Design erschienen. (Ich danke den Teilnehmer_innen meines Twilight-Seminars im WS 2009/ 2010 an der Universität Potsdam für diesen Hinweis.) Die religiösen Konnotationen sind nicht zu überhören. Für den viktorianischen Roman bzw. den modernen Liebesdiskurs im Allgemeinen komme ich darauf später zurück. Die Twilight-Bücher sind allerdings auch darüber hinaus voll von christlicher Religiosität, die Figuren diskutieren beispielsweise immer wieder über die Frage, ob Vampire eine Seele haben und damit, ob sie sich für Erlösung qualifizieren können. In diesem Zusammenhang wird gerne darauf verwiesen, dass die Autorin Mormonin ist. Viel spannender aber ist meines Erachtens der Umstand, dass ihre Bücher dennoch ein Massenpublikum erreichen konnten. Ich vermute, dass das unter anderem an der besonderen Anschlussfähigkeit von Liebe und (christlicher) Religion liegt. Weil gängige Liebesdiskurse sich ohnehin ausführlich religiöser Metaphorik bedienen, schließen explizit religiöse Diskurse daran gut an.

Einleitung

Modell der viktorianischen Liebesgeschichte anzuknüpfen, wird sich die vorliegende Arbeit beschäftigen. Vorerst jedoch geht es mir darum, diese Untersuchung als ein genealogisches Projekt im Sinne Michel Foucaults zu verorten und damit einen Beitrag zu einer Geschichte der Gegenwart zu leisten. D.A. Miller findet dafür eine schöne Formulierung, wenn er schreibt: I further assume that the traditional novel – the novel that many people define their modernity by no longer reading – remains a vital consideration in our culture: not in the pious and misleading sense that, for instance, »Masterpiece Theatre« has dramatized all but one of the novels I mainly discuss, but because the office that the traditional novel once performed has not disappeared along with it. The »death of the novel« (of that novel, at any rate) has really meant the explosion everywhere of the novelistic, no longer bound in three-deckers, but freely scattered across a far greater range of cultural experience. To speak of the relation of the Victorian novel to the age of which it was, faute de mieux, the mass culture, is thus to recognize a central episode in the genealogy of our present. (Miller 1988, x, Hervorh. i.O.)

Mehrere Punkte erscheinen mir hier wichtig für mein Projekt. Miller geht davon aus, dass es eine Kontinuität zwischen dem viktorianischen Roman und zeitgenössischer Kulturproduktion gibt. Diese Kontinuität besteht für ihn aber nicht so sehr darin, dass Stoffe und Plots adaptiert und transformiert werden3 , sondern in der gesellschaftlichen Funktion, die von diesen kulturellen Produkten erfüllt wird. Dazu kommt, dass er von einer »explosion of the novelistic« spricht, also davon, dass die Formen und Erzählstrukturen des Romans weiter bestehen, auch wenn sie nicht mehr in Form von dreibändigen Werken umgesetzt werden.4 Er weist darauf hin, dass die Trennung zwischen »Hochkultur« und »Populärkultur« zumindest in diesem Zusammenhang obsolet ist, da der Roman des 19. Jahrhunderts selbst den Status eines Massenmediums hatte. Aus all dem leitet er die Notwendigkeit ab, den viktorianischen Roman einer eingehenden Analyse zu unterwerfen: weil er eine »central episode in the genealogy of our present« darstellt.

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Ich würde allerdings beispielsweise auch in den unzähligen Verfilmungen von viktorianischen Romanen nicht einfach fromme Ehrerbietung sehen, sondern eine Transformationsarbeit, die sehr aufschlussreich im Hinblick auf aktuelle Aushandlungsprozesse sein kann. Eine wichtige zeitgenössische Erscheinungsform dieser Explosion ist der Hollywoodfilm, den Elke Reinhardt-Becker in die Tradition der romantischen Idealisierung leidenschaftlicher Liebe stellt: »Die Liebe ist eine Himmelsmacht, die sich gegen alle Widerstände durchsetzt – suggeriert zumindest der Hollywoodfilm, wenn er die Helden mit dem Happy End in das utopische Paradies der Ehe entlässt. Hier scheint Hollywood nicht viel weiter gekommen zu sein als die Zeitgenossen Goethes.« (Reinhardt-Becker 2005, 9) Welche Tradition(en) es genau sind, in denen das zeitgenössische Hollywoodkino steht, wäre allerdings eine eigene Untersuchung wert.

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»The Power of Love«

Auch Catherine Belsey betont, wie sehr zeitgenössiche popular romances in Beziehung zu den viktorianischen »Klassikern« stehen. Sie sieht auf der Ebene von Figurenpersonal und Plot eine Vielzahl von Parallelen: [...] one striking feature of many of the Harlequin or Mills & Boon romances I have read is the frequency with which they feature governesses or nannies far from home, who fall in love with their dark, Byronic, brooding employers. Indeed, dark Byronic heroes with a secret are extraordinarily common in romantic fiction, as are heroines who do not consider themselves beautiful and who have to make a living. We have been here before – in Jane Eyre, for instance. The canonical nineteenth-century novel returns to haunt twentieth-century popular fiction in ways which suggest that cultural studies cannot get out from under English Literature with quite the abandon that we once hoped. (Belsey 1994, 12)5

Belsey spielt an auf den Wunsch vieler sich seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts formierenden kritischen Bewegungen, seien es cultural studies, postkoloniale Theorien, feministische oder lesbische Literaturwissenschaft (die Liste könnte fortgesetzt werden), den Kanon umzugestalten. Ziel der Umgestaltung war es, vormals Ausgeschlossenes darin aufzunehmen, die Trennung zwischen Hoch- und Populärkultur in Frage zu stellen oder den Kanon als solches zu delegitimieren. Doch so wichtig das sein mag, so Belseys Argument, die Untersuchung kanonisierter Texte darf dennoch nicht vernachlässigt werden. Sie weist ebenfalls darauf hin, dass die Grenze zwischen »Hoch-« und »Populärkultur« (oder »classics« und »trash«, wie sie an einer Stelle schreibt) eine ist, die vom historischen Standpunkt der Betrachter_in6 abhängt:

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Jeanne Dubino weist auf ähnliche Parallelen hin: »The formula for contemporary romances can be traced to Pamela, Pride and Prejudice and Jane Eyre. Like these antecedents, contemporary romances are generally told from the heroine’s point of view. Desire for the hero propels most of the narrative along. The plot centers around courtship. The hero is always older, taller and richer than the heroine, and usually moody, dark and inscrutable. After traveling along a path marked by misunderstandings, for the course of true love never did run smooth, the two characters arrive at a correct reading of their love for one another. Once the goal of marriage has been reached, the novel usually ends.« (Dubino 1993, 103 f., Hervorh. i.O.) Bei allgemeinen Personenbezeichnungen, bei denen das Geschlecht nicht spezifiziert werden kann oder soll (wie hier bei den »Betrachter_innen«), verwende ich im Sinne der Nicht-Binarität die Form mit Unterstrich, auch wenn ich das Bild des »Dazwischen«, das sie aufruft, nicht unproblematisch finde (vgl. Herrmann 2003 für die Schreibweise mit Unterstrich und Baumgartinger 2008 für kritische Anmerkungen dazu). Im Text finden sich jedoch auch Personenbezeichnungen mit großem Binnen-I. An diesen Stellen sind ausdrücklich eine Menge von eindeutig als Männer und Frauen identifizierten Personen gemeint, meist Figuren aus den Romanen. Ich setze diese verschiedenen Formen ein, weil für mich der Sinn sichtbarmachender Schreibweisen nicht zuletzt darin liegt, dass sie uns dazu anhalten, jedes Mal genau zu überlegen, wer eigentlich gemeint ist. Zudem kann der Sinn des Unterstrichs nicht darin liegen, hegemoniale Positionen (wie die der heterosexuell zweigeschlechtlichen RomanheldInnen) zu verschleiern.

Einleitung

I have opted primarily for texts which have been widely read. Keats, Tennyson and Edgar Allan Poe have all been read for pleasure. It is we who have canonized them; to refuse to take account of them, on the grounds that they now represent elite culture, is simply to cut ourselves off from some of the most important locations of the meanings in circulation in earlier periods. (Belsey 1994, 13)

Texte, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens viel gelesen wurden, und zum Vergnügen gelesen wurden; Texte, die später kanonisiert wurden und den Status von Hochkultur verliehen bekamen: Diese Kriterien gelten gleichermaßen für meine eigene Textauswahl. Im Kontext eines genealogischen Projektes ist davon auszugehen, dass die in dieser Arbeit analysierten Texte erstens zum Zeitpunkt ihres Entstehens und ihrer Veröffentlichung eine wichtige Rolle für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse spielten, und zweitens, dass diese Aushandlungsprozesse und/oder ihre »Ergebnisse« nach wie vor Aufschluss geben können über die Verfasstheit »unserer« Gegenwart. So merkt auch Jutta Greis an: »Unter Aspekten der Wirkungsmächtigkeit literarisch produzierter Bilder muss gerade die Literatur im Blickpunkt stehen, die sich eine Gesellschaft zu tradieren entschlossen hat.« (Greis 1991, 16, Hervorh. i.O.) Dazu kommt, dass es mir in dieser Arbeit um hegemoniale Bedeutungsstrukturen geht. Ich mache mich nicht auf die Suche nach Möglichkeiten, Liebe anders zu erzählen, wie es beispielsweise Rachel Blau DuPlessis in Writing beyond the Ending (DuPlessis 1985) oder Joseph Allen Boone im zweiten Teil seines Buches Tradition Counter Tradition (Boone 1987) tun. Ich lege den Fokus vielmehr auf Bedeutungen, die so selbstverständlich geworden sind, dass wir sie kaum mehr wahrnehmen; die so universell erscheinen, dass sie als natürlich eingestuft werden. Genau das ist es, was in der Queer Theory mit dem Konzept der Heteronormativität unter anderem erfasst werden soll. »Heteronormativität als analytisches Konzept«, so Sabine Hark, ziele darauf, das sichtbar zu machen, was am Wenigsten sichtbar ist: dass Heterosexualität als Identität und Institution, als Praxis und als System so beharrlich ist, gerade weil von ihr nicht gesprochen wird, weil sie als unsichtbare, gleichwohl mächtige Textur des Sozialen und insbesondere als mächtige Technologie des Geschlechts operiert. (Hark 2009, 28)

Das ist immer auch ein politisches Projekt. Indem wir die Machtstrukturen analysieren, die der Heteronormativität zugrunde liegen, und das sichtbar machen, was mit viel Aufwand immer wieder unsichtbar gemacht wird (wobei der Aufwand selbst ebenfalls unsichtbar gemacht wird), eröffnen wir ein Potenzial der Veränderbarkeit. Bei diesem Projekt der Dekonstruktion geht es vorerst nicht darum, konkrete Alternativen aufzuzeigen, sondern die Gewordenheit des Bestehenden zu betonen. Daraus folgt: So wie Wenn ich im Singular vor der Frage der Personalpronomen oder Artikel stehe, fällt die Wahl grundsätzlich auf die weibliche Form.

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»The Power of Love«

es ist, muss es nicht für immer sein. In Bezug auf Geschlecht betont Butler, dass das Öffnen eines solchen Möglichkeitsraumes kein Luxus ist: Some people have asked me what is the use of increasing possibilities for gender. I tend to answer: Possibility is not a luxury; it is as crucial as bread. I think we should not underestimate what the thought of the possible does for those for whom the very issue of survival is most urgent. (Butler 2004, 29)7

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In diesem Sinn fragt meine Arbeit: Welche universalisierenden, naturalisierenden und normalisierenden Operationen werden in viktorianischen Liebesgeschichten vorgenommen? Neben dem Komplex der Heteronormativität, die immer schon mit Geschlechterverhältnissen verflochten ist (vgl. Hark 2009, 36 f.), spielt hier »Bürgerlichkeit« eine zentrale Rolle. In gewisser Weise dehne ich also die Denkbewegung von Queer Theory bzw. Heteronormativitätskritik aus, um neben der Naturalisierung von Heterosexualität auch die Naturalisierung von Bürgerlichkeit in den Blick zu bekommen. Das ist selbstverständlich ganz im Sinn vieler Ansätze der Queer Theory, denen es gerade um die Verschränkung verschiedener Machtstrukturen und Unterdrückungsverhältnisse geht.8 Ähnlich wie »Heteronormativität« soll der Begriff der »Bürgerlichkeit« ein Ensemble an hegemonialen und hierarchisch privilegierten Werten, Praktiken, Subjektivierungsweisen, Institutionen etc. zusammenfassen. In diesem Sinn stellt »Bürgerlichkeit«, genauso wie Heteronormativität, ein analytisches Konzept dar. Was diese »Bürgerlichkeit« im Einzelnen ausmacht, welche Machteffekte sie entfaltet und wie sie sich mit Heterosexualität verschränkt, wird in den verschiedenen Analysen im Detail untersucht. Gerade wenn es um Liebe geht, erscheint der Blick auf die Verschränkungen von Bürgerlichkeit, Heteronormativität und Geschlechterkonstruktionen besonders notwendig und lohnenswert. Judith Butler hat mit ihrem Konzept der »heterosexuellen Matrix« (Butler 1999) eindrucksvoll gezeigt, dass es in unserer Gesellschaft eine bestimmte Konstellation von Geschlecht, Sexualität und Begehren gibt, die mit viel Aufwand immer 7

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Auch in der Einleitung zur Neuauflage von Gender Trouble im Jahr 1999 findet Butler dafür eine eingängige Formulierung: »One might wonder what use ›opening up possibilities‹ finally is, but no one who has understood what it is to live in the social world as what is ›impossible,‹ illegible, unrealizable, unreal, and illegitimate is likely to pose that question.« (Butler 1999, viii) Dabei ist dennoch Vorsicht geboten, denn, wie Hark betont, ist auch Heteronormativität nicht davor gefeit, zur »master category« des Denkens zu avancieren. Demgegenüber plädiert sie für ein Eingestehen der Fehlbarkeit aller Kategorien: »Unfehlbare Kategorien, die als komplette Werkzeuge funktionieren, die allumfassend repräsentieren, kritisch analysieren, transformativ intervenieren oder aber als sichere Abgrenzung für akademische Unternehmungen fungieren, gibt es nicht. Es sind vielmehr unsere intellektuellen und politischen Wünsche und Interessen, die wir auf unsere epistemischen Kategorien projizieren, um dann zu vergessen, dass es jene Wünsche und Interessen sind, die Kategorien strukturieren.« (Hark 2009, 37)

Einleitung

wieder als natürlich positioniert wird. Diese Konstellation beruht auf einem Begehren zwischen genau zwei als komplementär und entgegengesetzt gedachten Geschlechtern. Die Liebe gibt dieser als natürlich gedachten Kraft des heterosexuellen Begehrens die Beständigkeit und Dauer, die zur Legitimation der heterosexuellen Kleinfamilie notwendig ist (vgl. Coffey 2008, 58). Dass Liebe als natürlich und nicht rational beeinflussbar gedacht wird, bedeutet auch, dass materielle Aspekte bei der Wahl der PartnerIn verpönt sind und Klassen- oder Milieuunterschiede keine Rolle spielen sollen. Der Triumph der Liebe über diese Art von Hindernis stellt die treibende Kraft so manchen Liebesplots dar, sowohl im 19. als auch im 21. Jahrhundert. Gleichzeitig ist es spätestens seit Pierre Bourdieu ein offenes Geheimnis, dass die PartnerInnenwahl in den allermeisten Fällen innerhalb der eigenen sozialen Schicht erfolgt (vgl. Bourdieu 1987, insb. 373 ff.).9 Dennoch, so die Kritik von Maja Maier, sind Klasse bzw. Milieu nach wie vor blinde Flecken der Liebesforschung. Das Ideal der »romantischen Liebe« identifiziert sie als bürgerliches Ideal, das als Distinktionsmittel fungiert und dessen Elemente meist unreflektiert in den akademischen Diskurs über Liebe übernommen werden: Liebe, so lautet [...] der soziologische Konsens, setzt hoch entwickelte Individualität und differenzierte Subjektivität voraus. Damit wird ein Bild der romantischen Liebe beschworen, das zugleich anspruchsvoll und von hohem reflexiven Niveau ist. Von der philosophischen Literatur inspiriert, wird vom reinen Gefühl, der veredelten Form der Liebe, die von vulgärer Sexualität gereinigt ist, gesprochen. Die Liebe selbst erscheint dabei erneut als klassenspezifische Angelegenheit, wobei die Abgrenzung [...] mit Hilfe von sehr subtilen Strategien vollzogen wird [...] (Maier 1998, 134 f.)

Die Liebe selbst, nicht nur die PartnerInnenwahl, ist folglich durchzogen von bürgerlichen Werten und Normen. Eine solche Formulierung impliziert bereits, dass es sich bei »Liebe« nicht um eine ahistorische anthropologische Konstante handelt, sondern um eine jeweils historisch und kulturell spezifische Formation. Die Liebe, um die es in der vorliegenden Arbeit geht, ist Teil einer modernen Ordnung. Um ihre Spezifizität zu markieren, wird oft von »romantischer Liebe« (»romantic love«)10 gesprochen. Cath9

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An anderer Stelle fasst Bourdieu zusammen: »die sozial gebilligte, daher erfolgsträchtige Liebe ist nichts anderes als jene Liebe zur eigenen gesellschaftlichen Bestimmung, welche gesellschaftlich vorbestimmte Partner auf den scheinbar zufälligen und willkürlichen Wegen der freien Gattenwahl zusammenführt« (Bourdieu 1993, 285). Das führt allerdings wiederum zu einer gewissen begrifflichen Unschärfe, was unter anderem an den unterschiedlichen englischen und deutschen Konnotationen des Wortes »romantisch« liegt. Während »romantic« auf Englisch meist als das Adjektiv zu »romance« gebraucht wird und »romantic love« daher, ganz allgemein gesprochen, die im Genre der romance entworfene Konzeption von Liebe bezeichnet, verweist das deutsche Adjektiv »romantisch«, vor allem im

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erine Belsey verwendet hingegen den Ausdruck »true love« als Kurzformel für das moderne Phänomen der Liebe (Belsey 1994). Kapitel 2 beleuchtet unter anderem näher, was es bedeutet, von Liebe als einem modernen Phänomen zu sprechen. Wenn Liebe keine anthropologische Konstante ist, was ist sie dann? Der Versuch, eine allgemeine Definition zu liefern, sieht beispielsweise bei Doris Guth folgendermaßen aus: In einem weitgehend etablierten Verständnis von Liebe wird diese als kulturelle Praxis verstanden, die in einem komplexen Zusammenspiel von individuellem Begehren und Fühlen als auch gesellschaftlichen Erwartungen, Normen und Vorstellungen anzusiedeln ist. Liebe entwickelt sich aus einer Summe von körperlichen, emotionalen und kulturellen Faktoren. Welche Liebe erlaubt, genehm oder toleriert ist, hängt von gesellschaftlichen Bedingungen, ökonomischen Interessen, religiösen Konzeptionen und moralischen Vorstellungen ab, die wiederum den Rahmen für die subjektive Liebespraxis (Erwartungen, Verhalten) darstellen. Die jeweilige gesellschaftliche Ausrichtung des Liebesverständnisses bringt es mit sich, dass Liebe unterschiedlich bewertet wird. (Guth 2009, 61 f.)

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Das Problem an einer solchen Definition ist, dass sie so allgemein bzw. so abstrakt ist, dass sie eigentlich gar nichts mehr spezifiziert. Dazu kommt, dass hier auf subtile Weise, wenn auch möglicherweise unbeabsichtigt, ein Gegensatz aufgemacht wird zwischen als individuell eingestuften Gefühlen auf der einen Seite und von »außen«, von der Gesellschaft kommenden Normen auf der anderen. In der Einleitung zu dem Sammelband, in dem sich der Aufsatz von Guth befindet, wird dies noch deutlicher, wenn es heißt: »Diese Inszenierungen von Liebe bewegen sich zwischen individuellen Glücksversprechen und normativen Diskursen – ein Changieren zwischen persönlichen Wünschen und Phantasien und normierten Liebespraktiken in einer etablierten Geschlechterordnung.« (Guth/Hammer 2009, 10) Das impliziert, dass das Persönliche und Individuelle keiner Normierung (oder Normalisierung) unterworfen sei, und geht damit letztendlich unhinterfragt von einem autonomen Subjekt aus, dessen »natürliche« oder »authentische« Gefühle lediglich von äußeren Zwängen überformt würden. Eine solche Polarisierung zeigt, dass es nicht reicht, Liebe als historisch und kulturell spezifisch zu denken. Es muss vielmehr darum gehen zu untersuchen, welches Subjekt in der Liebe(sgeschichte) entworfen wird, also nicht nur die Liebe, sondern auch das Subjekt als historisch wandelbar zu literaturwissenschaftlichen Kontext, auf die Romantik. Auf Deutsch meint »romantische Liebe« daher oft die Liebesvorstellungen der (deutschen) Romantik; allerdings ist gleichzeitig der alltagssprachliche Gebrauch von »Romantik« und »romantisch« im Sinn von »gefühlsbetont, schwärmerisch; die Wirklichkeit idealisierend« (vgl. »romantisch«, Duden online) präsent. Ich habe im Großen und Ganzen versucht, das Wort »romantisch« zu vermeiden oder seine Bedeutung dort, wo sie sich nicht aus dem Kontext erschließt, zu präzisieren.

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begreifen. Damit steht immer auch die Grenze zwischen »öffentlich« und »privat« oder zwischen »dem Subjekt« und »der Gesellschaft« zur Disposition. Die normalisierenden Effekte von Liebe bestehen unter anderem darin, dass bestimmte Subjektivierungsweisen (re)produziert werden. Fairerweise muss angemerkt werden, dass Guth in ihrem Aufsatz sehr wohl von »Lieben als Subjektivierungsprozess« spricht (Guth 2009, 83). Dass sie Liebe dennoch manchmal implizit als subjektives Gefühl charakterisiert, ist nicht weiter überraschend. Kornelia Hahn und Günter Burkart konstatieren in dem 1998 erschienenen Sammelband Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts, dass »auch in soziologischen Untersuchungen häufig die common sense-Vorstellung über ›Liebe‹ adaptiert und Liebe mit einem subjektiven Gefühl gleichgesetzt [wird], das sich als solches einer soziologischen Untersuchung sperrt« (Hahn/Burkart 1998, 7 f.). Eine schöne Illustration dieser These liefert ein Jahrzehnt später Yvonne Niekrenz, wiederum in der Einleitung zu einem soziologischen Sammelband zum Thema Liebe: Die Erklärung des Phänomens Liebe aus soziologischer Perspektive, ja das Sprechen und Denken über Liebe überhaupt, führen dazu, dass wir uns von dem Phänomen selbst distanzieren – ob wir wollen oder nicht. Das Denken über Liebe ist eine Tätigkeit, die uns von ihr selbst entfernt, weil wir als Beobachter zweiter Ordnung auch nur noch in zweiter Reihe stehen. Über Liebe zu reden, ist nicht zu lieben. Allen Lesern [sic] sei darum nicht nur eine anregende Lektüre gewünscht, sondern nach dem Erklären der Liebe auch die Rückkehr in die erste Reihe, direkt zu diesem grundlegenden Gefühlszustand – theoretisieren Sie nicht nur, sondern praktizieren Sie! (Niekrenz 2008, 18)

Niekrenz greift hier auf die gängige binäre Unterscheidung zwischen »Denken« und »Fühlen« zurück, wobei das »Fühlen« als unmittelbar und unproblematisch eingestuft wird. Was ich daran besonders fragwürdig finde, ist ihr Versuch, das Interesse der Leser_innen an soziologischen Theorien zu wecken, indem sie an ein scheinbar universelles, unmittelbar verständliches und subjektives Gefühl der Liebe apelliert. Das mag in diesem Kontext seinen Zweck erfüllen (das Buch versteht sich als Lehrbuch, vgl. Niekrenz 2008, 18), ist aber meines Erachtens kontraproduktiv. Gerade Untersuchungen zu Liebe sollten sich dagegen sperren, auf etablierte binäre Vorstellungen zurückzugreifen, weil sie damit meistens zur Naturalisierung eben dieser Binaritäten beitragen. Ich glaube nicht, dass das Forschen über Liebe die Gefahr birgt, nicht mehr genug Liebe zu »praktizieren«. Die größere Schwierigkeit scheint mir darin zu liegen, genug kritische Distanz zur »Liebe« zu schaffen, um ihre spezifische historische und kulturelle Beschaffenheit in den Blick zu bekommen und zu begreifen, wie »wir« (auch)

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durch die Subjektivierungsweisen der Liebe zu modernen Subjekten geworden sind.11 Liebesgeschichten gehen dementsprechend nicht nur von einem bestimmten Subjekt aus, sie beinhalten auch vielfältige Anrufungen, zu einem bestimmten Subjekt zu werden. Das geschieht, so eine meiner Ausgangshypothesen, nicht in erster Linie durch Identifikation mit den Figuren, sondern indem bestimmte Erzählstrukturen und ihr Anspruch auf Repräsentation der Wirklichkeit normalisiert werden. Die Liebesgeschichten, die ich untersuche, sind allesamt im realistischen Modus erzählt. Gerade für das 19. Jahrhundert bedeutet das immer auch, dass sie an einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess beteiligt sind, in dem es um die Legitimation bzw. Delegitimation von verschiedenen Weisen der Darstellung von Wirklichkeit geht. In diesem Sinn erscheint es wichtig, genauer zu untersuchen, wie realistische Erzählstrukturen wirken, wie sie hegemonial werden konnten und welche Effekte dadurch produziert werden. Im Hinblick auf Liebe wird immer wieder konstatiert, dass Liebe ein narratives Gefühl sei: Ein weiteres Merkmal, das die Liebe von anderen Gefühlen unterscheidet, ist ihre narrative Beschaffenheit. Die Liebe entspinnt sich wie eine Geschichte, sie wird von ihrer Form her als narrativ empfunden und ist eng mit der Selbstnarration verbunden. Die meisten anderen Emotionen werden als punktuelle Ereignisse erlebt, die zwar Teil einer Geschichte sein können, die jedoch nicht dafür geschaffen sind, uns unser Ich in all seinen Ausprägungen zu schildern. [...] Die Liebe ist eine kulturelle Narration, die auf weiter gefasste kulturelle Narrationen des Selbst verweist. (Illouz/Wilf 2009, 20)

Auch Belsey beschreibt die enge Verbindung zwischen Liebe und Erzählung: To be in love is to be the protagonist of a story [...]. Desire in Western culture is inextricably intertwined with narrative, just as the tradition of Western fiction is threaded through with desire. Though sometimes only incidentally, the great majority of stories are love stories. It seems, therefore, that people like reading about desire. At the same time, desire presses to be written, to be narrated: people find it exhilarating to tell their stories. (Belsey 1994, ix)12

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Was das genau bedeutet, welche Erzählstrukturen dafür zentral sind und wie diese Strukturen mit Bedeutungen aufgeladen sind, ist jedoch selten Thema. Bei Eva Illouz geht es zwar teilweise um Erzählstrukturen, aber sie

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Für eine differenzierte Analyse der Einsätze im Sprechen über Liebe in soziologischen, erziehungswissenschaftlichen und philosophischen (insbesondere poststrukturalistischen) Theorien vgl. Jergus 2011. Dass Belsey hier – wie übrigens auch in weiten Teilen ihres Buches sowie im Buchtitel (Desire. Love Stories in Western Culture) – »Liebe« und »Begehren« quasi synonym verwendet, ist etwas irritierend. Meines Erachtens wäre die soeben zitierte Passage aber auch zutreffend, wenn statt »desire« jedes Mal »love« stünde.

Einleitung

untersucht eher alltägliche Erzähl- und Interpretationspraktiken. Sie beschreibt ihre Vorgehensweise folgendermaßen: »I asked my respondents to tell me their ›most memorable‹ love stories [...]. During another part of the interview, I asked respondents to interpret three short love stories designed for the purposes of the interview.« (Illouz 1997, 156) Dahinter steht die Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen narrativen Strukturen und Alltagspraktiken gibt; eine Annahme, die ich teile, und die einen Teil der politischen Notwendigkeit der Analyse von Erzählstrukturen ausmacht. Die viktorianischen Erzählungen, die ich untersuche, sind Teil der Geschichte sowohl der Modell-Erzählungen, die Illouz den Interviewpartner_innen zur Interpretation vorlegt, als auch der Erzählungen, mit denen die Interviewten ihr eigenes Leben und Lieben beschreiben. Die Analyse viktorianischer Liebesgeschichten kann also, im Sinn des genealogischen Projekts, nicht nur dazu beitragen, zeitgenössische Liebesgeschichten besser zu verstehen, sie gibt auch Aufschluss über heutige Liebesdiskurse und -praktiken einschließlich der dazugehörigen Alltagserzählungen, mit denen wir uns unser Leben erzählen und ihm einen Sinn verleihen.

1.2 Liebesgeschichten analysieren: Forschungsstand, Romanauswahl, Methode Angesichts der Allgegenwärtigkeit und Zentralität von Liebeserzählungen ist es verwunderlich, dass es relativ wenige Studien gibt, die explizit die Untersuchung von Liebesgeschichten zum Thema haben. Sehr nützlich für meine Analysen ist aber der Ansatz von Lisa Fletcher, die Liebe im Hinblick auf ihre Funktionen definiert: Liebe »gives shape and coherence« und »makes lives into linear narratives« (Fletcher 2008, 151). Ziel ihres Buches ist es daher unter anderem, »to make sense of the pull romance fictions [...] exert on our everyday lives« (Fletcher 2008, 45). Durch ihren Fokus auf historical romance novels (unter anderem retro-viktorianische Romane) kann sie gute Anregungen für meine Arbeit liefern, obwohl die Analysen im Konkreten sehr unterschiedliche Themen aufrufen. DuPlessis betont ebenfalls die Macht, die der romance plot ausstrahlt: As a narrative pattern, the romance plot muffles the main female character, represses quest, valorizes heterosexual as opposed to homosexual ties, incorporates individuals within couples as a sign of their personal and narrative success. The romance plot separates love and quest, values sexual asymmetry, including the division of labor by gender, is based on extremes of sexual difference, and evokes an aura around the couple itself. In short, the romance plot, broadly speaking, is a trope for the sex-gender system as a whole. (DuPlessis 1985, 5)

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DuPlessis streicht hier zwar die ideologische Bedeutung und die Machteffekte von narrativen Strukturen heraus, aber in der Folge interessiert sie sich nicht wirklich für hegemoniale Strukturen bzw. nur im Moment ihrer Durchkreuzung oder Überwindung – daher auch der Titel des Buches, Writing beyond the Ending. Dazu kommt, dass der Fokus, wie auch bei Boone (Boone 1987) fast ausschließlich auf dem Plot liegt und dass dem Ende (Ehe oder Tod) große Bedeutung beigemessen wird. Es soll nicht bestritten werden, dass Plot und Plotdynamik wichtig sind und dass Enden auf machtvolle Art und Weise Bedeutungen, die in der vorangehenden Erzählung aufgefächert wurden, validieren oder untergraben können. Es macht aber Sinn, auch andere narrative Elemente zu berücksichtigen, allen voran die Figurencharakterisierung, die Sympathielenkung und die Erzählstimme. Allgemeiner gefasst fokussieren meine Analysen die Wertungsund Sinngebungsstrukturen der Romane. In DuPlessis’ Sicht auf den romance plot als Trope für das Sex-GenderSystem findet sich außerdem eine Reihe problematischer Verkürzungen. Catherine Belsey kritisiert, dass Liebesgeschichten oft nur im Hinblick auf ihre Geschlechterverhältnisse bzw. auf ihre Darstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit gelesen werden (Belsey 1994, 134). Dieser ausschließliche Fokus auf Geschlechterhierarchien birgt die Gefahr, Heterosexualität erneut zu naturalisieren und ihre Produktionsbedingungen unsichtbar zu machen.13 Das kann nur vermieden werden, indem Heterosexualität selbst zu einem Analysefokus wird. In diesem Sinn stellt Fletcher »the particular discursive mechanisms by which popular historical romance novels attempt to render heterosexual love timeless, universal, utterly unconstructed and uncorrupted by history« ins Zentrum ihrer Analyse (Fletcher 2008, 57 f.). Problematisch ist zudem, dass keine der genannten Untersuchungen Klasse als zentrale Analysekategorie setzt. Während allen klar ist, dass es sich bei viktorianischen Romanen um bürgerliche Romane handelt, wird selten genau untersucht, wie »Bürgerlichkeit« produziert, begehrenswert gemacht und dadurch universalisiert wird. Nancy Armstrong stellt hier eine Ausnahme dar. Sie denkt den Aufstieg des Bürgertums mit der Entstehung eines bestimmten häuslichen weiblichen Ideals zusammen und sieht darin die Entstehung einer neuen bürgerlichen Subjektivität. Während sie aber die Institution Ehe, auch in der Form der Liebesheirat, in den Blick nimmt, betrachtet sie Liebe selbst nicht explizit als Machtgeflecht 13

Einen ähnlichen Effekt kann übrigens der alleinige Fokus auf »deviante« Identitäten etc. haben: Heteronormativität zu ignorieren ist zwar verführerisch (und kann als Entprivilegierungsstrategie fungieren), aber das ändert nichts an der Notwendigkeit, Heteronormativität als Heteronormativität zu thematisieren (in etwa analog zu der oben beschriebenenen Herangehensweise an kanonisierte Texte).

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(Armstrong 1987). Studien zum viktorianischen Roman oder zur viktorianischen Kultur und Gesellschaft im Allgemeinen, die ihren Fokus in erster Linie auf die Zusammenhänge zwischen Klasse und Geschlecht legen, aber nicht Liebesdiskurse untersuchen, können hier wichtige Anregungen liefern (z.B. Ingham 1996, Young 1999, Poovey 1988, Tosh 1999, Davidoff/ Hall 2002, Rosenman 2003, Fasick 2003, M. Cohen 1998). Dass Klassendifferenzen gerne auf das Feld der Geschlechterdifferenzen verschoben und dann mit dem Happy End in der Ehe aufgelöst werden, ist mittlerweile fast ein Gemeinplatz: »Critics have shown how [...] industrial novels use heterosexuality as a narrative device for depicting [...] the reconciliation of conflicting classes« (Sh. Marcus 2007, 74). Klasse spielt jedoch nicht nur in den industrial novels eine große Rolle, sondern in allen Romanen, die Liebesgeschichten erzählen. Darüber hinaus kann ich natürlich auf ein riesiges Feld von Victorian studies zurückgreifen, die jeweils bestimmte Aspekte ins Zentrum stellen und mit unterschiedlichen theoretischen Prämissen arbeiten. Einige Texte haben hier bereits Erwähnung gefunden, auf andere beziehe ich mich im Laufe der Analysen an den Stellen, wo es sinnvoll erscheint, allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit. In der deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Forschung zu Liebesgeschichten lassen sich andere Tendenzen beobachten. Viele Untersuchungen sind stark von Niklas Luhmanns Liebe als Passion (Luhmann 1994) beeinflusst14 , sei es explizit in ihrer systemtheoretischen Ausrichtung (Werber 2003, Klinkert 2002, Bobsin 1994, Reinhardt-Becker 2005, Hinderer 1997), sei es in ihren Begrifflichkeiten, indem sie von »semantischen Codes« und der Liebe als »Kommunikationsmedium« sprechen. HansPeter Schwander kritisiert an solchen Untersuchungen, besonders an Jutta Greis und Julia Bobsin, dass ein bestimmtes Liebesideal als Ziel der Entwicklung prognostiziert werde, und »[v]on diesem Ziel her, der Vereinigung der Liebenden in der Ehe, wird rückwärts alles als Durchsetzung dieser Tendenz aufgerollt«. Diskurse würden dabei als »Baukastensystem« aufgefasst (Schwander 1997, 9). Elke Reinhardt-Becker, die selbst systemtheoretisch arbeitet, kritisiert Bobsin dafür, das zu finden, was sie suche: »Fast erscheint es, als würden die Ergebnisse aus Luhmanns ›Liebe als Passion‹ auch hier die Resultate vorwegnehmen.« (Reinhardt-Becker 2005, 32) Dennoch, da stimme ich Greis zu: »Wesentlich Luhmann verdankt sich der Hinweis darauf, daß Liebe ein semantisches System mit eigener Logik und bestimmten gesellschaftlichen Funktionen ist.« (Greis 1991, 7) Luhmann, aber auch die Arbeiten von Foucault zu Sexualität, ermöglichen somit »Fragen nach dem systematischen Ort, den Liebe im Kulturzusam14

Klinkert stellt fest, dass »insbesondere in der Germanistik die Luhmannschen Untersuchungen zur Liebessemantik schon vielfach aufgegriffen« wurden (Klinkert 2002, 35).

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menhang der Moderne einnimmt« (beides Greis 1991, 7, Hervorh. i.O.). Indem Luhmann aber, im Gegensatz zu Foucault, explizit Liebe in den Blick nimmt und darauf insistiert, sie als »Kommunikationsmedium« mit einer bestimmten Funktion und nicht als (subjektives) Gefühl zu sehen (vgl. Luhmann 1994), ermöglicht er eine gesellschaftstheoretische und konsequent historisierende und entmystifizierende Perspektive auf Liebe. Meines Erachtens liegt darin ein großer Teil der Attraktivität der Systemtheorie für die Theoretisierung von Liebe, etwa im Gegensatz zu Roland Barthes’ Fragments d’un discours amoureux (Barthes 1977), wo »ein zeit- und ortloses Liebessubjekt« entworfen wird, wie Ulrike Vedder schreibt: Anders also als Niklas Luhmann, der [...] die Veränderungen der Liebessemantik in ihrer historischen Codiertheit analysiert und die Liebenden als »soziale Agenten« einer Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Systeme begreift, betreibt Barthes eine Idealisierung der Liebe, die zugleich »nur noch« als zu zitierende Sprachfigur [...] artikulierbar ist. (Vedder 2002, 1)

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Dennoch bleibt die systemtheoretische Herangehensweise problematisch, so Schwander: »Zwar wird Liebe als zentrales Moment der gesellschaftlichen Reproduktion angesehen, die Frage der Macht wird aber ausgeklammert.« (Schwander 1997, 100) Insbesondere kritisiert Schwander, dass Geschlechterhierarchien ignoriert werden, indem »stillschweigend von einer Gleichberechtigung der Individuen als Sender und Empfänger von Liebesbotschaften ausgegangen« wird, und dass der »gesellschaftliche Ort der Paarbeziehung [...] keinen Eingang in die Analyse der Diskurse« findet (Schwander 1997, 99). Warum (und wie) sich manche Diskurse durchsetzen und andere nicht, kann so nicht untersucht werden: Eine solche Analyse beschränkt sich vielmehr auf ein Nachvollziehen der Diskurse.15 Luhmanns Analyse selbst kann außerdem der Vorwurf gemacht werden, dass er für seine Untersuchung literarische Texte heranzieht, ohne ihre Spezifik als literarische Texte zu beachten (vgl. Greis 1991, 10 f.; Klinkert 2002, 38). Zudem greift Luhmann auf bestimmte literarische Traditionen zurück – seine Vorliebe für (adlige) Hochkultur und für die Literatur der Romantik scheint immer wieder durch und trägt dazu bei – ohne dass Luhmann diese Tendenz »erfunden« hätte –, dass in der deutschsprachigen Forschung eine bestimmte Liebestradition privilegiert wird. Diese Tendenz schlägt sich auch im zeitlichen Fokus der meisten Studien nieder. Jutta Greis etwa argumentiert, dass die Entwicklung der Liebessemantik im deutschen Sprachraum mit 1800 vorerst abgeschlossen gewesen sei, und dass das Drama den privilegierten Ort ihrer Aushandlung dargestellt habe (Greis 1991).16 Werber hingegen stellt den Roman als Gattung ins Zentrum 15 16

Zur Kritik an Luhmanns Ansatz vgl. auch Meyer-Kalkus 2007, 33 f. Gerade der Fokus auf Dramen ist aber alles andere als unumstritten, vgl. Reinhardt-Becker 2005 und Werber 2003 für mitunter scharfe Kritik an Greis’ Ansatz.

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seiner Betrachtungen und spricht systemtheoretisch von einer »Koevolution intimer und literarischer Kommunikation« (Werber 2003). Gemeinsam ist Greis, Werber und den meisten anderen deutschsprachigen Autor_innen aber der Fokus auf das 18. Jahrhundert17 und die Romantik (vgl. Klinkert 2002, 35; Schwander 1997, 8). Reinhardt-Becker konstatiert gar ein »vorherrschende[s] Interesse an Friedrich Schlegels ›Lucinde‹, die immer mehr zur Stellvertreterin der Ideen einer ganzen Epoche erklärt wird« (Reinhardt-Becker 2005, 28 f.). Die Frage, welche Epoche ins Zentrum gerückt wird, ist auch in einer anderen Hinsicht interessant. Reinhardt-Becker kritisiert den ausschließlichen Fokus auf das 18. Jahrhundert mit dem Argument, dass die Umwälzungen der Neuen Sachlichkeit genauso radikal gewesen seien: Als letzte große literarische Revolution der Liebessemantik werden überlicherweise Aufklärung, Empfindsamkeit und Romantik genannt, übersehen wird hingegen die radikale Umwälzung der Liebessemantik in der Neuen Sachlichkeit. (Reinhardt-Becker 2005, 22)

Was aber unangetastet bleibt, ist die Idee, dass nur »Revolutionen« und »radikale Umwälzungen« der Liebesdiskurse für die Forschung interessant und relevant seien. In diesem Sinn wird auf ein Verständnis der Zeit um 1800 als »Epochenschwelle« oder »Sattelzeit« rekurriert, die demgemäß auf ihre Neuerungen befragt wird (Klinkert 2002, Vedder 2002). Der Fokus auf den viktorianischen Roman, und insbesondere auf die Mitte des 19. Jahrhunderts, rückt hingegen eine Zeit in den Mittelpunkt des Interesses, die als Konsolidierungsphase angesehen wird. An den Romanen der 40er, 50er und 60er Jahre des 19. Jahrhunderts lässt sich daher besonders gut beobachten, welche Bedeutungen hegemonial werden und wie sie universalisiert und naturalisiert werden. Dieser Prozess findet unter anderem im Roman statt: Armstrong konstatiert für die 1840er einen neuen Boom an domestic fiction, während die Produktion in den vorangegangenen drei Jahrzehnten (zwischen Jane Austen und den Brontës) beinahe zum Erliegen gekommen sei (Armstrong 1987, 161). Die Romane, die ich in dieser Arbeit untersuche, können alle diesem Boom zugeordnet werden. In Übereinstimmung mit Armstrong sehe ich die Romane der Brontës als zentral für diese Entwicklung an, allerdings fokussiere ich neben Charlotte Brontës Jane Eyre (1847) den oft nach wie vor vernachlässigten Roman von Anne Brontë, The Tenant of Wildfell Hall (1848). Dazu kommen zwei Romane, die Ende der 1850er bzw. Anfang der 1860er Jahre erschienen sind: The Woman in White von Wilkie Collins

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Werber betrachtet den Zeitraum von 1650-1800, Bobsin die Zeit von 1770-1800, Vedder die Liaisons dangereuses (1728), um nur einige Beispiele zu nennen. (Für den Forschungsstand vgl. Werber 2003, 45; Reinhardt-Becker 2005, 26 ff.)

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(1859) und The Small House at Allington von Anthony Trollope (186264).18 Den Roman von Collins habe ich ausgewählt, weil er zum Zeitpunkt seines Erscheinens in besonderem Maß Furore machte19 und damit davon ausgegangen werden kann, dass er sich in irgendeiner Weise mit aktuellen Fragen und Problemen beschäftigte. Davon gehen auch die Analysen aus, die ihn im Kontext des Sensationsroman-Genres verorten, und den »sensationellen« Inhalt als Ausdruck bürgerlicher Unsicherheiten und Ängste lesen (z.B. Wynne 2001, Miller 1988).20 Das führt unter anderem zu einer leichten Dominanz psychoanalytischer Interpretationen (Dever 1998, Lougy 2004, Elam 1993), aber auch zu der erfreulichen Tatsache, dass in Analysen von The Woman in White den narrativen Strukturen viel Aufmerksamkeit geschenkt wird (etwa in Case 1999, Perkins/Donaghy 1990, Taylor 1988). Ein weiterer Fokus, der sich allerdings in gewisser Weise beinahe logisch aus dem Romantext ergibt, ist die Auseinandersetzung mit Männlichkeitskonstruktionen (Miller 1988, Rance 1991, Heller 1992, Perkins/Donaghy 1990). Lisa Surridge und Rachel Ablow (Surridge 2005, Ablow 2007) gehören allerdings zu den wenigen, die diese Produktion von Männlichkeit explizit in den Kontext der Liebesgeschichte stellen, wobei sie (auf unterschiedliche Weise) mehr auf die Ehe als auf die Liebe fokussieren. Interessant sind in dieser Hinsicht auch Ansätze, die in der Figur der old maid Marian Halcombe eine Infragestellung der hegemonialen Ehevorstellungen sehen (Dever 2005, Auerbach 1982). Anthony Trollope ist hier vertreten als »one of the most prolific, popular, and richly diverse Victorian writers« (Dever/Niles 2011, 1). Er wird oft als eine Art Chronist der bürgerlichen Kultur seiner Zeit beschrieben (vgl. Markwick/Morse 2009, 2) und als besonders konservativ wahrgenommen: »For some readers, Trollope epitomizes the most conservative, and most Conservative, aspects of Victorian fiction« (Dever/ Niles 2011, 1). Auf der anderen Seite wird vor allem in der Trollope-Forschung der letzten Jahre das Disparate, Überraschende und Subversive an seinen Romanen betont: »Another Trollope has emerged more recently [...] among readers who find in those same novels plots of class mobility in all directions, queer desire, a 18

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Im Folgenden wird auf die benutzten Ausgaben mit folgenden Abkürzungen verwiesen: JE steht für C. Brontë 2008, TWH für A. Brontë 2008, WW für Collins 2008 und SHA für Trollope 2001. Der Roman war, so Tamar Heller, »not merely [...] a best seller but [...] a rage, a sensation, a stimulating food to be ›devoured‹ in one sitting« (Heller 1992, 110). Sichtbar wird das unter anderem an den Konsumgütern, die rund um den Roman produziert wurden. Heller nennt »Woman in White perfume, bonnets, quadrilles« (Heller 1992, 110; vgl. auch Sutherland 2008, vii). Für die Verortung im Kontext der sensation novels allgemein vgl. Kendrick 1977, Brantlinger 1982, Hughes 1980, Loesberg 1986, Rance 1991, Pykett 1994, Taylor 1988.

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uniquely cosmopolitan world view, the subversion of the formal and social imperatives of mid-Victorian realism.« (Dever/Niles 2011, 1) Thematisch gesehen fokussiert die Sekundärliteratur der letzten Jahre vor allem die Themenkomplexe Liberalismus und Imperialismus.21 Die feministische Forschung zu Trollopes Romanen setzte in den späten 1980er Jahren ein (Morse 1987, Nardin 1989). Standen zu Beginn beinahe ausschließlich die Frauenfiguren der Romane im Mittelpunkt (vgl. auch Markwick 1997), differenzierte sich das Feld bald aus (vgl. etwa Turner 2000, Skilton 2011, Langbauer 2011 und Anderson 2007 für den Fokus auf Männlichkeit bzw. das Ideal des Gentleman; Surridge 2005 für die Thematik der häuslichen Gewalt; Sh. Marcus 2007 für eine Analyse von Can You Forgive Her? im Kontext von »Female Marriages«). Im Hinblick auf die Erzählstrukturen der Romane sind ältere (nicht spezifisch feministische) Analysen hilfreich (z.B. Garrett 1980, Herbert 1987, Kincaid 1977). Auf The Small House at Allington fiel die Wahl aus zwei Gründen. Erstens erschien der Roman zu einem Zeitpunkt, als Trollope auf dem Höhepunkt seiner Popularität stand22 , eine Popularität, die mit den Romanen der Barsetshire-Serie23 ihren Anfang nahm (Turner 2011, 9). Doch obwohl diese Serie Trollopes größter Erfolg war, existiert weniger Literatur dazu als zu seiner anderen großen Romanserie, den Palliser-Romanen24 ; vor allem in der feministischen Forschung überwiegen Analysen der Palliser-Serie oder einzelner Romane daraus bei weitem (vgl. u.a. Morse 1987, McMaster 1978, Warhol 1989, Sh. Marcus 2007). Der zweite Grund liegt in einer eigentümlichen Besonderheit der Rezeption von The Small House at Allington: In auffallendem Maß arbeiten sich die Forscher_innen an der Hauptfigur, Lily Dale ab, deren Verweigerung des Happy Ends in der Ehe oftmals zu psychologisierenden und pathologisierenden Urteilen Anlass gibt.25 Besonders deutlich wird diese Haltung und ihre latente Aggressivität

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Das lässt sich gut an den Beiträgen in Markwick/Morse/Gagnier 2009 und Dever/ Niles 2011 sehen, aber vgl. auch Corbett 2000, Goodlad 2003, Forrester 2003 und die Beiträge zu Trollope in Victorian Literature and Culture 32 (2004), 1 zum Thema »Victorian Ireland«. »The 1860s was the period of Trollope’s greatest popularity« (Turner 2011, 10; vgl. auch Turner 2000). Die Barsetshire-Romane sind The Warden (1855), Barchester Towers (1857), Doctor Thorne (1858), Framley Parsonage (1860), The Small House at Allington (1862-64) und The Last Chronicle of Barset (1867). Die Palliser-Serie besteht aus Can You Forgive Her? (1864), Phineas Finn (1869), The Eustace Diamonds (1873), Phineas Redux (1874), The Prime Minister (1876) und The Duke’s Children (1879). Zu Trollopes Erzählserien vgl. Poovey 2011 und W. Cohen 2011. Um nur einige Beispiele zu nennen: McMaster bezeichnet Lily als masochistisch (McMaster 1971), für Polhemus ist sie »perverse and selfish« (Polhemus 1968, 94), für Morse »perverse (if not masochistic) and self-involved« (Morse 1987, 6),

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bei James Kincaid, der über Lily schreibt: »Lily’s own view seems so outrageously arbitrary that we often want to shake her. The temptation to attack her is almost irresistible.« (Kincaid 1977, 127) Legitimiert wird diese Haltung meist – mehr schlecht als recht – durch den Verweis auf Trollopes eigene abfällige Bemerkungen in seiner posthum veröffentlichten Autobiographie. Dort schreibt er über Lily: »In the love with which she has been greeted, I have hardly joined with much enthusiasm, feeling that she is somewhat of a female prig.« (Trollope 1999, 111). Dieses eindeutige Urteil scheint viele Interpret_innen von der Pflicht zu entbinden, sich in ihrer Interpretation tatsächlich auf den Text des Romans zu konzentrieren. Vor allem aber bietet diese Berufung auf die »Intentionen« des Autors einen leichten Ausweg aus der schwer zu erfassenden Komplexität und Widersprüchlichkeit der Figur. Genau das ist es jedoch, was mich besonders an dem Roman interessiert und was folglich (insbesondere in Kapitel 4.2) einen Schwerpunkt der Analyse darstellt. Jane, die Heldin von Jane Eyre, steht Lily Dale in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit um nichts nach, und auch in diesem Fall führte das – in noch größerem Ausmaß – zur Entstehung eines heiß umkämpften und affektiv aufgeladenen wissenschaftlichen Feldes. Cora Kaplan attestiert Jane Eyre, in Anlehnung an Freud, den Status eines »mnemic symbol, a Western cultural monument which has moved generations of its mainly women readers to tears of desire and rage, as well as of loss« (Co. Kaplan 2007, 15). Das gilt vor allem für feministische Auseinandersetzungen mit dem Roman, so Kaplan weiter: »the highly charged emotions that, over time, have frequently accompanied critical responses to Charlotte Brontë’s most enduring novel [...] surface especially in those assessments of which consider Jane Eyre in direct or oblique relationship to its proto-feminist themes« (Co. Kaplan 2007, 16). Die Fülle an Literatur zu Jane Eyre ist schwer zu überblicken und noch schwerer kurz zusammenzufassen. Einen guten Überblick gibt der von Patricia Ingham herausgegebene Band The Brontës (Ingham 2003), in dem sie einige der mittlerweile kanonischen Analysen versammelt: Vertreten sind unter anderem Sandra Gilbert und Susan Gubar, Joyce Zonana, Terry Eagleton und Sharon Marcus (vgl. auch Eagleton 1975, Gilbert/Gubar 2000, Zonana 1993, Sh. Marcus 1995). Aufgrund der Komplexität dieses (feministischen) Forschungsfeldes – und um den Rahmen der Einleitung nicht zu sprengen – nehme ich die genauere Einordnung der Literatur und meine eigene Positionierung darin zu Beginn meiner Analyse von Jane Eyre (Kapitel 5) vor. Die Rezeption von Anne Brontës Romanen Agnes Grey und The Tenant of Wildfell Hall weist zwar einige Gemeinsamkeiten zu der von Jane Eyre und Kincaid schreibt, sie sei »attracted to pain« und »firm unto perversity« (Kincaid 1977, 127).

Einleitung

auf, aber wo Jane Eyre eine Fülle von Analysen hervorrief, wurden Anne Brontës Romane von der Forschung lange vernachlässigt. Dazu kommt, dass in ihrem Fall der Befund, den Armstong in den 1980er Jahren für die gesamte Brontë-Forschung aufgestellt hat, noch im Großen und Ganzen zutrifft (während er im Hinblick auf Charlotte Brontë und insbesondere Jane Eyre sicherlich überholt ist): »literary criticism has compulsively read these novels according to the same psychologizing tropes they formulated. Indeed, contemporary criticism has turned the Brontës’ novels into sublimating strategies that conceal forbidden desires« (Armstrong 1987, 187). Dieser psychologisierende Ansatz steht für Armstrong in engem Zusammenhang mit der Tendenz, die Romane biographisch zu interpretieren: »Brontë criticism has agreed not to dispute the primary assumptions that (1) meaning is grounded in the emotional life of the authors, and (2) in being so autobiographical, their language refers back to a family dynamic which exists prior to its representation in fiction.« (Armstrong 1987, 188) Unter den Analysen von The Tenant scheint sich die Tendenz zur Interpretation des Textes unter Rekurs auf das Leben von Anne Brontë oder auf dieser Basis rekonstruierte Intentionen hartnäckig zu halten (vgl. Berg 1982, Lamonica 2003, Kunert 1978, Talley 2001 u.v.a.).26 Dazu kommen, ähnlich wie bei The Small House at Allington, eine Reihe von Ansätzen, die auf die »Psychologie« der Figuren abzielen und darin meist stark wertend vorgehen (so etwa Jackson 1982, Thormählen 2001, Langland 1989, Jacobs 1986). Erhellend sind hingegen meist Analysen, die den Roman unter einem spezifischen Fokus betrachten. So fokussiert Gwen Hyman auf die Problematik des Alkoholismus (Hyman 2008), Surridge auf Gewalt gegen Frauen in der Ehe (Surridge 2005), Jan B. Gordon und Joshi Priti auf »gossip« als Thema und Struktur (Gordon 1984, Joshi 2009), Elizabeth Langland auf die Beziehung zwischen der narrativen Struktur und den Geschlechterverhältnissen (Langland 1992), um nur einige zu nennen. Für alle untersuchten Romane gilt, dass der Liebesplot darin von zentraler Bedeutung ist, auch wenn keiner von ihnen ausschließlich romance ist, sondern jeder sich gleichzeitig einem anderen Subgenre zuordnen lässt, wie etwa The Woman in White der sensation novel. Für die Benennung solcher Plotstrukturen zirkulieren mehrere Begriffe, die – je nach Fokus – 26

Ein gutes Beispiel dafür liefert Julie Nash in ihrer Einleitung zu dem Band New Approaches to the Literary Art of Anne Brontë, wo sie zwar beklagt, dass Brontës Romane nicht als »Kunst« aufgefasst werden, dann aber selbst bei der Vorstellung eines aus Erfahrung gespeisten individuellen Schaffensprozesses stehen bleibt: »many readers have assumed that Anne Brontë’s talent lay in autobiography, in a strict representation of life as she knew it. This assumption has some truth to it. Anne, like her sisters, did use her experience to help shape her works. [...] But Brontë’s writings go one step further, in that they transform experience into art« (Nash 2001, ix f.). Zur Kritik an Ansätzen dieser Art, insbesondere in Bezug auf die Brontë-Forschung, vgl. Levy 1995.

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manchmal synonym verwendet werden, manchmal aber voneinander unterschieden: romance plot, marriage plot, courtship plot, love-to-marriage plot. Carolyn Dever fasst das Grundprinzip dieses Plots folgendermaßen zusammen: »a young man and a young woman meet, explore their attractions to each other, and eventually make their way to the altar« (Dever 2005, 161). Der romance plot entstand im 18. Jahrhundert, bereits für das Ende des 17. Jahrhunderts kann jedoch eine Bedeutungserweiterung des Begriffs »romance« verzeichnet werden. Hatte er zuvor eine (zuerst vers-, später auch prosaförmige) Geschichte über die Abenteuer eines Ritters bezeichnet, kam nun die Bedeutung der Liebesgeschichte hinzu. Im 18. Jahrhundert, so Andrea Gutenberg, wird »romance nun nicht mehr primär als Gattungsbegriff verwendet [...], sondern [bezeichnet] statt dessen eine spezifische Art von Geschichte oder Plotmuster« (Gutenberg 2000, 158, Hervorh. i.O.). Der romance plot hat die Liebe der heterosexuellen ProtagonistInnen zum Thema und ihre Verheiratung zum Ziel. Beides zusammen konstituiert seine grundlegenden narrativen Ordnungsprinzipien. DuPlessis definiert den romance plot folgendermaßen: What I call a romance or marriage plot is the use of conjugal love as a telos and of the developing heterosexual love relation as a major, if not the only major, element in organizing the narrative action. (DuPlessis 1985, 200)

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Zentral für den Liebesplot ist also nicht nur eine bestimmte Geschichte bzw. bestimmte Figuren, Handlungen, Konflikte, sondern auch eine bestimmte narrative Organisation, die damit untrennbar verbunden ist. Gutenberg und Boone verwenden romance plot als Oberbegriff, dem sie verschiedene Varianten unterordnen. Die Variante, der alle in dieser Arbeit behandelten Romane angehören, ist der courtship plot.27 Hier werden die Liebenden mit Hindernissen konfrontiert: »geographische Trennung, Klassenschranken, elterliche Autorität, psychologische Mißverständnisse und Vorurteile« (Gutenberg 2000, 159). Diese Hindernisse machen die Erfüllung der Liebe unmöglich, zögern sie hinaus und bringen damit erst die narrative Dynamik in Gang. Für den courtship plot ist dabei – anders als z.B. für den seduction plot – das Happy End hegemonial. Hier wird nicht nur der Spannungsbogen geschlossen, sondern darüber hinaus die Bedeu-

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Außerdem nennen Gutenberg und Boone übereinstimmend den seduction plot und den wedlock plot, wobei alle diese Kategorien auch weiter unterteilt werden können (Gutenberg 2000, Boone 1987), was unter anderem daran erinnert, dass es sich bei all diesen Begriffen um Klassifikationen handelt, die aufgrund bestimmter Merkmale vorgenommen werden, die mit Rekurs auf andere Merkmale bzw. Klassifikationsprinzipien aber ganz anders aussehen könnten. Weil es in meiner Arbeit nur um den courtship plot geht und es sich dabei um die Mitte des 19. Jahrhunderts dominante Form des romance plot handelt, werde ich diese beiden Begriffe synonym verwenden.

Einleitung

tungsproduktion und Sinnstiftung des Romans für endgültig abgeschlossen erklärt. Im Happy End bekommen alle Figuren, was sie »verdienen«, und damit wird alles, was zuvor im Roman geschehen ist, für bedeutsam erklärt. Das Happy End ist sozusagen die »Wertungsinstanz« des Romans: Auch wenn zuvor verschiedene Möglichkeiten aufgefächert wurden, im Happy End zeigt sich, welche »richtig« waren, weil sie zum glücklichen Ende führen, und damit werden die angebotenen Handlungsspielräume wieder reduziert. Das Happy End ist demnach das eigentlich konservative Element der Liebesgeschichte, insofern, als darin der Status quo bestätigt und wiederhergestellt wird. So sieht das auch Ina Schabert, wenn sie eine Parallele zwischen der Institution Ehe und dem Liebesroman zieht: Der Ehebund institutionalisiert nicht nur das individuelle Glück von zwei Menschen, er bestätigt die religiösen, juristischen, moralischen und ökonomischen Ordnungsstrukturen der Gesellschaft. Desgleichen sind Liebes- und Ehegeschichten nicht einfach Geschichten von zwei Personen, die über Hindernisse zueinander finden und eine Familie gründen. Es sind zugleich gesellschaftlich repräsentative, autoritätshaltige Geschichten von der Suche nach Bedeutung. Über Verirrungen und Konflikte erreicht das Paar einen Konsens, der die Werte der Gesellschaft, mit der sie sich durch die Heirat identifizieren, reformierend und regenerierend bestätigt. (Schabert 1997, 522)

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts werden an dieser gesellschaftlichen und narrativen Sinnstiftung vermehrt Zweifel angemeldet, was sich in der stark gestiegenen Produktion von Liebesgeschichten ohne Happy End niederschlägt. Für die Zeit um die Mitte des Jahrhunderts, aus der die hier analysierten Romane stammen, ist das Happy End allerdings die dominante Form.28 Die Romananalysen, die in dieser Arbeit vorgenommen werden, arbeiten mit erzähltheoretischen Konzepten, Begrifflichkeiten und Analysewerkzeugen. Sie ermöglichen es wie keine andere Methode, die »Bauweise« von Erzählungen auseinanderzunehmen, um herauszufinden, wie diese die Wirkungen erzielen, die sie erzielen, und damit der Spezifik literarischer Erzählungen gerecht zu werden. Gerade an feministischen Literaturanalysen wird oft kritisiert, dass die Analysen zu sehr auf den Inhalt der Erzählung fokussieren, etwa auf dargestellte Geschlechterrollen oder auf die symbolische Codierung von Geschlecht. Robyn Warhol stellte 1989 die Frage: »Why don’t feminists ›do‹ narratology?« (Warhol 1989, 3), während Susan Lanser bereits 1986 dafür plädierte, narratologische Ansätze für die feministische Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen. Lansers Artikel »Toward a Feminist Narratology« (Lanser 1986) brachte ihr zunächst erbit28

Dass deswegen nicht jede Geschichte so enden muss, zeigt The Small House at Allington von Anthony Trollope. Hier wird gleichzeitig die Erwartung eines glücklichen Endes in Form einer Heirat der ProtagonistInnen produziert und eben dieses Ende verweigert.

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»The Power of Love«

terte Kritik von narratologischer Seite und wenig Echo von feministischer ein. In der Zwischenzeit kann nicht mehr gesagt werden, dass es keine feministische oder »gender-orientierte« (V. Nünning/A. Nünning 2004) Erzähltheorie gäbe. Allein der 2004 von Vera und Ansgar Nünning herausgegebene Band »Erzähltextanalyse und Gender Studies« beweist das Gegenteil. Dennoch werden die Möglichkeiten, die die Narratologie bietet, meines Erachtens immer noch nicht ausreichend genutzt, vor allem im Kontext kritischer Wissensproduktion. Mittlerweile kann allerdings kaum mehr von der Narratologie gesprochen werden, ohne wenigstens ein Adjektiv davorzusetzen – nicht zuletzt aufgrund der Intervention von feministischen und post-kolonialen Wissenschaftler_innen. Seit den 1980er Jahren wurde die »klassische« strukturalistisch orientierte Narratologie immer wieder scharfer Kritik unterzogen. Bemängelt wurde etwa die völlige Abwesenheit der Kategorie Geschlecht oder, allgemeiner, die Vorstellung, mit der Narratologie könne ein objektives, ahistorisches und kontextunabhängiges Beschreibungsrepertoire für Erzähltexte bereitgestellt werden. Warhol stellt fest: [...] not only gender, but all variables of context remain outside of classical narratology’s realm. As proponents of structuralism, the first practitioners of narratology lifted texts out of their contexts in order to distill from them the essential structures that characterize all narrative. If a general theory of narratology were to consider the influence of gender on the production of certain kinds of narrative structures, for instance, it would depart from the basic premises of a study that – in its earliest, strictest forms – purported to operate ahistorically, outside the restrictions imposed by consideration of the period and circumstances in which a text is written. (Warhol 1989, 4)

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Ansätze einer »post-klassischen«, »erweiterten«, »reformierten«, »kontextualisierten« oder »kulturgeschichtlichen« Erzähltheorie (vgl. V. Nünning/ A. Nünning 2004 und 2002 sowie A. Nünning/V. Nünning 2002) weichen genau hier von der »klassischen« Narratologie ab. Sie gehen von der Semantisierung literarischer Formen aus, also davon, dass sich in den narrativen Strukturen selbst Bedeutungen abgelagert haben. Aufgabe der Textanalyse ist es dann unter anderem, zu analysieren, wie in Erzählungen Bedeutungen produziert werden, wie diese Bedeutungsproduktion maskiert und naturalisiert wird, und welche disziplinierenden und normalisierenden Effekte damit einhergehen. Literarische Formen werden als historisch wandelbar und damit als umkämpfte Orte gesellschaftlicher Aushandlungen gesehen. Die Vorstellung von Literatur als Verhandlungsraum, die hier anklingt, wurde maßgeblich von Stephen Greenblatt geprägt.29 In seiner Analyse der 29

Für Astrid Erll und Simone Roggendorf stellen die Arbeiten von Greenblatt und die Strömung des New Historicism entscheidende Faktoren für die Ausprägung einer »kontextualisierten« Narratologie dar (Erll/Roggendorf 2002).

Einleitung

Dramen von Shakespeare verabschiedet er sich von der Vorstellung der Autor_in als Genie, das das literarische Werk aus sich selbst hervorbringt, und plädiert für eine Betrachtung literarischer Werke als kollektive Produkte: I propose that we begin by taking seriously the collective production of literary pleasure and interest. We know that this production is collective since language itself, which is at the heart of literary power, is the supreme instance of a collective creation. But this knowledge has for the most part remained inert, either cordoned off in prefatory acknowledgements or diffused in textual analyses that convey almost nothing of the social dimension of literature’s power. Instead the work seems to stand only for the skill and effort of the individual artist, as if whole cultures possessed their shared emotions, stories, and dreams only because a professional caste invented them and parceled them out. (Greenblatt 1988, 4)

Greenblatt fragt, wie die soziale Energie entstehe, die es Kunstwerken ermögliche, »to produce, shape, and organize collective physical and mental experiences« (Greenblatt 1988, 6), und wie bestimmte Kunstwerke eine so breite und fortdauernde Wirkung entfalten könnten: »I want to understand the negotiations through which works of art obtain and amplify such powerful energy.« (Greenblatt 1988, 7) Greenblatt demonstriert eindrücklich, dass eine Vorstellung von Literatur als »Spiegel« der Gesellschaft viel zu kurz greift. Für eine Analyse literarischer Texte als Orte gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse ist dabei ein Verständnis der Funktionsweisen von Texten essenziell. Hier ist das detaillierte Vokabular der Narratologie sehr hilfreich, um Texte besser beschreiben, vergleichen und über sie kommunizieren zu können und damit literarische Konventionen in den Blick zu bekommen, so Warhol: »[Narratology] can do what feminist aesthetic criticism, for example, cannot do: describe exactly what the conventions of fictional discourse are and how they operate.« (Warhol 1989, 13) Trotz aller Kritik an der »klassischen« Narratologie wird in neueren Ansätzen also die Einsicht übernommen, dass es wichtig und lohnend ist, Techniken, Konzepte und Begriffe zur detaillierten Beschreibung literarischer Texte zu entwickeln und anzuwenden. Hier treffen sich meines Erachtens Erzähltheorie und Diskursanalyse (im Foucault’schen Sinn30 ) in zwei wichtigen Aspekten: Sie setzen beide an dem an, was da ist, also gewissermaßen an der »Oberfläche« (bzw. indem sie die z.B. hermeneutische 30

Hanna Meißner fasst Foucaults Ansatz in der Untersuchung von Diskursen wie folgt zusammen: »Ebenso wie die ›Wahrheit‹ ist auch die ›Wirklichkeit‹, auf die sich diese Wahrheit bezieht, historisch. Wenn in Diskursen nicht über gegebene Objekte verhandelt wird, sondern die Diskurse diese erst hervorbringen, dann stehen Wahrheit und Wirklichkeit in einem komplexen Konstitutionszusammenhang. [...] auch hier lassen sich bestimmte diskursive Formen und Regelmäßigkeiten (einschließlich ihrer Dynamiken und Instabilitäten) rekonstruieren, die eine bestimmte, historische Wirklichkeit hervorbringen.« (Meißner 2010, 100)

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»The Power of Love«

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Produktion von »Tiefe« als spezifische Technologie betrachten), und versuchen das, was da ist, erst einmal zu beschreiben; und sie fragen beide immer wieder nach dem »Wie«: Wie wird etwas thematisiert oder dethematisiert, wie zum Problem gemacht, wie werden Grenzen des Sagbaren festgelegt bzw. verschoben? In gewisser Weise kann diese Arbeit also entweder als Diskursanalyse verstanden werden, die sich der Erzähltheorie bedient, um die Spezifik erzählender Texte in den Blick zu bekommen; oder aber auch als eine erzähltheoretisch fundierte Arbeit, die aus der Diskursanalyse vor allem das Insistieren auf der Frage nach den Machtverhältnissen übernimmt: Wem nützt es? Wozu ist es gut? Welche Ausschlüsse produziert es? In der strukturalistischen Narratologie ist die Frage nach dem »Wie« Bestandteil der zentralen Unterscheidung zwischen den verschiedenen Ebenen eines Erzähltextes, die in den meisten neueren Ansätzen beibehalten wird. Während die Frage »Was wird erzählt?« auf die histoire-Ebene abzielt, richtet sich die Frage »Wie wird erzählt« auf die discours-Ebene.31 Geht man davon aus, dass auch die Art und Weise, wie eine Geschichte erzählt wird, Bedeutung produziert, kann es sich bei dieser Trennung nur um eine analytische handeln – letztendlich entsteht Bedeutung natürlich aus dem Zusammenspiel der beiden Ebenen. Die »klassische« Narratologie widmet sich allerdings fast ausschließlich der Wie-Ebene. Das von Gérard Genette ausgearbeitete Begriffsrepertoire, für das er viele Neologismen prägte (vgl. v.a. Genette 1972), ist dabei zu einer Art Standard oder »lingua franca« (Ryan/van Alphen 1993, 112) geworden. Ins Deutsche übertragen wurden seine Begriffe von Matias Martinez und Michael Scheffel (Martinez/Scheffel 2005). Genette führte vor allem wichtige Differenzierungen in die Analyse von Zeitrelationen ein, indem er zwischen Dauer, Ordnung und Frequenz der Erzählung unterschied. Eine noch folgenreichere Präzisierung brachte sein Beharren auf der Trennung zwischen Stimme und Fokalisierung mit sich, die einmal die Erzählinstanz bezeichnen (»Wer spricht?«) und einmal den Blickwinkel, aus dem erzählt wird (»Wer sieht?« oder allgemeiner »Wer nimmt wahr?«). Genettes Begriffe haben den Vorteil, dass sie differenziert und präzise sind. Warhol hebt die Nützlichkeit der Terminologie hervor: »Narratology has given us names for literary conventions that formalist terminology made very difficult to discuss.« (Warhol 1989, 13) Mitunter hat das narratologische Vokabular allerdings die gegenteilige Wirkung und erschwert gerade durch seine »technische« Präzision das Nachvollziehen der Analyse, vor allem für Nicht-Literaturwissenschaft31

Die genaue Unterscheidung ist in jeder Theorie anders. Oft werden auch drei Ebenen unterschieden, wie etwa bei Genette (Genette 1972). Für eine Auffächerung der verschiedenen Begriffsprägungen und ihre Differenzen siehe Martinez/ Scheffel 2005, v.a. 20-26.

Einleitung

ler_innen. In den Analysen greife ich daher nur dort auf die narratologischen »Fachbegriffe« zurück, wo es nötig erscheint, und erläutere sie an der jeweiligen Stelle. Das folgende Kapitel umreißt die Denkwerkzeuge und analytischen Konzepte, die dieser Arbeit zugrunde liegen. Dort präzisiere ich, was ich unter gesellschaftlichen Strukturen verstehe. Das betrifft in erster Linie die heteronormative Geschlechterordnung und die Klassenverhältnisse, denen wiederum eine spezifische Subjektivität eingeschrieben ist. Auch die Ordnung des realistischen Romans, die in der Einleitung bereits zur Sprache kam, wird dort genauer betrachtet. Vor diesem theoretischen Hintergrund setzt Kapitel 3 – im Sinne des diskursanalytischen Ansatzes – an der »Oberfläche« der Texte an. Anhand der sehr einfachen Frage, wie in den Romanen Liebe thematisiert wird, werden in der Folge Verknüpfungen und Dichotomisierungen identifiziert. Nebenbei bietet dieses Kapitel einen Einstieg für Leser_innen, die mit dem viktorianischen Roman im Allgemeinen oder den hier behandelten Romanen im Besonderen nicht so vertraut sind. Der Plot jedes Romans wird kurz beschrieben, seine wichtigsten ProtagonistInnen eingeführt sowie seine zentralen Themen benannt und zueinander in Beziehung gesetzt. So entsteht ein erstes Bild davon, was im viktorianischen Roman (und damit Mitte des 19. Jahrhunderts) als »Liebe« verhandelt wurde. Außerdem zeige ich, wie zentral die Verknüpfung von Liebe und Glück für die Romane ist. Kapitel 4 und 5 bilden den Hauptteil des Buches und beinhalten die eigentlichen Textanalysen. In Kapitel 4 werden Anne Brontës The Tenant of Wildfell Hall und Anthony Trollopes The Small House at Allington einer vergleichenden Analyse unterworfen, während Kapitel 5 Lektüren von Charlotte Brontës Jane Eyre und Wilkie Collins’ The Woman in White vereint. Dort, in Kapitel 5, steht der Erzählakt im Zentrum und damit die Frage, wie sich die Erzählerin bzw. der Erzähler als liebendes und narratives Subjekt entwirft. Daraus resultiert der thematische Fokus: Die Analyse von Jane Eyre konzentriert sich auf Janes »fehlende Schönheit« oder »Häßlichkeit« und kann davon ausgehend Zusammenhänge zwischen einer bestimmten Art bürgerlicher Weiblichkeit und erzählerischer Kontrolle bzw. Unzuverlässigkeit aufzeigen. In ähnlicher und doch sehr unterschiedlicher Weise beschreibe ich für The Woman in White das Zusammenspiel von gesellschaftlichem Aufstieg, »Mannwerdung«, erzählerischer Kontrolle und Detektivarbeit. Während sich Kapitel 5 also auf die Erzählstimme und damit auf das liebende Subjekt konzentriert, stehen in Kapitel 4 die Objekte des Begehrens im Zentrum: die ProtagonistInnen der Liebesgeschichte. Dabei geht es jedoch ausdrücklich nicht nur um die Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit in den Romanen. Vielmehr untersuche ich, wie die Texte

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»The Power of Love«

komplexe Anrufungen an ihre Leser_innen produzieren, zu einem bestimmten heterosexuell vergeschlechtlichten und bürgerlich klassifizierten Subjekt zu werden. Gerade die Struktur der Liebesgeschichte, mit ihrem zentralen Plotelement der Wahl zwischen verschiedenen möglichen PartnerInnen bringt es mit sich, dass die Figuren im Hinblick darauf bewertet werden, ob sie begehrenswert sind, was im heteronormativen System wiederum eng an ihre Weiblichkeit bzw. Männlichkeit gekoppelt ist. Auf diese Weise entfalten die Liebesgeschichten in besonderer Weise normalisierende Macht. Und diese bezieht sich nicht nur auf Geschlecht, sondern auch auf Klasse: denn, so viel kann bereits vorweggenommen werden, Weiblichkeit und Männlichkeit sind immer dann besonders begehrenswert, wenn sie besonders bürgerlich sind. Viele dieser Zusammenhänge sind heute noch höchst wirksam. Dieses Buch will die Machtstrukturen aufzeigen, die diesem verbreiteten Modell der Liebesgeschichte zugrunde liegen – in der Hoffnung, damit vielleicht einen kleinen Teil zu ihrer Destabilisierung beizutragen.

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2 . Die Liebe, der viktorianische Roman und das bürgerliche Subjekt der Moderne Kontextualisierungen In diesem Kapitel werden zentrale Begriffe und theoretische Ausgangsprämissen geklärt, auf die in den darauf folgenden Textanalysen aufgebaut werden kann. Dabei geht es nicht darum, eine Definition von Liebe zu liefern. Die Frage, wie Liebe im Roman um die Mitte des 19. Jahrhunderts entworfen wird und welche Effekte das mit sich bringt, soll anhand der Textanalysen geklärt werden. Hier werden vielmehr die in der Einleitung angedeuteten theoretischen und historischen Zusammenhänge genauer erläutert. Dabei geht es in erster Linie um ein theoretisch informiertes Verständnis moderner Subjektivität; um die historische Kontextualisierung der bürgerlichen Ordnung des 19. Jahrhunderts, für die diese Form der Subjektivität konstitutiv war; und um den realistischen Roman, der als Forum für die Etablierung der bürgerlichen Ordnung und der Konsolidierung moderner Subjektivität verstanden werden kann. Um eine solche Kontextualisierung zu bewerkstelligen, muss hier notwendigerweise mit »großen Linien« gearbeitet werden, eine Vorgehensweise, die immer eine retrospektive Ordnung und Glättung und die nachträgliche Konstruktion von Kausalitäten mit sich bringt. Trotzdem ist eine solche Erzählung hilfreich, um die Analyse der konkreten Aushandlungsprozesse in einen größeren historischen und gesellschaftlichen Rahmen einordnen zu können. Wo dieses Kapitel die großen Linien malt, fokussieren die darauf folgenden Textanalysen Widersprüche und Ambivalenzen, allerdings immer noch mit Blick auf die Frage der hegemonialen Bedeutungen und der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Dabei wird unter anderem deutlich, dass die Unterscheidung zwischen Phasen des Umbruchs und Phasen der Konsolidierung nur retrospektiv und aus einer gewissen Distanz getroffen werden kann. Denn was aus der Ferne als »stabil« erscheint, ist aus der Nähe betrachtet genauso durch Widersprüche, Aushandlungsprozesse und Wandel gekennzeichnet wie sogenannte Zeiten der Transformation. Wird die Aufmerksamkeit jedoch ausschließlich auf die Ambivalenzen des Konkreten (konkreter Texte und Handlungen zum Beispiel) gelegt, geraten größere Zusammenhänge – und damit oft die Frage nach gesellschaftlichen Machtverhältnissen – leicht aus dem Blick.

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Daher muss der Versuch unternommen werden, beide Perspektiven – die »große Erzählung« und die konkrete Analyse – gleichzeitig präsent zu halten und immer wieder in Beziehung zueinander zu setzen.1 Auf diese Weise können, bei aller Skepsis gegenüber Generalisierungen und Vereinfachungen, dennoch Grundzüge der bürgerlichen Ordnung des 19. Jahrhunderts benannt werden. Im Folgenden sollen dementsprechend einige große Linien dieser Ordnung aufgezeigt und Ausgangshypothesen für die Textanalyse formuliert werden.

2.1 Liebe und moderne Subjektivität Wie bereits in der Einleitung dargelegt, tendieren Versuche der genaueren Bestimmung des Gegenstandes Liebe dazu, ein ahistorisches und allgemein menschliches Wesen der Liebe vorauszusetzen. Kerstin Jergus, die das (wissenschaftliche und biographische) Sprechen über Liebe in ihrer Dissertation untersucht hat, fasst die wiederkehrenden Grundmuster dieser »Thematisierungseinsätze« zusammen: Über und von Liebe zu sprechen ruft offenbar eine Thematik auf, die sich der Eindeutigkeit zu entziehen scheint. [...] Der Liebe scheint einige Unbestimmtheit zu eignen [sic], die dazu führt, sie kaum erschöpfend erfassen zu können. Zugriffe und Begriffe scheinen in ihren Versuchen, dem Phänomen der Liebe beikommen zu wollen, scheitern zu müssen – dieses sich Entziehende stattet zugleich die Thematisierungen von Liebe und Verliebtheit mit einiger Faszination und Attraktivität aus. Dies insbesondere, da es sich augenscheinlich um eine anthropologisch dimensionierbare Angelegenheit handelt, in der die Bedeutsamkeit des Denkens und Sprechens über Liebe und Verliebtheit einen Anlass findet. (Jergus 2011, 7 f., Hervorh. i.O.)

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Jergus’ Betrachtung von verschiedensten (westlichen) Theorien über Liebe zeigt die Notwendigkeit einer konsequenten Historisierung von Liebe auf. Zudem wird an ihrer Zusammenfassung implizit deutlich, dass Definitionen von Liebe in den allermeisten Fällen auf die Vorstellung eines universellen autonomen Subjekts rekurrieren – eine Vorstellung, die vor allem von poststrukturalistischen und feministischen Theoretiker_innen intensiv in Frage gestellt und kritisiert worden ist. Hanna Meißner sieht in der Hinterfragung dieser Subjektkonzeption eine der zentralen Gemeinsamkeiten der Ansätze von Judith Butler, Michel Foucault und Karl Marx: Butler, Foucault und Marx stehen damit in der Tradition einer Kritik an der Vorstellung eines autonomen, überhistorischen Subjekts und gehen davon aus, dass keine Aussagen über ein allgemeines Wesen des Menschen möglich sind. Sub1

Lynn Hunt plädiert in ähnlicher Weise für die Kombination verschiedener Zeitperspektiven. Sie unterscheidet zwischen der Perspektive des »long term (several centuries)« und »medium term (the epoch)« und dem Fokus auf einzelne Ereignisse (»short term«) (Hunt 1998, 91).

Kontextualisierungen

jektivität wird vielmehr als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet. Ausgangspunkt ihrer Analysen ist daher nicht der Mensch, sondern sind vielmehr die Strukturen, die bestimmte Formen von Subjektivität hervorbringen. (Meißner 2010, 11)

Die Liebe, so lautet eine der zentralen Ausgangshypothesen meiner Arbeit, ist eine solche Struktur. Sie ist Teil der jeweils spezifischen gesellschaftlichen Machtverhältnisse und damit an der Hervorbringung von je spezifischen Formen von Subjektivität beteiligt. Welche Formen das sind und wie der Zusammenhang mit Liebe gedacht werden kann, ist Gegenstand dieses Abschnitts. Weil dafür jedoch Untersuchungen zu Liebe – mit einigen Ausnahmen, auf die ich in der Folge eingehen werde – wenig ergiebig sind, setze ich bei Begehrenstheorien an, um auf einem Umweg (der – wie ich zeigen werde – keiner ist) einige Grundzüge der Liebe in der westlichen Moderne zu skizzieren. Der Umweg über Begehren impliziert keineswegs eine Analogie oder gar Gleichsetzung von Begehren und Liebe. Das Verständnis von Begehren, das im Folgenden skizziert wird, wird vielmehr als konstitutives Element moderner souveräner Subjektivität und damit auch der modernen Ordnung der Liebe verstanden und muss als solches analysiert und kritisiert werden, vor allem in Hinblick auf den universellen Anspruch, der auch vielen Begehrenstheorien eingeschrieben ist. Kritisch hinterfragt wurden diese bereits vielfach von poststrukturalistischer und feministischer Seite. Die Kritik fokussiert vor allem eine dominante westliche Tradition, Begehren zu denken, die Doris Kolesch – in Anlehnung an François Lyotard – den »abendländischen grand récit des Begehrens« nennt (Kolesch 2007, 81, Hervorh. i.O.). Kolesch zeichnet, in Übereinstimmung mit Elizabeth Grosz (Grosz 1995), eine Linie, die von Platons Symposion, dem »einflussreichen Gründungstext« dieser Tradition (Kolesch 2007, 81), über Hegels Phänomenologie des Geistes bis zur Psychoanalyse reicht. Gemeinsam ist all diesen Ansätzen, dass sie Begehren in Begriffen der Unerfüllbarkeit und des Mangels begreifen. Bezogen auf die Schriften von Sigmund Freud, Thomas Hobbes und Karl Marx schreibt Kolesch: Trotz aller Unterschiedlichkeit hinsichtlich des kulturellen und geistesgeschichtlichen Kontextes wie auch des jeweiligen Interessenschwerpunkts der drei hier nur exemplarisch genannten Theoretiker stimmen sie in einem wichtigen Punkt überein: Ihre psychoanalytische, staatstheoretische oder auch ökonomische Reflexion des Begehrens gründet darauf, dieses an einen Mangel zu knüpfen, der überwunden, aufgehoben oder gestillt werden soll, was sich jedoch als zum Scheitern verurteiltes Unterfangen erweist. (Kolesch 2007, 81)

Die »Ontologisierung des Mangels« (Kolesch 2007, 81), die diese Konzeption von Begehren mit sich bringt, wird von Grosz – stellvertretend für viele andere feministische Theoretiker_innen – für ihre Festschreibung von dichotomen Geschlechterkategorien kritisiert:

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»The Power of Love«

Now this notion of desire as an absence, lack, or hole, an abyss seeking to be engulfed, stuffed to satisfaction, [...] inherently sexualizes desire, coding it in terms of the prevailing characteristics attributed to the masculine/feminine opposition – presence and absence. [...] it is precisely such a model, where desire lacks, yearns, seeks, but is never capable of finding itself and its equilibrium, that enables the two sexes to be understood as (biological, sexual, social and psychical) complements of each other – each is presumed to complete, to fill up, the lack of the other. (Grosz 1995, 177, Hervorh. i.O.)

Dem Mangel des Begehrens liegt damit die Logik der Komplementarität der Geschlechter und ihres heterosexuellen Aufeinander-Bezogenseins zugrunde – ein Zusammenhang, dem Judith Butler in ihren Überlegungen zur »heterosexuellen Matrix« intensiver nachgeht. Den Begriff der »heterosexuellen Matrix« definiert sie wie folgt: I use the term heterosexual matrix throughout the text to designate that grid of cultural intelligibility through which bodies, genders, and desires are naturalized. I am drawing from Monique Wittig’s notion of the »heterosexual contract« and, to a lesser extent, on Adrienne Rich’s notion of »compulsory heterosexuality« to characterize a hegemonic discursive/epistemic model of gender intelligibility that assumes that for bodies to cohere and make sense there must be a stable sex expressed through a stable gender (masculine expresses male, feminine expresses female) that is oppositionally and hierarchically defined through the compulsory practice of heterosexuality. (Butler 1999, 194, Hervorh. i.O.)2

Damit radikalisiert Butler das Verhältnis zwischen Geschlecht und Begehren, indem sie die Kausalitäten umdreht: Heterosexuelles Begehren leitet sich nicht aus einem dichotomen (und stereotypen) Geschlechterverständnis ab, es bildet vielmehr die Struktur, die Zweigeschlechtlichkeit überhaupt erst produziert. Diese Verschiebung hat weitreichende Konsequenzen, insbesondere in Bezug auf die Frage der Subjektkonstitution. Denn Butler zufolge ist »Geschlecht« nicht etwas, das ein Subjekt »hat«, sondern eine intelligible Geschlechtsidentität fungiert als Bedingung für die Subjektwerdung: The »activity« of this gendering cannot, strictly speaking, be a human act or expression, a wilful appropriation, and it is certainly not a question of taking on a mask; it is the matrix through which all willing first becomes possible, its enabling cultural condition. In this sense, the matrix of gender relations is prior to the emergence of the »human«. (Butler 1993, 7, Hervorh. i.O.)

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Butler betont aber auch, dass durch ihre Kritik an universalistischen Subjektkonzeptionen nicht – wie von Kritiker_innen oft behauptet – das Subjekt selbst verschwindet oder jeglicher Handlungsfähigkeit beraubt wird.

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Wittig formuliert ihre Vorstellung des heterosexuellen Vertrags vor allem in den Aufsätzen The Straight Mind (1980) und One is not born a woman (1981), die beide in ihrem Sammelband The Straight Mind (Wittig 1992) enthalten sind. Um Adrienne Richs Konzept der Zwangsheterosexualität geht es in ihrem Text Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence von 1980, der ebenfalls in einem Sammelband verfügbar ist (Rich 1994).

Kontextualisierungen

Vielmehr wird dadurch ein Wechsel der Perspektiven möglich: »To claim that the subject is itself produced in and as a gendered matrix of relations is not to do away with the subject, but only to ask after the conditions of its emergence and operation.« (Butler 1993, 7) In Frage gestellt wird das als autonom entworfene humanistische Subjekt, das aber gleichzeitig als eine historische Realität anerkannt wird, die es zu analysieren gilt. Das Subjekt wird gleichzeitig als real und kontingent verstanden, so Meißner: Butler geht [...] davon aus, dass die Betonung der Kontingenz dieses besonderen Subjekts nicht bedeutet, dass seine Wirklichkeit und Realitätsmächtigkeit bestritten werden müsste – vielmehr betrachtet sie es als historische Singularität. Dadurch setzt sie es als (historisch) realen Bezugspunkt ihrer Geschlechtertheorie voraus. (Meißner 2010, 22, Hervorh. i.O.)3

In diesem Sinn ist das moderne Subjekt immer schon ein vergeschlechtlichtes Subjekt – eine Beobachtung, die für die Textanalysen der folgenden Kapitel von großer Bedeutung ist. Denn in der Analyse der Subjektivierungsprozesse, die in der Liebesgeschichte stattfinden, muss die Produktion von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität beständig berücksichtigt werden. Dafür ist zudem ein weiterer Aspekt der Kritik am hegemonialen Begehrensmodell von Bedeutung, mit dem sich die Hierarchisierung genauer erfassen lässt, die dem System heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit eingeschrieben ist. Mit dem Konzept des »Phallogozentrismus«, das unter anderem von Luce Irigaray, Hélène Cixous und Jacques Derrida geprägt wurde, lässt sich eine zentrale Struktur abendländischen Denkens beschreiben. Phallogozentrismus ist ein Neologismus, der aus dem Zusammenziehen von »Phallozentrismus« und »Logozentrismus« entstanden ist. Mit diesem Ansatz kann erfasst werden, dass Sinn und Bedeutung in der abendländischen Struktur des Denkens durch binäre, hierarchisch geordnete Oppositionen produziert werden: Kultur/Natur, Form/Materie, Vernunft/Gefühl, Geist/Körper und so weiter, wobei der hierarchisch übergeordnete Teil in Abgrenzung von »seinem« Anderen definiert wird, während der untergeordnete Teil als abgeleitet gilt. Letztlich liegt all diesen Oppositionen eine patriarchale Hierarchisierung der Geschlechterdifferenz zugrunde, deren zentraler Signifikant der Phallus ist und die sich darin manifestiert, dass der übergeordnete Begriff immer männlich, der untergeordnete hingegen weiblich konnotiert ist. Cixous formuliert das zum Beispiel so: 3

Meißner betont einerseits, dass Butler sich explizit und implizit in ihren Analysen durchgehend »auf die spezifische Gestalt des modernen Subjekts bezieht« (Meißner 2010, 22), kritisiert aber auch, dass diese Vorannahme von Butler nicht ausreichend reflektiert werde. Damit liefen Butlers Theorien Gefahr, wiederum universelle Strukturen von Subjektivität (und Begehren) festzuschreiben – oder zumindest als eine solche Festschreibung rezipiert zu werden (Meißner 2010, 23).

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Immer schon hat das Denken in Oppositionen gearbeitet – Sprechen/Schreiben Hoch/Tief Mit binären Oppositionen, hierarchisiert. Höherstehend/Untergeordnet. Mythen, Legenden, Bücher. Philosophische Systeme. Überall dort, wo Ordnung hergestellt wird, organisiert ein Gesetz das Denkbare mit Hilfe von Oppositionen (binären, unversöhnlichen; oder sich aufhebenden, dialektischen). Und alle Oppositionspaare sind Paare. Will das etwas heißen? Besteht ein Zusammenhang zwischen »dem« Paar, Mann/Frau, und der Tatsache, daß der Logozentrismus das Denken, d.h. alle Begriffe, Chiffren, Werte, einem zweigliedrigen System unterordnet? (Cixous 1976, 135, Hervorh. i.O.)

Begehren kann in diesem Modell nur als männliches Begehren gedacht werden, als Begehren des (männlichen) Subjekts nach dem (weiblichen) Objekt (vgl. Grosz 1995, 177 f.; siehe auch Irigaray 1980). Dieter Mersch leistet in dieser Hinsicht einen weiteren Beitrag zur Historisierung des Begehrens, denn er bringt die beschriebene hierarchische Struktur mit der modernen Konzeption von Subjektivität in Verbindung4 : Im grundlegenden Unterschied zur Antike hat das neuzeitliche Bewusstsein das Verlangen subjektiviert und damit vom Anderen getrennt. [...] Das Subjekt [...] konstituiert sich als Individuum, das nicht nur seine Autonomie behauptet, d.h. sich als frei weiß, sondern das sich selbst als Souverän setzt und dadurch vom Anderen unterscheidet. Die Konzeption impliziert eine Differenz, wie sie sich durch die Teilung zwischen Subjekt und Objekt manifestiert, wobei die Subjektivität die Seite der actio und die Objektivität die Seite der passio besetzt. (Mersch 2007, 106, Hervorh. i.O.)

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Souveränität bedeutet demnach, dass das Ich der Welt gegenübergestellt und von ihr getrennt wird. Das Andere kann damit nur Objekt der Aneignung sein, an das das Subjekt gleichzeitig gebunden bleibt, weil es nur in der Abgrenzung vom Anderen sein Ich definieren kann. Die Souveränität des Subjekts, seine fundamentale Abgrenzung vom Anderen, führt zu einer Art existentieller Einsamkeit: Es ist abhängig vom Anderen, muss diese Abhängigkeit um seiner Souveränität willen aber immer verleugnen. Dadurch, so Mersch, entsteht erst der Mangel, der das (unerfüllbare) Begehren zu einer Konstante des Subjekts macht: Daraus folgt aber, dass das Subjekt – von Anfang an seiner Stellung zum Anderen beraubt – nicht nur der Situation des Mangels untersteht, sondern ihn produziert. Die Verfehlung ist ihm nicht eingeboren, wie Schopenhauer oder manche psychoanalytische Deutungen nahe legen; sie geht ihm nicht voraus, bildet nicht seine Bedingung, sondern wird von ihm ununterbrochen erzeugt. (Mersch 2007, 108, Hervorh. i.O.)

Mersch betont, dass diese spezifische Form von Subjektivität, die das Subjekt als Souverän setzt, Grundlage aller modernen Gefühle ist – und be4

Allerdings ohne Berücksichtigung der ihr eingeschriebenen hierarchisierten Vergeschlechtlichung.

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merkt damit gleichzeitig, dass Gefühle auch in ihrer Körperlichkeit immer historisch sind: Alle Gefühle der Neuzeit, zumal das Verlangen, das sie grundiert, haben diese Kontur [des Mangels an Alterität, J.C.]. Sie sind als Gefühle geschichtlich, weil sie einer spezifischen Konzeption von Subjektivität, von souveräner Existenz gehorchen. (Mersch 2007, 107)

Teil der spezifischen Körperlichkeit von Gefühlen in der Moderne ist es, dass sie als innerlich gedacht werden. So beschreibt etwa Hermann Schmitz den Weg von einer früheren Art der Gefühlsverwaltung, in der Gefühle als leiblich erfahrene Atmosphären, als Mächte, die von einem Besitz ergreifen, aufgefasst worden seien, zu einer Verinnerlichung der Gefühle. Mit der Verinnerlichung gehe die Forderung einher, die Gefühle durch den Verstand und den Willen zu beherrschen. Vor allem das Christentum mit seiner Bekenntniskultur habe die Selbstobjektifizierung in diesem Sinn vorangetrieben (Schmitz 2000). Dieser Prozess der Verinnerlichung, den Schmitz benennt, aber nicht ausführt, lässt sich mit Foucault genauer fassen, der ihn ebenfalls mit der Praxis des Geständnisses in Verbindung bringt. Das Geständnis begreift er als die privilegierte Technik der Wahrheitsproduktion der Moderne; so zentral sei das Geständnis für unsere Gesellschaft, dass er sie als »société [...] avouante« (Geständnisgesellschaft) bezeichnet (Foucault 1976, 79): »Auf jeden Fall ist das Geständnis [...] im Abendland zu einer der höchstbewerteten Techniken der Wahrheitsproduktion geworden.« (Foucault 1983, 62)5 Wir sind angehalten zu bekennen, was wir tun, denken und fühlen; um bekennen zu können, müssen wir uns selbst befragen und beobachten, um »in der Selbstprüfung [...] unter so vielen flüchtigen Eindrücken die grundlegenden Gewissheiten des Bewusstseins frei[zu]leg[en]« (Foucault 1983, 63). Die Wahrheit erscheint als etwas, das tief in uns steckt, das verborgen und geheim ist, aber danach strebt, zutage zu treten und ausgesprochen zu werden – wenn sie nicht von einer repressiven, tabuisierenden, zum Schweigen bringenden Macht daran gehindert würde: »Das Geständnis befreit, die Macht zwingt zum Schweigen«, formuliert Foucault die gängige und hegemoniale Sicht der Dinge (Foucault 1983, 63 f.). Die Form des Geständnisses bringt erst die Vorstellung eines Innenraums des Menschen hervor, oder auch die Vorstellung einer Tiefe, die unter der Oberfläche steckt. In dieser Tiefe, unter der für alle unmittelbar

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Im Französischen folgt hier der Satz, aus dem der Begriff société avouante stammt, und der in der deutschen Übersetzung fehlt: »Nous sommes devenus, depuis lors, une société singulièrement avouante.« (Foucault 1976, 79) (Auf Deutsch etwa: »Wir sind seitdem eine ausgesprochene Geständnisgesellschaft geworden.«)

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sichtbaren Oberfläche, wird der wahre Kern des Individuums angesiedelt. Das Geständnis fungiert als Technik der Individualisierung: Lange Zeit hat sich das Individuum durch seine Bindung an andere (Familie, Gefolgschaft, Schirmherrschaft) ausgewiesen; später hat man es durch den Diskurs ausgewiesen, den es über sich selbst halten konnte oder mußte. Das Geständnis der Wahrheit hat sich ins Herz der Verfahren eingeschrieben, durch die die Macht die Individualisierung betreibt. (Foucault 1983, 62)

Erst durch die Vorstellung eines wahren Kerns, der das Individuum ausmacht und seine Einzigartigkeit garantiert, wird das Individuum zum Subjekt. Das Geständnis bzw. das damit einhergehende Verhältnis des Individuums zu sich selbst bringt die spezifische Form moderner westlicher Subjektivität hervor. Dabei ergibt sich ein Paradox: Einerseits wird die innere Wahrheit des Subjekts naturalisiert, sie erscheint als seine Essenz, sein Wesen und damit als unhintergehbare Wirklichkeit. Andererseits muss das Subjekt beständig daran arbeiten, diese Wahrheit nicht nur freizulegen, sondern sie auch richtig zu deuten. Für die richtige Interpretation sind Institutionen und Autoritäten zuständig, allen voran die Institution Wissenschaft (Psychiatrie, Sexualwissenschaft, Psychoanalyse, Psychologie etc.). In der »verwissenschaftlichten« Form des Geständnisses hat der Zuhörende eine zentrale Funktion für die Produktion der Wahrheit: Sie [die Wahrheit, J.C.] ruht nicht einzig und allein im Subjekt, das sie vermöge seines Geständnisses in fertiger Form ans Licht bringt. Sie konstituiert sich zweiseitig: gegenwärtig, aber unvollständig und für sich selber blind beim Sprechenden – kann sie sich nur bei dem vollenden, der sie zusammenliest. Ihm obliegt es, die Wahrheit dieser dunklen Wahrheit zu sagen: die Enthüllung des Geständnisses muss er durch die Entzifferung seines Gehaltes verdoppeln. Der Zuhörer ist nicht mehr bloß der Herr der Verzeihung oder der verurteilende oder freisprechende Richter; er wird der Herr der Wahrheit sein. Seine Funktion ist hermeneutisch. (Foucault 1983, 70)

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Die Wahrheit ist zwar da, aber verborgen; ihre Bedeutung muss entziffert werden. Deswegen kann die Arbeit an der Wahrheit auch nie abgeschlossen sein. Für die Entzifferung der eigenen Wahrheit ist nicht unbedingt immer eine zuhörende Instanz nötig – das Subjekt kann auch selbst gleichzeitig als bekennende und interpretierende Instanz fungieren, also als Sprechende_r und Zuhörer_in. Es steht zu sich selbst in einer hermeneutischen Beziehung, das heißt, es muss sich selbst beständig analysieren, untersuchen und interpretieren, um zu wissen, was und wer es wirklich ist. Damit lässt sich nun genauer bestimmen, was unter der Verinnerlichung der Gefühle und ihrer Unterwerfung unter die Kontrolle des Verstandes, der Vernunft und des Willens in der Moderne zu verstehen ist. Das moderne Subjekt entwickelt eine neue Beziehung zu sich selbst. Gefühle, Empfindungen, Verlangen etc. sind nicht mehr etwas, das von außen von ihm Besitz ergreift, sondern gehören zu seiner inneren Wahrheit. Weil diese Wahrheit aber verborgen und obskur ist, können die Empfindungen,

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die aus dem Subjekt selbst kommen, sich trotzdem sowohl seinem rationalen Verständnis als auch seiner Kontrolle entziehen. Das Subjekt ist aber angehalten, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu sich selbst und damit auch zu seinen Empfindungen zu verhalten: etwa indem es durch Selbstbefragung seine innere Wahrheit freilegt, um sich selbst und seine »verborgenen« Beweggründe besser verstehen zu können, oder indem es Empfindungen mäßigt oder verstärkt, je nachdem, mit welchen Bedeutungen sie im jeweiligen Kontext belegt sind. Meißner fasst zusammen: Eine der zentralen Pointen der Foucault’schen Subjektanalyse läuft darauf hinaus, dass Sexualität in der abendländischen Moderne ihre besondere Wirkung darüber entfaltet, dass sie als moralisches Problem erfahren wird, bei dem sich Verbote in besonderer Weise mit der Forderung verbinden, die eigenen Begierden und Wünsche zu analysieren und die Wahrheit über sich selbst auszusprechen. (Meißner 2010, 127, Hervorh. i.O.)

Das Verhältnis des Subjekts zu seiner eigenen Wahrheit analysiert Foucault als ein Ensemble von Subjektivierungsweisen und Selbstpraktiken (Foucault 1989, 36 ff.), die aber nicht als unabhängig von gesellschaftlichen Machtverhältnissen gesehen werden dürfen. Im Gegenteil, in diesen Technologien des Selbst »konstituiert sich das Subjekt durch Praktiken, deren Formen ihm sozial vorgegeben sind« (Meißner 2010, 125). Eine der vorgegebenen Formen betrifft das Verhältnis von »normal« und »abnormal« oder »gesund« und »krank«. Wie Sally Shuttleworth ausführt, werden diese Pole um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr als absolute binäre Gegensätze gesehen, sondern als »a sliding scale of the normal and the pathological« begriffen. Das bringt eine grundlegende Verschiebung mit sich, die sich auch in den Selbstverhältnissen niederschlägt: The differentiation between activities which would lead to health or disease was now only one of degree; depending on the state of the organism, the same activity could lead to perfect health or dangerous excess. Central to this new discursive regime was the elusive concept of the »normal« [...] (Shuttleworth 1996, 151)

Damit bezieht sie sich wiederum auf eine Differenzierung, die Foucault vornimmt. Während er die Norm mit dem Gesetz in Verbindung bringt, das kategorial zwischen zwei Optionen unterscheidet, operieren moderne Gesellschaften eher mit einem Verständnis von Normalität, das als statistische Verteilung angelegt ist und das »Normale« als den »Durchschnitt« produziert (vgl. auch Meißner 2010, 148). Diese Unterscheidung ist, wie wir in den Textanalysen sehen werden, zentral für das Verständnis der Machtverhältnisse im viktorianischen Roman, denn das Bürgertum entwirft sich darin als geradezu paradigmatischen Ausdruck des »Normalen« – ein Ensemble von Operationen, das mit Foucaults Verständnis von Normalisierung gut erfasst werden kann. Für die Analyse bürgerlicher Liebeskonzepte spielt ein solcher Foucault’scher Normalisierungsbegriff eine große Rolle. In einigen Aussagen von Niklas Luhmann wird deutlich, wie eng Liebe (und insbesondere die

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Liebesgeschichten des realistischen Romans), Bürgertum und »Normalität« verknüpft sind – auch wenn Luhmann selbst diesen Umstand eher beklagt als analysiert, wenn er schreibt: Inkommunikabilität wird, wie es scheint, zur Entbanalisierung der Mittelmäßigkeit erfunden. Ihr ist zu danken, daß auch Normalmenschen noch eine Geschichte zustandebringen, für die andere sich interessieren können. (Luhmann 1994, 153 f.)

Statt Gegenstand einer heroischen Abenteuergeschichte zu sein, wird Liebe nun nach innen verlegt, ein Umstand, in dem Luhmann eine Umstellung der Erzähltechnik auf »Mittelmaß« sieht (Luhmann 1994, 153). Damit ist vor allem der realistische Roman gemeint, der von sich behauptet, nicht heroische, sondern »ganz normale« Menschen zu porträtieren. Dass darin jedoch eine Universalisierung von Bürgerlichkeit steckt, verschwindet hinter Luhmanns wertender Begrifflichkeit. Meine Analysen hingegen lenken den Blick darauf, wie in und durch die Liebesgeschichten »Normalität« produziert wird, und lassen damit den Prozessen der Normalisierung besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Vorerst aber soll hier der Strang weiterverfolgt und konkretisiert werden, das Verhältnis von Liebe und Subjektivität genauer zu bestimmen. Die große Verschiebung im Liebesdiskurs wird üblicherweise im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit angesiedelt. Im Mittelalter, d.h. in der höfischen Liebe (Minne) und der dazugehörigen Liebeslyrik, geht es in der Liebe um die Idealisierung der geliebten Frau – der Liebende und damit derjenige, der seine Liebe erzählt/ausspricht, ist in diesem Kontext immer ein Mann. Die Liebe wird durch die Außergewöhnlichkeit der Geliebten begründet und legitimiert, sie ist die Schönste, Klügste, Begehrenswerteste: Die Liebe findet ihre eigene Begründung in der Vollkommenheit des Gegenstandes, der sie anzieht [...]. Liebe ist demnach eine Perfektionsidee, die sich von der Perfektion ihres Gegenstandes herleitet, durch sie nahezu erzwungen wird und insofern »Passion« ist. (Luhmann 1994, 57, Hervorh. i.O.)

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Es geht dabei also nicht um individuelle Charaktereigenschaften oder Eigenheiten der geliebten Person, sondern um genau bestimmbare und gesellschaftlich festgelegte Kriterien für Perfektion.6 Das ändert sich erst – nach einer Umbruchphase, in der zwar die Technologie der Idealisierung an Kraft verliert, aber noch nicht durch Individualisierung ersetzt wird – im 18. Jahrhundert. Das Gefühl selbst wird nun als zentral, eigenständig und unbegründbar gesehen, und Gefühle erscheinen als individuell, innerlich, dem Subjekt eigentümlich. Damit können keine »externen« Kriterien

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Für eine konkrete Analyse, die diese allgemein gehaltenen Befunde von Luhmann ausdifferenziert, siehe z.B. Judith Klingers Überlegungen zu Liebesbriefen im Mittelalter (Klinger 2002, 285 ff.). Zur höfischen Liebe vgl. auch Boone 1987, 35 ff.

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für die Liebe mehr festgelegt werden, sie wird prinzipiell unbegründbar, d.h. sie unterliegt keiner Rationalitätsordnung: »Gefühl muss jetzt [...] als urteilsfähig in bezug auf sich selbst begriffen werden und damit auch als urteilsfähig in bezug auf Liebe.« (Luhmann 1994, 134, Hervorh. i.O.) Das bedeutet, dass die Liebe zum höchsten Ausdruck der Individualität und Einzigartigkeit des liebenden Subjekts wird, weil seine Liebe, als Ausdruck seines Innersten und damit seines Wesens, mit keiner anderen Liebe vergleichbar ist. Genauer gesagt ist die Liebe nur noch in ihrer Unvergleichbarkeit vergleichbar. Deswegen muss immer wieder ihre Einzigartigkeit betont werden, ohne dass Vergleiche angestellt werden. Das funktioniert, Luhmann zufolge, über die Betonung der Unbegründbarkeit und Unkommunizierbarkeit, also über ihren Status als außerhalb der Rationalität. Das bedeutet auch, dass sich die Liebe der Kontrolle des Subjekts entzieht – weil die Liebe Ausdruck der Individualität des Subjekts ist, kann und darf sie nicht gemäßigt werden. Dennoch werden Grenzen zwischen gesund und krank, normal und pathologisch, wahrer und falscher Liebe gezogen. Diese beziehen sich aber nicht auf die Liebe, sondern auf das Subjekt selbst, während die Liebe lediglich als Ausdruck oder Symptom der wahren Natur dieses Subjekts erscheint. Der Frage, inwiefern die Liebe im 19. Jahrhundert als (erlaubter) Exzess entworfen wird, gehe ich in der Analyse der in den Romanen aufgerufenen Liebesdiskurse in Kapitel 3 nach. Für Luhmann jedenfalls steht die Liebe in einem spannungsgeladenen Verhältnis zu den Rationalitätsanforderungen, die an souveräne Subjektivität geknüpft werden. In seiner zentralen Formulierung von der »Liebe als Passion«, als etwas, das erlitten wird, sind desubjektivierende Effekte bereits eingeschrieben. Er führt einige der Metaphern auf, mit denen der passive, enteignende Effekt der Liebe aufgerufen wird: Das Leitsymbol, das die Themenstruktur des Mediums Liebe organisiert, heißt zunächst »Passion«, und Passion drückt aus, daß man etwas erleidet, woran man nichts ändern und wofür man keine Rechenschaft geben kann. Andere Bilder mit zum Teil sehr alter Tradition haben den gleichen Symbolwert – so wenn man sagt, Liebe sei eine Art Krankheit; Liebe sei Wahnsinn, folie à deux; Liebe lege in Ketten. In weiteren Wendungen kann es heißen: Liebe sei ein Mysterium, sei ein Wunder, lasse sich nicht erklären und nicht begründen, usw. All dies verweist auf ein Ausscheren aus der normalen sozialen Kontrolle, das aber von der Gesellschaft nach Art einer Krankheit toleriert und mit der Zuweisung einer Sonderrolle honoriert werden muß. (Luhmann 1994, 30 f.)

Für mich stellt sich allerdings die Frage, ob es sich wirklich um ein »Ausscheren aus der normalen sozialen Kontrolle« handelt oder nicht vielmehr um die Produktion eines sorgfältig kontrollierten »kontrollfreien« Raums, in dem der Exzess seinen Ort zugewiesen bekommt. Damit ist der Exzess aber nicht als solcher legitimiert, er stellt kein Ausscheren aus der sozialen Kontrolle dar, sondern ist selbst in ein Disziplinierungsregime eingebun-

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den, das überhaupt erst durch Bezug auf eine Sprache der Freiheit und der Unkontrollierbarkeit funktioniert. Das würde zum Beispiel erklären, warum die Metaphorik der Krankheit sowohl zur Legitimation der Liebe als auch zur Differenzierung zwischen wahrer und falscher Liebe dienen kann – ein Gedanke, der ebenfalls in Kapitel 3 weitergeführt wird. In einer anderen Hinsicht ist Luhmanns Definition von der Liebe als Ausnahmesituation jedoch zentral für meinen Analysefokus, denn es ist gerade dieser Status, der die Verallgemeinerung und Universalisierung von Liebe möglich macht. Vor allem der Topos von ihrer Unkommunizierbarkeit dient laut Luhmann dazu, jede Liebe einzigartig und damit zu einer Ausnahmesituation zu machen. Zu diesem Prozess der Universalisierung der Bedeutung von Liebe gehört ihre Überhöhung und Sakralisierung. Auch hier gibt es Rückgriffe auf Elemente früherer Liebesordnungen. Im Mittelalter funktioniert die Liebe als Heilsversprechen, ihre Bedeutung und Reichweite wird in der Differenz zur Gottesliebe ausgehandelt: »Die Differenz von Gottesliebe und Frauenliebe ist für die große Liebes-Semantik des Mittelalters jene Unterscheidung, die im Blick steht, wenn in beiden Fällen mystische Einheit verheißen ist.« (Luhmann 1994, 58, Hervorh. i.O.) Der religiöse Gehalt dieser mittelalterlichen Konfiguration geht zunehmend verloren, aber die Liebe behält ihren Status als heilig, wie auch Eva Illouz betont: »romantic love possesses deep affinities with the experience of the sacred« (Illouz 1997, 8; vgl. auch Illouz 2011, 26 ff.). Dadurch wird erstens der erlaubte Exzess durch Rückgriff auf die Vorstellung mystischer Exzesse (und damit auf ein früheres Feld erlaubter Exzesse) abgesichert; zweitens die Normalisierung von Liebe als für alle erstrebenswertes Gefühl betrieben; und drittens eine Transzendenzvorstellung produziert, die dem Subjekt verspricht, in der Liebe die eigene Endlichkeit überwinden zu können. Der auf diese Weise überhöhten Liebe, so Illouz, wird ein Glücksversprechen eingeschrieben: »the glorification of the theme of love as a supreme value and the equation of love with happiness« (Illouz 1997, 28). Gleichzeitig beinhaltet – oder produziert – die Liebe ein spezifisches Verhältnis der Liebenden zu sich selbst, wie Illouz weiter ausführt: Love was central to Victorians’ sense of self because through it they learned to know not only their partners but themselves. Love was a template for the authentic, albeit restrained, expression of their inner self, but it was also a means to attain spiritual perfection, as was made clear by the consistent association with the values and metaphors of religion. (Illouz 1997, 29)

Auf diese Weise wird nicht nur die Liebe sakralisiert, sondern im gleichen Zug auch dem »gewöhnlichen Selbst« – dem bürgerlichen Subjekt – ein »neue[r] Glanz« verliehen, »da es nun darauf wartete, entdeckt und gestaltet zu werden. Das gewöhnliche, weltliche Selbst wurde mysteriös, etwas schwer zu Erreichendes.« (Illouz 2007, 18)

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Das Modell der Liebe, auf das die Romane dabei rekurrieren, und die Effekte, die sich aus ihrer narrativen Struktur ergeben, werden in Kapitel 3 ausführlich beleuchtet – daher belasse ich es an dieser Stelle bei diesen Erläuterungen. Was jedoch bereits deutlich geworden sein sollte, ist, dass die Liebe in der Moderne als gesellschaftliches Ordnungssystem fungiert, das die heterosexuelle Matrix und die ihr eingeschriebene Hierarchisierung der Geschlechter nicht nur bestätigt und naturalisiert, sondern sakralisiert, überhöht, kurz: begehrenswert macht.

2.2 Die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse und der Aufstieg des Bürgertums Die Liebe wird aber nicht nur für heilig erklärt und als utopischer Ort der individuellen Freiheit definiert, sondern gleichzeitig in der Ehe institutionalisiert – ein scheinbares Paradox, das meines Erachtens aber konstitutiv für die moderne Struktur der Liebe ist und dessen komplexe Struktur ich im nächsten Kapitel analysiere. Im 19. Jahrhundert wurde die Ehe zum (einzig) legitimen Rahmen der Liebe, während die Verbindung von Liebe und Ehe zuvor eher problematisiert worden war (vgl. Luhmann 1994, 183 ff.). Ihren Ausdruck findet diese Privilegierung der heterosexuellen Ehe im Happy End des viktorianischen Romans, wo die Verehelichung der Liebenden und ihre Familiengründung als höchstes Glück gefeiert wird.7 Die heterosexuelle Ehe verspricht aber nicht nur individuelles Glück, sondern fungiert gleichzeitig als Garant für soziale Stabilität und Ordnung. »Das happy ending«, so Ina Schabert, »besiegelt nicht nur die Permanenz des Bundes zwischen Mann und Frau, sondern auch eine dauerhafte Einschmelzung des subjektiven Begehrens in eine konsensgetragene Ideologie« (Schabert 1997, 523). 7

Diese bürgerliche Ordnung der Liebe, wie sie im viktorianischen Roman zum Tragen kommt, ist natürlich nur eine mögliche Form. Schon ein kursorischer Blick auf verschiedene literarische Traditionen zeigt, dass die europäische Moderne verschiedene Ordnungen der Liebe hervorgebracht hat, in der die oben beschriebenen Begehrensstrukturen und die spezifische Verfasstheit des souveränen Subjekts auf jeweils unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommen können. Während beispielsweise in der Literatur der (deutschen) Romantik die Liebe als prinzipiell unerfüllbar gilt (eben weil sich das Begehren immer auf etwas Unerreichtes, etwas Fehlendes, einen Mangel richten müsse), entwirft der viktorianische Roman die Liebe als einen utopischen Raum, in dem das Begehren – je nach Perspektive – erfüllt oder stillgestellt werden kann. Auf den Entwurf dieses utopischen Raumes und die Bedeutung des Happy Ends im Allgemeinen gehe ich in Kapitel 3.3 näher ein. Zum romantischen Modell der unbedingten leidenschaftlichen Liebe vgl. Lehnert 1997, 174 ff.

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Schabert betont die Funktion des Happy Ends für die Stabilisierung der Geschlechterordnung: »Für die patriachalische Ordnung ist, da über die junge Generation und selbst über die junge Frau nicht mehr einfach verfügt werden kann, die Liebesbeziehung von konstitutiver Bedeutung.« (Schabert 1997, 523). Gleichzeitig fungiert die Stabilisierung des hierarchischen und binären Geschlechterverhältnisses durch die Liebesgeschichte als Absicherung der bürgerlichen Vormachtstellung. Denn die Neuordnung von Geschlecht und Sexualität, die um 1750 begann und um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu ihrem vorläufigen Abschluss kam (vgl. Honegger 1992, 6), muss, wie Claudia Honegger betont, im gesellschaftlichen Zusammenhang verortet werden: Das moderne Deutungsmuster »Geschlechterdifferenz« hat sich im Zusammenwirken von mannigfaltigen Handlungsproblemen, alltagsweltlichen Interpretationen, tradierten und erodierenden Wissensbeständen und wissenschaftlichen Systematisierungen entwickelt und stabilisiert. Insofern ist »Geschlechterdifferenz« ein Zusammenhangsphänomen, ein komplexes Syndrom [...] (Honegger 1992, 213)

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In ähnlicher Weise argumentieren Leonore Davidoff und Catherine Hall gleich zu Beginn ihres Buches, dass in ihrer Geschichte des Bürgertums vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Verwobenheit von Klasse und Geschlecht im Zentrum stehe: »The prinicpal argument rests on the assumption that gender and class always operate together, that consciousness of class always takes a gendered form.« (Davidoff/Hall 2002, 13) Diese Verwobenheit drückt sich für Davidoff und Hall aus in »the centrality of the sexual division of labour within families for the development of capitalist enterprise« (Davidoff/Hall 2002, 13). Die Studie von Davidoff und Hall liefert eine einflussreiche (und eindrückliche) Erzählung, in der die geschlechtliche Arbeitsteilung den Aufstieg des Bürgertums möglich machte, während gleichzeitig die Polarisierung der Geschlechter durch den bürgerlichen Kampf um die gesellschaftliche Vormachtstellung vorangetrieben wurde. Obwohl diese knappe Darstellung natürlich grob vereinfachend ist und dem Buch in keiner Weise gerecht wird, zeigt sie, wie zentral die Dichotomie öffentlich/privat bzw. die Vorstellung von geschlechtlich getrennten gesellschaftlichen Sphären (separate spheres) darin ist. Allerdings sollte eine historische Analyse nicht a priori von einer Aufteilung der Gesellschaft in vergeschlechtlichte Sphären ausgehen, um den Blick auf die jeweils spezifischen historischen Verhältnisse nicht zu verstellen. Vor allem aus historischer Sicht wurde und wird Zweifel angemeldet, ob das separate spheres-Modell die historische Wirklichkeit adäquat zu erfassen vermag. Karin Hausen schreibt dazu: Zunächst einmal muss es darum gehen, die Reichweite des public-privateKonzeptes prinzipiell anzuzweifeln und nachdrücklich zu fragen, ob es überhaupt und ob es selbst im 19. Jahrhundert jemals eine gesellschaftliche Wirklichkeit gegeben hat, die zumindest in ihren grundlegenden Bauelementen und

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Beziehungen durch das public-private-Konzept angemessen erfaßt werden kann. Parallel dazu kommt es insbesondere in der Frauenforschung darauf an, nicht länger vorgefertigte Konzepte den Verhältnissen überzustülpen, sondern erst einmal die sozialen und strukturellen Konfigurationen der Geschlechterbeziehungen genau zu beobachten, zu beschreiben und zu untersuchen, um auf der Basis der so erzielten Forschungsergebnisse später die Neuformulierung von Konzepten voranzutreiben (Hausen 1992, 86, Hervorh. i.O.)8

Solche und ähnliche kritische Perspektiven eröffneten ein weites Feld für eine Fülle von differenzierten Analysen der Geschlechter- und Klassenverhältnisse im 19. Jahrhundert, die zu der Produktion eines komplexeren Bildes beitrugen. Lynn Hunt warnt jedoch davor, das Projekt der Konstruktion alternativer »metanarratives of modernity« aufzugeben, denn: »Refusing all metanarratives [...] abdicates the terrain to those who do not feel the same hesitations about constructing metanarratives and allows the metanarratives of old to go without challenge.« (Hunt 1998, 81) Dazu kommt, dass gerade der Fokus auf dichotome und hierarchisch organisierte Sphären konsequent auf Macht- und Unterdrückungsverhältnisse gerichtet ist – ein Fokus, der allzu leicht verloren geht. Anstatt die Analyse der Dichotomie öffentlich/privat zu verwerfen, sollte, so Laura Frader und Sonya Rose, der analytische Zugriff darauf präziser gefasst werden, denn: »historians have tended to accept as fact rather than ideology the public/private dichotomy that nineteenth- and early twentieth-century observers and reformers constructed and diffused among their contemporaries of both the middle class and working class« (Frader/Rose 1996, 11). Allerdings zeigt sich hier besonders deutlich, was in vielen Studien zum Bürgertum oder zu Geschlechterverhältnissen im 19. Jahrhundert latent vorhanden ist: »Ideologie« wird verstanden als »falsches Bewusstsein« und damit in letzter Konsequenz als eine Illusion, die von den Herrschenden aufrechterhalten wird, um die Beherrschten zu unterdrücken. Theoretische Ansätze im Gefolge von Louis Althusser verstehen »Ideologie« demgegenüber als Ensemble von Bedeutungsstrukturen: »Ideology is a historical process of positioning signifyers in systems of meaning that relate the social and cultural to one another.« (Bossche 2005, 48) Althusser selbst beschreibt die Ideologie als »eine ›Vorstellung‹ des imaginären Verhältnisses der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen« (Althusser 1977, 133).9 8

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Für die Kritik am separate spheres-Modell vgl. etwa auch Rosaldo 1980 und Vickery 1993. Davidoff und Hall gehen in der Einleitung zu der überarbeiteten Version ihres Buches auf die Kritik ein und stellen einige sehr interessante Überlegungen zur Betonung von Kontinuitäten bzw. Brüchen in der Geschichtsschreibung an (Davidoff/Hall 2002, xiii ff.). Zur Differenzierung zwischen verschiedenen (marxistischen) Ideologieverständnissen siehe Raymond Williams, der drei Positionen grob umreißt: »(i) a system of beliefs characteristic of a particular class or group; (ii) a system of illusory

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Eine solche Perspektive kann Bedeutungsstrukturen als Machtverhältnisse analysieren, ohne dafür konkrete Akteur_innen der Unterdrückung annehmen zu müssen.10 Gleichzeitig erlaubt sie den Fokus auf die Prozesse der Naturalisierung, die den Bedeutungsstrukturen eingeschrieben sind. Für Althusser ist die Produktion von Evidenzen eine der zentralen Funktionen der Ideologie: In der Tat ist es die besondere Eigenart der Ideologie, die Evidenzen als Evidenzen aufzudrängen (ohne daß es auffällt, denn es sind ja »Evidenzen«). Und wir können uns nicht weigern, sie anzuerkennen (bzw. wiederzuerkennen) [reconnaître], sondern haben bei ihnen die unvermeidliche und natürliche Reaktion (laut oder in der »Stille des Bewußtseins«) auszurufen: »Das ist evident! Genau so ist es! Das ist wahr!« (Althusser 1977, 141, Anmerkung i.O.)

Damit kann unter anderem die Rede von den separate spheres als ein diskursiver Einsatz im Kampf des Bürgertums um eine hegemoniale Position gesehen werden – ein diskursiver Einsatz jedoch, der zur Konstitution spezifischer historischer Subjektivitäten beiträgt und damit Wirklichkeit hervorbringt. Ähnliches gilt für die Frage nach der Definition des Bürgertums, die immer auch die Frage nach den Kriterien der Zugehörigkeit mit einschließt. So weist zum Beispiel R.J. Morris darauf hin, dass die Grenzen zwischen dem Bürgertum auf der einen Seite und der gentry bzw. aristocracy auf der anderen Seite unscharf waren: Th[e] mercantile and professional elite had a great deal in common with the aristocracy in terms of social and economic situation, hence the resemblances. They owned property. They needed to sustain political alliances with those of lower social status. They needed to relate to the vast range of status and inequality within their own class formation. They needed to stabilize those relationships with rentpayers and wage-takers which made possible their power and privilege. (Morris 1995, 320)

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Auf der anderen Seite des bürgerlichen Spektrums ist die Grenzziehung zum Kleinbürgertum ein genauso unsicheres Projekt. Das Kleinbürgertum besteht vor allem aus Handwerkern, kleinen Händlern und Ladenbesitzern, kleinen Angestellten in Ämtern, Banken, Anwaltskanzleien (clerks), Besitzerinnen von boarding houses und dergleichen. In den meisten Fällen gehörten die Mitglieder des Bürgertums vor ein oder zwei Generationen selbst noch zu diesem Kleinbürgertum – kleine Händler, die zu großen Händlern wurden, clerks, die sich zu leitenden Funktionen hochgearbeitet

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beliefs – false ideas or false consciousness – which can be contrasted with true or scientific knowledge; (iii) the general process of the production of meanings and ideas« (Williams 1977, 55). Damit soll natürlich die Existenz konkreter Unterdrückungsverhältnisse in keiner Weise geleugnet werden. Für die Analyse von Romanen oder anderen Zeugnissen kultureller Produktion erweist sich ein solches verkürztes Ideologieverständnis jedoch als wenig hilfreich.

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haben, kleine Läden, die zu Kaufhausketten wurden. Doch auch eine Definition anhand des Einkommens gestaltet sich schwierig, wie Davidoff und Hall ausführen: It is, however, notoriously difficult to pinpoint income bands which will clearly identify a specific group. In this period, estimates of the incomes appropriate to middle-class membership put forward by historians have ranged from £100 a year to »as low as a few £1,000 a year« depending on the context of the discussion. (Davidoff/Hall 2002, 23)

Dazu kommt, dass eine solche am Beruf oder an der Höhe des Einkommens orientierte Definition den Klassenstatus von Frauen nicht adäquat bestimmen kann. Auf diese Weise, so Gisela Bock, könne die Klassenzugehörigkeit von Frauen immer nur im Verhältnis zu Männern definiert werden: [...] die Klassenzugehörigkeit [...] orientiert [...] sich bei Männern an deren Verhältnis zu Kapital, Produktion, Markt, Beruf, bei Frauen hingegen an den Männern ihrer Familie, meist an Ehemännern und Vätern (nur selten auch an ihrem Beruf). Es handelt sich hier also, anders als bei Männern, um eine abgeleitete und eigentlich familiengeschichtliche Messung. (Bock 1988, 385)

Auch hier muss es also darum gehen, die Prozesse der Hervorbringung des Bürgerlichen in den Blick zu nehmen, anstatt vorab eine klare Definition zu liefern. Denn das Bürgertum konstituiert sich unter anderem durch Grenzziehungsprozesse nach »oben« und »unten«, was bedeutet, dass es sich immer nur in Abgrenzung definieren kann. Daraus ergibt sich an manchen Stellen eine gewisse terminologische Unschärfe, die jedoch im Klassendiskurs des 19. Jahrhunderts selbst wurzelt, wie Patrick Joyce in seiner Analyse der politischen Elite in Manchester zeigt: At times these men of the »wealthy and influential classes« thought of themselves as »middle class«, but at others deployed that term in a very different way, one in which they were forging others’ »middle-class« identity [...] what we would term the »lower middle classes«. (Joyce 1994, 166)

Er kommt zu dem Schluss: »the vocabulary of class was itself unstable« (Joyce 1994, 166). Klar wird in seiner Argumentation auch, dass Elemente des Klassendiskurses strategisch eingesetzt werden können, um bestimmte Bedeutungen zu konsolidieren, Grenzen zu ziehen oder Gemeinschaft zu stiften – je nach Kontext und Funktion. Aus dieser Perspektive wird klar, dass die Erzählung vom Aufstieg des Bürgertums bereits im 19. Jahrhundert selbst Teil gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse war. Chris Vanden Bossche bringt das gut auf den Punkt: Rather than understanding the history of the nineteenth century as being driven by class interests, we can see class – especially the narrative of the »rise of the middle class« – as one of the chief discursive formations through which the nineteenth century conducted political debate and sought to understand, manage, and come to terms with a diverse series of social conditions. (Bossche 2005, 50)

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In meinen Textanalysen wird die Frage nach der verschränkten Produktion von Geschlecht und Bürgerlichkeit demnach genau unter die Lupe genommen und dabei unter anderem die Grenzziehungen zu Adel und Kleinbürgertum als Element des bürgerlichen Selbstdefinitionsprojektes betrachtet. Arlene Young sieht diese beiden Grenzziehungsprozesse in einer zeitlichen Abfolge: The specter of aristocratic dominance had been largely laid to rest over the course of the previous century, as the bourgeoisie wrested moral authority from the aristocracy by redefining the gentleman. The aristocracy retained its prestige and the aura of glamour, but bourgeois respectability had displaced gentility as the basis for social and moral leadership, and so the aristocracy no longer posed a serious threat to bourgeois cultural hegemony. The middle class accordingly turned its attention to those on the lower end of the scale. (Young 1999, 49 f.)

Als Zeitpunkt der ersten Erwähnung des Begriffs »lower middle class« nennt sie das Jahr 1852, während die erste Verwendung des synonym gebrauchten Begriffes »petit bourgeois« – interessanterweise in Charlotte Brontës Roman Villette – für das folgende Jahr dokumentiert sei (Young 1999, 202). Schon in den Begriffen spiegele sich die Tatsache, dass die Kategorie »lower middle class« auch und vor allem eine bürgerliche Grenzziehungsstrategie verkörpere. So schreibt Young: The alternate term for lower-middle-class, petit bourgeois, is suggestive of the attitudes the class inspired. Generally pronounced – and indeed often spelled – »petty« bourgeois, the term carried with it connotations of inferiority, diminutiveness, insignificance, and small-mindedness. (Young 1999, 59, Hervorh. i.O.)

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Während hier also nach »unten« eine vehemente Grenze gezogen wird, gestaltet sich das bürgerliche Verhältnis zum Adel ambivalenter. Denn das Bürgertum affirmiert beständig seine eigene Überlegenheit und damit seinen eigenen Anspruch auf gesellschaftlichen Einfluss, Privilegien und Vorherrschaft, stellt sich also eigentlich »über« den Adel, der kritisiert und lächerlich gemacht wird. Gleichzeitig geht es um Teilhabe an den Privilegien des Adels und um die Aufnahme in die »höhere Gesellschaft«. Indem das Bürgertum darum kämpft, vom Adel akzeptiert zu werden, bekräftigt es die Vormachtstellung des Adels, während die Strategien, mit denen es die Zugehörigkeit erkämpfen will, genau diese Vormachtstellung in Frage stellen.

2.3 Der viktorianische Roman als Forum des aufstrebenden Bürgertums Einer der Orte, an denen das Bürgerliche ebenso wie die Geschlechterdifferenz hervorgebracht wird, ist der viktorianische Roman. Der Roman wird im Allgemeinen als das bürgerliche Genre par excellence gesehen. Joseph Allen Boone beschreibt diesen Zusammenhang, wenn auch unter Verwendung einer etwas zweifelhaften Metaphorik:

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If, on the one hand, the eighteenth-century literati tended to scoff at the beggarly and dishevelled appearance of this newborn genre, the rising middle-class reading public [...], hungry for a literature of its own, quickly adopted the homeless vagabond as its personal possession: it alone provided a mode of discourse expansive enough to contain the visions, hopes, ideals, and fantasies of individualist capitalism and bourgeois morality. (Boone 1987, 4)

Der Roman bietet dem aufstrebenden Bürgertum ein Forum, in dem es sich konstituieren und seine Vormachtstellung untermauern kann. Auf der anderen Seite ist der Roman selbst ein bürgerliches Produkt, wie Lennard Davis feststellt: »of course there is much credibility to the idea that the rise of the middle class brought into being a universal reaction of European cultures to this economic restructuring« (L. Davis 1983, 42). In einem ironischen und leicht karikierenden Tonfall fährt Davis fort: One does feel somewhat sorry for the rising middle classes having to bear the burden of so many cultural changes since it would seem that the rise of the middle class and industrialization are the processes [...] that have been used as prime movers of almost all change. [...] Why should a rising middle class necessarily lead to a 250-page book about a man on an island or a young girl who resists the seduction of her master? [...] One needs to know why increased leisure time necessarily leads to novel-reading particularly and not billiard-playing or taking excessively long walks? (L. Davis 1983, 42 f., Hervorh. i.O.)

Diese Bemerkung ist nützlich, um genauer zu bestimmen, was es bedeutet, den realistischen Roman als Produkt des und gleichzeitig Vehikel für den Aufstieg des Bürgertums zu bezeichnen. Davis macht klar, dass es sich nicht um eine einfache Kausalität handeln kann. Mit seiner Frage, warum mehr Freizeit zwingend zur Produktion oder Konsumption von Romanen führen sollte, führt er die Frage nach kausalen Ursprüngen ad absurdum11 und hält dennoch an dem Zusammenhang zwischen der Ende des 18. Jahrhunderts beginnenden Neuordnung der Gesellschaft und der Entwicklung des Romans als literarischer Gattung fest. Er deutet verschiedene Beziehungen zwischen dem aufstrebenden Bürgertum und dem Roman an: Ökonomische Verhältnisse und der damit einhergehende Zuwachs an Freizeit ermöglichen es dem Bürgertum, Romane sowohl zu schreiben als auch zu lesen, können also als Ermöglichungsbedingungen gesehen werden. Gleichzeitig deutet er an, dass auch die Art und der Inhalt der Geschichten, die im Roman erzählt werden, von Bedeutung sind und dass sie mit dem Aufstieg des Bürgertums in Verbindung gebracht werden können, und dieser Zusammenhang ist für meine Zwecke von viel größerer Bedeutung. Der Roman erscheint als Forum, in dem sich das Bürgertum über sich selbst verständigt. Hier wird verhandelt, was das Bürgertum ausmacht 11

Allerdings ist das nicht seine primäre Intention. Er plädiert vielmehr für genauere und geographisch spezifische Analysen: »Tracing the microdevelopment of this cultural transformation in its particular national context is crucial to any explanation of the novel’s origins.« (L. Davis 1983, 42)

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und wer dazugehört, werden moralische Werte definiert und Grenzen gezogen. Indem sich das Bürgertum im Roman die Definitionsmacht über moralische Werte und soziale Grenzziehungen sichert, erkämpft es sich eine gesellschaftliche Vormachtstellung, wie auch Young schreibt: The novel was the forum in which the rising middle class could imaginatively reshape society and reinterpret cultural symbols, in which it could redefine class relations from its own perspective and disseminate its moral code. This quiet insinuation of its values and perspectives greatly enhanced the middle class in its bid for cultural hegemony (Young 1999, 1)

Dennoch ist der Roman nicht einfach ein tendenziöses Produkt. Der Kampf des Bürgertums um Hegemonie ist, obwohl es manchmal so klingt, nicht intentional, gesteuert oder geplant, und der Roman ist immer vielschichtig und ambivalent. Er thematisiert beispielsweise Fragen von Macht und Autorität, greift Hierarchien an, stellt die aktuelle Organisation der Gesellschaft – auch von Geschlechterrollen – in Frage. Indem er all diese Dinge in den Bereich des Sagbaren holt, macht er sie verhandelbar. Gleichzeitig aber maskiert er seine eigene (ideologische) Position. Er will als natürliche, unvoreingenommene Wahrheit erscheinen, ist aber eine »motivated, classoriented rationalization« (L. Davis 1983, 221) und arbeitet so daran, den Status quo zu konsolidieren. Eine der zentralen Herausforderungen für die Analyse ist es, die Ambivalenzen des Romans ernst zu nehmen, und ihn als Einsatz in einem Kampf um Deutungsmacht zu sehen, in dem es allerdings nicht unbedingt identifizierbare Akteur_innen gibt (oder die Intentionen der Akteur_innen nicht unbedingt den Effekten entsprechen, die sie produzieren). Der Prozess, der dazu führt, dass bestimmte Werte und Normen hegemonial werden, ist verstreut, langsam und oft schwer fassbar: [...] the values and perspectives presented in the novel – that is, the values and perspectives of the middle class – insinuated themselves imperceptibly into the minds and hearts of the reading public and eventually became normative. (Young 1999, 4)

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Das wirft unter anderem die Frage auf, wer viktorianische Romane las. Klar ist, dass für das 19. Jahrhundert eine deutliche Ausweitung der Leser_innenschaft von Romanen zu konstatieren ist. Juliet John (John 2000) konstatiert für die 1830er Jahre die Herausbildung einer popular culture. Als ermöglichende Faktoren nennt sie vor allem die Ausweitung der Alphabetisierungsrate (mass literacy) und die spürbare Verbilligung von Büchern und Zeitschriften. Die Grenze zwischen »hoher« und »populärer« Literatur verschwimmt, was sich an den vor allem in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stattfindenden Auseinandersetzungen um den Status des Romans ablesen lässt.12 Eine große Rolle spielt dabei die Praxis, Romane in 12

Patrick Brantlinger gibt einen guten Überblick über die Herausbildung und die Veränderungen der Romanleser_innenschaft im 18. und 19. Jahrhundert, wobei

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serieller Form zu veröffentlichen, entweder in instalments, die ausschließlich eine Folge des Romans enthalten, oder – zunehmend – in family magazines, in denen die Romanepisode eingebettet ist in andere, »journalistischere« Formen der Unterhaltung. Die serielle Veröffentlichung hat sowohl Auswirkungen auf die Romane selbst als auch auf ihre Leser_innenschaft. Die Romane werden – so der häufig geäußerte zeitgenössische Vorwurf – auf Spannung ausgerichtet, d.h. sie entwickeln Techniken, um das Interesse des Publikums wachzuhalten, sind also viel stärker an der unmittelbaren Rezeption ausgerichtet als der frühere Roman oder andere literarische Produkte (vgl. Flint 2001, 23).13 Dazu kommt, dass es nun die Möglichkeit einer Interaktion des Publikums mit der Autor_in gibt: Noch während der Laufzeit des Romans (oft immerhin fast ein ganzes Jahr: The Woman in White bestand beispielsweise aus 40 Folgen) kann er über Leser_innenbriefe kommentiert werden, können Wünsche und Kritik geäußert werden, die die Autor_in nach Gutdünken in den Fortgang der Geschichte einfließen lassen kann.14 Diese Elemente, die den Roman als »Unterhaltung« einstufen (bzw. ihn dem Vorwurf aussetzen, bloße Unterhaltung zu sein), öffnen ihn gleichzeitig neuen Leser_innenschichten. Vor allem für die lower middle class macht die Absenkung der Zeitschriftenpreise den Kauf von (seriellen) Romanen möglich. Family magazines in ihrer Gesamtheit sind als Unterhaltung für die ganze Familie ausgerichtet, also geschlechter-, generationen- und klassenübergreifend (vgl. Flint 2001, 24). Deborah Wynne beschreibt vor allem die wöchentliche Lektüre des aktuellen Romans als ein gesellschaftliches Event. Die Romanepisoden seien im bürgerlichen Haushalt oft laut vorgelesen worden, um dann gemeinschaftlich diskutiert und interpretiert und schließlich an die Bediensteten weitergereicht zu werden (Wynne 2001). Auch wenn am Ende nicht genau gesagt werden kann, wie viele Menschen in welcher gesellschaftlichen Position wirklich Romane lasen, klar ist, dass der Roman um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine bis dahin unvorstellbare Anzahl an Leser_innen erreichte und damit als Massenmedium gelten kann.

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er besonders auf die Ängste (anxieties) eingeht, die mit diesen Entwicklungen und den gesellschaftlichen Umbrüchen, auf die sie verweisen, einhergehen (Brantlinger 1998). Vgl. auch Altick 1957. Natürlich gibt es andere Formen literarischer Produktion, die genauso oder noch stärker auf die unmittelbare Rezeption ausgerichtet sind, etwa Theaterstücke. Wie oft dies im Einzelnen geschah, hing u.a. davon ab, ob bei Beginn der Veröffentlichung bereits ein fertiges Manuskript vorlag oder der Roman von Woche zu Woche oder Monat zu Monat geschrieben wurde. Unbestreitbar ist jedoch, dass Romane, die beim Publikum nicht gut ankamen, durchaus vor ihrem Ende abgesetzt werden konnten.

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Ein Verständnis der Reichweite des Romans um die Mitte des Jahrhunderts ist wichtig, um die gesellschaftliche Wirksamkeit der darin stattfindenden bürgerlichen Neuinterpretation von Klassengrenzen und moralischen Codes abschätzen zu können. In dieser Arbeit wird es jedoch in erster Linie um die Wirkungsweisen gehen, und in diesem Zusammenhang ist die realistische Erzählweise von großer Bedeutung, wie auch Young anmerkt: The values and assumptions that inform a novel [...] form an integral part of what purports to be an accurate reflection of the real world. The realism of the novel creates the illusion that the precepts of the novel’s imagined world are in fact natural and correct. (Young 1999, 3)

Der Roman erhebt den Anspruch, die Welt oder die Realität adäquat zu repräsentieren. Das bedeutet nicht, dass wir als Leser_innen glauben sollen, dass das Erzählte wahr ist in dem Sinn, dass es wirklich passiert ist. Im Gegenteil, wir sollen wissen, dass es sich um ein fiktionales Werk handelt, was bedeutet, dass die Figuren, ihre Handlungen und ihre Dialoge von einer Autor_in erfunden wurden. Umberto Eco bringt das elegant auf den Punkt: The basic rule in dealing with a work of fiction is that the reader must tacitly accept a fictional agreement, which Coleridge called »the suspension of disbelief.« The reader has to know that what is being narrated is an imaginary story, but he [sic] must not therefore believe that the writer is telling lies. [...] We accept the fictional agreement and we pretend that what is narrated has really taken place. (Eco 1995, 75, Hervorh. i.O.)

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Eco zeigt sehr eindrucksvoll, dass diese suspension of disbelief nicht bedeutet, dass alles gleichermaßen glaubwürdig ist, was in einer Erzählung vorkommt, denn die relative Glaubwürdigkeit hängt vom Genre und von konventionalisierten Lese-Erwartungen ab: Während es im Märchen selbstverständlich ist, dass Wölfe sprechen können, würde dies in einem realistischen Roman verstören – wir müssten an der Stelle, wo das erste Mal ein Wolf spricht, akzeptieren, dass es sich doch nicht um einen realistischen Roman handelt, oder davon ausgehen, dass der Roman später eine rationale Erklärung für dieses Phänomen liefern werde, dass also auch im fiktionalen Universum Wölfe schlussendlich nicht sprechen können (Eco 1995, 77 ff.). Laut Eco ergänzen wir alle Informationen, die die Erzählung nicht explizit liefert, mit Hilfe des Wissens, das wir über die »reale Welt« haben. Erzählungen liefern damit nicht nur Informationen über die fiktionale Welt, bei denen wir so tun, als glaubten wir sie, während wir wissen, dass sie nicht real existieren; sie enthalten gleichzeitig Informationen über die »reale Welt« (etwa historische Ereignisse, Beschreibungen von Orten etc.), die wir als wahre Tatsachen akzeptieren sollen und die »falsch« sein können (Eco 1995, 77 ff.). Eco fasst zusammen: This means that fictional worlds are parasites of the real world. There is no rule that prescribes the number of fictional elements that are acceptable in a work. [...]

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But everything that the text doesn’t name or describe explicitly as different from what exists in the real world must be understood as corresponding to the laws and conditions of the real world. (Eco 1995, 83)

Ähnliches gilt aber auch im Umkehrschluss, denn zumindest der realistische Roman erhebt den Anspruch, wahrhaftig zu sein. Das bedeutet, dass alle Ereignisse so geschehen und alle Figuren so existieren könnten, wie es der Roman erzählt. Ein solcher Roman behauptet von sich selbst, dass er sich an »Naturgesetze« oder Regeln kohärenten intelligiblen Sprechens hält – außer etwa eine Figur gilt als verrückt (dann kann sie genau dadurch als verrückt markiert werden, dass sie nicht intelligibel spricht). Der Roman stellt die »reale Welt« aber nicht nur dar, er hat immer auch Teil an der Produktion von Wissen über die Welt – und damit auch an der Definition der Grenzen der Intelligibilität und des Möglichen. In dieser Weise sind die narrativen Strukturen selbst Bestandteil des imaginären Verhältnisses zur realen Welt – um auf Althussers Ideologie-Definition zurückzukommen. Rachel Blau DuPlessis entwirft, ebenfalls mit Bezug auf Althusser, eine Parallele zwischen Narration und Ideologie, die sie als Grundprämisse ihrer Studie setzt: This study rests on the proposition that narrative structures and subjects are like working apparatuses of ideology, factories for the »natural« and »fantastic« meanings by which we live. Here are produced and disseminated the assumptions, the conflicts, the patterns that create fictional boundaries for experience. (DuPlessis 1985, 3)

Boone definiert seinen Ansatz auf sehr ähnliche Weise.15 Er führt genauer aus, wie im Roman »Realität« produziert wird, und wie die auf diese Weise festgelegten Grenzen des »Realen« als natürlich und unhinterfragbar positioniert werden: For the classic mode of realist narrative is also a system of representation, working to naturalize, or recuperate, the image of »reality« that it creates in the form of a coherent, intelligible whole. Presenting the reader with fictions that appear »real,« but whose »realism« is predicated on a series of narrative manipulations working to present that reality as stable, ordered, and trustworthy, novelistic structures therefore undertake a mission analogous to that of society’s dominant ideological structures. (Boone 1987, 8)

Der Roman, so auch Davis, maskiert auf diese Weise seine eigene Fiktionalität und schafft eine mimetische Illusion, also die Illusion, natürliche, un15

»For it [sic] we look at ideology, as Louis Althusser understands it, as a system of representations, of significations, that constitute the sphere of social relations into which each individual is fitted, we can begin to discern a series of analogies linking its operation with the theories of textual representation and the constructions of gender embedded in the novelistic marriage tradition. Foremost, ideological structures work to create the appearance of a unitary, coherent worldview [...]; as the construct of experience through which the individual perceives the world, ideology thus tightens its grip on its subjects by representing its system of beliefs and ideas as natural, as necessary« (Boone 1987, 7 f., Hervorh. i.O.).

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voreingenommene Wahrheiten zu präsentieren (L. Davis 1983, 222). Der realistische Roman macht damit unsichtbar, dass er »Realität« nicht einfach nur spiegelt oder abbildet, sondern auf eine bestimmte Art ordnet. Jede Repräsentation wählt Informationen aus, bringt sie in eine Reihenfolge und trifft Entscheidungen über ihre Wichtigkeit. Die Konventionen des realistischen Romans können nur deshalb als »Abbild« der Wirklichkeit erscheinen, weil wir gelernt haben, die auf diese Weise entworfene Sicht der Welt als selbstverständlich und »natürlich« wahrzunehmen, wie Leo Bersani und Ulysse Dutoit treffend feststellen: »however ›artificial‹ we may occasionally recognize narrative organizations to be, it is as if we have most easily recognized reality in narrative representations of reality« (Bersani/Dutoit 1985, 42). Die wichtigsten Ordnungsprinzipien des realistischen Romans sind Kohärenz, Kausalität und Sinnhaftigkeit. Jedes Detail wird mit Bedeutung aufgeladen und trägt so zur Konstruktion eines »universe saturated with significance« (Bersani 1978, 52) bei: »The most casual word, the most trifling gesture, the most tangential episode all submit easily to the discipline of being revealing words, gestures, episodes.« (Bersani 1978, 52 f., Hervorh. i.O.) Das gilt nicht nur für die Form selbst, sondern auch für die Art und Weise, wie die Romanfiguren entworfen werden, wie Linda Shires ausführt: Realism privileges a reading focusing on a central character or several central characters. It stresses a model of coherence or consistency not only in its form but also in the construction of characters. [...] This form [...] places the reader in a position of privileged knowing and moral judgment, thus shaping his/her subjectivity into middle-class Victorian norms [...] (Shires 2001, 65)

Die hermeneutische Beziehung des bürgerlichen Subjekts zu sich selbst, wie sie Foucault beschrieben hat, wird aus dieser Perspektive von den narrativen Strukturen des realistischen Romans (mit-)produziert. Denn nicht nur das Romanuniversum, sondern auch seine Figuren zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit Sinn aufgeladen sind. Bersani schreibt dazu:

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The exertion toward significant form in realist fiction serves the cause of significant, coherently structured character. The revealing incident makes personality intelligible; real beginnings and definitive endings provide a temporal frame in which individuals don’t merely exist, but move purposefully from one stage of being to another. Personality is [...] rigorously structured in the realistic novel [...] (Bersani 1978, 55)

Der Roman schafft auf diese Weise eine sinnvolle, vorbestimmte, logische, sich kausal nach bestimmten Gesetzen entwickelnde Welt, deren Figuren durch ihre Struktur kohärenter Subjektivität erklär- und verstehbar erscheinen. Eco weist darauf hin, dass die Sinnhaftigkeit der fiktionalen Welt auf die Frage nach dem Sinn der realen Welt verweist: [...] there is another reason fiction makes us feel more metaphysically comfortable than reality. There is a golden rule that cryptanalysts and code breakers rely on – namely, that every secret message can be deciphered, provided one knows that it is a message. The problem with the actual world is that, since the dawn of

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time, humans have been wondering whether there is a message and, if so, whether this message makes sense. With fictional universes, we know without a doubt that they do have a message and that an authorial entity stands behind them as creator, as well as within them as a set of reading instructions. (Eco 1995, 116)

Das macht die fiktionale Welt aber nicht nur »angenehmer«, denn wiederum muss hier der Umkehrschluss gezogen werden: Die den Roman strukturierende Logik der Sinnhaftigkeit legt nahe – aufgrund des Realismusanspruchs und der Naturalisierungen des Romans – dass die reale Welt ebenfalls eine kohärente Bedeutungsstruktur aufweist, dass sie Sinn macht. Das impliziert eine – wie auch immer geartete – Vorstellung von Vorsehung oder von vornherein determiniertem Schicksal. Dazu kommt, dass die Struktur der Sinnhaftigkeit eng verwoben ist mit dem Akt des Bewertens und Urteilens, so Shires: [...] realism, the dominant mode of representation and the dominant reading practice in the Victorian era, supposes a privileged epistemological point of view from which both knowledge and judgment can be truthfully and precisely issued to establish consensus among implied author, narrator, and reader. (Shires 2001, 63)

Vor allem am Ende bewertet der Roman die Handlungen und Seinsweisen der verschiedenen Figuren, indem er ihnen ihr Schicksal zuteilwerden lässt. Diese Verteilung von poetic justice ist ein zentraler Moment der abschließenden Grenzziehung zwischen dem Möglichen und Unmöglichen, dem Moralischen und Unmoralischen, dem Erwünschten und Unerwünschten etc. Die Figuren werden dabei in ihrer Gesamtheit bewertet, denn jede Handlung und auch jeder Gedanke ist, wie wir gesehen haben, bedeutungsvoll und verweist auf die Person als Ganzes. In den Romanen, die ich in dieser Studie analysiere, drückt sich die Verteilung von poetic justice vor allem in der Frage aus, ob die jeweiligen Figuren am Ende eine glückliche Ehe eingehen. Wenn die Liebe als höchstes Ziel positioniert wird, und im Roman diejenigen Liebe finden, die es »verdienen«, folgt daraus, dass bestimmte Figuren besonders zu diesem Glück befähigt sind. Ihre spezifische Weise, männliches bzw. weibliches Subjekt zu sein, wird als Ideal präsentiert. Indem der Roman nun Motivationen, Beweggründe, Zweifel, Sorgen, Hoffnungen, Gedanken etc. der ProtagonistInnen ausführlich erzählt, präsentiert er den Leser_innen ein umfangreiches Arsenal an möglichen Selbsttechniken. Die Romanfiguren sind aufgerufen, das »Richtige« zu tun, um ein Happy End zu erwerben; und die Leser_innen wissen am Ende des Romans ohne Zweifel, ob das, was sie getan haben, zum Glück geführt hat und damit das Richtige war. So werden die vielen verschiedenen Subjektivierungsweisen und Selbstführungstechniken, die der Roman scheinbar in ihrer vollen Breite und Komplexität auffächert, gewichtet und bewertet. Oder, anders gesagt: Der

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Roman ruft die Leser_innen an, die Romanfiguren und ihre Art zu sein zu bewerten. Für die Frage der Wirkung heißt das natürlich noch lange nicht, dass alle Leser_innen die Romane als »Rezeptologie« lesen, um sich – indem sie sich wie die Romanfiguren verhalten – ihr persönliches Glück zu sichern. Die Wirkung des Romans oder die emotionale Involviertheit der Leser_innen muss zudem nicht unbedingt auf ihrer Identifikation mit den Charakteren beruhen, obwohl das oft so gesehen wird. Vielmehr handelt es sich um ein Einlassen auf den Bedeutungsrahmen des Romans, also darauf, dass darin alles Sinn macht. Dieses Einlassen bringt einerseits die Verpflichtung zur moralischen Bewertung mit sich, andererseits aber das Versprechen, dass es im Romanuniversum Gerechtigkeit gibt. Natürlich bedeutet dieses Sich-Einlassen nicht, dass der Roman nur so und nicht anders gelesen werden kann, dass die Lesart also vorbestimmt wäre. Das emotional involvierte Lesen ist nur eine Art des Lesens, die durchaus gleichzeitig mit anderen Arten praktiziert werden kann. Es ist absolut möglich, etwa eine Figur interessant zu finden oder sich mit ihr zu identifizieren, die der Roman als »böse« einstuft, genauso wie es möglich ist, beim Lesen das Interesse auf die »Bauweise« des Romans, auf seine narrativen Strukturen zu richten. Aber sobald wir uns als Leser_innen auf die narrative Dynamik des Romans einlassen, also auf seine Spannung zwischen Aufschub und Auflösung, sobald wir dem Ende entgegenfiebern und uns ein Happy End wünschen, können wir uns, so meine Überzeugung, dem hegemonialen Bedeutungsrahmen des Romans zumindest nicht mehr vollständig entziehen. Für die Analysen, die nun folgen, bedeutet das, die Texte aus zwei Perspektiven zu lesen, die sich mitunter – zumindest scheinbar – widersprechen, die aber gerade deswegen immer wieder in Beziehung gesetzt werden. Die eine Perspektive achtet auf das Widersprüchliche, Ambivalente, Offene oder auch, mit Michail Bachtin gesprochen, auf das Dialogische des Romans (vgl. dazu Boone 1987, 3 ff. und Garrett 1980, 9 ff.). Damit kann in den Blick genommen werden, was die Romane problematisieren, welche Fragen sie aufwerfen und wie sie diese Fragen oder Möglichkeiten rahmen. Die zweite Sichtweise auf die Texte geht den umgekehrten Weg, indem sie – wie hier dargelegt – auf Schließungen und hegemoniale Setzungen fokussiert und vor allem die naturalisierenden Operationen, die der Form eingeschrieben sind, beleuchtet. Für Bersani (um nur ein Beispiel zu nennen) bildet die geschlossene Form den unhintergehbaren Rahmen – die Bedingung der Möglichkeiten – für die in ihr ausgebreitete inhaltliche Vielfalt: »The novel welcomes the disparate [...]; but it is essentially an exercise in containing the looseness to which it often appears to be casually abandonning itself.« (Bersani 1978, 61, Hervorh. i.O.) Andere Ansätze, wie zum Beispiel die Methode des queer reading, streichen im Gegensatz dazu die

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Elemente des Romans heraus, die den Rahmen subtil unterlaufen. 16 Erst die Kombination beider Perspektiven ermöglicht ein komplexes Verständnis der vielfältigen Effekte, die die Romane produzieren. Dieser Frage wende ich mich nun, nach diesem notwendigerweise häufig vereinfachenden und summarischen Überblick, genauer zu, indem ich im folgenden Kapitel in die Textanalyse einsteige.

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16

Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung des queer reading-Ansatzes. Siehe dazu ausführlicher zum Beispiel Sedgwick 1997 und Babka/Hochreiter 2008.

3 . Liebe im viktorianischen Roman Wie wir bereits gesehen haben, stellt der viktorianische Roman eine enge Verbindung zwischen Liebe und Ehe her – eine Verbindung, die zunehmend naturalisiert wird. Während das vorhergehende Kapitel diese Zusammenhänge auf theoretischer Ebene beleuchtet und in der Moderne verortet hat, lenkt dieses Kapitel nun den Blick auf die Romane selbst. Wie wird Liebe dort dargestellt? Welche Funktionen erfüllt sie? Dabei springt sofort ins Auge, dass die Romane Liebe immer wieder als einzig legitimen Heiratsgrund darstellen. Widerstände von Seiten der Eltern gegen die Liebeswahl der Heldin, Zweifel an den Motiven eines Verehrers oder Unterschiede in Vermögen und Stand der Liebenden – dies sind immer wiederkehrende Elemente, die Plots in Gang setzen oder vorantreiben. Zuallererst folgt daher für jeden der analysierten Romane eine kurze Beschreibung der erzählten Geschichte, um die darin vorgenommene offensichtliche und explizite Thematisierung von Liebe zu erfassen. Die Beschreibung folgt dabei weitgehend der Logik, die die Romane vorgeben, und kann auf diese Weise Knotenpunkte der Thematisierung von Liebe ausmachen, die in allen Romanen eine zentrale Rolle spielen. Diese Knotenpunkte – die Privilegierung der Liebesheirat und die Verknüpfung von Liebe und Glück – fungieren dann als die Startpunkte der darauf folgenden Abschnitte. Darin gehe ich bestimmten Strängen des in den Romanen entworfenen Liebesdiskurses genauer nach, um seine Komplexität und Widersprüchlichkeit zu beleuchten, die darin enthaltenen Annahmen und Setzungen aber auch kritisch zu hinterfragen. Dennoch bleibt dieses Kapitel in seiner Gesamtheit nahe bei den Texten und sieht seine Aufgabe vor allem im Nachvollziehen der von den Romanen selbst entworfenen Logiken. In die eigentliche Analyse und damit auch die verstärkte Problematisierung und Infragestellung dieser Logiken begebe ich mich erst in den beiden Kapiteln, die auf dieses folgen (Kapitel 4 und 5).

3.1 Liebe als Thema und Plot Vorerst wende ich mich nun den Romanen und ihren Liebesgeschichten zu. In The Woman in White heiratet Laura Fairlie einen Mann, den sie nicht liebt, um dem Wunsch ihres verstorbenen Vaters zu entsprechen und weil der Mann, den sie liebt, nur ein armer Zeichenlehrer ist. Ihr Ehemann stellt sich als brutaler Tyrann heraus, der es auf ihr Vermögen abgesehen

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»The Power of Love«

hat und dafür Lauras Tod vortäuscht, sie ihrer Identität beraubt und sie in eine »Irrenanstalt« einsperren lässt. In gewisser Weise ist alles Unglück, das Laura widerfährt, eine Folge dieses einen als fatal dargestellten Fehlers: Sie heiratet nicht aus Liebe, sondern lässt sich vom Vater und von Klassenunterschieden beeinflussen. Dieses Gegenmodell zur Liebesheirat, das »engagement of honour« (WW, 72), wird vorerst als gesellschaftliche Normalität eingeführt. Laura »neither welcomed it, nor shrank from it – she was content to make it. [...] she was in the position of hundreds of other women, who marry men without being greatly attracted to them or greatly repelled by them, and who learn to love them (when they don’t learn to hate!) after marriage, instead of before.« (WW, 72) Dieses Modell funktioniert jedoch nur, solange keine Liebe im Spiel ist. Sobald sich Laura in Walter Hartright verliebt hat, kann sie einer Ehe mit Sir Percival Glyde nicht mehr gelassen (oder gleichgültig) entgegensehen. Sie sagt zu ihrem Verlobten: »There is a change in me, Sir Percival – a change which is serious enough to justify you, to yourself and to me, in breaking off our engagement. [...] I have heard,« she said, »and I believe it, that the fondest and truest of all affections is the affection which a woman ought to bear to her husband. When our engagement began, that affection was mine to give, if I could, and yours to win, if you could. (WW, 170 f.)

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Laura sieht ihr eigenes Unglück voraus; sie beschreibt sich als »[t]he most wretched of her sex, if she must give herself in marriage when she cannot give her love« (WW, 173) und verneint kategorisch die Möglichkeit, sie könne Sir Percival in Zukunft lieben lernen: »›Never!‹ she answered. ›If you still persist in maintaining our engagement, I may be your true and faithful wife, Sir Percival – your loving wife, if I know my own heart, never!‹« (WW, 173) Dennoch heiratet sie ihn, um ihrem Versprechen treu zu bleiben: »My regard for that obligation, my regard for my father’s memory, and my regard for my own promise, all forbid me to set the example, on my side, of withdrawing from our present position.« (WW, 170, Hervorh. i.O.) In all dem macht der Roman klar, dass der Einfluss der Eltern bei der Eheentscheidung nur schädlich sein kann. Laura zweifelt nicht an den guten Absichten und Ratschlägen ihres Vaters und daran, dass es richtig ist, sich von ihm leiten zu lassen: »I was guided by my father, because I had always found him the truest of all advisers, the best and fondest of all protectors and friends.« (WW, 169 f.) Der ganze weitere Verlauf des Romans jedoch bildet eine eindringliche Warnung vor einer solchen Einflussnahme. Der Vater kann nicht wissen, was für seine Tochter in dieser Frage richtig ist; noch weniger kann er vorausahnen, was in zwei Jahren richtig sein wird (die Handlung spielt zwei Jahre nach seinem Tod). Im Umkehrschluss macht der Roman klar, dass die einzige »richtige« (weil nicht unglücklich machende) Eheentscheidung eine individuelle Entscheidung ist, die sich allein nach dem Gefühl richtet. Es handelt sich außerdem um eine

Liebe im viktorianischen Roman

Entscheidung, die aktiv getroffen werden muss. Laura ist zu passiv: Sie vertraut ihrem Vater, hält wider besseres Wissen an ihrem Versprechen fest und hofft, dass Sir Percival die Verlobung lösen wird. Sir Percival weigert sich jedoch, freiwillig auf die Ehe mit Laura zu verzichten. Hier kommen Geldmotive ins Spiel: Wie sich später herausstellt, heiratet er sie nur wegen ihres Vermögens. Damit nimmt er innerhalb des Romans eindeutig die Position des Schurken ein. Walter hingegen, der Held, weist jegliches finanzielle Interesse an Laura empört von sich und betont seine selbstlose Aufopferung für sie: »There shall be no money-motive,« I said, »no idea of personal advantage, in the service I mean to render to Lady Glyde. [...] I have given my life to that purpose; and, alone as I stand, if God spares me, I will accomplish it.« (WW, 454)

Während zu Beginn sowohl von Walter als auch von Marian Halcombe (Lauras Halbschwester) die Klassenunterschiede zwischen Walter und Laura als Hindernis angesehen werden (vgl. WW, 64 f., 71), Sir Percival hingegen als die standesgemäße Wahl erscheint, dreht der Verlauf der Geschichte die Verhältnisse um: Sir Percival erweist sich als geldgierig, berechnend, egoistisch und kriminell, während Walter Laura nach dem Verlust von Vermögen und gesellschaftlicher Stellung nach wie vor liebt und sich selbstlos für sie aufopfert. »[M]atters of rank and station« (WW, 71) werden auf diese Weise als oberflächliche Konventionen dargestellt, die nichts über den Charakter einer Figur aussagen, während sich in der Tiefe der Liebe und der damit verbundenen Aufopferungsbereitschaft ihr eigentlicher Wert offenbart. Für seine selbstlose Liebe wird Walter schlussendlich (nach Sir Percivals Tod und nachdem Walter durch detektivische Betätigung Lauras rechtliche und soziale Identität wiederhergestellt hat) mit einem Happy End in Form einer Ehe mit Laura belohnt. In The Small House at Allington hingegen löst Adolphus Crosbie aufgrund von »matters of rank and station« seine Verlobung mit Lily Dale und heiratet stattdessen die adlige Alexandrina De Courcy. Statt aus Liebe zu heiraten, versucht er seine Eheschließung für seine Karriere zu nutzen – mit dem Resultat, dass er selbst in einer lieblosen Ehe unglücklich wird und dass Lily für immer unverheiratet bleibt. Noch präsenter ist das Thema der Liebesheirat in dem auf Lilys Schwester Bell fokussierten Plotstrang, in dem Bell den Heiratsantrag ihres Cousins zurückweist und sich vehement gegen die Einflussnahme ihres Onkels zur Wehr setzt, der die Verbindung um jeden Preis herbeiführen will. Die Figuren führen seitenlange Streitgespräche über die Frage, ob Geld eine Rolle für die Eheentscheidung spielen dürfe und ob Eltern oder andere Verwandte das Recht hätten, Einfluss zu nehmen. Immer wieder beharren die Heldinnen darauf, dass nur Liebe eine Rolle spielen dürfe. Besonders vehement wird jede Nähe von Liebe zu warenförmigen Tauschbeziehungen für moralisch verwerflich erklärt. Bell lehnt den An-

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»The Power of Love«

trag ihres Cousins Bernard Dale ab, weil sie ihn nicht liebt. Scharf wird ihre Ablehnung jedoch immer dann, wenn er in seinem Versuch, sie umzustimmen, sein Vermögen oder die Wünsche des Onkels als Argumente anführt. So antwortet Bell einmal: »You must not be led to suppose that any offer made by my uncle would help to purchase – Indeed, there can be no need for us to talk about money.« (SHA, 84) Für Bernard hingegen ist Bell »a thing to be gained« (SHA, 144). »Having expressed a wish for this thing, the very expression of the wish made him long to possess it. [...] He was [...] more intent on one special toy than he had ever been before, even as a boy.« (SHA, 144) Der Erzähler stellt explizit die Ernsthaftigkeit von Bernards Liebe in Frage: »I think it is open to us to doubt whether, even yet, Bernard Dale was in love with his cousin« (SHA, 144). Bell ist für ihn ein (Luxus-) Gut, um das er feilscht: »that spirit of bargaining which had seemed to pervade all his former pleas« (SHA, 144). Bell kritisiert darüber hinaus den Ausdruck »an excellent marriage« als versteckte Affirmation materieller Heiratsgründe. Der Dorfarzt Dr. Crofts sagt über die Möglichkeit von Bells Heirat mit Bernard: »It would have been an excellent marriage; – all your friends must have approved it.« »What do you mean, Dr. Crofts? How I do hate those words, ›an excellent marriage‹. In them is contained more of wicked worldliness than any other words that one ever hears spoken. You want me to marry my cousin simply because I should have a great house to live in, and a coach. I know that you are my friend; but I hate such friendship as that.« »I think you misunderstand me, Bell. I mean that it would have been an excellent marriage, provided you had both loved each other.« »No, I don’t misunderstand you. Of course it would be an excellent marriage, if we loved each other. You might say the same if I loved the butcher or the baker. What you mean is, that it makes a reason for loving him.« (SHA, 424 f.)

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Geld darf weder eine Motivation für die Ehe sein noch ein Hinderungsgrund für sie – diese von Bell geäußerte Ansicht wird auf unterschiedliche Art und Weise in beiden zentralen Liebesplots untermauert. Bell entscheidet sich aus Liebe für den mittellosen Dr. Crofts, mit dem sie an der eben zitierten Stelle diskutiert, und wird mit einem Happy End belohnt, während Crosbies Entscheidung gegen Lily und für Alexandrina sich als schwerer Fehler erweist, der ihm eine unglückliche Ehe beschert. Als Crosbie feststellt, dass Lily kein Vermögen von ihrem Onkel bekommen wird, überredet er sich selbst Schritt für Schritt, sie zu verlassen: For it was ruin, – utter ruin. He did love her; so he declared to himself. But was he a man who ought to throw the world away for love? [...] Could he be happy in that small house, somewhere near the New Road, with five children and horrid misgivings as to the baker’s bill? (SHA, 159 f.)

Crosbies Angst vor einer »cheap and nasty ménage« (SHA, 155) wird zunehmend lächerlich gemacht. Eine Ehe aus Liebe, scheint der Roman zu

Liebe im viktorianischen Roman

sagen, ist automatisch dem kleinbürgerlichen Elend enthoben, das Crosbie als Schreckensvision entwirft. Die Berücksichtigung von Geldfragen scheint demnach einer Entscheidung aus Liebe kategorisch entgegengesetzt und mit ihr unvereinbar zu sein. Noch vehementer wehren sich Lily, Bell und ihre Mutter jedoch gegen einen damit zusammenhängenden Aspekt, nämlich gegen die Idee, dass die finanzielle Unterstützung des Onkels ihm Macht über sie einräumen könnte: To them all, the idea that their uncle should in any way interfere in their own views of life, on the strength of the pecuniary assistance which they had received from him, was peculiarly distasteful. But it was especially distasteful that he should presume to have even an opinion as to their disposition in marriage. (SHA, 407)

Über seinen Versuch der Einflussnahme auf Bell sind sie so empört, dass sie beschließen, das »Small House«, das der Onkel ihnen mietfrei überlässt, zu verlassen, auch wenn das einen gravierenden Verlust von Komfort und sozialem Prestige bedeutet. Auch die Mutter verweigert jeglichen Eingriff in die Entscheidung ihrer Tochter. In einem Gespräch zwischen Mutter und Onkel werden die verschiedenen Positionen entwickelt: [Mr. Dale:] »[...] Of course, I am not saying that anybody should now ever be compelled to marry anybody.« [Mrs. Dale:] »I hope not.« [Mr. Dale:] »I never said that they ought, and never thought so. But I do think that the wishes of all her family should have very great weight with a girl that has been well brought up.« [Mrs. Dale:] »I don’t know whether Bell has been well brought up; but in such a matter as this nobody’s wishes would weigh a feather with her; and indeed, I could not take upon myself to even express a wish.« (SHA, 401 f.)

Weder sie selbst noch andere Verwandte haben das Recht, so die Überzeugung der Mutter, Einfluss auf diese Entscheidung zu nehmen: »There are some things in which I think no uncle, – no parent, – should interfere, and of all such things this is the chief.« (SHA, 403) Liebe wird damit emphatisch als das einzige Kriterium für eine Eheentscheidung festgeschrieben. Ehe ohne Liebe erscheint moralisch verwerflich: It must be for Bell, and for her only, to answer Bernard’s question. In her mind there was something sacred in that idea of love. She would regard her daughter almost as a castaway if she were to marry any man without absolutely loving him, – loving him as Lily loved her lover, with all her heart and all her strength. (SHA, 208)

Während in The Woman in White also vor allem die fatalen Folgen der elterlichen Einflussnahme und der Heirat ohne Liebe betont werden, wird Liebe in The Small House at Allington eindringlich als alleiniger Heiratsgrund proklamiert. Jeglicher Verdacht eines anderen Motivs (v.a. eines fi-

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»The Power of Love«

nanziellen Motivs), genauso wie jeder Versuch, die Entscheidung der jugendlichen Heldin zu beeinflussen, wird scharf verurteilt. In beiden Romanen ist klar, dass nur die Liebesheirat zu einem glücklichen Ende führen kann. In The Tenant of Wildfell Hall hingegen führt eine Entscheidung aus Liebe und gegen den Rat der Verwandten die Protagonistin in eine zutiefst unglückliche Ehe, aus der sie schließlich mit ihrem kleinen Sohn flieht. Dennoch präsentiert der Roman keine alternativen Entscheidungskriterien oder gar Lebensmodelle. Am Ende findet Helen Huntingdon doch noch ihr Glück in der Ehe mit Gilbert Markham – diesmal auf Basis »wahrer« Liebe. Insgesamt zeichnet The Tenant im Verhältnis zu den anderen Romanen ein viel ambivalenteres Bild des Verhältnisses von Liebe und Ehe. Die Eheentscheidung erscheint als zutiefst riskant, ein »Rezept« wird dafür nicht präsentiert. Zu Beginn von Helens Tagebucherzählung sind die Positionen auf klassische Weise klar verteilt. Helen verkündet, dass sie sich ausschließlich auf Basis von Liebe entscheiden wird. Den Antrag von Mr. Borham lehnt sie mit diesem Argument ab: No consideration can induce me to marry against my inclinations. I respect you – at least, I would respect you, if you would behave like a sensible man – but I cannot love you, and never could – and the more you talk the farther you repel me; so pray don’t say any more about it. (TWH, 121)

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Sie besteht darauf, dass es sich ganz und gar um ihre eigene Entscheidung handelt. Als Mr. Borham zuerst bei ihrem Onkel um ihre Hand anhält, empört sie sich gegenüber ihrer Tante: »I hope my uncle and you told him it was not in your power to give it. What right had he to ask any one before me?« (TWH, 117, Hervorh. i.O.) Die Wünsche und Ansichten der Tante beeinflussen sie nicht. Stattdessen affirmiert sie nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Fähigkeit, die Entscheidung selbst zu treffen: »in such important matters, I take the liberty of judging for myself« (TWH, 120). Die Tante betont demgegenüber die Risiken der Eheentscheidung für die Frau und leitet daraus ab, dass sie allein auf der Grundlage von moralischer Wertschätzung getroffen werden sollte: [...] let your affections be consequent upon approbation alone. First study; then approve; then love. Let your eyes be blind to all external attractions, your ears deaf to all the fascinations of flattery and light discourse. (TWH, 112)

Äußere Reize werden genauso als Gefahren gesehen wie Schmeicheleien und oberflächliches Geplauder, weil sie das moralische Urteilsvermögen gefährden. Helen hingegen ist überzeugt, dass Respekt und Liebe untrennbar verwoben sind: [...] you need not fear me, for I not only should think it wrong to marry a man that was deficient in sense or in principle, but I should never be tempted to do it; for I could not like him, if he were ever so handsome, and ever so charming, in other respects; I should hate him – despise him – pity him – anything but love him. My affections not only ought to be founded on approbation, but they will

Liebe im viktorianischen Roman

and must be so: for, without approving I cannot love. It is needless to say I ought to be able to respect and honour the man I marry as well as love him, for I cannot love him without. (TWH, 112 f., Hervorh. i.O.)

Wie in The Small House at Allington wird die Liebe als eigenständiges moralisches Urteilsvermögen gesehen. In The Tenant of Wildfell Hall erweist sich diese Überzeugung jedoch als verhängnisvoller Fehler. Sobald Helen in Mr. Huntingdon verliebt ist, setzt ihr Urteilsvermögen aus und sie wird blind für seine Charakterschwächen und seine moralische Unzulänglichkeit. Auf diese Weise stürzt sie sich in eine unglückliche Ehe mit einem Mann, der sich nicht nur durch mangelnde Selbstkontrolle und Egozentrik, sondern zunehmend auch durch Grausamkeit und Brutalität auszeichnet. Dennoch stellt der Roman die Position der Tante, die »objektive« Entscheidung ohne Rücksicht auf Gefühle, auch im weiteren Verlauf nicht als erstrebenswert dar. Helen hält daran fest, dass eine Ehe ohne Liebe ein fataler Fehler ist: »You might as well sell yourself to slavery at once, as marry a man you dislike.« (TWH, 317) Dass so viele Frauen in diesem Roman unglückliche Ehen führen, wird mit der gesellschaftlichen Realität begründet, nicht mit unrealistischen Vorstellungen vom Liebesglück in der Ehe. Helen spricht an einer Stelle mit einer Freundin über deren Schwester, auf die von Seiten der Mutter massiv Druck ausgeübt wird, eine vorteilhafte Ehe einzugehen. Millicent will ihre Schwester Esther davor bewahren, aus einem anderen Grund als Liebe zu heiraten: »[...] I wish you would seriously impress it upon her, never, on any account, or for any body’s persuasion, to marry for the sake of money, or rank, or establishment, or any earthly thing, but true affection and well-grounded esteem.« »There is no necessity for that,« said I: »for we have had some discourse on that subject already, and I assure you her ideas of love and matrimony are as romantic as any one could desire.« »But romantic notions will not do: I want her to have true notions.« »Very right, but in my judgment, what the world stigmatizes as romantic, is often more nearly allied to the truth than is commonly supposed; for, if the generous ideas of youth are too often overclouded by the sordid views of after-life, that scarcely proves them to be false.« (TWH, 239 f.)

Aufschlussreich ist vor allem Helens letzte Replik. In Frage gestellt werden nicht die »romantische« Vorstellung und die Hoffnung auf Glück, sondern die Verhältnisse, die dieses Glück so oft verhindern. In seinem Happy End demonstriert der Roman die Möglichkeit, dieses Glück zu erreichen, indem Helen im zweiten Versuch doch noch in der Ehe glücklich wird, und hält damit gleichzeitig die Hoffnung darauf aufrecht. Doch die Botschaft bleibt insgesamt ambivalent. Viel stärker als in den anderen Romanen wird hier die Liebe als Entscheidungskriterium in Frage gestellt, ohne dass jedoch eine Alternative dazu in Reichweite scheint – weder wird ein erstrebenswerter alternativer Entscheidungsmodus angeboten, noch werden Möglichkeiten eines anderen Lebenswegs entworfen. So sagt Millicents Schwester an

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»The Power of Love«

einer Stelle: »If I thought myself doomed to oldmaidenhood, I should cease to value my life.« (TWH, 318) Die Frage, die hier verhandelt wird, ist also eher, wie Glück in der Ehe gefunden werden kann. Die Maxime, sich nicht von Geld oder Status beeinflussen zu lassen, ist im Roman zwar präsent, spielt aber in den beiden zentralen Plots (Helens unglückliche Ehe mit Arthur Huntingdon sowie ihre Liebesgeschichte mit Gilbert Markham) kaum eine Rolle. Erst am Ende des Romans werden die Unterschiede zwischen Gilberts und Helens gesellschaftlicher Stellung thematisiert, und dies erfüllt vor allem die Funktion, den Plot in eine letzte dramatische Verwicklung zu führen, um ihn dann im Happy End aufzulösen. Das dénouement wird beschleunigt und dramatisiert von Gilberts plötzlich auftretenden Statusängsten, denn er zögert, nach dem Tod ihres Ehemannes wieder mit Helen Kontakt aufzunehmen: I must not suffer her to see me; for what could have brought me hither but the hope of reviving her attachment, with a view, hereafter to obtain her hand? And could I bear that she should think me capable of such a thing? – of presuming upon the acquaintance – the love, if you will – accidentally contracted, or rather forced upon her against her will, when she was an unknown fugitive, toiling for her own support, apparently without fortune, family, or connections – to come upon her now, when she was re-instated in her proper sphere, and claim a share in her prosperity, which, had it never failed her, would most certainly have kept her unknown to me for ever? (TWH, 404, Hervorh. i.O.)

Seine Statusängste erscheinen allerdings eher als Minderwertigkeitsgefühle denn als rationales Argument – seine Angst vor Zurückweisung wird in langen Monologen auf das Feld der Klassenunterschiede verschoben. Helen hingegen wischt alle diese Argumente kurzerhand weg und wirft Gilbert vor, oberflächliche materielle Kriterien vor tief empfundene Liebe zu stellen:

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»If you loved as I do,« she earnestly replied, »you would not have so nearly lost me – these scruples of false delicacy and pride would never thus have troubled you – you would have seen that the greatest worldly distinctions and discrepancies of rank, birth, and fortune are as dust in the balance compared with the unity of accordant thoughts and feelings, and truly loving, sympathizing hearts and souls.« (TWH, 413, Hervorh. i.O.)

Auch hier ist es also die Liebe, die triumphiert. Wie in The Woman in White ist es der Mann, der durch die Eheschließung einen sozialen Aufstieg erfährt. In beiden Fällen muss dieser Zugewinn an Prestige und Vermögen jedoch für unwichtig erklärt werden, um als legitim zu gelten. In dieser Hinsicht erfüllt Gilberts Angst davor, Helen in eine »mésalliance« (TWH, 384) zu drängen, zusätzlich die Funktion zu beweisen, dass er frei von jedem materiellen Kalkül ist, Helen nur aus Liebe heiraten will und damit ihrer würdig ist – und den sozialen Aufstieg »verdient« hat. In Jane Eyre ist die Differenz zwischen Rochester und Jane zu Beginn noch größer: Sie ist die governess, er ihr Arbeitgeber. Der große Unter-

Liebe im viktorianischen Roman

schied in der sozialen und finanziellen Situation der Liebenden erscheint paradoxerweise ab dem Zeitpunkt, als sie einander ihre Liebe gestehen, verstärkt als Problem. Die Hochzeit scheitert vorerst daran, dass Rochester daraus ein Machtgefälle herstellt, indem er Jane wie eine Puppe oder einen Besitz behandelt. (Meines Erachtens trägt dieser Umstand mindestens genauso viel zum Scheitern bei wie der »offensichtliche«, den Plot umwälzende Grund, dass Rochester bereits verheiratet ist.) Jane muss erst durch das Erbe eines eigenen Vermögens unabhängig werden und Rochester durch einen Brand körperlich beeinträchtigt, um die Voraussetzungen dafür herzustellen, dass sie aus Liebe heiraten können. Nach ihrer Verlobung wehrt sich Jane vehement dagegen, von Rochester mit Schmuck, Kleidung und anderen Luxusgütern überschüttet zu werden, denn sie will von ihm keine Geschenke, sondern nur seine Liebe: »you shall give me nothing but [...] [y]our regard: and if I give you mine in return, that debt will be quit« (JE, 270). Jane ist entschlossen, ihre finanzielle Unabhängigkeit zu bewahren und damit, sich Rochester nicht zu unterwerfen. Anders als in den anderen Romanen wird Geld hier also nicht für irrelevant erklärt; im Gegenteil, erst die finanzielle Unabhängigkeit macht die freie und vor allem machtfreie Entscheidung für die geliebte Person möglich. Das bedeutet aber nicht, dass materielle Motive als Heiratsgründe nicht dennoch verpönt wären. Jane begegnet Rochesters Projekt, Blanche Ingram zu heiraten, obwohl er sie gar nicht liebt, weniger mit Entrüstung denn mit grundlegendem Unverständnis: I have not yet said anything condemnatory of Mr. Rochester’s project of marrying for interest and connections. It surprised me when I first discovered that such was his intention: I had thought him a man unlikely to be influenced by motives so commonplace in his choice of a wife; but the longer I considered the position, education, &c. [sic], of the parties, the less I felt justified in judging and blaming either him or Miss Ingram, for acting in conformity to ideas and principles instilled into them, doubtless, from their childhood. All their class held these principles: I supposed, then, they had reasons for holding them such as I could not fathom. It seemed to me that, were I a gentleman like him, I would take to my bosom only such a wife as I could love; but the very obviousness of the advantages to the husband’s own happiness, offered by this plan, convinced me that there must be arguments against its general adoption of which I was quite ignorant: otherwise I felt sure all the world would act as I wished to act. (JE, 187)

Eine Ehe, die auf Grund von materiellen Beweggründen geschlossen wird, wird explizit mit der gentry in Verbindung gebracht und als klassenspezifisch gesehen. Durch Janes sich als naiv inszenierenden Blick erscheint dies als oberflächlich und illegitim, ohne dass es vehement verurteilt würde. Jane wird in ihrer moralischen Integrität als den gentlemen und ladies weit überlegen eingestuft – für sie sind die Vorteile einer Liebesheirat so offensichtlich, dass sie sich gar nichts anderes auch nur vorstellen kann. Diese Haltung wird im letzten Teil des Romans noch einmal untermauert, als Jane sich wiederholt gegen den Antrag von St. John Rivers zur Wehr

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setzen muss. Rivers will als Missionar nach Indien gehen und Jane als seine Frau und Gehilfin mitnehmen. Jane erklärt sich einverstanden, ihn auf seiner Reise zu begleiten, ohne ihn zu heiraten – ein Vorschlag, den St. John mit Verweis auf gesellschaftliche Konventionen für unmöglich erklärt (vgl. JE, 405). Jane aber hält daran fest, dass eine Ehe ohne Liebe unerträglich wäre: Can I receive from him the bridal ring, endure all the forms of love (which I doubt not he would scrupulously observe) and know that the spirit was quite absent? Can I bear the consciousness that every endearment he bestows is a sacrifice made on principle? No: such a martyrdom would be monstrous. [...] my sense, such as it was, directed me only to the fact that we did not love each other as man and wife should; and therefore it inferred we ought not to marry. (JE, 405)

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Janes Cousine Diana bekräftigt diese Haltung. Auf Janes Frage »Would it not be strange, Die, to be chained for life to a man who regarded one but as a useful tool?«, antwortet sie: »Insupportable – unnatural – out of the question!« (JE, 416) Hier deutet sich bereits an, dass die Liebe in Jane Eyre – in noch höherem Maß als in den anderen Romanen – moralisch überhöht und naturalisiert wird. Allerdings hat der kurze Blick auf die Romane gezeigt, dass alle von ihnen auf die eine oder andere Weise Liebe ins Zentrum stellen und als einzig legitimen Grund für das Eintreten in eine Ehe proklamieren. In allen Fällen wird dies in erster Linie dadurch demonstriert, dass die Liebe sich in irgendeiner Weise gegen ihre »Gegenspieler« (Geld, Klassenunterschiede, Einfluss der Eltern, gesellschaftliche Konventionen) durchsetzen muss. Das ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass die Heiligkeit und Bedeutsamkeit der Liebe einen Konsens darzustellen scheinen. Warum muss sie sich trotzdem immer wieder behaupten? Oder, anders gefragt, welche Funktion hat die immer wiederkehrende Auffächerung »falscher« Motive? Welche Werte werden der Liebe gerade in Abgrenzung davon zugeschrieben? Der folgende Abschnitt wendet sich einzelnen Aspekten des Themenkomplexes »Liebesheirat« zu, um genauer nachzuvollziehen, mit welchen Bedeutungen die Liebe aufgeladen und in welche binären Gegensätze sie eingebunden wird.

3.2 Liebe als Heiratsgrund 3.2.1 Liebe – modern, jung, radikal Wir haben bereits gesehen, dass Liebe in den Romanen häufig als Generationenkonflikt erzählt wird. Die versuchte oder tatsächliche Einflussnahme der Eltern in Bezug auf die PartnerInnenwahl tritt als Hindernis auf, das dem Liebesglück im Wege steht. Am deutlichsten ist dies in The Woman in White, wo der Wunsch ihres verstorbenen Vaters Laura in eine ungewollte Ehe drängt. In The Tenant of Wildfell Hall und The Small House at Alling-

Liebe im viktorianischen Roman

ton handelt es sich hingegen eher um eine versuchte Einflussnahme, gegen die sich die jugendlichen Heldinnen vehement verwehren.1 Die konkrete Macht der Eltern bzw. Verwandten ist nicht groß: Helen und Bell lassen sich von ihrer Tante bzw. ihrem Onkel nicht von ihrer Entscheidung abbringen, und selbst Laura hätte die Möglichkeit, sich gegen den Willen ihres Vaters zu entscheiden, weigert sich aber aus Gründen der Loyalität. Dennoch räumen die Romane dieser Konfliktsituation viel Platz ein. Die Vermutung liegt nahe, dass sie sie als Bühne für eine andere Aushandlungsebene benötigen: Sie nutzen den Generationenkonflikt, um Liebe als jung, modern und zeitgemäß darzustellen. Die Situation selbst ruft bereits eine Reihe von Binaritäten auf. Die Eltern/Verwandten stehen auf der Seite der Konventionen, der Regeln, während die Auflehnung gegen diese Regeln oder ihre grundsätzliche Infragestellung mit Radikalität verknüpft ist: Helen verbittet sich in scharfem Ton jegliche Einflussnahme, während Bell bereits auf den Verdacht hin, ihr Onkel könne sich einmischen wollen, sofort den Umzug ihrer ganzen Familie plant und dabei einen erheblichen Verlust an materiellem Komfort und gesellschaftlichem Status in Kauf nimmt. Dazu kommt, dass die Elterngeneration auf verschiedene Art und Weise als traditionell und unmodern gezeichnet wird. Die Maxime von Helens Tante – »First study; then approve; then love« (TWH, 112) – erscheint trocken und weltfremd; und vor allem weit weg von Helens eigener Erfahrungswelt. Helen kommentiert in ihrem Tagebuch: I have sometimes been led to question the soundness of her doctrines on those subjects. Her counsels may be good, as far as they go – in the main points, at least; – but there are some things she has overlooked in her calculations. I wonder if she was ever in love. (TWH, 113, Hervorh. i.O.)

In The Small House at Allington wird die Weltsicht des Onkels ebenfalls als veraltet dargestellt. Mr. Dale reagiert auf Crosbies »Verrat« (seine Lösung der Verlobung mit Lily) mit der gebetsmühlenartig wiederholten Floskel: »I don’t understand it. On my honour I don’t understand it.« (z.B. SHA, 329) An vielen Stellen suggeriert seine direkte Rede Nostalgie für vergangene Zeiten und mangelndes Verständnis der Gegenwart, indem ein Gegensatz zwischen »heutzutage« und der Zeit seiner Jugend aufgebaut wird: »That may be all very well nowadays; but when I was a young man [...]« (SHA, 276). Besonders ältere männliche Nebenfiguren sind oft auf ähnliche Weise 1

Die Helden des Liebesplots hingegen werden entweder überhaupt nicht in einem familiären Umfeld situiert, oder dieses Umfeld hat keine große Bedeutung, was darauf hinweist, dass sie primär nicht als Söhne entworfen werden, anders als die Heldinnen, deren Status als Töchter bereits deutlich geworden ist. Die Frage elterlicher Einflussnahme auf die Helden in Bezug auf ihre Eheschließung ist in keinem der Romane ein relevantes Thema. Auf die subtil unterschiedliche Positionierung der Helden und Heldinnen in den Liebesplots gehe ich zu Beginn von Kapitel 4 näher ein.

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charakterisiert und verstärken den Eindruck eines fundamentalen Generationenunterschieds. Weitere Beispiele dafür sind der Anwalt Mr. Gilmore in The Woman in White oder Lord De Guest in The Small House at Allington. Die Einstellungen der Elterngeneration erscheinen als veraltet, realitätsfern, kurz: unmodern. Damit wird auch ihre Sicht auf Liebe und Ehe diskreditiert. Sie stehen für die »vernünftige« Position: die Auswahl des Ehemanns nach moralischen Kriterien (Helens Tante in The Tenant of Wildfell Hall) oder die Berücksichtigung der Wünsche der erweiterten Familie (Mr. Dale in The Small House at Allington), um nur zwei Beispiele zu nennen. An Mr. Dale wird besonders gut sichtbar, wie seine Ansichten als unzeitgemäß markiert werden, etwa im Zuge seiner Debatte mit Mrs. Dale über die von ihm gewünschte Ehe seiner Nichte Bell mit seinem Neffen Bernard, die oben bereits ausführlicher zitiert wurde. Mr. Dale sagt hier unter anderem: Of course I know that in these days a young lady is not to be compelled into marrying anybody; – not but that, as far as I can see, they did better than they do now when they had not quite so much of their own way. (SHA, 205 f., meine Hervorh.)

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Liebe, auf der anderen Seite, wird mit Jugendlichkeit verknüpft. Helens Onkel sagt zu Helen: »At your time of life, it’s love that rules the roast: at mine, it’s solid, serviceable gold.« (TWH, 151) Allerdings ist die Gleichsetzung von Liebe und Jugend durchaus ambivalent. Gerade in der eben zitierten Dialogzeile erscheint die Jugendlichkeit der Liebe eigentlich eher als Gemeinplatz. Zudem gibt es immer wieder Elternfiguren, die auf der Seite der Liebe und damit der Modernität stehen – allen voran Mrs. Dale, die Mutter von Lily und Bell. Sie tritt vehement für die Liebesheirat ein; eine Einflussnahme auf die Entscheidungen ihrer Töchter ist für sie undenkbar, wie wir weiter oben bereits gesehen haben: »There are some things in which I think no uncle, – no parent, – should interfere, and of all such things this is the chief.« (SHA, 403) Durch solche Figuren wie Mrs. Dale wird die Gleichsetzung von Liebe mit Jugend in Frage gestellt, und Liebe erscheint nicht nur als zeit-, sondern auch als alterslos. Gleichzeitig bleibt aber die Aura der Jugendlichkeit und Modernität bestehen, ohne dass Liebe jedoch als jugendlicher Wahn abgetan werden könnte. Weil sie sich gegen die Elterngeneration behaupten muss, kann sich die Liebe als radikal inszenieren; indem die Ansichten der Elterngeneration als veraltet markiert werden und die Plots sie meist als falsch und ihre Effekte oft als fatal entwerfen, muss die Liebe im Umkehrschluss modern und zeitgemäß sein. Die Entscheidung für eine Liebesheirat wird damit zu einer Art Avantgarde-Haltung. Das ist keine Erfindung des viktorianischen Zeitalters. Im Gegenteil: Die Glorifizierung der Liebe geht auf die Romantik zurück. Dort geht sie aller-

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dings noch einher mit der Verachtung der bürgerlichen Ehe. Peter Gay beschreibt dies ausführlich anhand von Stendhal und Balzac und deren Verachtung jedes Mittelmaßes, das sie vor allem von der Bourgeoisie verkörpert sehen: »the Americans were, for Stendhal, the quintessential bourgeois, and it followed, by definition, that their hopes of experiencing real love was exceedingly slim« (Gay 1986, 63). So auch bei Balzac: »In fact, Balzac found most middle-class women, like most middle-class men, unsuitable for love in any event. Love, he insists, is [...] a pursuit for the happy few.« (Gay 1986, 69) Liebe ist hier ein Mittel, um sich von der Masse, dem Durchschnitt, der Normalität abzuheben. Das Bürgertum wird mit Engstirnigkeit und Durchschnittlichkeit gleichgesetzt und damit für unfähig zu wirklicher Liebe erklärt. Angesichts dieser einhelligen Verachtung für die Bourgeoisie (Gay führt noch eine Reihe weiterer Beispiele dafür an2 ) ist es erstaunlich, dass im 19. Jahrhundert eine Aneignung von wesentlichen Elementen dieses Liebesdiskurses ausgerechnet durch das Bürgertum stattfand. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts, so Gay, war Liebe als Ideal weit verbreitet: Nineteenth-century bourgeois thought they knew, as people had thought since Virgil, that love conquers all; they liked to believe that love moves mountains, leaps barriers, laughs at locksmiths. Love, they might say with Stendhal, is »a tender passion,« but its soft, melting ways notoriously masks a will of steel. An unhappy suitor smarting under an unrequited infatuation could cite proverbs documenting his slavery; cynics might argue that it was money, not love, that conquers all. But common wisdom saw love as a ladder to freedom enabling lovers to surmount the obstacles – differences in status, religion, or regional loyalties – that convention would throw into their path. For good or ill, love, that primordial energy, seemed the universal solvent, the triumphant nemesis of social and cultural rigidities. So, at least, popular poets, essayists, and novelists would depict it. (Gay 1986, 97)

Einer populären Ideologie, die der Liebe eine große Macht zuschrieb, so Gay, stand in der ersten Hälfte des Jahrhunderts jedoch eine andere gesellschaftliche Normalität gegenüber. Erst um die Mitte des Jahrhunderts setzte sich auch die Praxis der Liebesheirat im Bürgertum durch: »After midcentury [...] even conventional bourgeois could be heard to denounce this materialistic hunt as unworthy of an idealized union which should be a blending of hearts rather than a transfer of funds.« (Gay 1986, 103) Beibehalten wird bei diesem Liebesbegriff, trotz der »Demokratisierung« der Liebe, zu der nun auch das Bürgertum Zugang haben sollte, das 2

Gay nennt z.B. Coleridge, dessen Position er wie folgt zusammenfasst: »bourgeois [...] were incapable of the kind of exalted union to which the romantics aspired. Their marriages were mere shams or, at best, inferior unions.« (Gay 1986, 58) Friedrich Schlegels Haltung zu bürgerlichen Ehen stehe dem um nichts nach, so Gay: »With its tepid feelings, boring conversations, constrained friendships, and assiduous efforts to please others, middle-class marriage did not embody love but institutionalized indifference.« (Gay 1986, 58)

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Element der Distinktion (vgl. Bourdieu 1987). Das Lesepublikum der 1840er, 50er und 60er Jahre musste, glaubt man Gay, nicht mehr davon überzeugt werden, dass eine Heirat aus Liebe die bessere Wahl sei. Dennoch entwirft fast jeder der untersuchten Romane eine Konfliktsituation, in der sich die Liebe erst durchsetzen muss. In The Woman in White beispielsweise erscheint das »alte« Modell der arrangierten Ehe zuerst als gesellschaftliche Normalität, auch wenn es diese Stellung zum Zeitpunkt des Erscheinens möglicherweise gar nicht mehr innehatte. Doch erst durch diese Konstellation ist die Liebe in der Position des Neuen und Radikalen – einer Position, die immer wieder gefestigt werden muss, indem neue Widerstände und Hindernisse entworfen werden, die die Liebe überwinden kann. Aber nicht nur die Liebe selbst wird als radikal und außergewöhnlich entworfen, auch das Individuum, das zu »wahrer« Liebe fähig ist, wird dadurch zu einem besonderen Menschen erklärt. Lisa Fletcher beobachtet, bezogen auf John Fowles’ The French Lieutenant’s Woman (Fowles 1998), dass die Nichtheldin als konventionell viktorianisch und »utterly knowable« (Fletcher 2008, 106) gezeichnet wird, während die Heldin geheimnisvoll und zeitlos erscheint und über den Konventionen steht (Fletcher 2008, 104). Das »Viktorianische« wird in diesem retro-viktorianischen Roman mit Prüderie und Konventionalität gleichgesetzt und erscheint damit wie eine Bebilderung der Repressionshypothese, deren analytische Gültigkeit Foucault eindrücklich in Frage gestellt hat, so Fletcher:

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The »Victorian age« in this novel describes, quite simply, the »age of repression« [Foucault 1990, 5]; in a sense, the ontological link between sex and repression »belongs« to the Victorian age. Foucault prefaces his introduction of the term »repressive hypothesis« with a recitation of the discourse which his term describes. He begins: »For a long time, the story goes, we supported a Victorian regime and we continue to be dominated by it even today« [Foucault 1990, 3, Hervorh. v. Fletcher]. In simple terms The French Lieutenant’s Woman can be read as one such story. Fowles’s tale of Victorian sexuality, of the relationship between Victorian and contemporary sexuality, depends upon the repressive hypothesis in order to make sense. (Fletcher 2008, 103)

Fletcher beschreibt mit Rückgriff auf Foucault, wie die Liebesgeschichte und ihre HeldInnen als modern und radikal positioniert werden. Während bei Fowles und in den hegemonialen Diskursen, die Foucault hinterfragt, das »Viktorianische« jedoch die konventionelle und unmoderne Position zugeordnet bekommt, weisen die viktorianischen Romane, die ich hier analysiere, diese Position wiederum einer vergangenen Generation zu. Das legt den Schluss nahe, dass der viktorianische Roman selbst die Differenz modern/unmodern im Herzen der Liebesgeschichte installiert, um damit den Helden oder die Heldin durch ihre Liebe über das Mittelmaß zu erheben und sie zu einem Teil der »few« oder »noble« zu machen, wobei der

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Begriff »noble« auf diese Weise der nobility entrissen und moralisch umgewertet wird (Fletcher 2008, 109 f.). 3 Die negative Bewertung von allem, was durchschnittlich ist, die für die Romantik charakteristisch war, bleibt also Teil des bürgerlichen Liebesdiskurses. Indem die Figur eine Liebesgeschichte erlebt, beweist sie nicht einfach, dass sie ein besonderer Mensch ist, vielmehr werden durch die Liebesgeschichte Individualität und Außergewöhnlichkeit erst performativ hergestellt. Die Liebe bringt einen Distinktionsgewinn, so Robert Polhemus: »If one followed the code, one automatically proved oneself genteel – exalted over those people who married out of economic necessity. One literally had ›class‹« (Polhemus 1968, 95). Allerdings zeigt die Sprache, die Polhemus hier verwendet, eine Ambivalenz auf, die für den Liebesdiskurs konstitutiv ist. Die Begriffe »genteel« und »class« oszillieren in ihren Konnotationen zwischen der Designation einer spezifischen Klassenzugehörigkeit und der verallgemeinerten Bedeutung des Außergewöhnlichen und Besonderen. Die sozialen und ökonomischen Machtverhältnisse, die dem Klassensystem eingeschrieben sind, werden zugunsten eines individualisierten und universalisierten Liebesdiskurses ausgeblendet. Ein sozialer Aufstieg durch eine »vorteilhafte« Ehe darf daher nach der Logik des Liebesdiskurses immer nur »unabsichtlich« oder »nebenbei« geschehen, wie wir im folgenden Abschnitt genauer sehen werden. Auf diese Weise kann der viktorianische Roman die Liebesehe als revolutionär, radikal, gegen Konventionen gerichtet positionieren. Ihr Siegeszug gegenüber der als veraltet und konventionell geltenden arrangierten Ehe erscheint als ein Symptom fortschreitender Individualisierung und steht für Modernität, wenn nicht für die Moderne selbst. 3

Die Frage, wie sich Foucaults Infragestellung der »Repressionshypothese« – der Vorstellung, Sexualität werde unterdrückt und müsse befreit werden – zu der hier beschriebenen Positionierung der Liebe als radikal und modern verhält, ist natürlich viel komplexer, als ich es oben dargestellt habe. Liebe wird in den Romanen in gewisser Weise als Befreiungsdiskurs entworfen und erfüllt damit eine ähnliche Funktion wie die Rede von der sexuellen Befreiung, deren problematische Implikationen Foucault herausgearbeitet hat. Eine einfache Parallelisierung gestaltet sich aber nicht zuletzt deshalb schwierig, weil das »Viktorianische« in den Überlegungen Foucaults einen spezifischen symbolischen Ort besetzt, der selbst erst genauer bestimmt werden müsste. Ansetzen könnte ein solcher Versuch beispielsweise bei Foucaults erster Kapitelüberschrift in Der Wille zum Wissen, »Nous autres, victoriens« (Foucault 1976, 7) und ihren subtil unterschiedlichen Konnotationen in den Übersetzungen. Auf Deutsch heißt es schlicht »Wir Viktorianer« (Foucault 1983, 9), während in der englischen Version mit »We ›Other Victorians‹« (Foucault 1990, 1) auf das Buch von Steven Marcus, The Other Victorians (St. Marcus 1969), angespielt wird, auf das Foucault wenig später explizit eingeht. Meines Erachtens ruft jede dieser Versionen verschiedene um den Begriff des »Viktorianischen« gruppierte Assoziationsketten auf, deren Erkundung nützlich sein könnte für ein close reading von Foucaults sehr dichtem und anspielungsreichem ersten Kapitel.

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3.2.2 Liebe als demokratisierende Macht Wir haben bereits gesehen, dass die Romane immer wieder betonen, dass Geld und Status keine Rolle für die Eheentscheidung spielen dürfen. Liebe hingegen wird als eine Macht dargestellt, die alle Unterschiede bedeutungslos macht. Laura liebt Walter, obwohl er nur ein armer Zeichenlehrer ist; Helen liebt Gilbert, »a sort of gentleman farmer« (TWH, 10), auch »when she was re-instated in her proper sphere« (TWH, 404); Jane liebt Rochester, obwohl sie die governess ist und er ihr Arbeitgeber; und Bell zieht den armen Dorfarzt ihrem reichen Cousin vor – um nur die prominentesten Beispiele aus den Romanen zu nennen. Der Liebe wird dabei die Fähigkeit zugeschrieben, die Liebenden zu »Gleichen« zu machen (im Sinn von ebenbürtig, nicht gleichartig). Das geschieht auf verschiedene Art und Weise. In Jane Eyre beispielsweise produziert die Liebe eine Art spirituelle Gleichheit, die auf einer tieferen und bedeutsameren Ebene angesiedelt wird als die Unterschiede in Vermögen und Stellung: »He is not to them what he is to me,« I thought: »he is not of their kind. I believe he is of mine; – I am sure he is, – I feel akin to him, – I understand the language of his countenance and movements: though rank and wealth sever us widely, I have something in my brain and heart, in my blood and nerves, that assimilates me mentally to him. [...]« (JE, 175)

Eine andere Möglichkeit der Nivellierung von Unterschieden besteht in der Idealisierung von Einfachheit und Armut. In The Small House at Allington betont Bell immer wieder, dass sie keinen Wert auf Wohlstand und den damit einhergehenden Lebensstil legt. Zum Beispiel sagt sie zu Dr. Crofts: I’ve always had a sort of aptitude for living in a pigsty; – a clean pigsty, you know, with nice fresh bean straw to lie upon. I think it was a mistake when they made a lady of me. I do, indeed. (SHA, 426)

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Damit untermauert sie ihre oben bereits zitierte Ablehnung des Audrucks »an excellent marriage« (SHA, 424). Reichtum und materieller Wohlstand werden nicht nur als Heiratsgrund diskreditiert, sondern generell für unwesentlich und nebensächlich erklärt. Auf ähnliche Weise spinnt Laura in The Woman in White einen Wunschtraum, in dem die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen ihr und Walter durch die geteilte Armut aufgehoben sind: I used to fancy what I might have been, if it had pleased God to bless me with poverty, and if I had been his wife. I used to see myself in my neat cheap gown, sitting at home and waiting for him, while he was earning our bread – sitting at home and working for him, and loving him all the better because I had to work for him – seeing him come in tired, and taking off his hat and coat for him – and, Marian, pleasing him with little dishes at dinner that I had learnt to make for his sake. (WW, 263, Hervorh. i.O.)

Auch hier wird die Liebe über andere, als oberflächlich markierte Bedürfnisse oder Wünsche gestellt. Lauras Tagtraum geht von einer Realität aus,

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die auf eine solche Weise verändert ist, dass die Hinderungsgründe für die Erfüllung ihrer Liebe wegfallen. Sie stellt sich aber nicht vor, dass Walter mehr Geld und einen höheren Status hat, sondern dass sie selbst arm ist. Auf dieser Basis imaginiert sie einen Ehealltag, der weibliche Hausarbeit genauso idealisiert wie die Armut, die ihre eigenhändige Verrichtung notwendig macht. Wie Laura und Bell erklären viele viktorianische Heldinnen ihre Bereitschaft, ihren Lebensstandard und ihre gesellschaftliche Stellung aufzugeben, wenn ihnen das ermöglicht, aus Liebe zu heiraten. Allerdings müssen sie diesen Entschluss nie in die Tat umsetzen, zumindest nicht auf Dauer, denn spätestens am Ende des Romans wird ihnen, manchmal auf wundersame Weise, ein beträchtliches Vermögen zuteil. Die Utopie der Einfachheit, die die Romane entwerfen, muss daher sehr kritisch betrachtet werden.4 Frederick Jameson weist darauf hin, dass diese Idealisierung von Armut – als utopischer Entwurf – nichts mit tatsächlicher materieller Armut zu tun hat: But here poverty [...] takes on something of the luminosity of a more joyous and Franciscan vision, of the light of the desert or the serenity that comes with fasting. But it is important to realize that neither of these poles – abundance and Franciscan poverty – exists in our world. Both are Utopian: [...] the choice of poverty is constituted out of a radical simplification of our everyday life in the present, a reduction of desire to the limits of need which has as little to do with moderation as a rather miserable class virtue as it does with real misery and the suffering of real hunger and destitution. (Jameson 2007, 155)

Daraus folgt, dass die materiell abgesicherte Position der Heldinnen eigentlich die Voraussetzung dafür ist, dass sie eine solche Utopie der Armut entwerfen können. Zudem wird noch deutlicher, dass diese Utopie die spezifische Funktion erfüllt, jegliche Berücksichtigung materieller Umstände als oberflächlich und berechnend zu markieren, während die Liebe und die Liebenden als genügsam und bescheiden definiert werden. Ein zentraler Begriff, der immer wieder im Zusammenhang mit Liebe verwendet wird, ist denn auch »disinterestedness«, wörtlich: »Uneigennützigkeit« oder »Selbstlosigkeit« (vgl. »disinterested«, Oxford German Dictionary 2004). Der Begriff drückt die Abwesenheit jedes anderen Interesses oder Motivs als der Liebe aus und gilt als Voraussetzung für »wahre« Liebe. Daher weisen Walter und Gilbert, die beide durch ihre Ehe einen sozialen und finanziellen Aufstieg erfahren, jeglichen Verdacht, sie könnten ein finanzielles Interesse an ihrer Geliebten haben, scharf zurück (vgl. WW, 454 und TWH, 386). Sir Percival hingegen ist der Prototyp des geldgierigen 4

Unter anderem wird in den Zitaten die Verknüpfung mit Sauberkeitsdiskursen sowie die Stilisierung von weiblicher Reproduktionsarbeit zu einem naturalisierten und freiwilligen Liebesdienst deutlich. Auf diese beiden Aspekte gehe ich an verschiedenen Stellen von Kapitel 4.2 näher ein.

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Adligen; mehr noch, sein finanzielles Interesse an Laura, das in Gilmores Erzählung von den Verhandlungen über den Ehevertrag klar zutage tritt, macht seine Zuordnung zur Kategorie des Antihelden eindeutig und unbestreitbar (vgl. WW, 148 ff.). Die Romane entwerfen also die Utopie eines machtfreien Raumes, der von allen ökonomischen Interessen bereinigt ist und eine Entscheidung allein auf Basis der Liebe ermöglicht. Laut Gay wurde aus diesem Grund um die Mitte des 19. Jahrhunderts Kritik an der Praxis der Mitgift (dowry) laut, denn diese erschien nun als das Gegenteil der Liebe: »by definition romantic love excludes all thoughts of acquisition and inequality; it celebrates, in its very nature, the absence of power« (Gay 1986, 105). Die Mitgift steht demgegenüber für Ungleichheiten, Abhängigkeiten und exzessive patriarchale Herrschaft: Bluntly, the institution [der Mitgift, J.C.] symbolized women’s dependence on the resources of others, her passive role as a bit of booty carried off by the triumphant warrior male. It was part and parcel of a system of power, concretely the power of men over women. (Gay 1986, 105)

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Indem die Liebe auf diese Weise als machtfreier Raum phantasiert wird, kann sie mit Gleichheit und Freiheit verknüpft werden: der Freiheit, sich aus Liebe für eine Ehe zu entscheiden, und der Gleichheit (equality), durch die diese Freiheit erst ermöglicht wird. Die Liebe rückt damit in die Nähe aufklärerischer und demokratischer Ideen. Hier verbinden sich die Ideale der distinterestedness und der Machtfreiheit mit der zuvor beschriebenen Dichotomie veraltet/modern. Im Gegensatz zu einem »alten« hierarchischen Herrschaftssystem (etwa dem adligen Modell der Konvenienzehe oder dem System der Mitgift) wird die Liebe als demokratisches Modell entworfen. Auf der Basis dieses Verständnisses von Liebe als inhärent demokratisch kann nun Gleichheit wiederum eingefordert oder Hierarchien angeprangert werden. Die Passage in Jane Eyre, in der Jane emphatisch auf der grundlegenden equality zwischen ihr und Rochester besteht, ist sicherlich eine der bekanntesten Versionen dieser Gleichheitsforderung: Do you think, because I am poor, obscure, plain, and little, I am soulless and heartless? – You think wrong! – I have as much soul as you, – and full as much heart! And if God had gifted me with some beauty, and much wealth, I should have made it as hard for you to leave me, as it is now for me to leave you. I am not talking to you now through the medium of custom, conventionalities, nor even of mortal flesh: – it is my spirit that addresses your spirit; just as if both had passed through the grave, and we stood at God’s feet, equal – as we are! (JE, 253)

Auf der Basis des Ausrufs »equal – as we are!« besteht Jane auf ihrer Liebe und ihrer Leidenschaft als einem Recht, das ihr unabhängig von ihrer finanziellen und familiären Situation zusteht. Die Liebe, die die Romane entwerfen, ist also nicht nur demokratisch in dem Sinn, dass sie Unterschiede in Vermögen und Status ignoriert, ihr wird auch die Macht zuge-

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schrieben, diese aufzuheben, also selbst eine demokratisierende Wirkung zu entfalten. Die emphatische Forderung nach Gleichheit, die Jane Eyre ausspricht, richtet sich gegen Klassen- und Statusdifferenzen, aber darin klingt auch der Protest gegen Geschlechterhierarchien an. Denn wenn die Ehe aus freier Entscheidung und zwischen Gleichen geschlossen werden soll, werden vergeschlechtlichte Machtverhältnisse ebenfalls zum Problem. Dieser Frage wende ich mich im Folgenden zu.

3.2.3 Liebe als Emanzipationsdiskurs In Jane Eyre wird also deutlich, dass es bei der Idee, wahre Liebe finde zwischen equals statt, neben Geld und Status auch um Geschlechterverhältnisse geht. Denn wenn die freie Entscheidung auf Basis der Liebe nur in einem als machtfrei phantasierten Raum möglich ist, müssen auch Frauen in die Lage versetzt werden, sich in dieser Weise frei zu entscheiden. Der Zusammenhang zwischen dieser Konzeption von Liebe und dem politischen Kampf für Demokratie und Teilhabe war laut Peter Gay für Konservative um die Mitte des Jahrhunderts offensichtlich. Sie sahen die Forderung nach »free choice«, also nach dem Recht der Frauen auf freie Wahl des Ehepartners, als gefährliche feministische Forderung und fürchteten sich vor der US-amerikanischen »rage for equality« (vgl. Gay 1986, 100). Dem Liebesdiskurs – bzw. der diskursiven Etablierung von Liebe als alleinigem Heiratsgrund – ist gewissermaßen die Forderung nach der Emanzipation von Frauen eingeschrieben, denn im Beharren auf die Entscheidung aus Liebe affirmiert die Heldin ihre Unabhängigkeit und ihren freien Willen. Dass die so emphatisch eingeforderte Entscheidungsfreiheit jedoch nur genutzt werden kann, um zwischen verschiedenen Ehemännern zu entscheiden, machen die Romane unsichtbar. Darauf weist Rachel Blau DuPlessis hin: As a gendered subject in the nineteenth century, she [die Heldin, J.C.] has barely any realistic options in work and vocation, so her heroism lies in self-mastery, defining herself as a free agent, freely choosing the romance that nonetheless, in one form or another, is her fate. (DuPlessis 1985, 14)

Die »freie« Entscheidung aus Liebe begründete für Frauen zudem ein neues Abhängigkeitsverhältnis in Form der Ehe, denn die untergeordnete Position der Ehefrau war rechtlich festgelegt. Das entsprechende Rechtsprinzip der coverture beschreibt Rachel Ablow wie folgt: Under coverture, the wife’s legal identity was effectively absorbed into her husband’s. All her »personal« property was transferred to her husband at the time of the marriage. All land, or »real« property, reverted to her in the case of her husband’s death, but he controlled any income it generated during his lifetime. In addition, anything the wife earned or inherited during the marriage legally belonged to the husband. Nor could she make contracts or incur debts without his approval. Nor could she sue or be sued in a court of law. (Ablow 2007, 10)

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Eine Frau verlor durch die Eheschließung demnach ihre Existenz als Rechtssubjekt: »she became ›nonexistent‹ in the eyes of the law« (Poovey 1988, 52). Dieser Umstand wurde um die Jahrhundertmitte heftig diskutiert, wie Lisa Surridge feststellt: »women’s legal nonexistence under marital coverture [was] a hot-button topic in the late 1840s and onward« (Surridge 2005, 86). Das gilt auch für die hier analysierten Romane. Denn obwohl die Ehe als Ziel der narrativen Teleologie (besonders für Frauen) feststeht, wird sie nicht als unproblematisch dargestellt. Im Gegenteil, die Romane beschäftigen sich eingehend mit der Möglichkeit unglücklicher und gewaltförmiger Ehen. Die prekäre Position, in die Frauen in der Ehe oft geraten, wird ausführlich dargestellt und skandalisiert. In The Woman in White breitet der Anwalt Mr. Gilmore in seiner Erzählung beispielsweise die juristischen Aspekte des Ehevertrags (settlement) aus, den er für Laura aufgesetzt hat (WW, 149 ff.). Er ermahnt seine Leser_innen sogar, diese Ausführungen auf keinen Fall zu überlesen: »I warn all readers of these lines that Miss Fairlie’s inheritance is a very serious part of Miss Fairlie’s story« (WW, 149). Ein Ehevertrag könnte Lauras rechtliche Position geringfügig verbessern5 , aber dieser Vertrag liegt wiederum in den Händen ihrer männlichen Verwandten. Ihr Onkel, Mr. Fairlie, wird als zu egozentrisch und desinteressiert dargestellt, um sich darum zu kümmern – eine Haltung, die der Roman scharf kritisiert. Beispielsweise drückt Gilmore seine Missbilligung aus, indem er seine Erzählung mit den Worten beschließt: Seriously and sorrowfully, I repeat here the parting words that I spoke at Limmeridge House: – No doughter of mine should have been married to any man alive under such a settlement as I was compelled to make for Laura Fairlie. (WW, 163)

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Die weitere Entwicklung des Plots untermauert die deutliche Kritik an der finanziellen Entmündigung von verheirateten Frauen, denn der Roman zeigt, dass Laura ihrem Ehemann völlig ausgeliefert ist. Sir Percival kann nicht nur über ihr Vermögen verfügen, er hat sogar die Macht, ihren Tod vorzutäuschen und sie unter falschem Namen in die psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Diese »sensationellen« Elemente sind typisch für den Sensationsroman der späten 1850er und 1860er Jahre, stellen aber gleichzeitig eine logische Dramatisierung der Entmachtung verheirateter Frauen dar.

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Allerdings stand diese Option nur den Reichen zur Verfügung, so Ablow: »Only the extremely wealthy were routinely exempted from these laws: under the rules of equity, a portion of a married woman’s property could be set aside in the form of a trust for her use or the use of her children. However, the legal costs involved in establishing trusts made them unavailable to the vast majority of the population.« (Ablow 2007, 10)

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In The Tenant of Wildfell Hall ist die Kritik an der rechtlichen Situation von Ehefrauen nicht minder scharf, hier wird jedoch vor allem das Sorgerecht fokussiert. Helen bleibt bei ihrem gewalttätigen Mann, weil sie durch eine Trennung das Sorgerecht für ihren Sohn verlieren würde – der Vater hat ein Anrecht auf die gemeinsamen Kinder, ähnlich wie auf das gemeinsame Vermögen. Denn auch das Kind wird, ähnlich wie die Ehefrau, als Eigentum des Mannes definiert, so Laura Berry: Custody law in pre-industrial England supports the primacy of property and status in the legal relations of the family, and the enduring importance of primogeniture. The child is in effect a form of property and so, like all other wealth in the marriage, belongs more or less exclusively to the husband. (L. Berry 1996, 34)

Berry verortet The Tenant im Kontext der Debatten um den Custody of Infants Act von 1839, der Frauen die Möglichkeit einräumte, vor Gericht ein sehr eingeschränktes Sorgerecht zu erkämpfen.6 Ähnlich wie Laura hat Helen kaum Möglichkeiten, aus ihrer Ehe zu entkommen, obwohl die Ehemänner in beiden Fällen als gewalttätig dargestellt werden.7 Erst der Divorce and Matrimonial Causes Act von 1857 ermöglichte es Frauen unter bestimmten Umständen, eine Scheidung einzureichen: [...] the act’s double standard notoriously allowed a husband a divorce on the grounds of adultery alone, while a wife had to prove adultery plus either incest, bigamy, rape, sodomy, bestiality, cruelty, or desertion [...]. Yet while the act severely limited women’s access to divorce, it did offer to an abused wife the possibility of a judicial separation on the grounds of cruelty alone. Such a separation would give her the right to be treated as a femme sole with respect to any property she subsequently acquired. (Surridge 2005, 155, Hervorh. i.O.)

All diese Themen wurden um die Jahrhundertmitte intensiv diskutiert und bildeten, in den Worten von Surridge, »a web of Victorian issues surrounding marital power – coverture, married women’s property law, divorce law, conjugal rights« (Surridge 2005, 4), das auch in den analysierten Romanen sehr präsent ist. Die rechtlichen Aspekte bleiben dort allerdings eher vage. Ansatzpunkt der Thematisierung ist vielmehr die Machtlosigkeit von Frauen und, damit zusammenhängend, die exzessive männliche Dominanz, die 6

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»The 1839 Custody of Infants Act [...] allowed a wife who was separated from her husband to petition the court and, provided she was of good character, to gain access to her young children and, potentially (although it was unlikely), temporary custody of those children still under seven years of age.« (L. Berry 1996, 34 f.) Siehe dazu Surridges Analysen der beiden Romane im Kontext der Debatten um »wife assault« (Surridge 2005). Häusliche Gewalt konnte ab 1828 aufgrund des Offenses Against the Person Act vor Gericht gebracht werden: »Social historians recognize 1828 as a key turning point for abused women because legal redress became cheaper and more accessible.« (Surridge 2005, 8) Diese Möglichkeit wurde vor allem von Frauen aus der Arbeiterklasse in Anspruch genommen, während erst der Matrimonial Causes Act von 1857 die Sichtbarkeit von häuslicher Gewalt im Bürgertum signifikant erhöhte (Surrigde 2005, 8 f.).

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die Ehe in dieser Form ermöglicht. Indem die Texte männliche Herrschaft anprangern, gleichzeitig jedoch am Modell der Liebesehe (und damit der Ehe) festhalten, wird das Problem verschoben, wie Surridge exemplarisch für Gewalt gegen Frauen zeigt: »many Victorians hoped to solve wife beating by reforming masculinity rather than by changing the rights of women« (Surridge 2005, 73). Ein allzu großes Machtgefälle, das betonen die Romane immer wieder, steht der Liebe im Weg. Daher wird exzessive männliche Dominanz einhellig verurteilt – sei es Rochesters Spendierlaune in Jane Eyre, auf die ich gleich näher eingehen werde, oder Sir Percivals und Arthur Huntingdons verbale und physische Brutalität in The Woman in White bzw. The Tenant of Wildfell Hall. Angeprangert wird dabei nicht nur männliche Gewalt oder Willkür, sondern das hierarchische Verhältnis zwischen den Eheleuten im Allgemeinen. In The Tenant beschwert sich Rose, Gilbert Markhams Schwester, darüber, dass ihre Mutter von ihr erwartet, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse immer hinter die ihrer Brüder zurückzustellen. Nachdem sie einige Beispiele aufgezählt hat, gibt sie anklagend einen Grundsatz ihrer Mutter wieder: I’m told I ought not to think of myself – »You know, Rose, in all household matters, we have only two things to consider, first, what’s proper to be done, and secondly, what’s most agreeable to the gentlemen of the house – any thing will do for the ladies.« (TWH, 49)

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Für die Mutter sind die Rollen in der Ehe klar verteilt. Über Gilberts (hypothetische) zukünftige Ehefrau sagt sie zu ihm: »it’s your business to please yourself, and hers to please you« (TWH, 50). Diese Aufteilung häuslicher Pflichten wird nicht nur von Rose kritisiert, sondern auch von Gilbert, der zwar zugibt, dass sie »convenient« ist (TWH, 49), der jedoch das Ideal einer gleichberechtigten Ehe vertritt: »when I marry, I shall expect to find more pleasure in making my wife happy and comfortable, than in being made so by her: I would rather give than receive.« (TWH, 50) Der »moderne« Mann, das wird hier angedeutet, fühlt sich genauso verantwortlich für das häusliche Glück wie seine Frau, während die Ansichten der Mutter als altmodisch dargestellt werden. Wieder wird hier also die Dichotomie veraltet/ modern mobilisiert, in diesem Fall, um das Ideal einer gleichberechtigten Ehe gegenüber dem Modell männlicher Herrschaft in Stellung zu bringen. Der Konflikt zwischen diesen beiden Modellen wird an einer anderen Stelle von The Tenant noch deutlicher, an der Huntingdon seiner Frau Helen Vorwürfe macht, die im Text klar als absurd markiert sind: »You are breaking your marriage vows yourself,« said he, indignantly rising and pacing to and fro. »You promised to honour and obey me, and now you attempt to hector over me, and threaten and accuse me and call me worse than a highwayman. If it were not for your situation Helen, I would not submit to it so tamely. I won’t be dictated to by a woman, though she be my wife.« (TWH, 199)

Liebe im viktorianischen Roman

Das Versprechen im Rahmen des Ehegelöbnisses, »to honour and obey«, also den Ehemann zu ehren und ihm zu gehorchen, wird von Huntingdon wörtlich interpretiert. Der Roman macht klar, dass Huntingdon damit eine auf Liebe basierende Ehe unmöglich macht. Auf einer analytischen Ebene belegt diese Stelle allerdings noch viel eindrücklicher den unauflösbaren Widerspruch zwischen dem Ehegelöbnis auf der einen und dem vom Roman proklamierten Gleichheits- und Machtfreiheitsgebot der Liebe auf der anderen Seite. Dieser Widerspruch ist in Jane Eyre ebenfalls sehr deutlich zu sehen. Nach Janes erster Verlobung mit Rochester will dieser sie mit Kleidern und Schmuck überhäufen, doch Jane lehnt sich gegen das Abhängigkeitsverhältnis auf, das sie in diesen Geschenken begründet sieht. Rochester erscheint ihr wie ein tyrannischer Herrscher: He smiled; and I thought his smile was such as a sultan might, in a blissful and fond moment, bestow on a slave his gold and gems had enriched: I crushed his hand, which was ever hunting mine, vigorously, and thrust it back to him red with the passionate pressure [...] (JE, 269)

Jane fühlt sich von dem Machtgefälle, das Rochester ihr aufdrängt, erniedrigt: »the more he bought me, the more my cheek burned with a sense of annoyance and degradation« (JE, 268). Jane fühlt sich in die Rolle einer Haremsdame gedrängt und wehrt sich vehement dagegen: »›I’ll not stand you an inch in the stead of a seraglio,‹« (JE, 269) sagt sie zu Rochester. Die orientalistische Metaphorik dieser Episode steht für Joyce Zonana in engem Zusammenhang mit der Frage ehelicher Machtverhältnisse: [...] by calling Rochester a »sultan« and herself a »slave,« Jane provides herself and the reader with a culturally accepted simile by which to understand and combat the patriarchal »despotism« [JE, 274] central to Rochester’s character. Part of a large system of what I term feminist orientalist discourse that permeates Jane Eyre, Charlotte Brontë’s sultan/slave simile displaces the source of patriarchal oppression onto an »Oriental,« »Mahometan« society [...] (Zonana 1993, 593)

Der orientalistische Diskurs, der hier zur Sprache kommt, stellt den »Orient« als rückständig und patriarchal dar. Zonana zeigt, wie dieses Orientbild im feministischen Diskurs als Chiffre für die Unterdrückung von Frauen benutzt wird. Bevor Jane Rochester heiraten kann, muss er erst voll und ganz »verwestlicht« werden (vgl. Zonana 1993, 597), d.h. er muss sein despotisches Verhalten ablegen, um für eine »moderne« »westliche« Liebesehe in Frage zu kommen. Berühmterweise bewerkstelligt der Roman diese Transformation dadurch, dass er Rochester durch den Verlust seiner Sehkraft und seiner rechten Hand auf körperlicher Ebene entmachtet. Auf diese Weise, so suggeriert es der Roman, ist eine Art Gleichgewicht zwi-

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schen den Liebenden hergestellt.8 Jane sagt zu Rochester: »I love you better now, when I can really be useful to you, than I did in your state of proud independence, when you disdained every part but that of the giver and protector.« (JE, 445) Die Liebesheirat wird also auf zwei Ebenen mit einem Emanzipationsdiskurs verknüpft: In ihrem Namen wird auf dem Recht der Frauen bestanden, ihren Ehepartner frei zu wählen, sowie die patriarchale Herrschaft in der Ehe angeprangert. Problematisch ist daran nicht nur, dass dabei mitunter, wie etwa in Jane Eyre, kritikwürdige Dichotomien (»zivilisierter« Westen versus »patriarchaler« Orient) mobilisiert werden. Es ist vielmehr die teleologische Struktur des Liebesplots selbst, die die scheinbar emanzipierte Stimme der Heldin zum Schweigen bringt, so Lanser: This narrative contract in which plot curtails voice and voice gives plot the illusion of openness reconciles heterosexual patriarchy with democratic individualism by representing a woman’s silencing as the product of her own desire [...] (Lanser 1992, 32)

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Die Verknüpfung von Liebe und Emanzipation kann demnach nur funktionieren, wenn die Ebene grundlegender struktureller Kritik an der Institution der Ehe ausgeblendet wird. Stattdessen kreisen die Romane beständig um die Suche nach dem »richtigen« Ehepartner, der – so die darin eingeschriebene Hoffnung – die ihm rechtlich zur Verfügung stehende Macht über seine Ehefrau nicht ausschöpfen wird. Auf die Verhandlungen von Männlichkeit, die das mit sich bringt, gehe ich in Kapitel 4.1 ausführlich ein. Die Suche nach dem »richtigen« Ehepartner oder der »richtigen« Partnerin ist jedoch auch verknüpft mit der Frage, wie »wahre« Liebe erkannt werden kann. Denn wenn ein als zutiefst subjektiv entworfenes Gefühl als Basis für eine Entscheidung dienen soll, die das gesamte weitere Leben bestimmen wird, kommt dem Versuch, Kriterien für das Erkennen »echter« Liebe zu finden, höchste Bedeutung zu. Im Rahmen des viktorianischen Romans mit seiner hegemonialen Struktur des Happy Ends ist »wahre« Liebe, ganz allgemein gesprochen, die Liebe, die glücklich macht. »Wahre« Liebe, so die zugrunde liegende Logik, führt zur Wahl der »richtigen« EhepartnerInnen und damit in eine »glückliche« Ehe. Auf die Implikationen dieser Verknüpfung von Liebe und Glück gehe ich weiter unten ein, vorerst wende ich mich jedoch der Frage zu, wie die Romane die Liebe selbst zu definieren suchen.

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Das Gleichgewicht wird dadurch untermauert, dass Jane ihren Onkel beerbt und dadurch finanziell von Rochester unabhängig wird – allerdings aufgrund des Prinzips der coverture nur bis zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung, auch wenn der Roman diesen Aspekt ausblendet.

Liebe im viktorianischen Roman

3.2.4 »Wahre« Liebe als Heiratsgrund Für die Frage nach der Verlässlichkeit von Liebe als alleiniges Kriterium für eine Eheentscheidung ist The Tenant of Wildfell Hall besonders interessant, denn hier wird die Möglichkeit dramatisiert, dass es sich bei der Entscheidung der Heldin um eine falsche Entscheidung handeln könnte. Wir haben bereits gesehen, dass Helen ihrer Tante gegenüber auf ihrem Recht besteht, aus Liebe zu heiraten. Die Warnungen der Tante wirken altmodisch und verknöchert: [...] when the citadel of the heart is fairly besieged, it is apt to surrender sooner than the owner is aware of, and often against her better judgment, and in opposition to all her preconceived ideas of what she could have loved, unless she be extremely careful and discreet. (TWH, 111)

Obwohl die Herangehensweise der Tante keine Option darzustellen scheint, bewahrheitet sich doch die Aussage, dass die Blindheit und Unvernunft, die durch die Liebe hervorgerufen wird, ins Unglück führen kann, denn Helen besteht darauf, Arthur Huntingdon aus Liebe zu heiraten, und landet auf diese Weise in einer zutiefst unglücklichen Ehe. Erst nach ihrer Heirat erkennt sie, dass sie sich ein falsches Bild von Huntingdon gemacht hat: »To be sure, I might have known him, for every one was willing enough to tell me about him, and he himself was no accomplished hypocrite, but I was wilfully blind« (TWH, 171). Zudem stellt sich Helens Liebe selbst bald als oberflächlich heraus. Helen urteilt retrospektiv darüber: »I was infatuated once, with a foolish, besotted affection, that clung to him in spite of his unworthiness« (TWH, 273). An anderer Stelle heißt es: »Oh! when I think how fondly, how foolishly I have loved him, how madly I have trusted him« (TWH, 262). In diesen Sätzen findet sich das zentrale Vokabular, mit dem die Romane eine Liebe als unecht und oberflächlich markieren: infatuated/infatuation (vernarrt, Vernarrtheit), foolish (verrückt, töricht), besotted (betört, berauscht, benommen), madly (wahnsinnig, wie eine Verrückte_r). Bei all diesen Begriffen ist die Konnotation der psychischen Krankheit deutlich sichtbar, aber auch die der Trunkenheit bzw. des Rauschzustands.9 Liebe rückt damit in eine gefährliche Nähe zur Geisteskrankheit. Das wird auch in The Woman in White deutlich, wenn Marian über Walter sagt: »it looks as if his one fixed idea about Laura was becoming too much for his mind«

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In infatuation steckt das lateinische Wort fatuus (töricht, albern; engl. foolish); besotted entsteht aus der Kombination von be (»cause to be«) und sot (Säufer_in), wobei sot wiederum auch die verblichene Bedeutung fool hat (vgl. »besotted«, »infatuate«, Oxford Dictionary of English 2010; »sot«, Oxford Dictionary of English Etymology 1996; »besot«, Duden-Oxford Großwörterbuch 1999; »infatuated«, »foolish«, »madly«, Oxford German Dictionary 2004; und »fatuus«, Stowasser 1991).

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»The Power of Love«

(WW, 168, meine Hervorh.). Nicht nur wird Walters Liebe als (ungesunde, nicht »normale«) Fixierung bezeichnet, Liebe kann darüber hinaus die ganze Person in den Wahnsinn führen. Gilmore berichtet von einer Begegnung mit Walter, bei der er die Zeichen beginnender Wahnhaftigkeit zu erkennen meint (vgl. WW, 157 f.).10 Auch in Bezug auf Lilys Liebe in The Small House klingt an, dass es sich um eine Obsession handeln könnte: »there are positions which cannot be reached, though there be no physical or material objection in the way. It is the view which the mind takes of a thing which creates the sorrow that arises from it.« (SHA, 546, meine Hervorh.) Zudem bezeichnet Lily ihre Liebe ebenfalls als »foolish«: »He was very foolish to fall in love with me. And so was I very foolish to let him love me, at a moment’s notice, – without a thought as it were.« (SHA, 481)11 Wenn Liebe blind und verrückt macht, wie kann sie als Entscheidungskriterium für das Eingehen einer Ehe und damit für das ganze weitere Leben gelten? Die Romane bieten keine wirkliche Alternative zur Liebesheirat an. Die Ratschläge, die Helen in The Tenant einer jüngeren Freundin gibt, und die für eine Kombination von Liebe und Vernunft eintreten, bleiben vage und abstrakt: »When I tell you not to marry without love, I do not advise you to marry for love alone – there are many, many other things to be considered.« (TWH, 318, Hervorh. i.O.) Welche Dinge dies sind und wie ein solcher Entscheidungsprozess verlaufen könnte, wird nicht präzisiert. Helen selbst lässt sich auch das zweite Mal von der Liebe leiten. Gegen Ende des Romans sagt sie zu Gilbert (wie oben bereits zitiert): »If you loved as I do,« she earnestly replied, »you would not have so nearly lost me – these scruples of false delicacy and pride would never thus have troubled you – you would have seen that the greatest worldly distinctions and discrepancies of rank, birth, and fortune are as dust in the balance compared with the unity of accordant thoughts and feelings, and truly loving, sympathizing hearts and souls.« (TWH, 413, Hervorh. i.O.)

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Diese Liebe zu Gilbert erscheint ihrer »Vernarrtheit« in Bezug auf Arthur Huntingdon diametral entgegengesetzt. Sie wird als echt markiert, sowohl explizit (»truly«) als auch, indem Bilder von Tiefe und Innerlichkeit evoziert werden. »Wahre« Liebe wird definiert als die Übereinstimmung von Gedanken und Gefühlen, also von Nichtausgesprochenem, Persönlichem, dessen Sitz das Herz und die Seele ist – beides Symbole für das Innere der Person. Eine solche Liebe ist nicht nur ein Gefühl, sondern sie macht die

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Darauf gehe ich in Kapitel 5.3 näher ein. Viele Analysen legen Lilys Liebe in dieser Richtung aus: als Obsession, fixe Idee, ja sogar als perverse Fixierung (vgl. besonders Gilead 1985, Polhemus 1968; vgl. auch Vlasopolos 2009, Anderson 2007, Garrett 1980). Dabei schwingt oft eine aggressive und pathologisierende Haltung gegenüber der Figur der Lily mit, ein Umstand, der in vielen Fällen zu verkürzten und einseitigen Analysen geführt hat, wie bereits in der Einleitung erwähnt.

Liebe im viktorianischen Roman

Person selbst aus. Gilbert sagt zu Helen: »if I am to be so changed that I shall cease to adore you with my whole heart and soul, and love you beyond every other creature, I shall not be myself« (TWH, 343). Eine Veränderung in seiner Liebe zu Helen, so wird es hier suggeriert, würde ihn so grundlegend verändern, dass er nicht mehr dieselbe Person wäre. In The Small House at Allington besteht Lily auf ähnliche Weise auf der Unveränderlichkeit der Liebe: »What can a heart be worth if it can be transferred hither and thither as circumstances and convenience and comfort may require?« (SHA, 633) Die auf diese Weise konzipierte Liebe entzieht sich der bewussten Kontrolle und der Beeinflussung durch den Willen. In The Small House kommentiert der Erzähler: If the heart were always malleable and the feelings could be controlled, who would permit himself to be tormented by any of the reverses which affection meets? Death would create no sorrow; ingratitude would lose its sting; and the betrayal of love would do no injury beyond that which it might entail upon worldly circumstances. But the heart is not malleable; nor will the feelings admit of such control. (SHA, 546)

Das, was die Romane als »wahre« Liebe entwerfen, zeichnet sich also durch Tiefe, Innerlichkeit, Echtheit und Konstanz aus. Die Vorstellung, sie könne nicht durch die Vernunft beeinflusst werden, stellt dabei nicht unbedingt einen Kontrollverlust für das liebende Subjekt dar. Vielmehr dient der Verweis auf die Unkontrollierbarkeit der Steigerung der Authentizität und der Sakralisierung der Liebe. In Jane Eyre wird der Versuch, sich selbst die Liebe zu verbieten, explizit als blasphemisch bezeichnet: Did I say, a few days since, that I had nothing to do with him but to receive my salary at his hands? Did I forbid myself to think of him in any other light than as a paymaster? Blasphemy against nature! (JE, 175)

In vielen der Romane findet sich eine Szene, in der der Protagonist oder die Protagonistin versucht, sich eine als unerfüllbar eingestufte Liebe zu verbieten. Dieser Versuch der Kontrolle der Liebe durch rationale Argumente und Willenskraft ist jedoch unweigerlich zum Scheitern verurteilt. In The Woman in White stellt Walter Hartright resigniert fest: Why was this easiest, simplest work of self-culture always too much for me? The explanation has been written already in the three words that were many enough, and plain enough, for my confession. I loved her. (WW, 65)

Anders als die ProtagonistInnen »wissen« die im modernen Liebesdiskurs geschulten Leser_innen, dass sich die Liebe nicht durch Willensanstrengungen beeinflussen lässt, und können sich daher – in der Gewissheit, dass die Liebe sich Bahn brechen wird – an solchen Szenen erfreuen. Gleichzeitig wird dadurch immer wieder die Absolutheit und Unbeeinflussbarkeit der Liebe untermauert und Liebe – »wahre«, »tiefe«, »echte« Liebe – naturalisiert.

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3.3 Liebe als Glücksversprechen Die Frage nach dem Erkennen »wahrer« Liebe und die Suche nach der optimalen Methode für die Wahl eines Ehepartners oder einer Ehepartnerin sind deshalb so zentral, weil die Romane Liebe und Glück verknüpfen. Liebe, so suggerieren sie auf vielfältige Weise, ist der beste, wenn nicht der einzige Weg zum perfekten Glück. Allerdings ist es in dieser Logik nicht die Liebe selbst, die glücklich macht, sondern die »erfüllte« Liebe – oder, anders gesagt, die in die Ehe überführte Liebe. Liebe und Ehe fallen im Happy End zusammen: in dem Moment, in dem sich für die Heldinnen und Helden in der Regel das perfekte Glück realisiert. Daher setzt dieser Abschnitt beim genretypischen Happy End an, um davon ausgehend weitere Aspekte der Thematisierung von Liebe in Verbindung mit Glück zu beleuchten.

3.3.1 Beschreibungen von Liebesglück Zuallererst fällt auf, dass das Glück, das den ProtagonistInnen am Ende des Romans zuteil wird, kaum erzählt wird. Die eigentliche Handlung endet damit, dass die Ehe geschlossen wird, oder sogar schon mit dem gegenseitigen Eingeständnis der Liebe. Danach kommen in der Regel einige Seiten, in denen summarisch das weitere Schicksal der Figuren mehr berichtet als erzählt wird. Auch das eheliche Liebesglück der Hauptfiguren wird meist nur knapp festgestellt, wie etwa in The Tenant of Wildfell Hall: As for myself, I need not tell you how happily my Helen and I have lived and loved together, and how blessed we still are in each other’s society, and in the promising young scions that are growing up about us. (TWH, 417)

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Noch lapidarer heißt es in The Woman in White: »We lived so simply and quietly, that the income which I was now steadily earning sufficed for all our wants.« (WW, 641) Trotz der hier entworfenen Genügsamkeit sorgt der Roman auf den darauf folgenden Seiten noch für die materielle Absicherung des Liebesglücks, indem Walters und Lauras kleiner Sohn durch den Tod des Onkels dessen Geld, Familiensitz und Zugehörigkeit zur landed gentry erbt (vgl. WW, 641 ff.). Nur in Jane Eyre wird das Glück, das das Happy End den Figuren bringen soll, etwas ausführlicher beschrieben. Das letzte Kapitel beginnt mit den berühmten Worten »Reader, I married him« (JE, 448) und kündigt dann den summarischen Teil explizit an: »My tale draws to its close: one word respecting my experience of married life, and one brief glance at the fortunes of those whose names have most frequently recurred in this narrative, and I have done.« (JE, 450) Das »eine Wort« über die Erfahrung des Ehelebens lautet dann folgendermaßen: I have now been married ten years. I know what it is to live entirely for and with what I love best on earth. I hold myself supremely blest – blest beyond what language can express; because I am my husband’s life as fully as he is mine. No

Liebe im viktorianischen Roman

woman was ever nearer to her mate than I am: ever more absolutely bone of his bone, and flesh of his flesh. I know no weariness of my Edward’s society: he knows none of mine, any more than we each do of the pulsation of the heart that beats in our separate bosoms; consequently, we are ever together. To be together is for us to be at once as free as in solitude, as gay as in company. We talk, I believe, all day long: to talk to each other is but a more animated and an audible thinking. All my confidence is bestowed on him; all his confidence is devoted to me: we are precisely suited in character; perfect concord is the result. (JE, 450 f.)

Wörter wie »entirely«, »supremely«, »absolutely«, »fully«, »best«, »perfect« dominieren die Passage. Die Superlative unterstreichen die Aussage, das beschriebene Glück sei »beyond what language can express«, und rufen zudem Bilder von Ganzheit, Vollkommenheit und Vollständigkeit – und damit von Perfektion – auf. Jane erlebt ihr Glück als höchsten Segen (»I hold myself supremely blest«) und unterstreicht damit die Heiligkeit des Liebesglücks. Dazu kommt das Element der Dauer: Jane und Rochesters Liebe wird nie langweilig, es gibt in der Perfektion keinen Raum für Überdruss oder gar Konflikte. Im Gegenteil, das Glück ist auf Dauer gestellt. So sagt Rochester zu Jane: »our honey-moon will shine our life-long: its beams will only fade over your grave or mine« (JE, 449). Alle diese Dinge sind typisch für die klassische Struktur des realistischen Romans. Durch sein Happy End in der Ehe verspricht der Roman endloses Glück in der Art eines religiösen Heilsversprechens. Wie der christliche Himmel ist die glückliche Ehe, die am Ende des viktorianischen Romans steht, der Zeit enthoben. Dieses immerwährende Glück in der Ehe kann aber nicht erzählt werden, denn erzählerische Spannung scheint ohne Zeitlichkeit nicht möglich zu sein, zumindest nicht im Kontext des realistischen Romans. Das betont auch Robert Polhemus: But the particulars of heaven-on-earth will not bear closer scrutiny than heavenin-the-sky and, in fact, surprisingly few Victorian novels, or any other novels for that matter, deal with marriage in much detail or at all well. Marriages in fiction – particularly nineteenth-century fiction – almost always seem artificial and static. (Polhemus 1968, 101)

Perfektes Glück muss immer perfekt bleiben, es durchläuft keine Veränderungen oder Entwicklungen und ist damit – zumindest aus der Perspektive der Erzählung – inhärent langweilig. (Das ist wohl einer der Gründe, warum oft die Abwesenheit von Langeweile beschworen wird.) Das dauerhafte Liebesglück rückt in seiner Statik zudem unweigerlich in die Nähe des Todes. Vivasvan Soni betont die strukturelle Parallelität von Tod und Ehe als Ende einer Narration, die Glück als Belohnung nach einer Zeit der Prüfungen figuriert. Diese trial narrative, wie er sie nennt, setzt den Tod und die Ehe gleichsam als Moment des Übergangs in eine andere, bessere Welt, die jedoch vage bleibt: Heaven remains the most abstract of the determinations of happiness solicited by the trial narrative. Viewed from the perspective of narrative, it is no more than a narratological placeholder, signifying the end of trial and the beginning of a time

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of happiness. It holds open a narrative place for happiness, without explaining the specific content of happiness or the nature of the experience. (Soni 2010, 270)

Die verschiedenen Formen, in denen Glück als narrative Belohnung auftritt, zeichnen sich, so Soni, dadurch aus, dass sie frei austausch- und kombinierbar sind. Nicht nur die Ehe wird als Paradies beschrieben, auch der Himmel kann in Begriffen der Ehe dargestellt werden: [...] two of the commonest figurations of heavenly happiness, throughout a long Christian tradition, are precisely marriage and pleasure. Heaven can be figured as a mythical union with God, a marriage precisely. Or heavenly time may be interpreted as a time in which an affect (pleasure, joy, ecstasy) can be sustained in a perpetual present for all eternity. Indeed, all three figures may be present together, so that heaven is a marriage to God that heralds a time of eternal bliss. (Soni 2010, 270 f.)

Erfüllte, glückliche Liebe kann demnach, strukturell gesehen, nur am Ende des Romans, jenseits der eigentlichen Erzählung, existieren. Denn die Erzählstruktur der Liebesgeschichte beruht darauf, dass das Glück immer wieder aufgeschoben und verunmöglicht werden muss, so Boone, um erzählbar zu bleiben: On a textual level [...] the courtship novel’s fundamental structure of frustration and fulfillment is built around the principle of delayed gratification – for only as long as the lovers are kept apart or the desired condition is deferred will the story keep moving forward or the reader continue reading. Once the possibility of a straight line between the romantically attracted protagonists has been established and »two« become »one,« the plot in effect returns to the one-dimensionality from which it arose [...] (Boone 1987, 80)

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In den meisten Romanen findet sich in der Mitte der Erzählung eine kurze Episode, die als glückliche Liebe beschrieben wird, diese wird jedoch unweigerlich entweder durch eine Katastrophe oder durch Einflussnahme von außen zerstört, erweist sich als Fehleinschätzung oder ähnliches: In Jane Eyre stellt sich bei der Hochzeit heraus, dass Rochester bereits verheiratet ist; Lily wird in The Small House at Allington von ihrem Verlobten verlassen; Helen findet in The Tenant of Wildfell Hall nach der Hochzeit heraus, dass sie sich in ihrem Ehemann getäuscht hat; und in The Woman in White greift die Schwester, Marian, ein und erklärt die Liebe von Laura und Walter für unmöglich. In The Woman in White wird besonders deutlich, dass die Beschreibung von Liebesglück aus der eigentlichen Erzählung herausfällt. Walter Hartrights Erzählung ist ansonsten vorwiegend im dramatischen Modus gehalten. Ein Ereignis folgt dem nächsten, es gibt viele Dialoge, und über weite Strecken herrschen »detektivische« Elemente vor – es werden Rätsel aufgeworfen, die von Walter mit Hilfe von Marian gelöst werden müssen und die Vorausdeutungen auf den Fortgang der Geschichte darstellen. Die wenigen Seiten jedoch, auf denen Walter von seiner beginnenden Liebe zu Laura berichtet, schlagen einen ganz anderen Ton an:

Liebe im viktorianischen Roman

The days passed on, the weeks passed on; and the track of the golden autumn wound its bright way visibly through the green summer of the trees. Peaceful, fast-flowing, happy time! my story glides by you now, as swiftly as you once glided by me. (WW, 62)

Die Tage und Wochen verbinden sich hier zu einer Einheit, die metaphorisch mit dem Bild eines Flusses verbunden wird. Das subjektive Zeitempfinden der Figuren (die Zeit vergeht schnell) wird explizit mit der Erzählzeit gleichgesetzt: Die geraffte Erzählung dieser glücklichen Zeit, die nur fünf Seiten umfasst, erhebt so den Anspruch, das Liebesglück nicht nur zu beschreiben, sondern auch das damit einhergehende Zeitgefühl nachzuempfinden. Ereignisse sind in dieser Passage nicht in ihrer Singularität bedeutsam, sondern in ihrer Regelmäßigkeit. Der typische Tagesablauf wird in Form einer iterativen Erzählung geschildert (vgl. WW, 63 f.) und mit selbstreflexiven Kommentaren des Erzählers versehen, die von der Spannung zwischen den Perspektiven und Wissensständen des Erzählers und der Figur leben: »I know, now, that I should have questioned myself from the first.« (WW, 64) »Why was this easiest, simplest work of self-culture always too much for me?« (WW, 65) – um nur zwei Beispiele zu nennen. Ist die Atmosphäre zu Beginn des beschriebenen Abschnitts noch gekennzeichnet durch das Bild des goldenen Herbsts, kippt sie in der folgenden Passage, die die Anfangsworte wieder aufgreift, in eine bedrohlichere Stimmung: The days passed, the weeks passed; [...] The delicious monotony of life in our calm seclusion, flowed on with me like a smooth stream with a swimmer who glides down the current. All memory of the past, all thought of the future, all sense of the falseness and hopelessness of my own position, lay hushed within me into deceitful rest. Lulled by the Syren-song that my own heart sung to me, with eyes shut to all sight, and ears closed to all sound of danger, I drifted nearer and nearer to the fatal rocks. (WW, 65)

Diese Zeit zeichnet sich durch Einförmigkeit und Stasis aus. Sie lullt den Erzähler ein und macht ihn blind und taub für die Realität und damit die Unmöglichkeit seiner Liebe. Die Ruhe, die Stille und damit auch das mit ihnen verbundene Glück sind trügerisch. Der Gesang der Sirenen steht paradigmatisch für diese trügerisch-einlullende Wirkung und kündigt die kommende Wendung an: das Ende der glücklichen Zeit. Dieses innerhalb der Erzählung verortete Glück wird damit als trügerisches Paradies charakterisiert, das durch seine Irrealität gekennzeichnet ist. Genauso wie der Sirenengesang der Figur etwas vorgaukelt, das nicht real ist, wird Liebesglück in der Mitte des Romans oft als Traum bezeichnet: »the brief dream-time of my happiness and my love« (WW, 116). Auf ähnliche Weise erscheint dieses Glück in Jane Eyre als Tagtraum oder Märchen: »to imagine such a lot befalling me is a fairy tale – a daydream« (JE, 258). In Jane Eyre wird zudem noch eine andere Art von

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Täuschung durch glückliche Liebe beschrieben. Über die Zeit nach ihrer ersten Verlobung schreibt Jane: My future husband was becoming to me my whole world; and more than the world: almost my hope of heaven. He stood between me and every thought of religion, as an eclipse intervenes between man and the broad sun. I could not, in those days, see God for his creature: of whom I had made an idol. (JE, 274)

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Rochester nimmt hier für Jane quasi den Platz Gottes ein. Liebe, so deutet es der Roman an, kann zur Idolisierung der geliebten Person führen und damit zu einem Realitätsverlust. Im Unterschied zum Ende des Romans, wo vergleichbare Formulierungen wie das bereits zitierte »I know what it is to live entirely for and with what I love best on earth« (JE, 450) ganz anders konnotiert sind, erscheint dies in der Mitte des Romans als problematisch. Denn wie wir gesehen haben, hat das Glück seinen Ort jenseits der Erzählung: Nur dort kann das Glücksversprechen der Liebe mit dem christlichen Versprechen des Himmels zusammenfallen. Insofern wird Liebe zwar häufig als »paradise upon earth« (SHA, 300) oder als »earthly heaven« (SHA, 124) bezeichnet, doch die Romane warnen gleichzeitig vor den Verheißungen dieses Paradieses, die, dem »Sirenengesang« gleich, im Verlauf des Plots oft zu Blindheit und Unvernunft führen – und damit neue Hindernisse für die Liebe generieren und die Erzählung in Gang halten. In Jane Eyre ist die »Versuchung« des »falschen Paradieses« besonders groß. Nach der gescheiterten Hochzeit schlägt Rochester Jane vor, unverheiratet mit ihm zusammenzuleben. Jane kämpft mit sich selbst und ihren moralischen Werten: »There was a heaven – a temporary heaven – in this room for me, if I chose« (JE, 320). Wichtig ist hier der Einschub »temporary«. Indem das Glück, das an dieser Stelle möglich ist, als vorläufig markiert wird, kann es kein vollkommenes Glück sein, denn der Himmel zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er der Zeit enthoben ist. Das Gleiche gilt für Glück, so Soni: »Happiness, [...] if there is to be any, must exist radically outside time and narrative.« (Soni 2010, 288)

3.3.2 Liebe als phantasmatische Wunscherfüllung Schilderungen von Liebesglück in der Mitte des Romans weisen also zwei zentrale Charakteristika auf: Irrealität und Vorläufigkeit. Die Liebe scheitert vorerst entweder am Realitätsverlust der Liebenden oder an der (gesellschaftlichen) Realität der Romane. Aber Liebesglück ist noch auf eine andere Weise in den Erzählungen präsent: in Form von Phantasien. Diese stehen zwar auch einer »Realität« gegenüber, aber auf andere Weise als die bereits beschriebenen »trügerischen Paradiese«. Oft handelt es sich um Phantasien einer glücklichen Liebe, die real nicht möglich erscheint. So stellt sich Crosbie in The Small House at Allington immer wieder vor, wie glücklich er

Liebe im viktorianischen Roman

mit Lily geworden wäre, aber erst, nachdem er die Verlobung mit ihr gelöst hat: How often would he have kissed Lily, and how pretty would her bonnet have been when she reached the end of her journey, and how delightfully happy would she have looked when she scolded him for bending it! But Alexandrina was quite in earnest about her bonnet; by far too much in earnest for any appearance of happiness. (SHA, 495 f.)

Im Vergleich zur Realität – seiner soeben geschlossenen Ehe mit Alexandrina – idealisiert Crosbie Lily und das imaginierte gemeinsame Liebesglück. Für ihn ist immer das begehrenswert, was unerreichbar ist. Während er mit Lily verlobt ist, stellt er sich einen trostlosen, desolaten Ehealltag vor; kaum hat er die Verlobung gelöst, wird der Ehealltag mit Lily in seiner Phantasie zum Paradies auf Erden: That house full of babies in St. John’s Wood appeared to him now under a very different guise [...]. Then such an establishment had to him the flavour of a graveyard. It was as though he were going to bury himself alive. Now that it was out of his reach, he thought of it as a paradise upon earth. (SHA, 300)

Die früheren Horrorvisionen (bebildert mit Elementen, die tatsächlich Assoziationen zum gothic genre wecken: der Friedhof, lebendig begraben werden) beziehen sich auf eine mögliche oder sogar wahrscheinliche Zukunft. Crosbie ist außer Stande, sich einen glücklichen Ehealltag vorzustellen. Das ist einerseits Teil der psychischen Charakterisierung seiner Figur, aber enthält auch ein strukturelles Element: Ein glücklicher Ehealltag ist schwer vorstellbar.12 Die Wunschphantasien der Figuren sind meist wenig konkret und entwerfen ein idealisiertes Bild. Ein Begriff, der in The Small House at Allington immer wieder in diesem Zusammenhang eingesetzt wird, ist der des Luftschlosses, der für die Unerfüllbarkeit und Irrealität von Crosbies Phantasien steht: And as he leaned back in his arm-chair, [...] an idea made its way into his brain, – a floating castle in the air, rather than the image of a thing that might by possibility be realized; and in this castle in the air he saw himself kneeling again at Lily’s feet, asking her pardon, and begging that he might once more be taken to her heart. (SHA, 378)

Auch John Eames, Crosbies Rivale, imaginiert eine erfolgreiche Liebesgeschichte mit Lily, die zumindest zum Zeitpunkt der Phantasien gänzlich außer Reichweite erscheint: »For hours upon hours he would fill his mind with castles in the air, dreaming of wonderful successes in the midst of which Lily Dale always reigned as a queen.« (SHA, 572) Als Eames kurz

12

Eine Ausnahme ist die bereits erwähnte Phantasie eines armen, einfachen Lebens; aber auch diese ist weit entfernt von dem Ehealltag, der die bürgerlichen Figuren tatsächlich erwartet (und noch weiter entfernt von der Realität tatsächlicher Armut), und damit genauso durch Irrealität gekennzeichnet.

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»The Power of Love«

davor ist, Lily einen Heiratsantrag zu machen, wünscht er sich beinahe die Irrealität seiner früheren Träume zurück: When he had carved that name [Lilys, J.C.] on the rail, his love for Lily had been an idea. It had now become a reality which might probably be full of pain. If it were so, – if such would be the result of his wooing, – would not those dreamy old days have been better than these – the days of his success? (SHA, 574)

Wieder wird hier ein Gegensatz zwischen Traum, Phantasie und Wunschvorstellung auf der einen und Realität auf der anderen Seite aufgebaut. Gerade die Unerreichbarkeit des Gewünschten macht die Phantasie ungefährlich und bequem, während erfüllbare Wünsche die Möglichkeit des Scheiterns beinhalten. Um das erträumte Liebesglück zu erreichen, müssen sich die Figuren aus dem Bereich der Phantasie herauswagen und bereit sein, Risiken einzugehen. Der Roman selbst nimmt dabei eine ambivalente Position ein. Innerhalb der erzählten Welt steht das Liebesglück, das die ProtagonistInnen am Ende des Romans erreichen, auf der Seite der Realität. Das ist zentral für das Glücksversprechen der Romane: dass erwiderte und in der Ehe institutionalisierte Liebe vollkommenes Glück bedeutet und dass dieses eine real erreichbare Zukunft und nicht lediglich ein phantasiertes Ideal darstellt. Gleichzeitig ist natürlich das Lesen eines Romans der Inbegriff der ungefährlichen, bequemen Wunscherfüllungsphantasie. Interessant ist dabei, dass diese Ambivalenz in den Romanen selbst durchaus präsent ist und mitunter explizit verhandelt wird. So unterhalten sich Bell und Lily an einer Stelle von The Small House über einen Roman, offensichtlich eine Liebesgeschichte, und Lily sagt: »I am quite sure she was right in accepting him, Bell,« [...] »It was a matter of course,« said Bell. »It always is right in the novels. That’s why I don’t like them. They are too sweet.«

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»That’s why I do like them, because they are so sweet. A sermon is not to tell you what you are, but what you ought to be, and a novel should tell you not what you are to get, but what you’d like to get.« »If so, then, I’d go back to the old school, and have the heroine really a heroine, walking all the way up from Edinburgh to London, and falling among thieves; or else nursing a wounded hero [...]. But if we are to have real life, let it be real.« »No, Bell, no!« said Lily. »Real life sometimes is so painful.« (SHA, 459 f., meine Hervorh.)

Als zentrale Funktion des Romans wird hier explizit die Wunscherfüllung definiert, die der kurzzeitigen Flucht aus dem schmerzhaften »wahren« Leben dient. Die Perfektion, die er entwirft (»It always is right in the novels«), kann zwar aus einer »realistischen« Perspektive als »too sweet« empfunden werden, aber sie ist auf der anderen Seite genau das, was der Teil der Leser_innenschaft, für den Lily steht, von einem Roman erwartet: phantasmatische Wunscherfüllung. Gleichzeitig ist es gerade Lily, die an ihrer unmöglichen Liebe festhält und damit ein als möglich positioniertes Glück in

Liebe im viktorianischen Roman

Form einer Ehe mit John Eames verweigert, die also die »Irrealität« der Phantasien dem »realen« Glück vorzieht.13 Der Status von phantasiertem oder imaginiertem Glück bleibt damit durchaus ambivalent.

3.3.3 Glück, Freiheit und Selbsttransformation: Utopische Versprechen des Liebesdiskurses Um es zusammenzufassen: Der Liebesroman verspricht, dass in der Liebe (und nur dort) das vollkommene Glück gefunden werden kann. Dieses Glück ist jedoch jenseits der erzählbaren Handlung angesiedelt, was eine spezifische teleologische Orientierung und damit zeitliche Strukturierung der Erzählung zur Folge hat. Innerhalb der Erzählung selbst hat Liebe den Status phantasmatischer Wunscherfüllung (für die Figuren) – womit der Bogen geschlossen wäre, denn das Liebesversprechen der Romane ist, an die Leser_innen gerichtet, ebenfalls ein Angebot phantasmatischer Wunscherfüllung.14 Aber der Roman ist mehr als nur Wunscherfüllung: Er beinhaltet das utopische Versprechen einer besseren Welt bzw. eines glücklicheren Lebens, das durch Liebe realisiert werden kann. Das Glücksversprechen der Liebe weist damit über die erwiderte, »erfüllte« und in der Ehe verstetigte Liebe selbst hinaus und wird zu einem umfassenden Versprechen auf Glück, Freiheit und Selbstverwirklichung. In Jane Eyre wird diese Verknüpfung sehr deutlich, denn hier ist Freiheit, oder die Befreiung von Zwängen, explizit ein zentrales Thema. Jane leidet unter ihrem begrenzten Leben, das ihr – als arme Frau ohne verwandschaftliche Anbindung, der eigentlich nur der Beruf der governess offen steht – kaum Spielraum für neue Erfahrungen lässt. In einem viel zitierten Monolog rebelliert sie gegen die gesellschaftlichen Beschränkungen, denen sie unterworfen ist: Anybody may blame me who likes, when I add further, that, now and then [...] I longed for a power of vision which might overpass that limit; which might reach the busy world, towns, regions full of life I had heard of but never seen: that then I desired more of practical experience than I possessed; more of intercourse with my kind, of acquaintance with variety of character, than was here within my reach. (JE, 108 f.)

13 14

Auf die Figur der Lily und ihre Position als Heldin eines »gescheiterten« Liebesplots gehe ich in Kapitel 4.2 näher ein. Natürlich nur unter anderem. Romane halten immer eine Vielzahl von Angeboten und Anrufungen bereit, die sich mitunter auch widersprechen. Wenn hier die Rede von Wunscherfüllung als einer Rezeptionsweise ist, soll nicht der weit verbreiteten Abwertung von Liebesgeschichten als »bloßer« Wunscherfüllung oder Eskapismus Vorschub geleistet werden.

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»The Power of Love«

Dieser enge Horizont erweitert sich schlagartig, als Jane sich in Rochester verliebt – obwohl sich nichts an ihrer Situation oder an der Begrenztheit ihrer Lebensumstände ändert: So happy, so gratified did I become with this new interest added to life, that I ceased to pine after kindred: my thin crescent-destiny seemed to enlarge; the blanks of existence were filled up; my bodily health improved; I gathered flesh and strength. (JE, 146)

Die Sehnsucht nach Freiheit, die zuerst als Wunsch nach praktischer Erfahrung, Begegnung mit verschiedenen Menschen und räumlicher Bewegung beschrieben wird, wird damit auf das Feld der Liebe verschoben. Jane sehnt sich nicht mehr nach »verwandten Seelen« oder mehr Erfahrung – die Liebe ist interessant genug, um diese Fragen bedeutungslos zu machen, und eine einzige »verwandte Seele« ersetzt den Wunsch nach vielfältiger sozialer Interaktion. Diese Verschiebung beinhaltet zwei zusammenhängende Operationen. Einerseits wird Liebe mit dem Versprechen aufgeladen, nicht nur Glück, sondern auch Freiheit zu bringen – im Sinn von erweiterten Möglichkeiten, einem Mehr an Erfahrung, Horizonterweiterung etc. Andererseits wird aber das Streben nach dieser Freiheit umgedeutet: Es scheint, als sei Janes Sehnsucht nach Freiheit »eigentlich« immer schon eine Sehnsucht nach Liebe gewesen. Ihr Wunsch nach »Welterfahrung« (und damit nach einem Bildungsplot) bleibt damit nicht nur unerfüllt, er wird quasi für unmöglich erklärt. Jane muss zwar im Verlauf der Geschichte »hinaus« in die Welt, aber dies geschieht weder freiwillig, noch wird es als Erfüllung oder Befreiung dargestellt. Als sie Rochester wiederfindet und mit ihm zusammen sein kann, erlebt sie dies hingegen als Befreiung von allen Zwängen und damit als Erfüllung ihrer Freiheitssehnsüchte:

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There was no harassing restraint, no repressing of glee and vivacity with him; for with him I was at perfect ease, because I knew I suited him: all I said or did seemed either to console or revive him. Delightful consciousness! It brought to life and light my whole nature: in his presence I thoroughly lived; and he lived in mine. (JE, 437)

Das Zusammensein mit der geliebten Person wird hier als eine Art Zusich-Kommen beschrieben, in dem sowohl das dem Individuum inhärente Potenzial realisiert wird (»It brought to life my whole nature«), als auch das Innere und das Äußere der Person zu einer perfekten Übereinstimmung finden. Damit ist keinerlei Zurückhaltung oder Unterdrückung innerer Impulse mehr nötig, und das Individuum kann – so das Versprechen – wirklich frei sein. Die Liebe bringt, so wird es suggeriert, erst zum Vorschein, was im Inneren verborgen war; sie ist die Realisierung eines zuvor unerkannten (oder nur geahnten) Potenzials. Dieses Element der Transformation wird in The Small House at Allington auf besonders markante Weise im Bild der Raupe,

Liebe im viktorianischen Roman

die sich in einen Schmetterling verwandelt, figuriert. Lily sagt zu ihrem Verlobten: When I think of it, what a six weeks it has been. I wonder whether the difference seems to you as great as it does to me. I’ve left off being a grub, and begun to be a butterfly. (SHA, 121)15

Das Glücksversprechen der Liebe beinhaltet also zwei miteinander verwandte Freiheitsversprechen: die Befreiung von äußeren Zwängen und die transformative Selbstverwirklichung des Individuums. Wir haben in diesem Kapitel bereits gesehen, wie Liebe als revolutionär inszeniert wird, indem die freie Entscheidung des Individuums für ein Liebesobjekt glorifiziert und gegenüber gesellschaftlichen Konventionen, Klassengrenzen und hierarchischen Geschlechterverhältnissen privilegiert wird. Eva Illouz spricht in dieser Hinsicht von der Liebe als einer »utopia of transgression« (Illouz 1997, 6): [...] romantic love has been imbued with an aura of transgression, while being elevated to the status of a supreme value. The figures that haunt our romantic imagination affirm the inalienable rights of passion, defy the normal arrangements and divisions by gender, class, or national loyalties. (Illouz 1997, 8)

Wie wir gesehen haben, wird Liebe als individualistischer Gegenpol zur konventionalisierten Gesellschaft entworfen und reklamiert daher für sich, der Macht und dem Gesetz zu entkommen und ein Stück Freiheit zu realisieren: »romantic love has articulated a longing for and a utopian model of the sovereignty of the individual above and often against the claims of the group« (Illouz 1997, 9, Hervorh. i.O.). Das Betonen der Hindernisse, die der Liebe in den Weg gestellt werden, ermöglicht es, auf ihrer transgressiven Kraft zu beharren. Die Liebe wird mit revolutionärem Pathos aufgeladen und mit einem umfassenden Versprechen nach Glück und nach einer besseren Zukunft verknüpft. Dabei ist bereits angeklungen, dass der Liebesdiskurs eine spezifische Form von Subjektivität sowohl voraussetzt als auch produziert. Den damit verbundenen Subjektivierungsweisen und Selbsttechniken wende ich mich in den nun folgenden Kapiteln zu, nachdem ich in diesem Kapitel in erster Linie versucht habe, die Logik des Liebesdiskurses im viktorianischen Roman selbst zu rekonstruieren. Dabei ist deutlich geworden, wie inhärent problematisch viele der Versprechen sind, die mit Liebe verknüpft werden: freie PartnerInnenwahl, Demokratisierung, Emanzipation von Frauen, Befreiung von äußeren Zwängen, Selbstverwirklichung, Individualität, Glück. All dies ist so sehr positiv – um nicht zu sagen revolutionär-religiös – aufgeladen, dass immer wieder ein bewusster Akt des Zweifelns nötig ist, um 15

Auf die Bedeutung dieser Metapher für weibliche Subjektkonstitution und die damit zusammenhängende Festlegung der Protagonistinnen auf den romance plot gehe ich in Kapitel 4.2 näher ein.

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»The Power of Love«

die »andere Seite« dieses Versprechens in den Blick zu bekommen bzw. die Funktionen zu sehen, die das Versprechen erfüllt. Liebe ist eben auch, so Lisa Fletcher, »a compulsive narrative trajectory which struggles to cement the romance plot as a life imperative for each and every one of us« (Fletcher 2008, 44 f.). Die weiteren Kapitel meiner Arbeit verfolgen dementsprechend das Ziel, »hinter die Fassade« dieses Liebesdiskurses zu sehen und seine emphatischen Versprechen und Postulate daraufhin zu befragen, welche Operationen der Normalisierung, Naturalisierung und der (Re-) Produktion gesellschaftlicher Ungleichheiten und Hierarchien sie zugleich vornehmen und verschleiern.

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4 . Begehren und begehrt werden: Bürgerliche Subjektivierungsweisen in der Liebe Analysen von The Tenant of Wildfell Hall und The Small House at Allington In Kapitel 3 haben wir gesehen, dass die Liebesideologie der Romane ein Paradox produziert. Während die Romane die Liebe als alleinigen legitimen Heiratsgrund etablieren und untermauern, beschreiben sie ausführlich Fälle, in denen sich die Liebe gerade nicht durchgehend als zuverlässige Entscheidungsgrundlage erweist. Das trifft sowohl auf The Tenant of Wildfell Hall mit seiner Geschichte einer unglücklichen und gewaltvollen Ehe zu, als auch auf The Small House at Allington mit dem zentralen Plotelement der abgebrochenen Verlobung. Ich habe bereits gezeigt, dass die Romane in diesem Paradox gefangen sind – sie bekräftigen gleichzeitig die Norm der Ehe aus Liebe und warnen vor den Gefahren. Gleichzeitig versuchen sie das Problem dadurch zu »lösen«, dass sie ihre Leser_innen im Erkennen »wahrer« Liebe schulen. Das betrifft einerseits die Frage nach der idealen Beschaffenheit von Liebe, um die es ebenfalls in Kapitel 3 ging. Andererseits jedoch, und zu einem beträchtlichen Teil, wird die Frage nach der »wahren« Liebe auf die Frage nach dem »richtigen« Partner oder der »richtigen« Partnerin eng geführt. Die Figuren, aber auch die Leser_innen, müssen »lernen«, welcher Mann bzw. welche Frau begehrt werden soll und darf. Anders gesagt geht es dabei um die Verhandlung von Weiblichkeitsund Männlichkeitsnormen im Hinblick darauf, was als begehrenswert gelten kann. Damit begebe ich mich expliziter als bisher in das weite Feld viktorianischer Geschlechterverhältnisse und -konstruktionen hinein, denn die Frage danach, welche Figuren von den Romanen auf welche Weise als legitimes oder gar idealisiertes Begehrensobjekt dargeboten werden, lässt sich nicht ohne sorgfältige kulturhistorische Kontextualisierung beantworten. Gleichzeitig birgt gerade die unglaubliche Fülle an Forschungen zu viktorianischen Geschlechterkonstruktionen unter beinahe jeder nur erdenklichen Perspektive durchaus die Gefahr, den eigentlichen Gegenstand dieser Analyse aus dem Blick zu verlieren: die im Liebesdiskurs eingeschriebenen Operationen der Naturalisierung, Universalisierung und Normalisierung.

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»The Power of Love«

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Daher musste ich viele Aspekte, die für die Analyse der Romane grundsätzlich interessant und aufschlussreich gewesen wären (z.B. zum Thema Mutterschaft oder weiblichem künstlerischem Schaffen), beiseitelassen, um den Fokus auf das Feld der Liebe nicht zu verlieren. In der Analyse von The Tenant of Wildfell Hall und The Small House at Allington, die ich in diesem Kapitel vornehme, konzentriere ich mich demnach auf die Ebene der Figurencharakterisierung. Wie werden die Männerund Frauenfiguren beschrieben? Welche Funktion haben sie in der Liebeserzählung und wie wirkt sich das auf ihre Darstellung im Text aus? Welche Männlichkeiten und Weiblichkeiten präsentiert der Text als begehrenswert? Dabei wird schnell klar, dass es kaum Figuren gibt, die als Verkörperungen eines Ideals fungieren. Im Gegenteil, interessant sind die Figuren gerade in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit. Umso wichtiger ist es, die Wertungsstrukturen des Romans mit zu berücksichtigen. Hier fließen Aspekte der Sympathielenkung und der Verteilung von poetic justice ein, aber auch der Aufbau des Plots (etwa in der Form parallelisierter Subplots) oder die Rolle des Erzählers oder der Erzählerin sind an einigen Stellen von Relevanz.1 In der heteronormativen Struktur der Liebesgeschichte verweisen Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen immer aufeinander. Wir haben bereits gesehen, dass die Form des two suitor plots die Struktur der Romane dominiert. Dieser Plot ist um eine junge weibliche Hauptfigur im »heiratsfähigen« Alter organisiert, die vor die Aufgabe gestellt ist, den »richtigen« Mann als ihren zukünftigen Ehemann auszuwählen, wobei es, wie wir in diesem Kapitel sehen werden, fast immer zwei Bewerber gibt, über die in der Gegenüberstellung und Kontrastierung Männlichkeitsideale verhandelt werden. Das könnte den Schluss nahelegen, dass die weibliche Hauptfigur in einer sehr aktiven Position sei – dass sie das Subjekt sei, das sich das männliche Objekt aussuche und es dafür untersuche und bewerte. Doch so einfach ist es nicht. Oft erscheint es eher so, als würde die Heldin in die Irre geführt, als schlittere sie in eine Verlobung oder Ehe hinein, statt aktiv eine Entscheidung zu treffen. Und selbst wenn sie sich aktiv entscheidet, wie im Fall von Lily in The Small House at Allington und von Helen in The Tenant of Wildfell Hall, erweist sich diese Entscheidung im weiteren Verlauf des Romans oft als falsch. Einen abwägenden, wissenden Blick auf die Männerfiguren können eigentlich immer nur die Leser_innen haben, während die weiblichen Figuren diesen erst erlernen müssen, oft um den Preis großen Leids und Unglücks.

1

In Kapitel 5 hingegen, das sei hier schon erwähnt, steht die narrative Struktur der dort analysierten Romane (Jane Eyre und The Woman in White) im Zentrum, mit besonderem Fokus auf die Erzählstimme.

Begehren und begehrt werden

Die gesonderte Betrachtung von weiblichen bzw. männlichen Begehrensobjekten, die nun folgt, soll demnach keine Symmetrie implizieren. Im Gegenteil, Ziel ist es unter anderem, die komplexe Hierarchisierung herauszuarbeiten, die in dem scheinbar so transparenten Modell des two suitor plots enthalten ist. Dafür ist es nötig, den Blick gesondert auf die Produktion von Männlichkeit und Weiblichkeit zu lenken, auch wenn die Trennung immer wieder durchkreuzt wird, wie die folgenden beiden Unterkapitel zeigen werden.

4.1 »See, the conquering hero comes«: Unheroische und verunsicherte Männlichkeit »See, the conquering hero comes« – so lautet eine Kapitelüberschrift in The Small House at Allington (SHA, 385). John Eames hat gerade seinem Rivalen, Adolphus Crosbie, der sein Eheversprechen an die von beiden geliebte Lily Dale gebrochen hat, ein blaues Auge verpasst. Doch obwohl Eames’ tätlicher Angriff auf Crosbie von den meisten Figuren und vom Erzähler positiv bewertet wird, erscheint die Etikettierung von Eames als »Held« lächerlich und wird vom Erzähler beständig ironisiert. Der Bezug auf Heldenhaftigkeit, der den Roman leitmotivisch durchzieht, scheint nur aus großer ironischer Distanz möglich. Die Männerfiguren des Romans werden hingegen durchweg als alles andere als perfekt gezeichnet. Genauso in The Tenant of Wildfell Hall: Auch hier gibt es keine Figur, die als Verkörperung eines Idealbilds von Männlichkeit präsentiert wird. Anders als Ansätze, die in den komplexen und nichtperfekten Figuren ein Anzeichen zunehmenden Realismus sehen, wie es etwa Elizabeth Langland tut (Langland 1989, 134), möchte ich den Blick auf die Fragen lenken, die sich dadurch für die Konstruktion von Männlichkeit ergeben. Dafür gehe ich zunächst auf den Topos der Heldenhaftigkeit in The Small House at Allington ein und lote aus, worin die Berührungspunkte zwischen dieser Ironisierung des Heldenhaften einerseits und der Erschaffung eines aristokratischen Antihelden in The Tenant of Wildfell Hall andererseits bestehen. Dabei wird deutlich, dass die beiden Romane auf verschiedene Art und Weise ein Bild unerwünschter Männlichkeit erschaffen, das als Kontrastfolie für erwünschte bürgerliche Männlichkeit dient. Obwohl die Helden der Liebesplots, John Eames und Gilbert Markham, nicht gerade als ideale Vertreter dieser bürgerlichen Männlichkeit gelten können, nehmen sie dennoch in der jeweiligen Romanstruktur die Position des bürgerlichen Helden ein. Der zweite Abschnitt dieses Kapitels geht den Ambivalenzen nach, die dadurch produziert werden und die als Anzeichen dafür gelesen werden können, dass Männlichkeit und ihre Verunsicherung

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»The Power of Love«

ein wichtiges Thema der Romane sind.2 Dass sich keine der Männerfiguren zum strahlenden Helden eignet, lässt jedoch nicht unbedingt auf eine grundsätzliche Erosion der Geschlechterrollen schließen und damit darauf, dass in den Romanen kein Versuch unternommen wird, Männlichkeit zu normieren. Um dies in den Blick zu bekommen, muss die Einbettung der Männerfiguren in die Liebesgeschichte genauer betrachtet werden, was insbesondere im Abschnitt 4.1.3 geschieht.

4.1.1 Heldenhaftigkeit und Regency rake: Kontrastfolien für bürgerliche Männlichkeit Gleich zu Beginn von The Small House at Allington versichert der Erzähler3, dass es keinen Helden geben wird, und dass die jungen Männer, die in der Geschichte vorkommen, wenig heroische Taten vollbringen werden. Adolphus Crosbie, einer der beiden suitors der Hauptfigur Lily Dale, wird vom Erzähler so eingeführt: I do not say that Mr. Crosbie will be our hero, seeing that that part in the drama will be cut up, as it were, into fragments. Whatever of the magnificent may be produced will be diluted and apportioned out in very moderate quantities among two or more, probably among three or four, young gentlemen – to none of whom will be vouchsafed the privilege of much heroic action. (SHA, 10)

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Schon hier wird deutlich, dass der Roman eine ironische Haltung in Bezug auf Heldenhaftigkeit einnimmt. Heldenhaftigkeit wird mit magnificence in Verbindung gebracht; sie manifestiert sich in heldenhaften Taten. Die Vorstellung, sie könne in Fragmente zerschnitten, verdünnt und in bescheidenen Portionen verteilt werden, steht dazu in eklatantem Widerspruch und produziert den Eindruck von Absurdität. In weiterer Folge wird diese ironische Bezugnahme auf Heldenhaftigkeit mehrfach wiederholt und verstärkt. Vor allem John Eames, die zweite zentrale männliche Figur, wird immer wieder, sowohl vom Erzähler als auch von den Figuren, als Held bezeichnet. Seine Heldenhaftigkeit bezieht sich zuerst auf zwei Ereignisse, in denen er unter körperlichem Einsatz Mut beweist: Er eilt Lord De Guest zu Hilfe, als dieser von einem seiner Stiere bedroht wird (SHA, 227 ff.); und er schlägt Crosbie, als er ihm zufällig begegnet (SHA, 368 ff.), um ihn dafür zu »bestrafen«, dass er seine Verlobung 2

3

Vgl. dazu unter anderem Adams 1995, Tosh 1999, Surridge 2005 und insbesondere Robin Gilmour, der für die Mitte des Jahrhunderts feststellt: »it was in these years that the nature of gentlemanliness was more anxiously debated and more variously defined than at any time before or since« (Gilmour 1981). In der gesamten Sekundärliteratur wird der Erzähler als männlich gelesen. Nicht immer wird dies auch begründet, aber siehe unter anderem Skilton 2011, Anderson 2007, Lewis 2010 für interessante Hinweise auf deutliche männliche Markierungen des Erzählers. Darauf gehe ich an späterer Stelle etwas näher ein.

Begehren und begehrt werden

mit Lily gelöst und sich somit ihr gegenüber »unehrenhaft« verhalten hat. In der Folge wird Eames von verschiedenen Figuren (in direkter Rede bzw. in der Erzählerrede mit entsprechender Fokalisierung) als Held bezeichnet (SHA, 235, 239, 515, 542) und zunehmend vom Erzähler »our hero« genannt (SHA, 387, 509, 567, 652). Die titelgebende Kapitelüberschrift (»See, the conquering hero comes«, SHA, 385) bezieht sich ebenfalls auf Eames’ »Tat«, Crosbie zu verprügeln; das Kapitel erzählt von den großteils positiven Reaktionen anderer Figuren auf diese Handlung. Später im Roman wird die Formulierung des »conquering hero« noch einmal aufgegriffen, hier jedoch auf Eames’ Rolle im Liebesplot bezogen. Er hat Lily einen Heiratsantrag gemacht, den diese abgelehnt hat: His friend the earl had been wont, in his waggish way, to call him the conquering hero, and had so talked him out of his common sense as to have made him almost think that he would be successful in his suit. Now, as he told himself that any such success must have been impossible, he almost hated the earl for having brought him to this condition. A conquering hero, indeed! (SHA, 597)

Als Held einer Liebesgeschichte erscheint Eames ungenügend. Schon zu Beginn des Romans »entschuldigt« sich der Erzähler dafür, dass Eames einer der Helden der Geschichte ist: »Alas, alas! I fear that those two years in London have not improved John Eames; and yet I have to acknowledge that John Eames is one of the heroes of my story.« (SHA, 51) Diese mockEntschuldigung wird am Ende nochmals aufgegriffen: His life hitherto, as recorded in these pages, had afforded him no brilliant success, had hardly qualified him for the rôle of hero which he has been made to play. I feel that I have been in fault in giving such prominence to a hobbledehoy, and that I should have told my story better had I brought Mr. Crosbie more conspicuously forward on my canvas. He at any rate has gotten to himself a wife – as a hero always should do; whereas I must leave my poor friend Johnny without any matrimonial prospects. (SHA, 654 f.)

Mit diesem Absatz wird Eames’ Geschichte geschlossen. Eames wird hier als »hobbledehoy« bezeichnet, ein Begriff, der von Beginn an leitmotivisch mit ihm verknüpft war.4 Gleichzeitig lautet die Überschrift dieses vorletzten Kapitels »John Eames becomes a man« (SHA, 644). Während er also bis zuletzt als »Held« belächelt und seine »Eignung« für diese Rolle angezweifelt wird, vollzieht der Roman seine Entwicklung zum Mann, d.h. den Prozess seines Erwachsenwerdens, nach und erklärt diese zuletzt für erfolgreich abgeschlossen: »He acknowledged to himself that he had not hitherto been a man; but at the same time he made some resolution which, I trust, may assist him in commencing his manhood from this date.« (SHA, 655) Heldentum wird also mit Jugendlichkeit und noch nicht begonnenem Erwachsensein verknüpft. Junge Männer, so führt der Erzähler in relativ 4

Auf den Begriff und die Konnotationen des »hobbledehoy« gehe ich später ein (4.1.2).

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»The Power of Love«

langen kommentierenden Passagen aus, neigen zu Nachdenklichkeit und zur Errichtung von Phantasiegebilden. In seiner Imagination ist der junge Mann ein romantischer Held: He enjoys all the triumphs of a Don Juan, without any of Don Juan’s heartlessness, and is able to conquer in all encounters, through the force of his wit and the sweetness of his voice. But his eloquence is heard only by his own inner ears, and these triumphs are the triumphs of his imagination. (SHA, 34)

Auch Eames, als der prototypische Vertreter des Typus, neigt dazu, sich Geschichten auszudenken, die dem Genre »romance« entsprechen: »he created for himself his own romance, though to the eye a most unromantic youth« (SHA, 573). Heldenhaftigkeit wird hier mit »romance« verknüpft, was sie in Opposition zu Realismus setzt und dadurch in den Bereich des Fiktionalen und Unrealistischen verweist. Eames muss erst lernen, dass Heldentum keinen Platz im »echten Leben« hat. Erst als er seine Heldenträume als unrealistisch erkennt – »A conquering hero, indeed!« (SHA, 597) – ist seine Erwachsenwerdung, die gleichzeitig als Mannwerdung erzählt wird, abgeschlossen: »John Eames becomes a man« (SHA, 644). Für seine jugendlichen Heldenphantasien wird Eames von anderen Figuren und vom Erzähler mild belächelt, aber nicht verurteilt. Vor allem der Erzähler nimmt ihm gegenüber eine nachsichtige und beinahe väterliche Haltung ein (darauf gehe ich im Laufe dieses Kapitels näher ein). Der Topos der Heldenhaftigkeit beinhaltet jedoch noch mehr Aspekte, wie der Vergleich mit Crosbie zeigt. Denn auch Crosbie bezieht sich an einer Stelle auf romantische Helden aus der Literatur, um damit vor sich selbst zu legitimieren, dass er Lily verlassen hat:

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While resolving, during his first four or five days at the castle, that he would throw Lily Dale overboard, he had contrived to quiet his conscience by inward allusions to sundry heroes of romance. He had thought of Lothario, Don Juan, and of Lovelace; and had told himself that the world had ever been full of such heroes. And the world, too, had treated such heroes well; not punishing them at all as villains, but caressing them rather, and calling them curled darlings. Why should not he be a curled darling as well as another? Ladies had ever been fond of the Don Juan character, and Don Juan had generally been popular with men also. (SHA, 267 f.)

Lovelace ist der adlige Verführer aus Samuel Richardsons Clarissa (1747/ 48), während Lothario eine Figur aus dem Theaterstück The Fair Penitent von Nicholas Rowe (1703) ist, das wiederum als Vorgänger von Clarissa angesehen werden kann (vgl. Gilmour 1981, 26). Robin Gilmour betont die Rolle, die dieses literarisch geformte Bild des prinzipienlosen Verführers für die Konstruktion bürgerlicher Männlichkeit spielte: What is interesting in all this, looking forward to the Victorian period, is the extent to which the modern concept of gentility emerging from the eighteenth century is formed in reaction against the Restoration, or more precisely, against the image of Restoration manners projected by its literature. Clarissa[’s] [...] hero-

Begehren und begehrt werden

villain is a full-blooded rake named after a famous cavalier poet. Richardson’s use of the Restoration stereotype [...] so long after the event is a tribute to the power of the aristocratic rake to haunt the bourgeois imagination. (Gilmour 1981, 26)

Der Unterschied zwischen Crosbie und Eames liegt nun darin, dass Crosbie den Versuch unternimmt, diese von der viktorianischen Moral verworfenen Helden als Vorbilder zu installieren. Die oben zitierte Passage führt jedoch vor, dass es ihm nicht einmal ganz gelingen will, sich selbst davon zu überzeugen, und untermauert auf diese Weise den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Konsens, der die von diesen Figuren verkörperten Werte vehement ablehnt. Don Juan oder Lovelace sind in diesem Rahmen nur im Bereich der Phantasie oder der Literatur akzeptabel – und selbst hier wird für Eames eine signifikante Einschränkung getroffen. Er imaginiert sich als Don Juan, wie wir oben gesehen haben, aber »without any of Don Juan’s heartlessness« (SHA, 34). Zur Nachahmung, so macht der Roman unmissverständlich klar, eignen sich diese Helden nicht. Die Ablehnung dieser »Helden« und der von ihnen symbolisierten alten Ordnung der Gesellschaft wird auf eine andere Weise zusätzlich verstärkt. Nachdem Crosbie die Verlobung mit Lily gelöst und sein Eheversprechen gebrochen hat, stehen Lilys männliche Verwandte vor einem unlösbaren Problem. Bernard denkt darüber nach, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte, wenn sich die Gerüchte, die er gehört hat, als wahr herausstellen sollten: What would it become him to do in this emergency if Crosbie had truly been guilty of the villainy with which Lady Julia had charged him? Thirty years ago he would have called the man out, and shot at him till one of them was hit. Nowadays it was hardly possible for a man to do that; and yet what would the world say of him if he allowed such an injury as this to pass without vengeance? (SHA, 294 f.)

Das Duell wird als eine veraltete Praxis markiert, die keine soziale Akzeptanz mehr genießt. In der Tat hatte die Praxis des Duellierens seit Beginn des 19. Jahrhunderts kontinuierlich an Legitimität verloren, sodass sie im Roman der Jahrhundertmitte nur noch ex negativo präsent ist: als ihre eigene Unmöglichkeit. Das zeigt sich auch in The Tenant of Wildfell Hall. Lord Lowborough hat hier gerade erfahren, dass Huntingdon eine Liaison mit seiner Frau hat. Einer der gemeinsamen Freunde legt ihm nahe, den Widersacher zum Duell zu fordern, doch Lowborough antwortet: »That [...] is just the remedy my own heart – or the devil within it, suggested – to meet him, and not to sever without blood. Whether I or he should fall – or both, it would be an inexpressible relief to me, if – [...] No!« exclaimed his lordship with deep, determined emphasis. »Though I hate him from my heart, and should rejoice at any calamity that could befall him – I’ll leave him to God; and though I abhor my own life, I’ll leave that too, to Him that gave it.« (TWH 291 f., Hervorh. i.O.)

Donna Andrew bringt diese Delegitimation des Duells mit dem Aufstieg des Bürgertums und seiner Abgrenzung gegenüber dem Adel in Verbin-

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»The Power of Love«

dung: »Duelling was identified as a failing of the upper classes and, as such, roundly condemned« (Andrew 1980, 430). Sie identifiziert diese Ablehnung der Duellpraxis als zentrales Moment der bürgerlichen Aneignung des Labels »gentleman« und damit der Neudefinition von Männlichkeit (Andrew 1980, 434).5 Dabei steht die Ablehnung des Duellierens für eine viel weiter gehende Opposition gegen den adligen code of honour und die darin symbolisierte adlige Männlichkeit. Denn vor dem 19. Jahrhundert, so Andrew, »the willingness to fighting a duell, as well as the recognition of a person who was ›challenge-able‹ defined, in great part, what it meant to be a gentleman« (Andrew 1980, 415). Das Paradigma des »Heldenhaften« wird demnach nicht nur einer vergangenen Epoche zugeordnet, sondern auch mit einer bestimmten Gesellschaftsordnung in Verbindung gebracht, in der jegliches Heldentum die Domäne des aristokratischen Ritters war. Im Duell wird der dazugehörige code of honour abgelehnt, in den zuvor besprochenen literarischen Figuren – Lothario, Don Juan, Lovelace – die Sexualmoral dieser Verführer. Beides gehört zum stereotypen Repertoire adliger Männlichkeit, gegen die sich das viktorianische Bürgertum definiert. Bereits im 18. Jahrhundert setzte der Prozess der Aneignung und Neudefinition der Kategorie des »gentleman« ein, so Young: In the eighteenth century, the same authors who figure prominently in the establishment of the novel, Defoe and Richardson, also begin the process of transforming the gentleman from the embodiment of aristocratic honor into the embodiment of bourgeois respectability. (Young 1999, 6)

Darin sieht Young den erfolgreichen Versuch, die Herrschaftsansprüche des Adels in Frage zu stellen und für das Bürgertum zu reklamieren: [...] the nineteenth-century interest in Medievalism is [...] an attempt to establish the bourgeois gentleman rather than the indolent and luxurious aristocrat as the rightful heir of the medieval knight [...]. This reconstitution of the knight [...] as the middle-class gentleman [...] allows the middle class to present itself imaginatively as the natural leaders of their society. (Young 1999, 5 f.)

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Vgl. dazu auch Youngs Analyse von Richardons Roman Sir Charles Grandison (1753/54), wo sie den Widerstand der titelgebenden Hauptfigur gegen das Duellieren als zentrales Element einer neu entstehenden bürgerlichen GentlemanIdentität liest (Young 1999, 22 ff.). Ursprünglich, so führt Robin Gilmour in seiner Geschichte des Gentleman aus, bezeichnete diese Kategorie eine präzise Position in der Hierarchie der gentry: »In the traditional social hierarchy, the gentleman ranked beneath the baronet, the knight and the squire, but above the yeoman« (Gilmour 1981, 5). Im 19. Jahrhundert herrscht jedoch zunehmende Unsicherheit über die genaue Bedeutung und damit auch die Zugangsberechtigungen zu dieser Kategorie: »the Victorians themselves were, if not confused, then at least much more uncertain than their grandfathers had been about what constituted a gentleman, and [...] this uncertainty, which made definition difficult, was an important part of the appeal which gentlemanly status held for outsiders hoping to attain it« (Gilmour 1981, 3).

Begehren und begehrt werden

Die Ironisierung des Heroischen in The Small House ist demnach eine Form der Abgrenzung gegenüber einem Heldentum, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht als moralisch problematisch gilt. Diese Abwesenheit des Heroischen, die James Kincaid für die Romane von Trollope konstatiert, kann daher in gewisser Weise für das viktorianische Bürgertum im Allgemeinen gelten: That there is no heroic action is sometimes seen with dismay but more often with mild satisfaction, as a cause for a celebration of the joys of non-heroic conversation, non-heroic dinner parties, and especially, non-heroic love. (Kincaid 1977, 28)

Damit wird einerseits das Alltägliche und »Normale« aufgewertet und das »Reale« gegenüber der Phantasie und der Fiktion privilegiert. Andererseits kann dadurch eine höchst wirksame Kontrastfolie unerwünschter Männlichkeit errichtet und – in Abgrenzung davon – ein bürgerliches Männlichkeitsideal formuliert werden. In The Tenant of Wildfell Hall ist Heldenhaftigkeit zwar nicht explizit Thema, aber der Roman schafft in Arthur Huntingdon eine geradezu prototypische Verkörperung des ausschweifenden und moralisch verkommenen Aristokraten. Als erster Ehemann der weiblichen Hauptfigur Helen fungiert er als abschreckendes Negativbeispiel. Er gibt sich Exzessen jeder Art hin, ruiniert dabei seine Gesundheit und treibt durch seine Aggressivität und Selbstsüchtigkeit seine Frau dazu, mit ihrem kleinen Sohn vor ihm zu fliehen. An ihm demonstriert der Roman eindrucksvoll, wie ein Mann nicht sein sollte. Der unaufhörliche gesundheitliche und moralische Verfall Huntingdons, den Helens Tagebucherzählung minutiös aufzeichnet und der schließlich zum Tod führt, fungiert als Warnung vor einer als zerstörerisch eingestuften Form der Männlichkeit und als Plädoyer für eine neue reformierte Männlichkeit. Jeder Aspekt von Huntingdons Porträt kann demnach im Umkehrschluss als ein Element der Neudefinition bürgerlicher Männlichkeit gelesen werden, wie Juliet McMaster in ihrer ausgezeichneten Analyse von The Tenant of Wildfell Hall schreibt: Anne Brontë is offering us, among other things, a period commentary, a Victorian view of certain dominant manners and mores of the preceding generation. [...] The Victorians were fond of defining themselves by contrasting their values with those of the Regency and George IV. (McMaster 1982, 352 f.)

Dieser Eindruck wird durch die zeitliche Rahmung und die Erzählsituation von The Tenant verstärkt, so Lisa Surridge: The Tenant of Wildfell Hall is largely set in the 1820s, narrated by the middleaged Gilbert Markham as he looks back from the late 1840s onto the scenes of his youth. It thus reflects the momentous shift that occurred in ideals of marriage and domesticity between the Regency and the Victorian periods. [...] Thus The Tenant of Wildfell Hall [...] helps to consolidate a new model of Victorian manliness at mid-century. (Surridge 2005, 73)

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»The Power of Love«

Huntingdon wird denn auch nicht als Einzelfall dargestellt, sondern als typischer – wenn auch extremer – Vertreter eines Milieus gezeichnet, dessen Mitglieder seine Praktiken und Überzeugungen weitgehend teilen. Helen sagt über Huntingdons Freunde: »Their tastes and occupations are similar to his, and I don’t see why his conduct should awaken either their indignation or surprise.« (TWH, 210, Hervorh. i.O.) »[T]he mores of her [Helens, J.C.] husband’s upper-class circle«, so Surridge, »include drunkenness, marital infidelity, gambling, and swearing.« (Surridge 2005, 74) Damit entspricht er älteren aristokratischen Männlichkeitsnormen, wie sie von Leonore Davidoff und Catherine Hall zusammengefasst werden: »Masculine nature, in gentry terms, was based on sport and codes of honour derived from military prowess, finding expression in hunting, riding, drinking and ›whenching‹.« (Davidoff/Hall 2002, 110) Eine zentrale Rolle spielt in Huntingdons Verfallsgeschichte der Alkoholkonsum. Schon früh in Helens Erzählung beschreibt sie, wie er immer mehr trinkt: His appetite for the stimulus of wine had increased upon him, as I had too well foreseen. It was now something more to him than an accessory to social enjoyment: it was an important source of enjoyment in itself. In this time of weakness and depression he would have made it his medicine and support, his comforter, his recreation, and his friend, – and thereby sunk deeper and deeper – and bound himself down for ever in the bathos whereinto he had fallen. (TWH, 220)

In zahllosen Szenen zeigt der Roman Huntingdon und seine Freunde bei Späßen oder Raufereien unter Alkoholeinfluss (z.B. TWH, 232 ff.). Diese Szenen erzeugen vor allem eine Atmosphäre von Unruhe und Chaos, die aus viktorianischer Sicht nahezu unerträglich erscheint.6 Die folgende Passage kann einen Eindruck davon vermitteln, auch wenn sich im Roman die Wirkung des Alkohols auf soziale Interaktionen vor allem kumulativ aus vielen Details ergibt:

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At last, they came; but not till after ten, when tea, which had been delayed for more than half an hour, was nearly over. Much as I had longed for their coming, my heart failed me at the riotous uproar of their approach; and Milicent turned pale and almost started from her seat as Mr. Hattersley burst into the room with a clamorous volley of oaths in his mouth, which Hargrave endeavoured to check by entreating him to remember the ladies. (TWH, 232)

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In ihrer Einleitung zu The Tenant of Wildfell Hall gibt Josephine McDonagh einen Einblick in die Reaktionen der Presse nach dem Erscheinen des Romans, die ihn zu einem großen Teil als vulgär, brutal und grobschlächtig einstuften. »Among these, the reviewer in Sharpe’s London Magazine was typical in counselling women not to read the novel, ›so revolting are many of the scenes, so coarse and disgusting the language put into the mouths of some of the characters‹.« (McDonagh 2008, ix)

Begehren und begehrt werden

Huntingdon stirbt schließlich auch an den Folgen des Alkoholkonsums. Zwar hat er nur einen Reitunfall erlitten, über den Helen an ihren Bruder schreibt: »The immediate injuries he sustained from the accident, however, were not very severe, and would, as the doctor says, have been but trifling to a man of temperate habits; but with him it is very different.« (TWH, 360, Hervorh. i.O.) Tatsächliche Todesursache ist schließlich Wundbrand – nachdem Huntingdon selbst einen Rückfall herbeigeführt hat, indem er eine Flasche Wein auf einmal getrunken hat.7 Dieser Tod fungiert als abschließender Beweis dafür, dass Huntingdon nicht in der Lage dazu ist, seine Gelüste zu mäßigen, und unterstreicht gleichzeitig die zentrale Bedeutung einer solchen Selbstkontrolle. Gwen Hymen beschreibt die Herausbildung einer neuen Haltung in Bezug auf Alkohol während der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts: »Drink and drunkenness became immoral, anti-Protestant, anti-social [...], a new idea most effectively broadcast by the temperance movement of in [sic] the 1820s and 30s.« (Hyman 2008, 453) Wie es der Name der Bewegung schon sagt, wird darin in erster Linie Mäßigung proklamiert. Diese Haltung wird im Roman von Gilbert Markham verkörpert, laut Hyman »[t]he very picture of well-directed, productive eating [...], he sates his very real ›hunger,‹ founded on his daily labors of hand and of mind [...] on nothing more intoxicating than ›tea, ham and toast‹ [...]. Gilbert is never seen to touch a drop of wine or ale.« (Hyman 2008, 454)8 Arthur Huntingdon hingegen trinkt nicht nur, er ist auch gewalttätig. Obwohl der Roman keine konkrete physische Gewalt in seiner Ehe mit Helen darstellt, konnte Surridge eindrucksvoll demonstrieren, dass physische Gewalt durch die Parallelisierung der Ehefrau mit verwundeten oder getöteten Tieren omnipräsent ist (Surridge 2005, 76 ff.). In erster Linie jedoch führt der Roman vor, dass die Gewaltförmigkeit von Helens Ehe struktureller Natur ist, so Surridge weiter: »In representing Helen’s resistance to coverture, and by focusing on the analogy between wives and pets

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Janet Kunert hat der Todesursache – »mortification« (TWH, 379) – einen eigenen Aufsatz gewidmet. Danach ist »mortification« ein Synonym für »gangrene«, also Wundbrand. Kunert führt weiter aus: »Gangrene is caused by injury or infection, recovery depending on the reestablishment of circulation. Alcoholism reduces liver function and thus circulation; consequently, it would aggravate gangrene.« (Kunert 1978, 246) Laut Hyman vertritt Helen im Roman zunehmend nicht die Position des temperance movements, sondern das der evangelikalen teetotalers, die ab den 1830ern und 1840ern eine radikale Abstinenzideologie vertraten und diese mit der Idee der »universal salvation« verbanden, die auch in The Tenant of Wildfell Hall stark vertreten ist (Hyman 2008, 461 ff.). Für meine Zwecke würde das hier jedoch zu weit führen. Vgl. auch Thormählen 1993 für viktorianische Diskurse um Alkohol und ihre Relevanz für die Interpretation von Arthur Huntingdon.

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»The Power of Love«

as things owned by men, the text articulates an active resistance to marital violence.« (Surridge 2005, 86, Hervorh. i.O.) Es ist sicherlich zutreffend, dass der Text eheliche Gewalt anprangert und die rechtlich abgesicherte Machtlosigkeit von (Ehe-)Frauen aufzeigt. Doch während die strukturelle Gewalt in den Blick genommen und angeklagt wird, findet gleichzeitig eine Verschiebung auf das Feld der Regulierung von Männlichkeit statt, wie in Kapitel 3 bereits angedeutet wurde. Huntingdons Beharren auf seinem Eigentum an Helen wird im Roman als exzessiv dargestellt, wenn er zum Beispiel eifersüchtig auf Helens Gottesliebe ist – im Kontext der omnipräsenten evangelikalen Spiritualität des Romans nicht nur eine Absurdität, sondern auch ein Zeichen schwerer moralischer Defizite: »Helen,« said he, with unusual gravity, »I am not quite satisfied with you.« I desired to know what was wrong. »But will you promise to reform, if I tell you?« »Yes, if I can – and without offending a higher authority.« »Ah! there it is, you see – you don’t love me with all your heart.« »I don’t understand you, Arthur (at least, I hope I don’t): pray tell me what I have done or said amiss?« »It is nothing you have done or said; it is something that you are: you are too religious. Now I like a woman to be religious, and I think your piety one of your greatest charms, but then, like all other good things, it may be carried too far. To my thinking, a woman’s religion ought not to lessen her devotion to her earthly lord. She should have enough to purify and etherealize her soul, but not enough to refine away her heart, and raise her above all human sympathies.« (TWH, 172 f., Hervorh. i.O.)

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In seiner Rolle als tyrannischer Ehemann und Vater9 , als unkontrollierter Trinker und unmoralischer Verführer vereint Huntingdon alle negativen Attribute des »Regency rake« und ist damit, so Eagleton, »little more than a stereotype of the traditional wicked aristocrat« (Eagleton 1975, 133). So stereotyp er sein mag, erfüllt Huntingdon für den Roman dennoch eine zentrale Rolle. Er dient als konstitutives Außen, als Abgrenzungsfolie, auf Basis derer eine Vorstellung erstrebenswerter Männlichkeit erst hergestellt werden kann. Gegen diesen Anti-Helden setzt der Roman bürgerliche Selbstkontrolle, Zurückhaltung, Mäßigung und Selbstdisziplinierung – Selbstführungstechniken, die in engem Zusammenhang mit einer bürger9

Zu Huntingdon als Vater und allgemein zu Fragen der Kindererziehung und des Sorgerechts im Zusammenhang mit The Tenant of Wildfell Hall siehe L. Berry 1996. Laura Berry sieht im Roman und in den ihn umgebenden Debatten um die Neuordnung des Sorgerechts eine Dichotomisierung von tyrannischem Vater und erziehender Mutter: »The father is associated with absolute control and willful exercise of power«, während die Mutter die Rolle der »instructress and benevolent guardian« innehabe (L. Berry 1996, 37).

Begehren und begehrt werden

lich-kapitalistischen Produktionsethik stehen. Als Aristokrat und Landbesitzer der »alten Schule« hat Huntingdon wortwörtlich nichts zu tun, denn seine Identität ist definiert dadurch, dass er nicht für seinen Lebensunterhalt arbeiten muss und seine Zeit demnach nur aus leisure besteht (vgl. Hyman 2008, 455). Wenn das Wetter schlecht ist und er nicht jagen oder reiten kann, hat Huntingdon auf dem Landsitz keine Beschäftigung und langweilt sich: »Arthur is getting tired [...] of the idle, quiet life he leads – and no wonder, for he has so few sources of amusement« (TWH, 175). Helen wünscht sich eine Beschäftigung für ihn: I wish he had something to do, some useful trade, or profession, or employment – anything to occupy his head or his hands for a few hours a day, and give him something besides his own pleasure to think about. If he would play the country gentleman, and attend to the farm [...] or if he would take up with some literary study, or learn to draw or to play – [...] but he is far too idle for such an undertaking: he has no more idea of exerting himself to overcome obstacles than he has of restraining his natural appetites [...] (TWH, 191)

Selbst die von Helen vorgeschlagenen Tätigkeiten schreiben sich noch in das Paradigma der Nutzlosigkeit ein: Er kann sich mit Kunst beschäftigen oder den »country gentleman« spielen – auch dabei handelt es sich um keine in irgendeiner Weise existenziell notwendige Tätigkeit. Im Vergleich dazu kümmert sich Gilbert Markham, als »gentleman farmer« (TWH, 10), tatsächlich um seine Ländereien und wird immer wieder bei konkreten landwirtschaftlichen Aktivitäten oder deren Verwaltung und Organisation gezeigt (vgl. Hyman 2008, 454). Der Roman schreibt auf diese Weise leisure – und damit den gesamten Lebensstil des adligen Landbesitzers – ebenfalls dem Pol unerwünschter und veralteter Männlichkeitsideale zu. Arbeit wird aufgewertet und so zu einem essenziellen Bestandteil viktorianischer Männlichkeit. Hyman betont die Reichweite und Radikalität dieser Umdeutung: In this way, Tenant enacts a radical social revision, suggesting that the leisured class is killing itself off with its very leisured status, and that in order to remain healthy, the body politic must excise this parasite, so that a figure more productively imbricated in society may take its place. Gilbert’s status as a gentleman who is also a working farmer [...] resuscitates gentlemanliness as a useful, socially redeemed state: his healthy appetites, predicated on productive activity, offer a palatable counterpoint to the stuffed but never sated gent. (Hyman 2008, 465)

Während im 18. Jahrhundert also noch der landed gentleman den idealen Helden des Liebesplots darstellt (wie etwa Mr. Darcy in Pride and Prejudice), ist es unter den Helden des 19. Jahrhunderts eher üblich, einer bezahlten Arbeit nachzugehen, »to make a living« (Fasick 2003, 3). Auch in The Small House at Allington fällt auf, dass alle zentralen Männerfiguren einem Beruf nachgehen. Crosbie und Eames arbeiten in Büros, Crofts ist Arzt, Bernard Dale Soldat; Lord De Guest beschäftigt sich ernsthaft mit sei-

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»The Power of Love«

ner Viehzucht und Landwirtschaft10 , und Mr. Dale besteht darauf, das Management seines estate als »profession« anzusehen: »I want him [Bernard] to give up his profession altogether [...]. He has one profession as the heir of this place, and that, I think, should be enough.« (SHA, 354) Arbeit, so merkt auch David Skilton an, ist eines der Felder, in denen im Roman Männlichkeit reproduziert wird: [...] different men reach »manhood« by different routes and with different results, but a common feature in those who are successful individuals comfortably integrated into masculine society and able to support a family and home is the capacity for hard work. (Skilton 2011, 130)

Dieses neue Arbeitsethos, das mitunter beinahe religiöse Züge annimmt11 , definiert sich im Kontrast zu der Lebensform, für die Huntingdon steht. Indem leisure als moralisch schädlich und sozial nutzlos vorgeführt wird, beteiligt sich der Roman an der »public re-moralization of men’s leisure«, die Tosh allgemein für die Mitte des 19. Jahrhunderts konstatiert (Tosh 1999, 125). Plausibel werden die Notwendigkeit einer Neudefinition von Männlichkeit und die damit zusammenhängenden Gebote der Mäßigung, Zurückhaltung, Selbstkontrolle und Disziplinierung der Lüste durch die Warnung, die Huntingdon verkörpert. Denn an ihm wird gezeigt, dass nur Selbstdisziplin vor einem Huntingdon’schen Verfall und letztlich vor dem Tod bewahren kann. Ein Arbeitsethos, das der kapitalistischen Produktionslogik entspricht, die Kontrolle der Gelüste und die Mäßigung jeglicher exzessiver Impulse werden somit zu zentralen Eigenschaften und Selbstführungstechniken des neuen bürgerlichen Mannes.

4.1.2 Männlichkeitsideal ohne Idealfigur: Ambivalente Helden 116

In Abgrenzung von adliger Männlichkeit entsteht in den Romanen, wie wir gesehen haben, ein Bild erwünschter bürgerlicher Männlichkeit. Interessant ist nun aber, dass keine der männlichen Hauptfiguren diesem Bild so richtig entsprechen will. Das betrifft vor allem John Eames und Gilbert Markham, die im Rahmen des two suitor plots als erfolgreiche »Bewerber« um die Liebe der Hauptfigur positioniert sind und damit die Stelle des Helden der Liebesgeschichte einnehmen. Wie wir im nächsten Abschnitt ausführlicher sehen werden, gilt dies für auch für Eames, obwohl es für ihn am 10

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Eine Szene zeigt ihn auf einem Viehmarkt; und die Szene, in der Eames ihn vor dem wild gewordenen Stier rettet, demonstriert ebenfalls, dass er selbst auf der Farm »anpackt«. So formuliert das John Tosh: »Work acquired almost hallowed authority.« (Tosh 1999, 112)

Begehren und begehrt werden

Ende keine Eheschließung mit der geliebten Frau gibt. Der Roman produziert zwar die affektive Notwendigkeit eines Happy Ends in Form der Heirat der HeldInnen, frustriert diese genrekonforme Lese-Erwartung jedoch konsequent. Vorerst soll jedoch der Blick auf diese beiden ambivalenten Helden gelenkt werden. Wir haben bereits gesehen, dass Arthur Huntingdon in The Tenant of Wildfell Hall als absoluter Anti-Held dargestellt wird. Aber Gilbert Markham, der Ich-Erzähler, der am Ende durch eine Ehe mit Helen belohnt wird, ist ebenfalls alles andere als der Inbegriff der Perfektion. Die Irritation über diese Figur ist in der Literatur zu The Tenant of Wildfell Hall allgegenwärtig. Elizabeth Langland charakterisiert Markham als »irrational and violent« und nennt seinen Angriff auf Lawrence »the act of a madman« (Langland 1989, 133). Für Priti Joshi ist er »emotionally undomesticated« und »clumsy« (Joshi 2009, 917). Mit dieser unreifen Gefühlswelt bringt sie auch seine gewalttätigen Impulse in Verbindung: »his volatility and hypermasculinity [...] are the sources of the violence« (Joshi 2009, 910). Patricia Ingham weist darauf hin, dass Markham und Huntingdon sich in vielerlei Hinsicht ähnlich sind: »it is striking how similar they are since Markham shares many of Huntingdon’s masculine characteristics, with his vain, arrogant, hot-tempered, and domineering habits« (Ingham 2006, 153). Terry Eagleton schließlich beschreibt Markham wie folgt: He is touchy and overbred, full of rhetorical gestures and gallant clichés, alternating between tender idealisation and bursts of histrionic wrath. He is, in fact, emotionally infantile, ready to stamp with vexation when his candle won’t light, falling easily into self-pitying misanthropy as a rejected lover, quick to inflict grotesque violence on Helen’s brother Mr Lawrence. (Eagleton 1975, 130)

Kurzum, die meisten Texte sind sich einig: »Markham is [...] a disturbing hero and lover for our much-abused heroine.« (Joshi 2009, 914) Uneinigkeit herrscht allerdings über die Interpretation dieses irritierenden Helden. Dabei mündet die Analyse leider allzu oft in ein Urteil darüber, inwiefern sich Markham im Lauf der Erzählung verändert (und wodurch) und ob ihn dies zu einem geeigneten Ehemann für Helen macht. Marianne Thormählen geht sogar so weit, explizit zu einer »defense« von Markham anzusetzen (Thormählen 2001). Im Folgenden sollen demgegenüber die Ambivalenzen und Spannungen, die der Text rund um Markhams Figur produziert, im Mittelpunkt stehen. Gilbert Markham wird im Roman kaum beschrieben, weder in seiner eigenen Erzählung – passend zur Erzählsituation, denn Gilbert schreibt seine Geschichte in Form von Briefen an seinen Schwager Halford, also an eine Person, die ihn gut kennt – noch in Helens Tagebucherzählung. Helen setzt in ihrer Erzählung zu einer Beschreibung an, doch die Fortsetzung fehlt: Diese Seiten reißt Helen bei der Übergabe des Tagebuchs an Markham aus dem Tagebuch heraus. Im Text folgt auf diese eineinhalb Sätze von Helen sofort wieder Markhams Stimme:

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I have made some further acquaintance with my neighbours. The fine gentleman and beau of the parish and its vicinity (in his own estimation, at least) is a young ... Here it ended. The rest was torn away. How cruel – just when she was going to mention me! for I could not doubt it was your humble servant she was about to mention, though not very favourably of course [...] (TWH, 335, Hervorh. i.O.)

Helen sieht Markham zu Beginn ihrer Bekanntschaft als selbstverliebten und arroganten Schönling. Als Leser_innen wissen wir jedoch, dass Helen nur zu Beginn einen schlechten Eindruck von ihm hat. Markham zeigt sogar Verständnis dafür und schiebt Helens Urteil über ihn auf ihr Urteil über Männer im Allgemeinen: I could tell that [it was me she was about to mention], as well by those few words as by the recollection of her whole aspect and demeanour towards me in the commencement of our acquaintance. Well! I could readily forgive her prejudice against me, and her hard thoughts of our sex in general, when I saw to what brilliant specimens her experience had been limited. (TWH, 335 f.)

Auf diese Weise kann Markham ihr Urteil entkräften und seine Position als Held der Liebesgeschichte verteidigen. Als allzu »brillantes Exemplar« des männlichen Geschlechts zeigt er sich in seiner eigenen Erzählung allerdings auch nicht gerade. Der Text produziert kontinuierlich eine gewisse Distanz zum Erzähler, der in seiner Selbststilisierung immer mehr offenbart als er beabsichtigt, wie Andrea Westcott treffend bemerkt: His [Markhams, J.C.] personal evaluations serve to expose more fully the difference between his perception of himself and the reality perceived by the reader. Brontë asks us to be aware of his dual role as a character caught in the crossfire of the action and as a narrator shaping his tale to suit his present purposes. [...] Brontë sets Markham up for some irony at his own expense. (Westcott 2001, 216)

Auch Eagleton weist darauf hin, dass Markhams Aussagen über sich selbst vom Text durchaus fragwürdig gemacht werden: [...] since it is he and not the novel who maintains that, though »a little bit spoiled by [his] mother and sister, and some other ladies of [his] acquaintance«, he is »by no means a fop« [TWH, 32], we can take it that the book, in allowing him to protest too much, has serious reservations about his character. (Eagleton 1975, 130, Wechsel der Pronomen im Zitat aus TWH i.O.)12

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Das Bild, das in dieser Weise von Markham entsteht, zeigt ihn als impulsiv und unkontrolliert, oft aufbrausend, ungeduldig und launisch, vor allem seiner Familie gegenüber. Er kann seine Gefühle und Stimmungen nur schlecht vor anderen verbergen. Der Höhepunkt seiner negativen Charakterisierung wird erreicht, als er Mr. Lawrence mit seiner Reitgerte auf den Kopf schlägt und ihn verletzt zurücklässt. Dies geschieht aus Eifersucht:

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Vgl. auch Jakubowski, die ebenfalls auf Markhams Unzuverlässigkeit als Erzähler hinweist (Jakubowski 2010, 84 f.). Auf den Begriff der erzählerischen Unzuverlässigkeit gehe ich in Kapitel 5.1 näher ein.

Begehren und begehrt werden

Markham glaubt, dass Lawrence eine Affäre mit Helen hat, weil er nicht weiß, dass er in Wirklichkeit ihr Bruder ist. Markham und Lawrence treffen sich zufällig auf einer wenig befahrenen Landstraße, und nach einem kurzen Wortwechsel kann Markham seine Wut nicht mehr beherrschen: [...] impelled by some fiend at my elbow, I had seized my whip by the small end, and – swift and sudden as a flash of lightning – brought the other down upon his head. It was not without a feeling of savage satisfaction that I beheld the instant, deadly pallor that overspread his face, and the few red drops that trickled down his forehead, while he reeled a moment in his saddle, and then fell backward to the ground. [...] Had I killed him? – an icy hand seemed to grasp my heart [...] I breathed again – he was only stunned by the fall. It served him right – it would teach him better manners in future. Should I help him to his horse? No. [...] So with a muttered execration, I left the fellow to his fate, and [...] galloped away, excited by a combination of feelings it would not be easy to analyze; and perhaps, if I did so, the result would not be creditable to my disposition; for I am not sure that a species of exultation in what I had done, was not one principal concomitant. (TWH, 98 f.)

Erst nach der Lektüre von Helens Tagebuch, durch das Gilbert erfährt, dass Lawrence ihr Bruder ist, fühlt er »[a] pang of remorse and shame« (TWH, 340). Er besucht Lawrence, um sich bei ihm zu entschuldigen; doch selbst diese Entschuldigung wird vorerst in Form einer Beleidigung vorgebracht: »The truth is, Lawrence,« said I, »I have not acted quite correctly towards you of late – especially on this last occasion; and I’m come to – in short, to express my regret for what has been done, and to beg your pardon. – If you don’t choose to grant it,« I added hastily, not liking the aspect of his face, »it’s no matter – only I’ve done my duty – that’s all.« (TWH, 347, Hervorh. i.O.)

Markhams Verhältnis zu Lawrence bessert sich nach dieser »Entschuldigung« zwar langsam wieder, aber der Eindruck bleibt bestehen, dass Markham sich seines gewalttätigen Aktes weder schämt noch dass es ihm genuin leidtut. Als gewaltvoll in einem anderen Sinn kann sein Umgang mit Helens Tagebuch gelesen werden. Dafür muss die doppelte Funktion des Tagebuchs im Text berücksichtigt werden. Auf der Ebene der Handlung übergibt Helen ihr Tagebuch an Markham – nachdem sie die letzten Seiten herausgerissen hat –, um ihm ihre Geschichte zu offenbaren und sein Vertrauen wiederherzustellen. Markham liest es in einer Nacht und erfährt so von Helens dramatischer Vorgeschichte. Die Missverständnisse zwischen den Liebenden sind nun zwar ausgeräumt, aber das Hindernis in der Person von Helens Ehemann Huntingdon bleibt bestehen. Auf dieser Ebene dient das Tagebuch der intimen Kommunikation der Liebenden, und Helen appelliert explizit an Markhams Verschwiegenheit: »Bring it back when you have read it; and don’t breathe a word of what it tells you to any living being – I trust to your honour.« (TWH, 109)

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Auf der Ebene von Markhams Erzählung hingegen fügt Markham den Text des Tagebuchs in seinen Brief an seinen Schwager ein. Er leitet den Einschub wie folgt ein: I have it now before me; and though you could not, of course, peruse it with half the interest that I did, I know you would not be satisfied with an abbreviation of its contents and you shall have the whole, save, perhaps, a few passages here and there of merely temporal interest to the writer, or such as would serve to encumber the story rather than elucidate it. It begins somewhat abruptly, thus – but we will reserve its commencement for another chapter, and call it, – The Warnings of Experience [...] (TWH, 110)

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Markham gibt das Tagebuch nicht einfach nur wieder, er nimmt auch eine editierende Funktion wahr, die nach Kriterien sowohl der Relevanz als auch der Ästhetik vorgeht. Dazu gehört nicht nur die Kürzung von Textpassagen, sondern auch die Strukturierung des Textes mittels Kapitelüberschriften (vgl. B. Jay 2000, 40).13 Vor allem aber stellt die Wiedergabe des Tagebuches einen Akt der Aneignung dar, so Betty Jay: »This passing of a woman’s story between men in order to repair their intimacy represents an act of appropriation. [...] If Helen’s act helps facilitate sexual intimacy, its repetition by Gilbert promotes homosocial bonding.« (B. Jay 2000, 39) Nachdem bereits Huntingdon Helens Tagebuch gegen ihren Willen gelesen und damit ihren ersten Fluchtversuch vereitelt hat (TWH, 309 ff.), wiederholt Markham nun diesen Akt der symbolischen Gewalt, denn, so Joshi: »The violence of the act is unmistakable; for the second time, Helen is exposed and spoken for.« (Joshi 2009, 914)14 Auch in seinem Umgang mit dem Tagebuch unterscheidet sich Markham nicht substanziell von Huntingdon. Markham wird also bei der Ausübung sowohl von physischer als auch von symbolischer Gewalt gezeigt und damit in der Nähe der exzessiven Männlichkeit Huntingdons verortet. Auf der anderen Seite wirkt er jedoch emotional unreif und unsicher, so Joshi: »Markham is emotionally undomesticated. He is unable to form an ›intimacy‹ with Lawrence and is so emotionally clumsy that when Helen virtually proposes to him by handing him a rose, he freezes« (Joshi 2009, 917). Schließlich, so Joshi weiter: »[In] [t]he letters from Markham to Halford [...] we glimpse Markham shakily trying to open up to another person.« (Joshi 2009, 918)

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Hier gibt es eine interessante Parallele zu The Woman in White, wo der Erzähler und Held Walter Hartright ganz ähnliche Operationen der Ordnung und Gestaltung an einem von einer Frau verfassten Tagebuch vornimmt (siehe Kapitel 5.3). Zur Thematik dieser vergeschlechtlichten Erzählstrukturen im Allgemeinen siehe Case 1999. Vgl. auch Jacobs 1986. Dort wird die Funktion des »covering narrator« mit der Position des Ehemanns unter den Gesetzen der »coverture« verglichen (siehe Kapitel 3).

Begehren und begehrt werden

Dieser Aspekt der jugendlichen Unbeholfenheit ist jedoch in John Eames in The Small House at Allington wesentlich stärker ausgeprägt. Dieser wird als typischer Vertreter des Typus »hobbledehoy« eingeführt und allgemein beschrieben: Such young men are often awkward, ungainly, and not yet formed in their gait; they straggle with their limbs, and are shy; words do not come to them with ease, when words are required, among any but their accustomed associates. Social meetings are periods of penance to them, and any appearance in public will unnerve them. They go much about alone, and blush when women speak to them. In truth, they are not as yet men, whatever the number may be of their years; and, as they are no longer boys, the world has found for them the ungraceful name of hobbledehoy. (SHA, 33)

Mit diesem Begriff des »hobbledehoy« wird adoleszente Männlichkeit bezeichnet. Laurie Langbauer beschreibt die in vielen von Trollopes Romanen enthaltenen hobbledehoy-Figuren als »accounts of awkward youth«: [...] no matter how much they want to fit in, [they] remain de trop. They’re terrible at their jobs, gauche in company – they cannot fit themselves onto any kind of straightforward path. They are sidetracked or arrested or just plain fail, even when it comes to the kind of basic development – such as growing up – that we think ought to unfold naturally. (Langbauer 2011, 113, Hervorh. i.O.)

Markant ist dabei die Sympathie und Nachsicht, die der Erzähler (in The Small House wie in anderen Trollope-Romanen) diesen jungen Männern entgegenbringt, wie wir in Bezug auf Eames gleich noch ausführlich sehen werden. Allgemein scheint der Begriff zu Trollopes Lebzeiten weniger positiv besetzt gewesen zu sein. Die Herkunft des Wortes ist unklar, aber Langbauer vermutet eine Verbindung zu dem im 16. Jahrhundert nachgewiesenen Begriff »Sir Hobbard de Hoy«, der für den Teufel in seiner Funktion der sexuellen Versuchung steht (Langbauer 2011, 126).15 Sie erwähnt allerdings auch einen Klassenaspekt in der Konnotation: »a ›hobbledehoy‹ also came to denote a kind of adolescent factotum, a young uncouth male servant« (Langbauer 2011, 127). Zu diesem Klassenaspekt gehört die implizite Assoziation des hobbledehoy mit der lower middle class oder dem Kleinbürgertum. Um die Mitte des Jahrhunderts, so Young, wurde die lower middle class in Cartoons und Sketchen (die natürlich in erster Linie der Belustigung des Bürgertums dienten) vor allem durch die Figur des »bumbling clerk« repräsentiert: »Inept and unprepossessing clerks often stumble into preposterous and often humiliating scrapes.« (Young 1999, 62) Diese Beschreibung erinnert stark an Trollopes Charakterisierung des hobbledehoy. Zudem ist nicht nur Eames von Beruf Büroangestellter – clerk –, auch Crosbie gehört dieser 15

Vgl. »hobbledehoy«, Oxford Dictionary of English Etymology 1996. Dort wird zwar der Begriff »hobbard de hoy« als Synonym aufgeführt, aber seine Bedeutung oder Herkunft wiederum nicht näher definiert.

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»The Power of Love«

Kategorie an. Dieser Umstand kommt bereits in der ersten Dialogszene des Romans zur Sprache. Das Gespräch beginnt mit Lilys Ausspruch: »But Mr. Crosbie is only a mere clerk.« This sarcastic condemnation was spoken by Miss Lilian Dale to her sister Isabella [...]. »I don’t know what you call a mere clerk, Lily. Mr. Fanfaron is a mere barrister, and Mr. Boyce is a mere clergyman.« Mr. Boyce was the vicar of Allington, and Mr. Fanfaron was a lawyer who had made his way over to Allington during the last assizes. [...] »You don’t suppose that Mr. Crosbie is the same as John Eames,« said Bell, who, by her tone of voice, did not seem inclined to undervalue the qualifications of Mr. Crosbie. Now John Eames was a young man from Guestwick, who had been appointed to a clerkship in the Income-tax Office, with eighty pounds a year, two years ago. »Then Johnny Eames is a mere clerk,« said Lily; »and Mr. Crosbie is – After all, Bell, what is Mr. Crosbie, if he is not a mere clerk?« Of course, he is older than John Eames; and, as he has been longer at it, I suppose he has more than eighty pounds a year.« »I am not in Mr. Crosbie’s confidence. He is in the General Committee Office, I know; and, I believe, has pretty nearly the management of the whole of it. I have heard Bernard say that he has six or seven young men under him, and that –; but, of course, I don’t know what he does at his office.« (SHA, 10 f.)

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Ich zitiere den Dialog so ausführlich, weil darin deutlich wird, wie unsicher die Grenzziehungen des Bürgertums nach »unten«, also zur lower middle class sind. Ist es die Höhe des Einkommens, die über den Status entscheidet oder die Art der Beschäftigung? Oder kommt es auf die Position in der Bürohierarchie an? Und was unterscheidet den Büroangestellten von den Vertretern anderer Berufe, wie etwa des Pfarrers oder des Juristen? Das sind die Fragen, die hier unter anderem aufgeworfen werden. Besonders relevant ist dabei das Wörtchen »mere«, das sich durch den Dialog zieht und in dem sich vor allem Lilys abwertende Haltung ausdrückt. Das muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der clerk zur Entstehungszeit des Romans als Inbegriff der Unscheinbarkeit galt, so Young: In Victorian literature, lower-middle-class man – typically represented as a lowlevel office clerk or shopkeeper – is the embodiment of insignificance, and the class itself the repository of numbing mediocrity. (Young 1999, 58)

Der Dialog zwischen Lily und Bell zeigt auf, dass die Grenzen des Bürgertums Gegenstand kontinuierlicher Verhandlung sind. Aber er verweist auch auf einen wesentlichen Grund für die Notwendigkeit der Grenzziehung: Was auf dem Spiel steht, ist die Frage, welcher dieser beiden Männer als Objekt des Begehrens in Frage kommt. Bell, so wird hier angedeutet, hat Interesse an Crosbie als Begehrensobjekt und ist deshalb bemüht, seinen Status als legitimes Begehrensobjekt außer Frage zu stellen. Dafür grenzt sie ihn von Eames ab, während Lily, die sich erst später in Crosbie verlieben wird, die beiden Männer auf der gleichen sozialen Stufe verortet. Eine Zugehörigkeit zur lower middle class, das wird darin deutlich, bedingt den

Begehren und begehrt werden

Ausschluss aus dem Kreis begehrenswerter Männlichkeit. Während Crosbies Einordnung in die Klassenhierarchie in Frage steht, wird Eames fest im Kleinbürgertum verankert und von keiner der beiden Schwestern als Begehrensobjekt in Betracht gezogen. Als Londoner clerk, als unbeholfener hobbledehoy ist Eames eine komische Figur, über die vor allem im Kontext des Subplots rund um Mrs. Ropers boarding house durchaus gelacht werden soll – während im Gegensatz dazu die bürgerlichen Figuren des Hauptplots zur Identifikation angeboten werden, so Markwick: There might be a pathos in describing the plight of the destitute in fiction but, by and large, the role of the lower orders in the novel was as comic relief. There was no invitation to identify with them and share their feelings. (Markwick 1997, 111)

Verglichen mit den anderen Figuren dieses Subplots, allen voran Amelia Roper, der Eames »aus Versehen« die Ehe verspricht, wird Eames in The Small House at Allington vom Erzähler deutlich privilegiert.16 Ihm gegenüber ist seine ironische Distanz liebevoll paternalistisch. Der Erzähler findet Entschuldigungen für ihn, wo Eames zeitweise strenger über sich selbst urteilt, oder weist ihn gutmütig zurecht, etwa für sein Verhalten gegenüber Amelia Roper oder für die Wahl seiner Freunde: I am quite prepared to acknowledge that John Eames should have kept himself clear of Amelia Roper; but then young men so frequently do those things which they should not do! (SHA, 45 f.) I do not think that there was the slightest reason why John should have again kissed her at parting, but he did so. (SHA, 650) He could not make for himself those excuses which we can make for him. He could not tell himself that he had been driven by circumstances to choose a friend, before he had learned to know what were the requisites for which he should look. (SHA, 554)

Möglich und plausibel wird diese Haltung dadurch, dass Eames’ Geschichte als Entwicklungsgeschichte erzählt wird. Zu Beginn, das betont der Erzähler immer wieder, kann er kaum als erwachsener Mann angesehen werden. Unabhängig von ihrem tatsächlichen Alter stehen hobbledehoys zwischen Kindheit und Erwachsenenalter – sie sind »no longer boys«, aber »not as yet men« (SHA, 33) – und sind damit der gegen Mitte des 19. Jahrhunderts neu eingeführten Kategorie der Adoleszenz zuzuordnen (Langbauer 2011, 114 f.).17 16 17

Auf Amelia Roper gehe ich in Kapitel 4.2 näher ein. Allerdings ist diese Art von Adoleszenz als eine Phase der »erlaubten« und als natürlich angesehenen Unbeholfenheit im Großen und Ganzen Männern vorbehalten. Trollope bezeichnet zwar Johnny Eames’ Schwester Mary als »hobbledehoya« (SHA, 35), aber ihre Geschichte wird nicht erzählt (vgl. Langbauer 2011, 126). Das bedeutet, dass ihr, anders als ihrem Bruder, keine Entwicklung zugestanden wird. Anders als Langbauer würde ich daher die fehlende Parallelität der Adoleszenz-Konzepte für Mädchen und Jungen in erster Linie mit der gender-

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»The Power of Love«

Wir haben bereits gesehen, dass der Roman unter anderem die Geschichte von John Eames’ Mannwerdung erzählt. Dieser Prozess beinhaltet, dass er sich von seinen Phantasieträumen lösen und lernen muss, dass das Heroische keinen Platz im »wirklichen Leben« hat. Darin, und das unterscheidet ihn von den anderen Figuren seines Londoner Milieus, wird er sowohl vom Erzähler als auch von den anderen Figuren unterstützt. Ein Blick auf die oben ausgewählten Erzählerkommentare zeigt eine besondere Häufung des Wörtchens »should«. Auf diese Weise bewertet der Erzähler Eames’ Handlungen, aber in einer Form, die zwar Nachsicht und Verständnis ausdrückt, diese aber mit freundlich-belehrenden Ratschlägen verbindet. Verstärkt wird diese paternalistische Haltung des Erzählers zusätzlich dadurch, dass Eames von ihm meist mit seinem Vornamen (John) oder seinem Spitznamen (Johnny) bezeichnet wird. Auf der Ebene der Figuren nimmt Lord De Guest eine dem Erzähler sehr ähnliche Haltung ein – etwa, indem er Eames in einem Brief freundlich darauf hinweist, wie ein earl korrekt angesprochen wird: »And then he added, in a postscript: ›When you write to me again [...], begin your letter, »My dear Lord De Guest,« – that is the proper way.‹« (SHA, 398) De Guest erkennt, genauso wie der Erzähler, dass Eames noch nicht das gesamte Repertoire bürgerlicher Männlichkeit beherrscht, und übernimmt, so David Skilton, die Rolle des abwesenden Vaters: By this means, in the absence of a guiding father, he simultaneously teaches Johnny how to drink wine after dinner and how to use his »classicalities,« as part of that young man’s graduation from hobbledehoydom to masculine maturity. (Skilton 2011, 135)

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Skilton bezieht sich hier auf eine andere Szene, in der De Guest mit seinem in der Schule gelernten lateinischen Zitatschatz die Zugehörigkeit zur männlichen Gemeinschaft demonstriert, indem ein gemeinsamer Bildungshintergrund affirmiert wird (Skilton 2011, 134 f.). Beides – der lateinische Zitatschatz sowie die Konventionen der Anrede – sind natürlich Demonstrationen der Klassenzugehörigkeit, die den Einsatz eines bestimmten kulturellen Kapitals erfordern, um es in Bourdieu’schen Begriffen auszudrücken. Die Mannwerdung beinhaltet also immer auch die Aufnahme in männlich-homosoziale Räume; und diese Räume sind klaren Klassengrenzen unterworfen, so Skilton: »The incident, that is, acts out some of the mechanisms of inclusion.« (Skilton 2011, 135)18

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spezifischen Ausdifferenzierung der Plotmuster in Verbindung bringen: Um die Heldin eines marriage plot zu sein, muss die junge Frau von Beginn an begehrenswert sein, während der Held eine Entwicklung durchlaufen kann, um begehrenswert zu werden. In diesem Sinn, so Skilton, bringt an dieser Textstelle nicht nur der Earl seinem Schützling männlich-bürgerliche Codes bei, sondern der Erzähler markiert gleichzeitig den Raum des Romans als bürgerlich-männlichen Raum: »Dramas

Begehren und begehrt werden

Der Erzähler und Lord De Guest demonstrieren mit ihrer Haltung gegenüber Eames, dass sie ihn als ebenbürtig anerkennen und damit als bürgerlichen Mann wahrnehmen – wenn auch gewissermaßen als bürgerlichen Mann in the making. Die Entwicklung, die Eames im Laufe des Romans durchläuft und die ihn schließlich zum Mann werden lässt, ist jedoch von Beginn an in ihm als Potenzial vorhanden. Der Erzähler vergleicht den »hobbledehoy« mit dem durch Crosbie personifizierten »swell« unter Rückgriff auf botanische Metaphorik: »I regard the former as unripe fruit, and the latter as fruit that is ripe.« (SHA, 34) Er formuliert ausdrücklich eine Präferenz für langsames, nicht durch Glashäuser oder dergleichen gefördertes Wachstum: »I like the smack of the natural growth, and like it, perhaps, the better because that which has been obtained has been obtained without favour.« (SHA, 34) Die Formulierung »without favour« bezieht sich hier in der botanischen Metaphorik auf Pflanzen, die aus eigener Kraft wachsen, ohne von Menschenhand unterstützt zu werden. Im übertragenen Sinn erscheint darüber hinaus jede Unterstützung »von außen« als künstliche Einflussnahme, beinahe als Betrug, weil dadurch die »natürliche« Entwicklung gestört wird, die das zum Vorschein bringt, was von vornherein im Inneren – der Pflanze bzw. des jungen Mannes – angelegt war. Während Eames jedoch von anderen Männern als einer der Ihren akzeptiert wird, erreicht er für Lily und Bell, die im Roman bürgerliche Weiblichkeit verkörpern, nie ganz den Status eines bürgerlichen Mannes. Wir haben gesehen, wie er zu Beginn im Kleinbürgertum verankert wird. Als nicht ganz bürgerlicher Mann kann er mit bürgerlichen Frauen befreundet sein, aber als Objekt des Begehrens kommt er nicht in Frage: [...] either of the girls was prepared to declare that Johnny Eames was her own and well-loved friend. Nevertheless, they spoke of him occasionally with some little dash of merriment – as is not unusual with prety [sic] girls who have hobbledehoys among their intimate friends, and who are not themselves unaccustomed to the grace of an Apollo. (SHA, 36)

Dadurch entsteht eine interessante Ambivalenz in der Figur, deren Bewertung im Kontext des Entwicklungsplots anders ausfällt als im Kontext des (unabgeschlossenen) Liebesplots, und deren Zugehörigkeit zum Feld bürgerlicher Männlichkeit durch die voneinander abweichenden Sichtweisen

of exclusion and belonging are the stuff of his fiction, and not only found in his story patterns but in his narrator’s relationship with his ideal reader, who is invited to enjoy a community of thinking and reading with the narrator, who quotes from the King James Bible, the Book of Common Prayer, Shakespeare, Milton, and other well-known sources, including Latin quotations which every schoolboy of Trollope’s class will have learnt by heart. These acts are what I have called elsewhere ›handshakes of recognition‹ between the reader, narrator, and characters that they are all in the same ›assemblage of men‹.« (Skilton 2011, 131)

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»The Power of Love«

der verschiedenen Figuren und des Erzählers nie abschließend festgestellt werden kann. Dieses Spannungsverhältnis wird auch darin sichtbar, dass der eine um Eames zentrierte Plotstrang zu einem »erfolgreichen« Ende geführt wird – »John Eames becomes a man« (SHA, 644) –, während er in Bezug auf den Liebesplot bis zuletzt ein »hobbledehoy« bleibt. Darauf verweist der Erzähler zum Schluss, wenn er (an einer oben bereits ausführlicher zitierten Stelle) ironisch auf die Konvention hinweist, dass als Held nur gelten kann, wer am Ende ein Happy End mit Ehe bekommt: I feel that I have been in fault in giving such prominence to a hobbledehoy, and that I should have told my story better had I brought Mr. Crosbie more conspicuously forward on my canvas. He at any rate has gotten to himself a wife – as a hero always should do; whereas I must leave my poor friend Johnny without any matrimonial prospects. (SHA, 654 f.)

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Auf sehr unterschiedliche Weise bleibt damit sowohl in The Small House at Allington als auch in The Tenant of Wildfell Hall die abschließende Bewertung der männlichen Hauptfigur in der Schwebe. In The Small House wird Eames zwar vom Erzähler bescheinigt, sich zu einem vollwertigen (bürgerlichen) Mann entwickelt zu haben, aber die Bestätigung auf der Ebene des Plots bleibt aus. In The Tenant hingegen wird Markham zum Happy End geführt, der Text hält aber in der Darstellung des Protagonisten sowie in seiner kontinuierlichen Distanz zum Erzähler bis zuletzt den Zweifel aufrecht, ob diese Eheschließung – aus Sicht der Heldin bzw. des Romans – eigentlich wünschenswert ist. Dennoch denke ich nicht, dass die Romane grundsätzliche Zweifel an Männlichkeitsidealen formulieren oder gar davon ausgehen, dass es Männlichkeit nur noch in einem Zustand der Imperfektion, des Werdens, des Unfertigen oder, auf der anderen Seite, in Form von aggressiver Hypermaskulinität geben kann. Im Gegenteil, die Normierung von Männlichkeit, so meine These, findet auf einer anderen Ebene statt. Um dies in den Blick zu bekommen, wird im Folgenden die Einbettung der Männerfiguren in die Liebesgeschichte noch einmal detaillierter unter die Lupe genommen.

4.1.3 Neue Männlichkeit: Die normalisierende Macht der Liebe Die Struktur des two suitor plots bringt es mit sich, dass die Männerfiguren als Rivalen aufgebaut sind, die um die Gunst ein- und derselben Frau kämpfen; sie sind für die Leser_innen auch dann als Rivalen erkennbar, wenn die Figuren selbst nichts voneinander wissen. Die gesamte Struktur beider Romane lädt dazu ein oder fordert gar dazu auf, Vergleiche zwischen den suitors anzustellen und ihre Vorzüge und Fehler gegeneinander abzuwägen. Für The Tenant of Wildfell Hall haben wir bereits gesehen, dass die beiden love plots auf verschiedene Erzählebenen verteilt sind. Gilberts

Begehren und begehrt werden

Brieferzählung an seinen Schwager, in der die (glücklich endende) Liebesgeschichte zwischen ihm und Helen erzählt wird, rahmt die Tagebucherzählung von Helen, die von ihrer (gescheiterten) Liebesgeschichte mit Arthur Huntingdon handelt. Die chronologisch frühere Liebesgeschichte ist damit strukturell von Beginn an als Hindernis für die Erfüllung der »eigentlichen« Liebesgeschichte markiert und Arthur Huntingdon als »falscher« suitor ausgewiesen. Er steht der affektiv privilegierten Liebe von Markham im Weg und muss folglich sterben, um den Weg für ihn freizumachen. Nichtsdestotrotz lädt die Distanz, die der Text zu Markham als Erzähler aufbaut, auch dazu ein, ihn selbst zu bewerten und insbesondere mit Huntingdon zu vergleichen. The Small House at Allington hingegen besteht aus einem komplexen Geflecht von Plotsträngen, das Juliet McMaster wie folgt zusammenfasst: The main plot, of course, is his usual one of the woman between two men. At the apex is Lily Dale of Allington, with her two suitors, one successful and faithless, the other faithful but unsuccessful. Each of these has temptations in another world than Allington; Crosbie is attracted to high life, and engages himself to the earl’s daughter Lady Alexandrina De Courcy; Eames is seduced by low life, and succumbs to the doubtful charms of the boardinghouse-keeper’s daughter, Amelia Roper. [...] To this main structure – a triangle with flourishes, as it were – Trollope adds another fainter triangle, in which Lily’s sister Bell, the other »pearl of Allington,« is courted by her two suitors, Bernard Dale, who is rich but unsuccessful in his suit, and Dr. Crofts, who is poor but carries off the prize. It is all very neat, even diagrammatic. (McMaster 1971, 128 f., Hervorh. i.O.)19

Der Text arbeitet auf verschiedenen Ebenen mit Strategien der Parallelisierung und Kontrastierung und etabliert so ein umfangreiches Wertungssystem. Vor allem John Eames und Adolphus Crosbie, die beiden suitors von Lily Dale, werden systematisch in Bezug zueinander gesetzt. Immer wieder springt die Fokalisierung zwischen den beiden hin und her, wobei die Verteilung ziemlich ausgewogen ist. Ganze Kapitel erzählen von Eames’ Erlebnissen in London bzw. von Crosbies Aufenthalt in Courcy Castle und (ebenfalls) in London. Dabei entsteht der Eindruck, die Erzählung würde sich jeweils von einem Ort zum anderen bewegen. Dieser Eindruck wird unterstützt durch den Beginn, der wie eine Führung durch Allington an-

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So einfach, wie es auf den ersten Blick scheint (oder wie es McMaster darstellt), ist die Sache jedoch nicht. Schon in McMasters Versuch der sachlichen Zusammenfassungen der Plotstruktur wird an einigen Stellen deutlich, wie sehr in die Plotarchitektur bereits Wertungen eingeschrieben sind (wie etwa McMasters Charakterisierung von Amelia, die zu ihrer Rolle als Protagonistin der kleinbürgerlichen »comic action« passt). Peter Garrett warnt davor, die verschiedenen Plotlinien einem Strukturprinzip oder einem Thema unterzuordnen, wie es schon an McMasters Titel sichtbar wird (»Unifying Theme in The Small House at Allington«), weil das die komplexen moralischen Aushandlungsprozesse unsichtbar mache, die gerade aus dem Zusammenspiel verschiedener, sich manchmal gegenseitig in Frage stellender Plotlinien entstünden (Garrett 1980, 181 ff.).

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mutet: »As you pass along the road from Guestwick into the village you see the church near to you on your left hand« (SHA, 7). Die Leser_innen werden eingeladen, ebenso wie der Erzähler als unsichtbare Beobachter_innen mitten im Geschehen zu verweilen, indem der Erzähler sie in sein »wir« einschließt und der Zeitraum des Romans als »Aufenthalt« in Allington aufgefasst wird: »Doubtless we shall in the course of our sojourn at Allington visit the vicarage now and then« (SHA, 8). In der Folge werden zeitliche und räumliche Markierungen eingesetzt, um immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass Eames und Crosbie in ihrer Rivalität aufeinander bezogen sind. Ihre Besuche in Allington und ihre Rückkehr nach London überschneiden sich: Apollo Crosbie left London for Allington on the 31st of August, intending to stay there four weeks [...]. On the 1st of October we shall also find ourselves at Allington in company with Johnny Eames; and Apollo Crosbie will still be there [...] (SHA, 44)

Doch auch später, als Crosbie bereits Alexandrina De Courcy geheiratet hat und sich Eames’ und Crosbies Geschichten auseinanderbewegt haben, wird weiterhin eine solche Parallelisierung vorgenommen: When Crosbie was making his ineffectual inquiry after Lady De Courcy’s bracelet at Lambert’s, John Eames was in the act of entering Mrs. Roper’s front door in Burton Crescent. (SHA, 446) Mr. Crosbie and his wife went upon their honeymoon tour to Folkestone in the middle of February, and returned to London about the end of March. Nothing of special moment to the interests of our story occurred during those six weeks [...]. In the meantime John Eames had continued his career in London [...] (SHA, 499)

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Adolphus Crosbie wird als Anti-Held aufgebaut, allerdings bei weitem nicht so drastisch dargestellt wie Arthur Huntingdon und weniger scharf verurteilt. Das zeigt sich bereits in dem Umstand, dass er nicht sterben muss. Crosbie wird »vorgeführt« – der Erzähler begegnet der Figur mit einer ironisch distanzierten Haltung. Viel Platz nimmt hier die Form der personalen Erzählung ein, in der Crosbies Gedanken minutiös aufgezeichnet werden. Durch seine Überlegungen, Argumentationen und Rechtfertigungen wird sein Entschluss, Lily fallen zu lassen und Alexandrina zu heiraten, gleichzeitig psychologisch motiviert und vom Erzähler verurteilt. Crosbies Logik entlarvt sich selbst; es ist offensichtlich, dass er sich etwas vormacht, etwa an dieser Stelle am Anfang des Romans, als er sich selbst in Gedanken für »his own disinterested and manly line of conduct« lobt: »having made up his mind in a very manly way that he would not desert Lily altogether after having promised to marry her« (SHA, 74). Hier wird klar, dass Crosbie vom Erzähler bereits dafür kritisiert wird, dass er nach der Verlobung überhaupt eine solche Möglichkeit in Erwägung zieht – und sei es, um sie auszuschließen, denn dadurch wird sie in den Bereich des

Begehren und begehrt werden

Denkbaren gerückt. Crosbie dehnt auf diese Weise den Bereich des Denkund Sagbaren immer weiter aus, bis schließlich anfangs unmögliche Handlungen im Bereich des Möglichen sind. Einige der rhetorischen Strategien, derer sich Crosbie dabei bedient, werden vom Erzähler explizit benannt und verurteilt: »And then he had used the old sophistry in his endeavour to teach himself that it was right to do that which he wished to do.« (SHA, 244) Oder: »How many a false hound of a man has endeavoured to salve his own conscience by such mock humility?« (SHA, 247) Die expliziten Kommentare des Erzählers sind jedoch weniger bedeutsam für die Wertungsstruktur des Romans als das, was der Roman von seinen Figuren zeigt. Das betrifft in besonderem Maß die personale Rede, wie Peter Garrett in Bezug auf Trollopes Roman Can You Forgive Her? anmerkt: The three pages of free indirect discource which represent Alice’s reactions to Grey’s letter [...] offer a subtle and detailed dramatization of her state of mind, her conflicting feelings of love and resentment toward her fiancé, her attempts at selfjustification which reveal unconscious guilt for the break with him she does not yet know she intends to make. The complexity of such concrete presentation far exceeds the narrator’s powers of summary generalization [...] (Garrett 1980, 184)

Ähnliches gilt für Crosbie und The Small House at Allington, wo Crosbies Haltung immer wieder subtil delegitimiert und ironisch unterminiert wird. Michael Riffaterre zeigt dies eindrücklich in seiner Analyse einer Passage, in der Crosbie in Courcy Castle auf dem Bett liegt und über seine Verlobung nachdenkt. Die Textstelle lautet wie folgt: He had almost acknowledged to himself that he repented his engagement with Lilian Dale, but he still was resolved that he would fulfil it. He was bound in honour to marry »that little girl«, and he looked sternly up at the drapery over his head, as he assured himself that he was a man of honour. Yes; he would sacrifice himself. As he had been induced to pledge his word, he would not go back from it. He was too much of a man for that! (SHA, 190)

Riffaterre fokussiert die metonymische Verwendung des Adverbs »sternly« und kann damit gut beschreiben, wie der satirische Effekt in dieser und anderen ähnlich aufgebauten Passagen produziert wird: Supine as he is, he perhaps cannot help but gaze upwards. But this is not reality. The mimesis specifies »sternly,« an adverb that activates the symbolism of his bold eyes: they bespeak unwavering steadfastness and firm purpose. »Upwards,« however, or »uplifted« alone would do to describe a stern gaze. The metonymic substitution of the real and decidedly down-to-earth curtain ironically undercuts the connotations of firmness and announces vacillation and betrayal. (Riffaterre 1982, 275)

Auf diese Weise distanziert sich der Roman immer mehr von Crosbie, stellt dies jedoch als Prozess der langsam wachsenden Erkenntnis dar, den der Erzähler und die Figuren gemeinsam mit den Leser_innen durchlaufen, und produziert damit gleichzeitig bestimmte Erwartungen an das Schicksal, das Crosbie schlussendlich zugewiesen wird. Wir haben bereits gese-

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hen, dass die Verteilung von poetic justice einen zentralen Aspekt der Sinngebungs- und Wertungsstruktur des realistischen Romans darstellt (siehe Kapitel 2.3). Auf Crosbie bezogen bedeutet das, dass er im Verlauf der Erzählung zunehmend seinen Status als Mensch verliert. Um ihre Empörung über sein Verhalten auszudrücken, bedenken verschiedene Figuren ihn mit Tiernamen: Vor allem Mr. Dale beschimpft Crosbie immer wieder als »reptile«, »worm«, »vermin«, »rat« (SHA, 296 ff.). Crosbie kann, so Dale, nur gemieden werden wie Ungeziefer: »What can you do to a rat but keep clear of him?« (SHA, 329), »such a man could be served only as one serves a rat« (SHA, 335). Auch der Gärtner Hopkins bezeichnet Crosbie als Ungeziefer: »If I could a got him by the scruff of the neck, I’d a treated him just like any wermin; I would, indeed! He was wermin! I ollays said it.« (SHA, 590) Der Erzähler wiederholt und bekräftigt das Urteil der Figuren: It was a vile letter to have written [...] because the thing to be told was in itself so vile. There are deeds which will not bear a gloss – sins as to which the perpetrator cannot speak otherwise than as a reptile; circumstances which change a man and put upon him the worthlessness of vermin. (SHA, 297)20

Die Figuren, die Lily nahe stehen, leiden darunter, dass keine Strafe für Crosbie möglich erscheint. In langen Diskussionen kommen sie, wie wir bereits gesehen haben, immer wieder zu dem Schluss, dass Duelle »heutzutage« nicht mehr möglich seien und dass ein Gerichtsverfahren außer Frage stehe.21 Der Erzähler wiederholt jedoch am Ende solcher Diskussionen immer wieder, dass Crosbie seine Strafe bekommen habe: The squire at Allington, and Mrs. Dale, and Lady Julia De Guest had been, and still were, uneasy in their minds because no punishment had fallen upon Crosbie, – no vengeance had overtaken him in consequence of his great sin. How little did they know about it! Could he have been prosecuted and put into prison, with hard labour, for twelve months, the punishment would not have been heavier. He would, in that case, at any rate, have been saved from Lady Alexandrina. [...] I myself am inclined to think that his punishment was sufficiently severe. (SHA, 528 f.; vgl. auch 339, 372)

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Crosbies »gerechte« Strafe besteht darin, Alexandrina zu heiraten, von ihrer Familie wie ein Untergebener behandelt zu werden (SHA, 337 f., 338 f., 366, 378), keinen beruflichen oder gesellschaftlichen Erfolg mehr zu haben (SHA, 377 f., 530) und dabei zu wissen, dass er an seinem Unglück selbst schuld ist: A self-imposed trouble will not allow itself to be banished. [...] such exorcism is not to be used when the sorrow has come from a man’s own folly and sin; – especially not if it has come from his own selfishness. Such are the cases which make

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Vgl. auch oben das Zitat, in dem der Erzähler Crosbie als »false hound« (SHA, 247) bezeichnet. Zur Frage des Gerichtsverfahrens aufgrund von Crosbies breach of promise vgl. Kapitel 4.2.

Begehren und begehrt werden

men drink; which drive them on to the avoidance of all thought; which create gamblers and reckless prodigals; which are the promoters of suicide. (SHA, 304)

Das Schicksal, das der Roman Crosbie zuteilt, besteht also darin, unglücklich und erfolglos zu sein. Darüber hinaus setzt er sich der Gefahr aus, in Exzessen zu versinken – und welche Folgen dies im Universum des viktorianischen Romans hat, haben wir bereits in Bezug auf Huntingdon gesehen. Was Crosbie und Huntingdon gemeinsam haben, ist der Verlust souveräner Subjektivität, den sie herbeiführen, indem sie an der adäquaten Selbstführung scheitern. Der Unterschied ist jedoch, dass Crosbie nicht stirbt, sondern in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Der Roman, oder eine nicht näher definierte höhere Macht, hat ihm seine gerechte Strafe zugeteilt, ohne jedoch – das betont der Erzähler speziell – den anderen Figuren die Möglichkeit zur Befriedigung ihrer Rachegelüste zu geben: Those who offend us are generally punished for the offence they give; but we so frequently miss the satisfaction of knowing that we are avenged! It is arranged, apparently, that the injurer shall be punished, but that the person injured shall not gratify his desire for vengeance. (SHA, 546 f.)

Die Figuren dürfen keine Rache und keine »gerechte« Strafe für andere Figuren wollen; ja, ihnen wird das Urteilsvermögen darüber abgesprochen, was eine »gerechte Strafe« wäre. Gleichzeitig produziert der Roman bei den Leser_innen genau diesen Wunsch nach »poetischer Gerechtigkeit« und versetzt sie in die Lage, darüber urteilen zu können und zu dürfen. Indem den Figuren jede Rache verwehrt wird, werden die Leser_innen erst in die Lage versetzt, die Befriedigung ihrer vom Text produzierten Rachegelüste zu genießen. Das wird in The Tenant of Wildfell Hall fast noch deutlicher. Hier spricht Markham den Wunsch nach Huntingdons Tod offen aus, denn dieser würde es ihm ermöglichen, Helen zu heiraten: »when that profligate scoundrel has run through his career, you will give your hand to me« (TWH, 341). Aber Helen lässt diesen Wunsch nicht gelten; vielmehr weist sie auf die ihm zugrunde liegende moralische Problematik hin: »the moral evil of basing our hopes upon the death of another, who, if unfit for this world, was at least no less so for the next, and whose amelioration would thus become our bane and his greatest transgression our greatest benefit« (TWH, 341). Helen wird sorgsam gegen jeden Verdacht der Rachegedanken abgeschirmt, gerade weil diese so naheliegend sind. Sie erkennt selbst die paradoxe Situation, in der sie sich befindet, nachdem sie zu ihrem Ehemann zurückgekehrt ist, um ihn zu pflegen: I find myself in a rather singular position: I am exerting my utmost endeavours to promote the recovery and reformation of my husband, and if I succeed what shall I do? My duty, of course, – but how? (TWH, 367)

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Den Leser_innen jedoch bietet der Roman die Genugtuung, in Huntingdons Krankheit und seiner daraus entstandenen Abhängigkeit eine Umkehr der Machtverhältnisse zu lesen. Auf dieser Ebene stimme ich Langland zu, wenn sie schreibt: »When Helen returns to her husband’s bedside, she is as much avenging demon as she is redeeming angel.« (Langland 1989, 145)22 Langland fasst zusammen: »Helen has achieved ›innocent‹ revenge. She is punishing with impunity.« (Langland 1989, 146)23 Allein ihre Positionierung innerhalb der Plotlinien und der narrativen Struktur sowie das ihnen zugeteilte Schicksal impliziert also bereits eine Wertung der Figuren. Doch für die Frage nach der Normierung von Männlichkeit muss genauer betrachtet werden, welche Differenzen in der Charakterisierung der verschiedenen Figuren etabliert werden und was als Anzeichen begehrenswerter Männlichkeit codiert wird. Zentral ist hier die Bedeutung von Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit bzw. die damit im Zusammenhang stehende Tiefe der empfundenen Liebe. Für Crosbie ist die Liebe nur ein Spiel: »Better than any of his London pleasures was this pleasure of making love in the green fields to Lily Dale.« (SHA, 166) Mehrfach bezeichnet er die Liebe zudem als Wettkampf oder Krieg, etwa: »War and love were alike, and the world was prepared to forgive any guile to militants in either camp.« (SHA, 268) Dieses Verständnis von Liebe wird mit den De Courcys in Verbindung gebracht und dadurch abgewertet. Vor allem Lady De Courcy versteht die Liebe als sportlichen Wettbewerb (z.B. SHA, 194) und als Kampf (SHA, 193 f.). Wie wir bereits in Kapitel 3 gesehen haben, steht diese Auffassung von Liebe dem von den Romanen vertretenen Liebesdiskurs, der auf Tiefe und Ernsthaftigkeit abhebt, diametral entgegen. Wenn Crosbie zu Alexandrina sagt: »I will not marry where I do not love« (SHA, 257), erscheint das vor diesem Hintergrund als Farce, denn wir wissen, dass er Alexandrina nicht liebt, sondern ausschließlich aus pragma-

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Langland argumentiert allerdings auf der Ebene von Helens psychologischen Motiven und liest dafür Huntingdons Vorwürfe an Helen (etwa: »Oh, this sweet revenge! [...] And you can enjoy it with such a quiet conscience too, because it’s all in the way of duty.« TWH, 365) als treffende Einsichten in Helens verborgene Beweggründe. Das ist durchaus ein interessanter Interpretationsansatz, aber letztendlich bin ich der Ansicht, dass diese Kommentare eher die Funktion haben, Huntingdon weiter zu diskreditieren, indem er Helens »reine« Motivation anzweifelt. Vgl. auch Langland 1992. Auch in der Art von Huntingdons Tod sieht Kunert einen impliziten Aspekt ausgleichender Gerechtigkeit am Werk. Sie schlüsselt die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs »mortification« auf, dessen wörtliche Bedeutung, Wundbrand, die Todesursache bezeichnet. »Mortification« kann aber auch »Erniedrigung« bedeuten, so Kunert weiter: »A third meaning – humiliation – was familiar, particularly to Victorian women. If women endured mortification imposed by the malecontrolled milieu, in fiction they could reverse the victimization and discreetly relish the mortification of the male. Some feminine wish-fulfillment must have resided in the term, the literal decay revenging the metaphoric humiliation.« (Kunert 1978, 239 f.)

Begehren und begehrt werden

tischen Gründen heiraten will – um durch die Zugehörigkeit zu einer adligen Familie seinen gesellschaftlichen Stand zu erhöhen. Auch seine Bescheidenheit wird als »unecht« deklariert und, wie wir gesehen haben, vom Erzähler als »mock humility« (SHA, 247) bezeichnet. Für Eames hingegen ist die Liebe eine zutiefst ernsthafte Angelegenheit, die sich am besten durch möglichst schlichte Bekundungen ausdrücken lässt. So gesteht er Lily: »I loved you before he ever saw you; and now that he has gone, I love you better than I ever did.« (SHA, 594) Er zweifelt dennoch beständig daran, ob er ihrer Liebe auch wert ist, hat Angst, sie zu sehr zu drängen, und nimmt ihr »Nein« sehr ernst. Er macht sich sogar Vorwürfe dafür, dass er ihr einen Heiratsantrag gemacht hat: Yes; he had failed: and he acknowledged to himself, with bitter reproaches, that he had failed, now and for ever. He told himself that he had obtruded upon her in her sorrow with an unmannerly love, and rebuked himself as having been not only foolish but ungenerous. (SHA, 597)

Eames’ Liebe wird als gänzlich inszenierungslos dargestellt. Seine Gefühle drücken sich vielmehr fast von selbst aus, im Gegensatz zu Crosbies elaborierter und als »falsch« markierter Rhetorik. Lily selbst erkennt die Ernsthaftigkeit von Eames’ Liebe: The man had loved her honestly and truly, – still did love her, paying her the great homage of bitter grief in that he had lost her. Where is the girl who will not sympathize with such love and such grief, if it be shown only because it cannot be concealed, and be declared against the will of him who declares it? (SHA, 89 f.)

Nach den Regeln des Anstands müsste Eames alles tun, um seine Liebe zu verbergen, sobald Lily mit einem anderen Mann verlobt ist. Seine Liebe jedoch wird als so tief dargestellt, so ehrlich und natürlich, dass sie sich nicht verbergen lässt. Eames kann nicht anders, als Lily seine Liebe zu gestehen: »I made a fool of myself, and have been a fool all along. I am foolish now to tell you this, but I cannot help it.« (SHA, 225) Zu Beginn macht sich Crosbie über Eames lustig und sieht auf ihn herab. Vor allem macht er sich lustig über Eames’ Liebe und zweifelt an ihrer Tiefe und Ernsthaftigkeit: »some kind of romantic attachment [...] – a foolish kind of love« (SHA, 138), »fancying himself a despairing lover« (SHA, 139), »It’s all great nonsense, no doubt« (SHA, 140). Immer deutlicher streicht der Roman jedoch heraus, dass es Crosbies Liebe ist, die oberflächlich ist, während Eames sich durch tief empfundene Gefühle, Ehrlichkeit und Echtheit auszeichnet – Werte, die für Trollopes Männerfiguren insgesamt zentral sind, so Amanda Anderson: »honesty emerges as the crux virtue [...] (it quintessentially defines the ›gentleman‹)« (Anderson 2007, 512; vgl. auch Kincaid 1977, 12 f.). In The Tenant of Wildfell Hall wird zwischen Huntingdon und Markham ein ganz ähnliches Verhältnis aufgebaut. Huntingdon erscheint in seiner courtship launisch und sprunghaft. Er macht Helen eifersüchtig, in-

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dem er mit einer anderen Frau flirtet, und nutzt seine emotionale Macht über sie aus: »there was more of conscious power than tenderness in his demeanour« (TWH, 124). Seine überschwänglichen Formulierungen deuten darauf hin, dass seine Gefühle oberflächlich sind: »I love you to distraction!« (TWH, 143) Auch das Gebot der Bescheidenheit missachtet er, indem er sich sicher ist, dass Helen ihn liebt und seinen Antrag annehmen wird: »Will you bestow yourself upon me? – you will!« (TWH, 143) Juliet McMaster hat in ihrer Analyse des Romans überzeugend dargelegt, dass Huntingdon und Markham über den Topos Lachen/Ernsthaftigkeit miteinander kontrastiert werden. Helen fühlt sich zu Beginn von Huntingdons Humor angezogen, in den sich jedoch bald ein Element des Sadismus mischt: »The laughter becomes in fact a sign of sadism. Though Arthur does not abuse Helen physically, he clearly derives pleasure from inflicting humiliation and psychological pain in a sexual context.« (McMaster 1982, 359) Noch vor der Verlobung gibt es Anzeichen eines solchen sadistischen Vergnügens bei Huntingdon, etwa als er auf der Rückseite von Helens Zeichnungen sein eigenes Porträt entdeckt und sich über Helens Unbehagen hervorragend amüsiert: »with a delighted chuckle« (TWH, 132) und »complacently smiling to himself« (TWH, 132), wie der Text präzisiert. In der Folge, so McMaster weiter, wird Huntingdons Lachen zu einem Zeichen seiner Unfähigkeit, ernsthaft zu sein: »increasingly we see him as incapable to be moved to anything but laughter, in any situation« (McMaster 1982, 359, Hervorh. i.O.). Schließlich drückt sich darin ein allgemeiner Mangel an Emotionen aus: »He apparently feels hardly anything deserving the name of an emotion, and would be incapable of expressing it if he did. Occasionally, circumstances call for some show of feeling, and then he has more fun, by putting on an act.« (McMaster 1982, 360, Hervorh. i.O.) Als Beispiel führt McMaster die folgende Szene an. Helen hat ihren Mann dabei ertappt, wie er Annabella küsst:

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»Are you very angry, Helen?« murmured he. »This is no jest, Arthur,« said I seriously, but as calmly as I could – »unless you think it a jest to lose my affection for ever.« »What! so bitter?« he exclaimed, laughingly [...]. »Then I must go down on my knees,« said he; and kneeling before me with clasped hands uplifted in mock humiliation, he continued imploringly – »Forgive me, Helen – dear Helen forgive me, and I’ll never do it again!« and burying his face in his handkerchief, he affected to sob aloud. (TWH, 197, Hervorh. i.O.)

In einem noch größeren Ausmaß als für Crosbie ist die Liebe für Huntingdon ein Spiel, eine Inszenierung, die aber nichts mit seinen Gefühlen zu tun hat. Seine Liebe ist oberflächlich und seicht; Helen vergleicht sie mit einem Strohfeuer: »I sometimes liken it to a fire of dry twigs and branches compared with one of solid coal« (TWH, 171). Sie wünscht sich, er würde nicht immer über alles lachen: »I do wish he would sometimes be serious. I can-

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not get him to write or speak in real, solid earnest.« (TWH, 170, Hervorh. i.O.) Gilbert hingegen betont die Tiefe und Ernsthaftigkeit seiner Liebe, wenn er sagt: »I cannot discuss the matter of eternal separation, calmly and dispassionately as you can do. It is no question of mere expedience with me; it is a question of life and death!« (TWH, 339, Hervorh. i.O.)

Helen tut ihm unrecht, wenn sie seine Liebe als »of such a light and selfish, superficial nature« (TWH, 88) einstuft und ihre Tiefe und Kraft unterschätzt: »I did not know the strength and depth of your attachment« (TWH, 88), und weiter: »[...] if I had known the depth of your regard, the generous disinterested affection you seem to feel –« »Seem, Helen?« »That you do feel, then [...]« (TWH, 88 f., Hervorh. i.O.)

McMaster sieht in der Tiefe von Gilberts Gefühlen für Helen und der Ernsthaftigkeit seiner Leidenschaft den zentralen Unterschied zwischen Markham und Huntingdon: »Despite some appearances to the contrary, it is Arthur who emerges as the passionless figure. Gilbert, on the other hand, is tempestuous and genuinely impulsive, swung this way and that by his feelings.« (McMaster 1982, 365) Markhams impulsives aggressives Verhalten, das ihn zu einer so ambivalenten Figur macht, entsteht demnach, anders als bei Huntingdon, aus einem Exzess tief empfundener Gefühle. Zwar muss er lernen, diese exzessive Leidenschaft zu kontrollieren und Verantwortung zu übernehmen, aber er wird von Beginn an als authentisch und »innerlich« dargestellt und dadurch vom Text klar Huntingdon vorgezogen. Die Art der Liebe, die eine Männerfigur empfindet, ist zusätzlich auf eine andere Weise relevant für die Erzählung. Denn auch die Männer stehen, wie wir gesehen haben, in fast allen Fällen zwischen zwei Frauen und müssen eine Wahl treffen. Allerdings spielt diese Wahl für die Plotdynamik nur eine untergeordnete Rolle. Umso wichtiger ist sie für die Charakterisierung der männlichen Protagonisten, denn der Mann muss mit seiner Entscheidung für die »richtige« Frau seine inneren Qualitäten beweisen und damit seine Fähigkeit unter Beweis stellen, idealisierte bürgerliche Weiblichkeit zu erkennen und zu schätzen. Gilbert Markham und John Eames treffen ihre Entscheidungen beinahe ohne Probleme. Gilbert ist zu Beginn oberflächlich in Eliza Millward verliebt: »a very engaging little creature, for whom I felt no small degree of partiality« (TWH, 16 f.). Eliza wird jedoch zunehmend als Frau ohne Tiefgang und ohne Empathie dargestellt. Gilbert erkennt nach und nach, dass sich unter ihrer süßen, kindlichen und spielerischen Art eine gewisse Bösartigkeit verbirgt. Am Anfang beschreibt er sie folgendermaßen:

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[...] her eyes – I must not forget those remarkable features, for therein her chief attraction lay – [...] the expression various, and ever changing, but always either preternaturally – I had almost said diabolically – wicked, or irresistibly bewitching – often both. Her voice was gentle and childish, her tread light and soft as that of a cat; – but her manners more frequently resembled those of a pretty, playful kitten, that is now pert and roguish, now timid and demure, according to its own sweet will. (TWH, 17, Hervorh. i.O.)

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Obwohl die Wertung hier noch positiv ist, kündigt sich schon an, dass Eliza die »falsche« Wahl ist. In der Folge wendet Gilbert sich langsam von ihr ab; er beginnt sie zu seicht zu finden – »Eliza’s playful nonsense ceased to amuse me – nay, grew wearisome to my soul« (TWH, 58), »I found her rather frivolous, and even a little insipid« (TWH, 45) – und ihre Bösartigkeit zu erkennen – »within those eyes there lurked a something that I did not like; and I wondered how I ever could have admired them« (TWH, 66); bis er sie schließlich als »little demon« mit einem »disingenuously malicious smile« (TWH, 356) bezeichnet. Was sich verändert, ist nicht so sehr die Beschreibung von Eliza, als Gilberts Sicht auf sie. Er muss lernen zu erkennen, wie Eliza »wirklich« ist, hinter die Fassade zu sehen und ihre Fehler zu erkennen. Ganz ähnlich ist dies bei Eames’ Umgang mit Amelia Roper, wobei der Erzähler betont, dass Eames zu keinem Zeitpunkt in Amelia verliebt ist. Er lässt sich von ihr, so stellt es der Roman dar, umgarnen und einwickeln, ist sich aber immer bewusst, wie groß der Unterschied zwischen Amelia und Lily ist. Eine Heirat mit Amelia steht außer Frage; Eames will sich lieber umbringen, bevor er sie zur Frau nimmt (SHA, 107 f.). Das Urteil des Erzählers über Amelia ist eindeutig. Amelia hat nicht den Status einer bürgerlichen Frau, sie wird als berechnend und intrigant dargestellt. Vor allem aber soll über sie gelacht werden, so Markwick: »Amelia’s story is told through the paramour’s eyes, and we hear a comic burlesque, exploiting the genre of laughing at the lower orders; in the accepted scheme of things, heroes are not required to marry milliner’s assistants of vulgar tastes and manners.« (Markwick 1997, 106) Einer solchen Frau gegenüber müsse sich ein Mann nicht ehrenhaft verhalten, so der Erzähler: »Honour, indeed, with such as her!« (SHA, 147) Dennoch muss Eames erst seine Entwicklung zum Mann durchlaufen, bis er sich ganz und gar von Amelia freimachen kann und bis er so erwachsen wird, dass er aufhört, sich vor ihr zu fürchten: »he was terribly afraid of Amelia Roper« (SHA, 148). Am Ende bewegt er sich auch räumlich aus Amelias Welt hinaus, indem er das von ihrer Mutter betriebene boarding house verlässt: »So he walked off from the Crescent, not exactly shaking the dust from his feet, but resolving that he would know no more either of its dust or of its dirt.« (SHA, 651) Amelia wird mit diesem »dust« und »dirt« in Verbindung gebracht. Eames’ Flirt mit ihr ist einer der Orte, an denen er seine Männlichkeit einübt und ausprobiert, wie Skilton schreibt: »the group

Begehren und begehrt werden

of London characters around Johnny Eames in The Small House [...] form a locus in which an appropriate manliness is established and tested [...]. In London, Johnny Eames must learn to resist vulgar blandishments in the person of Amelia Roper.« (Skilton 2011, 135)24 Ein wichtiger Teil von Eames’ Mannwerdung besteht darin, dass er dieser Welt – dem kleinbürgerlichen Milieu – und dieser Frau, die das kleinbürgerliche Milieu verkörpert, den Rücken kehrt und sich dadurch als der bürgerlichen Frau (Lily) würdig erweist. Diese Zusammenhänge lassen sich mit Blick auf die Nebenfigur Joseph Cradell zusätzlich untermauern. Dieser gehört zu der Welt von Mrs. Ropers boarding house, ist also Teil dessen, was Eames hinter sich lässt, als er »zum Mann wird«. Er ist zu Beginn Eames’ Freund und heiratet am Ende Amelia Roper – nachdem Eames sich schließlich von ihr gelöst hat. Eames und Cradell werden als weiteres Gegensatzpaar aufgebaut. Während sie am Anfang noch beide als jung und unvorsichtig geschildert werden (»Each, it must be acknowledged, was imprudent; but each clearly saw the imprudence of the other«, SHA, 49) erscheint Cradell zunehmend oberflächlicher. Er wird mit einer Motte verglichen, die immer wieder in die Kerze fliegt (SHA, 114). Im Gegensatz zu Eames ist Cradell, das zeigt diese Metapher, nicht dazu fähig, aus seinen Erfahrungen zu lernen. Eames beginnt schon bald, sich für ihn zu schämen (SHA, 105). Als er sich ernsthaft von ihm zu lösen beginnt, versucht Cradell, ihn zu halten und wird dabei lächerlich gemacht und feminisiert: Then Cradell almost cried. He remained silent for two or three minutes, striving to master his emotion; and at last, when he did speak, had hardly succeeded in doing so. »Oh, Johnny,« he said, »I know what that means. You are going to throw me over because you are getting up in the world. I have always stuck to you, through everything; haven’t I? [...] I’m not such a goose but what I can see. But, Johnny – I suppose I mustn’t call you Johnny, now.« (SHA, 514 f.)

Eames’ Reifungsprozess beinhaltet auch, sich von diesem Freund zu lösen. Er kommt zu dem Schluss, dass Cradell und Amelia gut zueinander passen: »Amelia was good enough for Joseph Cradell – any day of the week.« (SHA, 652) Darin wird nochmals unterstrichen, dass der »Wert« einer Person daran abzulesen ist, in wen sie sich verliebt und für welche der möglichen EhepartnerInnen sie sich entscheidet. Eames erhebt sich durch seine Liebe zur bürgerlichen Frau aus dem kleinbürgerlichen Milieu, während Cradells Zugehörigkeit zu dieser Klasse untermauert wird – und er damit aus dem Feld begehrenswerter (bürgerlicher) Männlichkeit ausscheidet.

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Vgl. auch Tosh, der darauf hinweist, dass junge Männer, die als Lehrlinge in die Stadt gehen und dort – wie Eames – ohne Familienanbindung leben, stereotyp mit sexuellen Ausschweifungen in Verbindung gebracht wurden (Tosh 1999, 107).

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Crosbie wiederum scheitert im Gegensatz zu Eames daran, sich für die »richtige« Frau zu entscheiden. Er wählt Alexandrina, die zwar nicht so absolut negativ dargestellt wird wie Amelia oder selbst Eliza in The Tenant, die aber jedenfalls als oberflächlicher und weniger liebenswürdig als Lily beschrieben wird.25 Crosbie selbst stellt unablässlich Vergleiche zwischen beiden Frauen an: He made comparison between Lily and Alexandrina, and owned to himself, over and over again, that Lily would make the best wife that a man could take to his bosom. As to Alexandrina, he knew the thinness of her character. [...] Lily Dale he had loved; and he now declared to himself that he could have continued to love her through his whole life. But what was there for any man to love in Alexandrina De Courcy? (SHA, 267)

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Crosbie erkennt also, dass Lily die begehrenswertere Frau ist, und er gesteht sich selbst seine Liebe zu ihr – allerdings erst, nachdem Alexandrina seinen Antrag angenommen hat, nachdem er also die »falsche« Entscheidung bereits getroffen hat. Crosbie zeigt, dass er fähig ist, aus seinen Erfahrungen zu lernen, jedoch erst, als es zu spät ist. Darin liegt der zentrale Unterschied zwischen ihm und Markham oder Eames. Denn auch diese beiden ernsthaften und leidenschaftlichen Protagonisten, die bürgerliche Weiblichkeit erkennen und begehren können, sind einem kontinuierlichen Lernprozess unterworfen: Eames muss an Souveränität gewinnen, während Markham lernen muss, seine aggressiven Impulse zu bezwingen. Das bringt die Notwendigkeit kontinuierlicher Arbeit an sich selbst mit sich, denn die Unterschiede zwischen den heroes und villains sind, wie wir gesehen haben, mitunter nur gradueller Art. Der Held muss demnach zwar kein Ideal verkörpern, aber er muss beständig daran arbeiten, sich diesem zu nähern. Die Fähigkeit zu einer solchen Arbeit an sich wurde, so James Eli Adams, mit Innerlichkeit und Tiefe in Verbindung gebracht: »The various rhetorics of masculinity [...] all locate in the capacity for self-discipline a charisma that seems to emanate from a rich interiority or ›deep‹ subjectivity« (Adams 1995, 14). In ähnlicher Weise betont John Tosh die Bedeutung des Lernens für viktorianische Vorstellungen von Männlichkeit: Attaining manhood could not therefore be blandly described as a natural process, or a matter of filling one’s allotted niche. It made more sense to represent it as a period of conflict, challenge and exertion. (Tosh 1999, 110 f.)

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Markwick weist jedoch darauf hin, dass die Darstellung von Alexandrina sarkastisch und voll des Spottes ist: »Alexandrina and the De Courcys [...] give their own interpretation of events. Reducing Lily’s romance to wishful thinking above her station disrupts the desires of the reader, who has installed her as heroine. In retribution, we have a text that is mocking, satirical, caustic, sarcastic; and, whereas in the Amelia story we have humour and comedy in incident, in the De Courcy story the wit all comes from the language.« (Markwick 1997, 106)

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Indem The Small House die Geschichte von Eames als Entwicklungsgeschichte erzählt, wird dieser Aspekt des self-fashioning stark betont. Doch wie sieht es mit Markham aus? Wie wir gesehen haben, wird die Frage, ob Markham sich tatsächlich substanziell verändert, ob er also einen erfolgreichen Lernprozess durchläuft, in der Sekundärliteratur durchaus kontrovers diskutiert. Priti Joshi weist jedoch darauf hin, dass diese Diskussion das Wesentliche übersieht: »in debating whether Markham changes or not, we miss a basic point: that the text posits it as desirable that he should« (Joshi 2009, 915, Hervorh. i.O.). Damit wird der Prozess gegenüber dem Ergebnis privilegiert, worauf auch Surridge hinweist: Gilbert’s progress toward Victorian manhood is achieved through an agonizing process of self-knowledge, contrition, and self-restraint. [...] But even as the text suggests the Victorians’ maturation away from violence in the home, it does not naturalize that process at the individual level. On the contrary, Gilbert’s diffficult fight to control his bitter jealousy and frustration makes him an exemplar of Victorian domestic manhood as self-discipline [...] (Surridge 2005, 82)

Für Surridge ist gerade die Sichtbarkeit der Selbstdisziplin als kontinuierlicher Kampf mit sich selbst zentral für die Normalisierung viktorianischer Männlichkeit. Allerdings muss der Held, um diese Arbeit an sich leisten zu können, paradoxerweise bereits die inhärent bürgerlichen Qualitäten der Tiefe und Innerlichkeit besitzen, die es ihm sowohl ermöglichen, die bürgerliche Frau zu lieben als auch sich für ihre Liebe zu eignen. Doch schlussendlich wird der Mann erst durch die Eheschließung wirklich zum Mann, so Tosh: »the complete transition to manhood depended on marriage« (Tosh 1999, 108). Daher bleibt Eames’ Entwicklung ohne Auflösung des Liebesplots in der Ehe prekär und unvollständig. Auch das wird am Schluss von The Small House in folgender bereits mehrfach betrachteter Passage deutlich: I feel that I have been in fault in giving such prominence to a hobbledehoy, and that I should have told my story better had I brought Mr. Crosbie more conspicuously forward on my canvas. He at any rate has gotten to himself a wife – as a hero always should do; whereas I must leave my poor friend Johnny without any matrimonial prospects. (SHA, 654 f.)

Tosh betont generell die zentrale Bedeutung, die Häuslichkeit für viktorianische Vorstellungen von Männlichkeit hatte. Allerdings stand diese »neue« Form von Männlichkeit kontinuierlich in Konflikt mit zwei verschiedenen traditionellen Arenen der Männnlichkeit: The first was homosociality – or regular association with other men. [...] clubs and taverns were the forum in which masculine standing was appraised and recognized [...]. Secondly, domesticity was difficult to square with the traditional association of masculinity with heroism and adventure. (Tosh 1999, 6)

Wir haben bereits deutlich gesehen, dass beide Romane viel Energie darauf verwenden, die Verbindung zwischen Männlichkeit und Heldentum oder Abenteuern zu delegitimieren – sei es in der Ironisierung des Heldenhaften

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an sich oder in der negativen Darstellung seiner Verkörperung insbesondere durch Arthur Huntingdon. Aber auch die Vorliebe für homosoziale Räume ist in beiden Romanen ein Hinweis auf Charakterfehler. So finden Huntingdons Ausschweifungen – weit weg von seinem ländlichen Heim – in den Londoner Clubs statt, und wenn er zu Hause ist, hält er sich ebenfalls vor allem in Gesellschaft seiner männlichen Freunde auf: Huntingdon and his friends spend little time in the company of women and are neither domestic or domesticated. Their pastimes – drinking, hunting, and gambling – are exclusively masculine [...] (Joshi 2009, 917)

Markham hingegen verbringt viel Zeit in Gesellschaft von Frauen (Joshi 2009, 917). Er wird sowohl zu Beginn, im Haus seiner Mutter, als selbstverständlicher Teil der häuslichen Gemeinschaft gezeigt, als auch am Ende fest im ehelichen Heim verankert. Nicht er begibt sich in die Stadt, um sich dort zu vergnügen, sondern sein Schwager Halford kommt zu Besuch in die ländliche Idylle: We are just now looking forward to the advent of you and Rose, for the time of your annual visit draws nigh, when you must leave your dusty, smoky, noisy, toiling, striving city for a season of invigorating relaxation and social retirement with us. (TWH, 417)

In diesem Sinn ist auch Crosbies negative Einstellung zu ehelicher Häuslichkeit und seine Bevorzugung des Junggesellen-Daseins ein Anzeichen für seine moralische Unzulänglichkeit: He must give up his clubs, and his fashion, and all that he had hitherto gained, and be content to live a plain, humdrum, domestic life, with eight hundred a year, and a small house, full of babies. It was not the kind of Elysium for which he had tutored himself. (SHA, 73)

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Während sich Crosbie als Junggeselle in seinen sozialen Interaktionen vorwiegend in männlich-homosozialen Räumen aufhält – im Zitat stehen dafür paradigmatisch die clubs – ist das Heim weiblich besetzt. Eine Heirat bedeute demnach die Feminisierung des männlichen Alltags, so Markwick in Bezug auf zwei Helden aus einem anderen Trollope-Roman: What both these men demonstrate, and what Trollope articulates specifically, is the recognition that the feminisation of the world of their bachelor spaces will increase their happiness; both know that long-term emotional fulfilment demands that they must change their domestic arrangements. (Markwick 2007, 129)

Diese Feminisierung ruft durchaus Widerstände und Ängste hervor (vgl. Tosh 1999, 112 ff.). In The Small House sind sie in Crosbies Zweifeln, in seiner Angst vor langweiliger Häuslichkeit eingeschrieben: »Babies with their belongings would come; and dull evenings, over a dull fire, or else the pining grief of a disappointed woman.« (SHA, 166) Später allerdings erkennt Crosbie genau dieses feminisierte Heim als Idealbild häuslichen Glücks: »That house full of babies in St. John’s Wood appeared to him now under a very different guise [...]. Now that it was out of his reach, he thought of it as a paradise upon earth.« (SHA, 300)

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Der Unterschied zwischen abschreckender und begehrenswerter Häuslichkeit – die beiden Pole, zwischen denen Crosbie oszilliert – liegt letztendlich in der Frau, die diese Häuslichkeit gestaltet. Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, phantasiert Crosbie nach seiner Heirat mit Alexandrina einen glücklichen Ehealltag mit Lily: [...] he would also declare to himself [...], that Lily would have made the whole house bright with her brightness; that had he brought her home to his hearth, there would have been a sun shining on him every morning and every evening. (SHA, 523)

An dieser Stelle zeigt sich die enge Verwobenheit von ehelichen Glücksvorstellungen mit Definitionen bürgerlicher Männlichkeit und Weiblichkeit. An Crosbie wird sehr deutlich, dass die Männlichkeit, die die Romane als begehrenswert entwerfen, eine domestizierte Männlichkeit ist. Der Mann wird im Haus verortet und soll dort – in der auf Liebe gegründeten Ehe – sein Glück finden. Nur wenn er sich als fähig dazu erweist, wird ihm der Status begehrenswerter bürgerlicher Männlichkeit verliehen. Gleichzeitig jedoch erscheint nur das Heim als erstrebenswert, das mit begehrenswerter bürgerlicher Weiblichkeit verknüpft wird. Der Protagonist kann in der Ehe nur glücklich werden, wenn er erkennen kann – oder zu erkennen lernt – welche Frau ein solches wünschenswertes Heim schaffen kann. An dieser Stelle muss daher der Fokus auf die Verhandlung bürgerlicher Weiblichkeit in den Romanen verschoben werden, um die Fäden dieses Bedeutungsknotens weiter zu verfolgen.

4.2 Jungfräulichkeit, Tugend, Leidenschaft: Weiblichkeit zwischen Konventionalität und Individualisierung Wie werden die Frauen- und Männerfiguren in den Romanen beschrieben? Wie werden sie zu Objekten des Begehrens gemacht? Und welche normalisierenden, universalisierenden und naturalisierenden Effekte bringt das mit sich? Das vorige Unterkapitel hat diese Fragen bereits für die Männerfiguren bzw. die Männlichkeitsdarstellung der Romane verfolgt, das folgende Kapitel unternimmt nun etwas Ähnliches für die Frauenfiguren bzw. die Darstellung von Weiblichkeit. Während Männer in den Romanen, wie wir gesehen haben, ihre desirability unter Beweis stellen müssen, indem sie die richtige Frau (d.h. die Heldin) lieben, steht die Position der Frau als Begehrensobjekt durch ihre Positionierung als Heldin von vornherein fest. Die weiblichen Hauptfiguren werden durch eine »falsche« Entscheidung nicht abgewertet, dennoch zieht ihr »Fehler« dramatische Konsequenzen für sie selbst nach sich, sei es eine unglückliche Ehe oder beinahe tödlichen Liebeskummer. Unter an-

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derem durch dieses Unglück, das ihr widerfährt, kann die Heldin genug Lebenserfahrung und Wissen sammeln, um in Zukunft die richtige Entscheidung treffen zu können, die sie ins Glück führt (für die Koppelung von Ehe und Glück, die aus einer kritischen Perspektive fragwürdig ist, siehe Kapitel 3). Wissen und Lebenserfahrung jedoch sind, wie wir im Folgenden sehen werden, alles andere als unproblematisch im Kontext viktorianischer Weiblichkeitsvorstellungen. Ich beginne die Analyse in diesem Kapitel daher mit einer kurzen Betrachtung von Jungfräulichkeit als zentralem Element viktorianischer Weiblichkeitskonstruktionen und zeichne auf, wie diese in den Romanen in Spannung steht mit den Anforderungen des Liebesdiskurses, die der Frau eine freie und aktive Entscheidung in der Liebe nicht nur zugestehen, sondern auch abverlangen. In einem zweiten Schritt lenke ich den Blick auf sexuelle Grenzziehungen, wie sie vor allem anhand der weiblichen Nebenfiguren vorgenommen werden, um zu beschreiben, wie dadurch weibliche Leidenschaft zwar ermöglicht, aber auch begrenzt und reguliert wird. Auf dieser Basis wende ich mich wieder der Heldin zu, und zwar, im Einklang mit den vorangegangenen Überlegungen, vor allem in ihrer Funktion als Objekt des Begehrens – des Begehrens ihrer suitors, aber auch des Begehrens, das der Roman selbst produziert. Dass die Heldinnen begehrenswert sind, ergibt sich, wie erwähnt, aus ihrer Heldinnenhaftigkeit. Aber wie werden die Heldinnen charakterisiert? Was macht ihre desirability aus? Oder, weiter gefragt: Wie ist bürgerliche Weiblichkeit beschaffen und wie wird sie in den Romanen begehrenswert gemacht? Abschnitt 4.2.3 beginnt mit einem Blick auf stereotype viktorianische Weiblichkeitsideale, um auf dieser Basis herauszuarbeiten, dass die Heldinnen in vielerlei Hinsicht von solchen konventionellen Bildern abgehoben werden, indem ihre Einzigartigkeit und Individualität betont wird. Der letzte Teil dieses Kapitels betrachtet diese »Einzigartigkeit« der Heldinnen wiederum unter dem Aspekt der Normalisierung der untergeordneten gesellschaftlichen Position von Frauen und gleichzeitig der Naturalisierung der von ihnen verkörperten bürgerlichen Werte.

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4.2.1 Im Zentrum viktorianischer Weiblichkeitsnormen: Jungfräulichkeit Im Mittelpunkt jedes von mir analysierten Romans steht eine junge, unverheiratete Frau; und das Gleiche gilt für eine Vielzahl viktorianischer Romane.26 Dass diese Heldin Jungfrau ist und dass sie daher keinerlei sexuelle Erfahrung hat, versteht sich von selbst – die Heldin steht als Heldin quasi automatisch für die idealisierte Jungfrau. Nancy Armstrong merkt an, dass diese Figur seit Samuel Richardsons Roman Pamela in unzähligen Romanen erscheint: »Richardson’s story of relentless sexual pursuit and the triumph of female virtue proved infinitely reproducible.« (Armstrong 1987, 29) In ähnlicher Weise sieht Ruth Bernard Yeazell in dieser Konzentration auf die jungfräuliche Heldin ein Spezifikum der englischen Literatur: Tales of erotic awakening undoubtedly play an important role in every culture, but the very fact that so many English novels could concentrate their attention on the period between coming of age and marriage is one measure of how capacious were the fictions of modesty. (Yeazell 1991, xi)

Das zeigt sich, beispielsweise im Fall von The Small House at Allington, bereits an der Namensgebung: Die Lilie, so Adrienne Auslander Munich, ist ein Symbol für die heilige Jungfrau Maria, das auf den Namen Lily übertragen wird: »Lily, a feminine name, [...] alludes by custom to Mary’s virginity.« (Munich 1993, 143) Auch die bei Wilkie Collins titelgebende »woman in white« steht, so Diane Elam, für »the quintessential Victorian, innocent virgin« oder, um die Reihe der Attribute noch zu erweitern, »represent[s] the virginal, innocent, young woman« (Elam 1993, 49).27 Das Weiß, das in beiden Bildern zentral ist, steht für Reinheit, Unschuld – und damit auch Unwissenheit.28 Wie Ellen Bayuk Rosenman treffend anmerkt, entsteht ein 26

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Unter den von mir untersuchten Romanen ist dies für Jane Eyre und The Small House at Allington eindeutig, während Laura in The Woman in White bereits relativ früh in der Geschichte eine erste Ehe eingeht und Helen in The Tenant of Wildfell Hall in der Rahmenerzählung eine verheiratete Frau ist, in ihrer Tagebucherzählung jedoch – zumindest zu Beginn – ebenfalls dem »Typus« der jungfräulichen Heldin entspricht. Bereits dieser kurze Durchgang durch die Romane zeigt jedoch, dass – wie meist in Bezug auf viktorianische Romane – nur sehr vorsichtig von »typischen« Elementen gesprochen werden kann. In Bezug auf die Heldinnen der soeben genannten Romane wird darauf im Folgenden ausführlich eingegangen. Im weiteren Verlauf von Elams Text interessiert sie sich in der Analyse von The Woman in White vor allem für Fragen der Repräsentation: »The paradox of the representation of woman as one of virginal whiteness is that the representation of woman appears as a gap in representation itself.« (Elam 1993, 50) Dieses Bild mit seiner stark aufgeladenen Symbolik der Farbe Weiß beinhaltet auch Konnotationen von whiteness, die für die Normalisierung und Abgrenzung bürgerlicher Weiblichkeit von Bedeutung ist. Darauf gehe ich weiter unten ein.

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»The Power of Love«

beträchtlicher Teil der Dynamik der Romane daraus, dass die Heldinnen zwar als Begehrensobjekte präsentiert werden, sich aber ihrer eigenen sexuellen Anziehung nicht bewusst sind: »these heroines are marked for sexuality but lack any knowledge of their appeal« (Rosenman 2003, 135). Die Tatsache, dass die Heldin erst lange nach den Leser_innen von ihren eigenen Gefühlen Kenntnis erlangt – »that she is long unacquainted with her own heart« – stellt für Yeazell einen Kernaspekt der von ihr thematisierten »fictions of modesty« dar (Yeazell 1991, xi). Das bedeutet auch, dass eine Frau sich nicht verlieben darf, ja nicht einmal konkret an Heirat denken darf, bevor ein Mann ihr einen Heiratsantrag macht. Sally Mitchell beschreibt einen typischen Plot populärer Romane, deren Dreh- und Angelpunkt diese Sexualmoral ist: A young woman loves a man [...]; he promises marriage but later loses interest; she dies of poverty and a broken heart. The sin which leads to her unhappy fate is not the sexual act but rather that she confesses love or even feels love before she is married. (S. Mitchell 1981, 9)

In beiden hier untersuchten Romanen wird auf diese Norm verwiesen. In The Small House at Allington äußert sich Lilys Mutter ihrer Tochter Bell gegenüber besorgt angesichts der sich anbahnenden Liebe zwischen Crosbie und Lily und wünscht sich, Crosbie möge nicht wieder nach Allington kommen: »I wish he were not coming,« Mrs. Dale had said to her eldest daughter. [...] »[...] if she should become fond of him, and then –« »Lily will never become really fond of any man till he shall have given her proper reason. And if he admires her, why should they not come together?« »But she is so young, Bell.« (SHA, 57, meine Hervorh.)

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Es ist nicht ganz klar, was der Grund für Mrs. Dales Unruhe ist. Sie gibt als Grund das junge Alter ihrer Tochter an (sie ist neunzehn); später stellt sich jedoch immer klarer heraus, dass Mrs. Dale einfach keine großen Sympathien für Crosbie hat – ein Urteil, das sich schließlich als berechtigt herausstellen soll. Bell betont jedoch, obwohl das gar nicht die zentrale Sorge der Mutter zu sein scheint, dass Lily sich niemals in einen Mann verlieben würde, bevor er ihr einen Anlass dazu geliefert habe. Das Adjektiv »proper« ist in diesem Zusammenhang schwer ins Deutsche zu übersetzen, trägt jedoch in sich die gesamte Wucht der Konventionen. Lily, so versichert Bell, werde sich so benehmen, wie es sich gehöre. In The Tenant of Wildfell Hall findet sich eine ähnliche Stelle, ebenfalls zu Beginn der Liebesgeschichte, bevor sich die Heldin verliebt und verlobt. Helens Tante warnt hier in einem längeren Dialog vor den Gefahren des Heiratsmarktes. Gleich zu Beginn stellt Helen fest, wie unwahrscheinlich es sei, gegenseitige Liebe zu finden: »Because, I imagine there must be only a very, very few men in the world, that I should like to marry; and of those few, it is ten to one I may never be acquainted

Begehren und begehrt werden

with one; or if I should, it is twenty to one, he may not happen to be single, or to take a fancy to me.« (TWH, 111)

Die Tante antwortet darauf: »That is no argument at all. It may be very true – and I hope is true, that there are very few men whom you would choose to marry, of yourself. – It is not, indeed, to be supposed that you would wish to marry any one, till you were asked: a girl’s affections should never be won unsought. (TWH, 111, Hervorh. i.O.)

Hier wird noch deutlicher, dass die Jungfrau eine passive Position einnimmt – oder einnehmen soll. Während Helen in ihrer Demonstration von Wahrscheinlichkeiten von ihrem eigenen Begehren als erste Grundbedingung für die theoretische Möglichkeit der Eheschließung ausgeht, schreibt die von der Tante aufgerufene Norm vor, dass das Begehren der Frau erst auf der Basis der konkreten Möglichkeit überhaupt entsteht. Die unverheiratete Frau wird damit auf eine passive, wartende Position festgelegt, in der ihr Begehren und ihre Liebe erst geweckt werden dürfen, wenn ein Mann Interesse an ihr zeigt. Allerdings haben die Romane ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu dieser Norm. Helens Tante und ihre Ansichten sind klar als veraltet markiert. Genauso wie ihr Ratschlag »First study, then approve; then love« (TWH, 112) fern von der Realität der jungen Heldin scheint, ist klar, dass sich Helen nicht an die vorgeschriebene Passivität des Begehrens halten wird. Jeff Nunokawa merkt dazu an: [...] who [...] could take such advice seriously? Certainly not the novel’s young protagonist, to whom this warning is addressed, Helen Huntingdon, who can hardly hear her guardian’s exhortations across the gulf that separates those who feel sexual »fascinations« from those who seem to have forgotten how. (Nunokawa 2001, 127)

Das legt den Schluss nahe, dass die Vorstellung absoluter weiblicher Passivität als Kern der sexuellen Unschuld im Entstehungszeitraum der Romane bereits veraltet oder zumindest umstritten war. Dementsprechend wird sie hier für die Dichotomie veraltet/modern mobilisiert, mit deren Hilfe das System der Liebesheirat – wie wir in Kapitel 3 gesehen haben – als modern, jung und zeitgemäß dargestellt wird. In The Small House at Allington ist die Sache nicht ganz so eindeutig. An der bereits zitierten Stelle scheint Bells Versicherung seltsam überflüssig – offensichtlich ist es nicht das, was der Mutter Sorgen bereitet; aber der damit aufgerufenen Konvention wird auch nicht widersprochen. Später wird sie vom Erzähler selbst, der an dieser Stelle Bells Liebesgeschichte einführt, noch einmal bekräftigt. Ironisch stellt er fest, dass Bell sich ganz sicher ist, nicht in den Arzt Dr. Crofts verliebt zu sein: If there was anything in the world as to which Isabella Dale was quite certain, it was this – that she was not in love with Dr. Crofts. [...] she had thought of it, and had make up her mind; – in the manner above described. It may be said that she could not have been justified in discussing the matter even within her own bosom,

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»The Power of Love«

unless authorized to do so by Dr. Crofts himself. Let it then be considered that Dr. Crofts had given her some such authority. This may be done in more ways than one; and Miss Dale could not have found herself asking herself questions about him, unless there had been a fitting occasion for her to do so. (SHA, 209, meine Hervorh.)

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Es ist schwer zu sagen, ob sich die Ironie dieser Passage auch auf die besprochene Konvention erstreckt. Sie wird sicherlich durch den Gebrauch der Passivkonstruktion »it may be said« als Konvention markiert, aber es bleibt unklar, ob der letzte Teil des Satzes – »Miss Dale could not have found herself asking herself questions« – Teil der Fiktion ist, die Bell für sich aufrechterhält, also den gleichen ironischen Status hat wie die Aussage, Bell sei sich sicher, nicht verliebt zu sein; oder ob der Erzähler selbst eine Objektivität beanspruchende Einschätzung von Bells Charakter gibt und damit die Norm weiblicher Passivität bestätigt.29 Das Problem, das diese Norm jedenfalls in beiden Romanen aufwirft, unabhängig von ihrer Bewertung, ist der logische Widerspruch, der sich zu der in den Romanen entworfenen und affektiv aufgeladenen Liebesideologie ergibt. Wie ich in Kapitel 3 gezeigt habe, bestehen die Romane vehement auf der freien Entscheidung vor allem der Frau. Gerade in The Small House at Allington wird jede auch nur angedeutete Einmischung resolut zurückgewiesen, und die freie Entscheidung der Frau für eine Ehe, ausschließlich auf Basis von Liebe, für heilig erklärt. Das impliziert ein eigenes Begehren, das sich – logischerweise – bereits vor dem Heiratsantrag des Mannes entwickelt haben muss. Die Grenzen verschwimmen und werden damit zu einer Frage der Einschätzung und der Interpretation, was sich an der vagen Formulierung in obigem Zitat sehen lässt: »Let it then be considered that Dr. Crofts had given her some such authority. This may be done in more ways than one« – aber auch an der beschriebenen Ambivalenz der Passage an sich. Damit tut sich in den Romanen ein Raum für die Verhandlung von Jungfräulichkeit und den damit einhergehenden Regeln, Normen und

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Jane Nardin liefert eine andere Interpretation dieser Passage und von Bells Figur. Für sie hat Bell ungewöhnlich radikale Ansichten, was die viktorianische Geschlechter- und Klassenordnung betrifft, und ihre scheinbare Konventionalität und Passivität sei eine Strategie, um ihre Überzeugungen zu schützen: »Her convictions go underground where they can be safe from pressures she does not feel strong enough to resist.« (Nardin 1989, 106) Das ist zwar eine interessante Überlegung, und in Bells Figur werden sicherlich, genauso wie in Lilys, wie wir später genauer sehen werden, die für die viktorianische Gesellschaft konstitutiven Spannungen sichtbar. Allerdings vernachlässigt Nardin an dieser Stelle meines Erachtens die Dimension des Erzählerkommentars. In der zitierten Passage wird Bells Ärger über Crofts eben nicht als »result[ing] from real disagreement« (Nardin 1989, 107) beschrieben, sondern der Erzähler macht in ironischem Ton darauf aufmerksam, dass Bell sich in ihrer scheinbaren Rationalität selbst etwas vormacht.

Begehren und begehrt werden

Werten auf, innerhalb dessen eine komplexe Auseinandersetzung mit und Neubewertung von sexueller Tugend stattfinden kann. Vor allem The Small House at Allington nimmt hier eine sehr widersprüchliche Haltung ein. Lily wird als eine besonders leidenschaftliche Heldin dargestellt. Dazu nutzt der Roman die codierte, andeutungsreiche Sprache, die laut William Cohen gerade aus dem Verbot einer explizit sexuellen Sprache entsteht: [...] sexual unspeakability does not function simply as a collection of prohibitions for Victorian writers. Rather, it affords them abundant opportunities to develop an elaborate discourse – richly ambiguous, subtly coded, prolix and polyvalent [...] (W. Cohen 1996, 3)

Das deutlichste Beispiel dafür liefert die folgende Szene, in der Lily und Crosbie während einer Party im Haus ihrer Mutter nachts alleine im Garten spazieren gehen und schließlich am äußeren Ende des Gartens im Schatten dichter Lorbeerbüsche stehen bleiben: »Because –,« said he; and then he stooped over her and pressed her closely, while she put up her lips to his, standing on tip-toe that she might reach to his face. »Oh, my love!« she said. »My love! my love!« (SHA, 98)

Der folgende Absatz springt zu einem späteren Zeitpunkt des Abends und liefert eine Vorausschau auf Crosbies Gedanken auf dem Heimweg von der Party, um dann mit dem übernächsten Absatz wieder zu der Szene im Garten zurückzukehren: »›But what will they say to us for staying away?‹ said Lily, recovering herself.« (SHA, 98, meine Hervorh.) Dass die Liebenden nach der Verlobung alleine spazieren gehen, erscheint als unproblematisch – eine solche Zweisamkeit wird öfters gezeigt, aber nie problematisiert. So merkt auch Markwick an: »We tend to underestimate the freedom that young people had to be alone, particularly after betrothal.« (Markwick 1997, 83) Hier jedoch scheint eine Grenze erreicht, von der aber nie klar ausgesprochen wird, worin sie eigentlich besteht; und von der daher auch nie klar wird, ob sie überschritten wurde oder nicht. Lilys Frage nach der Bewertung ihrer Abwesenheit durch die anderen lässt sich genauso gut als Frage nach der Bewertung ihres sexuellen Verhaltens lesen, vor allem angesichts der omnipräsenten Auslassungen, die diesen Abschnitt charakterisieren. Weder die Partygäste noch wir Leser_innen wissen, was im Garten – während die Erzählung ihren Sprung macht – geschehen ist, und die Gäste fragen auch nicht danach; sie enthalten sich sogar jeder Bemerkung über Lilys und Crosbies Abwesenheit. Aber wir müssen auch nicht wissen, was genau geschehen ist, denn die Bedeutung dieser Szene ist klar: Sie zeigt Lilys leidenschaftliche Hingabe (bei einem Kuss, bei einer Umarmung, bei was auch immer), die in eine Art von Ekstase mündet, evoziert durch den drei Mal hintereinander wiederholten Ausruf »my love!« und bekräftigt durch den Abschluss der Szene, der Lilys Rückkehr zur Rationalität und zu den Konventionen zeigt – und dass sie sich erst wieder fangen muss (»recovering herself«). Nicht

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»The Power of Love«

zuletzt fällt auf, dass Lilys Leidenschaft als aktiv beschrieben wird (»she put up her lips to his«). Durch die Auslassungen und die leidenschaftliche Sprache wird ein großes Feld möglicher Interpretationen eröffnet, so Markwick: »Trollope does not quite spell out exactly what happens, but leaves a big space for the reader to conjecture on what might have happened« (Markwick 1997, 84). Der Schluss, dass Lily und Crosbie Sex hatten, ist für Markwick zumindest eine naheliegende und vom Text nahegelegte Lesart: It seems to me that this passage can mean as much as you want it to mean, but the interpretation of »I gave myself to him« and »I cannot be the girl I was« (girl = not woman = virgin) and »I am as you are« is an open invitation to interpret Lily’s words as meaning that she and Adolphus had consummated their relationship [...] (Markwick 1997, 85; vgl. auch Nardin 1989, 112)

Markwick bezieht sich hier auf eine spätere Stelle im Text, in der sich Lily an das Ereignis erinnert und damit begründet, warum sie nie wieder einen anderen Mann lieben kann. Im Ganzen lautet die von Markwick analysierte Passage: »[...] In my heart I am married to that other man. I gave myself to him, and loved him, and rejoiced in his love. When he kissed me I kissed him again, and I longed for his kisses. I seemed to live only that he might caress me. All that time I never felt myself to be wrong [...]. I cannot be the girl I was before he came here. There are things that will not have themselves buried and put out of sight, as though they had never been. I am as you are, mamma, – widowed. [...]« (SHA, 630 f.)

Die von Markwick zitierte Stelle ist nur ein Beispiel dafür, wie der Text immer wieder auf die Szene im nächtlichen Garten Bezug nimmt, indem die Erinnerungen der ProtagonistInnen beschrieben werden. Crosbie sehnt sich nach seiner Verlobung mit Alexandrina nach Lilys Leidenschaftlichkeit, die hier eindeutig positiv bewertet wird:

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He remembered at the moment a certain scene which took place one evening at the little bridge at Allington, and Lily’s voice, and Lily’s words, and Lily’s passion, as he caressed her: »Oh, my love, my love, my love!« (SHA, 445 f.)

Für Lily hingegen wird der offene Ausdruck von Leidenschaft zum Problem. Die Erinnerung an diese Szene ist das stärkste Argument gegen eine neuerliche Verlobung; ein Argument, das sie immer wieder vorbringt: »[...] When he held me here in his arms« – and, as the thoughts ran through her brain, she remembered the very spot on which they had stood – »oh, my love!« she had said to him then as she returned his kisses – »oh, my love, my love, my love!« »When he held me here in his arms, I told myself that it was right, because he was my husband. [...]« (SHA, 633)

Lily drückt hier eine ambivalente Haltung gegenüber ihrer eigenen Leidenschaft aus; selbst vor der Auflösung der Verlobung scheint sie sich nicht ganz sicher gewesen zu sein, ob sie die Grenzen sexueller Tugend überschritten hat, versuchte sich aber durch rationale Argumente zu überzeugen: »I told myself that it was right«. Dafür wird die Zeit der Verlobung

Begehren und begehrt werden

quasi an die Ehe annektiert. Immer wieder betont Lily, sie sei so gut wie verheiratet gewesen, oder sie bezeichnet Crosbie geradewegs, wie oben, emphatisch als ihren Ehemann. Für Nardin drückt sich darin Lilys konservative Haltung in Bezug auf weibliche Sexualmoral aus: »after he [Crosbie, J.C.] leaves her, Lily is tormented by sexual guilt. In her efforts to live up to her theories about generous love, she sinned against her equally orthodox theories of feminine purity, as she later comes to feel.« (Nardin 1989, 112)30 Meines Erachtens greift es zu kurz, diese ambivalente Haltung als Produkt von Lilys exzessiv konservativen Überzeugungen zu sehen. Vielmehr wird hier deutlich, dass aktives Begehren immer einen Verlust der Unschuld bedeutet – obwohl die Romane den Heldinnen gleichzeitig ein Recht darauf einräumen und es auch als positiv bewerten. Weibliches Begehren scheint jedoch nur legitim innerhalb einer teleologischen Struktur, in der Begehren und Liebe immer schon auf ihre Überführung in die Ehe hin ausgerichtet sind. Die Verlobung ist damit eine Vorstufe zur Ehe und sollte zwingend in sie einmünden. Nur auf Basis dieser Übereinkunft ist aktives weibliches Begehren überhaupt erlaubt. Das wurde bereits an dem vorhergehenden Zitat deutlich, wo Lily die zwingende Teleologie so emphatisch bekräftigt, dass die verschiedenen chronologisch aufeinanderfolgenden Abschnitte (erst Verlobung, dann Ehe) ineinanderfallen: »because he was my husband«; und sie damit, wie wir gesehen haben, für die moralische Legitimität ihres Begehrens argumentiert (»it was right«). Auch rechtlich stellte die Verlobung im 19. Jahrhundert eine Vorstufe zur Ehe dar. Das Versprechen der Ehe nahm die Form eines rechtlich bindenden Vertrags an. Bei Zuwiderhandlung konnte aufgrund eines gebrochenen Versprechens, eines breach of promise, Klage erhoben werden. Ginger Frost fasst die Rechtspraxis im 19. Jahrhundert wie folgt zusammen: The engagement was considered a contract to marry and was legally binding on both parties. However, unlike most contracts, it could not be enforced because the civil courts would not coerce marriage, but the party breaking the contract was liable to damages. (Frost 1995, 16)

In The Small House at Allington spielt Amelia Roper auf diese Gesetzgebung an, wenn sie John Eames gegenüber Drohungen ausspricht, um ihn zu einer Heirat mit ihr zu drängen: »[...] There can be nothing so dreadful as a young man’s deceiving a young woman and leaving her after he has won her heart – particularly when she has had his promise in plain words, or, perhaps, even in black and white.« John thought of

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Markwick hingegen betont eher Lilys sexuelles Selbstbewusstsein: »We note too that she never felt herself to be ›wrong‹.« (Markwick 1997, 85) Dabei missachtet sie aber die relativierenden Elemente von Lilys »I told myself that it was right« bzw. »All that time I never felt myself to be wrong«: Die Vergangenheitsform und die indirekte Rede deuten eher auf Lilys Unsicherheit in Bezug auf dieses moralische Urteil hin.

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»The Power of Love«

that horrid, foolish, wretched note which he had written. »And a poor girl, if she can’t right herself by a breach of promise, doesn’t know what to do. Does she, John?« (SHA, 389)

Der Versuch, auf diese Weise einen Mann zu »fangen«, stellt jedoch eine oft aufgerufene Konvention innerhalb der in satirischem Ton gehaltenen Subplots dar. Frauen aus der lower middle oder working class, die unschuldige Männer zu Unrecht auf breach of promise verklagen, finden sich in der viktorianischen Literatur in großer Zahl (vgl. Frost 1995, 1 ff.). Die Klägerinnen werden dabei als »vindictive, mercenary, and scheming« dargestellt (Frost 1995, 7). Auch Amelia ist keine Sympathieträgerin und wird nicht zuletzt durch ihre Drohung mit der breach of promise-Klage der Lächerlichkeit preisgegeben. Für Lily hingegen ist eine solche Strategie undenkbar. Das wird im weiteren Verlauf des Dialogs zwischen Amelia und John deutlich. John antwortet auf Amelias kaum verhohlene Drohungen, indem er eine solche Klage als Mittel delegitimiert: »A girl who’d right herself that way wouldn’t be worth having.« »I don’t know about that. When a poor girl is in such a position, she has to be aided by her friends. I suppose, then, Miss Lily Dale won’t bring a breach of promise against him.« This mention of Lily’s name in such a place was sacrilege in the ears of poor Eames. »I cannot tell,« said he, »what may be the intention of the lady of whom you speak. But from what I know of her friends, I should not think that she will be disgraced by such a proceeding.« (SHA, 390)

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Zwischen der kleinbürgerlichen Amelia und der bürgerlichen Lily wird demnach entlang der Frage, wie mit dem Abbruch der Verlobung umgegangen werden soll, eine klare Differenz markiert. Für Lily und ihre Umgebung ist es undenkbar, Crosbie zu verklagen, so sehr er auch moralisch von allen verurteilt wird. Obwohl es rechtlich möglich ist, Crosbie vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen, würde dies Schande über Lily bringen: »she will be disgraced by such a proceeding«. Auch in einem Gespräch zwischen Lilys Onkel und ihrer Mutter wird klar, dass diese Vorgehensweise ganz eindeutig außerhalb des Möglichen liegt. Der Onkel beklagt, dass es keine Strafe für Crosbie geben kann – weder kann er zum Duell aufgefordert (siehe Kapitel 4.1), noch verklagt werden: »[...] I know no other punishment. You would not have Lily’s name brought before a tribunal of law?« [Mrs. Dale:] »Certainly not that.« (SHA, 328)

Das, was hier im Spiel ist, ist ein anderer Aspekt weiblicher Geschlechternormen. Wie Rosenman anmerkt, ist das Erscheinen vor Gericht selbst schon problematisch für eine (bürgerliche) Frau: [...] her appearance in court [...] might be expected to condemn her as unwomanly. Many fictional portraits of women in court suggest this interpretation. These appearances involve »the trauma of being made a public spectacle,« with all the sexual connotations that such a display conferred [...]. In Mary Barton,

Begehren und begehrt werden

Mary is forced to »tell, before that multitude assembled there, what a woman usually whispers with blushes and tears, and many hesitations, to one ear alone« – that is, she is made to speak of love in public. (Rosenman 2003, 144) 31

Das Gericht stellt einen öffentlichen Ort im übersteigerten Sinn dar, einen Ort, an dem Privates öffentlich gemacht wird. Wir haben bereits gesehen, in welchem Ausmaß die Verlobung, mit dem durch sie produzierten Raum legitimer Zweisamkeit, ein privater Ort ist. Nicht einmal die Leser_innen haben voll und ganz Zugang dazu – das habe ich bereits anhand der »Sexszene« zwischen Lily und Crosbie gezeigt. Die Veröffentlichung dieses intimen Raumes im Rahmen einer Gerichtsverhandlung würde also Lilys Sexualität sichtbar machen, der Anschauung preisgeben und damit einen groben Verstoß gegen bürgerliche viktorianische Weiblichkeitsnormen und gegen die herrschende Sexualmoral darstellen. Amelia wird, unter anderem dadurch, dass rechtliche Schritte für sie im Bereich des Denkbaren sind, als allzu wissend und allzu sexuell markiert, und diese sichtbare Sexualität schließt sie aus dem Feld der begehrenswerten bürgerlichen Weiblichkeit aus. Randall Craig fasst das gut zusammen, wenn er schreibt: Breach of promise laws affront Victorian standards of privacy and gender, offend middle-class norms of propriety, and challenge the sentimental ideology of promise-keeping. [...] a jilted woman who would seek legal redress falls entirely outside the boundaries of respectability [...] (Craig 2000, 78)32

Doch selbst ohne breach of promise-Klage stellt die abgebrochene Verlobung ein Problem für Lilys Tugend dar, denn being jilted (sitzen gelassen zu werden) ist immer mit Scham verbunden. Darum geht es in dem folgenden Dialog zwischen John Eames und seiner Schwester Mary: »Poor Lily!« said Mary. »I do pity her. If I was her I should hardly know how to show my face; I shouldn’t, indeed.« »And why shouldn’t she show her face?« said John, in an angry tone. »What has she done to be ashamed of? Show her face indeed! I cannot understand the spite which one woman will sometimes have to another.«

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Vgl. auch Krueger 1994, die Rosenman hier zitiert. Die Stelle aus Gaskells Mary Barton findet sich zum Beispiel auf S. 382 der Oxford World’s Classics Ausgabe von 1911 (Gaskell 1911). Craig beschreibt ausführlich, wie zentral das Halten von Versprechen für die Ehre des gentleman war. »Among the Victorians nothing is more sacred than ›a gentleman’s word‹«, fasst er zusammen (Craig 2000, 47). In diesem Zusammenhang muss auch die nostalgisch rückwärts gewandte Haltung des Squire Dale gesehen werden, der in Bezug auf Crosbies Verhalten gebetsmühlenartig wiederholt: »On my honour, I do not understand it« (SHA, 286; vgl. auch 296 ff., 329, 335, 479). Bezogen auf einen anderen Roman von Trollope beschreibt Craig eine Haltung, die auch der des Squire entspricht: »Lady Fawn articulates what seems to be a widespread sense that civilization has reached a sorry state when a gentleman’s word is good only when constrained by law – and an even worse state when a lady turns to the law to keep him honest.« (Craig 2000, 78)

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»There is no spite, John; and it’s very wrong of you to say so,« said Mary, defending herself. »But it’s a very unpleasant thing for a girl to be jilted. All the world knows that she was engaged to him.« (SHA, 576)

John besteht darauf, dass Lily keinen Grund habe, sich zu schämen, weil sie nichts falsch gemacht habe. Die Scham ergibt sich jedoch nicht so sehr aus einem Fehlverhalten als wiederum aus dem plötzlichen Scheinwerfer, der durch die gelöste Verlobung auf den intimen Raum fällt: »All the world knows«. Um Lilys Tugend zu schützen, muss vor so vielen Menschen wie möglich verborgen werden, dass sie verlobt war, aber sitzen gelassen wurde: »He is a scoundrel – an unmixed scoundrel. But the less we say about that the better. It is ill mentioning a girl’s name in such a matter as that.« (SHA, 360) Denn was an der gelösten Verlobung sichtbar wird, ist Lilys aktives Begehren. Durch die Verlobung erwirbt sie sexuelles Wissen, wird zum sexuellen Wesen – ein Prozess, der nicht umkehrbar ist und damit ihren jungfräulichen Status in Frage stellt. Das ist unabhängig von »tatsächlicher« (biologischer) Jungfräulichkeit. Die biologische Kategorie wird zu einer sozialen Kategorie, so Kirsten Hastrup: »biological facts are always transformed into meaningful categories which are defined by their relationship to, and interaction with, other categories of society« (Hastrup 1978, 63, Hervorh. i.O.). Lloyd Davis beschreibt Jungfräulichkeit in Foucault’schen Begriffen als Macht-Wissen-Komplex: »the virgin body hides powerknowledge behind a pure, corporeal intactness that is itself produced by power-knowledge« (Ll. Davis 1993, 4 f.). Die teleologische Struktur der Liebesgeschichte bringt also eine unumkehrbare Transformation der Heldin selbst mit sich. Vor Abbruch der Verlobung konstatiert Lily, wie bereits in Kapitel 3 gezeigt, verwundert das Ausmaß der Veränderungen:

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When I think of it, what a six weeks it has been. I wonder whether the difference seems to you as great as it does to me. I’ve left off being a grub, and begun to be a butterfly. (SHA, 121)

Das Bild der Raupe, die sich in einen Schmetterling verwandelt, unterstreicht, dass die Transformation nur eine mögliche Richtung haben kann, dass sie nicht rückgängig zu machen ist, und dass sie ein einmaliges und nicht wiederholbares Ereignis darstellt. Damit ist eine Verlobung für eine Frau immer ein Risiko, und die Entscheidung für eine Ehe hat für sie ein wesentlich größeres Gewicht als für den Mann, weil mehr auf dem Spiel steht. Sie liefert sich mit ihrer Verlobung dem Mann aus, denn sie muss darauf vertrauen, dass er sie nicht verlässt und damit kompromittiert – angesichts der Tatsache, dass rechtliche Schritte in noch größerem Ausmaß schambehaftet sind. Aber auch in der Ehe selbst steht die Frau in sehr realer und rechtlich abgesicherter Weise in völliger Abhängigkeit von ihrem Ehemann: in finanzieller, psy-

Begehren und begehrt werden

chischer und körperlicher Hinsicht. Wir haben bereits in Kapitel 3 und in Kapitel 4.1 gesehen, wie in The Tenant of Wildfell Hall diese Abhängigkeit und die damit einhergehende Gewaltförmigkeit der Ehe eindrücklich dramatisiert wird. Aber auch in The Small House at Allington ist sich Lily bewusst, dass sie sich mit ihrer Verlobung in Crosbies Gewalt begibt: Lily fully recognised the importance of the thing she was doing, and, in soberest guise, had thought much of this matter of marriage. [...] she knew that there was a risk. He who was now everything to her might die; nay, it was possible that he might be other than she thought him to be; that he might neglect her, desert her, or misuse her. But she had resolved to trust in everything, and, having so trusted, she would not provide for herself any possibility of retreat. [...] All the world might know that she loved him [...] (SHA, 135, meine Hervorh.)

Damit wird noch einmal deutlicher, dass von einer Parallelität zwischen weiblichen und männlichen Figuren, wie sie in der Struktur des doppelten two suitor plots angedeutet wurde, nicht die Rede sein kann. Hier treffen die vorherrschenden und auch im Roman immer wieder affirmierten Geschlechterhierarchien auf die im Liebesdiskurs eingeschriebene Vorstellung der Gleichberechtigung der Geschlechter als Voraussetzung für eine Liebesheirat, für die sich beide frei entscheiden können. Indem die Romane immer wieder auch die Konsequenzen von Fehlentscheidungen für Männer betonen33 und andererseits als Mittel gegen die Gefährdung von Frauen in der Ehe die genaue Unterscheidung zwischen »guten« und »schlechten« Männern anbieten, verschleiern sie die Machtverhältnisse, die der Ehe an sich innewohnen, und damit auch die an sich prekäre Position der Heldinnen. Sie verschleiern auch, dass die teleologische Struktur der Liebesgeschichte eigentlich im Widerspruch zur Liebesheirat steht, weil aktives Begehren immer ein Risiko für die Heldin darstellt. Der Liebesdiskurs bewirkt damit eine Individualisierung von Problematiken, die eigentlich auf einer strukturellen Ebene angesiedelt sind. Diese Individualisierung macht die Probleme (wie etwa Gewalt in der Ehe oder die prekäre Situation von Frauen im courtship) zwar verhandelbar und kritisierbar, aber die zugrunde liegenden strukturellen Machtverhältnisse (in diesem Fall insbesondere heteronormative Geschlechterverhältnisse) bleiben unangetastet. Das liegt unter anderem daran, dass die Machtverhältnisse in den narrativen Strukturen eingeschrieben sind. In gewisser Weise braucht der Plot die prekäre Position der Heldin, um überhaupt eine Geschichte erzählen zu können, denn durch sie wird der Plot dynamisiert und affektiv aufgeladen. Nur weil klar ist, wie essenziell es für eine Frau ist, einen Mann zu heiraten, der von den vielfältigen Unterdrückungsmöglichkeiten möglichst wenig Gebrauch macht, die ihm die Ehe und – aufgrund ihrer teleologischen

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Dies ist unter anderem Teil der bürgerlichen Normalisierung von Männlichkeit (siehe Kapitel 4.1).

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»The Power of Love«

Struktur – bereits ihre Anbahnung (Flirten, courtship, Verlobung) einräumen, kann der two suitor plot eine solche Anziehungskraft und Wirkung entfalten. Damit wird die Heldin nicht nur zum Objekt des Begehrens, sondern auch zum Objekt der Sorge. Sie soll beschützt und abgeschirmt werden, aber das geht nicht, weil sie als moderne Frau darauf besteht (bestehen muss), ihre eigene freie Entscheidung aus Liebe zu treffen. Aus dieser paradoxen Situation heraus wird ein komplexes und höchst spezifisches bürgerliches Weiblichkeitsideal entworfen, das gerade durch seine Verbindung scheinbar unvereinbarer Elemente eine beträchtliche Wirkung entfalten kann. Bevor ich den Blick auf die Charakterisierung der Heldinnen lenke, um dieses Weiblichkeitsideal näher zu beschreiben, sollen die anderen Frauenfiguren der Romane kurz untersucht werden, denn in der Darstellung dieser Nebenfiguren wird mitunter eine noch wesentlich eindeutigere und absolutere Praxis sexueller Grenzziehung als die soeben beschriebene sichtbar.

4.2.2 Sexuelle Grenzziehungen: Den Rahmen abstecken

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The Tenant of Wildfell Hall entwirft eine Vielzahl an Figuren, die in größere oder kleinere Liebesplots eingebunden sind, anhand derer einerseits das Verhältnis von Liebe und Ehe durchdekliniert wird, andererseits aber auch Männlichkeits- und insbesondere Weiblichkeitsnormen verhandelt werden. Diese Liebesplots werden alle, so unbedeutend sie für die Geschichte sind, zu einem Ende geführt, in dem poetische Gerechtigkeit verteilt wird34 , und mit dem die Charaktere eine abschließende Bewertung und Einordnung erfahren, die mitunter sehr harsch ausfällt: The Tenant of Wildfell Hall entwirft eine Reihe absoluter Negativbilder von Weiblichkeit. Das wird bei Annabella Wilmot, später Lowborough, am deutlichsten, aber auch Jane Wilson wird durchgehend negativ gezeichnet. Damit gibt es sowohl in Helens Binnenerzählung als auch in Markhams MasterErzählung eine weibliche Figur, die dem Typus der »scheming woman« entspricht. Markwick bezeichnet Figuren diesen Typs als »husband hunters«; das ist auf Trollope bezogen, aber, wie wir sehen werden, durchaus auf andere Romane übertragbar. Husband hunters oder scheming women sind »young women who made their desire for husbands explicit, who acknowledged that they wished to be wooed, and who are regularly the comic butt

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Vgl. TWH, 371 f. für Richard Wilson und Mary Millward, Eliza Millward, Jane Wilson; 388 ff. für Annabella und Lord Lowborough; 390 für Mr. Hattersley und Milicent; 396 ff. für Esther Hargrave und Mr. Lawrence; 399 f. für Mr. Hargrave; und 416 f. für Fergus Markham.

Begehren und begehrt werden

of his sub-plots, where the machinations of young women trying to catch a husband parody the heroine’s pursuit of true love« (Markwick 1997, 95). Annabella und Jane werden als eitel und von sich selbst eingenommen beschrieben. Sie sind sich ihrer eigenen Attraktivität, Geschliffenheit und sexuellen Anziehung bewusst; sie sind ehrgeizig und wollen um jeden Preis den sozialen und finanziellen Aufstieg. Dafür müssen sie eine gute Partie machen, müssen bewusst und aktiv einen Mann »fangen«. Über Jane Wilson heißt es: »none but a gentleman could please her refined taste, and none but a rich one could satisfy her soaring ambition« (TWH, 19). Darin denken sowohl Jane als auch Annabella nur an sich und ihren eigenen Vorteil. Um ihr Ziel zu erreichen, schrecken sie auch vor Intrigen, Tricks und Spielchen nicht zurück. Sie wissen um ihre Macht und handeln strategisch; somit präsentieren sie immer eine Fassade, manipulieren andere und deren Wahrnehmung von sich. Diese attraktive und unterhaltsame Fassade verbirgt jedoch ihre eigentliche Bösartigkeit oder innere Hohlheit. Schon zu Beginn von Gilberts Erzählung heißt es über Jane: Jane was, of course, as graceful and elegant, as witty and seductive, as she could possibly manage to be; for here were all the ladies to outshine, and all the gentlemen to charm, – and Mr. Lawrence, especially, to capture and subdue. (TWH, 32)

Helen beschreibt die Macht, die Annabella über ihren Ehemann hat: She knows her power, and she uses it too; but well knowing that to wheedle and coax is safer than to command, she judiciously tempers her despotism with flattery and blandishments enough to make him [Lord Lowborough, J.C.] deem himself a favoured and happy man. (TWH, 193)

Beide, Jane und Annabella, werden hier als manipulierende und herrschsüchtige Frauen gezeichnet. So beschreibt Helen auch Annabellas Avancen gegenüber Mr. Huntingdon als »artful manouevres«, die sie mit Hilfe von »shafts«, »bewitching smiles« und »haught[y] frowns« vorantreibt (TWH, 228). In Szenen wie der folgenden wird ein direkter Kontrast zwischen Helen und Annabella aufgebaut, und damit zwischen Helens Ehrlichkeit und Echtheit auf der einen und Annabellas berechnender Performance und Künstlichkeit auf der anderen Seite. Nachdem Helen ihren Mann und Annabella beim offensichtlichen Flirten überrascht hat, spricht Annabella, die keine Verlegenheit kennt (vgl. TWH, 201), Helen auf ihr verweintes Aussehen an: »[...] you’ve been weeping I see – that’s our grand resource, you know – but doesn’t it make your eyes smart? – and do you always find it to answer?« [Helen:] »I never cry for effect; nor can I conceive how any one can.« (TWH, 201)

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»The Power of Love«

In anderen Frauen sieht die »scheming woman« immer nur die Konkurrentin, nie die Freundin – für eine Frauenfreundschaft, aber auch andere echte Gefühle, fehlt sowohl die emotionale Tiefe als auch die Selbst- und Zwecklosigkeit (disinterestedness). Bei ihr klafft ein Riss zwischen äußerer Erscheinung und gesellschaftlicher Rolle auf der einen und Innenleben auf der anderen Seite. Dies wird gut sichtbar, wenn Gilbert Mr. Lawrence vor Jane Wilson warnt: I know what you think of Jane Wilson; and I believe I know how far you are mistaken in your opinion: you think she is singularly charming, elegant, sensible, and refined: you are not aware that she is selfish, cold-hearted, ambitious, artful, shallow-minded [...] (TWH, 355)

Sie sei »utterly destitute of sensibility, good feeling, and true nobility of soul« (TWH, 355). Aber die zentrale Kritik, die Gilbert an Jane Wilson übt, sein erstes Argument, betrifft ihre Rolle als Intrigantin, als diejenige, die Gerüchte (»slanderous reports«) über Helen erfunden, in Umlauf gebracht und verbreitet hat. Besonders verwerflich erscheint hier die hasserfüllte Eifersucht und Feindschaft gegenüber einer anderen Frau, die noch dazu die Schwester des Mannes ist, den Jane umgarnt (auch wenn sie das nicht weiß): »Miss Wilson hates your sister. It may be natural enough that, in her ignorance of the relationship, she should feel some degree of enmity against her, but no good or amiable woman would be capable of evincing that bitter, cold-blooded, designing malice towards a fancied rival that I have observed in her.« (TWH, 354, Hervorh. i.O.)

Der Mangel an emotionaler Tiefe bedeutet auch, dass die »scheming woman« nie wirklich liebt. Helen vergleicht ihre Liebe und ihre Bereitschaft zur Selbstaufgabe für Mr. Huntingdon mit der von Annabella:

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But it is not my loss, nor her triumph that I deplore so greatly as the wreck of my fond hopes for his advantage, and her unworthiness of his affection, and the injury he will do himself by trusting his happiness to her. She does not love him: she thinks only of herself. (TWH, 138, Hervorh. i.O.)

Dass Annabella nur an sich selbst denkt, wird als Zeichen dafür gelesen, dass ihr die Fähigkeit zu lieben abgeht. Dass wahre (weibliche) Liebe mit Selbstaufgabe für das Wohl des Mannes gleichgesetzt wird, spricht Bände, was die Normalisierung einer bestimmten Art von Weiblichkeit betrifft. Darauf komme ich später ausführlicher zurück. Die negativen Frauenfiguren sind demnach alle durch einen Mangel an emotionaler Tiefe, Ehrlichkeit, Echtheit und Selbstlosigkeit charakterisiert. Auch Gilbert Markhams Jugendliebe Eliza Millward wird als Frau ohne Tiefgang und ohne Empathie dargestellt. Wir haben bereits in Kapitel 4.1 gesehen, wie Gilbert nach und nach erkennt, dass sich unter Elizas süßer, kindlicher und spielerischer Art eine gewisse Bösartigkeit verbirgt. Aus dem »pretty, playful kitten, that is now pert and roguish, now timid and demure, according to its own sweet will« (TWH, 17) wird in der Folge von

Begehren und begehrt werden

Gilberts Erzählung ein »little demon« mit einem »disingenuously malicious smile« (TWH, 356). Dass Elizas Bösartigkeit jedoch auf einer anderen Ebene angesiedelt und weniger streng bewertet wird als die von Jane oder Annabella, zeigt sich in dem Ende, das für ihre Figur vorgesehen ist. In einem kurzen Absatz berichtet Gilbert von ihrer Hochzeit mit einem »wealthy tradesman [...]; and I don’t envy him his bargain. I fear she leads him a rather uncomfortable life, though, happily he is too dull to perceive the extent of his misfortune.« (TWH, 372) – eine gewöhnliche unglückliche Ehe ist die »gerechte Strafe« für eine Boshaftigkeit, die lediglich die Folge von Dummheit und Unreifheit ist. Jane hingegen endet als »a cold-hearted, supercilious, keenly, insidiously censorious old maid« (TWH, 372), nachdem sie Mr. Lawrence nicht bekommen hat und auch keinen anderen Ehemann finden konnte, »rich and elegant enough to suit her ideas of what the husband of Jane Wilson ought to be« (TWH, 372). Sie lebt »in a kind of closefisted, cold, uncomfortable gentility, [...] loving no one and beloved by none« (TWH, 372). Sie wird im Gegensatz zu Eliza als wesentlich berechnender und ehrgeiziger dargestellt. Eliza handelt impulsiv – auch wenn die Impulse nicht als gut bewertet werden –, Jane hingegen strategisch und mit voller Absicht, daher bleibt ihr die teleologische »Erfüllung« in der Ehe versagt. Wieder etwas anders verhält es sich mit Annabella. Der zentrale Unterschied zwischen Jane und Annabella ist Annabellas sexuelle Devianz. Durch ihren Ehebruch mit Mr. Huntingdon, das macht der Roman sehr klar, verlässt sie endgültig und auf unumkehrbare Weise die Grenzen respektabler Weiblichkeit. Ihre »Strafe« fällt dementsprechend härter aus als die von Eliza und Jane. Die Affäre mit Mr. Huntingdon wird als die erste einer ganzen Reihe dargestellt. Wenn die sexuelle Ehre einer Frau einmal kompromittiert ist, dann ist die negative Teleologie des moralischen Verfalls unausweichlich. Eine Affäre zieht die nächste mit sich, und ihr Abstieg und letztendlich ihr Tod werden als logische Konsequenzen dargestellt: Lady Lowborough eloped with another gallant to the continent, where, having lived awhile in reckless gaiety and dissipation, they quarrelled and parted. She went dashing on for a season, but years came and money went: she sunk, at length, in difficulty and debt, disgrace and misery; and died at last, as I have heard, in penury, neglect, and utter wretchedness. (TWH, 388)

Der Erzähler distanziert sich zusätzlich von der Figur, indem er dieses Wissen um ihr Ende als ungesicherte Information bezeichnet: But this might be only a report: she may be living yet for anything I, or any of her relatives or former acquaintances can tell; for they have all lost sight of her long years ago, and would as thoroughly forget her if they could. (TWH, 388 f.)

Annabellas Verstoß gegen die Regeln sexueller Tugend ist so schwerwiegend, dass sich alle anderen Figuren des Romans von ihr distanzieren, so sehr, dass sie nicht mehr wissen, ob sie lebt oder tot ist; und dass sie ihre

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»The Power of Love«

Existenz und die Erinnerung an sie am liebsten retrospektiv ausradieren würden. An dieser Stelle wird sehr klar, dass das Überschreiten der sexuellen Grenze nicht nur soziale Ächtung und Ausgrenzung, sondern einen Verlust der Daseinsberechtigung selbst mit sich bringt. Die Ehebrecherin verschwindet gleichsam aus dem Bereich des gesicherten Wissens und damit des Intelligiblen. In den drei Figuren Annabella, Jane und Eliza baut The Tenant of Wildfell Hall ein extrem negatives Bild intriganter, berechnender Weiblichkeit auf, das stark affektiv aufgeladen wird – Annabella ist Helens direkte Konkurrentin; Eliza die jugendlich-unreife Liebe von Gilbert Markham, deren Fehler er erst im Kontrast zu Helen zu erkennen beginnt; Jane spinnt ihre Intrigen gegen Helen aus imaginierter Rivalität heraus. Diese Grundkonstellation rivalisierender Frauenfiguren kann als charakteristisch angesehen werden, denn in The Small House at Allington findet sich eine ähnliche Struktur mit Lilys beiden Gegenspielerinnen Alexandrina De Courcy, wegen der Crosbie Lily verlässt, und Amelia Roper, die als eine Art Jugendliebe von Eames bezeichnet werden kann (vgl. Kapitel 4.1). Beide sind darauf aus, sich einen Ehemann zu angeln, aber auf unterschiedliche Weise. Für die adlige Alexandrina De Courcy stellt das Finden eines Ehemannes eine Art Arbeit dar, die sich noch dazu sehr mühselig gestaltet: »the child had been at this work for fourteen years, and was weary of it« (SHA, 193). Für ihre Welt wird es als normal dargestellt, dass Fragen des Einkommens und Vermögens, der Karriereaussichten und des Standes Einfluss auf ihre Wahl haben dürfen und müssen (vgl. die Gedanken ihrer Mutter dazu, SHA 193 f.). Liebe spielt dabei, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle: She [Alexandrina, J.C.] liked Crosbie as well as she had ever liked any man. She believed that he liked her also. She had no conception of any very strong passion, but conceived that a married life was more pleasant than one of single bliss. [...] It was a fair game, and she would win it if she could. (SHA, 243)

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Zwar wird Alexandrina nicht so explizit als berechnend charakterisiert wie Annabella Wilmot/Lowborough oder Jane Wilson in The Tenant of Wildfell Hall, aber auch sie handelt nicht aus Liebe, sondern um sich einen bestimmten Lebenswandel zu sichern. Ihr Vorgehen wird als strategisch beschrieben: als Spiel, wie eben zitiert, oder als Kampf.35 Zu starken Gefühlen ist sie gar nicht fähig; genauso wenig zu der Selbstlosigkeit, die – wie wir bereits gesehen haben – als Anzeichen für die Echtheit der Liebe fungiert: »She did not know that it behoved her to look pleased when he entered the room, and to make him think that his presence gave her happiness.« (SHA, 617) Paradoxerweise wird diese Norm weiblicher Verstellung nicht als Falschheit gewertet, sie ist vielmehr Teil einer idealisierten häuslichen 35

»It must be acknowledged that the lady was fighting her battle with much courage, and also with some skill.« (SHA, 243)

Begehren und begehrt werden

Weiblichkeit, die in diesem Roman von Lily verkörpert wird – dazu später mehr. Alexandrina wird vom Roman nicht positiv bewertet, aber ihre Motive scheinen erklärbar und stehen durchaus im Einklang mit den gesellschaftlichen Konventionen. Ihre Heiratsmarktstrategie wird für ihr Milieu als Normalzustand dargestellt, führt aber nicht zum Glück, das, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, nur durch eine Liebesehe erreicht werden kann. Für ihre Kleinlichkeit und Leidenschaftslosigkeit bekommt Alexandrina genau das: eine langweilige und leidenschaftslose Ehe. Der Erzähler bekräftigt, dass es das ist, was sie verdient, indem er die Rede eines Hochzeitsgastes kommentiert: As to her finding her fitting reward, whatever her preferences may have been, there Mr. Gresham was no doubt quite right. On that head I myself have no doubt whatever. (SHA, 493)

Ihre Tugendhaftigkeit wird dabei jedoch an keiner Stelle in Frage gestellt. Das ist bei Amelia Roper etwas anders. Sie versucht Eames in eine Ehe mit ihr zu drängen, indem sie ihn manipuliert und ihn dazu bringt, ihm ein schriftliches Eheversprechen zu geben: »he had allowed himself to be talked into declarations of affection« (SHA, 52). Dann setzt sie ihn damit unter Druck, sowohl durch die Drohung mit der breach of promise-Klage als auch durch psychologische Manipulation: I need hardly say that Miss Roper, in writing her letter, had been aware of all this, and that Johnny’s position had been carefully prepared for him by – his affectionate sweetheart. (SHA, 110)

Der Ausdruck »affectionate sweetheart« greift die Grußformel auf, mit der ein kurz zuvor wiedergegebener Brief von Amelia an Eames endet. Die ironische Wiederholung durch den Erzähler markiert Amelias Zuneigung als unecht – so ähnlich, wie wir es bereits für Jane Wilson gesehen haben. In Amelias Fall ist diese Manipulation jedoch zusätzlich als Überschreitung einer sexuellen Grenze markiert. Der Erzähler kommentiert mehrmals – scheinbar unmotiviert – ihre fehlende Tugendhaftigkeit, indem er von ihr als »such a creature as Amelia Roper« (SHA, 52) spricht oder einwirft: »Honour, indeed, with such as her!« (SHA, 147) Auch die Beschreibung ihres Aussehens gerät abfällig: There certainly was some beauty about her. Her eyes were large and bright, and her shoulders were well turned. She might have done as an artist’s model for a Judith, but I doubt whether any man, looking well into her face, could think that she would do well as a wife. (SHA, 318)

Judith ist, im Vergleich zur jungfräulichen Maria, offen sexuell.36 Wie wir gesehen haben, wird Amelia vor allem durch ihr Wissen um Sexualität als 36

In seiner Einleitung zu dem interdisziplinär angelegten Sammelband The Sword of Judith schreibt Kevin Brine über die alttestamentarische Figur der Judith: »As

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nicht bürgerlich markiert. Diese Wertung ist damit in erster Linie klassenspezifisch: Amelia wird als kleinbürgerlich kategorisiert. Sie ist Teil der weitgehend satirischen Handlung rund um Eames’ Londoner Unterkunft, das boarding house in Burton Crescent.37 Einen komischen Effekt erzielen unter anderem Amelias Liebesbekundungen: »[...] Now, look here, Johnny: I’m not going to make a fool of myself for any man. When I came home here three months ago – and I wish I never had;« – she paused here a moment, waiting for a word of tenderness; but as the word of tenderness did not come, she went on – »but when I did come home, I didn’t think there was a man in all London could make me care for him – that I didn’t. And now you’re going away, without so much as hardly saying a word to me.« (SHA, 47)

Amelias Gebrauch einer zum Liebesdiskurs gehörigen Rhetorik erscheint einerseits, wie bereits erwähnt, als geschickte psychologische Manipulation von Eames, andererseits wirkt es wie ein Versuch, den bürgerlichen Liebesdiskurs zu imitieren, der zwangsweise misslingen muss und damit zur Unterhaltung der Leser_innen beiträgt. Denn während Alexandrina und Amelia beide durch gezielte Rhetorik den designierten Ehemann zu manipulieren suchen und beide deswegen als unecht, berechnend und von mangelnder emotionaler Tiefe dargestellt werden, wird nur Amelias Tugendhaftigkeit in Frage gestellt und nur Amelia der Lächerlichkeit preisgegeben, während Alexandrina vom Text zwar kritisiert, aber durchaus auch bemitleidet wird. Marwick weist darauf hin, dass dies mit der unterschiedlichen Fokalisierung in den beiden Plotlinien zusammenhängt, aus der sich ein jeweils spezifischer Humor entwickelt: Amelia’s story is told through the paramour’s eyes, and we hear a comic burlesque, exploiting the genre of laughing at the lower orders; in the accepted

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a character, Judith is complex. She embodies political shrewdness and military effectiveness, yet she lives a life of simple piety, chastity, and temperance. [...] She is a public figure – charitable and civically influential. As a woman, Judith is beautiful, independent, sexually attractive, and intelligent.« (Brine 2010, 9) In der früheren katholischen Tradition galt Judith dementsprechend, genauso wie Maria, als Verkörperung der sexuellen Reinheit (Brine 2010, 9, vgl. auch Ciletti/Lähnemann 2010), ihre Geschichte wurde jedoch im 17. Jahrhundert im Zuge der puritanischen Reformation aus der Bibel entfernt, was eine Explosion divergierender (säkularisierter) Interpretationen zur Folge hatte: »The theological divide between Catholics and Protestants had a profound impact on the iconographical treatment of Judith. [...] In secular contexts, the story of Judith and Holofernes, refashioned in art, discourse, and polemics, was used with wildly different connotations: misogynistic, erotic, anti-Semitic, patriotic, nationalistic, and feminist.« (Brine 2010, 14 f.) Es ist unschwer zu erkennen, dass in Trollopes Bild der Judith die erotischen Konnotationen dominieren – wobei durchaus auch eine gewisse Misogynie unterstellt werden könnte. Christopher Herbert nennt diese Spielart des Humors in Trollopes Romanen »broad buffo humor« und beschreibt die entsprechenden subplots als »comical stories of ›low‹ clowns who are supposed to entertain a sophisticated audience by their inarticulateness and absurd manners« (Herbert 1987, 164).

Begehren und begehrt werden

scheme of things, heroes are not required to marry milliner’s assistants of vulgar tastes and manners. Alexandrina and the De Courcys, on the other hand, give their own interpretation of events. Reducing Lily’s romance to wishful thinking above her station disrupts the desires of the reader, who has installed her as heroine. In retribution, we have a text that is mocking, satirical, caustic, sarcastic; and, whereas in the Amelia story we have humour and comedy in incident, in the De Courcy story the wit comes all from the language. (Markwick 1997, 106)

Die »fehlende« Tugendhaftigkeit Amelias wird allerdings kaum an bestimmten Handlungen festgemacht, sie ergibt sich vielmehr quasi automatisch aus ihrer Positionierung in einem bestimmten Milieu. Die Affirmation von Klassengrenzen und die Reproduktion sexueller Grenzziehungen geht also Hand in Hand: Weil sie außerhalb des Bürgerlichen verortet wird, kann Amelias Tugend nur zweifelhaft und können ihre Liebesbeteuerungen nur oberflächlich sein; weil sie aber, umgekehrt, zu keiner wahren Liebe und Tugend fähig ist, kann sie nicht bürgerlich sein. Alle beschriebenen Frauenfiguren fungieren in irgendeiner Weise als Vergleichsfolien für die Heldinnen, erfüllen aber darin, wie wir gesehen haben, teilweise unterschiedliche Funktionen. Über Amelia und Alexandrina werden Klassengrenzen gezogen (nach »unten« bzw. nach »oben«), aber auch die Beschaffenheit von Liebe verhandelt. An ihnen müssen die Männerfiguren unter Beweis stellen, dass sie bürgerliche Weiblichkeit erkennen und begehren können – indem sie sich gegen sie und für Lily entscheiden. Diese Funktion hat auch Eliza Milward in The Tenant of Wildfell Hall, und es fällt auf, dass alle diese drei Figuren am Ende in eine unglückliche oder zumindest uninteressante Ehe geführt werden und dass der Erzähler betont, sie hätten nichts Besseres verdient.38 Neben dieser Funktion eines Anti-Begehrensobjektes markieren die weiblichen Nebenfiguren jedoch auch die Grenzen akzeptablen weiblichen Verhaltens. Fast alle verkörpern, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, den Typus der intriganten, berechnenden Frau, die als oberflächlich, egoistisch und gefühllos dargestellt wird. Oft geht dieser Mangel an »Echtheit« und »Tiefe« einher mit sexueller Grenzüberschreitung. In diesem Sinn hat »Tugend« in der Charakterisierung der Frauenfiguren eine doppelte Funktion. Einerseits dient sie als Markierung für Bürgerlichkeit und damit der Bewertung der Figuren. Rosenman beschreibt treffend die zirkuläre Logik, die dies beinhaltet: »a woman’s virtue was signified by her performance of ladyhood, in which gentility and morality were, in theory, 38

Siehe oben für die Verteilung von poetic justice in The Tenant of Wildfell Hall und die Bewertung von Alexandrina. Amelia heiratet Eames’ Freund Cradell, von dem sich Eames zunehmend distanziert: »Amelia was good enough for Joseph Cradell – any day of the week.« (SHA, 652) Doch während Cradell vom Erzähler bemitleidet wird: »I cannot but think that a hard measure of justice was meted out to him« (SHA, 652), scheint Amelias Schicksal ganz und gar passend und gerecht. Siehe auch Kapitel 4.1.

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seemlessly joined« (Rosenman 2003, 9). Andererseits wird auf diesem Feld eine rigide Grenze errichtet, wie sie vor allem in Annabella Lowborough sichtbar wird, bei der der Ehebruch unweigerlich zum körperlichen, moralischen und finanziellen Niedergang und schließlich zum Tod und zur sozialen Auslöschung führt. Für ihr Schicksal bringen weder die Figuren noch der Roman selbst Mitleid auf, die Botschaft ist ganz klar, dass sie durch das Überschreiten dieser Grenze den Bereich des Erklärbaren und Verstehbaren, und damit in gewisser Weise des Menschlichen, verlassen hat.39

4.2.3 Individualisierte Weiblichkeit: Das Begehren nach Einzigartigkeit Wie wir gesehen haben, stellen die Nebenfiguren der Romane oft bestimmte »Typen« dar oder wirken auf karikierende Art überzeichnet. Die Frage danach, wie eine viktorianische Frau nicht sein sollte, lässt sich demnach recht einfach beantworten. Mit der umgekehrten Frage nach dem viktorianischen Weiblichkeitsideal verhält es sich wesentlich schwieriger. Wir haben bereits gesehen, dass auf dem Feld der Sexualität Grenzziehungsprozesse stattfanden, die bedeutsam für die Konstitution akzeptabler Weiblichkeit waren. In der Idee der »respectability«, so Lynda Nead, verschränkt sich diese Sexualmoral mit einer Idealisierung des bürgerlichen Heims: The key to all these discourses is the notion of »respectability«. Respectability meant different things for men and for women; for women, it was defined in terms of their location within the domestic sphere and their consequent sexual respectability. (Nead 1988, 28)

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Die private Sphäre wird als genuin bürgerlich definiert, und das Zuhause, das Heim, wird ideologisch überhöht. Es wird zu einem Rückzugsraum, zu einem Ort, an dem sich der Mann von der harten Welt des kapitalistischen Wettbewerbs ausruhen kann. Nead bringt auch das gut auf den Punkt, wenn sie schreibt: The metaphor which was deployed most frequently in representations of the home was that of the haven or shelter. The meaning of home was signified in terms of its difference from the speculation, competition and conflict of public, business life. (Nead 1988, 33)

Die Bedeutung des Heims wird im Ideal der Domestizität gebündelt, das wiederum mit Weiblichkeit verknüpft wird. Die bürgerliche Frau verkörpert das Ideal der Domestizität und muss gleichzeitig immer danach streben, es zu verkörpern. Denn nur ihre Fähigkeit zur Erschaffung eines per39

Vgl. dazu die Charakterisierung von Crosbie, dem noch expliziter der Status als Mensch abgesprochen wird (Kapitel 4.1), der dadurch aber nicht sterben muss – auch wenn er vielleicht unglücklich wird.

Begehren und begehrt werden

fektes Heims macht sie zu einer »echten« Frau – das heißt, zu einer Frau, die sich als bürgerliche Ehefrau eignet. Zwischen der Frau und dem Heim findet eine gegenseitige Übertragung von Attributen statt: »the ideologies of the home and the feminine ideal reinforced each other« (Nead 1988, 33). Dadurch werden beide – Frau und Heim – moralisch überhöht, so Patricia Ingham: »In this way comfortable and tasteful domesticity becomes the sign for moral excellence, the House for the Angel.« (Ingham 1996, 23) In der Figur des »angel in the house«, auf die Ingham hier anspielt, kommt dieses Weiblichkeitsideal am eindrücklichsten zum Tragen. Der Begriff stammt ursprünglich aus Coventry Patmores Gedicht The Angel in the House (zuerst erschienen in zwei instalments 1854 und 185640 ) (Patmore 1949), die darin vorgenommene Beschreibung idealer bürgerlicher Weiblichkeit41 wurde jedoch schnell zur Chiffre für das viktorianische Weiblichkeitsideal. Nina Auerbach schreibt dazu: Not all Victorian angels lived in houses [...] but according to literary convention, many did, making Patmore’s title a convenient shorthand for the selfless paragon all women were exhorted to be, enveloped in a family and seeking no identity beyond the roles of daughter, wife, and mother. »Angel« and »house« became virtual synonyms. (Auerbach 1982, 66 ff.)

Der häusliche Engel42 zeichnet sich also vor allem dadurch aus, dass er sich in den Dienst des Mannes stellt – sei es der Vater, der Ehemann oder der Sohn – und sich allein um sein Wohlergehen und seinen Komfort sorgt. Daraus wird ein komplexes Feld von Verhaltensnormen, (un-)erwünschten Charaktereigenschaften und moralischen Wertungen abgeleitet, das unter anderem zu einer Idealisierung von Schwäche führt, die Frauen – vor allem in der ersten Hälfte des Jahrhunderts – zu einem »perpetual state of sickness« verdammte (Nead 1988, 29; vgl. auch Lefkovitz 1987, 25 ff.). Andere dem Engel zugeschriebene Eigenschaften werden von Ingham genannt: The supposedly physiologically determined qualities of the Angel were extreme emotional sensitivity, weakness of intellect, unlimited selflessness, and, crucially,

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In der Folge erschienen noch zwei instalments (1860 und 1862), die unter dem Namen The Victories of Love jedoch eine eigene abgeschlossene Einheit bilden (vgl. Patmore 1949). Einen guten Eindruck davon gibt die folgende – sehr bekannte – Passage aus dem Abschnitt The Wife’s Tragedy: »Man must be pleased; but him to please/ Is woman’s pleasure; down the gulf/ Of his condoled necessities/ She casts her best, she flings herself./ How often flings for nought, and yokes/ Her heart to an icicle or whim,/ Whose each impatient word provokes/ Another, not from her, but him;/ While she, too gentle even to force/ His penitence by kind replies,/ Waits by, expecting his remorse,/ With pardon in her pitying eyes« (Patmore 1949, 111). Auerbach weist auf die Bedeutungsverschiebung hin, die in diesem Bild des weiblichen Engels steckt – denn im Christentum wurden Engel in erster Linie als männliche Wesen repräsentiert (Auerbach 1982, 70 ff.; vgl. auch Tosh 1999, 55).

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a lack of »animal« passion. Paradoxically these marks of women’s inferiority were coded positively as concommitants of moral excellence. (Ingham 1996, 23)

Alle diese idealen weiblichen Eigenschaften werden als die »Natur der Frau« definiert, stellen gleichzeitig jedoch eine moralische Haltung dar, an der beständig gearbeitet werden muss, weil sie immer gefährdet ist. Vor allem die Reinheit, Unschuld und sexuelle Tugend der Frau werden gleichzeitig naturalisiert und problematisiert. Die Logik ist zirkulär: Eine Frau ist bürgerlich, weil sie tugendhaft ist, aber gleichzeitig ist sie tugendhaft, weil sie bürgerlich ist. Allerdings verrät bereits ein kurzer Blick auf die hier untersuchten Romane, dass die meisten dort vertretenen Frauenfiguren nur bedingt diesem Bild der passiven, schwindsüchtigen und sich unterordnenden bürgerlichen Frau entsprechen.43 Auerbach kritisierte bereits Anfang der 1980er Jahre die feministische Forschung für ihre Tendenz, viktorianische Weiblichkeitsvorstellungen pauschal als repressiv zu betrachten: In her own time the tragic and grotesque implications of the angel in the house did not go unexplored. Today she provides a convenient scapegoat for Victorian deficiencies. [...] While they empathize with the angel’s imprisonment, feminist critics have preferred loathing her to looking at her carefully. Beginning with Virginia Woolf, our characteristic response to her has been homicidal [...] (Auerbach 1982, 73)44

Mary Poovey drückte sich einige Jahre später etwas weniger polemisch aus, ihr Kommentar geht jedoch in die gleiche Richtung: Despite repeated invocations of the domestic ideal, despite the extensive ideological work this image performed, and despite the epistemological centrality of woman’s self-consistency to the oppositional structure of Victorian ideas, the representation of woman was also a site of cultural contestation during the middle of the nineteenth century. (Poovey 1988, 9)

Damit weist sie einerseits darauf hin, wie wichtig es ist, hegemoniale Bedeutungsstrukturen in den Blick zu nehmen, warnt allerdings gleichzeitig

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Eine Ausnahme bildet lediglich Laura Fairley in The Woman in White (siehe Kapitel 5.3). Auerbach spielt hier auf Woolfs Vortrag bei der Women’s Service League im Jahr 1931 an, in dem sie beschreibt, wie sehr sie viktorianische Weiblichkeitsnormen am Schreiben gehindert haben (Woolf 1966, 284 ff.). Dafür greift sie das Bild des »angel in the house« auf, so Emily Blair: »As Woolf develops her characterization of the [sic] ›The Angel in the House,‹ she absorbs, parodies, and appropriates the mid-century cultural icon created by Patmore and Ruskin, an image that emerged from the writings of both male and female ideologues, for her own purposes. ›The Angel in the House‹ becomes her figure for the gender inequalities of the Victorian period.« (Blair 2007, 53) Damit trägt Woolf aber dazu bei, diese Vorstellung untergeordneter viktorianischer Weiblichkeit zu homogenisieren: »Paradoxically, then, in the essay, Woolf contributes to the ongoing creation of ›The Angel in the House,‹ a fiction whose iconic power [...] structures latetwentieth-century feminist criticism and anthologies of women’s writing.« (Blair 2007, 57)

Begehren und begehrt werden

vor einer allzu großen retrospektiven Homogenisierung – eine Gefahr, der nur durch konkrete Analysen begegnet werden kann. Vor dem Hintergrund dieses knappen Überblicks über das im »angel in the house« personifizierte und ikonisierte Weiblichkeitsideal soll nun untersucht werden, wie sich die Romane zu diesem Ideal verhalten und wie sie es gegebenenfalls in Frage stellen und modifizieren. Denn vor allem Romane, die um die Mitte des Jahrhunderts erschienen sind, weisen oftmals eine beträchtliche Ambivalenz gegenüber dem häuslichen Engel auf (vgl. Dever 2005, 164; Ingham 1996, 29 f.), die es nun zu ergründen gilt. Bereits ein kurzer Blick auf die beiden Heldinnen Lily und Helen zeigt, dass beide sehr wohl ihren eigenen Willen und ihre eigenen Ansichten haben. Das zeigen beide zuallererst, wie wir bereits gesehen haben, in ihrem Beharren auf dem Recht, selbst und auf der Basis ihrer eigenen Gefühle ihren Ehepartner auszusuchen. Beide haben aber auch in anderen Fragen eigene Meinungen, die sie selbstbewusst und mitunter – im Fall von Helen – in einem Gestus, der den Glauben an die eigene intellektuelle und moralische Überlegenheit demonstriert, zum Besten geben. Am Ende einer hitzigen Debatte, die Helen mit Gilbert Markham zum Thema Kindererziehung führt, sagt sie zu ihm: »[...] I would rather be lectured by you than the vicar, because, I should have less remorse in telling you, at the end of the discourse, that I preserve my own opinion precisely the same as at the beginning – as would be the case, I am persuaded, with regard to either logician.« (TWH, 31)

Diese Haltung irritiert und ärgert Gilbert, aber gleichzeitig machen die Unnahbarkeit und die eigensinnige Selbstsicherheit, die Helen ausstrahlt, sie überhaupt erst interessant – sowohl als Objekt des Begehrens für Gilbert als auch als Heldin des Romans. Sie zeigt, dass sie eine eigene Meinung hat und über Dinge nachdenkt, und es ist die darin sichtbar werdende Intelligenz, die Gilbert zu Helen hinzieht, so Langland: »Markham is caught by Helen’s ›depth of thought‹ [TWH, 45]« (Langland 1989, 129). Auf bildlicher Ebene wird Helens Außergewöhnlichkeit durch das Haus symbolisiert, das sie bewohnt und das dem Roman den Titel gibt: »Wildfell Hall is an extreme example of isolation and elevation as it stands on the ›wildest and loftiest eminence‹ [TWH, 20] in symbolic union with its tenant, who is a combination of wild unconventionality, lofty virtue, and eminent intelligence.« (E. Berry 1994, 73) Lily ist ganz anders als Helen, aber auch bei ihr ist das Eigensinnige ein zentrales Charakteristikum. Zu Beginn des Romans werden Lily und ihre Schwester Bell durch Dialoge charakterisiert – eine Beschreibung der beiden Frauen folgt erst in Kapitel 6. In einem dieser Dialoge beschwert sich Bell über Lilys Gebrauch von Slang: »I don’t like those slang words, Lily.« »What slang words?«

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»The Power of Love«

»You know what you called Bernard’s friend.« »Oh; a swell. I fancy I do like slang. I think it’s awfully jolly to talk about things being jolly. Only that I was afraid of your nerves I should have called him stunning. It’s so slow, you know, to use nothing but words out of a dictionary.« »I don’t think it’s nice in talking of gentlemen.« »Isn’t it? Well, I’d like to be nice – if I knew how.« (SHA, 15)

Lily wird darin als spielerisch, frech und unkonventionell beschrieben, aber gleichzeitig – oder gerade deswegen – ist klar, dass ihr Urteil über sich selbst, sie wisse nicht, wie Nettsein ginge, vom Erzähler und vom Romantext nicht geteilt wird – und auch nicht von den Leser_innen geglaubt werden soll. Lily ist vielmehr der Inbegriff des netten Mädchens, wie Nardin schreibt: »A little slang flows quite charmingly from the lips of a girl whose theories and conduct are so quintessentially nice – as Lily is well aware.« (Nardin 1989, 109) Denn das, was die weibliche Hauptfigur zur Heldin macht, ist nicht ihre Perfektion, sondern ihre Eigenheiten.45 Das zeigt sich sowohl in der Beschreibung der Dale-Schwestern durch den Erzähler, als auch in Markhams erstem Eindruck von Helen. Über Lily und Bell heißt es: They were constant, perhaps obstinate, occasionally a little uncharitable in their judgment, and prone to think that there was a great deal in being a Dale, though not prone to say much about it. (SHA, 22)

Markham hingegen antwortet auf die Frage, wie er Helen finde: »I cannot say that I like her much. She is handsome – or rather I should say distinguished and interesting – in her appearance, but by no means amiable – a woman liable to take strong prejudices, I should fancy, and stick to them through thick and thin, twisting everything into conformity with her own preconceived opinions – too hard, too sharp, too bitter for my taste.« (TWH, 38)

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Helens Bitterkeit und die Vehemenz, mit der sie Distanz zwischen sich und ihren Nachbarn schafft, wird in der Folge des Romans mit ihren Erfahrungen begründet und erklärbar gemacht. Doch schon vor diesen Erklärungen (und sehr bald nach dem Aussprechen dieses Urteils) ändert Gilbert seine Meinung über Helen und verliebt sich in sie. Gemeinsam ist beiden Heldinnen jedenfalls, dass sie gerade dadurch interessant gemacht werden, dass sie ihren eigenen Willen und ihre eigene Meinung haben, ja dass sie stur und eigensinnig sein können. Damit entsprechen sie gerade nicht dem Typ des »angel in the house«; vielmehr, so suggerieren die Romane, ent45

Darin widerspreche ich ganz entschieden Positionen wie der von Robert Polhemus, der diese spielerische, lebendige Art als eine Eigenschaft sieht, die normalerweise nur Antiheldinnen zugeschrieben werde: »For the first time Trollope imagined a lovely, virtuous young girl who has the lively wit and the pride of his antiheroines, but, like them, can make mistakes. She has what so many women in Victorian fiction lack, intelligence and the ability to articulate emotion.« (Polhemus 1968, 92)

Begehren und begehrt werden

sprechen sie gar keinem »Typus«. Es sind nicht in erster Linie ihre Vorzüge, die sie interessant machen, sondern ihre Eigenheiten und »Fehler« – also das, was sie von den anderen abhebt und individuell erscheinen lässt. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie negativ dargestellt werden. Im Gegenteil, sie werden durchaus als Begehrensobjekte idealisiert. In diesem Sinne muss auch ihre Schönheit individuell sein, um wirklich begehrenswert zu wirken. Das zeigt sich sehr deutlich in der Beschreibung von Lily im Vergleich zu ihrer Schwester. Bell wird als die im konventionellen Sinn schönere und »fraulichere« beschrieben, während Lily mit ihrer spielerischen und mädchenhaften Art Romanfiguren wie Leser_innen umgarnt und in den Bann zieht. Dafür wird eine subtile Unterscheidung zwischen Schönheit und Attraktivität gezogen: [...] they were two pretty, fair-haired girls, of whom Bell was the tallest and the prettiest, whereas Lily was almost as pretty as her sister, and perhaps was more attractive. (SHA, 53)

Diese Unterscheidung zeigt sich auch in der weiteren Beschreibung ihres Aussehens. Der Erzähler vergleicht Lily und Bell und stellt immer wieder fest, dass Lily ein kleines bisschen weniger von irgendetwas hat: Sie ist etwas kleiner, sie hat etwas weniger Haare, sie hat etwas weniger regelmäßige Gesichtszüge und ihre Gesichtsform ist weniger oval. Im gleichen Atemzug werden diese Unterscheidungen jedoch immer wieder abgeschwächt und zum Positiven gewendet. Ein Beispiel dafür ist die Beschreibung der Kinnpartien der beiden Schwestern: [...] with Bell the chin was something more slender and delicate. But Bell’s chin was unmarked, whereas on her sister’s there was a dimple which amply compensated for any other deficiency in its beauty. (SHA, 54)

Ein Grübchen, so suggeriert es der Roman, mag zwar nach traditionellen ästhetischen Maßstäben einen »Makel« darstellen und die Perfektion des Aussehens schmälern, aber indem es das Gesicht interessant und einzigartig macht, verleiht es schlussendlich mehr Attraktivität als das »fehlerlose« Kinn. Zudem fungieren Grübchen, so Markwick, in dem Romanen von Trollope generell als »an indication of sexiness« (Markwick 1997, 92). Noch deutlicher wird diese Unterscheidung zwischen Perfektion und Attraktivität im Vergleich zu der Beschreibung von Lilys Rivalin Alexandrina De Courcy, deren Schönheit explizit als »beauty according to law rather than beauty according to taste« (SHA, 177) bezeichnet wird: That her forehead, and nose, and cheeks, and chin were well formed, no man could deny. Her hair was soft and plentiful. Her teeth were good, and her eyes were long and oval. But the fault of her face was this, – that when you left her you could not remember it. (SHA, 177)

Alexandrina sieht perfekt aus, aber die sachliche Beschreibung der einzelnen Merkmale lässt beim Lesen kein Bild entstehen, genauso wie ihr Gesicht laut Erzähler niemandem in Erinnerung bleibt. Perfektion, so wird

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»The Power of Love«

dabei vermittelt, ist langweilig und uninteressant; Attraktivität hingegen entsteht durch Individualität. Lily wird zudem in der Schilderung ihres Aussehens auch als die forschere und selbstbewusstere der beiden Schwestern gezeichnet, was über die Beschreibung ihrer Augen geschieht: Their eyes were brightly blue; but Bell’s were long, and soft, and tender, often hardly daring to raise themselves to your face; while those of Lily were rounder, but brighter, and seldom kept by want of courage from fixing themselves where they pleased. (SHA, 53 f.)

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Mit ein paar Sätzen werden hier zwei Typen weiblicher Schönheit geschaffen, auch indem bestimmte äußere Merkmale selbstverständlich mit Charakterzügen verknüpft werden. Bell ist weiblicher, mit ihrer ruhigeren, vollkommeneren und schüchterneren Schönheit, aber der Umstand, dass Lily mit einer größeren Portion Individualität ausgestattet ist, macht sofort deutlich, dass sie die Heldin der Geschichte sein wird. Das Fazit des Erzählers klingt somit ironisch: »It may, therefore, be understood that Bell would be considered the beauty by the family.« (SHA, 54) Obwohl Bell also explizit als die Schönere von beiden dargestellt wird, ist es Lily, die vom Erzähler privilegiert und vom Roman stärker affektiv aufgeladen wird. Diese affektive Aufladung der Heldin entstehe, so argumentiert Christopher Herbert sehr überzeugend, weil Lilys Schönheit untrennbar mit ihrem Charakter, ihrem Charme verknüpft werde: »Lily’s beauty makes such a captivating image because it is so ›expressive‹ [SHA, 54], a word that continually recurs in Trollope in this context, and that everywhere serves as his touchstone of true charm.« (Herbert 1987, 84) »Charm« ist der Begriff, mit dem Herbert versucht zu begreifen, warum manche Figuren eine besonders magnetische Anziehungskraft entfalten – nicht nur auf andere Figuren, sondern auch auf die Leser_innen. Charme entstehe aus Lebendigkeit, Flexibilität, Energie und Intelligenz und sei damit »a synecdoche for an ideal of richly and soundly developed personality« (Herbert 1987, 71) – in anderen Worten, für Individualität. In diesem Zusammenhang betont auch Herbert, dass Intelligenz gerade bei den Frauenfiguren als zentraler Bestandteil ihrer Attraktivität dargestellt wird: »This stress on ›mental faculty‹ as the very basis of female charm [...] applies to all of Trollope’s fictions« (Herbert 1987, 82). Die Faszination von Lily als Objekt des Begehrens ist in der Erzählerrede kontinuierlich präsent. Lily wird vom Erzähler explizit als Sympathieträgerin präsentiert, aber auch als Objekt der Sorge: »Lilian Dale, dear Lily Dale – for my reader must know that she is to be very dear, and that my story will be nothing to him if he do not love Lily Dale« (SHA, 14). Während den Männerfiguren, zumindest explizit, der Status von Helden versagt bleibt – Crosbie wird etwa als »this fraction of a hero of ours« (SHA, 14) bezeichnet – steht Lily also ganz klar im affektiven und plotdynamischen

Begehren und begehrt werden

Zentrum des Romans. Am Ende des Romans wird das noch einmal unterstrichen, obwohl dort statt Lilys Hochzeit die Heirat ihrer Schwester Bell steht. Aber die Fokalisierung und Sympathielenkung ist auch hier ganz auf Lily konzentriert, während wir über Bells Gefühle anlässlich dieses Ereignisses nichts erfahren. Lily ist die eigentliche Braut: »no one at the wedding was so gay as Lily, – so gay, so bright, and so wedding-like« (SHA, 664). Der Gärtner drückt die Empfindungen aller Lily nahestehenden Figuren und auch die emotionale Tendenz des ganzen Romans aus, wenn er bei Bells Hochzeit zu Lily sagt: »I wish it had been for thee, my darling!« he said; »I wish it had been for thee!« [...] Lily said no word further. She knew that the man was expressing the wishes of all around her. (SHA, 664)

Das »verfehlte« Happy End ist wiederum Ausdruck von Lilys Individualität, denn Lily besteht darauf, dass sie nur ein Mal lieben könne: It amounted to an assertion on Lily’s part that she had loved once and could never love again; that she had played her game, hoping, as other girls hope, that she might win the prize of a husband; but that, having lost, she could never play the game again. (SHA, 334)

Sie betont immer wieder, dass ihre Liebe davon unabhängig sei, ob sie erwidert werde, und reklamiert damit ein aktives, eigenständiges und vom Mann unabhängiges Begehren für sich. Damit steht sie im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Konventionen. Wie wir gesehen haben, wird in allen Romanen die Frage gestellt, ob eine Frau sich verlieben dürfe, ohne von einem Mann dazu »ermuntert« worden zu sein. The Small House at Allington problematisiert darüber hinaus das Verhältnis zwischen dem Gebot der Beständigkeit der Liebe (siehe Kapitel 3) und den Normen weiblicher Sexualmoral. Dass Lily Crosbie weiter liebt, nachdem er die Verlobung abgebrochen hat, und dies zudem offen ausspricht, stellt einen Verstoß gegen die Konventionen dar. Auf die Frage, warum sie eine Heirat mit Eames kategorisch ausschließe, antwortet Lily: »Because I love another man.« These words she spoke out loud, in a steady, almost dogged tone, with a certain show of audacity, – as though aware that the declaration was unseemly, but resolved that, though unseemly, it must be made. [Mrs. Dale:] »But, Lily, that love, from its very nature, must cease [...].« (SHA, 629)

Für diese Haltung, das zeigt das Zitat, benötigt Lily den Mut, ihren eigenen Überzeugungen – in diesem Fall der Wahrheit ihrer Gefühle – treu zu bleiben, auch wenn sie als unziemlich gelten, wie die Mutter in ihrer Antwort noch einmal bekräftigt. Lily ist hartnäckig, beharrlich und konstant in ihrem Vertrauen auf ihre eigenen Überzeugungen. Allerdings wird diese Haltung vom Roman ambivalent dargestellt. Einerseits entspricht sie mit ihrer Betonung der Absolutheit, Unverhandelbarkeit und Unveränderlichkeit der von Lily empfundenen Gefühle dem

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»The Power of Love«

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gängigen Liebesdiskurs: »What can a heart be worth if it can be transferred hither and thither as circumstances and convenience and comfort may require?«, fragt sich Lily (SHA, 633). Auch die Entgegenstellung von Liebe und Konvention, bei der immer die Seite der Liebe affektiv privilegiert wird, ist ein weit verbreitetes Element der Liebesgeschichten, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben. Lilys Positionierung auf der Seite der Liebe – gegen alle Konventionen – ist also Teil ihrer Individualisierung. Andererseits wird Lilys Haltung im Roman zunehmend in Frage gestellt. An der oben zitierten Stelle wird bereits deutlich, dass die Adjektive, mit denen Lilys Beharrlichkeit beschrieben wird, nicht nur positiv konnotiert sind (vor allem »loud« und »dogged« erscheinen wenig »damenhaft«). Dazu kommt Bells Einschätzung, dass ein Teil dieser Haltung auch mit Stolz zu tun habe. Lily könne Eames nicht heiraten, denn: »Her pride would prevent her, even if her heart permitted it.« (SHA, 579) Stolz ist nicht nur Lily, sondern auch Helen in The Tenant of Wildfell Hall, im Vertrauen auf ihre eigenen Überzeugungen und Empfindungen. Sie wird zu Beginn des Romans in Gilberts Erzählung nicht nur explizit von ihm beschrieben, sei es in ihrem Erscheinungsbild oder ihren Handlungen und Aussagen, sondern auch durch die in Dialogen übermittelten Eindrücke anderer Figuren aus seinem Umfeld charakterisiert. Zu Beginn sind sich fast alle Figuren einig, Helen sei »reserved« (TWH, 13) und »selfopinionated« (TWH, 14) und antworte »haughtily« auf die wohlmeinenden Ratschläge von Gilberts Mutter (TWH, 15). Diese Ratschläge erscheinen allerdings selbst wie unzulässige Einmischungen in Helens eigene Angelegenheiten. Mrs. Markham gibt ihr, wie sie selbst berichtet, ungefragt Tipps »[o]n household matters, and all the little niceties of cookery, and such things, that every lady ought to be familiar with« (TWH, 14). Helens Versicherung, sie werde auf keinen Fall noch einmal heiraten, kommentiert Mrs. Markham mit den Worten: »But I told her I knew better.« (TWH, 15, Hervorh. i.O.) Diese versuchten Einmischungen von Seiten der Nachbarschaft in das Leben von Helen, die den Beginn des Romans dominieren, positionieren Helen als von außen in die Gemeinschaft kommenden Eindringling. Laut Jan Gordon zeigt sich Helens Position als Außenseiterin vor allem im Sprechen der anderen über sie: »the most pointed signifier of her role as a potentially disruptive outsider in the community is the speech that relates her intrusion [...]. In fact, the first ten chapters are really nothing more than the attempt of gossip to come to terms with meaning.« (Gordon 1984, 721 f.)46

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Priti Joshi vertritt in ihrem Aufsatz die entgegengesetzte These in Bezug auf gossip, den sie als zentral für den Aufbau und das Aufrechterhalten der bürgerlichen Gemeinschaft in The Tenant sieht (Joshi 2009). Für Gordon hingegen – das sollte

Begehren und begehrt werden

Die Gemeinschaft von Linden-car zeichnet sich durch Ordnung und Stabilität aus, so Gordon: In fact, the setting of the first chapter is almost entirely devoted to ritual images of Victorian order: afternoon tea; visits by the curate, Millward; Guy Fawkes Day parties (which use a celebration to control the memory of subversion); knitting projects; and plans for a spring outing. (Gordon 1984, 721)

Elizabeth Berry merkt an, dass dabei die gemütliche Atmosphäre Hand in Hand geht mit der Anpassung an soziale Normen und Konventionen: »comfortable Linden Car [sic] outwardly sets a tone of conventional family unit which, however, is undercut by its own reliance on the subjection of women« (E. Berry 1994, 73). Von dieser konservativen Gemeinschaft wird Helen durch ihre selbstbewusst vorgetragenen und durchaus unkonventionellen Überzeugungen unterschieden, aber auch durch den Exzess an Leidenschaft, der sie von Beginn an kennzeichnet. Ein Beispiel dafür ist ihre Reaktion auf die moralisierenden Vorhaltungen des Pfarrers. Der Pfarrer selbst berichtet: »there was a strong display of unchastened, misdirected passions. She turned white in the face, and drew her breath through her teeth in a savage sort of way« (TWH, 84). Auch hier entspricht Helen nicht den in der Nachbarschaft etablierten Normen für weibliches Benehmen. In all dem wird deutlich, dass sie die an sie herangetragenen Verhaltensnormen ablehnt, so Langland: Her identity is made more problematic because her decorous appearance and religious devotion coexist with her claims that she has no use for »such things that every lady ought to be familiar with« [TWH, 14] and »what every respectable female ought to know« [TWH, 15]. Although civilized in manner, she appears to »wholly disregard the common observances of civilized life« [TWH, 24]. (Langland 1992, 114)

Als Reaktion auf diese an sie herangetragenen Normierungsbestrebungen erscheint Helens ablehnendes und hochmütiges Verhalten zunehmend sympathisch, da es für die Ablehnung leerer Konventionen steht und damit wiederum die Dichotomie mobilisiert, die der Konventionalität die Individualität gegenüberstellt und dabei letztere privilegiert. Der spießige Konservativismus der Nachbarschaft (bestehend vor allem aus Gilberts Mutter, dem Pfarrer, Eliza Millward und Jane Wilson) wird der Lächerlichkeit preisgegeben und erscheint als wenig erstrebenswert. Das zeigt sich auch in der Entwicklung, die Gilbert Markham durchläuft. Mit der wachsenden Faszination und Liebe, die er für Helen empfindet, geht eine zunehmende Entfremdung und Distanzierung von seinem gesellschaftlichen Umfeld einher. Während seine eigene Meinung über

oben schon deutlich geworden sein – markiert gossip den Druck der Mehrheit auf die Außenseiterin, sich den herrschenden Konventionen anzupassen.

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»The Power of Love«

Helen zu Beginn noch der der Nachbarschaft entspricht, reagiert er bald wütend auf deren Urteile, und vor allem auf die Gerüchte, Helen habe eine Affäre mit Mr. Lawrence. Wut über die Personen, die die Gerüchte verbreiten (Jane und Eliza), geht dabei einher mit der karikierenden Abgrenzung gegenüber anderen Personen, die als dieser »Gesellschaft« zugehörig gesehen werden. Vor allem der Pfarrer, Mr. Millward, wird in Markhams Erzählung satirisch überzeichnet und erscheint, so Berry, als »a satirical embodiment of the hypocritical grotesque« (E. Berry 1994, 84). Die Absurdität seiner Umgebung wird für Markham zunehmend unerträglich, was sich auf der Ebene des Erzählens im verschärften satirischen Ton äußert: Meantime, my brain was on fire with indignation, and my heart seemed ready to burst from its prison with conflicting passions. I regarded my two fair neighbours with a feeling of abhorrence and loathing I scarcely endeavoured to conceal [...]. I thought Mr. Millward never would cease telling us that he was no tea-drinker, and that it was highly injurious to keep loading the stomach with slops to the exclusion of more wholesome sustenance, and so give himself time to finish his fourth cup. (TWH, 71, Hervorh. i.O.)47

Gilbert weigert sich, den Gerüchten zu glauben, und stellt sich damit auf die Seite der Individualität. Sein Vertrauen auf Helens moralische Integrität und sexuelle Tugend gründet sich einerseits auf seine eigene Einschätzung ihres Charakters, andererseits aber auf seine ablehnende Haltung gegenüber den normierenden und ausgrenzenden Urteilen der Nachbarschaft. Mit großem Gestus stellt er sich voll und ganz auf Helens Seite und damit gegen die Konvention. Er beschwört Helen: »[...] authorize me to clear your name from every imputation: give me the right to identify your honour with my own, and to defend your reputation as more precious than my life!« [Helen:] »Are you hero enough to unite yourself to one whom you know to be suspected and despised by all around you, and identify your interests and your honour with hers? Think! it is a serious thing.« [Gilbert:] »I should be proud to do it, Helen! – most happy – delighted beyond expression! [...]« (TWH, 88)

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Für Gilbert ist es keine Frage, dass er sich auf diese Weise gemeinsam mit und für Helen ebenfalls den Konventionen – und damit seiner ganzen bisherigen sozialen Welt – entgegenstellen würde. Der Roman gibt ihm schlussendlich Recht und belohnt ihn für diese Haltung – auch wenn er ihr zwischendurch nicht treu bleibt, als er meint, mit eigenen Augen Zeuge der 47

Zur Rolle des Pfarrers als Verkörperung »veralteter« Ansichten in Bezug auf den Konsum von Alkohol schreibt Gwen Hyman: »To a mid-century reader, Millward’s views on drink – and his copious personal indulgence – mark him as distinctly old-fashioned [...]; when he affirms, ›now THIS is the thing!‹ [TWH, 36] as he pours himself a tall glass of Mrs. Millward’s [eigentlich Mrs. Markhams, J.C.] ale, he is as misguided as he proves himself to be in lecturing Helen on morality and piety.« (Hyman 2008, 453)

Begehren und begehrt werden

vermeintlichen Liaison zwischen Mr. Lawrence und Helen geworden zu sein. Am Ende werden alle Lügen gestraft, die Helen bewertet und verurteilt haben, womit nicht nur Helen, sondern auch Gilbert als moralisch integre Figur aus der Geschichte herausgeht. Die Heirat mit Helen ermöglicht Gilbert darüber hinaus die tatsächliche – räumliche, materielle und klassenästhetische – Distanzierung von seinem ursprünglichen sozialen Umfeld. All dies bewerkstelligt der Roman durch die Individualisierung der Heldin und ihre dichotome Kontrastierung mit den kollektiven Normen der Gesellschaft. In viel stärkerem Maß als in The Small House at Allington bedeutet dies in The Tenant auch eine Infragestellung etablierter weiblicher Rollen und Normen weiblichen Verhaltens. Das (vermeintliche) viktorianische Idealbild der sich unterordnenden, gehorchenden und dem Mann dienenden Frau wird immer wieder verworfen. Zwei Jahre nach ihrer Heirat mit Huntingdon zieht Helen eine erste Bilanz ihrer unglücklichen Ehe. Die Gründe dafür sieht sie einerseits in der fehlenden Selbstdisziplin ihres Mannes (das wurde bereits ausführlich in Kapitel 4.1 besprochen), andererseits darin, dass sie unterschiedliche Vorstellungen von der Ehe selbst haben: [...] he is not a bad husband, but his notions of matrimonial duties and comforts are not my notions. Judging from appearances, his idea of a wife, is a thing to love one devotedly and to stay at home – to wait upon her husband, and amuse him and minister to his comfort in every possible way, while he chooses to stay with her; and, when he is absent, to attend to his interests, domestic or otherwise, and patiently wait his return; no matter how he may be occupied in the meantime. (TWH, 206)

Vorstellungen von der Ehe werden hier mit der Rolle der Frau in der Ehe gleichgesetzt und darauf reduziert. Helen schreibt nicht, was aus ihrer Sicht einen »guten« Ehemann ausmachen würde – genauso wenig, wie sie Arthurs Vorstellung der idealen Ehefrau explizit ein eigenes Bild entgegensetzt. Klar ist aber, dass sie sein Idealbild vehement ablehnt – ein Ideal, das sehr an Patmores »angel in the house« erinnert. Hingebungsvolle Liebe, Gebundenheit ans Haus, Umsorgen, Unterhalten und Bedienen des Ehemanns, ohne im Gegenzug irgendetwas von ihm zu erwarten: Diese Passage, aber auch die ganze Romanhandlung, zeigen eindrücklich, wie unattraktiv und repressiv eine solche eheliche Rolle aus Sicht der Frau ist. Die scheinbare Überhöhung der Frau im Bild des Engels stellt eigentlich eine Objektifizierung dar, wie Berry deutlich herausarbeitet: When Huntingdon addresses Helen as »angel« and »treasure,« he is clearly not speaking to an equal; Helen, the stereotyped »saint,« will be as fettered as if she were molded in plaster [...]. Arthur’s exalting epithets are, ironically, a means of dehumanizing Helen [...] (E. Berry 1994, 77 f.)

Die Ehe zwischen Arthur und Helen wird damit nicht nur für ihr repressives Weiblichkeitsbild kritisiert, sondern dafür, dass sie dem equality-Paradigma (vgl. Kapitel 3) widerspricht. McMaster bringt das auf den Punkt:

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»The Power of Love«

So much for the Huntingdon marriage. It is a union of opposites, and it is a disaster. [...] the opposites, instead of modifying one another, aggravate the worst tendencies in each. [...] As Helen’s diary records the destruction of opposites, the story of Gilbert Markham serves to restore our faith in the possibility of a relationship between a man and a woman that is one of equals [...] (McMaster 1982, 362 f.)

Insofern beinhaltet die Verwerfung des viktorianischen Weiblichkeitsideals noch mehr: Sie klagt nicht nur die Repressionen an, denen der »angel in the house« unterworfen ist, sondern sie macht eine solche Weiblichkeit geradewegs uninteressant und wenig begehrenswert. So wird Helens Freundin Milicent zwar als sympathische Figur gezeichnet, aber als zu nachgiebig, zu devot, zu folgsam. Sie lässt sich von ihrer Mutter in eine Ehe mit Mr. Hattersly drängen, die sie nicht will, weil sie nicht den Mut hat, klar und deutlich Nein zu sagen. Helen kommentiert Milicents Brief, in dem sie ihr von der Verlobung erzählt: Alas! poor Milicent, what encouragement can I give you? – or what advice – except that it is better to make a bold stand now, though at the expense of disappointing and angering both mother and brother, and lover, than to devote your whole life, hereafter, to misery and vain regret? (TWH, 188 f.)

Anders als Helen kann sich Milicent nicht von den Weiblichkeitsnormen lösen, die ihr von ihrer Umwelt auferlegt werden. Schlussendlich wird sie zwar doch noch glücklich in ihrer Ehe (vgl. TWH, 390), aber nur durch Helens Intervention. Helen zeigt den Mut, der Milicent fehlt48 , und bietet an ihrer Stelle dem Ehemann der Freundin die Stirn, indem sie ihm sagt, wie unglücklich sein herrschsüchtiges und brutales Verhalten seine Ehefrau mache (vgl. TWH, 320 ff.). Indem er sich ändert, macht er nicht nur seine Frau glücklicher, sondern auch sich selbst. Der Verlauf dieses NebenLiebesplots widerlegt also die Präferenzen, die Hattersley früher in der Geschichte geäußert hat. Huntingdon berichtet Helen von einem Gespräch mit Hattersley, in dem dieser seine ideale Ehefrau entwirft: »I must have somebody that will let me have my own way in everything – not like your wife, Huntingdon, she is a charming creature, but she looks as if she had a will of her own, and could play the vixen upon occasion« (I thought »you’re right there, man,« but I didn’t say so). »I must have some good, quiet soul that will let me just do what I like and go where I like, keep at home or stay away, without a word of reproach or complaint; for I can’t do with being bothered.« (TWH, 187, Hervorh. i.O.)

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Hattersley ändert jedoch später seine Meinung und stellt damit seine Entwicklungsfähigkeit unter Beweis. Er zeigt auf diese Weise, dass er im Laufe des Romans gelernt hat, dass völlige weibliche Unterwerfung auch ihn nicht glücklich macht. Er hat, in anderen Worten, sein Begehren so geschult, dass der »angel in the house« ihm nicht mehr als ideales Liebesob48

»I had only done what she might – and ought to – have done herself.« (TWH, 323)

Begehren und begehrt werden

jekt erscheint. Huntindon hingegen bleibt dabei, jeden (vom Roman als positiv eingestuften) Versuch Helens, ihn zu Mäßigung und Selbstdisziplin zu bringen, sowie jede Äußerung einer Meinung oder auch eines Wunsches von ihrer Seite als unzulässige Einmischung in seine eigenen Angelegenheiten zu sehen: »You promised to honour and obey me, and now you attempt to hector over me, and threaten and accuse me and call me worse than a highwayman. [...] I won’t be dictated to by a woman, though she be my wife.« (TWH, 199)

Huntingdon diskreditiert sich durch eine solche Haltung selbst, denn er erweist sich als unfähig, Helen für das zu begehren, was an ihr besonders ist: ihre moralische Haltung, ihr Eigensinn, ihr eigener Kopf und Wille, also das, was sie – wie wir gesehen haben – individuell und damit interessant macht. Was er begehrt, ist nicht Individualität, sondern Konformität – nicht die individualisierte Heldin, sondern ihr konventionelles (und langweiliges) Gegenstück, den »angel in the house«.

4.2.4 Normalisierte Weiblichkeit: Reproduktion universalisierter bürgerlicher Werte Aber – am Anfang dieses letzten Abschnitts steht ein großes Aber, denn die Verhandlung von Weiblichkeit in den Romanen gestaltet sich noch etwas komplexer als es bisher dargelegt wurde. In dem Versuch zu zeigen, dass die Heldinnen der Romane vor allem in ihrer Individualität begehrenswert erscheinen und dass die Passivität und Unterwürfigkeit des klassischen viktorianischen Weiblichkeitsideals verworfen wird, wurden bereits an einigen Stellen Brüche sichtbar. Diese Brüche sollen nun ins Zentrum der Analyse rücken. Ich greife dafür die zentralen Thesen des vorigen Abschnitts noch einmal auf und betrachte sie unter dem Aspekt der Normalisierung: 1. das Beharren auf dem eigenen Willen und der eigenen Meinung der Heldinnen und die damit einhergehende Infragestellung gesellschaftlicher Normierungsbestrebungen; 2. die Leidenschaftlichkeit und das aktive Begehren der Heldinnen, die ihre individuellen Gefühle über die Konventionen stellen; 3. die Privilegierung von Individualität auch bei der Beschreibung ihres Aussehens. Freiwillige Unterwerfung

Wir haben gesehen, dass vor allem Helen in The Tenant of Wildfell Hall vehement gegen eine Geschlechterordnung protestiert, die von den Frauen verlangt, ihrem Ehemann bedingungslos zu gehorchen (»honour and obey«). Sie verlangt Gleichberechtigung in der Ehe, eine Forderung, die der Roman auch in anderer Hinsicht unterstreicht. In einem Dialog der Familie Markham beschwert sich beispielsweise Gilberts Schwester Rose

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»The Power of Love«

darüber, ihre Bedürfnisse immer denen der Männer unterordnen zu müssen. Gilbert betont daraufhin, dass dies nicht seiner Vorstellung einer glücklichen Ehe entspreche, indem er seinen Schwager, den Adressaten seiner Erzählung, fragt: »Is it so Halford? Is that the extent of your domestic virtues; and does your happy wife exact no more?« (TWH, 50, Hervorh. i.O.; siehe auch Kapitel 3) Helen weigert sich also, sich ihrem Ehemann zu unterwerfen und die Rolle des häuslichen Engels zu spielen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht stets bereit wäre, sich ihm aufzuopfern. Schon vor ihrer Hochzeit legitimiert sie ihre Wahl unter anderem damit, dass sie Huntingdon – im religiösen Sinn – retten will: »[...] If he has done amiss, I shall consider my life well spent in saving him from the consequences of his early errors, and striving to recall him to the path of virtue. – God grant me success!« (TWH, 128)

Darin steckt einerseits die vom Christentum idealisierte Bereitschaft, sich für andere Menschen aufzuopfern. Helen ist zutiefst religiös und vertritt die Auffassung, dass alle Menschen, nach einer (ihren Sünden entsprechenden) im Fegefeuer verbüßten Zeit, Aufnahme ins Paradies fänden (vgl. TWH, 150), eine zum Entstehungszeitpunkt des Romans unkonventionelle theologische Position, die oft als »Universalismus« bezeichnet wird (wegen der darin vertretenen Doktrin der »universal salvation«) (vgl. E. Jay 1979, 82 ff.). Marianne Thormählen betont, wie wichtig diese Frage in der viktorianischen Zeit für viele Menschen war: To an age as intensely concerned with eschatology as the Victorian, no query was more pressing than »Who shall be saved?«. [...] The orthodox position, articulated by such churchmen as Isaac Watts, John Buckworth, and G.W. Woodhouse, [...] was clear: the wicked were destined for everlasting torment in Hell. (Thormählen 1993, 838)49

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Helen entwirft sich also vor allem zu Beginn ihrer Ehe in der Rolle der religiösen Erretterin ihres abtrünnigen Ehemannes. McMaster beschreibt die Problematik dieser Rolle: At the outset, however, Helen is prepared to enter with zeal into her role as the good angel, the woman specializing in goodness. It is her hubris, her special arrogance, to suppose that she can be good enough for two, reform the rake, and save the sinner’s soul. She is too womanly [...]. It is the insiduous temptation to play saint [...] (McMaster 1982, 255)

Bis zu einem gewissen Grad wird Helen also nicht lediglich von Huntingdon in die Rolle der passiven und aufopfernden Frau gedrängt, sie gefällt sich vielmehr selbst als Engel oder Heilige. Darin zeigt sich ein Aspekt der 49

Im Folgenden geht Thormählen näher auf die theologischen Debatten ein, die sich zu Brontës Zeit rund um die Frage der ewigen Verdammnis bzw. des Heilsuniversalismus entsponnen (vgl. Thormählen 1993, 839 f.), doch für meine Zwecke würde das hier zu weit führen.

Begehren und begehrt werden

Unterwerfung, auf den Lynda Nead hinweist: »The pleasure of self-sacrifice and notions of fulfilment were central in debates on woman’s mission during the period« (Nead 1988, 24). In Helens Figur kommt demnach eine als spezifisch weiblich charakterisierte Aufopferungsbereitschaft zum Tragen. Das wird in der weiter oben bereits zitierten Passage deutlich, in der Helen ihre Enttäuschung darüber äußert, dass Huntingdon, wie es scheint, Annabella den Vorzug gegenüber ihr geben wird: But it is not my loss, nor her triumph that I deplore so greatly as the wreck of my fond hopes for his advantage, and her unworthiness of his affection, and the injury he will do himself by trusting his happiness to her. She does not love him: she thinks only of herself. She cannot appreciate the good that is in him: she will neither see it, nor value it, nor cherish it. She will neither deplore his faults nor attempt their amendment, but rather aggravate them by her own. (TWH, 138, Hervorh. i.O.)

Selbst Helens eigene Gefühle enttäuschter Liebe werden ihrem Projekt untergeordnet, sich für Huntingdons moralische Entwicklung einzusetzen. Helen zeigt sich nicht eifersüchtig auf Annabella, vielmehr spricht sie ihr die Fähigkeit und den Willen ab, zu Huntingdons Rettung beizutragen. An diesem Willen zur Aufopferung wird die Echtheit und Tiefe der Liebe gemessen. Die Parallelität der beiden kurzen Sätze »she does not love him« und »she thinks only of herself« drückt gleichzeitig auch ihre Zirkularität aus. Der dazwischen gesetzte Doppelpunkt lässt die genaue Beziehung zwischen diesen beiden Sachverhalten offen und erlaubt damit die Ableitung jedes Satzes aus dem jeweils anderen. Anders als Annabella stellt Helen gerade mit ihrer Selbstlosigkeit das Ausmaß ihrer Liebe unter Beweis. Wahre weibliche Liebe wird demnach mit der Fähigkeit und der Bereitschaft zur Aufopferung für das Wohl des Mannes verknüpft, allerdings auf spiritueller anstatt auf praktisch-häuslicher Ebene. In dieser Hinsicht erscheint selbst Helens Weigerung, Huntingdon bedingungslos zu gehorchen und ausschließlich auf seinen Komfort zu achten, als Teil der religiösmoralischen Pflicht, für seine Erlösung zu sorgen. Dieses Pflichtgefühl bietet den Hintergrund für Helens Widerstand gegen Arthurs Forderung nach Gehorsam, denn er beschwert sich gerade über ihre Versuche, ihn zu Mäßigung und Selbstdisziplin zu erziehen. Es sind nie ihre eigenen Wünsche oder Bedürfnisse, die Helen ins Feld führt, wenn sie sich gegen Huntingdon auflehnt, sondern immer eine religiös unterfütterte Moral oder eine daraus abgeleitete Pflicht, an die sie sich – auch affektiv – gebunden fühlt. Als Huntingdon erkrankt, kehrt sie, ohne einen Moment zu zögern, zu ihm zurück, um ihn zu pflegen, und beweist damit einmal mehr ihre Überlegenheit gegenüber Huntingdons Liebhaberinnen: »I am come to take care of you, and do what none of them would do.« (TWH, 362, Hervorh. i.O.)

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»The Power of Love«

Die Entscheidung, zu ihrem verhassten Ehemann zurückzukehren, wird als ihr eigener Wille dargestellt. Auf Markhams entsetzte Frage, wer Helen zur Rückkehr gezwungen oder überredet habe, antwortet ihr Bruder, Mr. Lawrence: »Nothing persuaded her but her own sense of duty.« (TWH, 359) Pflicht und Moral werden damit zu einer inneren Notwendigkeit stilisiert. Sie erscheinen nicht mehr als von der Gesellschaft auferlegte Normen, sondern als individuelle moralische Gewissheiten. Das konkrete Resultat ist jedoch dasselbe: Die Frau opfert sich für den Mann auf, selbst nachdem sie es endlich geschafft hat, ihn zu verlassen. Sie ist selbst bereit, ihr Leben für ihn zu geben: »I would give my life to save you, if I might.« (TWH, 377) Auch wenn Helen in diesem Sinn nicht ihr Leben opfern muss, so stellt sie doch ihr eigenes Leben immer wieder zurück, um diese Pflicht zu erfüllen, die in der Aufopferung für andere, allen voran ihren Ehemann50 , besteht: »I have sacrificed my own feelings, and all the little earthly comfort that was left me« (TWH, 365). Oder: »I [...] give up my convenience to his, wherever it may reasonably be done« (TWH, 272). Diese Art der Pflichterfüllung, die in The Tenant of Wildfell Hall so zentral ist, ist in The Small House at Allington weniger präsent. Aber auch hier gibt es deutliche Spuren davon. Auch bei Lily wird Liebe mit Dienen oder mit Gehorsam in Verbindung gebracht. Nach ihrer Verlobung fasst Lily ähnliche Vorsätze wie Helen in Bezug auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau: And she also [...] thought much of their mutual vows. How true she would be to them! How she would be his wife with all her heart and spirit! It was not only that she would love him; – but in her love she would serve him to her utmost; serve him as regarded this world, and if possible as regarded the next. (SHA, 191)

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Auch hier wird die Unterwerfung wieder als Ausdruck der Größe der empfundenen Liebe dargestellt und zusätzlich religiös unterfüttert. Weil aber die Figur der Lily sich ansonsten, anders als Helen, nicht durch besondere Religiosität auszeichnet und Religion überhaupt in The Small House at Allington eine wesentlich geringere Rolle spielt, liegt die Vermutung nahe, dass die Berufung auf die christliche Aufopferung für das Seelenheil des geliebten Menschen in erster Linie dazu dient, die Geste der Aufopferung selbst zu überhöhen; aber auch, ihr zusätzliche spirituelle Legitimation zu verleihen. Konkret äußert sich Lilys Wunsch, Crosbie zu dienen, nämlich 50

Helen betont zwar, dass sie sich ihrem Sohn mehr verpflichtet fühlt, aber da die Sorge um den Sohn nicht so diametral ihren eigenen Bedürfnissen entgegengesetzt ist, dient der Verweis auf diese »höhere Pflicht« (vgl. TWH, 369) eher der Legitimation ihrer als notwendig dargestellten Verstöße gegen gesellschaftliche Konventionen. Um ihren Sohn kümmert sich Helen, aber sie opfert sich nicht für ihn auf. Allerdings wird sie durch die (hier nur am Rande gestreiften) Debatten rund um Kindererziehung und Sorgerecht von der Frau zur Mutter gemacht. Damit geht, so die These von Laura Berry, die Verschiebung des Zentrums des Romans vom »romantic couple« zur Thematik der »custody« einher (L. Berry 1996).

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vor allem in klassisch weiblich konnotierten Tätigkeiten, denn Lily beginnt mit der Produktion von »all manner of household gear« (SHA, 219). Darin sieht sie die Verwirklichung ihrer Vorsätze: »She had declared that she wanted to do something for her future husband, and she would begin that something at once.« (SHA, 219) Die traditionelle weibliche häusliche Rolle wird dabei idealisiert. Lily sagt zu Crosbie, sie wünsche sich nichts mehr als ihm zu dienen, oder, anders gesagt, seinen Haushalt zu führen: »[...] To be of use to you, – to work for you, – to do something for you that may have in it some sober, earnest purport of usefulness; – that is what I want above all things. I want to be with you at once that I may be of service to you. Would that you and I were alone together, that I might do everything for you. I sometimes think that a very poor man’s wife is the happiest, because she does do everything.« (SHA, 161)

Lily will sich nützlich machen, will für Crosbie arbeiten. Die hier evozierten Haushaltstätigkeiten51 werden aber nicht nur als nützlich (oder gar als notwendiges Übel), sondern vielmehr als Glück bringend definiert. Gleichzeitig erscheinen sie als Ausdruck von Lilys Liebe für Crosbie. Lily geht sogar so weit, sich Armut und damit mehr von ihr selbst verübte Haushaltstätigkeiten zu wünschen, um ihrer Bereitschaft zur Aufopferung und damit ihrer Liebe zu Crosbie noch größeren Ausdruck zu verleihen. Auch hier misst sich weibliche Liebe an ihrer Selbstlosigkeit und der daraus resultierenden Bereitschaft, dem Mann zu dienen. Diese Bereitschaft wird legitimiert, indem sie als Ausdruck des freien Willens der Frau und Ergebnis ihrer individuell empfundenen Liebe definiert wird, aber im Endergebnis ist kein wirklicher Unterschied zu der (explizit verworfenen) Rolle des »angel in the house« zu erkennen. Als Phantasie enthält dieses Bild weiblicher Aufopferung darüber hinaus eine Dynamik erotischer Unterwerfung. Darauf weist Markwick hin: »Trollope, at times, can make the implicit sado-masochism of the subservient position sound erotic.« (Markwick 1997, 132) Als Beleg für diese These führt sie die folgende Szene aus The Small House at Allington an, in der Crosbie von einer Hochzeitsreise mit Lily phantasiert: »She would have knelt at his feet on the floor of the carriage, and, looking up into his face, 51

Es ist dabei durchaus relevant, dass die Tätigkeiten selbst nicht genau benannt werden und somit vage bleiben. Auf diese Weise kann ein Ethos der Nützlichkeit aufgerufen (vgl. dazu Kapitel 4.1) und im Weiblichkeitsideal verankert werden, ohne die Hausarbeit jedoch als Arbeit sichtbar werden zu lassen – mit ihren Konnotationen von körperlicher Anstrengung und Schmutz, die für die working class stehen. Young führt aus, dass die Unterscheidung zwischen »sauberer« und »schmutziger« Arbeit zentral für die Abgrenzung der lower middle class gegenüber der Arbeiterklasse war (vgl. Young 1999, 10). Auf den Aspekt der Sauberkeit in diesem idealisierten Bild weiblicher domesticity komme ich später zurück.

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»The Power of Love«

would have promised him to do her best, – her best, – her very best.« (SHA, 496) Markwick sieht in diesen erotisch aufgeladenen Bildern sexueller Hierarchie die Aufführung eines Rollenspiels: »they play out the fantasy of slave and master, prisoner and gaoler, victor and vanquished« (Markwick 1997, 132).52 Allerdings, so schränkt sie gleich darauf ein, sei dies nur zwischen gleichberechtigten Partnern möglich: »between players where there is the respect to ensure that neither partner takes advantage of their position in the game« (Markwick 1997, 132 ff.). Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob diese Hierarchiefreiheit angesichts der rechtlich abgesicherten männlichen Dominanz in der Ehe und der Disziplinierung von Frauen durch das Gebot der sexuellen Reinheit zur Entstehungszeit der Romane überhaupt im Bereich des Möglichen war. In Markwicks Formulierung vom gegenseitigen Respekt schwingt vielmehr die viktorianische Idealvorstellung von der Liebe als demokratisierender Macht mit, die, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, selbst zur Verschleierung der realen Machtverhältnisse beiträgt. In einer Hinsicht weist Markwick aber auf einen wichtigen Punkt hin: Die weibliche Bereitschaft zu Selbstaufgabe und Unterwerfung wird nicht nur idealisiert, sondern auch erotisiert. Auch die erotisierte Unterwerfung wird als Ausdruck der Liebe und des freien Willens dargestellt und dadurch legitimiert – und trägt so zur Fixierung der traditionellen weiblichen Rolle als begehrenswert bei. Individuelle Liebe in der heteronormativen Teleologie

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Wir haben gesehen, dass die Heldinnen darauf bestehen, ihren Ehemann selbst und aus Liebe zu wählen, und dass damit die Reklamation eines eigenständigen und aktiven Begehrens einhergeht. Vor allem Lily wendet sich dabei in verschiedener Hinsicht gegen gesellschaftliche Konventionen: Zuerst, indem sie nach ihrer Verlobung jede Zurückhaltung im Ausdruck ihres Begehrens verweigert, und dann, indem sie nach Abbruch der Verlobung an ihrer Liebe festhält. Damit stellt sie ihr individuelles Gefühl und Moralempfinden über als oberflächlich markierte soziale Normen. Aus der Perspektive der Figur stellt ihre Weigerung, sich auf eine neue Liebe einzulassen, einen Widerstand gegen die zwingende Teleologie der Ehe dar. Sie stellt die von den anderen Figuren vertretene Ansicht in Frage, dass eine Frau nur in der Ehe ihr Glück finden könne53 : »She told herself that the 52 53

Elizabeth Berry konstatiert in ähnlicher Weise die »sadomasochistische« Dimension des »angel in the house« (E. Berry 1994, 115). Vgl. insbesondere wiederholte Aussagen der Mutter, etwa: »I think that it [die Ehe, J.C.] is the only lot which can give to a woman perfect content and satisfaction.« (SHA, 292); oder, in Bezug auf die Aussicht, Lily könnte unverheiratet bleiben: »might not Lily’s life be blank, lonely, and loveless to the end?« (SHA, 624) Aber auch andere Figuren, vor allem der älteren Generation (Squire Dale, Lord De

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world was not over for her because her sweet hopes had been frustrated.« (SHA, 538) Sie besteht darauf, dass sie deswegen nicht ihr Leben lang unglücklich sein müsse: But though no recovery, as she herself believed, was possible for her – though she was as a man whose right arm had been taken from him in battle, still all the world had not gone with that right arm. The bullet which had maimed her sorely had not touched her life, and she scorned to go about the world complaining either by word or look of the injury she had received. »Wives when they have lost their husbands still eat and laugh,« she said to herself, »and he is not dead like that.« So she resolved that she would be happy, and I here declare that she not only seemed to carry out her resolution, but that she did carry it out in very truth. (SHA, 664 f.)

Allerdings ist dieses ehelose Glück, das Lily in einer Art Partnerinnenschaft mit der Mutter verwirklichen möchte54 , immer nur als Ersatz für das eigentliche, echte Glück konzipiert, das nur die in der Ehe auf Dauer gestellte Liebe bringen kann. Der Roman verweigert zwar das Umkippen in die andere genretypische Teleologie, die zum Tod der Heldin aus enttäuschter Liebe oder verlorener Unschuld führen würde55 , aber der Vergleich von Lily mit einem verwundeten Kriegsveteranen zeigt deutlich, dass eine vollständige »Genesung« auch auf psychischer Ebene nicht möglich ist. Dazu kommt, dass die Liebe, bzw. die Treue zu ihrer Liebe, Lily gleichzeitig in der teleologischen Struktur der Ehe gefangen hält, auch wenn der vorgesehene Verlauf einen Bruch erlitten hat. Wie wir gesehen haben, erscheint sie am Ende immer noch als Braut, auch wenn es nicht ihre Hochzeit ist; und sie konzipiert ihr Leben nach dem Bruch ebenfalls in den Begriffen dieser Teleologie, wenn sie sich, wie an der soeben zitierten Stelle, mit Frauen vergleicht, deren Ehemänner gestorben sind. Als Witwe bezeichnet sie sich mehrmals und betont damit den Bruch, den die vorhergesehene Teleologie erlitten hat, aber gleichzeitig auch ihre Gültigkeit: I cannot be the girl I was before he came here. There are things that will not have themselves buried and put out of sight, as though they had never been. I am as you are, mamma, – widowed. (SHA, 630 f.)

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Guest, Lady Julia De Guest) formulieren immer wieder eine solche Überzeugung oder handeln danach. »When Bell is married I shall consider it a partnership [...]« (SHA, 333) Sehr deutlich wird das in Kapitel 31, das mit »The Wounded Fawn« (SHA, 332) übertitelt ist. Lily wird darin als »a fawn wounded almost to death« (SHA, 332) beschrieben – aber eben nur beinahe. Der Plotverlauf, der Heldinnen an Liebeskummer sterben lässt, scheint der Vergangenheit anzugehören, oder auch dem Bereich des Fiktionalen: »Mrs. Dale and Bell were frightened, and looked into each other’s blank faces, remembering stories of poor broken-hearted girls who had died because their loves had been unfortunate, – as small wax tapers whose lights are quenched if a breath of wind blows upon them too strongly. But then Lily was in truth no such slight taper as that.« (SHA, 332 f., meine Hervorh.) Zum konventionalisierten Ende der Liebesgeschichte in der Verheiratung oder im Tod der Heldin vgl. allgemein DuPlessis 1985.

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»The Power of Love«

An anderen Stellen belegt sich Lily selbst mit dem Begriff »old maid«, alte Jungfer. Nachdem sie sich von dem ersten Schock der abgebrochenen Verlobung erholt hat, beschwört sie ihre Mutter, sie solle ihrer nie überdrüssig werden: »You must promise never to be tired of me, mamma,« said Lily. »Mothers do not often get tired of their children, whatever the children may do of their mothers.« »I’m not so sure of that when the children turn out old maids. [...]« (SHA, 333)

Lily ist die ewige Braut, die Witwe oder die alte Jungfer, und diese Begriffe erscheinen hier beinahe austauschbar. Sie ist gleichzeitig älter und jünger als sie es tatsächlich ist, so Gilead: »Lily rejects time itself by becoming both ›older‹ and ›younger‹ than she really is. She becomes ›older‹ in becoming a spinster like Julia De Guest, or ›widowed‹ like Mrs. Dale; she becomes their equal, their sister, finished, like them, with generational life and with sexual possibilities. She becomes ›young‹ in becoming a perpetual ›child‹ to her mother.« (Gilead 1985, 101) Das legt den Schluss nahe, dass Lilys Position in der ehelichen Teleologie nicht mehr klar ist, dass sie aber so weit daran gebunden bleibt, dass immer wieder der (zum Scheitern verurteilte) Versuch ihrer Einordnung unternommen werden muss. Es zeigt aber auch, wie sehr die für Frauen zur Verfügung stehenden intelligiblen Identitäten an eine Teleologie der heterosexuellen Heirat und Reproduktion gebunden sind. All die Rollen, die Gilead aufzählt, sind immer in Relation zu und in Abhängigkeit von anderen definiert. Lily verwirft nicht die »Zeit« an sich, sondern die normative Abfolge der verschiedenen weiblichen Rollen, und aus der Spannung zwischen »vorgesehenem« und »echtem« Alter sowie Reihenfolge ergibt sich erst die terminologische Ambivalenz.56

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Gilead hingegen schreibt in ihrer Gleichsetzung von Zeit mit der normativ vorgesehenen Abfolge von Lebensphasen die heteronormative Teleologie fort. Damit steht sie nicht alleine, denn diese Tendenz ist in Analysen des Romans oft zu finden. Unmittelbar vor dem oben zitierten Satz heißt es bei Gilead noch deutlicher: »Lily [...] never reenters the ordinary world of change, risk, marriage, birth, and time [...]. Her physical invalidism becomes permanent emotional invalidism and is [...] a denial of [...] the process of growth to female adulthood.« (Gilead 1985, 101) Bei Polhemus klingt das ganz ähnlich, wenn er seine Analyse von The Small House resümiert: »To harden love into a selfish, private dogma, as Lily and others do, to make it an otherworldly ideal which has nothing to do with another person or the realities of life, is to be on the side of infertility and – finally – death.« (Polhemus 1968, 98) Die einzige Entwicklung, die in dieser Sichtweise für Lily möglich und denkbar ist, ist eine neue Liebe, die in die Ehe mündet. Das »fehlende« Happy End wird dabei nicht in seiner narrativen Funktion analysiert, sondern als psychologischer Defekt oder Fehler der Figur. Polhemus wird für diesen »false standard of psychological health« von Weissmann kritisiert (Weissmann 1977, 25, Fn. 5). Aber diese Art der Psychologisierung und sogar Pathologisierung der Figur ist in der Sekundärliteratur fast allgegenwärtig (siehe Einleitung).

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Die Figur der old maid bekräftigt die Unausweichlichkeit der Ehe zusätzlich. Sie ist die unattraktive Grenzfigur, deren Rolle niemand haben will. In The Tenant of Wildfell Hall erklärt Esther, Milicent Hargraves 19jährige Schwester, »oldmaidenhood« für gleichbedeutend mit dem Tod (oder zumindest dem Verlust jeglichen Lebenssinns). Helen will sie vor den Gefahren der Ehe warnen: »[...] Marriage may change your circumstances for the better, but in my private opinion, it is far more likely to produce a contrary result.« [Esther:] »So thinks Milicent, but allow me to say, I think otherwise. If I thought myself doomed to oldmaidenhood, I should cease to value my life. [...]« (TWH, 318, Hervorh. i.O.)

Das hat allerdings viel mit der sozioökonomischen Situation unverheirateter bürgerlicher Frauen zu tun, die über kein eigenes Vermögen verfügen und kaum die Möglichkeit haben, sich ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Esther sieht das deutlich, wenn sie beschreibt, dass sie, solange sie nicht heiratet, von ihrer Mutter als Last empfunden werde: »Mamma does all she can,« said she, »to make me feel myself a burden and incumbrance to the family, and the most ungrateful, selfish, and undutiful daughter that ever was born [...].« (TWH, 370)

Die Ehe wird nicht nur als einzig mögliches Glück und individuelle Erfüllung für Frauen positioniert, sondern auch als ihre Pflicht gegenüber ihrer Familie – und oft, rein materiell gesehen, als die einzige Option.57 In diesem Sinn bezeichnet Polhemus Lilys Entscheidung, nicht zu heiraten, nicht ganz zu Unrecht als Luxus: »Lily can choose to remain single because her uncle agrees to support her, but Amelia’s poverty means she must marry or be exploited.« (Polhemus 1968, 95) Gerade an der Figur der Esther demonstriert The Tenant die Mechanismen, die Frauen zu Waren auf dem Heiratsmarkt machen, wie es Lee Talley beschreibt: Tenant thus explores how women are educated with the goal of marriage – not intellectual knowledge or spiritual growth – in mind. Furthermore, the marriage market works to narrow the parameters of acceptable feminine behavior. (Talley 2001, 143)

Der Roman kann – unter dem Postulat des Liebesdiskurses – solche Verhältnisse zwar aufzeigen und kritisieren, muss die Heldinnen und alle anderen SympathieträgerInnen es jedoch vehement ablehnen lassen, andere 57

Das muss unter anderem vor dem Hintergrund der Debatte um »redundant women« gesehen werden, die sich an Zensusergebnissen entzündete, die einen »Frauenüberschuss« aufzeigten (vgl. Flint 2011, 103 f.; Poovey 1988, 1 f.; Morse 1987, 3). Mark Turner weist auf die Ängste hin, die diese Fragen mit sich brachten: »It is likely that a reader would have connected the detailing of Lily’s waste with the public discourse on the Woman Question, which helps explain readers’ anxiety in wishing to marry off Lily Dale.« (Turner 2000, 22)

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»The Power of Love«

Entscheidungsgrundlagen als die Liebe anzuerkennen. Die Unausweichlichkeit der Ehe wird diskursiv eher durch die vollkommene Unattraktivität der mit dem Label »old maid« belegten Figuren untermauert als durch die Darstellung der ökonomischen Verhältnisse. In The Tenant of Wildfell Hall ist es Jane Wilson, die als alte Jungfer endet, wie wir bereits gesehen haben: [...] she lived, and still lives, I suppose, in a kind of closefisted, cold, uncomfortable gentility, doing no good to others and but little to herself; spending her days in fancy-work and scandal; [...] seeing as much company as she can without too much expense, but loving no one and beloved by none – a cold-hearted, supercilious, keenly, insidiously censorious old maid. (TWH, 372)

»Old maid« wird hier als Schimpfwort eingesetzt. Es setzt der Reihe unerwünschter und unsympathischer Attribute, mit denen Jane belegt wird – kaltherzig, hochnäsig, scharf, heimtückisch, überkritisch – gewissermaßen die Krone auf und wird dadurch zum Symbol für all diese negativen Eigenschaften. Ein Leben ohne Ehe, diese Ansicht wird, wie wir gesehen haben, auch in The Small House at Allington von der Mutter vertreten, kann für eine Frau nur glücklos, freudlos, leer sein, und all dies verkörpert die Figur der old maid, die wie eine Art Gespenst an den Rändern des Liebesdiskurses lauert und die Position der Ehe als einzig denkbaren Telos befestigt.58 Im Fall von The Tenant wird die scheinbare Natürlichkeit und Notwendigkeit der Ehe selbstverständlich auch durch das Happy End untermauert und reproduziert, auch wenn Langland auf die Ambivalenz dieses Endes hinweist: [...] many critics have been dissatisfied with women’s novels that must, it appears, conclude with the traditional wedding bells reaffirming the status quo. To what extent, we must ask, does Brontë elude that resolution in The Tenant of Wildfell Hall? Clearly we hear wedding bells, but the status quo is destabilized by certain subversive tendencies in the narrative. (Langland 1992, 121)

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Langland betont die Unterwürfigkeit, die Markham an den Tag legt, als er Helen endlich wiedersieht (TWH, 405 ff.), und dass es Helen ist, die mit Hilfe der Metapher der Winterrose ihr Begehren zum Ausdruck bringt (TWH, 411 f.). Auf der anderen Seite jedoch kann die Erzählsituation selbst, wie wir in Kapitel 4.1 gesehen haben, als Markhams Inbesitznahme von Helen und als damit einhergehende Enteignung ihres eigenen 58

Allerdings gibt es in der (queer-)feministischen Forschung auch Ansätze, die die gegenteilige These vertreten. Für Carolyn Dever beispielsweise ist die old maid eine grenzüberschreitende und subversive Figur, die durch ihre Position außerhalb des Heiratsmarktes die Kategorien sexueller Identität durcheinanderbringt: »[She] wields a strange form of sexual power in Victorian novels« (Dever 2005, 166). Genauso wie die am Altar verlassene Miss Havisham aus Great Expectations mache Lily, so Dever, die spinsterhood zu ihrer »sexual role« und bewirke damit nicht nur einen Bruch in den sozialen, sondern auch in den narrativen Konventionen (Dever 2005, 167). Für mich bewegt sich die old maid in einem ambivalenten Raum, der sich letztendlich nicht mit Hilfe der Dichotomie affirmativ/ subversiv strukturieren lässt.

Begehren und begehrt werden

(Tagebuch-)Textes gelesen werden. Markham erlangt damit – wie zuvor Huntingdon, wenn auch anders – die Definitionsmacht über Helen, so Gordon: Figuratively speaking, Gilbert Markham must get hold of all her writings – diary as well as letters – because only then can the unfinished, mediated status that always threatens to turn her life into gossip be put to an end. [...] And in fact, as soon as Gilbert Markham’s frame encloses all the other more subversive varieties of discourse, he marries Helen and the community’s gossip vanishes. (Gordon 1984, 734)

Schon zu Beginn seiner Erzählung versucht Markham, sich als Helens edler Ritter zu inszenieren und sie damit in die traditionelle Narration einzuschreiben: »Gilbert’s story strives to become that narrative as he [...] begins to write himself into the narrative as the rescuing figure of the maligned and misunderstood lady.« (Langland 1992, 114) Allerdings kann diese Erzählung nur in beschränktem Umfang narrative Autorität beanspruchen, denn Markham erscheint vor allem im ersten Teil als unzuverlässiger Erzähler (siehe Kapitel 4.1). Letztendlich muss die Frage nach der Subversion, wie so oft, unbeantwortet bleiben. Klar ist jedoch, dass auch The Tenant of Wildfell Hall keine wirklichen Alternativen zur heteronormativen Teleologie aufzeigt. Um die Argumentation dieses Abschnitts zusammenzufassen: Ähnlich wie die Figur der old maid übernimmt die sexuelle Tugend eine Befestigungs- und Grenzziehungsfunktion. Wir haben bereits gesehen, wie auf diesem Feld eine absolute Grenze errichtet wird, deren Überschreitung unweigerlich mit dem Tod der betreffenden Nebenfigur bestraft wird. Aber auch die Heldinnen bewegen sich beständig im Spannungsfeld zwischen individueller Leidenschaftlichkeit und gesellschaftlichen Sexualnormen. Gerade indem die Romane die Gültigkeit des inkorporierten Moralempfindens der Heldinnen über die der Konventionen stellt, porträtieren sie sie doch immer in Abhängigkeit von diesen Konventionen. Denn auch ihre »Individualität« ist, wie wir gesehen haben, immer Regulierungen unterworfen. Helen, das wurde bereits erwähnt, wird von der Gemeinschaft in Linden-car als geradezu exzessiv leidenschaftlich wahrgenommen. Was in diesem Kontext jedoch dazu dient, Helen von der langweiligen Konformität der Nachbarschaft abzuheben und ihre Individualität zu betonen, wird ihr in ihrer Tagebucherzählung zum Verhängnis. Für Laura Berry ist das sexuelle Begehren, das Helen für Huntingdon empfindet, im Roman allgegenwärtig: Helen’s sexual desire is apparent, whether it is expressed by way of a certain religious zeal [...], or by the betrayal of her emotions on her body [...], or in the way in which the two continually spar verbally and physically. A powerful physicality defines Helen’s relationship to Arthur Huntingdon; they cannot keep themselves to themselves [...] (L. Berry 1996, 43)

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Betty Jay sieht in Helens Begehren ein Ausloten der Grenzen akzeptabler Weiblichkeit: »From the outset, Helen’s identity as a respectable woman is intimately connected to the question of her body and, more specifically, her ability to regulate desire.« (B. Jay 2000, 51) In ihren vorehelichen Begegnungen mit Huntingdon wird schnell klar, dass Helen ihr Begehren weder zügeln kann noch will und dass die Ermahnungen ihrer Tante keinerlei Effekt zeigen. Ein Beispiel dafür ist der folgende Wortwechsel nach einem »illicit encounter between the two courting figures« (B. Jay 2000, 51), der allerdings inmitten einer dinner party stattfindet. Die Tante ermahnt Helen: »I want you to join the company, when you are fit to be seen, [...] but please to stay here a little till that shocking colour is somewhat abated, and your eyes have recovered something of their natural expression. I should be ashamed for anyone to see you in your present state.« Of course, such a remark had no effect in reducing the »shocking colour;« on the contrary, I felt my face glow with redoubled fires kindled by a complication of emotions, of which indignant, swelling anger was the chief. (TWH, 125)

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Helens Begehren wird vom Roman zwar nicht verurteilt – im Gegenteil, auch in dieser Konstellation erscheint Helens individuelle Leidenschaft wesentlich sympathischer als die steife konventionelle Moral der Tante. Der Fortgang der Geschichte wirft jedoch Zweifel an der Legitimität ihres Begehrens auf, denn als Entscheidungsbasis erweist es sich als unzureichend. Pointiert zugespitzt könnte man sagen, dass Helen für ihre ungezähmte Leidenschaft mit einer zutiefst unglücklichen Ehe bestraft wird. Eine glückliche Ehe hingegen ist ihr erst vergönnt, nachdem sie gelernt hat, ihr Begehren zu regulieren und der rationalen Kontrolle zu unterwerfen. Leidenschaft und Pflichterfüllung werden auf diese Weise in der Figur untrennbar verbunden: Individuelles weibliches Begehren kann nur durch »freiwillige« Unterwerfung und Aufopferung legitimiert werden. Auf eine ähnliche Weise prallen in der paradoxen Situation, in der sich Lily in The Small House befindet, unauflösliche Gegensätze aufeinander. Lily reklamiert für sich ein aktives Begehren, rechtfertigt dies aber, indem sie dieses Begehren so eng an die Teleologie der Ehe kettet, dass sie schließlich darin gefangen bleibt. Ihr aktives Begehren, das sich scheinbar – im Namen des individuellen Gefühls – gegen die Rigidität der herrschenden Sexualmoral behauptet (oder diese zumindest weit auslegt), wird damit wiederum in Begriffen der sexuellen Tugend gefasst. Anca Vlasopolos hat dafür den treffenden Begriff der »obstinate virtue« geprägt (Vlasopolos 2009). Damit erfasst Vlasopolos sehr gut die Spannung zwischen Widerstand und Affirmation, die für die Figur der Lily und für den gesamten Roman konstitutiv ist. Nardin argumentiert, dass Lily zwar selbstbewusst und unkonventionell wirkt, dass aber die Ansichten über Liebe und Ehe, die sie im Roman vertritt und zu leben versucht, höchst konservativ und normgerecht ausfallen. In der Figur der Lily werden auf diese Weise bestimmte Konventionen auf die Spitze getrieben:

Begehren und begehrt werden

Lily attempts to follow the standard code of feminine behavior in courtship, and because she is a strong and intelligent girl, she manages to do so with remarkable consistency. Thus she reveals the nature of that code more clearly than a less dedicated adherent could. (Nardin 1989, 105)

Auf diese Weise demonstriert der Roman die unausweichliche Paradoxie des bürgerlichen Weiblichkeitsideals. Für mich ist Lily damit eine geradezu paradigmatische Verkörperung viktorianischer Weiblichkeit. Denn indem der Roman »Individualität« und »Konvention« immer wieder als dichotome Gegensätze aufbaut, nicht aber seine eigene genretypische teleologische Struktur problematisiert, dienen die affektiv aufgeladenen »individuellen« Haltungen der Heldinnen paradoxerweise in erster Linie der Legitimation und Affirmation des gesellschaftlichen Status quo. Normalisierung der Einzigartigkeit

Aber wie verhält es sich mit der Einzigartigkeit der Heldinnen, die auch in Beschreibungen ihres Äußeren immer wieder positiv hervorgehoben wird, und damit mit der Frage, welche Art von Weiblichkeit als begehrenswert dargestellt wird? Zuallererst fällt auf, dass die weiblichen Figuren wesentlich ausführlicher beschrieben werden als die männlichen, vor allem, was ihr Aussehen betrifft. Während sich die rein physische Beschreibung von Lily und Bell in The Small House at Allington (aus der ich oben nur einen kleinen Teil zitiert habe) über eineinhalb Seiten erstreckt, wird beispielsweise Crosbies Aussehen knapp abgehandelt: »He was a tall, well-looking man, with pleasant eyes and an expressive mouth« (SHA, 14). Diese Beschreibung sagt eigentlich gar nichts, vermittelt jedenfalls kein genaues Bild von Crosbie, sondern stellt nur fest, dass er gutaussehend ist. Für Lily und Bell genügt diese Art der Beschreibung nicht, stellt der Erzähler fest, der über die Schwierigkeiten einer solchen Beschreibung klagt: I wish it could be understood without any description that they were two pretty, fair-haired girls, of whom Bell was the tallest and the prettiest, whereas Lily was almost as pretty as her sister, and perhaps more attractive. (SHA, 53)

Es folgt eine detaillierte Beschreibung, die einzelne Merkmale abhandelt: Größe, Teint, Haare (Farbe und Beschaffenheit), Augen (Farbe und Form), Gesichtsform, Kinn, Zähne, Lippen, Nase. Bereits diese Auflistung zeigt, wie sehr der Körper in diesen Beschreibungen fragmentiert und gleichzeitig zum Objekt gemacht wird. In Bezug auf die weiblichen Figuren scheint die Feststellung, sie sähen gut aus, eben nicht ausreichend zu sein, obwohl selbst in der kurzen ironischen Nichtbeschreibung mit der Nennung der Haarfarbe schon mehr konkrete visuelle Informationen enthalten sind als in der Beschreibung von Crosbie. Aber auch die lange Beschreibung bleibt unbelebt und fügt sich nicht zu einem Bild zusammen, ein Umstand, der laut Lefkovitz durchaus typisch für solche Beschreibungen ist: »Significantly, physical descriptions of beautiful characters often will not visualize.«

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»The Power of Love«

(Lefkovitz 1987, 2, Hervorh. i.O.) Vor allem die Hauptfiguren werden in wesentlich größerem Maß über die Beschreibung ihrer Eigenschaften, ihres Auftretens, ihrer Charakterzüge charakterisiert (wie das Wort schon sagt) als über ihr Aussehen selbst. Die Grenze verschwimmt jedoch, denn »Außen« und »Innen« verweisen zirkulär aufeinander, so Lefkovitz: The language of physical description is weighted language, such that adjectives move easily from the surface of the body to the depths of being: bright eyes may point to a bright mind or intelligence. (Lefkovitz 1987, 10)59

Vor allem aber gibt es laut Lefkovitz eine enge Verbindung zwischen Schönheit, Begehren und den von den Figuren verkörperten Werten: Beauty is created not only through the evocations of description but also through the provocations of desire: beauty is produced within a structure of desire. That which is beautiful is loved and that which is loved is beautiful. [...] Because the hero or heroine also embodies desired virtues, beauty is further reinforced as the ultimate symptom of virtue. The body becomes a repository for those values which characters and readers want to possess. (Lefkovitz 1987, 19 f.)

Schönheit wird also im Rahmen und durch die Dynamik des heterosexuellen Liebesplots produziert. Sie markiert eine Figur als Objekt des Begehrens, sodass die gesamte Charakterisierung dieser Figur einschließlich ihrer Handlungen zum Gesamteindruck ihrer Schönheit beiträgt, während ihre Schönheit umgekehrt als äußerer Ausdruck ihrer »inneren« Qualitäten gelten kann. Das trifft vor allem auf weibliche Schönheit zu. Lefkovitz geht so weit zu sagen, die Leser_innen würden automatisch einen männlichen Blick auf die weiblichen Begehrensobjekte übernehmen: The female body is objectified by its beauty, and the reader, always masculinized as spectator by the text, is made to wish to possess the woman who is beautiful. Physical descriptions, of beauty in particular, enforce the power of male spectatorship. (Lefkovitz 1987, 18)

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Zwar wurde die von Laura Mulvey aufgestellte These vom männlichen Blick des Zuschauers (vgl. Mulvey 1975) seit der Publikation ihres Artikels vielfach diskutiert und in ihrer Homogenität in Frage gestellt (vgl. etwa E. Kaplan 1984, Gottgetreu 1992, Brauerhoch 1990), aber konkret auf die beiden hier analysierten Romane bezogen erweist sie sich als zutreffend.60 59

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Vgl. dazu auch den bereits in 4.1 erwähnten Aufsatz von Michael Riffaterre (Riffaterre 1982), in dem dieser die von Lefkovitz beschriebene Bewegung der Adjektive als Metonymien auffasst und ebenfalls ihre Bedeutung für die subtile Beschreibung und Bewertung der Figuren hervorhebt. Grob vereinfacht stellt Laura Mulvey in ihrem Aufsatz die These auf, dass der Zuschauer im klassischen Hollywoodkino immer analog zu der Perspektive nicht nur des männlichen Protagonisten positioniert wird, sondern auch dazu eingeladen wird, sich mit dem Blick der Kamera zu identifizieren. Dadurch wird der Mann zum Träger des Blicks, während die Frau Objekt der Anschauung und des Begehrens ist und ausschließlich durch ihre »to-be-looked-at-ness« (Mulvey

Begehren und begehrt werden

Nicht nur werden Frauen ausführlicher und fragmentarischer beschrieben, diese Beschreibungen sind immer aus männlicher Perspektive verfasst. In The Tenant of Wildfell Hall ist das eindeutig, denn hier wird die Heldin von dem eindeutig männlich markierten homodiegetischen Erzähler Gilbert Markham beschrieben, während die Seiten, auf denen Helen (vielleicht) zu einer Beschreibung Markhams ansetzt, aus dem Tagebuch herausgerissen wurden, bevor Gilbert es in die Hände bekommt (vgl. TWH, 335).61 Aber auch in The Small House at Allington wird der Erzähler deutlich als männlich markiert, wobei das natürlich nur im Zusammenhang mit dem heteronormativen Kontext gilt, der in den Romanen hegemonial ist (siehe Kapitel 4.1). Der Erzähler macht Lily an einer bereits zitierten Stelle explizit zum privilegierten Objekt des Begehrens und positioniert die Leser_innen auf seiner Seite als begehrende Subjekte: »Lilian Dale, dear Lily Dale – for my reader must know that she is to be very dear, and that my story will be nothing to him if he do not love Lily Dale« (SHA, 14). Wenn Herbert schreibt: »there is no doubt of how fervently Trollope glorifies her« (Herbert 1987, 84), dann hat er damit völlig Recht, nur müsste diese Aussage auf den Erzähler bezogen werden, der sich in seinen Beschreibungen zeigt als »an observer who is manifestly a connoisseur of the tints of ladies’ skin and hair, the modeling of their faces and their bodies, the way they move their limbs« (Herbert 1987, 79). Die Leser_innen werden vom Erzähler, analog zu seiner eigenen Perspektive, in der Position des männlichen Beobachters installiert, dem das weibliche Objekt zur Anschauung dargeboten wird – und als Begehrensobjekt. Wenn die Heldin vom Roman als zentrales Objekt des Begehrens platziert wird, und wenn »Innen« und »Außen« zirkulär aufeinander verweisen, muss genauer in den Blick genommen werden, welche Tugenden der Heldin zugeschrieben und mit ihrer »Schönheit« verknüpft werden. So

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1975, 11) definiert wird. Die Kritik hingegen fragt unter anderem nach der Schaulust der weiblichen Zuschauerin und stellt die Dynamik der Identifikation als einzig mögliches Rezeptionsverhalten in Frage. Mulvey selbst hat viele der Kritikpunkte in ihrem späteren Aufsatz Afterthoughts on »Visual Pleasure and Narrative Cinema« (Mulvey 1981) aufgegriffen. Abgesehen von diesen kontroversen Fragen ist es nicht unproblematisch, die für das Kino (bzw. noch spezifischer, für das klassische Hollywoodkino) aufgestellten Thesen einfach auf Texte zu übertragen, wie es Lefkovitz tut. Ist die Leser_in immer Zuschauer_in? Allerdings springt die von Mulvey beschriebene »to-be-looked-at-ness« auch bei der Beschreibung der Heldinnen ins Auge (um es mit einem Wortspiel auszudrücken). Ich denke daher, dass es sich trotz der Bedenken lohnt, dieser von Lefkovitz gelegten Spur zu folgen. Helen könnte sich natürlich auch selbst beschreiben, aber das passt nicht zu der Form des Tagebuchs. Zudem ist eine solche Selbstbeschreibung der Heldinnen höchst ungewöhnlich, vor allem, wenn es sich um »schöne« Heldinnen handelt. Jane Eyre stellt hier einen sehr interessanten Sonderfall dar, dem ich mich im nächsten Kapitel zuwende.

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kann genauer betrachtet werden, welche Werte in das Weiblichkeitsideal der Romane eingeschrieben sind und welche Naturalisierungen und Normalisierungen in der Charakterisierung der Heldinnen vorgenommen werden. In The Small House at Allington schließt an die fragmentierende Beschreibung von Bells und Lilys Aussehen direkt eine Schilderung ihrer Haltung an. Diese Haltung wird vom Erzähler als das eigentlich Besondere und damit – wie wir gesehen haben – als das eigentlich Begehrenswerte markiert: But there was, perhaps, more in the general impression made by these girls, and in the whole tone of their appearance, than in the absolute loveliness of their features or the grace of their figures. There was about them a dignity of demeanour devoid of all stiffness or pride, and a maidenly modesty which gave itself no airs. In them was always apparent that sense of security which women should receive from an unconscious dependence on their own mingled purity and weakness. [...] Lily, as may, perhaps, have been already seen, could be full of play, but in her play she never so carried herself that any one could forget what was due to her. (SHA, 54)

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Was hier beschrieben und als zentral für die Charakterisierung der Heldin(nen) bezeichnet wird, ist eine idealisierte Vorstellung bürgerlicher Weiblichkeit, die selbst wiederum von moralischen Werten durchzogen ist. Würde, Anmut, Bescheidenheit, Reinheit, aber auch Schwäche62 sind die Elemente, aus denen sich der weibliche bürgerliche Habitus zusammensetzt. Besonders hervorgehoben wird dabei, dass Lilys und Bells Haltungen, genauso wie ihre Bescheidenheit und Unschuld, keiner Anstrengung bedürfen und immer genau das richtige Maß haben. Das kann nur so sein, weil sie nicht bewusst inszeniert werden, also keine Maske, sondern Teil ihres Wesens sind. Das entspricht dem viktorianischen Ideal der artlessness, also der Inszenierungslosigkeit von Weiblichkeit (vgl. Case 1999, 28 ff.), die gewissermaßen den positiven Gegenpol zum Typus der scheming woman bildet, bei der alles Inszenierung und Berechnung ist. Annabella, die deutlichste Vertreterin dieses Typus in The Tenant of Wildfell Hall, wird denn auch an einer Stelle als »the artful minx« (TWH, 67) bezeichnet. Wie Lefkovitz gezeigt hat, beruht der Begriff der artlessness auf einer dichotomen Entgegensetzung von Natur und »art« (Lefkovitz 1987, 25 ff.) – wobei der zweite Begriff schwer zu übersetzen ist, denn in Lefkovitz’ Verwendung scheinen Konnotationen von »Fertigkeit« und »List« gegenüber der Kernbedeutung der »Kunst« zu dominieren (vgl. »art«, Oxford German Dictionary 2004). So wird »Natürlichkeit« zu einem Bestandteil der 62

Indem Schwäche in dieses Bild einbezogen wird, wird dem etablierten Bild der »delicate heroine« Rechnung gezollt. Allerdings werden in der Folge weder Lily noch Bell jemals als schwach beschrieben oder in ihren Handlungen gezeigt. Zur Norm der delicacy siehe Lefkovitz 1987, 157 ff.

Begehren und begehrt werden

Idealvorstellung von Weiblichkeit, und dieser »Natürlichkeit« ist zugleich ein Ideal von verkörperter Bürgerlichkeit eingeschrieben. Das Begehren nach dieser bestimmten Art von Weiblichkeit kann daher nicht getrennt werden von dem Begehren nach einer bestimmten Art von Bürgerlichkeit – einer Bürgerlichkeit, die gerade durch die Vorstellung, sie sei die Summe wesenhafter Eigenschaften und nicht Teil einer erlernten und performativ aufgeführten sozialen Rolle, als Charaktereigenschaft naturalisiert wird.63 Allerdings ist die weibliche artlessness immer auch ein prekärer Zustand. Alison Case arbeitet in ihrer Analyse von Pamela überzeugend heraus, wie sehr die Wahrnehmung der artlessness eine Frage der Perspektive ist. Damit gerät die artlessness und Unschuld der jungfräulichen Heldin wiederum in Verdacht, »bloße« Inszenierung zu sein – und sich in ihr Gegenteil zu verkehren (Case 1999, 22 ff.). Auch Lilys »natürliche« Weiblichkeitsperformance kann inszeniert erscheinen. Nardin etwa beschreibt Lily als »an oh-so-sweet girl, who trips rather than walks, who abases herself in stylized attitudes, and who endlessly describes her devotion in a ›silvery voice‹«. Für sie ist es ein intendierter Effekt, Lilys mädchenhafte Art als Pose erscheinen zu lassen: »The narrator uses calculatedly ambiguous language to describe Lily’s behavior during her engagement; so predictably girlish is Lily that her charm begins to cloy.« (Nardin 1989, 111) Die Textstelle, auf die sich Nardin bezieht, ist tatsächlich sehr interessant, denn sie weist auf die Ambivalenz hin, die der Norm der Natürlichkeit und Inszenierungslosigkeit innewohnt. Lily begrüßt ihren Verlobten (und ihren Cousin) bei deren Ankunft auf der Party mit großer Geste: At last the two heroes came in across the lawn at the drawing-room window; and Lily, as they entered, dropped a low curtsey before them, gently swelling down upon the ground with her light muslin dress, till she looked like some wondrous flower that had bloomed upon the carpet, and putting her two hands, with the backs of her fingers pressed together, on the buckle of her girdle, she said, »We are waiting upon your honours’ kind grace, and feel how much we owe to you for favouring our poor abode.« And then she gently rose up again, smiling, oh, so sweetly, on the man she loved, and the puffings and swellings went out of her muslin. (SHA, 91 f.)

Gilead sieht diesen Knicks, ähnlich wie Nardin, als Aufführung von Lilys jungfräulicher Weiblichkeit: »Lily turns herself into a floral emblem [...]. Receptive, vulnerable, fragile, Lily enacts her readiness to be plucked.« (Gilead 1985, 100, meine Hervorh.) In den Formulierungen von Gilead und Nardin wird deutlich, wie sehr die Bewertung der weiblichen Figuren 63

Vgl. auch die Beschreibung von Mrs. Dale, in der die Bürgerlichkeit sich in den Körper selbst einschreibt und in ihm residiert: »Nor had she any conscious pride in the fact that she was a lady. That she was a lady, inwards and outwards, from the crown of her head to the sole of her feet, in head, in heart, and in mind, a lady by education and a lady by nature, a lady also by birth, in spite of that deficiency respecting her grandfather, I hereby state as a fact« (SHA, 22).

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davon abhängt, ob ihre Unschuld als bewusste Inszenierung gelesen wird. Damit hängt die Frage zusammen, ob sie als solche gelesen werden soll, also die Frage nach der Haltung des Erzählers bzw. der Sympathielenkung des Romans im Allgemeinen. Während Nardin davon überzeugt ist, dass der Erzähler die Inszenierung als Inszenierung sichtbar werden lasse und damit die Figur fragwürdig mache, drückt sich für Herbert, wie wir weiter oben gesehen haben, in der Beschreibung des Erzählers nur Bewunderung für Lily aus. Für ihn ist die ambivalente Rezeption von Lilys Weiblichkeitsinszenierung vielmehr konstitutiv für die Produktion von Attraktivität im Roman: »comedy always makes evident that charm is not the product of personality in any raw natural state, but only of personalities so finely attuned to the nuances of civilized style and decorum as to be able to play upon them with effortless, unconscious expertness« (Herbert 1987, 84). Als Beispiel führt er wiederum Lilys Knicks an: »Lily’s ravishing courtesy, for example, is both spontaneously expressive and an exquisitely stylized gesture at the same time.« (Herbert 1987, 84) Lily inszeniert sich dementsprechend als Blume – zerbrechlich, zart, von einzigartiger Schönheit. Die Tatsache, dass es sich um eine bewusste Inszenierung handelt, müsste Lily eigentlich dem Vorwurf aussetzen, berechnend und unecht zu sein. Weil sie aber in dieser Inszenierung genau den richtigen Ton trifft, also den bürgerlichen Normen entspricht, erscheint ihre Geste spontan und mühelos und identifiziert Lily, quasi durch die Hintertür, als ideale Verkörperung bürgerlich-weiblicher Echtheit. Ihrer Inszenierung haftet damit nicht das negative Attribut der Berechnung an, sondern sie drückt vielmehr auf paradoxe Weise wiederum die Natürlichkeit und artlessness von Lilys Weiblichkeitsperformance aus. Im Gegenteil, das Selbstbewusstsein und der mühelos-sichere Umgang mit bürgerlichen Normen, die sich in ihrer kleinen Aufführung ausdrücken, machen Lily erst zur individuellen – und damit, wie wir gesehen haben, begehrenswerten – Heldin. Die Gleichzeitigkeit von Stärke und Schwäche, von Unschuld und Wissen um die Codes, von Aktivität und Passivität, die in Lilys »natürlicher« Inszenierung sichtbar wird, erscheinen in ihrer paradoxen Verfasstheit geradezu konstitutiv für das bürgerliche Weiblichkeitsideal. Die Idealisierung dieser naturalisierten bürgerlichen Weiblichkeit wird unter anderem für die Abgrenzung nach »unten« (gegenüber dem Kleinbürgertum) und »oben« (gegenüber dem Adel) mobilisiert. In The Small House at Allington wird Amelia Roper, als »typischer« Vertreterin des Kleinbürgertums, pauschal der Zugang zu den »Eigenschaften« der Reinheit, Würde, Anmut und Bescheidenheit abgesprochen, indem ihre Bemühungen, am bürgerlichen Liebesdiskurs teilzuhaben, als zum Scheitern verurteilte Imitation karikiert werden. Auf der anderen Seite wird Alexandrina De Courcy, die Vertreterin des Adels, als allzu gewöhnlich dargestellt. Ihr

Begehren und begehrt werden

fehlt das Besondere, das Lily auszeichnet, genauso wie die naturalisierte Haltung, die dazu führt, dass Lily immer in allem automatisch das richtige Maß trifft. Wenn Crosbie zu sich selbst sagt, dass Lily ein gewisses Etwas fehlt, diskreditiert er sich somit selbst und bestätigt dadurch im Umkehrschluss Lilys Überlegenheit über Alexandrina: [...] after all, though the dear little girl’s [Lilys, J.C.] attractions were very great, he could not but admit to himself that she wanted a something, – a way of holding herself and of speaking, which some people call style. (SHA, 186)

Crosbie erweist sich hier als unfähig, zwischen einem oberflächlichen »style« und Lilys vom Roman viel höher gewerteter »natürlicher« Stilsicherheit zu unterscheiden. Der Roman macht jedoch unmissverständlich deutlich, dass dieser »style«, im Gegensatz zu Lilys »Natürlichkeit«, eine oberflächliche Inszenierung ist, die sich bald als hohl und unecht herausstellt. Deswegen kann Alexandrina, egal wie schön sie ist, nicht begehrenswert sein: Ihr fehlt die inkorporierte Bürgerlichkeit. In The Tenant of Wildfell Hall verhält es sich etwas anders, denn im Hinblick auf Helens genaue Positionierung in der Klassenhierarchie liefert der Roman widersprüchliche Signale, was auch in den stark voneinander differierenden Einschätzungen der Sekundärliteratur sichtbar wird. Während Gwen Hyman die Figur als »the embodiment of the mythical middleclass true women« (Hyman 2008, 458) bezeichnet, betont Betty Jay ihre ambivalente soziale Stellung: »Helen’s enigmatic position within her own family and apparent estrangement from her father suggests, from the outset, a displacement from origins.« (B. Jay 2000, 46) Terry Eagleton hingegen interpretiert Helen als idealtypische Vertreterin des Kleinbürgertums bzw. der petty bourgeoisie: Helen has »rooted principles in favour of a plain, dark, sober style of dress« [TWH, 183]; and in this sense her moral responses have a similar pettybourgeois class-basis. (Eagleton 1975, 132)

Helen, so Eagleton weiter, sei »socially genteel but spiritually not« (Eagleton 1975, 133) – ersteres sei für die Plausibilität des Plots nötig, während der Roman auf moralischer Ebene eher kleinbürgerliche Werte hochhalte. Auf den ersten Blick scheinen Lily und Helen also auf sehr unterschiedliche Weise im Klassensystem verortet zu sein. Bei eingehender Betrachtung weist die von Eagleton aus dem Kontext gerissene Stelle jedoch durchaus Ähnlichkeiten zu The Small House auf. Helen beschreibt in ihrem Tagebuch ihren ersten Aufenthalt in London gemeinsam mit Huntingdon: He seemed bent upon displaying me to his friends and acquaintances in particular, and the public in general, on every possible occasion and to the greatest possible advantage. It was something to feel that he considered me a worthy object of pride; but I paid dear for the gratification, for in the first place, to please him, I had to violate my cherished predilections – my almost rooted principles in favour of a plain, dark, sober style of dress; I must sparkle in costly jewels and deck my-

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self out like a painted butterfly, just as I had, long since, determined I would never do [...] (TWH, 183)

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Helen stellt hier ihre »natürlichen« und bescheidenen Vorlieben einer als künstlich markierten Inszenierung von Weiblichkeit gegenüber, die als reine Oberfläche erscheint. Das Aufrufen der Dichotomie nature versus art dient damit wie in The Small House als Nachweis der Inszenierungslosigkeit von Helens Weiblichkeit – ein zentrales Element der Naturalisierung eines bürgerlichen Habitus, wie wir gesehen haben.64 Dieses bürgerliche Weiblichkeitsideal wird nicht nur naturalisiert, sondern darüber hinaus mit bestimmten Tugenden verknüpft, vor allem mit einer selbstverständlichen Reinheit auf sexueller Ebene. Wir haben schon oben gesehen, dass »Reinheit« (purity) vor allem in The Small House at Allington als zentrales Element der bürgerlichen Haltung beschrieben wird. So ist Lily auch dann über jeden »Verdacht« der sexuellen Grenzüberschreitung erhaben, als sie während ihrer Verlobungszeit ihre Liebe offen zeigt. Selbst Crosbie, der sich insgeheim mehr Zurückhaltung wünscht, erkennt dies: »It was not that he accused her in his thoughts of any want of delicacy. He read her character too well« (SHA, 92). Genauer gesagt, erkennt er, dass die inkorporierte (Sexual-)Moral integraler Bestandteil von Lilys Klassenhabitus ist. Sobald Lily also als Heldin des Romans positioniert und als Idealbild begehrenswerter bürgerlicher Weiblichkeit definiert ist, verkörpert sie automatisch die Norm weiblicher sexueller Reinheit. Allerdings wird diese hier nicht als gesellschaftliche Norm präsentiert, sondern als wesenhafte Eigenschaft von Lily; eine Eigenschaft, die sie zudem als besonders und außergewöhnlich markiert und die damit als individuell erscheint, obwohl sie die ganze Macht der hegemonialen Geschlechter- und Sexualitätsordnung im Rücken hat. Das ist die andere Seite der Verhandlungen rund um weibliches Begehren und Leidenschaftlichkeit, die in den Romanen stattfindet: Jungfräulichkeit, Reinheit, Unschuld werden als Teil bürgerlicher Weiblichkeit naturalisiert und normalisiert. In dieser normalisierten bürgerlichen Weiblichkeit ist auch eine Privilegierung von Jugend eingeschrieben, schon alleine dadurch, dass es sich bei den Heldinnen immer um junge unverheiratete Frauen handelt. Es ist bezeichnend, dass eine unverheiratete Frau als old maid bezeichnet wird, ein Status, in den sie übergeht, wenn sie nicht mehr jung genug ist, um als

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Zudem springt in dem Zitat die Parallele zu Janes vehementer Ablehnung von Rochesters Versuchen, sie während ihrer (ersten) Verlobung mit teuren Kleidern und Schmuck auszustatten, geradezu ins Auge. Um die entsprechende Stelle in Jane Eyre ging es in Kapitel 3. In der Analyse von Jane Eyre in Kapitel 5.2 gehe ich näher auf die Privilegierung von Einfachheit im Kleidungsstil und die damit verbundenen Wertungen ein.

Begehren und begehrt werden

potenzielle Braut zu gelten.65 In The Small House at Allington wird Jugend zusätzlich durch den Erzähler affektiv aufgeladen und begehrenswert gemacht, etwa wenn er mit Bedauern davon spricht, mit Lilys Verlobung seien nun die »sportiveness and kitten-like gambols of girlhood« (SHA, 54) vorbei, oder wenn er urteilt: »Girls should be very young to look nice in light dresses on a frosty morning« (SHA, 491).66 Aber auch mit dem Wert der Häuslichkeit findet eine zentrale Anforderung an den (scheinbar verworfenen) »angel in the house« Eingang in dieses bürgerliche Weiblichkeitsideal. Nach seiner Heirat mit Alexandrina sehnt sich Crosbie nach der Ehe mit Lily, denn er ist überzeugt: Lily would have made the whole house bright with her brightness; that had he brought her home to his hearth, there would have been a sun shining on him every morning and every evening. (SHA, 523)

Wiederum ist es Lilys »Besonderheit«, ihre bürgerliche Weiblichkeit, die gleichsam automatisch die Grundlage eines glücklichen Heims darstellt. Auch hier verschwindet die Struktur, die Frauen auf die Sphäre des Hauses und die Rolle der häuslichen guten Fee festschreibt, hinter einer Naturalisierung, die die Fähigkeit, das Haus zum Strahlen zu bringen, der Außergewöhnlichkeit der Heldin zuschreibt. Dass diese Außergewöhnlichkeit gerne in Bildern des Strahlens, der Helligkeit oder des Lichts beschrieben wird, ist bemerkenswert. Während Lily, wie es schon der Name sagt, in makelloser weißer Schönheit und Reinheit erstrahlt, wird Alexandrina mit Konnotationen des Schmutzigen, Verdorbenen, Befleckten67 bedacht. In dieser Hinsicht ist keinerlei Veränderung oder Entwicklung möglich, denn Lilys Weißsein stellt genauso ihre Essenz dar, wie dieses Weißsein – diese Sauberkeit, Strahlkraft, Reinheit68 – Alexandrina abgeht. So macht der Erzähler auch alle Hoffnungen von Crosbie zunichte, er könne Alexandrina zähmen oder sie erziehen: »he would break her of all that. He would teach her to sit triumphantly in a

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Lisa Niles bringt das auf den Punkt, wenn sie schreibt: »Although men would most likely be considered young at thirty-five, women could be relegated to the beginning of old age in their mid-thirties.« (Niles 2010, 67) Auch hier wird wieder die eindeutig männliche Markierung des Erzählers sichtbar, dessen Schwärmerei für sehr junge leicht bekleidete Mädchen den voyeuristischen Konsum des weiblichen Objekts auf die Spitze treibt. Das englische Wort tainted umfasst diese Bedeutungen sehr gut und hat zudem bereits selbst eine Farbkomponente. Zudem ist es in der viktorianischen Zeit sehr gebräuchlich im Zusammenhang mit moralischen Urteilen. Vgl. bereits den Titel von Amanda Andersons Buch Tainted Souls and Painted Faces. The Rhetoric of Fallenness in Victorian Culture (Anderson 1993). Es ist kein Zufall, dass diese Attribute wie eine Waschmittelwerbung klingen. Anne McClintock hat mit ihrer Analyse von Seifenwerbung im 19. Jahrhundert eindrucksvoll die Verbindungen zwischen domesticity, Kolonialismus und der Produktion einer »zivilisierten« weißen bürgerlichen Norm nachgewiesen (McClintock 1995, 207 ff.).

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street cab« (SHA, 439).69 Gegenüber dieser patriarchalen Hoffnung von Crosbie affirmiert der Erzähler die Wesenhaftigkeit und damit Unveränderlichkeit von Alexandrinas als negativ markierten Charakterzügen: Teach her! – at some age over thirty; and with such careful training as she had already received! [...] Teach her, indeed! Had he yet to learn that he could not wash a blackamoor white? [...] Lily, whom he might have had in his bosom, would have been no blackamoor. (SHA, 439)

Einerseits ist hier zwar die Rede von »training«, also von der Erziehung und Sozialisation, die Alexandrina erfahren hat, andererseits werden diese Erziehungseffekte durch die rassistische Metaphorik essentialisiert. Der Ausdruck »to wash a blackamoor white« ist zwar, ähnlich wie im Deutschen, eine stehende Redewendung mit der übertragenen Bedeutung »das Unmögliche versuchen«. Diese Unmöglichkeit wird jedoch durch ein essentialisiertes Merkmal, die Hautfarbe, symbolisiert und damit rassisiert. Im Gegensatz dazu wird Lily, genauso wie Bell, auch explizit als weiß beschrieben: »the whiteness of their complexion« (SHA, 53). Das gleiche gilt für Helen, deren Hand Gilbert an ihrem Weiß erkennt, obwohl dieses von einem schwarzen Handschuh verdeckt wird: »I knew that hand, though a black glove concealed its delicate whiteness« (TWH, 406). Nicht zuletzt steht der Name Lily, genauso wie die Blume, idealtypisch nicht nur für Weiß, sondern auch für Unschuld und Reinheit.70 Alle diese Begriffe verweisen gegenseitig aufeinander und können jeweils für das andere stehen. Wie Weißsein ist demnach auch Sauberkeit ein Element naturalisierter Bürgerlichkeit, das nicht nur für das Weißsein stehen kann, sondern auch für moralische und sexuelle Reinheit. Bell, die Reichtum und materiellen Komfort für unwichtig und oberflächlich erklärt, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, hebt gleichzeitig die essenzielle Notwendigkeit von Sauberkeit hervor: I’ve always had a sort of aptitude for living in a pigsty; – a clean pigsty, you know, with nice fresh bean straw to lie upon. I think it was a mistake when they made a lady of me. I do, indeed. (SHA, 426)

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Ihr Insistieren auf Sauberkeit stellt sicher, dass sie trotz ihrer Ablehnung bürgerlicher Lebensformen (eine Ablehnung, die sie jedoch nie in die Tat umsetzen muss: das ist bei allen bürgerlichen HeldInnen so, die materiellen Reichtum als unwesentlich abtun) fest im Feld des Bürgerlichen verankert

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Diese Hoffnung ist natürlich für sich genommen bereits auf eklatante Weise Ausdruck der Machtverhältnisse in der Ehe. Das Verb »to break«, den Stolz beugen oder den Willen brechen, wird auch für das Zureiten von Pferden verwendet (vgl. »break«, Oxford German Dictionary 2004). Auch in The Tenant of Wildfell Hall werden die Lilie und die Farbe Weiß in eins gesetzt und als Zeichen äußerster weiblicher desirability markiert, wenn es, wiederum über Helens Hand, heißt: »that lily hand« (TWH, 338).

Begehren und begehrt werden

bleibt. Auch wenn sie selbst gegen ihren Status als Lady protestiert, markiert der Roman sie doch ganz deutlich als solche. In der in diesem Kapitel dargelegten Perspektive sind auch die Individualität und Eigensinnigkeit, die die Figuren entwickeln, integraler Bestandteil eines idealisierten weiblichen Objekts des Begehrens und werden damit als zentrales Element des Weiblichkeitsideals normalisiert, während die unauflöslich damit verknüpfte Bürgerlichkeit universalisiert wird, indem sie zum allgemeinen Zeichen weiblicher desirability avanciert. Diese Universalisierung führt, gemeinsam mit der Normalisierung von Individualität, zur Naturalisierung zentraler bürgerlicher Werte und Normen, unter anderem von weiblicher sexueller Tugend und Häuslichkeit, aber auch zu der Privilegierung von Jugend und zur Festschreibung von Bürgerlichkeit als weiß. Während in den Romanen also einerseits eine explizite Verwerfung von viktorianischen Weiblichkeitsnormen stattfindet, mitunter mit der Geste großer Radikalität, gibt es gleichzeitig die Bewegung einer impliziten Normalisierung und Naturalisierung eines sehr ähnlichen Weiblichkeitsideals. Dass sich Individualität als Kernelement dieses Ideals erwiesen hat, erscheint nur auf den ersten Blick paradox, denn es ist gerade diese Individualität, die die Operationen der Normalisierung, Universalisierung und Naturalisierung unsichtbar macht und damit dem kritischen Zugang entzieht. In gewisser Weise machen die Romane also nichts anderes, als das Bild des »angel in the house« zu aktualisieren und mit Hilfe eines neuen Legitimationszusammenhangs zu reproduzieren. Vor allem aber bleibt der romance plot, und damit die in die Ehe mündende Teleologie der Liebesgeschichte, die einzig mögliche Geschichte für Frauen. Weiblichkeitsideale sind durch diese Teleologie, die Frauen als Begehrensobjekte idealisiert, unauflöslich an die heteronormative Struktur der Ehe gebunden. Anders als die männlichen Figuren, die eine Entwicklung durchlaufen, ja gerade durch diese Arbeit an sich begehrenswert werden, liegt die desirability der Frauen in ihrer »Natur« – oder eben nicht.

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5 . Die eigene Liebe erzählen: Selbstautorisierungsstrategien des erzählenden/liebenden Subjekts Analysen von Jane Eyre und The Woman in White 5.1 Erzählstimme und Subjektivierung: Vorbemerkungen Im vorhergehenden Kapitel haben wir gesehen, wie in der Charakterisierung der Figuren des Liebesplots Geschlecht und Klasse interagieren und damit zur Universalisierung bürgerlicher Werte in dem und durch den Liebesdiskurs beitragen. Der Fokus lag dabei auf der Charakterisierung der Figuren und auf deren narrativer Bewertung. Mit narratologischen Begriffen gesprochen: Im Zentrum der Analyse standen Fragen der Fokalisierung und der damit verbundenen Sympathielenkung. Kaum Beachtung hingegen fand bisher die Ebene der Narration selbst, also Aspekte der Erzählstimme und des narrativen Aktes. Solche und ähnliche Fragen bilden nun den Fokus dieses Kapitels. Jeder der vier Romane, die in meiner Arbeit untersucht werden, weist ein anderes Erzählsetting auf. In The Tenant of Wildfell Hall schreibt Gilbert Markham seine Geschichte in Form eines Briefes an seinen Schwager auf (siehe Kapitel 4.1). In The Woman in White entwirft und dirigiert Walter Hartright ein als Sammlung von ZeugInnenaussagen definiertes Mosaik verschiedener Erzählstimmen. In The Small House at Allington und Jane Eyre gibt es hingegen keinen konkret beschriebenen Erzählanlass, das Setting unterscheidet sich aber aufgrund der Differenz zwischen heterodiegetischer und homodiegetischer Erzählung dennoch stark voneinander. Jede dieser narrativen Situationen rekurriert auf verschiedene Genrekonventionen, wenn auch teilweise auf gemeinsame Konventionen realistischen Erzählens, wie wir in der Folge sehen werden. Für die Analysen dieses Kapitels habe ich zwei Ich-Erzählungen ausgewählt, die jedoch in der Art des Erzählens und in der Legitimierung des Erzählaktes stark voneinander abweichen: Jane Eyre und The Woman in White. Gérard Genette hat darauf hingewiesen, dass der Begriff »IchErzählung« problematisch ist, da – grammatikalisch gesehen – jede

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Erzählung von einem »Ich« erzählt wird, auch wenn diese Instanz nicht von sich als »ich« spricht (Genette 1972, 251 f.). Er führt stattdessen den Begriff »autodiegetisch« ein, um Erzähler_innen zu bezeichnen, die gleichzeitig die Hauptfigur der von ihnen erzählten Geschichte sind (Genette 1972, 252). Wie die folgenden Analysen zeigen werden, sind jedoch die Unterschiede zwischen Walter Hartright und Jane Eyre groß, obwohl sie beide als autodiegetische ErzählerInnen bezeichnet werden können. Wichtiger erscheint es mir daher, das gesamte Setting der Erzählung genau zu beschreiben und zu kontextualisieren, um mich auf diese Weise der Charakterisierung der Erzählstimme und des Erzählens zu nähern. Einige theoretische Vorüberlegungen zur Erzählstimme sind dennoch notwendig, bevor wir in die Analyse einsteigen. Zuallererst ist der Begriff »Erzählstimme« selbst nicht unproblematisch. Zum einen leistet der Begriff wichtige Dienste als Analysekategorie, indem er es möglich macht, den Akt der Narration sowie die Instanz, die diese Narration hervorbringt, präzise zu fassen und ihre Funktionen und Effekte zu beschreiben. Zum anderen schreibt er jedoch eine spezifische – wenn auch sehr mächtige – Konvention realistischen Erzählens fort, so Susan Lanser: »narratives have narrators because Western literature has continued to construct reading and listening in speakerly terms« (Lanser 1992, 4). Problematisch ist daran jedoch nicht nur die »bald inaccuracy of ›voice‹ and ›teller‹ to signify something written« (Lanser 1992, 4)1 , sondern auch die damit einhergehende Tendenz zur Personifizierung und Anthropomorphisierung von Erzählinstanzen. Wenn die Erzählinstanz in erster Linie als (fiktionale) Person beschrieben und interpretiert wird (z.B. in Form einer versuchten »Rekonstruktion« ihrer psychologischen Motive und Intentionen), gerät leicht aus dem Blick, dass es sich dabei um eine spezifische konventionalisierte Lesart handelt. Lanser argumentiert überzeugend, dass diese Vorstellung einer personifizierten, sprechenden und damit individualisierten Erzählinstanz ein zentrales Element des realistischen Romans darstellt. Ob heterodiegetisch oder autodiegetisch, die Erzählinstanz des realistischen Romans wird genau dadurch autorisiert, dass sie als individuelle Stimme entworfen wird (vgl. Lanser 1992, 20 f.). Die Frage ist also, welcher ontologische Status der »Erzählstimme« zugeschrieben werden sollte: textuelle Instanz, Figur, Person, »pseudoauthor«? Letzteres ist ein Begriff, den Alison Case benutzt, um die Besonderheiten autodiegetischen Erzählens hervorzuheben, indem sie auf spezifische Rezeptionskonventionen hinweist:

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Siehe dazu ausführlicher die Überlegungen von Jonathan Culler (Culler 1975, 131 ff.).

Die eigene Liebe erzählen

A reader responds to such a narrator both as a character and as pseudo-author, sometimes becoming conscious of the gap between implied author and narrator, as in moments of »unreliability,« and sometimes merging the two. (Case 1999, 11)

Damit verschiebt Case die Frage nach dem ontologischen Status wiederum auf das Feld der Konventionen. Wir haben gelernt, Erzählstimmen als Figuren wahrzunehmen und als Personen zu interpretieren. Die textuelle Instanz fällt also immer wieder mit ihrer Personalisierung zusammen. In ähnlicher Weise sind wir es gewohnt, wie Case ebenfalls andeutet, die Grenze zwischen Erzähler_innen und Autor_innen verschwimmen zu lassen. Es ist sicherlich Aufgabe der Literaturwissenschaft, immer wieder daran zu erinnern, dass die »Erzählstimme« nicht mehr und nicht weniger ist als eine Ansammlung narrativer Strategien, und die Ebenen, auf denen diese operieren, genau herauszuarbeiten. Dennoch scheint es mir genauso wichtig zu untersuchen, wie die Vorstellung einer personalisierten und individualisierten Erzählstimme im Text entsteht, auf welche historischen Konzeptionen (beispielsweise des Subjektes) sie rekurriert und welche Effekte die unhinterfragte Rezeption der Erzählinstanz als Person mit sich bringt. Für die Analyse der Erzählstimmen bedeutet das, dass es nicht nur darum geht zu beleuchten, wie die Geschichte erzählt wird, sondern auch, wie das Erzählen selbst konzipiert wird und in welchem Zusammenhang es zu modernen Vorstellungen von Individualität steht. Lanser beobachtet im westlichen Roman des 19. Jahrhunderts eine »individualization of narrative« (Lanser 1992, 21) und betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der narratologischen Bearbeitung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Damit legt sie die Vermutung nahe, dass eine Beschäftigung mit dem Erzählakt und mit den Bedeutungen, mit denen das Erzählen belegt wird, Aufschlüsse über die Beschaffenheit moderner souveräner Subjektivität geben kann. Das moderne Subjekt, das sollte bereits deutlich geworden sein, ist ein bürgerliches Subjekt. Damit ist gemeint, dass die Subjektivierungsweisen – die Art und Weise, wie man zu einem Subjekt wird und diesen Subjektstatus immer wieder performativ herstellt – von bürgerlichen Werten und Normen durchzogen sind. Der Blick auf den Erzählakt sollte also Aufschlüsse darüber geben, welche Weisen des Sprechens über sich und die Welt und welche Selbstverhältnisse nötig sind, um zu einem bürgerlichen Subjekt zu werden; und umgekehrt, welche Art des Erzählens das bürgerliche Subjekt ausmacht. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf der erzählerischen Selbstinszenierung als liebendes, geliebtes und nach Liebe suchendes Individuum liegen – beziehungsweise, genauer gesagt, auf der narrativen Konstruktion eines sich selbst im und durch das Erzählen der eigenen Liebesgeschichte entwerfenden Subjekts. Wie muss der Erzähler oder die Erzählerin über

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sich selbst sprechen, um den Leser_innen als begehrenswert zu erscheinen und damit als das legitime Subjekt – die legitime Heldin oder der legitime Held – des Liebesplots gelten zu können? Wie wird er/sie sympathisch oder unsympathisch gemacht? Welche Art des Sprechens und Erzählens muss sie/er generell praktizieren? Wie positioniert er/sie sich innerhalb der narrativen Welt, und wie wird diese Welt einschließlich der darin vorkommenden Figuren beschrieben und bewertet? Wie wird die Glaubwürdigkeit der Erzählerin oder des Erzählers hergestellt oder untergraben? Wie viel Wissen und Kontrolle über die Erzählung wird der Erzählinstanz zugeschrieben? Und wie viel Wissen über die erzählte Welt darf sie haben? Diese letzte Frage ist besonders augenscheinlich, wenn es sich um weibliche Erzählerinnen handelt, weil sie in den Bereich der sexuellen Unschuld (und damit des Unwissens) hineinspielt, die als Norm für bürgerliche Frauen gilt – mit der jedoch durchaus kreativ umgegangen wird, wie in den Analysen deutlich werden wird. Die Liste der Fragen, die sich in der Analyse der Erzählstimme stellen, orientiert sich teilweise an Versuchen, verschiedene Achsen der Zuverlässigkeit zu definieren2 , ein Unterfangen, das durch die in diesem Zusammenhang oft gestellte Frage ausgelöst wurde: »Unreliable, compared to what?« (A. Nünning 2008, 33) Das Problem, das damit benannt wird, ist die vage Definition des Konzepts der erzählerischen Unzuverlässigkeit.3 Diese Unbestimmheit hat zur Folge, dass die Unzuverlässigkeit einer Erzählstimme oft daran festgemacht wird, dass zwischen ihr und der (impliziten) Autor_in des Textes eine Diskrepanz oder ein Bruch sichtbar wird. Damit wird jedoch suggeriert, dass es eine Instanz gibt, die die Kontrolle über die »korrekte« Interpretation des Erzählaktes ausübt – ebenfalls ein problematischer Ausgangspunkt für die Analyse, da damit über die

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Lanser unterscheidet zwischen den Achsen »dissimulation – honesty«, »unreliability – reliability« und »narrative incompetence – narrative skill«, um den Grad der »mimetic authority« der Erzählinstanz zu bestimmen (Lanser 1981, 171). James Phelan hingegen unterscheidet in erster Linie – in Bezug auf die Effekte – zwischen »bonding unreliability« und »estranging unreliability«. Zusätzlich differenziert er unzuverlässiges Erzählen entlang verschiedener kommunikativer Achsen: »the axis of facts and events (where we find misreporting or underreporting), the axis of understanding/perception (where we find misreading or misinterpreting/underreading or underinterpreting) and the axis of values (where we find misregarding or misevaluating/underregarding or underevaluating)« (Phelan 2008, 10). Die Definition geht ursprünglich auf Wayne Booth zurück, wobei er selbst auf die terminologische Unschärfe hinweist: »Our terminology for this kind of distance in narrators is almost hopelessly inadequate. For lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable when he does not.« (Booth 1961, 158 f., Hervorh. i.O.)

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Hintertür oft doch wieder eine übergeordnete Autor_innen-Intention angenommen wird.4 Die von Lanser und James Phelan entworfenen Achsen der Zuverlässigkeit zielen hingegen darauf ab, eine klarere Unterscheidung zwischen moralischen und epistemologischen Fragen (A. Nünning 2008, 36) zu ermöglichen und die Frage der Unzuverlässigkeit als eine narrative Strategie unter vielen zu begreifen. Bei Phelan wird besonders deutlich, dass es in Analysen der Unzuverlässigkeit um die dadurch produzierten textuellen Effekte gehen sollte. Eine der zentralen Funktionen erzählerischer (Un-)Zuverlässigkeit ist in dieser Hinsicht die Sympathielenkung. Die Frage, wie der Erzähler oder die Erzählerin begehrenswert gemacht wird, legt den Fokus in gewisser Weise lediglich auf eine spezielle Form der Sympathielenkung. Für meine Zwecke scheint es aber sinnvoll, gerade diese spezielle Form besonders zu beachten. Es liegt mehr als nahe zu vermuten, dass die oben beschriebenen Subjektivierungsweisen und Selbstverhältnisse unterschiedlich sind, je nachdem, ob es sich um einen männlichen Erzähler oder eine weibliche Erzählerin handelt und welche gesellschaftliche Stellung er oder sie hat. Aber auch das narrative Setting, der Erzählanlass, die Genrekonventionen, auf die im Erzählen rekurriert wird, und vieles mehr, spielen in diese Frage mit hinein und verkomplizieren die Sache. Im Folgenden werde ich daher den Blick auf die Erzählstimme in The Woman in White und Jane Eyre lenken und die damit zusammenhängenden Fragen stellen, wie in diesen Romanen das Erzählen konzipiert ist und welche Rückschlüsse dies auf vergeschlechtlichte bürgerliche Subjektivierungsweisen erlaubt.

5.2 »And I am so plain you see...«: Weibliche Bescheidenheit und narrative Kontrolle in Jane Eyre Jane Eyre wird seit langer Zeit von feministischer Seite als eine Erzählung gelesen, in der einer Frau eine Stimme gegeben wird, oder vielmehr, in der sie darauf besteht, sprechen zu dürfen, in der das Sprechen der eigenen Gefühle und Erzählen der eigenen Geschichte als Notwendigkeit dargestellt wird, und damit die erzählende Frau sich den Status eines Subjekts erobert. 4

Leider erlaubt der zur Verfügung stehende Platz es nicht, hier mehr in die Tiefe zu gehen. Die Frage der Intentionalität bei Konzepten der impliziten Autor_in ist selbstverständlich wesentlich komplexer als hier dargestellt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Umberto Eco begreift seine model author als die Gesamtheit der Strategien des Textes (Eco 1995, 14 f.). Mir erscheint die implizite Autor_in dennoch mehr Probleme aufzuwerfen als zu lösen.

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Einer der bekanntesten und am meisten zitierten Sätze aus Jane Eyre, »Speak I must« (JE, 36, Hervorh. i.O.), leitet im Roman die Erzählung eines der ersten Versuche Janes ein, sich gegen ungerechte Behandlung zur Wehr zu setzen, indem sie ihre Stimme erhebt.5 Stimme wird in diesem Roman eng mit Widerstand, Selbstbestimmung und Freiheit verknüpft. Sprache wird darin als machtvolles Instrument dargestellt, so Lanser: »voice is the trope par excellence of power in Jane Eyre« (Lanser 1992, 183; vgl. auch Freeman 1984, 686; Ca. Kaplan 1996, 72).6 Es handelt sich dabei allerdings gleichzeitig um eine zutiefst individuelle Stimme. So schreibt Janet Freeman: »Speaking is the equivalent of selfassertion, for Jane Eyre, the assertion of her most intimate, essential self« (Freeman 1984, 691). Gayatri Chakravorty Spivak gehört zu den Ersten, die darauf hinwiesen, dass es ein bestimmtes Subjekt ist, das sich in Jane Eyre konstituiert, und dass gerade dieses Bestehen auf der eigenen Subjektivität neue Ausschlüsse produziert: As the female individualist, not-quite/not-male, articulates herself in shifting relationship to what is at stake, the »native female« as such (within discourse, as a signifier) is excluded from any share in this emerging norm. If we read this account from an isolationist perspective in a »metropolitan« context, we see nothing there but the psychobiography of the militant female subject. In a reading such as mine, in contrast, the effort is to wrench oneself away from the mesmerizing focus of the »subject-constitution« of the female individualist. (Spivak 1985, 245, Hervorh. i.O.)

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Spivak plädiert dafür, den positiven und zuweilen identifizierenden Bezug auf die weibliche Subjektwerdung und Emanzipation in Frage zu stellen und stattdessen die oft gewaltsamen Ausblendungen und Grenzziehungen in den Blick zu nehmen, die ein solches weibliches Subjekt überhaupt erst möglich machen. Spivak selbst stellt die Figur der Bertha Mason und die dem Roman zugrunde liegenden kolonialen Machtverhältnisse ins Zentrum der Analyse.7 Auf ähnliche Weise, aber spezifischer auf die Erzählinstanz des Romans bezogen, thematisiert Lanser die Bedingungen der Möglichkeit von Janes »emanzipierter« Stimme. Die Autorität von Janes Stimme wird nur möglich, indem Bertha Mason zum Schweigen gebracht 5 6

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Carla Kaplan platziert das Zitat prominent als Zwischenüberschrift (Ca. Kaplan 1996, 71), aber siehe z.B. auch Bodenheimer 1980, 392. Ivan Kreilkamp kritisiert diese Betonung der Stimme in Analysen von Jane Eyre: »I [...] want to suggest that it is an irony of literary-critical history that the very link between writing and speech that Brontë resisted as an unwanted imposition of masculine authorship has become a tenet of modern liberal feminism. Brontë herself worked to disassociate her work from a Victorian mythology of vocal writing, yet a certain tradition of feminist criticism has adapted that myth for its own purposes and turned Brontë into the model of a female author who triumphantly finds her own ›voice‹ in writing.« (Kreilkamp 1999, 331) Für weitere postkoloniale Analysen von Jane Eyre vgl. etwa Zonana 1993, Michie 1993, David 1995 und S. Meyer 1996.

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wird. Bertha ist »a woman with a voice gone wrong« (Lanser 1992, 191): Ihre Präsenz im Roman manifestiert sich vor allem in ihrem irren Lachen, ihren Schreien, ihrem unartikulierten Gemurmel. Diese Laute dienen dazu, Bertha als wild, monströs und unmenschlich zu charakterisieren, weil sie einer intelligiblen Sprache nicht fähig ist. Lanser zieht den Schluss: Bertha’s uncontrollable voice, which insists on being heard even when her body is shackled, is the frame that makes safe Jane’s outspokenness and reveals it as ultimately unthreatening to the social order: precisely because Jane’s voice must vanquish the voices of men, it must also be distinguished from the violent, angry mockery of the woman whom white patriarchy cannot restrain, the dark woman brought in chains to foreign shores. (Lanser 1992, 192)

Die weibliche Subjektivität, die in Jane Eyre konstruiert wird und die in hohem Maß affektiv aufgeladen wird, ist selbst eine hegemoniale Form von Subjektivität, die nur zugänglich ist für »white educated Christian Englishwomen of the middle class« (Lanser 1992, 192). Im Folgenden wird diese bestimmte Form von Subjektivität im Zentrum der Analyse stehen, aber nicht in Form des von Spivak kritisierten »mesmerizing focus«, sondern in Form einer Analyse, die nach der Konstitution dieser Subjektivität in der und durch die Erzählung fragt. Der Erzählakt, die erzählte Geschichte sowie die Selbstdarstellung der Erzählerin sind alle den Grenzen akzeptabler bürgerlicher Weiblichkeit unterworfen (vgl. Lanser 1992, 19) – welche das im Einzelnen sind und welche Subjektivierungsweisen sie mit sich bringen, wird die Analyse zeigen. Das Schwierige daran ist, dass sich, so Martin Löschnigg, »ein Ich-Erzähler [sic] im Erzählakt direkt oder indirekt selbst charakterisiert« (Löschnigg 2006, 109). Explizit in Bezug auf Jane Eyre merkt Terry Eagleton an: »Her inner life is manifested to us situationally as much as confessionally« (Eagleton 1975, 93). Das bedeutet, dass sowohl der formale Aspekt des Erzählens (einschließlich des Erzählsettings, der Art, wie die Geschichte geordnet wird, der Haltung der Erzählerin gegenüber ihrem früheren Ich bzw. dem erzählten Leben etc.) als auch die Gesamtheit der erzählten Handlung (Dialoge, in die die Figur Jane involviert ist, ihre Wahrnehmungen, ihr Ringen um Entscheidungen etc.) berücksichtigt werden müssen. Dazu kommen die Wertungen und Ansichten des späteren erzählenden Ichs, und alle diese Aspekte durchkreuzen und beeinflussen sich gegenseitig. Um entsprechend in die Tiefe gehen zu können, stelle ich ein scheinbar insignifikantes Detail ins Zentrum, das in der Forschung bisher wenig beachtet wurde: Janes »plainness«. Dass Jane »nicht hübsch« ist, wird eher konstatiert (V. Nünning 2000, 59) oder erscheint gar als zentrales Attribut der Figur: »Plain Jane’s progress« ist das Kapitel zu Jane Eyre in Sandra Gilbert und Susan Gubars Buch The Madwoman in the Attic übertitelt

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(Gilbert/Gubar 2000, 336).8 Aber was bedeutet es, dass sich Jane selbst als »plain« beschreibt? Welches Verhältnis zu sich selbst entwirft sie dabei? In welcher Weise werden teils widersprüchliche Wahrnehmungen und Bewertungen ihres Aussehens durch andere Figuren von Jane wiedergegeben? Welche Funktion hat überhaupt die Charakterisierung der Figur als »plain« und was bedeutet das im Hinblick auf ihren Status als Subjekt eines Liebesplots?

5.2.1 Plainness und Begehren: Die Erzählerin als liebendes Subjekt Kurz nach ihrer Ankunft in Thornfield findet sich die erste Passage, in der sich Jane explizit selbst beschreibt: I dressed myself with care: obliged to be plain – for I had no article of attire that was not made with extreme simplicity – I was still by nature solicitous to be neat. It was not my habit to be disregardful of appearance, or careless of the impression I made: on the contrary, I ever wished to look as well as I could, and to please as much as my want of beauty would permit. I sometimes regretted that I was not handsomer: I sometimes wished to have rosy cheeks, a straight nose, and small cherry mouth; I desired to be tall, stately, and finely developed in figure; I felt it a misfortune that I was so little, so pale, and had features so irregular and so marked. And why had I these aspirations and these regrets? It would be difficult to say: I could not then distinctly say it to myself; yet I had a reason, and a logical, natural reason too. However, when I had brushed my hair very smooth, and put on my black frock – which, Quaker-like as it was, at least had the merit of fitting to a nicety – and adjusted my clean white tucker, I thought I should do respectably enough to appear before Mrs. Fairfax; and that my new pupil would not at least recoil from me with antipathy. (JE, 98 f.)

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Was zuerst ins Auge springt, ist dass die eigentliche Beschreibung von Janes Aussehen sehr vage bleibt. Sie ist klein, blass und hat unregelmäßige und ausgeprägte Gesichtszüge. Das vor jedes Adjektiv geschobene Wörtchen »so« macht die Beschreibung noch unbestimmter, da es sie als subjektiv markiert. Nicht die Erzählerin beschreibt hier ihr Aussehen für die Le8

Ähnliche Wertungen finden sich bei Nancy Armstrong: »an unattractive governess« (Armstrong 1987, 197) und bei Jina Politi: »Jane Eyre constructs a new female stereotype: the highly principled, unattractive woman« (Politi 1982, 65). Jerome Beaty schreibt von der Figur als »plain, saucy Jane« (Beaty 1996, ix), »knowing her own limited claims to physical beauty« (Beaty 1996, 130). Eine nennenswerte Ausnahme stellt die bereits vor geraumer Zeit erschienene Studie The Character of Beauty in the Victorian Novel von Lori Hope Lefkovitz (Lefkovitz 1987) dar, die auch ein Kapitel zu Jane Eyre enthält und auf die ich mich im Folgenden unter anderem beziehe. Auch Judith Mitchell und Annette Federico beschäftigen sich, wenn auch weit weniger ausführlich, mit Janes plainness. Allerdings liegt bei Federico der Fokus auf der Herausbildung einer positiven Körperwahrnehmung und damit auf der psychischen Entwicklung der Figur (Federico 1991), während Mitchell das subversive Potenzial einer »nicht-hübschen« Heldin meines Erachtens überschätzt (J. Mitchell 1994).

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ser_innen; vielmehr berichtet sie, wie sie sich zu diesem Zeitpunkt der Geschichte selbst sah. Diese Sicht auf sich selbst ist immer schon verwoben mit einem gesellschaftlichen Schönheitsideal. Das Ideal wird konkreter beschrieben als Janes tatsächliches Aussehen. Seine Attribute sind rosige Wangen, eine gerade Nase, ein Kirschmund, Größe und Stattlichkeit sowie eine gut ausgebildete Figur. Jane fühlt »regret«, dass sie nicht besser aussieht, sie wünscht sich und begehrt die Attribute des anerkannten Schönheitsideals.9 Obwohl hier also scheinbar nüchtern von einem objektiven Mangel an Schönheit die Rede ist, wird die Beschreibung des eigenen Aussehens als subjektiver und affektiv aufgeladener Vergleich mit einem gesellschaftlichen Ideal dargestellt. Die analysierende Erzählstimme fragt nach den Gründen für die affektive Verstrickung, aber bietet keine explizite Bestätigung des früheren Selbsturteils an – allerdings auch keinen Widerspruch dazu. Auffallend ist zudem, dass das Adjektiv »plain« hier zunächst zur Beschreibung eines »einfachen« Kleidungsstils eingeführt wird. Der zentrale bürgerliche Wert der »neatness« wird dabei als unabhängig sowohl von Schönheit als auch vom Kleidungsstil definiert. Die Sorge um das eigene Äußere, die Kultivierung des Körpers, die sich konkret im sorgfältigen Ankleiden und im Glattbürsten der Haare manifestiert, ist vielmehr notwendig, um respectable zu sein. Dieser Wunsch, anderen zu gefallen und um ihretwillen so gut wie möglich auszusehen (»my appearance« – »the impression I made« – »to look as well as I could« – »to please as much as my want of beauty would permit«), wird nicht in Frage gestellt. Ganz anders verhält es sich mit dem Begehren nach einem besseren Aussehen. Hier fragt das erzählende Ich nach den Gründen für diese Gefühle des erlebenden Ichs, aber die Antwort ist wiederum auf den Wissensstand und die Analysefähigkeit des erlebenden Ichs beschränkt: »And why had I these aspirations and these regrets? It would be difficult to say: I could not then distinctly say it to myself; yet I had a reason, and a logical, natural reason too«. Der »logische«, »natürliche« Grund, warum Jane schön sein will, ist der heterosexuelle Liebesplot, dessen sie sich an dieser Stelle – über9

Federico weist darauf hin, dass das im Roman evozierte Schönheitsideal nicht für den Erscheinungszeitraum des Romans typisch ist, sondern für die Zeit, in der die Handlung angesiedelt ist – den Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie fährt fort: »Styles and tastes – indeed, the whole standard of female beauty – altered significantly in the first half of the century. One fashionable difference is the emphasis on the body during the Regency period (1800-1820), and the emphasis on dress in the Victorian period. [...] A woman’s body in the first decade of the century was [...] under considerable scrutiny, and the ideal against which she was measured was tall and statuesque, stately, elegant, refined.« (Federico 1991, 29 f.) Lefkovitz merkt jedoch an, dass zu jeder Zeit verschiedene Ideale gleichzeitig existieren, und dass bestimmte Merkmale je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen annehmen können (Lefkovitz 1987, 23 ff.).

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haupt so lange wie möglich – noch nicht bewusst sein darf. (Zum aufgeladenen Verhältnis von Wissen und sexueller Tugend siehe Kapitel 4.2.) Doch auch wenn Jane (die Figur) an diesem Punkt der Handlung noch kein Wissen um den kommenden Liebesplot hat, bereitet sie sich in ihren Wünschen bereits darauf vor, sich selbst in Hinblick auf ihre desirability zu bewerten, für die, so wird hier angedeutet, Schönheit zentral ist.10 Dazu passt die zweite längere Selbstbeschreibungspassage in Jane Eyre. Auch hier ist Jane wieder dabei, sich zurechtzumachen, und betrachtet sich dabei im Spiegel. (Bei der vorhergehenden Szene ist der Spiegel nicht explizit, aber das Setting ist ähnlich.) Die folgende Szene spielt kurz nach Janes Verlobung mit Rochester: While arranging my hair, I looked at my face in the glass, and felt it was no longer plain: there was hope in its aspect and life in its colour; and my eyes seemed as if they had beheld the fount of fruition, and borrowed beams from the lustrous ripple. I had often been unwilling to look at my master, because I feared he could not be pleased at my look; but I was sure I might lift my face to his now, and not cool his affection by its expression. I took a plain but clean and light summer dress from my drawer and put it on: it seemed no attire had ever so well become me; because none had I ever worn in so blissful a mood. (JE, 257)

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Die Gewissheit der erwiderten Liebe bewirkt eine Transformation: Jane sieht sich selbst nicht mehr als »plain«. Aber ist es eine Transformation ihres Blicks auf sich selbst oder sieht sie »tatsächlich« anders aus? Auch hier ist die Bewertung des Spiegelbilds wieder subjektiv gefärbt: Janes Aussagen über ihr eigenes Aussehen erheben an keiner Stelle explizit den Anspruch, objektive Gültigkeit zu haben. Dazu dienen die mehrfach eingeschobenen Verben »seem«, »feel« etc. sowie die Verwendung der indirekten Rede – »I felt it was no longer plain«, »my eyes seemed as if they had«. Auch hier ist die Frage der Schönheit wieder mit Selbstzweifeln und Ängsten verknüpft, genauer gesagt mit der Angst, aufgrund der »fehlenden« Schönheit nicht begehrens- und liebenswert zu sein. Rochesters Blick wird eine größere Macht zugeschrieben als Janes eigenem, aber vor allem ein größeres Maß an Objektivität. Das wird in den Blickregimen angedeutet, die in dieser Passage entworfen werden. Ob Jane sich traut, Rochester anzusehen, hängt 10

Jerome Beaty weist darauf hin, dass die Erzählung an dieser Stelle noch mehrere Möglichkeiten offen lässt: »The logical and natural reason for Jane’s attention to her appearance would seem to relate, certainly in retrospect, to her desire for romantic love, yet the passage appears a page before she learns there is a master and a Rochester and thus a possibility of romantic love even in dull Thornfield. [...] Of course the narrator knows what is coming – she is, indeed, now Mrs. Rochester – and she (or Brontë) may be manipulating the sequence to heighten suspense or prepare the first-time reader for what good things are to come. There is a more subtle narrative possibility: [...] placing Jane’s desire for and openness to love first creates expectations of her finding it, but introducing it before the introduction of Rochester makes him only one possibility, an immediate but not exclusive possibility.« (Beaty 1996, 84 f., Hervorh. i.O.)

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davon ab, was sie von seinem Blick erwartet und welches Urteil über sich selbst sie darin zu lesen glaubt. Der jetzt mögliche erwidernde Blick erscheint zwar selbstbewusster als seine vorhergehende Vermeidung, aber in beiden Fällen unterwirft sich Jane Rochesters Blick und damit seinem Urteil. In diesem Zusammenhang sticht auch die Bezeichnung »master« besonders hervor und unterstreicht Janes devote Haltung – auch wenn Jane generell von Rochester als ihrem »master« spricht.11 Dazu kommt, dass Janes subjektive Selbstwahrnehmung kurz darauf im Text von Rochesters ähnlich lautender Wahrnehmung bestätigt wird: »Jane, you look blooming, and smiling, and pretty,« said he: »truly pretty this morning. Is this my pale, little elf? Is this my Mustard-Seed? This little sunnyfaced girl with the dimpled cheek and rosy lips; the satin-smooth hazel hair, and the radiant hazel eyes?« (JE, 258)

Damit wird nicht nur Janes Wahrnehmung legitimiert, sondern darüber hinaus die Veränderung als tatsächliche, auch für andere sichtbare Transformation definiert. Die urteilende Macht des männlichen Blicks vereint sich mit der transformativen Macht des heterosexuellen Liebesplots. Oder, anders gesagt: Dass Rochester Jane liebt, macht sie schön; und dass er die Transformation sieht und benennt, macht diese glaubwürdig. Doch ganz so einfach ist es natürlich nicht. Gleich nach Rochesters direkter Rede fügt die Erzählerin einen ironischen Kommentar ein: »(I had green eyes, reader; but you must excuse the mistake: for him they were new-dyed, I suppose.)« (JE, 258) Rochesters Urteilsfähigkeit wird auf diese Weise relativiert und seine überschwängliche Rhetorik dezent belächelt. Jane behält als Erzählerin die souveräne Deutungsmacht, die Jane als Figur oft abgesprochen wird oder die sie sich selbst abspricht. Auch auf der Ebene der Blickregime gibt es eine gewisse Ambivalenz. Jane wird zwar, wie beschrieben, angesehen und bewertet, aber auch sie blickt und urteilt aktiv. Bereits in einem ihrer ersten Gespräche mit Rochester tut sie ihre Meinung über sein Aussehen kund: He had been looking two minutes at the fire, and I had been looking the same length of time at him, when, turning suddenly, he caught my gaze, fastened on his physiognomy. »You examine me, Miss Eyre,« said he: »do you think me handsome?«

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Der Bedeutung dieser devoten Anrede gehen Ansätze nach, die in der Liebesgeschichte zwischen Jane und Rochester eine erotische Dynamik von Dominanz und Unterwerfung sehen, so etwa Judith Mitchell (J. Mitchell 1994, 48 ff.) oder Esther Godfrey, die Jane Eyre im Kontext von Ehen zwischen älteren Männern und jüngeren Frauen betrachtet (Godfrey 2005). Siehe auch Terry Eagleton, für den in den Machtkämpfen zwischen den ProtagonistInnen jedoch – vereinfacht gesagt – lediglich auf das Feld der Geschlechterdifferenz verschobene Klassenfragen zum Ausdruck kommen (Eagleton 1975).

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I should, if I had deliberated, have replied to this question by something conventionally vague and polite; but the answer somehow slipped from my tongue before I was aware: – »No, sir.« (JE, 130 f.)

Jane nimmt sich nicht nur heraus, Rochester anzublicken und geradezu zu studieren (immerhin zwei Minuten lang), sie zeigt außerdem keine besondere Scham, als er sie dabei überrascht. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass Rochester Jane nach ihrer Meinung über sein Aussehen fragt, und Jane, in ihrem unwillkürlichen und fast zwanghaften Drang, die Wahrheit zu sagen, ihr Urteil auch ausspricht, anstatt es höflich zu umgehen. In der Folge jedoch zwingt Rochester Jane in eine Analyse seines Aussehens, in der er sie zwar auffordert: »Criticize me« (JE, 131), selbst jedoch weitgehend die Themen und Fragen vorgibt (JE, 131 f.). Beschreibungen von Rochester nehmen darüber hinaus in den im narrativen Modus erzählten Passagen viel Platz ein. Schon zu Beginn sind sie ambivalent gehalten. Rochester ist »more remarkable for character than beauty« (JE, 119). Zudem wird sein Aussehen mehr oder weniger für irrelevant erklärt: I am sure most people would have thought him an ugly man; yet there was so much unconscious pride in his port; so much ease in his demeanour; such a look of complete indifference to his own external appearance; so haughty a reliance on the power of other qualities, intrinsic or adventitious, to atone for the lack of mere personal attractiveness, that in looking at him, one inevitably shared the indifference [...] (JE, 132)

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Obwohl Jane Rochester ins Gesicht sagt, dass er nicht gut aussieht, wird die Bedeutung guten Aussehens für Männer also von Beginn an relativiert. Das verstärkt sich, je mehr sich Jane in Rochester verliebt. Noch bevor sie sich selbst ihrer Liebe bewusst ist, fragt sie: »And was Mr. Rochester now ugly in my eyes? No, reader: gratitude, and many associations, all pleasurable and genial, made his face the object I best liked to see; his presence in a room was more cheering than the brightest fire.« (JE, 146)12 Der große Unterschied liegt jedoch darin, dass sich Janes Blick bzw. ihr Urteil verändert, nicht jedoch Rochester selbst. Rochester wird hier gar nicht beschrieben, sondern nur seine Wirkung auf Jane und die Gefühle, die es in ihr auslöst, ihn anzusehen. Das wird an einer anderen Stelle noch deutlicher: Most true is it that »beauty is in the eye of the gazer.« My master’s colourless, olive face, square, massive brow, broad and jetty eyebrows, deep eyes, strong features, firm, grim mouth, – all energy, decision, will, – were not beautiful, according to rule; but they were more than beautiful to me [...] (JE, 174, meine Hervorh.)

Wahrnehmung und Urteil werden voneinander getrennt: Janes Blick befähigt sie zwar nach wie vor zu einer objektiven, nüchternen Beschreibung von Rochester, aber sie teilt das, was sie als allgemeines ästhetisches Urteil 12

Das kann natürlich als Anzeichen für Verliebtheit gelesen werden und fungiert als solches.

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benennt, selbst nicht. Ihre Bewertungskriterien, ja sogar ihr Blick haben sich verändert. Die Liebe transformiert hier also nicht das männliche Objekt, sondern wiederum das weibliche Subjekt. Jane ist »the gazer«, sie blickt und urteilt, aber die Grundlagen ihrer Bewertung haben sich radikal verändert: Ihr Blick ist nicht mehr ästhetisch-objektiv, sondern affektivsubjektiv. Damit spielt Rochesters Aussehen quasi keine Rolle mehr. Wie Jane etwas später zu sich selbst sagt: Seine »sternness has a power beyond beauty« (JE, 245, meine Hervorh.). Daran zeigt sich deutlich, dass Schönheit anders verhandelt wird, je nachdem, ob es um Frauen oder Männer geht. Generell, so Lori Hope Lefkovitz, werden sowohl Helden als auch Heldinnen immer als schön wahrgenommen: »Beauty, as a feature belonging to heroes and heroines, is an essential but slippery quality of character.« (Lefkovitz 1987, 8) Daher enthält Jane Eyre von vornherein ein unauflösbares Paradox: »While Brontë is as deliberate in her effort to render an unattractive Rochester as she is to render a plain Jane, Brontë’s intention to make Rochester and Jane hero and heroine subverts her intention to make them unattractive.« (Lefkovitz 1987, 146) Der Grund dafür liegt laut Lefkovitz in der Verwobenheit von Schönheit und Begehren, die bereits in Kapitel 4.2 zur Sprache kam: [...] beauty is produced within a structure of desire. That which is beautiful is loved and that which is loved appears beautiful. Heroes and heroines are desired by at least two other characters (usually desirable themselves) who form the minimal triangle by means of which desire generates the perception of beauty. (Lefkovitz 1987, 19)

Schönheit ist also von zentraler Bedeutung für den heterosexuellen Liebesplot, indem sie eine Figur als legitimes Subjekt der Liebesgeschichte markiert. Oder eben umgekehrt: Dass eine Figur begehrt wird, macht sie schön. Dennoch gibt es subtile Geschlechterunterschiede, die mit den soeben beschriebenen geschlechtlich differenzierten Blickregimen im Zusammenhang stehen. Lefkovitz beschreibt an zwei verschiedenen Stellen, wie in Jane Eyre Rochesters und Janes Schönheit jeweils textuell produziert wird: [...] because Rochester loves Jane in spite of her plainness and social status, and because he rejects the lovely, but unloveable, Miss Ingram, the reader comes to admire the rough edges of his beauty. (Lefkovitz 1987, 149) Jane, the object of male desire, is clearly the most beautiful of all. (Lefkovitz 1987, 151)

Was Rochester schön macht, ist seine Fähigkeit, Jane zu lieben, obwohl sie nicht schön ist und trotz ihres niedrigen sozialen Status. Wie wir auch schon in der Analyse von Männlichkeiten in The Small House at Allington und The Tenant of Wildfell Hall gesehen haben (Kapitel 4.1), stellt die Fähigkeit, sich für die »richtige« Frau – die Heldin des Romans – zu entscheiden, eine der zentralen Qualitäten des Helden dar. In Jane Eyre beweist Rochester diese Fähigkeit, indem er zeigt, dass er »unter die Oberfläche« sehen kann, und dass er Janes innere Qualitäten mehr zu schätzen weiß als

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Blanche Ingrams äußere Schönheit. Dadurch wird er zum legitimen und begehrenswerten Helden des Liebesplots. Aber auch in Lefkovitz’ Formulierung wird wieder deutlich, dass Rochester selbst eigentlich keiner Transformation unterworfen ist, die ihn schön macht. Was sich verändert, sind vielmehr die Bewertungskriterien der Leser_innen, die seine spezielle Art der Schönheit (»rough edges«) zu schätzen lernen. Jane hingegen, das zeigt die zweite Formulierung von Lefkovitz, ist schön, weil sie das Objekt männlichen Begehrens ist. Sie wird dadurch zur Heldin des Liebesplots, dass sie von Rochester geliebt wird. Ihr Status als begehrenswerte Frau hat einerseits den Effekt, sie im Text als legitimes Subjekt des Liebesplots zu bestätigen und damit auch ihre Schönheit außer Frage zu stellen. Andererseits bewirkt das Wissen darum, geliebt zu werden, eine Transformation in der Figur selbst, wie wir bereits gesehen haben. Erst die erklärte, erwiderte und in der Verlobung abgesicherte Liebe des Mannes macht es für Jane möglich, sich selbst als legitime Protagonistin einer Liebesgeschichte wahrzunehmen und damit auch, sich selbst als schön zu empfinden. Janes Blick auf sich selbst muss in gewisser Weise den Umweg über Rochesters Blick nehmen. Das wird an einer anderen Stelle noch deutlicher: der Szene, in der Jane sich ihrer Liebe zu Rochester bewusst wird, weil sie Eifersucht auf Blanche Ingram verspürt, und in der sie nun hart mit sich selbst in Gericht geht – durchaus wortwörtlich, denn Jane imaginiert sich auf der Anklagebank: »Arraigned at my own bar« (JE, 160), und spricht Urteil über sich selbst: I pronounced judgment to this effect: – That a greater fool than Jane Eyre had never breathed the breath of life: that a more fantastic idiot had never surfeited herself on sweet lies, and swallowed poison as if it were nectar. »You,« I said, »a favourite with Mr. Rochester? You gifted with the power of pleasing him? You of importance to him in any way? Go! your folly sickens me. [...] »Listen, then, Jane Eyre, to your sentence: to-morrow, place the glass before you, and draw in chalk your own picture, faithfully; without softening one defect: omit no harsh line, smooth away no displeasing irregularity; write under it, ›Portrait of a Governess, disconnected, poor, and plain.‹ [...]« (JE, 160 f., Hervorh. i.O.)

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Eine solche Szene ist durchaus typisch für das Genre der Liebesgeschichte: Das Moment der Erkenntnis der eigenen Liebe geht einher mit dem Gefühl, des Liebesobjekts unwürdig zu sein. Die Verzweiflung über die (vermeintliche) Unmöglichkeit der Erwiderung der Liebe drückt sich in konventionalisierter Weise als eine Art rituelle Selbstbeschimpfung aus.13 Jane

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Für Parallelen zu den anderen untersuchten Romanen siehe Kapitel 3. Der Unterschied zu der vergleichbaren Passage in The Woman in White (WW, 62 ff.) ist, dass der männliche Erzähler dort nicht seinen Mangel an Schönheit ins Zentrum der Selbstbeschimpfung stellt, sondern seinen niedrigen sozialen Status und die daraus resultierende (wiederum scheinbare) Unmöglichkeit der Verbindung (siehe auch Kapitel 5.3).

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nimmt sich selbst nicht als begehrenswert wahr und empfindet es daher als eine Anmaßung zu erwarten, sie könne von Rochester geliebt werden bzw. überhaupt zum Liebesobjekt taugen. Das betonte »you«, das mehrmals am Satzanfang steht, macht dies sehr deutlich. Die Strafe, die sie sich auferlegt – ein Bild von sich zu malen und ein zweites, das ihre Vorstellung von Blanche Ingram abbildet, um den Unterschied vor Augen zu haben14 – zeigt die Verwobenheit von Schönheit und desirability noch einmal deutlich. Dazu kommt Janes niedriger sozialer Status. Die Bildunterschrift »Portrait of a Governess, disconnected, poor, and plain« vereint alle Attribute, die Jane in ihren eigenen Augen zu einem unmöglichen Subjekt einer Liebesgeschichte machen. Gleichzeitig ist natürlich an dieser Stelle des Textes bereits klar, dass Jane die Heldin einer Liebesgeschichte ist. Der Text hat sie bereits zum begehrten und begehrenswerten Objekt gemacht, und daher enthält die soeben zitierte Szene eine gewisse Komik. Als Leser_innen verfügen wir über das genrespezifische Wissen, dass die Eigenschaften »disconnected« und »poor« nicht als wirkliche Hindernisse für erwiderte Liebe anzusehen sind. Da es zudem bis zu dieser Stelle bereits zahlreiche Hinweise im Text gegeben hat, dass Rochester Jane liebt, werden wir dazu angehalten, auch an ihrem Urteil über ihr Aussehen zu zweifeln. So wie Janes Blick auf sich selbst den Umweg über Rochesters Blick nimmt, wird also auch der Blick der Leser_innen über Rochesters Blick gelenkt – Blick ist hier durchaus auch im übertragenen Sinn zu verstehen als die Art, wie Rochester Jane wahrnimmt. Der Umweg ist auf dieser Ebene eigentlich ein doppelter: Die Erzählerin Jane berichtet, wie die Figur Jane Rochesters Blick auf sich selbst wahrnimmt, aber oft entweder falsch interpretiert oder unkommentiert lässt. Die Fokalisierung liegt ganz bei der Figur, es gibt kaum Analysen, Bewertungen oder nachträgliche Interpretationen von Rochesters Handlungen oder Aussagen seitens der Erzählerin. Die Urteile der Figur selbst sind oft unzuverlässig. Das liegt manchmal an ihrem Mangel an Erfahrung oder an ihrem fehlenden Wissen (z.B. über die Existenz von Bertha Mason), oft aber auch daran, dass Rochester Jane bewusst in die Irre führt. Janet Freeman beschreibt präzise, wie sehr Rochesters Rede aus Ironie, Halbwahrheiten und richtigen Lügen besteht, während Janes Sprache durch Einfachheit und Ehrlichkeit gekennzeichnet ist:

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Ein kleines, aber interessantes Detail: Jane hat Blanche Ingram noch nicht selbst gesehen, sie hat nur aus den Beschreibungen von Miss Fairfax abgeleitet, dass Blanche die Personifikation des gesellschaftlichen Schönheitsideals sein muss. Wiederum vergleicht sie sich also weniger mit einer realen Rivalin als mit einem anerkannten und als unhinterfragbar dargestellten, aber abstrakt bleibenden Idealbild.

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To observe the speech between Jane Eyre and Edward Fairfax Rochester is to grasp the equivocal nature of their relationship long before the groans and laughs of Bertha Mason are truly named. Jane, though she does not know it, is in the presence of a master prevaricator. (Freeman 1984, 693)

Bereits die erste Begegnung ist davon geprägt, dass der vom Pferd gefallene mysteriöse Reisende sich nicht als Rochester zu erkennen gibt, während er Janes Wissen über Thornfield und sich selbst abfragt (JE, 114 f.). Und auch in den folgenden Gesprächen zwischen den beiden ist es immer Rochester, der die unausgesprochenen Regeln des Spiels aufstellt, so Freeman weiter: They play an interesting verbal game, here at the beginning, and Rochester knows it well. Jane, still loyal to her idea of the plain and simple truth, is no match for the slippery ironist [...] (Freeman 1984, 693)

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Rochester übt aber nicht nur durch dieses Spiel mit Worten Macht aus, er spinnt zunehmend ein Netz aus Lügen und Intrigen, dessen wahre Bedeutungen Jane verborgen bleiben. Seine »partial truths, half-said exclamations of love or despair« und »obscure references to nameless horrors out of a past dimly revealed« (Freeman 1984, 694) kulminieren zuerst in der Inszenierung seiner bevorstehenden Verlobung mit Blanche Ingram, die Jane zum Geständnis ihrer Liebe treibt; und schlussendlich in der geplatzten Hochzeit, bei der die größte Lüge zutage tritt, indem sich herausstellt, dass Rochester bereits verheiratet ist. Jane, die Figur, versteht das Spiel nicht – weder seinen Inhalt noch seinen Sinn – und kann Rochesters Aussagen und Handlungen nicht richtig interpretieren. Sie ist weder in der Lage, ihren Wahrheitsgrad zu beurteilen, noch kann sie einschätzen, was bedeutsam und was unbedeutsam ist. Die geringe narrative Distanz zwischen Erzählerin und Figur hat den Effekt, die Unwissenheit der Figur zu betonen.15 Weil Jane selbst die Details, die sie nicht oder falsch versteht, ganz genau wahrnimmt und berichtet, werden die Leser_innen in die Lage versetzt, mehr zu wissen als die Figur und auch – scheinbar – mehr als die an diesen Stellen unsichtbare Erzählerin.16 Ein solches Machtverhältnis zwischen Erzählerin und Leser_innen ist laut Alison Case typisch für weibliche Ich-Erzählerinnen: Feminine narrators [...] share in common the fact that we are expected to take our narrative pleasure at their expense. Rather than being subjected to their narrative authority, we are invited to assume authority over them – to construct a plot and a meaning out of their words that they themselves cannot understand, or do not wish us to know. (Case 1999, 30) 15

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Beaty weist darauf hin, dass an vielen Stellen die Stimmen der Erzählerin und der Figur nicht klar unterscheidbar sind. Er bezeichnet dies mit Bezug auf Michail Bachtin als »hybridized narration« (Beaty 1996, 86). Terry Eagleton bezeichnet dies als »subtle form of double focussing« (Eagleton 1975, 92), denn, so seine treffende Beobachtung, Jane ist selbst in den Momenten, in denen sie leidet oder gar knapp am Verhungern ist, immer eine verlässliche und genaue Beobachterin ihrer Umgebung und anderer Menschen.

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Vor allem auf den ersten Teil von Jane Eyre scheint dies zuzutreffen: Ein beträchtlicher Teil des Lesevergnügens entsteht aus Janes Unwissenheit oder Fehlinterpretationen, die sowohl komische Effekte produzieren als auch die Dynamik des Liebesplots vorantreiben. Um noch einmal auf die Schönheit zurückzukommen: Wenn Jane nicht sehen kann, dass und welche Spiele hier gespielt werden, wenn sie den Liebesplot nicht als solchen erkennen kann, dann erscheint auch ihr Urteil über ihr eigenes Aussehen nicht mehr glaubhaft. Spätestens in der »Selbstbeschimpfungs-Szene« ist klar, dass Janes Selbsteinschätzung nicht verlässlich ist, weil sie nicht versteht oder nicht verstehen kann, dass sie begehrenswert ist, weil Rochester sie begehrt.

5.2.2 Plainness und Wahrheit: Bürgerliche Individualisierung Janes Unzuverlässigkeit in der Interpretation des Gesagten und Gesehenen hat also den Effekt, auf Figurenebene Rochester und auf Textebene den Leser_innen Macht über sie einzuräumen: Rochester kann sie manipulieren und die Leser_innen können sich an der Spannung und Komik erfreuen, die der Wissensvorsprung gegenüber der Figur erzeugt. Aber diese Unzuverlässigkeit von Jane beinhaltet auch die Weigerung, auf Rochesters Spiel aus Lügen und Intrigen einzusteigen. Jane besteht darauf, die Wahrheit zu sagen und auch nur einfache, geradlinige Aussagen verstehen zu können. Das betont sie mehrfach im Gespräch mit Rochester, etwa: »To speak truth, sir, I don’t understand you at all: I cannot keep up the conversation, because it has got out of my depth.« (JE, 137) Oder, gegenüber dem als »gypsy« verkleideten Rochester: »I don’t understand enigmas. I never could guess a riddle in my life.« (JE, 197) Jane hält sich – programmatisch, könnte man fast sagen – an die Wahrheit: die einfache, schnörkellose, geradlinige Wahrheit, the plain truth. Dieses Wahrsprechen ist zentral für die Erzählhaltung in Jane Eyre. Der Anspruch, sich immer strikt an die Wahrheit zu halten, verleiht Janes Stimme erst die Macht, sich mit ihrer Hilfe zur Wehr zu setzen und zu behaupten – gegen die Reeds, gegen Mr. Brocklehurst in Lowood, gegen Rochester, gegen St. John Rivers. Gleichzeitig untermauert die emphatische Bezugnahme auf die Wahrheit immer wieder Janes Legitimation als Erzählerin. Der Roman ist angelegt als wahre Geschichte ihrer eigenen Erfahrungen, die mitunter in einer Akribie dokumentiert werden, die Anklänge an die Sprechsituation vor Gericht hat. Freeman etwa weist auf die »omnipresence of courtroom language in Jane Eyre« hin und auf die besonders offensichtliche Macht des gesprochenen Wortes vor Gericht (Freeman 1984, 691).

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Die Frage, was im Roman – und vor Gericht – als Wahrheit gilt, wie also diese Wahrheit beschaffen sein muss, ist jedoch alles andere als einfach und schlicht, auch wenn die so produzierte »Wahrheit« nicht nur in Jane Eyre gerne mit diesen Attributen belegt wird. Einerseits, darauf weist Alison Case hin, werden weibliche Erzählerinnen oft als Zeuginnen (witnesses) entworfen, die zwar berichten können, was sie sehen und erleben, dieses narrative »Rohmaterial« jedoch nicht zu einer kohärenten Geschichte zu fügen im Stande sind – diese Rolle muss dann von einem Herausgeber oder übergeordneten Erzähler (oder von den Leser_innen) übernommen werden. Wie vor Gericht erscheinen Erzählerinnen, so Case, oft glaubhafter, je weniger sie wissen bzw. je weniger sie die Zusammenhänge des von ihnen Erzählten erfassen: The testimony of a courtroom witness is always to be understood within the framework of meaning (usually a narrative) provided by a lawyer. Indeed, the less stake in, or understanding of, the lawyer’s master-narrative a witness has, the more reliable he or she is likely too be viewed as a witness. (Case 1999, 16)

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Auf der anderen Seite erhebt auch die vom (Staats-)Anwalt erzählte master narrative den Anspruch, eine wahre Geschichte zu sein. Um als wahr gelten zu können, muss sie jedoch die Grundprinzipien realistischer narrativer Organisation beachten – etwa Kohärenz und kausale Verknüpfungen (vgl. Coffey u.a. 2008, 173). Eine Besonderheit von Jane Eyre liegt darin, dass diese beiden Arten des Erzählens und Wahrsprechens im Erzählten präsent sind. Rosemarie Bodenheimer zeigt deutlich, wie sehr Jane (die Figur) das Erzählen erlernen muss, und deutet die disziplinierenden und normierenden Effekte an, die dies mit sich bringt (Bodenheimer 1980, 391 f.). Das zeigt sich besonders, als Jane in Lowood zwei Mal von ihren Erfahrungen in Gateshead erzählt. Helen gegenüber erzählt sie offen, emotional, scheinbar ungefiltert: »Bitter and truculent when excited, I spoke as I felt, without reserve or softening« (JE, 58). Das Verständnis und die Glaubwürdigkeit, die sie sich erhofft, erzielt sie jedoch erst, als sie ihre Erfahrungen gegenüber Miss Temple zu einer Geschichte macht: »I resolved in the depth of my heart that I would be most moderate: most correct; and, having reflected a few minutes in order to arrange coherently what I had to say, I told her all the story of my sad childhood.« (JE, 71) Die Anpassung an etablierte Erzählkonventionen macht Janes Erfahrungen erst glaubwürdig: »Thus restrained and simplified, it sounded more credible: I felt as I went on that Miss Temple fully believed me.« (JE, 71) Erfahrungen müssen also erst in einer bestimmten Weise, in Übereinstimmung mit spezifischen Erzählkonventionen, geordnet und geformt werden, um zu einer »einfachen« Wahrheit zu werden. Die Anerkennung der Wahrhaftigkeit ihrer Geschichte, die für sie die Voraussetzung für die Befreiung von ungerechten Anschuldigungen und damit von einem Un-

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terdrückungsverhältnis darstellt, erwirbt Jane, indem sie sich den Konventionen unterwirft: indem sie sich mäßigt, Zurückhaltung übt, vor dem Sprechen nachdenkt. Erst durch diese Unterwerfung gelangt sie zu der plain and simple truth, die so zentral für die Figur ist.17 Bodenheimer weist jedoch darauf hin, dass im Roman nicht nur diese disziplinierte Erzählung präsent ist, sondern auch Janes »ungefilterte« Wut und Verzweiflung: Brontë offers us – her audience – a [...] double position, for we have experienced the rage as well as the restraint; and are allowed to feel the difference between the »credible story« Miss Temple hears and the personal sources or original truths of the experiences themselves. (Bodenheimer 1980, 391)

Allerdings übersieht Bodenheimer an dieser Stelle, dass sowohl »rage« als auch »restraint« wiederum Teil einer kohärenten Erzählung sind – der Erzählung der Erzählerin – und dass es gerade ihr Zusammenspiel ist, das den Wahrheitsanspruch der Erzählung wirkmächtig untermauert. Die Wahrheit wird nicht nur mit den Werten der Einfachheit und Geradlinigkeit aufgeladen, sondern auch mit der Leidenschaft, die als unmittelbare Erfahrung dargestellt wird. Während die Einfachheit ein Produkt der (narrativen) Unterwerfung darstellt, steht die Leidenschaft für die Auflehnung gegen Konventionen: So in dem eingangs zitierten »Speak I must« (JE, 36, Hervorh. i.O.), als sich Jane das erste Mal gegen Mrs. Reed zur Wehr setzt; so aber auch in der proposal scene zwischen Jane und Rochester, in der »the vehemence of emotion« (JE, 252) Jane zum Sprechen zwingt, zu einem Sprechen, das ihr als Frau und Gouvernante eigentlich verwehrt wäre, wie ihr wohl bewusst ist: »I am not talking to you now through the medium of custom, conventionalities« (JE, 253).18 Die Konnotationen von Janes plain truth sind also alles andere als unkompliziert. Einerseits werden die Produktionsbedingungen von Wahrheit thematisiert (im Zuge der an Miss Temple adressierten Erzählung der Figur), andererseits werden sie verschleiert, wenn es um die master narrative der Erzählerin geht, indem die Erzählerin kaum präsent ist und die Fokalisierung (scheinbar) ganz bei der Figur liegt. Einerseits drückt sich Wahrheit in einer geformten Geschichte aus, andererseits in spontanen Ausbrüchen. 17

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Sally Shuttleworth führt aus, dass das Erzählen einer glaubhaften Geschichte auch die Grenze zwischen (psychischer) Krankheit und Gesundheit markiert: »Jane’s claims to have achieved social success, to have moved out of her initial state of social and psychological marginality, are vindicated by her ability to tell a ›credible‹ tale and thus win from readers a conviction of her probity and sanity. The measure of her success is the degree to which we as readers believe we are listening to the workings of ›sane energy‹, rather than the ravings of delirium.« (Shuttleworth 1996, 152) Um die Bedeutung, die dieses Hinwegsetzen über Konventionen für den Liebesdiskurs hat – das Versprechen einer Befreiung des Individuums von äußeren Zwängen und das Postulieren einer (zumindest ideellen) Gleichheit und Hierarchiefreiheit zwischen den Liebenden – ging es bereits in Kapitel 3.

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All dies spielt zusammen, um sowohl der Erzählerin als auch der Figur ein ausgesprochen hohes Maß an Glaubwürdigkeit zu verleihen – eine Glaubwürdigkeit, die nicht nur der Legitimation der Erzählerin dient, sondern gleichermaßen der Charakterisierung der Figur. Das mag wie ein Widerspruch zu den oben ausgeführten Überlegungen zu Janes Unzuverlässigkeit erscheinen, aber meines Erachtens ist Jane gleichzeitig glaubwürdig und unzuverlässig. Ihre Unzuverlässigkeit ist klar an den Wahrnehmungshorizont der Figur gebunden und ergibt sich, wie bereits dargelegt, in erster Linie aus ihrem Beharren auf der Wahrheit. Jane verfolgt keinerlei »strategisches« Ziel, sie hält keine Informationen vor den Leser_innen geheim, die ihr selbst zur Verfügung stehen. Ihre Unzuverlässigkeit hat demnach – folgt man der Unterscheidung von James Phelan zwischen »estranging« und »bonding unreliability« (Phelan 2008) – eher den Effekt, Nähe zu den Leser_innen zu suggerieren. In gewisser Weise trägt damit Janes Unzuverlässigkeit selbst wiederum dazu bei, sie glaubwürdig erscheinen zu lassen und ihre narrative Autorität zu untermauern. Im Hinblick auf Janes Glaubwürdigkeit kommt zudem ein Aspekt der plainness ins Spiel, von dem bisher nicht die Rede war: ein positiver Bezug der Figur auf ihre plainness. Dass es einen solchen positiven Bezug gibt, klingt bereits in der Formulierung »plain truth« an und in der Beschreibung der idealisierten Vorstellung einer reinen, einfachen Wahrheit, wie sie vom Roman entworfen wird. Diese Wahrheit liegt oft quer zu dem Wunsch zu gefallen bzw. den Konventionen oder Erwartungen zu entsprechen. Nachdem Jane ihre echte Meinung über Rochesters Aussehen »herausgerutscht« ist, entschuldigt sie sich mit den Worten: »Sir, I was too plain: I beg your pardon.« (JE, 131) Ihre konventionelle Antwort, die sie stattdessen anbietet, wirkt jedoch gerade in ihrer Konventionalität gänzlich hohl: »I ought to have replied that it was not easy to give an impromptu answer to a question about appearances; that tastes differ; that beauty is of little consequence, or something of that sort.« (JE, 131) Konvention wird hier verkörpert durch hohle Phrasen, die einzig die Funktion haben, eine ehrliche, aber als unhöflich angesehene Antwort zu verschleiern (»I should, if I had deliberated, have replied to this question by something conventionally vague and polite«, JE, 131). Dagegen erscheint Janes spontane, fast unabsichtliche Antwort (»the answer somehow slipped from my tongue before I was aware«, JE, 131) durch und durch ehrlich – und trägt viel dazu bei, sie zur Sympathieträgerin zu machen. Auch als Erzählerin hat sich Jane, wie bereits erwähnt, der plain truth verschrieben: der ehrlichen, unbeschönigenden Erzählung auch unangenehmer oder gesellschaftlich unerwünschter Tatsachen. Mit einem Augenzwinkern wird diese Erzählhaltung an einer Stelle deutlich, als Jane beschreibt, dass Grace Pool aus der Küche meist einen »pot of porter« mit-

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nimmt, und dies mit dem Einschub kommentiert: »oh, romantic reader, forgive me for telling the plain truth!« (JE, 110) Janes plainness ist ebenfalls eine solche plain truth. Wir haben bereits gesehen, wie sie in der ersten der beiden zitierten Spiegelszenen betont sachlich von »my want of beauty« (JE, 98) spricht. Kurz davor fordert sie Bessie, ihr ehemaliges Kindermädchen, dazu auf, sie zu beurteilen, indem sie vermutet: »I am afraid you are disappointed in me« (JE, 91). Bessies Antwort ist denn auch wenig schmeichelhaft: »No, Miss Jane, not exactly: you are genteel enough; you look like a lady, and it is as much as I ever expected of you: you were no beauty as a child.« (JE, 91) Jane kommentiert im narrativen Modus: I smiled at Bessie’s frank answer: I felt that it was correct, but I confess that I was not quite indifferent to its import: at eighteen most people wish to please, and the conviction that they have not an exterior likely to second that desire brings anything but gratification. (JE, 91)

Auch hier erscheint Schönheit, oder ihre Abwesenheit, als objektiv feststellbare Tatsache, und als solche muss sie wahrheitsgemäß berichtet werden, auch wenn diese Tatsache für Jane selbst unangenehm, enttäuschend und eine Quelle von Traurigkeit ist. Eine Funktion, die diese scheinbar nüchterne Feststellung der fehlenden Schönheit erfüllt, ist, Janes Geschichte noch glaubhafter und authentischer zu machen. Wenn sie so ehrlich ist, dass sie nicht einmal in Bezug auf ihr Aussehen beschönigt, obwohl sie durchaus darunter leidet, dann – so die Implikation – wird sie sonst auch immer die Wahrheit sagen und alles genau so erzählen, wie es war, egal ob die Wahrheit im Einzelnen vorteilhaft für sie ist. Das gilt auch für die Blicke der anderen Figuren auf Jane. Freeman merkt an: »Jane scrupulously hears, remembers, and reports to her readers one account after another of who she is taken to be.« (Freeman 1984, 684) Auch die dokumentierende Akribie, mit der Jane alle Blicke von außen notiert, egal wie unvorteilhaft oder auch gemein sie sind, trägt dazu bei, ihre Glaubwürdigkeit und fast schmerzliche Ehrlichkeit zu untermauern. Sie steht zudem in gewisser Weise im Widerspruch zu der oben aufgestellten These, dass die Blicke der Leser_innen auf Jane den Umweg über Rochesters Blick nehmen. Denn Jane berichtet genau, wie andere Menschen sie sehen – aber deren Urteile sagen oft mehr über sie selbst aus als über Jane. Besonders eindrücklich ist etwa die gänzlich unmotiviert erscheinende Härte und Brutalität, mit der das Kind Jane von ihrer Umwelt wahrgenommen wird: »I was termed naughty and tiresome, sullen and sneaking, from morning to noon, and from noon to night.« (JE, 15) Die Sympathie der Leser_innen liegt ganz klar bei Jane, ihre Wut über diese Urteile erscheint viel plausibler als die Urteile selbst. Insofern erfüllen die Fremdurteile eher die Funktion, zu zeigen, wie wenig abhängig Jane letzt-

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endlich von anderen Blicken ist, oder wie sie lernt, sich von ihnen frei zu machen. Selbst gegen Rochesters Blick rebelliert Jane, insbesondere nach der geschlossenen Verlobung. Rochester unternimmt den Versuch, Janes Äußeres nach seinem Bild umzuformen, indem er ihr Schmuck und neue Kleider aufdrängt.19 Jane wehrt sich dadurch, dass sie selbst auf ihrer plainness beharrt: »Don’t address me as if I were a beauty: I am your plain, Quakerish governess.« (JE, 259) Und dann, als Rochester darauf besteht, Jane schön zu finden: »You are a beauty, in my eyes; and a beauty just after the desire of my heart, – delicate and aerial« (JE, 259) – betont sie noch vehementer, nicht schön zu sein: »Puny and insignificant, you mean. You are dreaming, sir – or you are sneering. For God’s sake, don’t be ironical!« (JE, 259) Wahrheit wird gegen Schönheit in Stellung gebracht: Dass Rochester Jane als schön bezeichnet, wirkt verdächtig und unehrlich – entweder unecht in der Art eines Traums, oder aber wie eine absichtliche Täuschung. Mit ihrem Appell »don’t be ironical« an Rochester – dessen Sprache, wie wir gesehen haben, fast zur Gänze aus Wortspielen, Ironie und Lügen besteht – versucht Jane, an ihrem Glauben an das Wahrsprechen festzuhalten. Es handelt sich um ein Rückzugsgefecht, denn bei der gescheiterten Hochzeit wird Rochesters Geheimnis – die große Lüge seiner bereits bestehenden Ehe – durch die Intervention von Berthas Bruder schlussendlich enthüllt. Dieser ganze Dialog steht in einem gewissen Widerspruch zu den oben besprochenen Stellen, an denen Janes Aussehen durch die erwiderte Liebe transformiert wird, und Rochesters Bestätigung dieser Transformation unwidersprochen bleibt. Diese Stellen gehen dem soeben zitierten Dialog unmittelbar voraus und machen die Ambivalenz deutlich, die der Text in Bezug auf Janes plainness produziert – eine Ambivalenz, die durchaus den Liebesplot als solchen umfasst. Janes Beharren auf ihrer plainness stellt auch eine Weigerung dar, sich gänzlich Rochesters Blick zu unterwerfen und damit über das männliche Begehren definiert und vollständig von der Liebesgeschichte vereinnahmt zu werden.20 Noch deutlicher wird das dadurch, dass Jane auch in Bezug auf St. John Rivers ihre vermeintlich abwesende Schönheit ins Feld führt, um die Unmöglichkeit ihrer Heirat zu betonen. Jane erzählt Diana, dass sie seinen Antrag abgelehnt habe, weil sie ihn nicht liebe. Auf Dianas Einwand »Yet he is a handsome fellow«, entgegnet Jane: »And I am so plain you see, Die. We should never suit.« (JE, 415) 19 20

Diese Szenen wurden in Kapitel 3 bereits ausführlich untersucht; dort ging es um Fragen der Gleichberechtigung (equality) und der Machtverhältnisse in der Liebe. Siehe auch die in Kapitel 4.2 kurz angedeuteten Überlegungen zu vergeschlechtlichten Blickregimen.

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Angesichts dessen, dass – wie wir gesehen haben – Schönheit ein essenzielles Attribut des Subjekts der Liebesgeschichte ist und Schönheit und desirability zirkulär aufeinander bezogen sind, fungiert Janes Proklamieren ihrer plainness also nicht zuletzt als Widerstand dagegen, (nur) Subjekt des Liebesplots zu sein. Die plainness wird so zum positiven Identifikationspunkt einer individuellen, nicht durch den heterosexuellen Plot bedingten weiblichen Identität. Es handelt sich um eine spezifische Klassenidentität. Eagleton bezeichnet Janes Kleidungsstil – genauso wie den von Helen in The Tenant of Wildfell Hall (siehe Kapitel 4.2) – als kleinbürgerlich (Eagleton 1975, 132; vgl. auch Politi 1982, 56 f.), eine Einschätzung, die zu Janes ambivalentem Klassenstatus passt. Als governess muss sie einerseits vor allem die Anforderung erfüllen, eine Lady zu sein. Andererseits steht sie in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren ArbeitgeberInnen und verrichtet ihre Arbeit für Geld, d.h. sie ist de facto Teil der DienerInnenschaft, zu der sie sich selbst aber nicht zugehörig fühlt.21 Die Betonung von Janes plainness stellt in gewisser Weise eine »Lösung« dieses Dilemmas dar, indem kleinbürgerlich konnotierte Elemente zu einer spezifischen Ästhetik kombiniert werden und diese vom Roman als begehrenswert dargestellt wird.22 Auch Janes Kleidungsstil folgt dieser Ästhetik, die über die bloßen materiellen Gegebenheiten (die Abwesenheit von »schöneren« Kleidern) hinausgeht, auch wenn letzteres manchmal suggeriert wird (»[I was] obliged to be plain – for I had no article of attire that was not made with extreme simplicity«, JE, 98). Denn Jane, so legt es der Text nahe, hat es nicht nötig, sich mit ausgefallenen Kleidern zu schmücken, wenn schon ihr einfaches schwarzes Kleid so gut passt: »my black frock – which, Quaker-like as it was, at least had the merit of fitting to a nicety« (JE, 98). Eines der drei Kleider in ihrem Besitz – bezeichnenderweise das einzige, das nicht schwarz ist – erscheint ihr gar als zu fein, um überhaupt getragen zu werden. Bei Rochesters erstem Besuch wird sie von Mrs. Fairfax dazu angehalten, sich vor dem Abendessen umzuziehen. Sie kommentiert: This additional ceremony seemed somewhat stately: however, I [...] replaced my black stuff dress by one of black silk; the best and the only additional one I had, 21

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Zur gesellschaftlichen Situation der Gouvernante und der Verhandlung der durch sie aufgeworfenen Fragen in der Literatur gibt es große Mengen an Untersuchungen, für die hier exemplarisch Armstrong 1987, Poovey 1988 und Ingham 2006 genannt seien. Es geht mir dabei nicht so sehr um Janes »tatsächlichen« Klassenstatus als vielmehr darum, wie Klasse im Roman produziert und verhandelt wird. Trotz des thematisch völlig unterschiedlichen Fokus hat Chris Vanden Bossche einen ähnlichen Ansatz: »The question is not whether the novel supports or subverts class ideology, but rather how it deploys the languages of class in order to confront a series of social situations, each of which threatens to delimit Jane Eyre’s social agency.« (Bossche 2005, 47; siehe auch Kapitel 2)

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except one of light grey, which, in my Lowood notions of the toilette, I thought too fine to be worn, except on first-rate occasions. (JE, 119)

Auch im Hinblick auf die Kleidung kann plainness also als Widerstand gegen als überflüssig wahrgenommene Konventionen dienen: Jane zeigt sich spröde gegenüber der bürgerlich-aristokratischen »additional ceremony« des dressing for dinner, sowohl in ihrer Erzählung als auch in ihrer Weigerung, das schönste Kleid zu tragen. Zwar ironisiert sie ihre eigenen Vorstellungen von Luxus, aber es gibt im Roman keinerlei Anzeichen dafür, dass sich ihre »Lowood notions of the toilette« ändern. Im Gegenteil, die Einfachheit der Kleider bleibt ein Qualitätsmerkmal. Auch nach ihrer Verlobung, als sie sich selbst als schön wahrnimmt, trägt sie ein einfaches Kleid: »I took a plain but clean and light summer dress from my drawer and put it on: it seemed no attire had ever so well become me; because none had I ever worn in so blissful a mood.« (JE, 257)23 Nicht das Kleid schmückt hier Jane, sondern Jane bringt durch ihre Stimmung das Kleid erst zur Geltung. Zudem ist hier das Adjektiv »plain« subtil anders konnotiert, indem es mit den Worten »clean« und »light« verbunden wird. Die Einfachheit wird gewissermaßen selbst zum Luxus (siehe Kapitel 3). Gleichzeitig besteht Jane jedoch darauf, eine lady zu sein. Wir haben bereits gesehen, wie plainness mit Sauberkeit, neatness und respectability verknüpft wird.24 Doch in Bessies Urteil »you are genteel enough« (JE, 91, meine Hervorh.) zeigt sich, wie prekär Janes Status ist. Das wird auch sichtbar, wenn sich Jane mit Grace Pool vergleicht und ihren Verdacht abwägt, Rochester könne mit ihr ein Verhältnis gehabt haben: I thought, »No; impossible! my supposition cannot be correct. Yet,« suggested the secret voice which talks to us in our own hearts, »you are not beautiful either, and perhaps Mr. Rochester approves you [...]«[...] I compared myself with her, and found we were different. Bessie Leaven had said I was quite a lady; and she spoke truth: I was a lady. (JE, 156 f., Hervorh. i.O.)

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Der Zugang zu einer bürgerlichen Identität erscheint hier als essenzielle Zugangsvoraussetzung zum heterosexuellen Liebesplot, viel mehr als die Frage der Schönheit. Shuttleworth weist darauf hin, dass gegenüber Grace eine andere Grenze gezogen wird als gegenüber sowohl Bertha als auch Blanche Ingram: Even in her raging madness Bertha remains to her [Jane, J.C.] a »lady«: caste overrides the boundaries of race, and of animal/human, insane/sane behaviour.

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Nebenbei bemerkt stellt sich die Frage, woher Jane plötzlich das leichte Sommerkleid hat, wo sie doch zuvor betont hatte, nur drei Kleider zu besitzen. Auch daran zeigt sich, wie sehr Kleidung zur Charakterisierung der Figur beiträgt, anstatt »bloße« materielle Gegebenheit zu sein – mitunter sogar auf Kosten des Realismusanspruchs. Zur Bedeutung von Sauberkeit für bürgerliche Weiblichkeitskonstruktionen siehe auch Kapitel 4.2.

Die eigene Liebe erzählen

Despite the mobilization of images of the animal grotesque, Jane places herself, Bertha and Blanche on the same side of the class divide, in opposition to the servant Grace. (Shuttleworth 1996, 168)

Denn Jane legt viel Wert auf hierarchische soziale Differenzierungen, sie »clings to real class-distinctions while spiritually rejecting them« (Eagleton 1975, 28). Die Kategorisierung von anderen dient dabei der Befestigung des eigenen Status, so Ingham: »characters and narrators in the Brontë novels regularly ›classify‹ those they encounter or meet, partly in order to establish their own relative status« (Ingham 2006, 100). Dies ist der Hintergrund für Janes mitunter scharfe Grenzziehungen nach »unten«: gegenüber Grace Pool, aber auch gegenüber ihren Schülerinnen in der Dorfschule von Morton (JE, 358 f., 365 f.) oder gegenüber der Dienerin der Rivers (JE, 340 ff.). Schon als Kind grenzt Jane sich gegenüber ihren eigenen unbekannten, aber als arm bezeichneten Verwandten ab: »›No; I should not like to belong to poor people,‹ was my reply. ›Not even if they were kind to you?‹ I shook my head« (JE, 24). Die Abgrenzung von Grace Pool weist aber ein zusätzliches wichtiges Element auf: Hier geht es darum, die Verknüpfung von ladyhood und Tugend aufrechtzuerhalten – die in Kapitel 4.2 bereits ausführlich beschrieben wurde – und Jane auf der Seite der bürgerlichen Tugend zu verankern. Tugend und ladyhood bilden, wie wir gesehen haben, in ihrer zirkulären Verwiesenheit aufeinander ein machtvolles Ideal bürgerlicher Weiblichkeit und damit die Essenz der desirability. Die Korrespondenz zwischen Innen und Außen, die die Trias ladyhood – virtue – beauty vervollständigen würde (siehe ebenfalls Kapitel 4.2), wird in Jane Eyre in stärkerem Maß problematisiert als in den anderen analysierten Romanen. Die konventionell schönen Figuren werden unsympathisch gemacht, indem ihre inneren Qualitäten zu wünschen übrig lassen und Jane als moralisch hoch überlegen und weitaus begehrenswerter dargestellt wird. Das trifft auf die verwöhnte Georgiana Reed genauso zu wie auf die berechnende, egozentrische und innerlich hohle Blanche Ingram, aber auch auf St. John Rivers, der zwar schön wie eine klassische Statue ist, dabei aber eine unmenschliche und despotische Dogmatik an den Tag legt. Vor allem in der Charakterisierung von Blanche wird, laut Anita Levy, aristokratische Schönheit abgewertet: Mrs. Fairfax’s description represents the aristocratic woman as a collection of attributes located on the surface of the body. Miss Ingram is little else than superficial characteristics and social accomplishments lacking depth and interiority. (Levy 1995, 90; vgl. auch Armstrong 1987, 75 f.)

»Such beauty«, fasst Lefkovitz zusammen, »occurs at the expense of virtue« (Lefkovitz 1987, 149). Mehr noch: Der Roman wertet konventionelle Schönheit auf subtile Weise ab. Das drückt sich in Janes Bewertung der anderen Figuren genauso aus wie in ihrem Beharren auf ihrer eigenen plainness. In Janes Beschreibungen von Rochester als unattraktiv steckt, so Lef-

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kovitz, auch ein gewisser Stolz im Hinblick auf die eigene unabhängige Urteilsfähigkeit: »One also senses, however, that Jane is proud of her discrimination, as if conventional good looks are not worth having or admiring.« (Lefkovitz 1987, 146) Plainness wird damit in gewisser Weise zum neuen, besseren (weil moralisch integren) Schönheitsideal stilisiert. Um es zusammenzufassen: Die beiden vorangegangenen Unterkapitel haben jeweils einen Strang der Interpretation von Janes plainness verfolgt. Das erste fokussierte auf die Bedeutung von Schönheit für den heterosexuellen Liebesplot und zeigte, wie Schönheit und Begehren miteinander verwoben werden. Für die weibliche Ich-Erzählerin erzeugt das eine paradoxe Situation, denn das Nichtwissen um die eigene desirability fungiert als bedeutsame Grenze akzeptabler bürgerlicher Weiblichkeit. Die Analyse hat gezeigt, wie der Text Bedeutungen erzeugt, die von Janes Rede nicht bewusst kontrolliert werden, indem die Fokalisierung über weite Strecken ganz bei der erlebenden Figur liegt, die zwar alles genau beobachtet und wiedergibt, aber nicht unbedingt (richtig) interpretieren kann. So werden Blicke von außen auf Jane geschaffen, allen voran Rochesters, über die Jane begehrenswert gemacht werden kann: Sie wird zum Objekt des männlichen Blicks und des männlichen Begehrens. Sowohl diese narrative Struktur als auch Janes Bescheidenheit und scheinbar objektive Feststellung ihrer mangelnden Schönheit untermauern die Bedeutung von Schönheit als zentrales Element weiblicher desirability und gleichzeitig die Bedeutung von desirability für weibliche bürgerliche Subjektivität. Im zweiten Unterkapitel wurde gezeigt, dass plainness im Roman allerdings auch positiv aufgeladen wird: Sie steht für Wahrheit, Individualität und für den Widerstand gegen gesellschaftliche Konventionen. Als Figur benutzt Jane das Beharren auf ihrer plainness als Moment des Widerstands gegen die vollständige Vereinnahmung durch ihre suitors Rochester und St. John und damit, auf narrativer Ebene, durch den Liebesplot. Schönheit wird abgewertet und für oberflächlich erklärt, indem konventionell schöne Figuren als moralisch zweifelhaft dargestellt werden. Im Gegenzug wird jedoch die Verknüpfung von Bürgerlichkeit und Tugend gestärkt. Schönheitsnormen erscheinen als genauso oberflächlich wie andere »hohle« gesellschaftliche Konventionen, während Janes plainness mit Wahrheit, Ehrlichkeit und Echtheit in Verbindung gebracht wird. In dieser Hinsicht fungiert die plainness auch als Legitimation der Erzählerin. Die Wahrhaftigkeit ihrer Erzählung wird nicht nur von ihrer schmerzhaften Ehrlichkeit in Bezug auf ihr Aussehen untermauert, sondern auch von der Weigerung der Figur, jegliche Form uneindeutigen Sprechens zu verstehen. In dieser Hinsicht kann gerade die Akribie, mit der die Blicke der anderen Figuren auf Jane dokumentiert werden, als ein Versuch der Erzählerin gesehen werden, diese Blicke von außen zu kontrollieren und damit in ihrer Bedeutung einzuschränken.

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Je nachdem, welche Aspekte ins Zentrum der Analyse gestellt werden, erscheint Jane entweder als eine Erzählerin, die durchweg die souveräne Kontrolle über ihre Erzählung behält und dabei als Figur eine stolze Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Konventionen demonstriert; oder als bescheidene unzuverlässige Erzählerin, die vieles nur beobachten, aber nicht verstehen kann und die der Text dem Blick des männlichen begehrenden Subjekts unterordnet. Alison Case prägt für diese unterschiedlichen Erzählhaltungen die Begriffe des plotting bzw. witnessing narrator (Case 1999). Bemerkenswert ist diese Unterscheidung, weil sie von zentraler Bedeutung für die Charakterisierung der Erzählerin und für die Definition akzeptabler bürgerlicher Weiblichkeit ist, denn, so Case: »feminine virtue becomes linked not just to the refusal to tell a story, but to the inability to do so« (Case 1999, 17). Plotting in seiner Doppelbedeutung (das Gestalten einer Geschichte, aber auch das oft heimliche Planen einer Intrige oder dergleichen) macht weibliche Ich-Erzählerinnen automatisch suspekt (vgl. Case 1999, 15), weil es sie in die Nähe von Berechnung rückt. Gerade in Bezug auf den Liebesplot ist aber Berechnung fast automatisch ein Ausschlussgrund aus dem Feld der begehrenswerten Weiblichkeit (vgl. Kapitel 4.2). Die Erzählerin von Jane Eyre, die ihre eigene Geschichte erzählt, ohne einem master narrator untergeordnet zu sein, und die noch dazu ihre eigene Liebesgeschichte erzählt, steht demnach beständig im Spannungsfeld zwischen Selbstautorisierung und Bescheidenheitsinszenierung. Ihre narrative Kontrolle wird entweder maskiert – etwa durch die geringe narrative Distanz zwischen Figur und Erzählerin sowie durch das Fehlen eines expliziten Erzählanlasses – oder durch ihre Einordnung in das Schema des love to marriage-Plots relativiert. Am Ende des Romans steht das Happy End in der Ehe und damit die heterosexuelle closure. Die Stimme der Figur wird dabei ebenso disziplinierenden Effekten unterworfen wie ihre Handlungen (»my time and cares were now required by another – my husband needed them all«, JE, 450; »I was then his vision, as I am still his right hand«, JE, 451). Bei ihrem Wiedersehen mit Rochester erzählt sie ihm ihre Erlebnisse, aber das oberste Prinzip ist dabei nicht mehr die Wahrheit, sondern die Wirkung der Erzählung auf Rochester: »I softened considerably what related to the three days of wandering and starvation, because to have told him all would have been to inflict unnecessary pain« (JE, 440). Zudem verschweigt sie ihm, dass sie selbst auf übernatürliche Weise seine Rufe gehört hat (JE, 448). Bodenheimer schreibt dazu: The passage seals Jane’s commitment to »credible narrative,« and to the shaping and pruning of experience that it demands. The implication for her development is clear: Jane has grown up into a purveyor of tales realistic and moral, suspenseful and heartwarming. (Bodenheimer 1980, 394)

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Das weibliche bürgerliche Subjekt bleibt das Subjekt der Liebesgeschichte – bleibt über die Liebe definiert. Um noch ein Mal auf die Frage der Schönheit zurückzukommen: Wir haben gesehen, dass plainness in Jane Eyre unter anderem für das individualisierte Subjekt steht. Die Attribute dieses Subjekts sind jedoch Teil der besonderen desirability von Jane, sodass die widerständigen Momente doch wieder in den heterosexuellen Liebesplot eingegliedert werden. Die bürgerliche Frau bleibt über das Begehrtwerden definiert, auch wenn die spezifischen Eigenschaften, durch die sich diese desirability definiert, sich beständig verändern und auch in sich widersprüchlich sind. Jane ist nicht trotz ihrer fehlenden Schönheit begehrenswert, sondern sie ist schön, weil sie plain ist. Ihre Schönheit ist »besonders«, nicht »durchschnittlich« – sie entspricht nicht den gesellschaftlichen Idealen, sondern hebt sich davon ab, denn das bürgerliche Subjekt muss immer einzigartig sein. Einzigartigkeit ist auch nötig, um diese »besondere« Schönheit zu erkennen, und seine Fähigkeit dazu macht Rochester zum Helden des Liebesplots. Ein beträchtlicher Teil der Faszination, die dieser Roman ausstrahlt, ist meines Erachtens genau darin begründet, dass Jane ungeachtet des ersten oberflächlichen Anscheins der Inbegriff weiblicher bürgerlicher desirability ist.

5.3 »...in the words of the brief, plain, studiously simple abstract...«: Erzählen als bürgerliche Männlichkeitsperformance in The Woman in White

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Wir haben bereits in der Analyse von Jane Eyre gesehen, dass dort Aspekte der Wahrheit und des Wahrsprechens von zentraler Bedeutung sind und dass sie sowohl mit narrativer Kontrolle als auch mit der Unterwerfung unter bestimmte narrative Konventionen in Verbindung stehen. Die Versicherung, die Wahrheit zu erzählen, verleiht der Erzählinstanz Glaubwürdigkeit und Legitimität. Doch wir haben auch gesehen, dass der Akt des Wahrsprechens nie unabhängig von der Art des Erzählens ist. Nur die in einer bestimmten Art und Weise geformte Geschichte kann als Wahrheit gelten und den Legitimitätsanspruch einlösen. In The Woman in White mit seiner außerordentlich komplexen Erzählstruktur wird dies besonders deutlich. Um herauszuarbeiten, wie Walter Hartright, der übergeordnete Erzähler, als liebendes Subjekt entworfen und autorisiert wird, muss diese Erzählstruktur in ihrer Gesamtkonstruktion in den Blick genommen werden. Dafür fokussiere ich zuerst auf den zu Beginn des Romans geäußerten Anspruch, die Erzählung der Ereignisse analog zu einer Gerichtsverhandlung als eine Reihe von ZeugInnenaussagen zu gestalten und so die »reine Wahrheit« – the plain truth – zutage zu fördern. Ich frage dabei, wie sich

Die eigene Liebe erzählen

der Objektivitätsanspruch des Romans zu der subjektiven Erzählung von Hartrights Liebe verhält. Im zweiten Unterkapitel verschiebe ich den Fokus, um die im Verlauf des Romans immer deutlicher zutage tretende narrative Kontrolle durch Hartright zu untersuchen, der sich im Schreiben als bürgerliches Subjekt entwirft, das die Wahrheit auf einfache und schnörkellose Weise erzähle – telling the truth plainly. Wie bei Jane Eyre geht diese narrative Kontrolle – die, wie wir sehen werden, auch als Machtergreifung bezeichnet werden könnte – mit disziplinierenden Effekten einher, die ich wiederum in Verbindung bringe mit der Disziplinierung des liebenden Subjekts.

5.3.1 Telling the plain truth: Die Objektivität des Gerichts und die Subjektivität der Liebe Besonders die ersten beiden Bände von The Woman in White (oder »Epochs«, wie sie im Roman genannt werden25 ) bestehen aus einer Vielzahl verschiedener Erzählungen, die jeweils von einer Figur erzählt werden. Auf »The Story begun by Walter Hartright, of Clement’s Inn, Teacher of Drawing« (WW, 5) folgt »The Story continued by Vincent Gilmore, of Chancery Lane, Solicitor« (WW, 127) und »The Story continued by Marian Halcombe, in Extracts from her Diary« (WW, 163). Nach Marians langer Tagebucherzählung werden die Berichte kürzer (Mr. Fairlie, WW, 345 ff. und Eliza Michelson, die Haushälterin von Percival Glyde, WW, 364 ff.) und umfassen zuletzt nur noch eine halbe bis einige Seiten (»The story continued in several narratives«, WW, 407). Diese Struktur, die Alison Case »documentary novel« nennt (Case 1999, 147 ff.), soll Objektivität suggerieren. Gleich zu Beginn des Romans wird dieser Anspruch von Walter Hartright formuliert: Thus, the story here presented will be told by more than one pen, as the story of an offence against the law is told in Court by more than one witness – with the same object, in both cases, to present the truth always in its most direct and most intelligible aspect; and to trace the course of one complete series of events, by making the persons who have been most closely connected with them, at each successive stage, relate their own experience, word for word. (WW, 5 f.)

Die Ereignisse werden also, so wird hier behauptet, nach der Reihenfolge ihres Geschehens erzählt, in der Form einer scheinbar objektiven Chronologie der Ereignisse. Dafür werden die einzelnen Erzählungen mit den Aussagen von ZeugInnen vor Gericht verglichen, deren Rekapitulation der von

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In der seriellen Publikation in der Zeitschrift All the Year Round sowie in der ersten veröffentlichten Buchfassung (1860) war der Roman in zwei ungleich große Teile geteilt. Die Aufteilung in drei »Epochs« (die jeweils einem Band entsprachen) wurde erst in der Fassung von 1861 vorgenommen (Kendrick 1977, 25).

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ihnen erlebten Ereignisse die Wahrheit zutage fördern soll. Die Leser_innen übernehmen dabei die Rolle des Richters: »As the Judge might once have heard it, so the Reader shall hear it now.« (WW, 5) Die verschiedenen ErzählerInnen, auf der anderen Seite, berichten ausschließlich aus ihrer eigenen unmittelbaren Erfahrung, die in einen scharfen Gegensatz zu »hearsay evidence« gestellt wird: No circumstance of importance, from the beginning to the end of the disclosure, shall be related on hearsay evidence. When the writer of these introductory lines (Walter Hartright, by name) happens to be more closely connected than others with the incidents to be recorded, he will describe them in his own person. When his experience fails, he will retire from the position of narrator; and his task will be continued, from the point at which he has left it off, by other persons who can speak to the circumstances under notice from their own knowledge, just as clearly and positively as he has spoken before them. (WW, 5)

Das Erzählen wird damit explizit in den Dienst der Wahrheitsfindung gestellt. Gleichzeitig sucht sich die beginnende Gesamterzählung dadurch zu legitimieren, dass sie die Macht des Gesetzes und des Gerichts aufruft, auch wenn die tatsächliche Praxis des Gerichts kritisiert wird: If the machinery of the Law could be depended on to fathom every case of suspicion, and to conduct every process of inquiry, with moderate assistance only from the lubricating influences of oil of gold, the events which fill these pages might have claimed their share of the public attention in a Court of Justice. But the Law is still, in certain inevitable cases, the pre-engaged servant of the long purse; and the story is left to be told, for the first time, in this place. (WW, 5)

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Das Gericht wird für seine Korruption und seine Voreingenommenheit kritisiert, gleichzeitig fungiert die Idee des Gerichts jedoch als Garant für die Glaubwürdigkeit der Erzählung, wie etwa Jenny Bourne Taylor schreibt: »the corruption of the Law is replaced by the analysis of the Reader, but within the framework of credibility which the Law confers« (Taylor 1988, 110). Auch D.A. Miller betont: »despite its conventionally bitter references to oil of gold and the long purse, the text is eager to retain the law – the juridical model of an inquest – for its own narrative« (Miller 1988, 156 f.).26 Das Modell der Gerichtsverhandlung ist auch in den auf die Einleitung folgenden Erzählungen präsent, in denen beinahe exzessiv Daten und Fakten gesammelt werden, deren Relevanz die Leser_innen noch nicht einschätzen können. Vincent Gilmore, der Walter Hartright als Erzähler folgt, 26

Miller geht noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass dem Text nicht so sehr ein tatsächliches juridisches Modell zugrunde liege, sondern dass dieses juridische Modell vielmehr erweitert werde zu einem potenziell totalitären paranoiden System, das eine größere Nähe zum Prinzip der Disziplin als zu dem des Gesetzes aufweise: »Under the guise of a pedantic, legalistic organization, the novel in fact aligns itself with extra-, infra-, and supralegal modern discipline.« (Miller 1988, 157) Auf Aspekte der Disziplinierung gehe ich im nächsten Unterkaptitel ein.

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warnt explizit davor, Dinge zu überspringen, die im Moment langweilig erscheinen mögen, und steht damit für die gesamte Erzählhaltung, denn wie vor Gericht kann jedes Detail wichtig sein: It is impossible to refer intelligibly to this document, without first entering into certain particulars, in relation to the bride’s pecuniary affairs. I will try to make my explanation briefly and plainly, and to keep it free from professional obscurities and technicalities. The matter is of the utmost importance. I warn all readers of these lines that Miss Fairlie’s inheritance is a very serious part of Miss Fairlie’s story; and that Mr Gilmore’s experience, in this particular, must be their experience also, if they wish to understand the narratives which are yet to come. (WW, 149)

In dieser Wahrheitskonstruktion entsteht erst aus der Fülle der Details und damit aus der Summe der einzelnen Erzählungen das vollständige Bild. Das bedeutet, dass die Aufteilung der Erzählinstanz auf verschiedene Stimmen keinen relativierenden Effekt mit sich bringt. Es geht nicht darum zu zeigen, dass jede Figur ihre eigene Wahrnehmung und damit ihre eigene Wahrheit hat, sondern um eine positivistische Rekonstruktion der einen objektiven Wahrheit aus den verschiedenen Teilwahrnehmungen. Denn obwohl jeder Erzähler und jede Erzählerin aus der eigenen Erfahrung berichtet und an den eigenen Erfahrungshorizont gebunden ist, machen ihre Geschichten erst einen Sinn, wenn sie durch eine übergeordnete Instanz zu einer kohärenten Geschichte verknüpft werden (vgl. Coffey 2008, 65 f.). Wer diese Instanz ist und welche Berechtigung und Motivation sie zum Erzählen der Geschichte hat, bleibt vorerst vage, auch wenn es von Anfang an Hinweise auf Hartright gibt. Hartright gibt sich als Autor der oben bereits zitierten einführenden Worte zu erkennen, macht sich aber gleichzeitig dadurch unsichtbar bzw. (scheinbar) unwesentlich, dass er von sich selbst in der dritten Person schreibt: »the writer of these introductory lines (Walter Hartright, by name)« (WW, 5). Gilmore wiederum geht am Beginn seiner Erzählung darauf ein, dass die gesamte Verantwortung für das Erzählen der Geschichte bei Hartright liegt: There is no need for me to say whether my own opinion does or does not sanction the disclosure of the remarkable family story, of which my narrative forms an important component part. Mr Hartright has taken that responsibility on himself; and circumstances yet to be related will show that he has amply earned the right to do so, if he chooses to exercise it. (WW, 127 f.)

Gilmore distanziert sich von dem Erzählprojekt, das der Roman schildert, und bezeichnet Hartright als denjenigen, der dafür die Verantwortung trägt und der damit die übergeordnete Erzählinstanz verkörpert. In anderen Erzählungen gibt es ebenfalls Hinweise auf eine gestaltende Präsenz, die aber unbenannt bleibt. Die Präzisierung von Ort, Zeit und Anlass des Erzählens – und damit die genauere Konturierung der Erzählinstanz – wird in einer Fußnote am Anfang von Mr. Fairlies Erzählung explizit auf später verschoben:

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The manner in which Mr Fairlie’s Narrative, and other Narratives that are shortly to follow it, were originally obtained, forms the subject of an explanation which will appear at a later period. (WW, 345)

Auch zu Beginn von Marians Tagebucherzählung wird, wiederum in einer Fußnote, auf eine Instanz verwiesen, die editierend in den Text eingreift: The passages omitted, here and elsewhere, in Miss Halcombe’s Diary, are only those which bear no reference to Miss Fairlie or to any of the persons with whom she is associated in these pages. (WW, 163)

Die übergeordnete Instanz, die hier spricht, ist es, die Marians Erzählung gewichtet und auswählt. Die Passivkonstruktion verschleiert dabei Hartrights Position als übergeordneter Erzähler und hält die Illusion einer objektiven narrativen Stimme aufrecht. In seiner Funktion als »General Editor« der gesammelten Erzählungen beruft sich Hartright auf die Autorität des juridischen Rahmens (Taylor 1988, 111), bringt dabei aber die Partikularität seiner Stimme weitgehend zum Verschwinden. Pamela Perkins und Mary Donaghy fassen die ambivalente Position dieses master narrator wie folgt zusammen: Walter’s editorial presence is indicated both through the explicit acknowledgment of the various narrators and through Walter’s »extra-textual« comments, spoken in a voice which is seemingly impersonal, disinterested and objective. This is exactly the voice heard in the Preamble, a voice which is in fact Walter’s. And, as already indicated, his voice is far from reliable despite its pretense of objectivity. Strangely unidentified, except by Vincent Gilmore, the imprint of Walter’s editorial hand lies on each account of the action which occurred during his absence. (Perkins/Donaghy 1990, 396)27

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Durch die unpersönliche, distanzierte und scheinbar objektive Haltung von Hartright als master narrator wird der Legitimitäts- und Wahrheitsanspruch der Geschichte untermauert. Gleichzeitig führt die scheinbare Neutralität und (beinahe) Allwissenheit dieser Erzählinstanz aber auch dazu, dass Hartrights Stimme in zwei verschiedene Erzähler aufgespaltet wird – diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die ersten beiden Bände des Romans. Denn Hartright ist nicht nur als master narrator (vage) präsent, sondern berichtet als einer der ZeugInnen auch aus seinen eigenen Erfahrungen und Erlebnissen. Taylor prägt für diese beiden Rollen die Begriffe »General Editor« und »specific narrator« (Taylor 1988, 111). Als »specific narrator« ist Hartright (so wird es zumindest vom Roman vorerst suggeriert) auf einer Ebene mit den anderen ErzählerInnen: Gilmore, Marian, Mr. Fairlie, die Haushälterin Mrs. Michelson und so weiter. Seine Erzählperspektive entspricht seiner Figurenperspektive – und was er erzählt, ist in erster Linie die Geschichte seiner Liebe. Die Erzählung setzt 27

In den ersten Ausgaben war Abschnitt I des Kapitels »The Story begun by Walter Hartright« (WW, 5 f.) noch als »Preamble« übertitelt, und die Erzählung von Hartright setzte danach ein (Kendrick 1977, 24).

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damit ein, dass Walter Hartright als Zeichenlehrer in das Haus von Mr. Fairlie kommt, um dessen Nichte Laura zu unterrichten und seine Sammlung von Zeichnungen zu reparieren und zu rahmen. Walter verliebt sich in Laura, aber Standesunterschiede sowie eine von Lauras verstorbenem Vater arrangierte Verlobung verunmöglichen eine Ehe zwischen den beiden, obwohl Laura die Gefühle erwidert (siehe auch Kapitel 3). Walter verlässt Limmeridge House und übergibt die Erzählung an Vincent Gilmore, den Anwalt der Familie. Gilmore kommt nach Limmeridge, um Sir Percival Glyde, Lauras designierten Ehemann, zu treffen und einen Ehevertrag aufzusetzen.28 Hartright wird nicht nur als Erzähler verdrängt, er verschwindet als Figur beinahe völlig aus der Geschichte. Diese beiden Ebenen wirken zusammen, um seine erzählerische Souveränität nachträglich in Frage zu stellen und ihn als Figur zu entmachten. Die Entmachtung der Figur beginnt schon am Ende von Hartrights eigener Erzählung, indem ihm der »Fall« entzogen wird, für dessen Auflösung er sich bisher, gemeinsam mit Marian, zuständig gefühlt hat, und er damit seine legitime Sprechposition verliert.29 Dennoch bleibt die Frage der Glaubwürdigkeit im Verlauf von Gilmores Erzählung ambivalent, denn dieser zeichnet sich vor allem durch Fehleinschätzungen aus, so Miller: »The novel’s only character with strict judicial habits of mind is the lawyer Gilmore, who judges only to misjudge.« (Miller 1988, 159) Die fehlende Glaubwürdigkeit von Gilmore wird bereits am Ende von Hartrights Erzählung angedeutet, als die beiden Männer sich über den anonymen Brief und die darin gegen Sir Percival erhobenen Vorwürfe unterhalten. Hartright ist mit Gilmores Vorgehen nicht einverstanden, aber Gilmore will darüber nicht diskutieren: »I am afraid, Mr Gilmore, I have the misfortune to differ from you in the view I take of the case.« »Just so, my dear sir – just so. I am an old man; and I take the practical view. You are a young man; and you take the romantic view. Let us not dispute about our views. I live, professionally, in an atmosphere of disputation, Mr Hartright; and I am only too glad to escape from it, as I am escaping here. We will wait for events

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Zum Thema der marriage settlements und der Verhandlung der Debatten rund um das Eigentum von verheirateten Frauen in The Woman in White siehe Kapitel 3. Es ist nicht ganz einfach zu sagen, worin dieser »Fall« besteht. Zu Beginn beschäftigt sich Walter mit der Auflösung des Rätsels um die titelgebende »Woman in White«, Anne Catherick, die er vor seiner Abreise aus London auf der Straße getroffen hat, nachdem sie aus der »Irrenanstalt« geflohen war. Bei der Angelegenheit, die Hartright an Gilmore übergibt, handelt es sich jedoch um einen anonymen Brief, den Anne Catherick an Laura geschrieben hat und in dem sie schwere Vorwürfe gegen Sir Percival Glyde erhebt.

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– yes, yes, yes; we will wait for events. Charming place, this. Good shooting? [...]« (WW, 119)

Gilmore lenkt auf allgemeine Themen und schreibt ihre unterschiedlichen Meinungen dem Generationenunterschied zu. Auf Figurenebene entmachtet er Hartright damit und untergräbt seine Legitimität, über den Fall zu sprechen. Auf Erzählerebene führt dies aber dazu, dass die Sympathie auf Hartright gelenkt wird und Gilmore als Erzähler zumindest fragwürdig gemacht wird. Zudem wird zwischen Gilmore und Hartright eine Differenz in Bezug auf »das Detektivische« bzw. die Wahrheitssuche etabliert. Während Hartright kompromisslos, ergebnisoffen und unvoreingenommen durch gesellschaftliche Stellungen und Reputationen nach der Wahrheit sucht (was der objektiven, positivistischen, detektivischen Sicht entspricht), verlässt sich Gilmore auf seine Einschätzungen und seine Personenkenntnis, d.h. auf sein (vermeintliches) Wissen über die Welt. Er sucht eigentlich gar nicht nach der Wahrheit, sondern er wertet, wenn er in demselben Gespräch mit Hartright über Sir Percival sagt: I have no doubt myself that every explanation which can be expected from a gentleman and a man of honour, he will readily give. Sir Percival stands very high, sir – an eminent position, a reputation above suspicion [...] (WW, 119, meine Hervorh.)

Doch im Zuge von Gilmores Erzählung, ebenso wie in dem darauf folgenden Auszug aus dem Tagebuch von Marian, wird Hartright zunehmend selbst fragwürdig gemacht. Gilmore trifft ihn zufällig in London und zeigt sich erschrocken darüber, wie sehr er sich verändert hat: If he had not been the first to greet me, I should certainly have passed him. He was so changed that I hardly knew him again. His face looked pale and haggard – his manner was hurried and uncertain – and his dress, which I remembered as neat and gentlemanlike when I saw him at Limmeridge, was so slovenly now, that I should really have been ashamed of the appearance of it on one of my own clerks. (WW, 157)

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Hartright zeigt Symptome von Nervosität und Paranoia30 : »He spoke so fast, and crowded his questions together so strangely and confusedly that I 30

Miller sieht Nervosität und Paranoia generell als zentral für das Genre der sensation fiction an. Er verweist auf den eigentlichen Gehalt des Wortes »sensation«: »the modern nervousness that is as fundamental to this genre as its name« (Miller 1988, 147). Diese Nervosität sieht er in allen Hauptfiguren repräsentiert: »Without exception, such a state affects all the novel’s principal characters, who are variously startled, affrighted, unsettled, chilled, agitated, flurried.« (Miller 1988, 149) Für ihn steht Nervosität metonymisch für das Lesen, genauer gesagt, für das nervöse, paranoide Lesen, das er als typisch für den Sensationsroman (und darüber hinaus z.B. für heutige Thriller) sieht. Darüber hinaus wird Nervosität oder insanity oft als für das Genre des Sensationsromans konstitutiver Topos gesehen (vgl. etwa Wynne 2001 oder Hughes 1980), über den unter anderem die Grenze zwischen »Normalität« und »Wahnsinn« verhandelt wird (vgl. Shuttleworth 1996, 150 ff.).

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could hardly follow him.« (WW, 157) Die Symptome manifestieren sich sogar körperlich: »A momentary nervous contraction quivered about his lips and eyes« (WW, 157). Zudem erkennt Gilmore Anzeichen von Verfolgungswahn bei Hartright: »He looked about him [...] at the throng of strangers passing us by on either side, in a strange, suspicious manner, as if he thought that some of them might be watching us.« (WW, 157 f.) Gilmore fasst seinen Eindruck zusammen, dass mit Hartright etwas nicht in Ordnung sei: I had gained, in my profession, sufficient experience of young men, to know what the outward signs and tokens were of their beginning to go wrong; and, when I resumed my walk to the railway, I am sorry to say I felt more than doubtful about Mr Hartright’s future. (WW, 158)

In welcher Weise Hartright »auf die schiefe Bahn« geraten sein könnte, oder welche Ursachen das haben könnte, wird nicht präzisiert. Besonders die körperlichen Symptome und sein Verfolgungswahn31 fungieren jedoch als Anzeichen beginnender Verrücktheit. Sein schnelles Sprechen macht ihn beinahe unverständlich und verstärkt den Eindruck des Verlustes der rationalen und intelligiblen Sprache – Eigenschaften, die nicht nur zentral sind für seinen Status als souveränes bürgerliches Subjekt, sondern auch für seine Eignung als Erzähler der Geschichte. Mit dem Verlust der Erzählberechtigung, so scheint es, geht auch der Verlust der Erzählfähigkeit einher. Die Erzählberechtigung verliert Hartright unter anderem deswegen, weil er als Figur aus der Geschichte gedrängt wird – weil er nicht als geeigneter Ehemann für Laura angesehen wird. Gilmore spricht ihm das Recht ab, sich nach dem Stand von Lauras Verlobung zu erkundigen: »However accidentally intimate he might have been with the family at Limmeridge, I could not see that he had any right to expect information on their private affairs« (WW, 157). Hartright selbst erkennt, dass er nicht mehr Teil von Lauras Geschichte ist, auch wenn er es nicht akzeptieren will. Er antwortet Gilmore: »›I had no right to ask about her marriage,‹ he said, bitterly. ›I must wait to see it in the newspapers like other people. [...]‹« (WW, 157, meine Hervorh.). Anders als Gilmore hält Marian den Kontakt mit Hartright in Form von Briefen aufrecht. Dennoch wird Hartrights Verlust an Glaubwürdigkeit und Souveränität in Marians Erzählung verstärkt. In ihrem Tagebuch 31

Allerdings kann der Verfolgungswahn mit einer Bemerkung von Sir Percivals Anwalt in Verbindung gebracht werden, dass er einen Mann in London überwachen lasse, weil er ihn im Verdacht habe, etwas mit Anne Cathericks Flucht zu tun zu haben. Damit hätte der Verfolgungswahn eine faktische Basis und Hartrights Verrückwerden kann in Frage gestellt werden. Miller schreibt dazu: »We can’t know, just because Sir Percival’s men are watching Somebody, and Walter may be being watched, that Walter is that Somebody, and yet we are convinced that we do know this.« (Miller 1988, 159)

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berichtet sie über einen Brief, den sie von Hartright bekommen hat. Dieser ist nun zu »poor Walter Hartright« geworden (WW, 167), also zu einer Person, die Marian bemitleidet. Auch hier gibt es Hinweise auf den Verlust der rationalen Sprache, die wiederum mit dem Gefühl, verfolgt zu werden, in Verbindung gebracht werden: [...] he suddenly breaks off, and hints in the most abrupt, mysterious manner, that he has been perpetually watched and followed by strange men ever since he returned to London. He acknowledges that he cannot prove this extraordinary suspicion by fixing on any particular persons; but he declares that the suspicion itself is present to him night and day. This has frightened me, because it looks as if his one fixed idea about Laura was becoming too much for his mind. (WW, 168)

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Marian spricht den zuvor nur angedeuteten Verdacht des Verrücktwerdens explizit aus und bringt dies darüber hinaus mit Hartrights Liebe zu Laura in Verbindung. Damit wird Walters Liebe zu einer »fixed idea« entwertet und seiner Souveränität entrissen. Wie wir bereits in Kapitel 3 gesehen haben, wird im Liebesdiskurs eine scharfe (wenn auch immer prekäre) Grenze gezogen zwischen »echter« Liebe und einer als unecht und oberflächlich markierten Vernarrtheit (infatuation), die mit Geisteskrankheit assoziiert und damit pathologisiert wird. Walters Liebe erscheint nun als eine solche »ungesunde« oder »unnormale« Fixierung, wodurch seine Entsubjektivierung weiter verstärkt wird. Denn der nervöse, paranoide und auf Laura fixierte Mann wird eindeutig außerhalb des Feldes begehrenswerter Männlichkeit verortet. Das wird im Vergleich zu Marians etwas früherer Beschreibung von Hartright deutlich. Vor Erhalt seines Briefes erinnert sie sich an »the delicacy and forbearance and sense of honour which drew me to poor Hartright, and made me so sincerely admire and respect him« (WW, 164). Nach dem Brief jedoch empfindet Marian statt Respekt und Bewunderung nur noch Mitleid und Angst um Hartrights psychische Gesundheit. Hartright verliert an dieser Stelle der Erzählung also nicht nur seine legitime Sprechposition (als Figur und als Erzähler), sein damit eng verknüpfter Status als souveränes Subjekt – als bürgerlicher Mann – wird ebenfalls fragwürdig gemacht. Allerdings ist Hartright gleichzeitig, parallel zu diesem Prozess der Entsouveränisierung, als übergeordneter Erzähler präsent und hat als solcher die Macht über die gesamte Erzählung, eine Macht, die durch seine Haltung distanzierter Neutralität eher noch verstärkt wird, wie wir bereits gesehen haben. Der Text erzeugt also eine Spannung zwischen den beiden Stimmen, mit denen Hartright im ersten Band des Romans präsent ist. Diese Spaltung schafft überhaupt erst den legitimen Rahmen für die Erzählung der eigenen Liebe, die eng an den Horizont des erlebenden Ichs gebunden bleibt. Gleichzeitig stehen aber die entsouveränisierenden Effekte der Liebe auf die Figur und den partikularen Erzähler im Widerspruch zur souverän kontrollierenden übergeordneten Erzähl-

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instanz. In gewisser Weise scheint die Liebe selbst – bzw. das Erzählen der eigenen Liebe – im Widerspruch zu einer souveränen männlichen Identität zu stehen.

5.3.2 Telling the truth plainly: Realistisches Schreiben und detektivisches Aufklären als männliche Herrschaftstechnologien Was muss also mit Hartright geschehen, damit er sich von der entmachteten und zum Schweigen gebrachten Figur des ersten Bandes zu der machtvollen Stimme entwickelt, die alle anderen Erzählungen (einschließlich die seiner eigenen Entmachtung) kontrolliert? Wie wird Hartright zum bürgerlichen Mann und damit zum legitimen Subjekt seiner eigenen Liebesgeschichte? Um das zu untersuchen, muss der Blick auf den dritten Band des Romans gelenkt werden. Denn im dritten Band (bzw. auf den letzten Seiten des zweiten Bandes) tritt Hartright als Figur und Erzähler wieder in Erscheinung. Dazu kommt, dass der Roman nun eine Art Umdrehung vollführt, die Walter Kendrick folgendermaßen beschreibt: [...] at the end of the second Epoch when, although chronology continues to march forward, the novel doubles back on itself. [...] Despite the continuous chronology which makes Volume III look like a sequel to Volumes I and II, most of the third volume is a retelling of earlier matter either in word-for-word transcription by Hartright or in his paraphrase of other narrators. (Kendrick 1977, 31 f.)

Mit der Rückkehr Hartrights als Erzähler werden alle vorangegangenen Erzählungen seiner Figurenperspektive untergeordnet. Die im ersten Teil suggerierte Objektivität des master narrator erweist sich als Schein: Es gibt keinen übergeordneten Erzähler, der alles weiß, es gibt nur Hartright, der Berichte, Dokumente und ZeugInnenaussagen sammelt, um seine Geschichte zu einem guten Ende zu führen. Und erst wenn die Erzählungen neu geordnet werden, d.h. einerseits einen Ort und eine Erzählsituation zugewiesen bekommen und andererseits von Hartright ausgewertet, gewichtet und in Zusammenhang gestellt werden, fangen sie an, Sinn zu machen und sich zu einer Geschichte zusammenzufügen. An die Stelle des Objektivitätsanspruchs tritt demnach die aktive Gestaltung der Erzählung, die nun konkret dazu dienen soll, zur Aufklärung von Lauras Geschichte beizutragen. Aus dem quasi-allwissenden Erzähler der ersten beiden Bände wird der Detektiv des dritten Bandes, der Erzählungen wie Fakten sammelt und dabei ein klares Ziel vor Augen hat. Case beschreibt die veränderte Rolle dieses Erzählers unter Rückgriff auf die zu Beginn des Romans etablierte Gerichtsmetapher: [...] we suddenly have a very different model of this narrator’s job from that in the preamble. This is not the courtroom any more, or if it is, Hartright is not in the

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witness box – he is the lawyer orchestrating this parade of witnesses in the interests of a reading of the story that is to remain exclusively »in [his] hands.« [WW, 420] In other words, the master-narrator has stepped out of the closet. (Case 1999, 160)

Das Ziel von Hartrights detektivischen Aktivitäten ist die Wiederherstellung der Identität von Laura, die aufgrund einer komplizierten Intrige von Sir Percival und Count Fosco für tot erklärt und unter dem Namen ihrer Halbschwester und Doppelgängerin Anne Catherick im Irrenhaus eingesperrt wurde. Hartright macht es nun zu seiner Lebensaufgabe, zu beweisen, dass die beiden Frauen vertauscht wurden und dass es sich bei der Lebenden um Laura handelt: I, who had long since given her my love, gave her my life, and thanked God that it was mine to bestow on her. Yes! the time had come. [...] Forlorn and disowned, sorely tried and sadly changed; her beauty faded, her mind clouded; robbed of her station in the world, of her place among living creatures – the devotion I had promised, the devotion of my whole heart and soul and strength might be laid blamelessly, now, at those dear feet. In the right of her calamity, in the right of her friendlessness, she was mine at last! Mine to support, to protect, to cherish, to restore. Mine to love and honour as father and brother both. Mine to vindicate through all risks and all sacrifices – through the hopeless struggle against Rank and Power, through the long fight with armed deceit and fortified Success, through the waste of my reputation, through the loss of my friends, through the hazard of my life. (WW, 422)

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Lauras Unglück ermöglicht es Walter, ihr durch Selbstaufopferung seine Liebe zu beweisen und sich ganz und gar in ihren Dienst zu stellen. Aus dem Text geht deutlich hervor, dass dieser Moment für Hartright einen Triumph darstellt: »Yes! the time had come.« Seine Opferbereitschaft ist gleichzeitig eine Inbesitznahme von Laura – »she was mine at last!« –, die durch die parallele Konstruktion der folgenden Sätze, immer beginnend mit »Mine to«, noch verstärkt wird. Damit beruht Hartrights Macht als Erzähler und Detektiv auf Lauras vollständiger Entmachtung, so Taylor: »the means and ends of his gaining power are founded on her social obliteration« (Taylor 1988, 109, Hervorh. i.O.). Laura verliert nicht nur ihr Vermögen (und große Teile ihrer Erinnerung32 ), sie verliert auch ihre Klassenidentität, wie Jonathan Loesberg schreibt: »loss of legal identity entails loss of class identity« (Loesberg 1986, 119). Die Standesunterschiede, die im ersten Band eines der Hindernisse 32

Für Nina Auerbach wird Laura vom Plot (im doppelten Sinn von Romanplot und Intrige auf Ebene der Handlung) infantilisiert: »Collins never draws the line as to where her half-witedness ends and her femininity begins, nor does his happy ending bother to note whether her sanity has returned: clearly Walter and those readers who share his taste don’t know and don’t care.« (Auerbach 1982, 138) Die Frage, die Auerbach aufwirft, ist nicht ganz unberechtigt, aber die Art, wie sie darüber schreibt, erscheint mir höchst pathologisierend. Da bei mir die Analyse von Laura nicht im Zentrum steht, kann ich diesen Aspekt leider nicht weiter vertiefen.

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für eine Ehe zwischen ihr und Walter waren, sind damit aus dem Weg geräumt. Vor allem aber korreliert Lauras gesellschaftlicher Abstieg mit Walters Aufstieg. Zu Beginn stand er bereits in ihrem Dienst, aber nicht im Sinn des überhöhten Liebesdiskurses, sondern in Form eines konkreten ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisses. Als Zeichenlehrer, so Taylor, ist Hartright in der Position eines Untergebenen: At the beginning of his narrative Hartright is a domesticated artist, a landscape painter dependent on teaching, a male governess figure, drained of social and sexual meaning or effectiveness, who can live almost invisibly at the heart of the patron’s family. (Taylor 1988, 108)

Walter ist ein »upper-servant neuter« (Sutherland 2008, xxii), dessen körperliche Nähe und Intimität mit Frauen wie Laura nur unter der Bedingung möglich ist, dass er von ihnen nicht als Mann wahrgenommen wird – daher muss Walter das Haus sofort verlassen, als Marian bemerkt, dass er sich in Laura verliebt hat. Auch in dieser Hinsicht kehren sich die Machtverhältnisse zwischen Laura und Walter zu Beginn des letzten Bandes also um. Aus dem Bediensteten wird der Beschützer und Versorger – denn es ist nun Hartright, der für Lauras Lebensunterhalt sorgt und der ganz selbstverständlich die Position des Familienoberhauptes einnimmt: I have taken those two floors in an assumed name. [...] I get my bread by drawing and engraving on wood for the cheap periodicals. My sisters are supposed to help me by taking in a little needlework. [...] Marian Halcombe is nothing now, but my eldest sister, who provides for our household wants by the toil of her own hands. (WW, 420 f.)

Doch Hartright übernimmt nicht nur auf der Ebene der Handlung die Kontrolle, sondern auch auf der Ebene der Erzählung. Case zieht eine Parallele zwischen dichotomen Geschlechterrollen und »männlichem« bzw. »weiblichem« Erzählen: Feminine narration [...] would be simply the unprocessed, unshaped recounting of events as they succeeded one another in experience – as they were passively endured. And just as in life the woman’s passive endurance implies dependence on a male protector who can resolve and act on her behalf, so a truly feminine narration would require the shaping and ordering efforts of a male masternarrator. Both male roles are assumed here by Hartright [...] (Case 1999, 151)

Anders als in den beiden ersten Teilen wird Hartrights Funktion als master narrator nun im Text deutlich benannt und von ihm selbst beschrieben. Retrospektiv wird damit einerseits deutlich, wie sehr die verschiedenen Erzählungen von Beginn an seiner Kontrolle unterworfen waren, aber auch, dass die Analogie zur Gerichtsverhandlung lediglich strategische Bedeutung für die Legitimation des Erzählens hatte. Denn im dritten Teil hat Walter keinerlei Bedenken mehr, für andere zu sprechen oder von Dingen zu berichten, die er nur vom Hörensagen kennt. Im Gegenteil, die Verdrängung und Entmachtung anderer ErzählerInnen (vor allem anderer Er-

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zählerinnen) ist zentrales Element seiner Selbsttransformation. Gleich zu Beginn spricht er Marian und Laura die Fähigkeit ab, ihre eigenen Geschichten zu erzählen: The story of Marian and the story of Laura must come next. I shall relate both narratives, not in the words (often interrupted, often inevitably confused) of the speakers themselves, but in the words of the brief, plain, studiously simple abstract which I commited to writing for my own guidance, and for the guidance of my legal adviser. So the tangled web will be most speedily and most intelligibly unrolled. (WW, 422)

Laura und Marian wird hier pauschal der Status rationaler Subjektivität abgesprochen, der für das Erzählen einer intelligiblen Geschichte nötig ist. Ihre Erzählungen werden damit zu Rohmaterial, das Walter nach Belieben zu seiner eigenen Geschichte ordnen kann, solange er die Konventionen realistischen Erzählens befolgt, die ihn dazu legitimieren. Kurz, schlicht und einfach soll sein Text sein; doch vor allem in den negativen Attributen, mit denen Lauras und Marians Worte belegt werden, werden die zugrunde liegenden Normen deutlich. Das Erzählen darf weder verwirrt noch stockend sein, und aus einem verworrenen Geflecht muss ein durchgängiges Band werden – das Erzählen muss die Kriterien der Kohärenz, der Linearität und der Kontinuität erfüllen. Interessant ist dabei unter anderem, dass zwischen Laura und Marian hier in ihrer Erzählfähigkeit (oder -unfähigkeit) überhaupt nicht unterschieden wird, obwohl ein substanzieller Teil des Textes bis zu dieser Stelle aus Marians Tagebucherzählung bestanden hat33 , während Laura durch die traumatischen Erlebnisse ihre Erinnerungen verloren hat. Für Case drückt sich darin Walters eigene Angst vor (narrativem) Kontrollverlust aus, die auf Marian übertragen wird: [...] the possibility of narrative confusion is being transferred to the women and made into a sex-specific »inevitability.« [...] Marian has been reduced, like Mrs.

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Allerdings nimmt Marians Tagebuch selbst eine ambivalente Position innerhalb der Erzählungen der ersten beiden Bände ein. Marian ist die Einzige, die ihre Erlebnisse nicht retrospektiv zu einer Geschichte ordnet, sondern bei der die Zeitpunkte des Erlebens und des Erzählens beinahe zusammenfallen. Das Tagebuch an sich gilt als weibliches Genre (vgl. Case 1999, 154) und als solches bleibt sein Status im Text unklar. Marian liest Hartright daraus vor und er macht Notizen (WW, 444 f.). Aber es wird nie präzisiert, welcher Text im Roman inkludiert wird und von wem er in welcher Weise bearbeitet wurde (vgl. Perkins/Donaghy 1990, 397). Im rechtlichen Sinn sieht Hartright das Tagebuch wiederum nur als Rohmaterial, wie Case schreibt: »But Hartright, too [...] considers the diary nonusable as a strategic document. When he is arranging materials to bring to Kyrle, Laura’s family lawyer, Hartright includes only notes taken from Marian’s reading of the diary aloud to him. In other words, it is treated as raw, informational data (and interestingly, as oral data), that turns out to be inadequate to establish the case [...]. What that means is that the narrative force of the diary, its power in itself to carry conviction, its authority, has been closed out of the world of the novel.« (Case 1999, 158)

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Clements, Anne Catherick, and Laura, to feminine incoherence, in need of the resolute shaping hand of the masculine master-narrator. (Case 1999, 160 f.)

Denn wie Jane Eyre muss sich auch Walter den disziplinierenden Effekten der Erzählkonventionen unterwerfen, wenn er eine legitime Sprechposition als rationales Subjekt erlangen will. Der dritte Band beginnt mit seinem Geständnis, eine Woche aus der Erzählung ausgespart zu haben: I open a new page. I advance my narrative by one week. The history of the interval which I thus pass over must remain unrecorded. My heart turns faint, my mind sinks in darkness and confusion when I think of it. This must not be, if I, who write, am to guide, as I ought, you who read. This must not be, if the clue that leads through the windings of the Story is to remain, from end to end, untangled in my hands. (WW, 420)

Helligkeit, Klarheit, Zielgerichtetheit und die Kontrolle über das Erzählte werden als Bedingungen für verständliches und legitimes Erzählen definiert. Dunkelheit, Verwirrung und Schwäche hingegen führen dazu, dass sich die Erzählstränge verwirren und verheddern. Wenn der Erzähler nicht garantieren kann, dass er seine Erzählung voll und ganz unter Kontrolle hat, verliert er die Berechtigung, überhaupt zu erzählen (vgl. Coffey 2008, 61 f.). Sein Status ist damit genauso durch das Vergessen definiert wie durch das Erinnern, argumentiert Taylor: Thus the clue, or thread, which leads through the labyrinth of the story itself can only be woven by the deliberate forgetting of part of Hartright’s own narrative of »How he came to be there … poring over it«. And he can only transform the ravelled skein of the story into a coherent web by assimilating the separate memories of the witnesses [...] (Taylor 1988, 127)

Alles, was zum Kontrollverlust führt (oder führen könnte), muss verdrängt werden, schreibt auch Case: »it involves simply pushing away, repressing, a loss of control – if necessary, just dropping a week out of the narrative« (Case 1999, 160). In diesem Akt der Disziplinierung sieht Case eine Parallele zu einer früheren Szene, in der auf eine analoge Weise Männlichkeit produziert wird (Case 1999, 160). Marian ermahnt Walter, seine Liebe zu Laura aus seinem Herzen zu reißen: »Crush it!« she said. »Here, where you first saw her, crush it! Don’t shrink under it like a woman. Tear it out; trample it under foot like a man!« [...] We both waited for a minute, in silence. At the end of that time, I had justified her generous faith in my manhood; I had, outwardly at least, recovered my self-control. (WW, 71)

Um ein Mann zu sein/zu werden, muss Walter vor allem Selbstkontrolle lernen, so Case: »Manhood here is obviously [...] something produced in response to the demand ›be a man,‹ and produced, not by eliminating, but by repressing ›unmanly‹ irresolution, loss of control« (Case 1999, 159). Eine ähnliche Funktion hat Walters Expedition nach Honduras. Er flieht vor seinen Gefühlen enttäuschter Liebe und den Anzeichen beginnenden Wahnsinns, um sich, fern von der »Zivilisation«, in der »Wilde« des

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Dschungels abzuhärten. In diesen Begriffen beschreibt Marian seine Reise: »They were last seen entering a wild primeval forest, each man with his rifle on his shoulder and his baggage at his back. Since that time, civilization has lost all trace of them.« (WW, 200) Walter selbst schildert seine Erlebnisse nicht – der Zweck dieser Expedition wird nirgends im Roman erwähnt. Denn relevant ist die Transformation, die sie bewirkt und die Walter wie folgt beschreibt: From that self-imposed exile I came back, as I had hoped, prayed, believed I should come back – a changed man. In the waters of a new life I had tempered my nature afresh. In the stern school of extremity and danger my will had learnt to be strong, my heart to be resolute, my mind to rely on itself. I had gone out to fly from my own future. I came back to face it, as a man should. (WW, 415)

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Selbstkontrolle und Disziplinierung werden hier als die Essenz bürgerlicher Männlichkeit definiert.34 Walter erfindet sich neu, um die entsouveränisierenden Effekte seiner Liebe zu Laura, seiner Entmachtung als Detektiv, seines Ausschlusses aus dem Feld bürgerlicher Männlichkeit und seines Verlusts der legitimen Sprechposition als Erzähler auszuradieren. Dafür ist, wie wir gesehen haben, an vielen Stellen ein aktiver Akt des Vergessens und Verdrängens nötig, um die Fiktion der vollständigen Kontrolle über sich selbst und über die Erzählung nicht zu gefährden. Allerdings lohnt sich die Anstrengung für Hartright durchaus, denn er kann nun die volle Macht realistischen Erzählens – und damit bürgerlicher Männlichkeit – ausschöpfen. Im Lauf des dritten Bandes formuliert Hartright mehrere Erzählungen, die jeweils das konkrete Ziel verfolgen, sein Gegenüber von Lauras Identität zu überzeugen. Wir haben bereits gesehen, dass Walter zu Beginn Notizen verfasst, die er dem Anwalt vorzulegen gedenkt: »the brief, plain, studiously simple abstract which I commited to writing for my own guidance, and for the guidance of my legal advisor« (WW, 422, meine Hervorh.). Später, nachdem Count Fosco seine Rolle in der Intrige gestanden hat, formuliert Walter die Erzählung der Ereignisse, die zu einer Wiederanerkennung von Lauras Identität führt35 :

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Wichtig ist dabei auch der Aspekt, dass Walter diese Transformation selbst herbeiführt, indem er an sich arbeitet (siehe auch Kapitel 4.2). Nicholas Rance stellt in seiner Analyse den Zusammenhang mit zu dieser Zeit populären Diskursen der »self-help« her, wie sie vor allem von Samuel Smiles (Smiles 1859) formuliert wurden (vgl. Rance 1991, 81 ff.). Allerdings merken Richard Barickman, Susan MacDonald und Myra Stark an, dass Laura nie eine von Männern unabhängige Identität erlange: »The question of Laura’s identity is finally decided by men – by Hartright, Percival, Fosco, Laura’s uncle, her lawyer, Pesca, even the owner of the livery stables, and the driver who picked her up at the train station on her arrival in London. In fact, Laura never does gain an independent identity. Before the last struggle with Fosco, Hartright has married her, and so she is never restored to being either Laura Fairlie or Lady Glyde.« (Barickman/MacDonald/ Stark 1982, 116)

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I occupied the interval day, at the farm, in writing a plain narrative of the conspiracy, and in adding to it a statement of the practical contradiction which facts offered to the assertion of Laura’s death. (WW, 633, meine Hervorh.) The disclosure of the conspiracy followed – after I had offered my preliminary explanation, first of all, in the fewest and the plainest words. (WW, 634, meine Hervorh.)

Das Wort, das in jedem dieser Zitate die Macht der Erzählung ausdrückt, ist »plain« – es signalisiert die Disziplinierung und Kontrolle des Erzählens, die ich beschrieben habe. Hartright entscheidet nun, was wesentlich ist. Zum Beispiel verheimlicht er den entscheidenden Beweggrund von Sir Percival, der seine uneheliche Geburt durch eine gefälschte Heiratsurkunde verborgen und sich damit Titel und Ländereien gesichert hat. Anne Catherick muss sterben, weil Percival glaubt, sie habe sein Geheimnis aufgedeckt. Hartright entscheidet jedoch, diesen Teil der Geschichte für sich zu behalten (WW, 556). An der gleichen Stelle merkt er beiläufig an, dass er die Geschichte unter falschen Namen erzählt: »for her [Lauras, J.C.] sake, still, I tell this story under feigned names« (WW, 556). Damit stellt sich Walter sogar über den Anspruch seiner eigenen Programmatik am Beginn des Romans, wo er versichert, nur die Wahrheit zu sagen.36 Aber wie Kendrick zeigt, hat sich die Programmatik am Ende erübrigt: But by this time, with Laura recognized again, her home restored, and all villainy disposed of, the pugnacious »Preamble« has lost its motivation. The reason for the novel’s existence, which it provides with great care on page one, has been used up in the end. In retrospect, it looks as if there never was any reason for the novel to exist at all. (Kendrick 1977, 32)

Oder, anders gesagt, der Roman erzählt eigentlich eine andere Geschichte als die, die er vorgibt zu erzählen. Den scheinbaren Rahmen der Erzählung, wie er in der sogenannten Präambel entworfen wird, bildet Lauras Geschichte. Das wird auch zu Beginn von Marians Tagebuch bekräftigt, wo Hartright in seiner Rolle als Herausgeber in einer Fußnote anmerkt: »The passages omitted, here and elsewhere, in Miss Halcombe’s Diary, are only those which bear no reference to Miss Fairlie or to any of the persons with whom she is associated in these pages.« (WW, 163, meine Hervorh.) Die Anmerkung suggeriert, dass Laura im Zentrum der Geschichte steht, während Marian nur das Vehikel ist, durch das diese Geschichte erzählt wird. Aber wie wir gesehen haben, geht die Erzählung über ihre detektivische Zielsetzung (die Lösung des Rätsels um Laura) hinaus. Laura selbst hat kei-

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Der Form dieses realistischen Erzählens ist jedoch selbst wiederum ein Wahrheitsanspruch eingeschrieben. Nancy Armstrong weist darauf hin, dass das, was sie »the poetics of the plain style« nennt, in Gegensatz zur Rhetorik und damit zu oberflächlicher Berechnung gesetzt werde, während plainness im Umkehrschluss als Garant für Tiefe und Ernsthaftigkeit fungiere (Armstrong 1987, 220).

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ne Stimme im Roman, und auch ihre Liebe wird kaum erzählt. Sie ist, wie in der Literatur oft angemerkt, eine Leerstelle: »a blank page [...] to be inscribed by the pen of the authorial and authorizing male« (Elam 1993, 50) oder »a blank to be filled by male desire« (Perkins/Donaghy 1990, 393).37 Walter hat die Macht, Laura zu gestalten, so Rachel Ablow: As a result, Walter’s successful identification of his wife as Laura – and thus of himself as the husband of a wealthy heiress – is made to seem as if it rests not on his privileged access to her interiority, but instead on the fact that as her husband, he has the power to attribute meaning to her. (Ablow 2007, 96)

Walter erfindet Laura, so wie er sich selbst neu erfunden hat. Im Zentrum des Romans steht damit in gewisser Weise nicht Laura (oder die Leerstelle, die Laura ist), sondern Walter. Erzählt wird die Geschichte von Walters Liebe sowie seiner Selbsttransformation in das gesellschaftlich anerkannte Subjekt dieser Liebe. Ermöglicht wird dies durch zwei verschränkte, aber doch unterschiedliche Techniken narrativer Kontrolle, um die es in den beiden Unterkapiteln ging. Im ersten Teil des Romans wird die Erzählung der Liebe durch die scheinbare Objektivität und Neutralität des übergeordneten Erzählers legitimiert, gleichzeitig jedoch durch die Aufspaltung der Erzählinstanzen als problematisch dargestellt. An manchen Stellen erscheint es, als sei es die Liebe selbst, die Hartrights Selbstkontrolle gefährdet und dadurch seinen Verlust souveräner Subjektivität auslöst. Hartright macht sich, ganz ähnlich wie Jane Eyre, Vorwürfe, weil er diese Liebe zugelassen hat: I know, now, that I should have questioned myself from the first. [...] I should have looked into my own heart, and found this new growth springing up there, and plucked it out while it was young. Why was this easiest, simplest work of selfculture always too much for me? (WW, 64 f.)

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Vgl. auch Miller 1988, 175 und Taylor 1988, 99. Im Roman selbst wird ihre Liebe von Walter als nichterzählbar definiert: »I shrank then – I shrink still – from invading the innermost sanctuary of her heart, and laying it open to others, as I have laid open my own.« (WW, 65) Lauras Liebe wird hier als heilig und geheim markiert und damit als die Essenz des Privaten. Auf diese Weise wird Weiblichkeit und insbesondere weibliche Liebe mystifiziert und idealisiert und damit letztendlich der Frau der Status als liebendes Subjekt verweigert. Gleichzeitig könnte diese Stelle aber als Bestätigung der Thesen von Roland Barthes und Julia Kristeva gelesen werden, dass von der Liebe immer nur in der ersten Person gesprochen werden könne. Kristeva schreibt: »Singulär wie sie [die Liebe, J.C.] ist, lasse ich sie nur in der ersten Person gelten.« (Kristeva 1989, 9) Barthes wiederum nimmt in seinen Fragments d’un discours amoureux selbst die Sprechposition des Liebenden ein (Barthes 1977). Kerstin Jergus fasst diese beiden Positionen kritisch zusammen: »Über die Liebe zu sprechen – sich im diskursiven Terrain der Liebe zu bewegen – erfordert offenbar eine bestimmte Form und ermöglicht über diese Form zugleich subjektiv(ierend)e Positionen [...]. Nicht zuletzt also erfordert und ermöglicht das Sprechen im diskursiven Terrain der Liebe und Verliebtheit jene erste Person, die laut Julia Kristeva den Geltungsbereich des Sprechens dieses Terrains markiert.« (Jergus 2011, 139)

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Diese Art der Selbstvorwürfe ist zwar Teil des konventionellen Repertoires von Liebeserzählungen und dient unter anderem der Untermauerung der Absolutheit der Liebe (siehe Kapitel 3). Gerade im Vergleich zu der analogen Szene in Jane Eyre zeigt sich hier jedoch deutlich der Widerspruch zwischen bürgerlicher Männlichkeit – die sich durch souveräne Selbstkontrolle definiert – und der Liebe, die als unkontrollierbar und nicht steuerbar entworfen wird. Insofern kann der Prozess der Entmachtung und Entsouveränisierung Hartrights, den ich oben untersucht habe, als Dramatisierung des mit der Liebe einhergehenden Kontrollverlusts gelesen werden. Seine im zweiten Teil der Romans beschriebene narrative Machtergreifung – durch die Entmachtung der anderen ErzählerInnen und durch das Formen einer kohärenten Geschichte – beruht auf der Bekämpfung und der Negation dieses Kontrollverlustes. Indem er sich dem disziplinären Regime der Männlichkeit und des realistischen Erzählens unterwirft, erlangt Hartright die Souveränität des männlichen bürgerlichen Subjekts und damit die Berechtigung, Laura zu heiraten – und ihre/seine Geschichte zu erzählen. Aber ist er am Ende noch liebendes Subjekt? Als er bei Marian um Lauras Hand anhält, argumentiert er rational: »If I am to fight our cause with the Count, strong in the consciousness of Laura’s safety, I must fight it for my Wife.« (WW, 573) Er fährt fort: »I will not plead out of my own heart,« I went on; »I will not appeal to the love which has survived all changes and all shocks – I will rest my only vindication of myself for thinking of her and speaking of her as my wife, on what I have just said. [...]« (WW, 573)

Die Liebe wird zwar aufgerufen, aber gleichzeitig als Heiratsgrund verleugnet, was im Kontext des in Kapitel 3 beschriebenen viktorianischen Liebesdiskurses durchaus bemerkenswert ist. Darin zeigt sich eine für das männliche liebende Subjekt konstitutive Ambivalenz: Um in das Feld begehrenswerter Männlichkeit aufgenommen zu werden, muss sich Hartright dem Regime der Selbstdisziplinierung unterwerfen. Das bringt ihm zwar den sozialen Aufstieg und eine souveräne Machtposition ein, führt aber gleichzeitig zur fast vollständigen Verleugnung der Liebe, obwohl die Erzählung von Hartrights Liebe den Rahmen und Erzählanlass des Romans bildet.

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6 . Schlussbemerkungen Diese Arbeit setzte mit einem Zitat aus einem Twilight-Roman ein, in dem die Absolutheit und Unaufhaltsamkeit zum wesentlichen Charakteristikum der Liebe erklärt wird: »nothing can keep them apart« heißt es dort an zentraler Stelle über die Liebenden in Wuthering Heights (St. Meyer 2008, 29). Die Liebe wird in dieser Erzählung als »Himmelsmacht« entworfen, »die sich gegen alle Widerstände durchsetzt« (Reinhardt-Becker 2005, 9), und scheint sich in ihrer Schicksalhaftigkeit dem rationalen Zugriff zu entziehen: Sie präsentiert sich als »schillernd, magisch, paradox, komplex, rätselhaft« (Niekrenz 2008, 11). Die Rede vom »Zauber«, der »Magie« oder dem »Wunder« der Liebe ist in hohem Maße affektiv aufgeladen – nicht nur in den von mir untersuchten Liebesgeschichten, denn ähnliche Mystifizierungen finden sich oft auch im wissenschaftlichen Schreiben über die Liebe. Dabei lassen sich zwei Spielarten der affektiven Aufladung ausmachen. Entweder wird der »Zauber« der Liebe direkt beschworen und als Legitimation für die Relevanz der Auseinandersetzung mit Liebe angeführt, oder es wird mit einer gewissen Wehmut die »Entzauberung« der Liebe (Niekrenz 2008, 17) beklagt. Eva Illouz beschreibt beispielsweise die Partner_innensuche im Internet als eine Ökonomisierung und Rationalisierung, die dem Modell der spontanen und nichtrationalen Wahl aus Liebe diametral entgegengesetzt sei (Illouz 2007). Stephanie Kiessling resümiert Illouz’ Thesen mit den Worten: »eine Analyse, fast wie ein Abgesang auf das Ideal der romantischen Liebe« (Kiessling 2009, 201). Es wäre verlockend, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Rede von der anhaltenden »Magie« der Liebe und die These ihrer »Entzauberung« für verschiedene – und konkurrierende – genealogische Erzählungen der Liebe stehen. Die eine beschriebe eine Kontinuität des modernen Liebesdiskurses, die bis in die Gegenwart reicht, während die andere in der Spät- oder Post-Moderne eine Zäsur sehe. In einer solchen Gegenüberstellung wäre meine Arbeit klar als Vertreterin der Kontinuitätsthese zu verorten, denn ich bin überzeugt, dass das im viktorianischen Roman entworfene Modell von Liebe, das ich in meinen Analysen nachgezeichnet habe, nach wie vor beträchtliche Wirkung entfaltet; und zwar eine, die mittlerweile weder auf den Roman noch auf England oder den englischsprachigen Raum beschränkt ist. Das Filmgenre der romantic comedy erzählt in vielerlei Hinsicht Liebe auf die gleiche Art und Weise, beruft sich auf das gleiche Liebesmodell und stellt die gleichen Verknüpfungen her wie der viktorianische Roman. Aber auch populäre Romane, die in dieser Tradition stehen,

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erreichen immer wieder eine immense Verbreitung – wie das Beispiel der Twilight Saga zeigt.1 Die Unterscheidung zwischen Kontinuität und Bruch erscheint mir allerdings zu einfach. Teil meiner Arbeit bestand darin, allzu dichotome Kategorisierungen in den Analysen zu vermeiden und damit die Komplexität und inhärente Widersprüchlichkeit des Liebesdiskurses aufzuzeigen. In der Auseinandersetzung mit einem Text von Eva Illouz, in dem sie die These der »Entzauberung« der Liebe vertritt, lässt sich exemplarisch zeigen, auf welche Weise meine Analysen einen leicht verschobenen oder quer liegenden Blickwinkel einzunehmen suchten und welche Erkenntnisse im Bezug auf die moderne Liebesgeschichte dadurch möglich wurden. Um die Unterschiede zwischen »verzauberter« und »entzauberter« Liebe zu beschreiben, führt Illouz zwei Beispiele aus der Literatur an: Jane Austens Persuasion (1818) und Candace Bushnells Sex and the City (1996). Ich zitiere an dieser Stelle recht ausführlich, um die Art und Weise deutlich zu machen, wie Illouz argumentiert. Sie beginnt mit einem Zitat aus Persuasion, das die Haltung der Protagonistin Anne Elliot in Liebesdingen verdeutlichen soll: »How she might have felt, had there been no Captain Wentworth in the case, was not worth enquiry; for there was a Captain Wentworth: and be the conclusion of the present suspense good or bad, her affection would be his for ever. Their union, she believed, could not divide her more from other men, than their final separation.« [...] Annes Entschluss, Captain Wentworth treu zu bleiben, verträgt sich nicht mit der heutigen Auffassung von Gefühlen. [...] Wenn sie einmal ihre Liebe gibt, bindet sie das für immer. Annes Entschluss, eine sehr verlockende Verbindung auszuschlagen und ihrer ersten Liebe treu zu bleiben – ob ihre Liebe erwidert wird oder nicht – setzt sich über den heutigen gesunden Menschenverstand hinweg. Lassen Sie uns Annes festes Vertrauen in ihre Entscheidung mit Candace Bushnells Überlegungen vergleichen, der viel gerühmten Autorin von »Sex and the City«: »When was the last time you heard someone say, ›I love you!‹ without tagging on the inevitable (if unspoken) ›as a friend.‹ When was the last time you saw two people gazing into each other’s eyes without thinking, Yeah right? When was the last time you heard someone announce, ›I am truly, madly in love,‹ without thinking, Just wait until Monday morning?« [...]

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Der Abstand zwischen Anne und Candace ist unendlich groß [...]. Während Anne auf der einen Seite ein unzweifelhaftes Vertrauen in die Absolutheit der Liebe hat, so wirkt Candace auf der anderen Seite durchweg ernüchtert, selbstbewusst und außerordentlich ironisch. Liebe ist zu einem bevorzugten Schauplatz für ironischen Stil geworden – so erlebt man es auch in dem Genre »chicklit«, der seichten Literatur für junge Frauen. Ich werde versuchen, das Konzept 1

Natürlich ist bei solchen Generalisierungen Vorsicht geboten. Die Geschichte der Verbreitung und Transformation des viktorianischen Liebesmodells liegt außerhalb des Untersuchungsbereichs dieser Arbeit, würde aber durchaus ein lohnendes Forschungsprojekt ergeben.

Schlussbemerkungen

der »entzauberten Liebe« zu entfalten, um diese Entwicklungen verständlich zu machen. (Illouz 2008, 215)2

Illouz’ Umgang mit ihren literarischen Beispielen ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Warum schreibt sie die Zeilen aus Sex and the City der Überzeugung der Autorin zu, während die Stelle aus Persuasion Aufschluss über die »Einstellung« (Illouz 2008, 215) der Protagonistin geben soll? Das mag wie ein pedantischer Einwand klingen – immerhin ist Illouz keine Literaturwissenschaftlerin – aber es ist durchaus relevant. Denn was darin sichtbar wird, ist eine Tendenz zur Personifikation und, damit zusammenhängend, zur Extraktion von »Ansichten«, »Überzeugungen« oder »Einstellungen« aus den Texten. Das in den Romanen jeweils entworfene Liebesverständnis wird enggeführt auf die Haltung oder das Empfinden einer »Person«, sei es die Figur oder die Autorin, und dieses personalisierte Verständnis von Liebe wird als repräsentativ für den Entstehungszeitraum des jeweiligen Romans aufgefasst. Damit verschwimmt die Grenze zwischen den literarischen Entwürfen von Liebe und den Handlungsoptionen von realen Menschen im Feld der Intimbeziehungen – wie Illouz’ Gegenüberstellung von Annes Liebesauffassung mit dem »heutigen gesunden Menschenverstand« zeigt. Auf diese Weise verstellt Illouz sich den Blick auf die Gemeinsamkeiten ihrer beiden Beispiele. Denn schon ein kursorischer Blick auf Persuasion zeigt, dass die Legitimität von Annes Festhalten an ihrer möglicherweise unerwiderten Liebe im Roman selbst alles andere als unhinterfragt bleibt. Aus Sicht vieler anderer Figuren steht ihre Haltung ebenso im Widerspruch zum »gesunden Menschenverstand«, wie Illouz das für die heutige Zeit postuliert. Allerdings markiert der Roman Annes Konstanz als affektiv und moralisch richtig und bekräftigt dies mit der Verehelichung von Anne Elliot und Frederick Wentworth am Ende des Romans. Ohne näher auf die Unterschiede zwischen Jane Austen und den von mir analysierten viktorianischen Romanen eingehen zu wollen, so ist doch klar, dass auch in Persuasion bereits eine Vorstellung von der Liebe als antikonventioneller, individualistischer und Glück versprechender Kraft angelegt ist. In Sex and the City findet sich das gleiche Muster, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Der »ernüchterte« und »ironische« Blick, den Illouz in ihrem Zitat findet, ist gleichzeitig ein melancholischer Blick, der um den »Verlust« der Liebe trauert. Aber nicht nur das, die gesamte Erzählung von Sex and the City hält das Versprechen auf glückliche, erfüllte Liebe aufrecht.3 Damit 2 3

Das Zitat aus Persuasion findet sich auf S. 191 von Austen 1994; das aus Sex and the City in Bushnell 2001, 2. Das gilt vor allem für die gleichnamige Serie des US-amerikanischen Fernsehsenders HBO und weniger für den Roman (vgl. Harzewski 2011, 90 ff.), aber ich gehe davon aus, dass auch Illouz mit ihrem Beispiel vor allem die Serie aufrufen will, deren Reichweite die des Buches bei weitem übersteigt.

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generiert sie eine Art »und dennoch«-Haltung, die trotz des Wissens um die Vergeblichkeit an dem Wunsch nach Liebe (oder, um genau zu sein, nach in der Paarbeziehung institutionalisierter Liebe) festhält. Die Erzählung von Sex and the City etabliert so wiederum eine Dichotomie im Herzen des Liebesdiskurses: Wer genug Mut aufweist, »trotzdem« an die Liebe zu glauben und sich damit gegen die als dominant dargestellte »ernüchterte« Haltung wendet, wird mit einem Happy End belohnt. In beiden Fällen – Persuasion und Sex and the City – wird die Liebe demnach als dissidente Praxis entworfen, die gegen den »Mainstream« der Gesellschaft in Stellung gebracht wird. Darin fallen das Beschwören des »Zaubers« der Liebe und das Beklagen ihrer »Entzauberung« zusammen: Sie bleiben dem Freiheits- und Glücksversprechen der Liebe verhaftet, dem ich in Kapitel 3 nachgegangen bin. Irgendwo, und sei es vor der Moderne, muss die Liebe doch etwas anderes gewesen sein als Stabilisatorin der herrschenden Ordnung, so der dringende Wunsch, der immer wieder durchscheint. Aber wie meine Analyse gezeigt hat, ist der »Zauber« der Liebe selbst ein zentrales ideologisches Element des modernen Liebesdispositivs und hat als solches eine inhärent stabilisierende Funktion. Liebe wird in bzw. mit Hilfe des realistischen Romans naturalisiert und universalisiert, und zwar nicht obwohl, sondern gerade indem sie als utopischer Gegenentwurf zur (kapitalistischen) Gesellschaft konzipiert wird. In dieser Sicht ist die Frage nicht mehr, ob Liebe konservativ oder subversiv, hegemonial oder dissident ist. Ihre Dissidenz, ihre utopische, revolutionäre, antigesellschaftliche Dynamik ist vielmehr konstitutives Element eines hegemonialen Ordnungssystems. In den Romananalysen von Kapitel 4 und 5 habe ich genauer herausgearbeitet, welche Funktionen die Liebe in ihrer spezifisch modernen Beschaffenheit für die Ordnung der Gesellschaft hat – für die Entstehung und Aufrechterhaltung bürgerlicher Hegemonie, moderner Subjektivität, Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit. Deutlich geworden ist dabei, dass die Liebesgeschichte gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht nur abbildet. Vielmehr ist sie an deren Produktion selbst beteiligt und erfüllt damit eine regulierende Funktion in einer Reihe hierarchisierter Felder. Auf vielfältige Weise führt in den Romanen, so das Ergebnis der Analysen, gerade die spezifische Art der Verflechtung von Geschlecht und Klasse zu disziplinierenden und normalisierenden Effekten, die aber dadurch unsichtbar gemacht werden, dass sie in einen universalisierenden und naturalisierenden Liebesdiskurs eingebunden werden. Ich habe dabei in erster Linie auf die Geschlechter- und Sexualitätsordnung sowie die Klassenverhältnisse fokussiert, aber es könnten noch eine Reihe weiterer Aspekte hinzugefügt werden, beispielsweise rassisierte Machtverhältnisse oder die

Schlussbemerkungen

Produktion nationaler Identitäten.4 Indem die Liebesgeschichte die hegemoniale Ordnung nicht nur reproduziert und legitimiert, sondern sie darüber hinaus anziehend und begehrenswert macht, kann sie die Reproduktion von Machtverhältnissen und die Weitergabe gesellschaftlicher Privilegien auf neue Art und Weise sichern: Ehen müssen nicht mehr arrangiert werden, weil sich die (bürgerlichen) Subjekte »von selbst« in eine »adäquate« Person verlieben. Damit können die Funktionen dessen, was Michel Foucault als »Allianzdispositiv« beschreibt – ein »System des Heiratens, der Festlegung und Entwicklung der Verwandtschaften, der Übermittlung der Namen und der Güter« (Foucault 1983, 105) – auf neue Art und Weise gesichert werden. Denn das bis ins 18. Jahrhundert vorherrschende Allianzdispositiv, so Foucault, »hat in dem Maße an Bedeutung eingebüßt, wie die ökonomischen Prozesse und die politischen Strukturen in ihm kein angemessenes Instrument oder keine hinreichende Stütze mehr finden konnten« (Foucault 1983, 105). Das Paradigma der Liebesheirat kann damit als eine Antwort auf die in Kapitel 2 beschriebenen grundlegenden Veränderungen auf dem Feld der Geschlechter- und Klassenordnung gesehen werden. Die Liebesheirat übernimmt nun – stark vereinfacht ausgedrückt – die Funktion, die zuvor unter anderem mit Hilfe von arrangierten Ehen gesichert wurde: die Weitergabe von Namen, Privilegien, Reichtümern, Status und damit die Reproduktion gesellschaftlicher Hierarchien. Doch es gehört zu den grundlegenden Funktionsweisen des Liebesdiskurses, dass er seine Funktion für die Reproduktion gesellschaftlicher Hierarchien verleugnen und unsichtbar machen muss. Das führt dazu, dass die moderne Liebesgeschichte an vielen Stellen paradox und widersprüchlich wirkt. In meinen Textanalysen in Kapitel 4 und 5 habe ich mich darauf konzentriert, solche Paradoxien ausfindig zu machen und aufzuschlüsseln. Auch wenn die volle Komplexität sich nur in den textnahen Analysen selbst entfaltet, können hier einige Ergebnisse genannt werden, die sich als zentral für die analysierten Romane erwiesen haben. So porträtiert die Liebesgeschichte eigensinnige Frauen, die auf ihrem Recht auf eigene Entscheidungen beharren, diese Entscheidungsfreiheit dann aber nutzen, um sich dem Ehemann und der Familie selbstlos aufzuopfern. Es werden Frauenfiguren entworfen, die sich durch Intelligenz und Individualität auszeichnen, aber sie werden vom Text objektifiziert – sie sind Objekt und nicht Subjekt des Begehrens. »Innere Werte« werden gegenüber »Oberflächlichkeiten« wie Geld, Status oder Klassenzugehörigkeit privilegiert, 4

Aspekte von whiteness und orientalistischer Diskurse waren an einigen Stellen Thema. Die Analyse könnte zudem auf die Produktion von Englishness und ihre Funktion für die Bewertung der desirability der Figuren ausgedehnt werden – ein Punkt, der insbesondere im Bezug auf Jane Eyre relevant sein könnte.

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aber diese »inneren Werte« erweisen sich als zutiefst bürgerlich geprägt und damit als Idealisierung eines bürgerlichen Habitus. Die Liebe wird mit einem Verlangen nach und einem Versprechen auf Gleichheit (equality) verknüpft, aber die Geschlechterhierarchien und die geschlechtliche Rollenverteilung bleiben bestehen – vor allem in der Ehe, die das perfekte Liebesglück garantieren soll. So hat sich als eines der zentralen Ergebnisse meiner Analyse herauskristallisiert, dass all diese Elemente nur scheinbar paradox sind. Denn die genannten Paradoxien sind der Liebesgeschichte nicht äußerlich, vielmehr sind sie die Grundlage, auf die sie gebaut ist. Anders gesagt: Die Liebesgeschichte kann nur auf ihrer Basis ihre Wirksamkeit entfalten. Hier zeigt sich die besondere Funktion der Form, denn die Paradoxien sind in vielerlei Hinsicht den narrativen Strukturen selbst eingeschrieben. Daher stand die Ebene der narrativen Sinngebung und Wertung immer wieder im Fokus meiner Analysen, sei es im Hinblick auf die Charakterisierung der Figuren, auf Plotstrukturen und die Funktion des Happy Ends, auf Fragen der Erzählstimme und des Erzählaktes, auf Aspekte der Sympathielenkung und der Verteilung von poetic justice oder auf die teleologische Struktur der Liebesgeschichte. Kapitel 4 ging dabei stärker thematisch vor und betrachtete vor allem die Relevanz der narrativen Strukturen für die Charakterisierung der Männer- und Frauenfiguren und für ihre Einbettung in den Liebesplot. Kapitel 5 wählte hingegen einen explizit formalen Ausgangspunkt – die Erzählstimme bzw. den Akt der Narration – und konnte so die in Kapitel 4 begonnenen Überlegungen zur Konstruktion souveräner Subjektivität in der Liebesgeschichte ergänzen und untermauern. In beiden Kapiteln wurden narrative Strukturen jedoch immer als bedeutsame und Bedeutung generierende Strukturen gelesen. Der Fokus der Analyse lag dementsprechend darauf zu erfassen, welche Effekte von den Texten produziert werden und welche Operationen der Ordnung, Hierarchisierung und Wertung darin enthalten sind. Durch diese Vorgehensweise konnte ich zeigen, auf welche Weise das komplexe Wertungssystem, das die Romane entwerfen, die Reproduktion hegemonialer Strukturen garantiert. Auf dieser Ebene legen die Liebesgeschichten fest, wer unter welchen Umständen und nach welchen Kriterien als Objekt des Begehrens in Frage kommt. Damit fungieren sie als Anreiz für die Subjekte, sich den Anforderungen der Geschlechter- und Sexualitätsordnung zu unterwerfen und sich auf eine bestimmte Art und Weise zu sich selbst zu verhalten: sich an bestimmten Männlichkeits- und Weiblichkeitsnormen zu orientieren, sexuelle Tugend zu praktizieren oder sich selbst beständig zu Mäßigung zu disziplinieren – um nur einige Beispiele zu nennen.

Schlussbemerkungen

So produziert die Liebesgeschichte ein Begehren und damit einen »inneren Antrieb« nach Normalisierung, indem sie vor allem durch ihre teleologische Orientierung einen utopischen Raum entwirft, der Glück, Freiheit und Individualität verheißt. Das bedeutet aber auch, dass die Erzählung immer schon von ihrem teleologischen Ende her vorstrukturiert ist. Das Versprechen, dass in der Liebe (und nur dort) das perfekte Glück gefunden werden kann – oder, anders gesagt, die Annahme eines Paradieses am Ende der Geschichte – führt von vornherein zu einer stark eingeschränkten Palette an möglichen Handlungssträngen: Vom utopischen Ende her wird bestimmt, worauf gehofft und wovon geträumt werden kann. Das Versprechen des Happy Ends kann als eine Art säkulares Heilsversprechen gesehen werden, das mit dem Status quo versöhnt.5 Es steht damit geradezu in Opposition zu Foucaults Definition einer Haltung der Kritik, die darin bestünde, »nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden« (Foucault 1992, 12). In Abwandlung davon könnte man sagen, dass die Liebesgeschichte einen Anreiz bietet, sich auf genau diese Weise regieren zu lassen, d.h. sich den normalisierenden Effekten der hegemonialen Ordnung zu unterwerfen. Liebe eignet sich damit trotz ihres revolutionären Pathos kaum als Motor für Veränderungen oder gar Revolutionen. Und dennoch – es wäre wiederum zu einfach, die Liebesgeschichte als konservative Machenschaft zur Unterdrückung der Massen darzustellen. Denn das, was die Liebesgeschichte als »dissident« oder »radikal« produziert, wird nicht gänzlich in der Normalisierung aufgehoben, sondern kann gewissermaßen ein Eigenleben entwickeln, wie ebenfalls in Kapitel 4 und 5 deutlich geworden ist. Der Rahmen der Liebesgeschichte ermöglicht auch die Artikulation von Wünschen und Forderungen nach Freiheit und Gleichberechtigung, vor allem für Frauen – Jane Eyres berühmte leidenschaftliche Ausrufe »Speak I must« (JE, 36, Hervorh. i.O.) und »equal – as we are!« (JE, 253) sind nur die deutlichsten Beispiele für etwas, wovon alle Romane in größerem oder kleinerem Ausmaß durchzogen sind. Diese »emanzipatorischen« oder vielleicht »proto-feministischen« Elemente sollen nicht geleugnet werden, doch wie die Analyse deutlich gezeigt hat, ist es ebenso wichtig, sie auf ihre Beschränkungen, Ausschlüsse und Vorannahmen hin zu befragen. Denn, um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Die Liebesgeschichte funktioniert nicht trotz ihrer transgressiven Elemente als hegemoniales Ordnungssystem, sondern dank ihnen.

5

In dem Lied »Liebe wird oft überbewertet« (1995) der Band Lassie Singers findet sich die dazu passende Zeile: »Liebe – ist Baldrian fürs Volk« (vgl. Rösinger 2012, 201).

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L iteratur Kürzel der analysierten Romane JE:

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Jan Distelmeyer, Lisa Andergassen, Nora Johanna Werdich (Hg.) Raumdeutung Zur Wiederkehr des 3D-Films 2012, 178 Seiten, kart., zahlr. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1815-0

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Jörg Sternagel, Dieter Mersch, Lisa Stertz (Hg.) Kraft der Alterität Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen Dezember 2013, ca. 170 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2355-0

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Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hg.) Ein Riss geht durch den Autor Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss 2009, 240 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1156-4

Jan Distelmeyer, Christine Hanke, Dieter Mersch (Hg.) Game over!? Perspektiven des Computerspiels 2008, 164 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-790-5

Mira Fliescher Signaturen der Alterität Zur medialen Reflexivität der Kunst Yasumasa Morimuras Mai 2013, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2345-1

Martina Hessler, Dieter Mersch (Hg.) Logik des Bildlichen Zur Kritik der ikonischen Vernunft 2009, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1051-2

Dagmar Venohr medium macht mode Zur Ikonotextualität der Modezeitschrift 2010, 310 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1451-0

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