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German Pages 376 Year 2015
Ghodsi Hejazi Pluralismus und Zivilgesellschaft
2009-09-22 10-51-53 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02f4221510269294|(S.
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Für Lutz, Donna und Awid
Ghodsi Hejazi (Dr. phil.) lehrt am Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt/M. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bürgertumsforschung und Migration.
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) T00_02 seite 2 - 1198.p 221510269318
Ghodsi Hejazi
Pluralismus und Zivilgesellschaft Interkulturelle Pädagogik in modernen Einwanderungsgesellschaften. Kanada – Frankreich – Deutschland
2009-09-22 10-51-54 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02f4221510269294|(S.
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) T00_03 titel - 1198.p 221510269406
Diese Arbeit wurde 2008 unter dem Titel »Interkulturelle Pädagogik in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Kanada-Frankreich-Deutschland« an der Goethe-Universität zu Frankfurt am Main, Fachbereich Erziehungswissenschaften, als Dissertation eingereicht.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Ghodsi Hejazi Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1198-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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) T00_04 impressum - 1198.p 221510269446
Danksagung
Weil das Schreiben dieser Arbeit häufig ein einsames Unterfangen war und ich vielen Menschen nur als kluge Autoren und WissenschaftlerInnen in Buchform begegnet bin, kam ich natürlich ohne leibhaftige Hilfe nicht aus. An erster Stelle steht Brita Rang, die von der ersten bis zur letzten Minute mir durch Ihre Fragen und manchmal auch Zweifel immer den richtigen Weg gewiesen hat. In Dankbarkeit für diese Herausforderung und Motivation erinnere ich mich gerne an unzählige Diskussionen. Bei Micha Brumlik bedanke ich mich herzlich für seine geduldige und nicht endende Unterstützung, hilfreichen Einwände und inspirierenden Anregungen. Barbara Friebertshäuser gab Aufmunterung und half mir bei so mancher Durststrecke. Mit F. Bahman hatte ich einen sachkundigen und gewissenhaften Begleiter dieser Arbeit: Hätte ich alle seine Vorschläge mit einbeziehen können, wäre sie besser geworden. Maria Maris und Leila Steinke haben mich im Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft freundschaftlich entlastet. Antje Langer, Inga Pinhard und Heike Boller danke ich für ihre Unterstützung, ihr Mitgefühl und für so manche Ablenkung. Babak Azimi danke ich für seine unendliche Mühe bei der Korrektur und Formatierung der Arbeit. Ohne das Lachen und die Fähigkeit große und kleine Probleme meinerseits gegebenenfalls zu seinen eigenen zu machen und mir so bei ihrer Lösung zu helfen, wäre die Arbeit ohne Lutz nicht möglich gewesen. Donna Hejazi und Awid Vahedi, die ihren Weg noch vor sich haben, ist diese Arbeit gewidmet.
Inhalt
Einführung Was ist eine „moderne Gesellschaft“? Bildung – ein unmöglicher Begriff Das moderne Bildungssystem
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Die bürgerlich-moderne Gesellschaft des Okzidents Vorbemerkungen Bürgertum, Bürgerlichkeit, Bürgerliche Gesellschaft Der Zusammenhang zwischen Bürgertum und Moderne als Problem der Sozialwissenschaft Das Konzept der „bürgerlichen Gesellschaft“ Entstehung des Bürgertums Die Kultur der Moderne Bürgerliche Kultur Der bourgeois – der bürgerliche Habitus Der citoyen – der politische Bürger Das Individuum der Moderne Rationalisierung der Weltbilder Individualisierung und Vergemeinschaftung Die Kritik der Moderne Moderne und Bürgerlichkeit als Programm und Ideologie Freiheitsverlust Sinnkrise und Entfremdung Moderne und Gegenmoderne Die Transformation der bürgerlichen Gesellschaft – postmoderne Herausforderungen Differenzierung der Mittelschichten oder die Auflösung des Bürgertums Von der klassischen zur (Post-)Moderne Identitätsgestaltung in der „fluiden“ Gesellschaft Chancen und Risiken moderner Identitätskonstrukte Exkurs: Identitätsgestaltung von Muslimen Das Konzept der Zivilgesellschaft Die Bildung in der modernen Gesellschaft Bürgerliches Bildungsideal Bildungswirklichkeit und Bildungsbürgertum in Deutschland Strukturen des Bildungssystems Die Funktionen des Bildungssystems Die Selektivität von Bildungsabschlüssen
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Zusammenfassung Zivilgesellschaft als neues Etikett? Moderne Gesellschaft – quo vadis?
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Das kanadische Mosaik – Einheit in der Vielfalt Überblick: Der Staat Kanada als historische Konstruktion Kanada – Eroberungs- und Einwanderungsland Die Entstehung Kanadas Nation-Building Die Sonderrolle Quebecs Von der dichotomen zur pluralistischen Identität Einwanderungspolitik – die Entstehung der kanadischen Bevölkerung Transformation und Krise der 60er-Jahre Ethnische Zusammensetzung der kanadischen Bevölkerung Kanada: Multiculturalism, multiculturalité Im Zeichen des Multikulturalismus Neubestimmung – Multikulturalismuspolitik Die Struktur des kanadischen Multikulturalismus Herausforderungen für den kanadischen Multikulturalismus Interkulturelle Erziehung in Kanada Facetten des kanadischen Multikulturalismus heute Die kanadische Multikulturalismuspolitik als gesellschaftliche Bewegung Interkulturelle Pädagogik in Kanada: spezifische Herausforderungen Das kanadische Schulsystem Methoden und Projekte Interkultureller Erziehung Muslime und der Islam in Kanada Muslime in Kanada Fazit
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Frankreich – im Schatten der Republik Überblick Frankreich – Der gefühlte Niedergang einer großen Nation Nation und Republik Exkurs zu Frankreichs Bedeutung für die moderne Staatsentwicklung Frankreichs Moderne Einwanderungsgeschichte Die Krise des französischen Modells Exkurs: Das Leben in den rouge cités – die Banlieue Sozialisationsagentur Schule Organisation des Schulunterrichts Pädagogik zwischen Differenz und Assimilation – die Quadratur des Kreises Interkulturelle Erziehung in Frankreich? Antirassistische Schulpädagogik Die Persistenz sozialer Ungleichheit
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Muslime und der Islam in Frankreich Dimensionen eines Konflikts Reislamisierung versus Islam à la française Die Auseinandersetzung um den französischen Islam: Kopftücher, Imame und Laizismus Fazit Deutschland – das verkannte Einwanderungsland Die verspätete Nation Der lange Weg zum deutschen Nationalstaat Die schwierige Suche einer deutschen Identität Der übersteigerte Nationalismus Die Berliner Republik und die „deutsche Leitkultur“ Die Deutschen und das Fremde Einwanderungsgeschichte Das Schulsystem – Gleichheitsfiktion und soziale Selektivität Die Struktur des deutschen Schulsystems Soziale Herkunft und Bildungserfolg Auf dem Weg zur Anerkennung von Heterogenität – Schulunterricht und Schulpädagogik Unterrichtsgestaltung Ausländerpädagogik – zwischen Schulpädagogik und Bildungspolitik Interkulturelle Erziehung in Deutschland Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik im Fokus von Wissenschaft und Gesellschaft Fremdheit als theoretischer Bezugsrahmen für Interkulturelle Pädagogik Der Kulturbegriff als theoretischer Bezugsrahmen für Interkulturelle Pädagogik Praxis Interkultureller Erziehung Ziele Interkultureller Erziehung Methodenportfolio Interkultureller Erziehung Diskussion Zusammenfassung des wissenschaftlichen Diskurses Die PISA-„Katastrophe“ und Wege aus dem Dilemma unter Berücksichtigung des Beitrags Interkultureller Erziehung Zentrale Punkte einer neuen Bildungspolitik Bildungsstrategien Grenzen Interkultureller Pädagogik Die muslimische Minderheit in Deutschland Parallelgesellschaften? Zwischen türkischer und deutscher Identität Der Islam in Deutschland Islamunterricht in Deutschland Fazit
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Resümee und Ausblick Bildung/Migration/Bürgergesellschaft heute – die Wirksamkeit bürgerlicher Traditionen Versuch einer typologischen Zusammenfassung Problemkonstellationen und Problemwahrnehmung Ist Interkulturelle Erziehung die Lösung? Muslime und Bürgergesellschaft Wie kann Bildung in einer modernen bürgerlichen Gesellschaft aussehen?
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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
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Anhang
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Literatur
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Onlinequellen
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Einführung
„Zivilgesellschaft“, „Migration“ und „Bildung“ sind als vieldeutige Begriffe und Konzepte derzeit in wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Debatten allgegenwärtig. Mit dem und durch den Begriff der Zivilgesellschaft wird insbesondere seit den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts mehr oder weniger appellativ an die alte Wertebasis der bürgerlichen Gesellschaft erinnert, wird dem Individuum in seinen sozialen Bezügen und seinen Vereinigungen eine besondere Bedeutung bei der Regelung gesellschaftlicher Angelegenheiten zugesprochen. Nicht nur der Staat und seine Institutionen sowie die Wirtschaft würden künftige Entwicklung garantieren, sondern eine lebendige Demokratie sei auf das Handeln selbstbewusster, kreativer Bürger angewiesen. Der Begriff der Zivilgesellschaft aktualisiert das Konzept der bürgerlichen Gesellschaft, spitzt dessen demokratische Implikate zu und unterstellt die Anerkennung des Anderen. Er signalisiert, dass sich westliche Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten vor eine Reihe neuer Probleme und Herausforderungen gestellt sehen, die sich im Rahmen traditioneller Muster staatlichen und wirtschaftlichen Handelns nicht mehr lösen lassen. Es sind also besondere, neue gesellschaftliche Bedingungen, auf die der Begriff zu reagieren scheint. Migration stellt für Gesellschaften eine solche Herausforderung dar, wenn sie in einem nicht unerheblichen Ausmaß erfolgt. Sie kann das Problem der wirtschaftlichen Integration der Migranten in die Volkswirtschaft zur Folge haben und das politische Problem der sozialen Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft sowie eine Integration in die gesellschaftlichen Solidarsysteme erschweren. Der letzte Aspekt ist von besonderer Relevanz, und auch hier zeigt sich die Verknüpfung zum Diskurs um die Zivilgesellschaft, wenn eine Vielzahl der Migranten aus Kulturen stammt, die eben keinen oder einen nur sehr begrenzten Anteil an der westlichen kulturellen Tradition um „bürgerliche Gesellschaft“ und „Zivilgesellschaft“ haben. Integrations- und Anpassungsprobleme sind hier zu erwarten, da Migranten und Aufnahmegesellschaft mehr oder weniger stark voneinander abweichende normative Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung
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haben (bspw. auf das Verhältnis der Geschlechter, der Rolle der Religion im Alltag, bezogen auf Bildung und Arbeit). „Bildung“ im Sinne von Schulbildung, Ausbildung und politischer Bildung (wobei Letzteres nur eine analytische Trennung ist, denn sie ist in allen Bildungsgängen explizit oder implizit enthalten) kann als Scharnier angesehen werden, welches die zivilgesellschaftliche Realität westlicher Gesellschaften und die verschiedenen kulturellen Hintergründe und Differenzen der Migranten zusammenfügen soll. Denn Bildung impliziert an sich das Vertrautmachen mit Fremden und leistet zugleich die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt. Sie weist über Abschlüsse und über die Stellung im Erwerbsleben, welche eng mit dem erreichten Bildungsniveau zusammenhängt, den Individuen gesellschaftliche Positionen zu und bestimmt damit wesentlich die wirtschaftliche Integration und Versorgung der Migranten und ihrer Nachkommen. Und von Bildung (im weitesten Sinne als Teilhabe/Akkulturation an der Kultur der Mehrheitsgesellschaft) wird auch das Überbrücken kultureller wie sozialer Differenzen zugunsten des Gefühls der Zugehörigkeit und der Loyalität zu einer Gesellschaft erhofft. Bildungsinhalte dienen daher der Vermittlung der für Alltag, Wirtschaft und Erwerbsarbeit notwendigen Kenntnisse, wie auch der zentralen kulturellen Wissensbestände westlicher Kulturen. Das Bildungs- und Erziehungssystem stellt durch seine hochgradige Differenzierung eine zentrale sozialstrukturelle Selektions- und Zuweisungsinstanz eben auch für Migranten dar. Die Teilhabe an Schul- und Berufsausbildung und der individuelle Erfolg in Bildungssystemen sind daher für die Integration von Migranten von zentraler Bedeutung. Innerhalb dieses Spannungsfeldes ist auch die vorliegende Arbeit angelegt. Sie leistet einen Beitrag zu zwei großen Forschungsbereichen: zur Bürgertumsforschung einerseits und zur Migrationsforschung andererseits, kombiniert dabei unterschiedliche Denk- und Theorietraditionen zum Konzept des Bürgerlichen und verbindet sie mit system- und handlungstheoretischen Gesichtspunkten. Sie nimmt gesellschaftliche (bürgerliche) Akteursgruppen und die Eigenlogik von gesellschaftlichen Teilbereichen in den Blick. Westliche Gesellschaften sind gegenwärtig einem hohen Migrationsdruck ausgesetzt, und zumindest die hier untersuchten Länder haben bereits eine mehr oder weniger lange Tradition als Einwanderungsländer. Die Zuwanderung ist dabei kein quasi „naturgesetzlicher“ Vorgang, sondern Gegenstand heftiger gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen in den jeweiligen Gesellschaften, in denen um die Notwendigkeit über das Ausmaß sowie die „Qualität“ der zuzulassenden Migration gestritten wurde und wird. Migration ist meist staatlich reglementiert, folgte und folgt neben humanitären primär ökonomischen Interessen und Überlegungen. Diese Motivlage bildet den Hintergrund, denn es geht in dieser Studie nicht um die konkreten politischen Auseinandersetzungen um Zuwanderung und Ausländergesetzgebung in den westlichen Gesellschaften. Vielmehr soll die generelle Behandlung von Fremden, abzulesen an dem sozial-kulturellen und politischen Ordnungsgefüge –
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aber vor allem an den Bildungssystemen und an der pädagogisch-kul-turellen Pluralität der jeweiligen Gesellschaft – analysiert werden. Dieser Zugang bietet den Vorteil, konkretes Handeln in den Blick zu nehmen, das stellvertretend für die gesamte Gesellschaft angesehen werden kann, da eben alle Zuwanderer davon betroffen waren und sind, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Die Betrachtung der realen Auswirkungen bildungspolitischer Entscheidungen ist in diesem Zusammenhang wichtiger als die Analyse unterschiedlicher innergesellschaftlicher Interessenskonstellationen und Meinungsbildungen. Die Untersuchung wird ebenso historisch wie auch auf die gegenwärtige Situation gerichtet sein, denn das eigentliche Erkenntnisinteresse dieser Studie liegt auf dem Zusammenhang zwischen der historisch-kulturellen Tradition eines Landes und der jeweilig politisch-gesellschaftlichen Umgangsweise, insbesondere mit Migranten aus fremden Kulturen, in erster Linie muslimischer Herkunft. Es liegt die These zugrunde, dass jenes Selbstbild, welches Mitglieder von ihrer Gesellschaft, ihrem Land als Ganzes haben, dem sie sich zugehörig fühlen, dass jene Form von kollektiver Identität einerseits bestehende historische Wurzeln hat, konkret im Entstehungsprozess des Nationalstaats selbst verwurzelt ist, und gleichzeitig die Möglichkeiten und Grenzen des praktischen Umgangs mit Fremdheit (und daher mit Migranten) bereits absteckt. Dabei wäre es unangemessen, einen direkten Zusammenhang zwischen der Formierung von Nationalstaaten und Nationalitätsbildern im 19. Jahrhundert und der gegenwärtigen Politik gegenüber Migranten zu postulieren. Vielmehr soll gezeigt werden, welchen Einfluss Ersteres auf Letzteres hatte; inwieweit dieser sich auch heute noch nachzeichnen lässt und welche Transformationen ein gesellschaftliches Selbstbild – als nationale Identität – und Migrationspolitik jeweils durchlaufen haben. Dies wird im engeren Sinne Gegenstand der Länderstudien sein. Diese werden dabei jeweils drei Teile haben: die idealtypische Darstellung der Nationalstaatsentwicklung und die Genese nationaler Identität, dann die Ausländer- und Zuwanderungspolitik und schließlich die Bildungspolitik und Bildungswirklichkeit, an der sich besonders gut ablesen lässt, wie der Anwesenheit großer Gruppen von Einwanderern gesellschaftlich Rechnung getragen wird. Die detaillierten Länderstudien stehen unter einer übergeordneten Problemperspektive, denn mit der vorliegenden Arbeit soll das generelle Verhältnis moderner westlicher Gesellschaften zu kultureller Fremdheit in Gestalt von Migration untersucht werden. Die Moderne – als historische Epoche wie als Gesellschaftstypus mit entsprechender Kultur –, wie sie sich im ausgehenden 18. und dann im 19. Jahrhundert in (West-)Europa und Nordamerika durchgesetzt hat, zeigte von Beginn an das Selbstbewusstsein der Überlegenheit von Marktwirtschaft und Demokratie als die grundlegenden gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien. Und auch wenn in modernen Gesellschaften selbst starke Gegenkräfte entstanden sind, ist dieses bürgerliche Selbstbewusstsein in der Popularität und der politischen Verwendungsweise des Konzepts einer Zivilgesellschaft heute deut-
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lich sichtbar. Meines Erachtens wird mit ihm als Kritikformel – anfangs befördert durch die osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen – ein normativer Anspruch an die Mitglieder aller anderen Kulturen formuliert: die Aufforderung zur Anpassung und Übernahme westlicher politischer Normen aufgrund deren „offensichtlicher“ historischer Überlegenheit gegenüber allen anderen Formen gesellschaftlicher Organisation. Im gegenwärtigen Diskurs um Zivilgesellschaft schwingt die Hoffnung auf deren Problemlösungspotenzial und deren integrative Wirkung mit. Betont wird von einigen ihrer Vertreter, wie stark dies als normatives Ordnungsmodell in der Tradition westlicher, d. h. europäischer Geschichte stehe; eine Tradition, die letztlich bis in die Antike reiche, das Christentum mit einschließe, ihre wesentlichen Prägungen jedoch in der Frühen Neuzeit und dem Beginn der Moderne mit und in der Aufklärung erhalten habe. Mit der historisch-soziologischen Analyse der Genese westlicher Gesellschaften (strukturell wie kulturell) soll die doppelte Selektivität deutlich gemacht werden. Selektiv zum einen in ihrer Begrenztheit eben auf die westlichen Kulturen. Hier vertrete ich die These, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass jedem Migranten die Integration in demokratische, westliche Gesellschaften gelingen muss, sondern dass kulturelle Unterschiede eine zu erwartende Barriere darstellen und den Migranten als Defizit zugeschrieben werden. Ganz zentral ist dabei, dass sich Integrationsschwierigkeiten primär nicht an der wirtschaftlichen, politischen oder gesellschaftlichen Grundordnung entzünden, sondern an den spezifisch kulturellen Ausprägungen des lebensweltlichen Alltags mit all seinen kulturellen Selbstverständlichkeiten (Umgangsformen, Alltagskultur, Hochkultur, Geselligkeitsstile, Religiosität). Kann man für die politische Staatsform einer Demokratie noch eine gewisse normative Leitfunktion anerkennen, gilt dies für die Alltagskultur – die trotz aller inneren Differenziertheit in Schichten und Milieus eine gewisse kulturelle Grundstruktur hat – in keinster Weise. In diesem Sinne sind moderne Gesellschaften immer spezifisch, historisch, kontingent und nicht per se in irgendeiner Form anderen Gesellschaften überlegen, auch wenn sie diesen Anspruch erheben. Moderne westliche Gesellschaften sind aber auch in sozialer Hinsicht selektiv, wenngleich sie sich selbst eine universalistische Inklusionsfunktion auf der Basis allgemeiner Bürgerrechte zuschreiben. De jure sind diese Ansprüche auch erfüllt, denn demokratische Gesellschaften inkludieren über das Staatsbürgerrecht zunächst tatsächlich alle erwachsenen Bürger eines Landes. Hier wird bereits deutlich, wie Migranten mittels Verweigerung oder Erschwerung der staatsbürgerschaftliche Partizipation dennoch rechtlich ausgegrenzt werden können; wichtiger ist hier die soziale Ausgrenzung aus der Gesellschaft, denn die tatsächliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beruht weniger auf den rechtlichen Bestimmungen als vielmehr auf der Verfügbarkeit von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital (Bourdieu). Davon betroffen sind also primär ärmere Haushalte mit niedrigem Bildungsniveau.
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Anhand der Theorien soziologischer Klassiker (Elias, Simmel, Weber) werde ich die Entwicklungsbetrachtung der Moderne in Europa nachzeichnen. Der Fokus liegt dabei auf dem inneren Widerspruch zwischen universalistischem Geltungsanspruch und Inklusionsversprechen sowie deren selektiver Umsetzung, der diesen modernen Gesellschaften eingeschriebenen ist. Die historische, bis in die Frühe Neuzeit zurückreichende Analyse mit der Konzentration auf die Entstehung des Bürgertums als sozialer und letztlich politisch bestimmender Bevölkerungsgruppierung stellt diesen trotz aller Gleichheitsversprechen und Inklusionschancen letztlich exklusiven Charakter westlicher Gesellschaften heraus und kann zeigen, welche Ideologien seitens der herrschenden Klassen entwickelt wurden, um den Widerspruch zwischen Inklusionszusagen und tatsächlichen Inklusionschancen nicht zu sozialem Zündstoff werden zu lassen. Auch auf wissenschaftlichem Gebiet hat diese Antinomie weitreichende Kritik und Gegnerschaft zur Moderne selbst hervorgebracht (bspw. Sozialismus); zeigt sich auch die moderne Kultur als in sich grundsätzlich ambivalent und oszilliert zwischen Anspruch und Wirklichkeit (eine Differenz, die politisch bearbeitet werden kann, grundsätzlich aber ausgehalten werden muss). Die moderne bürgerliche Gesellschaft hat sich zur irreduziblen Vielfalt, zu großer Unterschiedlichkeit der Handlungsformen und Lebensweisen gewandelt. Die Zumutung an die Individuen besteht in der Gegenwart im Aushaltenmüssen und -können von mangelnder Eindeutigkeit. Verbindlich vorgegebene, normative Schemata fehlen, und es gilt, mit Ambiguität umzugehen. Der fragile Charakter von Identität ist eine der Folgen. Welche Rolle spielen diese Überlegungen in dem hier interessierenden Zusammenhang? Jeder Gesellschaft ist eine Ungleichheitsstruktur eingeschrieben, d. h., Gesellschaften können auch als Konfliktgefüge mehrerer sozialer Gruppierungen um Ressourcen wie Geld, Einfluss und Macht verstanden werden. Migranten treten als neue Gruppe in dieses Konfliktgeflecht ein und müssen sich behaupten. Sie müssen also nicht nur symbolisch auf politischer und kultureller Ebene als Teil der Gesellschaft akzeptiert werden, wirkliche Integration und Akzeptanz umfasst auch adäquate Inklusion in die wirtschaftliche Struktur und in das Bildungswesen, damit das Merkmal der fremden Herkunft nicht bereits als kausal für manifeste soziale Ungleichheit verantwortlich gemacht werden kann. Umgekehrt ließen sich damit auch die Formen des „Draußenstehens“ von Migrantengruppen intern differenzieren, denn es ist sowohl eine symbolische Anerkennung bei ökonomischer Marginalisierung wie auch eine symbolische Ausschließung aus der Gesellschaft (Verweigerung von Einbürgerung etc.) bei ökonomischer Integration denkbar, wie natürlich auch kumulierende Ausschließungserfahrungen. Die Arbeit nimmt also sowohl symbolische als auch ökonomische Konfliktebenen in den Blick und begreift letztlich die modernen Gesellschaften nicht als zeitlose Gebilde, sondern ist stark an den Transformationen interessiert, die sich in den Anerkennungsverhältnissen zwischen Bevölkerungsmehrheit und Minder-
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heiten und den Relationen sozialer Ungleichheit ergeben haben bzw. welche unter dem Druck unabweisbarer sozialer Prozesse zu erwarten sind. Bildungspolitik und pädagogische Konzeptionen im Umgang mit Schülern mit Migrationshintergrund spielen in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Zuvor ist ausgeführt worden, dass Bildungssysteme sozusagen die Scharnierfunktion zwischen Individuen oder sozialen Gruppen und der Sozialstruktur mit ihrem Positionsgefüge übernehmen. Nun ist ersichtlich, auf welche Weise dies vonstatten geht. Vor allem in der Schulausbildung wird einerseits der Grundstein für die spätere berufliche Karriere des Einzelnen gelegt, werden also Lebenspläne vorgezeichnet. Gleichzeitig werden im Bildungssystem allgemein die Kinder und Jugendlichen in die Kultur des Landes hineinsozialisiert, dort erst eigentlich und letztlich zu Staatsbürgern gemacht, indem sie die Werte und Pflichten der demokratischen Grundordnung idealerweise internalisieren. Dabei gilt es aber zu beachten, dass Bildungssysteme nicht voraussetzungslos funktionieren, wie insbesondere die Arbeiten von Pierre Bourdieu in aller Deutlichkeit gezeigt und internationale Bildungsvergleichsstudien vielfach bestätigt haben. Bildungsprozesse bauen auf den alltagsweltlichen Lebensbedingungen und den in Familien ablaufenden Prozessen auf, die mehr oder weniger gut auf die Schulkarriere vorbereiten. Es ist leicht ersichtlich, dass Migranten hier vor besonderen Problemen stehen, da ihnen meist die Sprache der Aufnahmegesellschaft und deren zentrale kulturelle Wissensbestandteile fremd sind. Vor allem die Kinder der ersten Einwanderergeneration sind damit einerseits zum Wohle ihrer Lebenschancen im neuen Land auf die Akkulturationsleistung von staatlichen Bildungssystemen angewiesen, gleichzeitig stehen dem seitens der Strukturierung und Funktionsweise von Bildung in den einzelnen Ländern auch spezifische Schwierigkeiten entgegen. Es bedarf also besonderer pädagogischer Konzepte und Gestaltung von Lehrplaninhalten, um für Migranten tatsächlich Chancengleichheit im Bildungssystem zu gewährleisten. Das Konzept der Interkulturellen Pädagogik verspricht gegenwärtig, diese Aufgaben zu meistern. Die einzelnen Länderstudien werden daher im Detail beleuchten, inwieweit sich durch die Verwirklichung dieses Konzepts Erfolge zeigen: durch Anerkennung von ethnisch-kultureller Differenz, einer besonderen Förderung von Migranten und durch den Versuch von Chancengleichheit für Migranten im Bildungssystem.Ich lasse mich dabei von der These leiten, dass zwischen der gesellschaftlichen und politischen Stellung zu Migration und der Organisation der staatlichen Bildung – inhaltlich wie strukturell – ein Zusammenhang besteht, bzw. dass Interkulturelle Pädagogik nicht im Schulalltag Einzug halten kann, wenn nicht auch auf symbolisch-kultureller Ebene die Anerkennung ethnisch-kultureller Minderheiten verbessert worden ist. Es sind also eine Reihe von offenen Fragen, die diese Studie motiviert haben, und es ist abzusehen, dass sie sich nicht immer eindeutig beantworten lassen, erst recht nicht auf theoretischer Ebene. Denn hierbei handelt es sich um soziale Pro-
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zesse, die zwar in Abhängigkeit von kulturellen Traditionen und strukturellen Gegebenheiten stehen, ebenso aber auch jeweils landesspezifisch sind. Ausgewählt sind Kanada, Frankreich und Deutschland, wobei Kanada und Deutschland etwas ausführlicher analysiert werden. Kanada ist ein Beispiel für ein klassisches Einwanderungsland, wo Wohlstand und Entwicklung seit jeher auf die Potenziale von Zuwanderern angewiesen sind. Doch anders als die Vereinigten Staaten bündelt Kanada mit dem Gegen- und Miteinander des anglophonen und frankophonen Kanadas zwei Gesellschaften in einer, macht das Land damit zu einem einzigartigen Fall, der ebenso einzigartige Problemlagen mit sich bringt. Frankreich hat aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit eine lange Tradition der Zuwanderung. Gleichzeitig ist es mit dem Imperativ republikanischer Werte – also eigentlich der Zivilgesellschaft – prädestiniert, die innere Widersprüchlichkeit und Selektivität eben dieser normativen Gesellschaftsordnung nicht anzuerkennen. Deutschland als drittes Beispiel steht Frankreich aufgrund der gemeinsamen kontinentaleuropäischen Geschichte zwar sehr nahe, hat andererseits aber keine kulturelle Tradition als Einwanderungs- und Kolonialland (die deutsche Kolonialgeschichte endete 1918 und es ist keine Relevanz für die Nachkriegsentwicklung zu erkennen). Allerdings kann Deutschland eine besonders stark ausgeprägte Tradition übersteigerten Nationalismus im Wilhelminischen Kaiserreich bis hin zu rassistisch motivierter Fremdenfeindlichkeit und Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus zugeschrieben werden, woraus ersichtlich ist, dass auch für das heutige Deutschland spezifische Bedingungen für die Anerkennung von Fremdheit und die Integration von Migranten bestehen. Wie schon erwähnt, wird die Betrachtung bezogen auf Migrantengruppen im Wesentlichen auf Migranten muslimischer Herkunft beschränkt bleiben. Das verweist natürlich auf die gegenwärtige globale Auseinandersetzung um islamischen Fundamentalismus bzw. jeweils spezifische Probleme westlicher Gesellschaften mit ihrer muslimischen Minderheit. Anhand dessen soll letztlich analysiert werden, wie einerseits eine ganz bestimmte, aus den nicht-westlichen Kulturen stammende Gruppe von Migranten erstens auf westliche Kulturen und Gesellschaften reagiert, wie ihnen die Anpassung gelingt und sie sich in die jeweilige Sozialstruktur einordnen, welche Ergebnisse deren Kinder in den Schulen erzielen und auf der anderen Seite, welche Anstrengungen die Aufnahmegesellschaften zur verbesserten Integration, vor allem im Bildungsbereich, unternommen haben. Es wird also eher versucht, eine pädagogische und sozialwissenschaftliche Perspektive darauf zu gewinnen, als Fragen eindeutig zu beantworten. Die vorliegende Analyse transzendiert also die gegenwärtigen Situationen und Probleme von muslimischen Zuwanderern und ihren Nachfahren in westlichen Gesellschaften über die nationalstaatliche Spezifität hinaus auf die allgemeinen strukturellen, habituellen und normativen Grundlagen westlicher Gesellschaften.
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Diese Studie analysiert das multiethnische Zusammenleben in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften, fokussiert auf die Eingliederung und Akzeptanz ethnisch-religiöser Minderheiten in die Bevölkerungsmehrheit unter besonderer Berücksichtigung des Bildungssystems und des pädagogischen Umgangs mit ethnisch-kultureller Pluralität. Integration wird daher nicht unter der Dichotomie Stabilität/Zerfall beleuchtet, sondern mittels der Unterscheidung von drinnen/draußen bezogen auf die Minderheitsgruppen. Dies scheint aktuell von besonderer Problematik und öffentlichem Interesse. Die Arbeit wird zeigen, dass sowohl das klassische Einwanderungsland Kanada, die ehemalige Kolonialmacht Frankreich wie auch die Bundesrepublik Deutschland, die bis in die jüngste Zeit nicht als Einwanderungsland betrachtet wurde, in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu einer grundlegenden Transformation ihrer Einwanderungs- und Integrationspolitik gekommen sind; dass vor allem die europäischen Staaten nach dem Ende der bipolaren Weltordnung in der Anerkennung ihrer ethnisch-kulturellen und religiösen Pluralität einer neuen Herausforderung gegenüberstanden und weiterhin stehen. Noch stellt diese Problematik keine Existenzbedrohung gegenwärtiger Gesellschaften dar, wenngleich die Unruhen in den Pariser Vorstädten im Herbst 2005 dramatische Ausmaße angenommen haben. Bereits anhand der damaligen Vorgänge lässt sich zeigen, dass es den Demonstranten eben nicht um eine Überwindung des bestehenden Gesellschaftssystems ging, sondern um Teilhabe an Arbeit und Wohlstand, Anerkennung von Identitätsentwürfen und Zugehörigkeiten durch die Mehrheitsgesellschaft. Diese Aspekte sind für ethnisch-kulturelle Minderheiten – und besonders für muslimische Zuwanderer – problematisch. Sozioökonomische Marginalisierung und Ungleichbehandlung gehen oft mit kultureller Ignoranz oder Ausschluss einher. Dies geschieht vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses, das jede Gesellschaft von sich hat, mit der sich die Gesellschaftsmitglieder als solche erkennen und wechselseitig anerkennen und mit dessen Hilfe sie die Grenzen der Zugehörigkeit markieren können. Dieses Selbstverständnis beruht auf gemeinsam geteilten Werten und Normen, der gemeinsamen Geschichte eines Territoriums – und damit auch der Erfahrung, von anderen Staaten als zusammengehörige Einheit wahrgenommen zu werden. Zuwanderer stehen als Fremde zunächst immer außerhalb dieser kulturellen Form der Selbstvergewisserung und Selbstbeschreibung. Ihre Integration oder besser: Eingliederung in die Einwanderungsgesellschaft, ebenso wie ihre Anerkennung durch diese – nicht als Fremde, sondern als dazugehörige Neue – hängt, so eine These dieser Studie, erstens mit der Distanz, d. h. Fremdartigkeit zwischen Herkunftskultur des Migranten und der Kultur des Einwanderungslandes, und zweitens mit der Offenheit und dem praktisch-kulturellen Umgang in der Einwanderungskultur mit Fremdheit und Migranten zusammen. Für die Integration von Minderheiten ist Letzteres sogar von entscheidender Bedeutung. Es soll verdeutlicht werden, dass nicht kulturelle Differenzen schlechthin für soziale
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Ausschließungs- und Segregationsprozesse verantwortlich sind, sondern der Umgang, den eine Gesellschaft mit den kulturellen Differenzen pflegt. Dabei ist ein kulturalistischer Fehlschluss zu vermeiden.1 Kulturen sind nicht per se unverträglich, stoßen sich nicht wie Antikörper voneinander ab. Wenn kulturelle Unterschiede zur sozialen Abgrenzung betont und benutzt werden, dann stehen dahinter partikulare Interessen; erfüllt dies eine soziale Funktion. Schon hier kann darauf hingewiesen werden, dass jenes kulturell-religiöse, konfliktträchtige Verhältnis, wie es Frankreich und Deutschland mit ihrer muslimischen Minderheit kennen, ganz wesentlich auf soziale Verteilungskonflikte zurückgeht, es ist also auch materiell und politisch begründet. Nicht ohne Interesse ist es, warum Konflikte dieser Art auf kultureller Ebene ausgetragen werden. Meiner Ansicht nach bietet es sich aber auch nicht an, der materiellen Ebene so großes Gewicht zuzuweisen, dass die Kulturalisierung von sozialen Konflikten lediglich als Ablenkung, Ideologisierung oder Verschleierung zu interpretieren ist. An den zusammenfassenden Überblick über die Thematik werden sich drei Unterkapitel anschließen, welche Begriffe behandeln, die sehr häufig in der wissenschaftlichen Literatur ebenso ubiquitär und damit sehr vielseitig und missverständlich gebraucht werden. Das gilt im besonderen Maße für das Konzept der „modernen Gesellschaft“ und den Bildungsbegriff. Zuerst kommt es darauf an zu bestimmen, was eine moderne Gesellschaft dem „Wesen“ nach ausmacht und wo die Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen modernen Gesellschaften zu sehen sind. Auf diesen impliziten Hintergrund stützt sich die historische Analyse ebenso wie die einzelnen Länderstudien. Vorstellungen von Bildung, Erziehung oder Sozialisation sind jedem pädagogischen Konzept inhärent, damit vor allem auch deren Möglichkeiten und die Grenzen, die je nach weltanschaulicher Perspektive variieren. In der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer begrifflichen Bestimmung wie auch im engeren Konzept der Zivilgesellschaft ist der Bildungsbegriff normativ aufgeladen, sodass auch hier zunächst einmal eine Begriffsklärung und Verortung der eigenen Perspektive nötig sind. Im zweiten Kapitel werde ich versuchen, nach begrifflichen Vorklärungen, die den Bedeutungshorizont des „Bürgerlichen“ ausleuchten, eine umfängliche Beschreibung und historische Herleitung gegenwärtiger moderner, westlicher Gesellschaften zu geben. Es beginnt mit der Entstehung des Bürgers in der griechischen Polis und seinem kurzen Aufblühen in der mittelalterlichen europäischen Stadtkultur. Auch hier wird nicht historisch umfassend argumentiert, sondern typologisierend und komplementär. Denn in der Antike entsteht die Figur des Bürgers als eines politisch verantwortlich handelnden Menschen; in den mit-
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Nick, P. (2003): Ohne Angst verschieden sein. Differenzerfahrungen und Identitätskonstruktionen in der multikulturellen Gesellschaft, Campus Verlag, Frankfurt/Main, S. 51
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telalterlichen Städten konnte sich dann der Typus des ein Handwerk oder ein Gewerbe betreibenden Bürgers entfalten. Im darauf folgendem Kapitel zeichne ich in groben Linien die strukturellen wie auch kognitiv-geistigen Veränderungen nach, die vor allem europäische Gesellschaften im 20. Jahrhundert, also innerhalb der Moderne, durchgemacht haben. Auf die Diskussion um einen Epochenbruch – egal ob hin zur Postmoderne oder zur Zweiten Moderne – wird nicht näher eingegangen, im Vordergrund steht die Kontinuitätsperspektive. Denn darauf aufbauend wird das Konzept der Zivilgesellschaft entfaltet, wie es gegenwärtig diskutiert wird. Nach der abstrakten Bestimmung des Bildungssystems im ersten Kapitel erfolgt hier nun ein ausführlicher Blick auf die Bildungssysteme moderner Gesellschaften, wie sie sich als Strukturelement eingefügt haben, welche Funktionen sie erfüllen und welche Folgen und Auswirkungen dies hat. Auch diese Darstellung ist prinzipiell problemorientiert, d. h., sie soll den Boden bereiten für die intensive Auseinandersetzung mit nationalen Bildungspolitiken und der jeweiligen Implementierung Interkultureller Pädagogik als Leitvorstellung für multiethnische Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund eines so entfalteten „Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft“ (einschließlich des Begriffs der „Zivilgesellschaft“), der normative und analytische Theoriestränge kombiniert und Ambivalenzen und Zumutungen herausarbeitet, werden in den folgenden drei Kapiteln die drei Länderstudien ausgebreitet. Unterstellt ist, dass die Kategorie und die Geschichte des Bürgertums und der bürgerlichen Gesellschaft für die Analyse der von Migrationsprozessen geprägten Gegenwartsgesellschaften eine erhebliche Erklärungskraft besitzt. Wie gehen die drei westlichen, bürgerlich-modernen Gesellschaften mit der ethnischen und religiösen Pluralität ihrer Bevölkerung um, welche Position haben diejenigen, deren eigene kulturelle Traditionen nicht in der bürgerlich-okzidentalen Geschichte verwurzelt sind? Diese Frage zielt zunächst auf Kanada, dann auf Frankreich und schließlich auf Deutschland. Für jede der drei Studien ist der Rekurs auf die Geschichte, die nationale wie die allgemeine Konstruktion, der analytische Ausgangspunkt. Für die drei Länder lassen sich sehr unterschiedliche Verläufe rekonstruieren. Die Argumentation zeigt, dass Bürgerlichkeit nicht einfach eine geschichtsphilosophische Notwendigkeit ist, zumal auch außerordentlich problematische Gesellschaftsprojekte in diesen drei Geschichten identifiziert werden können: in Deutschland der Nationalsozialismus, in Kanada die weitgehende Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung, in Frankreich vor allem die Ghettoisierung der Migranten in den Banlieues der großen Städte. Im Vergleich der drei Länder wird deutlich, dass auch das jeweilige Verhältnis von Staat und Bürgertum weitreichende Unterschiede aufweist. Der starke republikanische französische Staat wird neben dem deutschen autoritativen sichtbar. Dem wird jeweils das unterschiedliche Konzept von Staatsbürgerschaft zur Seite gestellt. Während in Frankreich das „ius soli“, d. h. das Bekenntnis zur Republik, als alleinige Bedingung für die Zugehörigkeit galt, standen und stehen in
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Deutschland immer noch mit dem „ius sanguinis“ ethnische Konzeptualisierungen im Zentrum der Frage, ob jemand zur Nation gehört, das Staatsbürgerrecht erwerben kann oder nicht. Anders dagegen auch das Konzept des bürgerlichen Staates im klassischen Einwanderungsland Kanada, das sich in erster Linie als eine zivilgesellschaftliche Konzeption beschreiben lässt. Mit ihm scheint am Anfang der Bürgergesellschaft nicht der Staat zu stehen, sondern das Individuum in seinen sozialen Bezügen. Das heißt aber auch, dass Vereinigungen, Gruppen in der Geschichte und Gegenwart nicht einfach von der Staatsmacht bevormundet werden können. Eben das zeigt der langwährende Konflikt zwischen „Quebec“ und den englischsprachigen Teilen des Landes. In dieser Tradition sind „Vereinigungen“ die Institutionen, die den Gang der staatlichen Politik entscheidend mittragen. Auf sie vermag auch unter aktuellen Bedingungen die Politik zurückgreifen. Migrationspolitik ist insofern auch ein soziales und politisches Feld, auf dem die Gesellschaft sich selbst und ihren Wandel regelt. Die Arbeit beschreibt, wie diese drei bürgerlichen Gesellschaften nicht nur von differenten Staatskonzepten geprägt waren und sind, sondern auch sehr differente Formen des staatlichen und sozialen Umgangs mit Migranten entwickelten. In Kanada werden die Einwandernden je nach Herkunftsland eher als eine weitere hinzukommende „Vereinigung“ wahrgenommen, die sich mit den bereits vorhandenen bürgerlichen Vereinigungen in einer aktiven Weise verknüpfen muss und kann, während in Frankreich die Migranten immer in erster Linie als politische Individuen gesehen werden, die sich die Möglichkeiten und Anforderungen der Republik zu eigen machen können, wenn sie dauerhaft mit diesem Land verbunden bleiben wollen. Zu einer solchen Tradition aber gehört in Frankreich die Trennung von Staat (als der Gesamtheit aller Bürger und nicht primär als verselbständigtes Legislativ- und Exekutivorgan) und Kirche (als einer partikularistischen Instanz). In allen drei Gesellschaften nimmt die Arbeit die aktuellen pädagogischen und didaktischen Veränderungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen im Bildungssystem in den Blick und identifiziert die in ihm entwickelten Traditionen und Konzeptionen der Bürgergesellschaft und der Bürgerlichkeit. Im Blick auf das kanadische Bildungssystem werden deshalb auch ohne gesellschaftlichen Widerspruch die neu hinzukommenden „Vereinigungen“ muslimischer Migranten sowohl ethnisch als auch kulturell als different markiert – so wie alle Gruppen im Kontext von Schule und anderen gesellschaftlichen Bereichen als eine eigene Gruppe identifizierbar sind, ist doch kulturelle und ethnische Differenz ein gesellschaftlich anerkanntes Stigma aller zivilgesellschaftlichen Vereinigungen. Das kanadische Konzept des schulischen Umgangs mit Differenz wird als „interkulturell“ bezeichnet und ist Teil einer breiten Anerkennungskultur. Dass an diesem Konzept deshalb auch viele gesellschaftliche Gruppen – im Unterschied zu
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Deutschland – beteiligt sind, belegt die vorliegende Arbeit auf der Basis von Quellen. Anders in Frankreich. Hier kann – vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme – der bürgerliche Staat mit seinem Anspruch, Gerechtigkeit und Gleichheit durch Leistung im Bildungssystem durchsetzen zu wollen, als historisch überholt bezeichnet werden. Das radikale französische Konzept der Revolution und Aufklärung kann mit seinen egalisierenden Unterstellungen nicht mehr die Probleme der spätbürgerlichen Gesellschaft, vor allem ihrer heutigen Pluralität und Differenz, bearbeiten. Die Schule wie die Banlieues sind Orte, an denen das Misslingen dieses bürgerlichen Projekts der Moderne sichtbar wird, ein sorgsames pädagogisches Umgehen mit Differenz findet dort nicht statt. Schließlich die Darstellung der deutschen Geschichte und der schulischen Integrationsproblematik seit den 60er-Jahren: Dieser Teil beschreibt besonders ausführlich die Situation von Muslimen in Deutschland. Die Interkulturelle Pädagogik wird im Blick auf das deutsche Bildungssystem einerseits in ihrem „Siegeszug“, andererseits aber auch in ihrer Vielschichtigkeit diskutiert, wobei die Bandbreite theoretischer Konzeptionen interkultureller Erziehung u. a. am unterschiedlich genutzten Begriff von Kultur deutlich wird: Kulturrelativistische Konstruktionen finden sich in der Interkulturellen Pädagogik ebenso wie solche, die Kultur als ein relativ stabiles, Identität formendes Konzept nutzen. Welche Konsequenzen für den pädagogischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen folgen daraus? In welche Richtung lassen sich diese für Offenheit plädierenden Unterrichtskonzeptionen entwickeln? Das versucht diese Studie zu klären, indem im abschließenden Teil auf das bürgerliche Konzept von Bildung zurückgegriffen wird. Es ist eine der bürgerlichen Konzeptionen, die sich mit der Aufklärung verband. Interkulturelle Bildungserfordernisse sind insofern anschlussfähig an das Humboldtsche Bildungskonzept. In dieser Perspektive können kulturrelativistische und universalistische Sichtweisen und Ansprüche kombiniert werden, um dem je einzelnen Individuum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Die Migrantenkinder und -jugendlichen sind in dieser Perspektive immer auch als außerordentlich aktiv, als Handelnde gedacht. Die Offenheit für Fremdes gilt für alle, für die Einheimischen wie für die neu Hinzukommenden, was auch zutrifft im Blick auf Selbsttätigkeit und die unterstellte besondere Relevanz von Sprachfähigkeit. Schließlich aber hat das Bildungswesen seinen Absolventen, den Migrantenkindern wie den übrigen, einen Arbeitsplatz durch Bildung zugänglich zu machen. Meinen Recherchen zufolge gibt es bisher keine Literatur, die explizit die in der Einleitung genannten Fragestellungen aus der darin entwickelten Perspektive bearbeitet. Vielmehr habe ich diese aus den Untersuchungen zur Geschichte des Bürgertums, der politischen und sozialen Ideengeschichte, den soziologischen Entwicklungstheorien der okzidentalen Moderne (Weber, Simmel, Elias, Haber-
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mas) sowie den aktuellen Beiträgen zur Zeitdiagnose und Gegenwartsbeschreibung erarbeitet (Bauman, Beck, Keupp). Jeder einzelne hier angerissene und eingebaute Themenkomplex ist bereits intensiv erforscht und in der Fachliteratur behandelt und würde selbst eine eigene Arbeit füllen. So kann nicht jeweils zu den einzelnen Aspekten ein ausführlicher Literatur- und Forschungsüberblick gegeben werden. Die Auswahl der Quellen und Autoren ist notwendig selektiv, lässt sich aber von der Überzeugung leiten, auf diese Art und Weise die ins Auge gefassten Entwicklungsprozesse und Konstellationen angemessen zu charakterisieren. Bezüglich der bürgerlich-modernen Gesellschaft wird von diesem Vorhaben aufgrund der Zentralität des Konzeptes für diese Studie abgewichen. Bürgerlich-moderne Gesellschaft und in diesem Zusammenhang auch Zivilgesellschaft ist seit einigen Jahren zunehmend häufiger Gegenstand sozialwissenschaftlicher Veröffentlichungen (vgl. Kocka, Hettling/Hoffmann, Dahrendorf) sowie politischer Diskussionen und Beiträge. Dabei können grob drei Bezugsrahmen unterschieden werden: Zunächst der historische, der – wie auch in dieser Studie – den Bürger und die bürgerliche Gesellschaft ideengeschichtlich bis ins Mittelalter oder die Antike zurückführt (vgl. Hettling/Hoffmann, von Beyme, Ribhegge). Damit verbunden ist bereits der zweite Aspekt, in dem sie als gesellschaftliche Ordnungsvorstellung, also als Strukturprinzip gesellschaftlichen Aufbaus und politischer Herrschaft und Steuerung konzipiert wird. Als solches hat sich der Begriff der bürgerlich-modernen Gesellschaft längst von seiner ursprünglichen Bindung an den Nationalstaat gelöst und wird auf die europäische oder gar globale Ebene projiziert (vgl. Gosewinkel/Rucht, Koenen, Knodt/ Finke). Gleichzeitig verweist dies auf den normativen Charakter des Konzepts im Sinne eines Leitbildes tatsächlicher Politik und eines unterstellten Idealbilds westlicher Verfassungen mit einer entsprechenden politischen Kultur. Drittens wird Bürgerlichkeit wie auch der verwandte Begriff der Zivilgesellschaft als heuristisches Mittel genutzt, als operationalisierter Idealtypus, wodurch die Vielfältigkeit der sozialen Realität wie auch die Widersprüchlichkeit der Konzeptionen selbst ins Licht gerät.2 2
Die meisten Publikationen behandeln mehrere der genannten Aspekte: Kocka (Hrsg.), (1995): Bürgertum im 19. Jahrhundert 3. Bd.; Schulze (2005): Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert; Ribhegge (2002): Stadt und Nation in Deutschland vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Die Entstehung der Zivilgesellschaft aus der Tradition der Städte; Kocka (2004): Zivilgesellschaft in historischer Perspektive; von Beyme (2000): Zivilgesellschaft – Von der vorbürgerlichen zur nachbürgerlichen Gesellschaft; als primär geistesgeschichtlich angelegt: Schmidt (2007): Zivilgesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement von der Antike bis zur Gegenwart; beides gut vereint in: Adloff (2005): Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis; Koenen (2001): Bürgerliche Gesellschaft; Knodt/ Finke (Hrsg.), 2005: Europäische Zivilgesellschaft; Hettling (2000): Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System; Hettling/Hoffmann (1997): Der bürgerliche Wertehimmel; Hettling (2004): „Bürgerlichkeit“ und Zivilgesellschaft. Zur Aktualität einer Tradition. Zu den Verbindungen mit dem Kommunitarismus:
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In dieser Komplexität und Vielschichtigkeit wird auch in vorliegender Studie das Konzept der bürgerlich-modernen Gesellschaft in den Mittelpunkt gerückt, jedoch mit der damit verbundenen Absicht, die Selektivität, d. h. letztlich die Kulturspezifität dieser Konzeption aufzuzeigen. Diesem Zweck dient somit auch die historische Betrachtung. All dies geschieht vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Konfrontation westlicher Gesellschaften mit Migrantenströmen aus nicht-westlichen Kulturen. Dies auf so grundsätzliche Weise zu problematisieren – und nicht nur partiell wie bei der Behandlung von Islam und Religion in modernen Gesellschaften – stellt durchaus eine Forschungslücke dar. Dahinter steht der Grundgedanke der Interkulturellen Pädagogik, wonach Kulturmuster über Generationen hinweg prägend wirken und (Alltags-)Kulturen nicht wie ein Mantel angezogen und abgestreift werden können. Während die Ausländerpädagogik der 60er-Jahre die Fremden selbst, ihre Verhaltensweisen und vermeintlichen Defizite ins Zentrum der Betrachtung rückte, lenkt das gegenwärtige Verständnis in der Interkulturellen Pädagogik den Blick primär auf die kulturellen Hintergründe der Einwanderer und gesteht ihnen auch eigene soziale Handlungsstrategien zu.3 Im Rahmen der Ausländerpädagogik bildeten die kulturellen Hintergründe der Einwanderer lediglich Erklärungsmuster für vermeintliche Defizite und soziale Konflikte.4 Ausländischen Kindern und Jugendlichen wurden Sozialisationsprobleme unterstellt, die aus dem Erleben der zwei unterschiedlichen kulturellen Systeme (Herkunftskultur und Aufnahmegesellschaft) resultierten.5 Ausgehend von diesem Defizitansatz zielte die pädagogische Praxis und Forschung darauf ab, die kulturellen Hintergründe der Einwanderer mit denen der Aufnahmegesellschaft in Übereinstimmung zu bringen. In Folge der starken Kritik am Konzept der Ausländerpädagogik entwickelte sich Ende der 70er und Anfang der 80er-Jahre die Interkulturelle Pädagogik, die vornehmlich zwei Tendenzen beinhaltet: Zum einen geht es nicht länger um „den Fremden“ und seine spezifischen Defizite, sondern vielmehr um die Interaktionen der Fremden mit Einheimischen, mit Institutionen und gesellschaftlichen Bedingungen der Aufnahmegesellschaft. Zum anderen rückten auch die Einheimischen selbst mit ihren Verhaltensweisen, Einstellungen und Reaktionen auf Einwanderer ins Blickfeld.6 Im Lichte der Herkunftskulturen der Migranten muss sich auch die Aufnahmekultur reflektieren und verändern, also den Migranten entgegenkommen. Die-
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Haus (2003): Kommunitarismus; Dahrendorf (1992): Die Zukunft der Bürgergesellschaft; Kneer (1997): Zivilgesellschaft; Gosewinkel/Rucht (2001): Zivilgesellschaft – national und transnational Auernheimer, G. (2005): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. WBG, Darmstadt, S. 42 Kiesel, D. (1996): Das Dilemma der Differenz. Zur Kritik des Kulturalismus in der Interkulturellen Pädagogik, Cooperative-Verlag, Frankfurt/Main, S. 3 Boos-Nünning, U./Hohmann, M. (1977): Ausländische Kinder. Pädagogischer Verlag Schwann, Düsseldorf Auernheimer, G. (2005): S. 42
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se Einsicht ist für die praktische Integration der Migranten grundlegend und lässt sich in den Länderstudien jeweils auch sehr gut durch die Forschungsliteratur belegen. Am augenscheinlichsten ist es dabei in Frankreich, wo der Widerspruch zwischen politischer Integration der Migranten über das Staatsbürgerrecht und dem sozialen Ausschluss vor allem der Maghrebiner ganz offensichtlich zu Tage tritt.7 In Deutschland wurde die beschriebene wissenschaftliche Perspektive der Interkulturellen Pädagogik in der pädagogischen und bildungspolitischen Praxis noch nicht erreicht. Hier steht noch immer die Konzentration auf den Fremden als Zielgruppe der Interkulturellen Pädagogik im Vordergrund.8 In den Bildungsinstitutionen werden Fremde immer noch vorrangig über ihre Kultur wahrgenommen und unterschieden, wenn auch in Form positiver Differenzierung und Anerkennung. Ziel ist es nun, Verständnis für Einwanderer zu entwickeln und mit ihnen auszukommen.9 Dabei wird oft missachtet, dass soziale Konflikte nicht nur in kulturellen Differenzen zu suchen sind, sondern vor allem in der strukturellen Ungleichbehandlung der Einwanderer.10 Die historische Betrachtung ist daher auf die Explikation der Problemkonstellation ausgelegt, die man plakativ als Entkleidung des eurozentristischen Gehalts der Zivilgesellschaft bezeichnen könnte. Es wird dabei versucht, die westlichen Gesellschaften von außen zu sehen, vor allem in ihrer Ambivalenz, um die Perspektive des Fremden begreiflich zu machen.11
Was ist eine „moderne Gesellschaft“? In diesem Abschnitt soll auf einer ersten allgemeinen Ebene versucht werden, sich dem Bedeutungsgehalt „moderne Gesellschaft“ anzunähern, indem ich sie als Konzept diskutiere, mit dem die historischen Gesellschaftsformationen des 19. Jahrhunderts wie des 21. Jahrhunderts erfasst werden können. Zu Beginn der Studie steht die noch nicht hinterfragte Prämisse, dass wir nach wie vor in einer
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Vgl. exemplarisch: Uterwedde (2005a): Brüche im Gesellschaftsmodell; Hüser (2005): Das Gestern im Heute; Hüser (2007): Plurales Frankreich in der unteilbaren Republik 8 Gogolin, I./Krüger-Potraz, M. (2006): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Opladen, Verlag Barbara Budrich, S. 134f. 9 Diehm, I./Radtke, F.-O. (1999): Erziehung und Migration. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, S. 146f. 10 Scherr, A. (1998): Die Konstruktion von Fremdheit in sozialen Prozessen. Überlegungen zur Kritik und Weiterentwicklung Interkultureller Pädagogik. In: Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. 1/98, S. 49– 58 11 Vgl. in erster Linie Nick (2003): Ohne Angst verschieden sein; wo eine vergleichbare Perspektive zugrunde liegt, aber auch Heins (2002): Das Andere der Zivilgesellschaft. Zur Archäologie eines Begriffes
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modernen Gesellschaft leben und dass dies für die Behandlung und Beantwortung der einleitend dargelegten Problematik von Relevanz ist. Die Bezeichnung „moderne Gesellschaft“ wird in den Sozialwissenschaften ebenso inflationär für die Benennung der Gegenwartsgesellschaft genutzt, wie in Presse, Rundfunk und Fernsehen. Und so sicher damit auch das Selbstverständnis der Bewohner dieser „modernen Gesellschaften“ eingefangen werden kann, bzw. damit Identität stiftende Bedeutungen transportiert werden können (oder auch umgekehrt: Ab- und Ausgrenzungen gegen Nicht-Modernes), so deutlich wird meist übersehen, was mit dieser Chiffre eigentlich konkret bezeichnet wird. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich, dass „moderne Gesellschaft“ eine Art terminologische Chimäre ist, die den Sozialwissenschaften entlaufen ist, weil sich ein fest umrissener Bedeutungsinhalt nicht finden lässt. Das Problem lässt sich kurz mit der Beobachtung andeuten, dass sich (west-) europäische Gesellschaften heute ebenso als „moderne Gesellschaften“ beschreiben, wie sie dies vor fünfzig oder einhundert Jahren getan haben. Niemand jedoch wird behaupten, dass sich diese Gesellschaften seit dem nicht sehr verändert hätten. Die qualitative Bestimmung der „modernen Gesellschaft“ führt mitten hinein in eine umfangreiche soziologische Debatte über die „Moderne“ im engeren und den nur scheinbar problemlosen Grundbegriff „Gesellschaft“ im weiteren Sinne. Der Diskurs oszilliert um die Frage, ob man einen solchen Begriff in seiner Undeutlichkeit auch weiterhin als wissenschaftlichen Terminus beibehalten soll, wenn eine Verständigung darüber, was er bezeichnet, ausgeblieben ist. In der deutschen Soziologie wurde die Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftsbegriff bereits vor der eigentlichen Etablierung der Soziologie als Wissenschaft auf die Dichotomie von Gesellschaft und Gemeinschaft12 festgelegt. Gesellschaft wurde dabei schnell mit Künstlichkeit, Unpersönlichkeit und Zweckrationalität der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen gleichgesetzt, dem der Bereich der menschlichen Gemeinschaft als natürlicher, emotional befriedigender Gegenkosmos gegenübergestellt wurde, der bis 1945 vielfache ideologische Überhöhung erfuhr.13 Im Alltagsverständnis bezeichnet Gesellschaft am ehesten die Gesamtheit einer Bevölkerung, die innerhalb identifizierbarer Grenzen lebt und sich in irgendeiner Form als Einheit wahrnimmt bzw. als kulturelle Einheit konstruiert. Gesellschaft ist damit in einem präzisierten Sinne Nationalstaatsgesellschaft.14 Ich denke, dieses unproblematische Alltagsverständnis – so undifferenziert und in der Theorie mangelhaft es auch ist – sichert dem Gesellschaftsbegriff nach wie vor seine breite Verwendung. Gesellschaft ist damit in allererster Linie als Selbstbeschreibung einer sozialen Gruppe, als makrosoziale
12 Ferdinand Tönnies (1988), Gemeinschaft und Gesellschaft 13 Reinhold (1991): Politiklexikon, S. 202–203 14 Bommes, M./Liedtke, M./Schumacher, I (2001): Nationalgesellschaft. In: Kneer, G./Nassehi, A./Schroer, A. (Hrsg.), Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie. München UTB. S. 246
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Kategorie zu verstehen, unabhängig von den individuellen, subjektiven Selbstzuschreibungen und den realen Handlungsvollzügen, die letztlich solchen Grenzziehungen dieses Gesellschaftskonzeptes nicht folgen. „Modern“ wurde zunächst als reiner Zeitbegriff gebraucht, diente zur Abgrenzung aktueller, neuer Phänomene gegenüber alten, antiquierten.15 Ihm fehlt daher eine inhaltliche Bestimmtheit, zumal jeweils der momentane Standpunkt und die Blickrichtung entscheidet, was als modern anzusehen ist. In der Renaissance hat auch die bis heute zumindest im Alltagsverständnis gültige Einteilung in historische Großepochen seine Wurzeln. Nach dem breiten Anknüpfen an die Schriften und Kultur16 der griechisch-römischen Antike im späten 14. und dann vor allem im 15. Jahrhundert begriff sich die Renaissance als neue Epoche; konnte das Ende des christlich-katholischen Mittelalters markieren. Allerdings bezeichnete sich die Renaissance noch nicht als modern; sah sie ihren Sinn doch im Anknüpfen, in der Fortführung und imitatio der Antike. Erst im Zuge der Aufklärung, zunächst in Frankreich, dann auch in Deutschland formierte sich das Bewusstsein einer Epoche – bei allen Reminiszenzen an die Antike – dennoch eine neue Qualität erreicht zu haben. Man löste sich aus der Ehrfurcht vor antiker Kunst und Wissenschaft durch die Höherwertung moderner Wissenschaft und der aufgeklärten Kultiviertheit. Es trifft das Selbstverständnis der Aufklärung, dass sie den Weg zu „vernünftigen“ Lebensbedingungen und vollendeten Bildung und Formung des Menschen zu kennen glaubt. Schiller sieht den Menschen (allgemein, nicht nur den männlichen Bürger der griechischen Polis) durch Kultiviertheit zu seiner höchsten Entwicklungsstufe gelangen, und damit zur Entfaltung seines Wesens in einer Form sich entwickeln, die in der Antike nicht möglich gewesen ist. Wilhelm von Humboldt formuliert dies so: „Sie (die Menschen der Antike) waren bloß, was sie waren. Wir wissen noch, was wir sind, und blicken darüber hinaus. Wir haben durch Reflexion einen doppelten Menschen aus uns gemacht.“17 Spätestens im 19. Jahrhundert wurde „modern“ die gebräuchliche Selbstbeschreibung des aktuellen Zeitalters. Einen fest umrissenen Bedeutungsgehalt hat der Terminus „modern“ allerdings nie besessen. In der bereits stark differenzierten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts vollzogen sich die Übergänge zu dem, was heute im Rückblick als klassisch moderne Gesellschaft bezeichnet wird, und 15 Zur Begriffs- und Bedeutungsgeschichte vgl. Gumbrecht, H.-U. (1978): Modern, Modernität, Moderne, in: Geschichtliche Gundbegriffe Bd. 4 16 Naturwissenschaftliches und philosophisches Wissen, Literatur, Kunst und Architektur der griechisch-römischen Antike blieben auch im mittelalterlichen Europa lebendig, wurden auch von den großen christlichen Philosophen (Thomas von Aquin) rezipiert (vgl. Tarnas, R., 1999: Das westliche Denken, Kap. VI.) Dennoch bot gerade die Anknüpfung an die griechisch-römische Tradition den Nährboden für die Überwindung des mittelalterlichen Weltbildes. Vgl. Meier, C. (2005): Die griechisch-römische Tradition, in: Joas, H./Wiegandt, K. (Hrsg.): Die kulturellen Werte Europas, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 93–116 17 zitiert nach: Gumbrecht, H.-U. (1978): S. 106
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zwar für die unterschiedlichen Teilbereiche in unterschiedlichem Tempo, unter verschiedenen Gesichtspunkten und stark länderspezifisch. Gemeinsam ist dem semantischen Gebrauch in Kultur, Kunst, Wissenschaft und Politik das Bewusstsein des Epochenbruchs. Das Moderne wird als grundsätzlich neu erfahren, und „modern“ wird damit zum zeitlosen Begriff, der, wie unzweifelhaft ist, bis heute rege Verwendung findet. Auch wenn in Literatur, Kunst, Architektur und vielen anderen Bereichen die Moderne jeweils spezielle Gesichter erhalten hat, lassen sich alle gemeinsamen Züge und grundlegenden Prinzipien dessen formulieren, was Modernität ausmacht. Das zweite Kapitel wird zeigen, dass es sich eher um dynamische Strukturierungsprinzipien handelt als um stabile Strukturmuster, denn „die Moderne hat sich in der Neuzeit als eine permanente Zurückweisung aller Tradition, aller Verfestigung von Strukturen des Denkens und Handelns durchgesetzt, nicht auf allen Gebieten und in allen Gesellschaften gleichzeitig, aber je weiter man in der Geschichte voranschreitet, auf immer breiterer Front.“18 Die Moderne als historische Epoche ist nicht einheitlich abzugrenzen. Aufgrund der ungleichzeitigen Entwicklung in den verschiedenen westlichen Ländern und in den verschiedenen Bereichen (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik) gibt es kein prägendes Anfangsdatum (wie eigentlich generell bei historischer Epocheneinteilung). Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft waren schon im England des 18. Jahrhunderts weit entwickelt, in Frankreich und Deutschland erst im 19. Jahrhundert – die Wurzeln liegen hier wie dort aber auch tief in der Frühen Neuzeit. In Wissenschaft und Kultur lässt sich Moderne als Prozess der Entwicklung eines modernen Weltbildes seit der Renaissance beschreiben.19 Spätestens die Amerikanische und vor allem die Französische Revolution 1789 markieren den Übergang von vormoderner zu moderner Zeit. Denn vor allem Letztere bedeutete die, wenn auch erst im 19. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa verwirklichte, Ablösung der feudal-ständischen politischen und gesellschaftlichen Ordnung durch die bürgerliche, nationalstaatliche, Klassengesellschaft.20 Die Zeit zwischen 1750 und 1850 kann, um die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung wie ihre Dauer einzufangen, als Sattelzeit21 oder Übergangszeit bezeichnet werden.22
18 Münch, R. (1986a): Die Kultur der Moderne. Bd. 1, Ihre Grundlagen und ihre Entwicklung in England und Amerika, Frankfurt/Main , S. 12 19 Tarnas, R. (1999): Kap. V. 20 Koenen, E. (2001): Bürgerliche Gesellschaft, S. 77, vgl. auch Bergeron/ Furet/Kosseleck (1998): Das europäische Zeitalter der Revolution 1780–1848, Kap. 10 21 Koselleck, R. (1972): Einleitung zu Geschichtliche Grundbegriffe, ed. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Stuttgart, Bd. 1, XIII 22 Bauer, F. J. (2004): Das lange 19. Jahrhundert. Profil einer Epoche. Stuttgart, S. 9
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Mit anderen Autoren gehe ich davon aus, dass sich folgende Punkte zur allgemeinen, qualitativen Bestimmung dessen, was eine „moderne Gesellschaft“ ausmacht, benennen lassen:23 1. Industrialismus24: d. h. die standardisierte Massenfertigung für den (Welt-) Markt bestimmter Produkte unter Nutzung von Rohstoffen, mit zunächst geringem, später steigendem Maschineneinsatz und auf der Basis der abhängigen Beschäftigung formal freier Lohnarbeiter. Zentrales Merkmal ist dabei die hoch spezialisierte Arbeitsteilung innerhalb von Handelsmärkten. Auch wenn heute die Mehrzahl der Beschäftigten in den westlichen Industrieländern (!) nicht mehr im industriellen Sektor beschäftigt ist, beruht deren materieller Wohlstand nach wie vor auf industrieller Produktion.25 2. Nationalstaat26: Moderne Gesellschaften sind immer nationalstaatlich verfasst, deren Bevölkerung sich selbst als Nation bezeichnet, ohne dass dies die ethnisch-kulturelle Homogenität der Bevölkerung voraussetzt. 3. Bürokratie27: Wenn auch nicht immer demokratisch, so beruht moderne Staatlichkeit und gesellschaftliche Ordnung immer auf einer flächendeckenden bürokratischen Verwaltung und staatlicher Regelung (der bürokratische Anstaltsstaat) im Sinne des Allgemeinwohls.28 4. Sozialstaat: Dazu zählt zumindest die rudimentäre staatliche Vorsorge für individuelle Problemlagen, vor allem Armenfürsorge und ein öffentliches Gesundheitssystem. 5. Bildungssysteme: Die Sozialisation neuer Generationen wird in wesentlichen Teilen aus dem familiären Zusammenhang herausgelöst und untersteht staatlicher Durchführung, Planung und Aufsicht, dem sich nicht zu entziehen ist (Schulpflicht). Das Bildungssystem dient dabei in erster Linie der Qualifizierung, der Wissensvermittlung, aber auch der politisch-kulturellen Sozialisati-
23 Vgl. Nassehi (2001): Moderne Gesellschaft. Und Bauer, F.J. (2004): Die Aufzählung folgt grob den Kapitelüberschriften 24 Giddens, A. (1995): Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/Main, S. 21 25 Trotz des Zweifels der Soziologen in den 80er-Jahren hat sich die industrielle Warenproduktion gehalten, da sie sich als effektivste Form der Versorgung kaufkraftstarker, einheimischer Massenmärkte erwiesen hat. Alle Veränderungen innerhalb der Industrie und im Verhältnis zu anderen Wirtschaftsbereichen, die als relativer Bedeutungsverlust anzusehen sind, sollen damit nicht negiert werden. 26 Döhn, L. (1998b): Nationalismus – Volk und Nation als ideologisches Konstrukt. In Neumann, F. (Hrsg.): Handbuch politische Theorien und Ideologien Bd. 2, Opladen. Siehe auch in: Bommes, M./Liedtke, M./Schumacher, I (2001): S. 249–177 27 Weber, M. (1972): Wirtschaft und Gesellschaft, J. B. C. Mohr (Paul Siebeck) Verlag, Tübingen, S. 29 28 In autoritären Gesellschaften bestimmte eine beherrchende Gruppe, was dem Allgemeinwohl dient, ist es in einen autoritären Staatsaufbau mit eingebunden; in demokratischen Gesellschaften ist das Allgemeinwohl Ergebnis politischer Auseinandersetzungen auf allen administrativen Ebenen.
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on auf die Staatsziele. Das öffentliche Bildungswesen ist dabei mehrheitlich dem konfessionellen Einfluss entzogen.29 6. Säkularisierung30: Moderne beruht dezidiert auf der Abkehr vom theologischen Weltbild. Unabhängig von der tatsächlichen Religiosität der Bevölkerung ist der öffentliche Bereich rein weltlich, in dem religiöse Handlungsund Begründungslogiken nicht akzeptiert werden. Religion ist Privatsache, dadurch aber auch ein Wertstandpunkt, der weltliches Verhalten beeinflusst. 7. Rationalität31: Verschiedene Formen von Rationalität ersetzten vormoderne im öffentlichen und privaten Bereich bestimmende Handlungslogiken (Brauch, Konvention, Tradition). Die Moderne wird meist als von der Zweckrationalität32 bestimmt angesehen, in der bestimmte Ziele so effizient wie möglich erreicht werden sollen. Dem steht das bewusst wertrationale Handeln zur Seite. Zum Rationalitätsparadigma gehörte längere Zeit der Glaube an die Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie ein Fortschrittsoptimismus – institutionalisiert im modernen Wissenschaftsbetrieb. 8. Urbanisierung33: Die Großstadt ist vorrangig ein Kind der Moderne. Industrielle Produktion wie auch Konsum bedurfte urbaner Lebensweise. Gleichzeitig waren und sind Städte die einzig zukunftsträchtigen Orte für jene Landbevölkerung, die nach Ablösen der Feudalordnung und Transformation (Industrialisierung) der Agrarproduktion auf dem Land kein Auskommen mehr finden konnte. Wenn man den sozialistischen Weg in die Moderne als Irrweg und letztlich gescheitert ansieht, können Kapitalismus (Marktmechanismus) und Demokratie (Liberalismus) als universale Elemente moderner Gesellschaften noch hinzugenommen werden. Nimmt man die Verfassung der westlichen Industrienationen
29 Hier herrschen historisch wie aktuell die größten Unterschiede. Näheres s. u. 30 Wohlrab-Sahr, M. (2001) 31 Vgl. Schluchter, W. (1988): Die Entstehung des modernen Rationalismus. Frankfurt/Main 32 Ohne späteren Ausführungen unnötig vorzugreifen, möchte ich Webers Rationalitätsbegriffe hier kurz definieren. „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert, und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt.“ (Weber, M. 1972: 13) Das sagt noch nichts über den Wert der Zwecke aus, sondern bezieht sich ausschließlich formal auf eine Zweck-Mittel-Kalkulation. Wertrationalität bezeichnet eine Handlung, die aufgrund des Eigenwerts dieser Handlung, der ihr zugeschrieben wurde, ausgeführt wurde, unter Vernachlässigung zweckrationaler Gesichtspunkte. (ebd.) 33 Häußermann, H./Siebel, W. (2004): Stadtsoziologie, Campus Verlag, Frankfurt/ Main, S. 19
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als Maßstab für Modernität, sind sie zwingend dazu zu zählen.34 Aber nicht nur die sozialistischen Staaten waren modern ohne demokratisch oder kapitalistisch organisiert zu sein; besonders im 19. Jahrhundert ließ die demokratische Verfasstheit der modernen Gesellschaften, gemessen an idealtypischen Maßstäben der Demokratietheorie, deutlich zu wünschen übrig. Wenn Parlamentarismus und allgemeines Wahlrecht als Kernbestandteile demokratischer Staatsform anzusehen sind, dann hat Frankreich bspw. dies nach mehrmaligem Anlauf erst in der Dritten Republik nach 1871 erreicht; Deutschland gar erst 1918. Vorreiter waren hier die Vereinigten Staaten 1789. Explizit oder implizit sind die genannten Faktoren auch in allen soziologischen Beschreibungen moderner Gesellschaft enthalten. Konsensueller Kern über alle Differenzen hinweg ist das Differenzierungstheorem, die Vorstellung, dass moderne Gesellschaften differenzierte Gesellschaften sind. Schlüssig wird dies weniger im Vergleich mit vormodernen Gesellschaften, sondern mit jenen der prähistorischen Zeit. Menschliche Assoziationsformen, die im Wesentlichen auf Clanstrukturen beruhen, werden als Stammesgesellschaften bezeichnet. Sie sind in dem Sinne undifferenziert, als verschiedene soziale Funktionen, wie politische Herrschaft, Versorgung, Bildung etc., weder institutionell noch personell voneinander getrennt sind. Erst nach der Sesshaftwerdung des Menschen und der Herausbildung größerer Siedlungsverbände setzte Spezialisierung und Differenzierung ein. Die soziale Entwicklung des Menschen wurde in der Soziologie von Beginn an als Differenzierungsprozess gelesen (so schon Spencer, Durkheim, Weber, Simmel), an dessen Ende die modernen Gesellschaften stehen. Heute unterscheidet man idealtypisch drei sich historisch ablösende Differenzierungstypen. 1. Segmentäre Differenzierung (Stammesgesellschaften, vertikale Differenzierung in gleichartige soziale Gebilde) 2. Stratifikatorische Differenzierung (Feudalgesellschaften, Differenzierung in verschiedene soziale Schichten) 3. Funktionale Differenzierung (moderne Gesellschaften, institutionelle und organisatorische Differenzierung nach verschiedenen Funktionserfordernissen)35 Die Unterscheidung ist weniger kategorial aufzufassen, lediglich die Dominanz des funktionalen Differenzierungsmusters in der Moderne rechtfertigt diese Bezeichnung. Daneben existieren natürlich weitere Differenzierungsformen (stratifikatorisch, Zentrum vs. Peripherie), aber sie prägen die Gesellschaft nicht (mehr). Funktionale Differenzierung meint, grob vereinfacht, die Herauslösung 34 Hier scheint schon auf, dass die „Moderne“ als Projekt der Aufklärung aufgefasst werden kann, welches ein deutlich benennbares Programm zu verwirklichen trachtet, von dem die historische Wirklichkeit sich deutlich abhebt. 35 Luhmann, N. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 613
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sozialer Funktionen aus alltäglichen Handlungszusammenhängen, meint funktionale Spezialisierung und organisatorische Abschließung von Handlungsfeldern gegen andere. Idealtypisch funktionieren die Teilsysteme ausschließlich nach ihrer Eigenlogik, ihrer spezifischen Systemrationalität; ohne direkte externe Eingriffsmöglichkeit und damit auch ohne zentrale Steuerung.36 Für Luhmann ist der Verlust von Einheit und Zentrum das Signum der modernen Gesellschaft, diese besteht nur noch in der unkoordinierten Gesamtheit ihrer Subsysteme. Luhmann wollte seine Systemtheorie explizit nicht idealtypisch verstanden wissen, dennoch führe ich hier seine Argumente unter diesem Vorbehalt an. Er hat eine sehr treffende Beschreibung der Grundprinzipien der modernen Gesellschaft geliefert, die sich jedoch der empirischen Prüfung bzw. Relevanz größtenteils entzieht. Was soziale Systeme sind, wie stark ausgeprägt ihre Autonomie und Selbstreferenz ist, und wie empirisch angemessen diese Sichtweise ist, kann hier nicht diskutiert werden. Tatsächlich lassen sich in der Moderne Differenzierungen und Autonomiegewinne von Handlungsbereichen beobachten, wie Wirtschaft, Politik, Justiz, Erziehungswesen; die sich aus ihrem alltagsweltlichen Kontext herausheben und von den in ihnen Handelnden unabhängige Ordnungen bilden; sich autonom institutionalisieren und spezifische Handlungsnormen ausbilden (wie die Orientierung an der Rentabilität in der Wirtschaft; der formalen Rechtsförmigkeit in der Justiz). Diese idealtypische Konzeption genügt zunächst zur näheren Bestimmung der modernen Gesellschaft. Der funktionalen Differenzierung entspricht eine kulturelle. Was Luhmann als Systemdifferenzierung beschreibt, fasste Weber als Ausdifferenzierung verschiedener Wertsphären auf, in denen jeweils spezifische Handlungslogiken und Wertpräferenzen gelten.37 Dem entspricht des Weiteren eine soziale Differenzierung, die zwar kausal, jedoch nicht deterministisch mit funktionaler und kultureller Differenzierung zusammenhängt. Die Bewohner moderner Gesellschaften sind nicht gleichmäßig auf Funktionssysteme oder Handlungsbereiche verteilt, so dass sie unterschiedlichen Prägungen unterliegen, die sie letztlich zu deutlich voneinander unterscheidbaren Großgruppen meist auf Basis von Herkunft und Berufstätigkeit zusammenfassen lassen.38 In den weiteren Kapiteln wird diese Thematik wieder aufgegriffen.
Bildung – ein unmöglicher Begriff In dieser Studie wird sehr viel von Bildung die Rede sein, so dass eine Klärung des Begriffs vorab notwendig erscheint. „Bildung“ wird in der Öffentlichkeit wie 36 Ebd., S. 618 37 vgl. Weber, M. (1988): Zwischenbetrachtung. Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung 38 Simmel, G. (1989): Über soziale Differenzierung S. 109–297
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im wissenschaftlichen Diskurs inflationär gebraucht, wie vielfach und bereits seit längerem festgestellt wird,39 allerdings wird vor allem in empirisch orientierten Studien und Monographien nie vollständig aufgeklärt, was denn unter Bildung tatsächlich zu verstehen sei. Zwar wurde und wird im Zusammenhang mit den PISA-Studien sehr viel über Bildungsgrundsätze und Werte oder Leitlinien gesprochen und diskutiert, um herauszustellen, was vor allem staatliche Bildung leisten soll.40 Unklar bleibt dabei meist die Umsetzung von Zielen und Vorgaben, bleibt die Explikation des Prozesses der Bildung. Und ebenso unklar ist die Abgrenzung zu verwandten Begriffen wie Sozialisation oder Erziehung. Intuitiv wäre eine Differenz zwischen Sozialisation, Erziehung und Bildung zu ziehen; sie zu begründen, fiele schwerer. Sicherlich handelt es sich nicht um verschiedene Prozesse, wie dies Menze missverständlich nahe legt, wenn er Erziehung auf Handlung und Gesinnung; Bildung auf Selbst- und Weltverständnis des Menschen ausgerichtet sieht: „Erziehung meint Einwirkung von außen [...] Bildung bezeichnet den Entfaltungsprozess, in dem sich ein Inneres entäußert.“41 Bezogen auf die gegenwärtigen lexikalischen Verwendungsweisen unterscheiden sich Bildung, Sozialisation und Erziehung nur in der Perspektive, welche sie auf den Vergesellschaftungsprozess des Menschen nehmen. Sozialisation ist dabei der umfassendste Begriff, denn er bezeichnet die „Gesamtheit aller Vorgänge, in deren Verlauf der Einzelmensch zu einem aktiven Angehörigen einer Gesellschaft und Kultur wird“42. Sozialisation umfasst also aktive wie passive Vorgänge der Prägung, Akkulturation und eben auch Erziehung und Bildung aus der Perspektive der Gesellschaft. Sozialisation ist Vergesellschaftung mit dem Ziel, den Einzelnen in Gesellschaft und Kultur einzupassen.43 Die affirmative Konnotation des Begriffs ist auch in Theorien kritischer Sozialisation44 nie ganz zu tilgen, da die Einfügung des Einzelnen in eine Kultur und Gemeinschaft zu den Grundbedingungen menschlichen Lebens gehört. Erziehung wird als Unterbegriff der Sozialisation verstanden und bezeichnet im engeren Sinne die „gezielte Beeinflussung der Person zum Zweck der Vermittlung bzw. Ergänzung von Kenntnissen, Wertorientierungen, Verhaltensweisen und Fertigkeiten“45. Erziehung nimmt das konkrete Handeln von Erziehungspersonen und Erziehungsinstitutionen in den Blick, schaut ebenso wie der Sozia-
39 Tenorth, H.-E. (1997): Bildung – Thematisierungsformen und Bedeutungen in der Erziehungswissenschaft, S. 970 40 Vgl. exemplarisch Bittlingmayer, U.-H./Bauer, U. (2005): Egalitär und emanzipativ: Leitlinien der Bildungsreform; Smolka (2005): PISA. Konsequenzen für Bildung und Schule 41 Menze, C. (1970): Bildung, S. 158 42 Hillmann, K.-H. (2007): Wörterbuch der Soziologie, S. 818 43 Vgl. Hurrelmann, K. (2006): Einführung in die Sozialisationstheorie Kap. 1 44 Vgl. Habermas, J. (1976): Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Kap. II, auch: Tillmann, K.-J. (1999): Sozialisationstheorien Kap. 4.3 45 Hillmann, K.-H. (2007): S. 197
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lisationsbegriff von außen auf das Individuum und impliziert natürlich normative Vorstellungen, die Erziehung leitet bzw. woraufhin erzogen werden soll. Bildung meint die „Vermittlung von inneren Anlagen und äußeren Einflüssen“46. Stärker als die anderen beiden Begriffe hat Bildung den Wechselwirkungscharakter von individueller Aktivität und prägenden, begrenzenden, ermöglichenden äußeren Einflüssen und Faktoren im Blick. Wenn durch Bildung der Mensch erst zur „Person“ wird und „Persönlichkeit“ erwirbt, ist Bildung die subjektzentrierte Blickrichtung auf Sozialisations- und Erziehungsprozesse, denn was als Person/Persönlichkeit zu gelten hat, beruht auf den normativen Maximen und Leitvorstellungen des Sozialisationsmilieus. Definitionen wie diese unterschlagen aber wichtige Konnotationen des Bildungsbegriffs. Bildung ist 1. ein Prozess der Aneignung von 2. Wissen, Können und Fertigkeiten (materialer/inhaltlicher Bildungsbegriff) und Bildung ist 3. auch das Ergebnis von Bildungsprozessen, oft mit „Gebildetsein“ bezeichnet.47 Und wenn man nun mit Hartmut von Hentig fragt, „Was bildet den Menschen?“, um diese drei Bestimmungen näher zu explizieren, landet man erneut im Unbestimmten, denn die Antwort lautet schlichtweg: „Alles.“ 48 Bildung ist als Prozess allgegenwärtig und eigentlich nie beendet, da sich Menschen über die gesamte Lebensspanne verändern. Bildungsinhalte sind ebenso wenig eingrenzbar, da schlichtweg jede Erfahrung beim Menschen Bildungsprozesse, d. h. Lernen oder Reifung auslösen kann. Und Bildung ist so verstanden unplanbar, da sich die Wirkung von Erfahrungen, Lernanreizen (sei es in der Schule oder im Alltag) nicht vorherbestimmen lässt.49 Der Bildungsbegriff selbst und seine Verwendung geben also auch keine Auskunft darüber, wie sich Erfahrungen, Lernen in Bildung (im Sinne von Gebildetsein) umsetzt. Bildung ist daher, wenn nicht näher spezifiziert, semantischer Platzhalter für etwas Unsagbares, da sie auf die Totalität des Menschen verweist, die sich in keiner Perspektive einfangen lässt.50 Aufgrund dieser Vieldeutigkeit des Bildungsbegriffs, seiner ubiquitären Verwendung wurde vorgeschlagen, auf dessen Verwendung zu verzichten, da sie stets mehr Schwierigkeiten erzeuge, als Klarheiten schaffe.51 Allerdings gibt es auch keine begriffliche Alternative. Insofern wird der Bildungsbegriff auch in dieser Arbeit in dieser mehrdeutigen Weise verwandt, allerdings mit der Bemühung, ihn im jeweiligen Kontext zu spezifizieren bzw. ergibt sich eine exaktere Bedeutung aus diesem. Wenn von Teilhabe an Bildung die Rede ist, so meint dies einerseits die Integration in Bildungsprozesse des institutionalisierten Bildungssystems (Schule, Hochschulen etc.) wie auch die Teilhabe an der Kultur, 46 47 48 49 50 51
Ebd., S. 101 Tenorth, H.-E. (1997): S. 973, Hillmann, K.-H. (2007): S. 101 Hentig, H. von (1996): Bildung. Ein Essay. München. S. 13 Menze, C. (1970): S. 180 Tenorth, H.-E. (1997): S. 977 Menze, C. (1970): S. 156
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die über Bildung ja vermittelt bzw. angeeignet wird. Bezüglich der gesellschaftlichen Institutionen wird von Bildungssystem gesprochen, auch wenn in der Systemtheorie von Luhmann bspw. das entsprechende Teilsystem Erziehungssystem heißt und es auch keine Bildungswissenschaften, sondern Erziehungswissenschaften und entsprechende Fakultäten an den Universitäten gibt. Dennoch halte ich die Bezeichnung „Bildungssystem“ für angemessener. Sie fokussiert auf den Einzelnen in diesen Institutionen und vermeidet die Implikationen des Erziehungsbegriffs. Denn man kann durchaus diskutieren, inwiefern Schule oder gar Hochschule noch Erziehungsanstalten sind. Sie sozialisieren den Einzelnen (als passive Wirkung auf Schüler und Studenten) zwar, aber man kann sicher sein, dass in ihnen Bildungsprozesse initiiert werden. Von erheblicher Bedeutung ist der bisher noch nicht angesprochene dritte Aspekt von Bildung: Bildung/Gebildetsein als Ergebnis von Bildungsprozessen. Ohne Bezugnahme auf normative Maßstäbe bleibt dies unverständlich. Als Gebildetsein kann demnach eben nicht „Alles“ angesehen werden, sondern nur eine historisch-sozial spezifische Form angeeigneter Bildung. Dies führt hinein in die Begriffsgeschichte von Bildung, die schnell den Sonderstatus enthüllt, den Bildung im deutschen Sprachraum hatte und bis heute noch hat. Versucht man nämlich die vielschichtige Bedeutung des deutschen Wortes „Bildung“ in andere Sprachen zu übersetzen, so findet sich in Nachbarsprachen jeweils nur die Entsprechung: culture, cultura; education ist terminologisch eher die Entsprechung von Erziehung. Im Deutschen hat sich dafür eine semantische Besonderheit etabliert, die Bildung als das Maß bestimmt, in welchem der Einzelne an der Kultur teilhat52, und „Gebildetsein“ zum kulturellen Ideal erhoben. Als solches wurde Bildung, Gebildetsein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses des deutschen (Bildungs-)Bürgertums im 19. Jahrhundert und hat sehr den Habitus wie die Wertvorstellungen deutscher Mittelschichtsangehöriger bis heute geprägt. Die deutsche Diskussion um den Bildungsbegriff Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts läuft auf die Herausbildung, Entfaltung von Individualität hinaus, die sich u. a. am Umfang der Kenntnisse und Teilhabe an einem bestimmten Bildungskanon zeigt, der einerseits das Selbstverständnis einer Kultur, gleichzeitig aber auch ihr Idealbild von sich selbst, wie ihre Normalitätsvorstellung anzeigt. Die Teilhabe an diesem Kanon ist damit sozialer Integration in die kulturelle Gemeinschaft. Historisch und interkulturell variieren die Inhalte des Bildungskanons; aber letztlich kommt keine Gesellschaft ohne sie aus, braucht sie doch Leitvorstellungen, die Bildungsprozesse orientieren sollen, und Zielvorstellungen, auf die hin gesellschaftlich organisierte Bildung stattfindet. Allerdings gilt hier nochmals zu betonen, dass Bildung in diesem Sinne nicht nur affirmativ ist. Gesellschaftlich angeleitete institutionalisierte Bildung kann, 52 Fuhrmann, M. (2002): Bildung. Europas kulturelle Identität, S. 36, auch Bollenbeck (1994): Bildung und Kultur, S. 103ff.
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durch Veränderung der Bildungsideen und – ideale auch kulturellen Wandel initiieren. Nichts anderes wird im Zuge der interkulturellen Erziehung und des Multikulturalismus versucht: nämlich eine Abkehr vom nationalkulturellen Selbstverständnis hin zur Anerkennung von Pluralität und Differenz.53 Das Prinzip der Anerkennung in der Interkulturellen Pädagogik verweist dabei auf die Zusammenhänge zwischen Bildung, Identität und Kultur. Identitätsstiftende Selbstreflexion und Selbsterkenntnis ist demnach nur über Aneignung der jeweiligen Kultur möglich.54 Daher wird Bildung in der Interkulturellen Pädagogik als Versuch verstanden, eine Selbstpositionierung zu erreichen, verbunden mit der Bereitschaft Erfahrungen neu zu interpretieren und im Dialog neue Perspektiven wahrzunehmen. Interkulturelle Pädagogik zielt auf die Realisierung des Gleichheitsgrundsatzes ab, dennoch wird nicht der Anspruch erhoben, die eigenen kulturellen Kontexte zu überwinden, um Neutralität im Hinblick auf Beobachtung und Handlung zu erreichen.55 In der pädagogischen und bildungspolitischen Praxis finden sich viele begriffliche Zusammenfügungen aus „interkulturell“ und anderen Begriffen: interkulturelle Erziehung bzw. Pädagogik, interkulturelles Lernen, interkulturelle Begegnung, interkultureller Dialog, interkulturelle Bildung, interkulturelle Kompetenz. Die Bildungsinstitutionen verbinden mit diesen Begriffszusammensetzungen vorwiegend positive Tendenzen in Form von Lernchancen und Begegnungsmöglichkeiten mit dem Ziel der sozialen Integration.56 Die Wissenschaft hingegen geht von einem ambivalenten Verständnis des Begriffes „interkulturell“ und seiner vielfältigen Zusammensetzungen aus: Im Vordergrund steht dabei zunächst die Wahrnehmung der Chancen und Risiken einer multikulturellen Gesellschaft. Darüber hinaus werden theoretische Ansätze zur Bewältigung der Risiken und Spannungsfelder aber auch zur Wahrnehmung und Wertschätzung der Potentiale und Ressourcen entwickelt.57 Bildungsinstitutionen und Bildungspolitik versuchen, die Forschungen und Konzepte der Wissenschaft in der Praxis umzusetzen. Empfehlungen zur Umsetzung der Interkulturellen Erziehung finden sich mittlerweile in Konzeptpapieren der Kultusministerkonferenzen und Bildungskommissionen.58 Interkulturelle Bildung wurde somit zwar als Querschnittsaufgabe verankert, jedoch wirken Mechanismen der sogenannten institutionellen Diskriminierung den pädagogischen Zielen entgegen (vgl. Kapitel 5.3). 53 Vgl. Hormel, U./Scherr, A. (2005): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft: Kap. V 54 Auernheimer, G. (2005): S. 65 55 Ebd., S. 67f 56 Gogolin, I./Krüger-Potraz, M. (2006): S. 110 57 Ebd., S. 111 58 Auernheimer, G. (2004): Drei Jahrzehnte Interkulturelle Pädagogik – eine Bilanz. In: Karakasoglu, Y.; Lüddecke, J. (Hrsg.): Migrationsforschung und Interkulturelle Pädagogik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie, Empirie und Praxis.S. 17 – 28
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Das moderne Bildungssystem In der modernen Gesellschaft ist das Bildungs- oder Erziehungssystem, wie Luhmann es nennt, ein Funktionssystem neben anderen, und dabei das historisch jüngste. Bis zum 18. Jahrhundert unterstanden Bildungs- und Erziehungswesen, insofern es überhaupt aus dem Familienverband ausgegliedert war, inhaltlich wie organisatorisch den christlichen Konfessionen, nur um letztlich immer mehr unter Aufsicht und Ausführung des Staates zu gelangen. In allen westlichen Gesellschaften findet sich dieser Kampf gegen die Kirchen; der Versuch des Staates, das Bildungssystem zur Stabilisierung seiner Herrschaft zu nutzen. Für den Zeitraum der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wird dieser Prozess in Deutschland durch die Studie von A. Leschinsky und P. M. Roeder bestätigt, die die Ausbildung des öffentlichen Schulwesens als einen Teil des Prozesses der Etablierung der zentralistischen Nationalstaaten interpretieren: „Auf eine kurze Formel gebracht, ist also die staatliche Schulpolitik in der betrachteten Epoche ein Teil jenes historischen Prozesses, in dem aus der Feudalgesellschaft der frühen Neuzeit in allmählicher Überformung ständischer Privilegien durch zentralstaatliche Hoheitsrechte der absolute Staat entsteht, und mit ihm als sein notwendiges Gegenüber die moderne Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird allerdings ein wesentliches Motiv der fürstlichen Elementarschulgesetzgebung deutlich: Es geht dem landesherrlichen Gesetzgeber nicht um die Vermittlung unmittelbar nutzbringend zu verwertender Kenntnisse, wie die Bestimmungen zum Lehrplan ausweisen – ohne sie wären die Lehrer damals in der Mehrzahl zu Vermittlung solcher Kenntnisse gar nicht in der Lage gewesen –, sondern darum, die Bevölkerung (auch) im Sinne eines neuen nationalen Wirtschafsverhaltens regierbar zu machen.“59 Die konkrete Entwicklung werde ich, auf die Länder bezogen, in den jeweiligen Kapiteln behandeln. Im Ergebnis dominiert heute überall die staatlich organisierte und verantwortete, kostenlose Elementarbildung, je nach Land bis hin zum kostenfreien Universitätsstudium. Formen privater, „alternativer“ Bildungskonzepte und Reste kirchlicher Schulen und Erziehungsanstalten existieren nachgeordnet und nicht immer gleichberechtigt. Daher sehe ich das Bildungssystem nicht so eindeutig wie Luhmann als eigenständiges Subsystem, denn mir scheint die spezifische Rationalität nicht identifizierbar. Es ist ja gerade nicht so, dass ein pädagogischer methodisch-didaktischer Konsens über Bildungsziele, -inhalte und -formen herrscht; stattdessen regiert eine geringe Vielfalt an Methoden und Zielstellungen, die letztlich aber auf unterschiedlichen Wertsetzungen beruhen und kaum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Ein modernes Bildungssystem sehe ich daher eher durch folgende drei Punkte charakterisiert:
59 Leschinsky, A./Roeder, P.-M. (1983): Schule im historischen Prozess. S. 428
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Allgemeine Schulpflicht für Kinder eines bestimmten Alters ohne Einschränkung, die an staatlich zugelassenen Schulen zu absolvieren ist. Damit soll die Vermittlung fundamentaler Kulturtechniken gesichert und eine gewisse soziale Egalisierung erreicht werden. Professionalisierung des Lehrerpersonals, d. h. wissenschaftliche, hochschulische Ausbildung der Lehrer und fachwissenschaftlicher getrennter Unterricht (ohne ideologische Überformung) mit entsprechenden Fachprüfungen. hochgradige Differenzierung der Bildungsinstitutionen und Bildungswege jenseits der Elementarbildung (teilweise bereits dort). Das Bildungssystem entspricht damit den Anforderungen einer modernen Gesellschaft, in- dem es breite Grundausbildung bis hin zu verbreiteter höherer Bildung und jede notwendige Spezialisierung durch eine Vielzahl von Fachausbildungen der unterschiedlichsten Qualität ermöglicht. Treibende Kräfte der Institutionalisierung des Bildungssystems waren einerseits die kapitalistische Wirtschaft mit ihrem Bedarf an qualifizierten Arbeitern, Angestellten und Akademikern; die Politik mit ihrem Interesse an der Sozialisation staatstragender Wertstrukturen60; und die etablierten wie aufstrebenden Schichten des Bürgertums und teilweise auch der Arbeiterschaft. 61 Über Schul- und Berufsausbildung werden Gesellschaftsmitglieder an ihren sozialen Ort verwiesen; es ist zentrale Selektions- und Zuweisungsmechanismus zu sozialen Positionen und damit materiellen und symbolischen Gratifikationen. Bildungssysteme reproduzieren damit die Berufs- und Sozialstruktur und leisten einen wichtigen Beitrag für die symbolische Integration der Gesellschaft, d. h. für das Zugehörigkeitsbewusstsein der Gesellschaftsmitglieder und ihres konformen, die bestehenden Verhältnisse mehrheitlich stützenden Verhaltens. Neben dieser Integrations- und Reproduktionsfunktion ist soziale Ungleichheit (und damit desintegrative Tendenzen), wie uns die Studien von Pierre Bourdieu lehren62, ebenfalls ein Effekt des Bildungssystems. Denn Bildung ist nicht voraussetzungslos, Bildungserfolg hängt besonders in Deutschland in starkem Maße von der sozialen Herkunft ab und wirft für Migranten ein doppeltes Problem auf. 1. die Beherrschung der Sprache, 2. Herkunft aus bürgerlicher Kultur, deren wesentlicher Bestandteil die Bildungsbeflissenheit ist.
60 Dazu, wie zu den sich daraus ergebenden Widersprüchen: Specht, F. (1984): Schule und Sozialisation, Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Bd. 5 S. 337–354 61 Wehler, H.-U. (1995): Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 2. S. 1204, auch Baethge, M./Teichler, U. (1984): Bildungssystem und Beschäftigungssystem, in: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Bd. 5 S. 206–225, Hopf, W. (1984): Bildung und Reproduktion der Sozialstruktur, in: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Bd. 5 S. 189–205. 62 vgl. Bourdieu, P./Passeron, J.-C. (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Wie kulturelles Kapital über Bildungsprozesse akkumuliert wird und damit zur Reproduktion der französischen Sozialstruktur beiträgt, beschreibt Bourdieu in seinem Hauptwerk Die feinen Unterschiede (1982).
Die bürgerlich-moderne Gesellschaft des Okzidents
In diesem Kapitel kann keine Geschichte der Moderne geliefert werden, wohl aber dargestellt werden, in welcher Weise – auch unter Rekurs auf die Entstehungsepochen – das Bürgertum als spezifischer Träger der Modernisierung gesehen wird. Auf diese Weise will ich eine so knapp wie möglich gehaltene Charakterisierung moderner Gesellschaft, ihrer Struktur, Kultur, Ambivalenz und Kritik geben, um als Quintessenz des Kapitels ein Verständnis dafür geweckt zu haben, was es der Literatur zufolge heißt, in modernen, westlichen Gesellschaften zu leben. Auf historische und geographische Differenzierungen werde ich weitestgehend verzichten, weil ich mich eher auf die idealtypischen Konstruktionen beziehe als auf die historiographischen Detailanalysen. Bemerkungen über die spezifischen Wege von Kanada, Frankreich und Deutschland in die Moderne finden sich am Beginn der jeweiligen Kapitel.
Vorbemerkungen Bürgertum, Bürgerlichkeit, Bürgerliche Gesellschaft Zunächst versuche ich zu klären, wie die Konzepte: Bürgertum, Bürgerlichkeit und Bürgerliche Gesellschaft verstanden werden.1 Bürgertum ist eine sozialstrukturelle Kategorie und bezeichnet historisch definierbare Gruppen von Personen mit gemeinsamer sozialer Lage und sozialer Stellung im Gesellschaftssystem. Ihren neuzeitlichen Ursprung hat es im städtischen Handwerk und in höheren Berufen. Als soziale Gruppe stehen die Bürger 1
Vgl. zu dieser Unterscheidung: Wehler, H.-U. (2001): Deutsches Bürgertum nach 1945: Exitus oder Phönix aus der Asche, S. 620
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demnach zwischen der Bevölkerungsmehrheit der Landarbeiter (Bauern) bzw. in der Industriegesellschaft der Arbeiter und der lange Zeit politisch herrschenden Aristokratie. Mit dem Fokus auf tatsächliche gesellschaftliche Gruppen kann deren quantitative Entwicklung (Expansion und Differenzierung seit dem 19. Jahrhundert) nachverfolgt werden. Die Zugehörigkeit zum modernen Bürgertum wird meist aufgrund der Berufe der Männer (er qualifiziert die gesamte Familie) anerkannt. Es bezieht seine Einheitlichkeit in erster Linie aus der Stellung im Erwerbsleben – und damit bis ins frühe 20. Jahrhundert verbunden – aus exklusiven politischen bzw. privilegierten sozialen Rechten und Chancen. Das Bürgertum in diesem Sinne bildet die sozialstrukturelle Basis für die Kategorien der Bürgerlichkeit und der Bürgerlichen Gesellschaft. Beide Begriffe machen darauf aufmerksam, dass Bürger sein auch mit einem kulturellen Anspruch verbunden war und ist. Auch im Blick darauf ist man auf idealtypische Konstruktionen angewiesen2, da für das frühe Bürgertum der europäischen Frühen Neuzeit kaum ein wirklich einheitlicher Habitus angenommen werden kann – ebenso wenig einheitliche politische, wirtschaftliche oder normative Orientierungen. Zu groß waren auch im 16. oder 17. Jahrhundert regionale, soziale und konfessionelle Unterschiede.3 Erst durch die Abstraktion und Aggregation von konkreten Habitusformen der verschiedenen bürgerlichen Gruppen entstand auch historisch jenes Bild vom Bürger, das für die Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem als kulturelles Leitbild so bestimmend geworden ist. Bürgerlichkeit fungierte also lange Zeit als idealisierte kulturelle Selbstbeschreibung bürgerlicher Gruppen, die als normatives Ideal in Spannung zu tatsächlichen Ausprägungen eines bürgerlichen Verhaltens und Habitus stand. Im Verbund mit der Analyse der soziohistorischen Entwicklung bürgerlicher Gruppen – ihrer gesellschaftlichen Durchsetzungsmöglichkeiten, vor allem aber ihrer Differenzierung und Modernisierung – lässt sich auch die soziokulturelle Wirksamkeit von Bürgerlichkeit zum einen als habituelles Element sozialer Gruppen und zum anderen als alltagsrelevantes normatives Bezugssystem untersuchen. Das mündet letztlich in der Frage, ob die Bundesrepublik seit den 50er-Jahren oder unsere Gegenwartsgesellschaft noch als bürgerliche Gesellschaft bezeichnet werden kann.4 Mit der Frage nach der normativen Wirkung des Bürgerlichkeitskonzepts eng verbunden ist die nach dem Konzept der Bürgerlichen Gesellschaft, wie es als
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Siehe Hettling, M. (2000): Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, S. 324f. Man denke nur an die Sonderrolle, die vor allem Max Weber dem Bürgertum einiger protestantischer Strömungen (Calvinisten, Puritaner, Methodisten) zuweist. Vgl. Weber, M. (1988): Protestantische Ethik, Vgl. dazu: Wehler, H.-U. (2001), Conze, E. (2004): Eine bürgerliche Republik?; Siegrist, H. (1994): Ende der Bürgerlichkeit?, Hettling, M. (2005): Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland
DIE BÜRGERLICH-MODERNE GESELLSCHAFT DES OKZIDENTS | 41
„Zielutopie eines bürgerlich dominierten Gemeinwesens“ im ausgehenden 18. Jahrhundert formuliert wurde, das es aber doch erst zu verwirklichen galt.5 In den folgenden Kapiteln wird versucht, 1. die sozialwissenschaftlichen und historiographischen Aussagen zur Formierung des Bürgertums konkret zu identifizieren sowie den charakteristischen Transformationen bis in die Gegenwart nachzugehen; 2. den Idealtypus eines bürgerlichen Habitus (Bürgerlichkeit) mit zu diskutieren und seine Generalisierung über die Grenzen des eigentlichen Bürgertums hinaus zu verfolgen, beides jedoch ausdrücklich im Zusammenhang mit der Entwicklung der Moderne zu beschreiben. So eng Bürgertum und Moderne miteinander verbunden sind, so wenig lässt sich dennoch Letztere auf das Handeln oder Kulturformen des Bürgertums beschränken.6 Die Darstellung versucht daher auch von jener Spannung zu sprechen, die zwischen der Moderne und der Bürgerlichen Gesellschaft als idealisierte und normative Zukunftsverheißung einerseits und der tatsächlichen historischen Entwicklung andererseits signalisiert wird.
Der Zusammenhang zwischen Bürgertum und Moderne als Problem der Sozialwissenschaft Das Bürgertum ins Zentrum der uns interessierenden Fragestellung zu stellen, unterstellt, in ihm den bestimmenden Faktor für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gestalt moderner Gesellschaften zu sehen, trotz aller Unterschiede zwischen den westlichen Ländern. Meine Darstellung ist darauf gerichtet, die Genese der modernen Kultur und ihrer heutigen Ausprägung zu verstehen, in deren Zentrum ich den Bürger setze, denn ihn wie die Bourgeoisie gab es nur im modernen Okzident.7 Die Darstellung wird sich dabei – wie bereits gesagt – weitgehend auf die Entwicklung des Bürgers als eines sozialen Typus, des Bürgertums als einer sozialen Gruppe und eines Faktors im Machtgefüge und der bürgerlichen Lebensführung beschränken. Eine Bestimmung dessen, was unter „modern“ zu verstehen ist, hatte ich im ersten Kapitel bereits versucht. Festgehalten wurde, dass „modern“ schwerlich qualitativ zu füllen ist, dass es vielmehr in den Selbstbeschreibungen des 19. Jahrhunderts ein Zeitbegriff war, der zunächst nur das Bewusstsein epochaler Veränderungen zur vorrevolutionären Zeit des 18. Jahrhunderts ausdrücken soll5 6
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Wehler, H.-U. (2001): S. 620 Es zeigt sich sogar, dass die Eigenlogik der Modernisierung wesentlich für das Krisenbewusstsein des Bürgertums seit 1900 verantwortlich war, da sie selbst jene Lebenswelten und Bedingungen zerstörte, auf denen das ursprünglich empathische Verständnis von Bürgerlichkeit aufbaute und zur Transformation des klassischen Bürgertums entscheidend beitrug. Vgl. Siegrist, H. (1994): S. 563f.; Maurer, E.-H. (1963): S. 185ff., Bollenbeck, G. (1994): Bildung und Kultur, Kap. III. 2, Hettling, M./Hoffmann, S.-L. (1997): Der bürgerliche Wertehimmel Weber, M. (1988c): Vorbemerkung, S. 9
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te. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts und später vollends im 20., auch durch Übernahme der Epochenbezeichnung aus Literatur und bildender Kunst, etablierte sich die „Moderne“ als historische Epoche in der wissenschaftlichen und politisch- öffentlichen Diskussion. Und zwar, meiner Ansicht nach, in dem Maße, wie erkannt wurde, dass die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungsprozesse, welche die alte feudal-aristokratische Ordnung ablösten, nicht in eine neue stabile Gesellschaftsordnung und Kultur führten, sondern der Wandel, das stetige Umwälzen der Verhältnisse selbst das Signum der neuen Zeit wurde.8 Weil auch die sozialen und kulturellen Strukturen und Formen in sehr starkem Maße von der kapitalistischen Wirtschaftsform geprägt sind, sind diese Bereiche auch der inhärenten Steigerungsdynamik, der permanenten Umwälzung des Gegebenen unterworfen.9 Daraus ziehe ich den Schluss, dass die „Moderne“ nicht wie ein Gegenstand zu beschreiben ist, sondern, da sie nur Prozess ist, die Prinzipien, denen dieser Prozess folgt, in ihrer Geltung, Wirkung und Dauer aufgezeigt werden müssen. Den Prozesscharakter der „Moderne“ als bestimmende Qualität seiner „Modernität“ aufzufassen, befreit von der Frage nach ihrem Gehalt in der Gesellschaft des 19. oder des 20. Jahrhunderts oder gar der Gegenwart. Wenn sich nämlich zeigen lässt, dass über diese Zeiträume hinweg die genannten Strukturierungsprinzipien wirksam sind, lässt sich diesem Verständnis zufolge auch von einer modernen Gesellschaft sprechen. Die Schwierigkeit bezüglich der Epochenbildung in der Moderne, wo immer man auch ihr Ende ansetzt, ist Ausdruck der wegen dieser Allgemeinheit entstehenden terminologischen Unschärfe. Man entgeht diesen Fallstricken, wenn man sich einerseits auf die grundlegenden Prinzipien konzentriert und zweitens „modern“ auch heute wieder stärker als Zeitbegriff, als gegenwärtige Selbstbeschreibung der Gesellschaft ansieht, denn danach ist modern „immer das Neue“, wie Richard Münch es formuliert.10 Modern/Modernisierung wird also als ein stetiger Prozess struktureller Transformation charakterisiert. Und natürlich handelt es sich demzufolge
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Marx, K./Engels, F. (1986), Kommunistisches Manifest: S. 419 Marx, K. (1983), Das Kapital, S. 508 Damit möchte ich nicht die Kapitalakkumulation, das Profitstreben als entscheidenden Antrieb gesellschaftlicher Wandlungsprozesse anführen. Sozialen und kulturellen Prozessen ist unbedingt eine Eigengesetzlichkeit zuzugestehen, deren Ablauf sich nicht auf Ökonomie zurückführen lässt. Allerdings erachte ich eine enge Wahlverwandtschaft zwischen der ständig nach Innovation, neuen Absatzchancen und Profitsteigerung strebenden Wirtschaftsform Kapitalismus und der modernen Kultur mit ihren sich ständig wandelnden und sich enorm pluralisierenden Moden, Trends und Stilen als unübersehbar. Beiden Bereichen wie auch dem sozialen Bereich (Sozialstruktur) wohnt eine enorme Dynamik inne, die vormoderne Zeiten nicht kannten. Die Bedeutung des Kapitalismus für die Entwicklung der Moderne ist schwer einzuschätzen, im Detail sind die Wirkungen und Effekte komplex, vielfältig und teilweise indirekt. Für einen groben Überblick siehe: Kramer (2001): Kapitalistische Gesellschaft, S. 123ff. 10 Münch, R. (1986a), Die Kultur der Moderne, Bd. 1: S. 13
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nicht um einen einheitlichen, alles umwälzenden Strom sozialer Veränderung, sondern um ein hochkomplexes, im Detail schwer rekonstruierbares Zusammenwirken mindestens dreier analytisch trennbarer Entwicklungselemente: 1. die durch wissenschaftliche und technische Innovationen vorangetriebene kapitalistische Wirtschaft11, 2. die auf Nationalstaatlichkeit zielende Entwicklung des modernen bürokratischen Staates, 3. die diese Prozesse reflektierende, befördernde wie begrenzende Kultur: im Sinne öffentlicher Diskurse einerseits, heute als Enttraditionalisierung und Rationalisierung bezeichnete Umformung sozialer Alltagspraxis und der alltäglichen Formen des Denkens (Weltbilder) andererseits. Unterstellt wird, dass diese Einzelprozesse in enger, dauernder Wechselwirkung miteinander stehen. Wie diese näher zu bezeichnen sind, ist innerhalb des soziologischen Theoriediskurses umstritten. Niklas Luhmann hat im Rahmen seiner Systemtheorie eine sehr abstrakte und formale Formulierung gefunden, welche den scheinbaren Gegensatz zwischen Autonomie und Abhängigkeit bzw. Wechselwirkung zu einer Einheit fasst. Für ihn bestehen moderne funktional differenzierte Gesellschaften aus Teilsystemen, denen per se Autonomie zugestanden wird. Systeme funktionieren prinzipiell streng eigenlogisch anhand der Prämissen ihrer Autopoiesis, d. h., die Reproduktion der Systemstrukturen geschieht durch das System selbst.12 Auf dieser operationalen Ebene sind die Systeme daher unabhängig. Auf die gesellschaftliche Ebene projiziert, würde dies bedeuten, dass das Wirtschafts- oder politische System sich jeweils selbst erhält und eben nicht wirtschaftliche Entscheidungen generell unter der Maßgabe politischer Vorgaben und Interventionen getätigt werden, wie in der Planwirtschaft. Umgekehrt liegt die Organisation und Arbeit von politischen Parteien und von Parlamenten wie Regierungen nicht im Aufgabenbereich und in der Verantwortung von Wirtschaftsunternehmen. Diese prinzipielle Unabhängigkeit der Systeme voneinander bedeutet aber nicht, dass sie sich wechselseitig nicht beeinflussen, ja nicht einmal, dass sie zum eigenen Strukturaufbau nicht auf die Ressourcen oder Leistungen anderer Systeme angewiesen sind, die sie dann aber nach eigenlogischen Prinzipien verarbeiten. Faktisch stehen also alle Systeme der Gesellschaft in enger Wechselwirkung miteinander.13 Luhmann schwebt eine Gleichzeitigkeit von Autonomie und Abhängigkeit (strukturelle Kopplung) der Systeme vor. Wichtig ist dabei, dass er die tatsächlichen Austauschprozesse der Systeme prinzipiell als kontingent ansieht, also nicht auf theoretischer Ebene Kausalitätszuschreibungen macht, indem er einzelnen Systemen stark prägenden oder gar de11 Weitere wichtige, hier nur am Rande zu erwähnenden Bedingungsfaktoren der europäischen Moderne: das stetige Bevölkerungswachstum seit Anfang des 18. Jh., welches Ertragssteigerung in der Landwirtschaft notwendig machte und gleichzeitig den Markt für eine kapitalistische Produktionsweise schuf; die überseeischen Eroberungen europäischer Staaten, die vor allem als Rohstofflieferanten und Absatzmärkte die Kolonialmächte in ihrer Entwicklung begünstigten. 12 Luhmann, N. (1997): Bd. 1, S. 93ff. 13 Ebd., S. 779
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terminierenden Einfluss auf andere Teilsysteme zugesteht. Dies liegt in der systemischen Organisation der Gesellschaft selbst begründet, die wiederum die Selbstorganisation (Autopoiesis) hervorgebracht hat. Gerade weil jedes Teilsystem mit vielen anderen in Kontakt steht, muss es zum eigenen Strukturerhalt auf Selbstorganisation umstellen und kann keinem dieser Umweltkontakte einen bestimmenden Einfluss zugestehen.14 Allerdings gesteht Luhmann den verschiedenen Beziehungen zwischen den Teilsystemen auch unterschiedliches Gewicht zu; welches sich konkret aber nur in detaillierten Analysen aufzeigen lässt – also nicht a priori in einer Gesellschaftstheorie festzulegen ist. Dieser Sichtweise ist die marxistisch inspirierte Gesellschaftstheorie gegenüberzustellen. Im orthodoxen Marxismus wird die gesellschaftliche Entwicklung letztlich komplett auf die dynamische Dialektik ökonomischer Variablen (Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse) zurückgeführt. Und auch in Habermas Theorie des kommunikativen Handelns wird dieses Erbe fortgeführt. Habermas’ Gesellschaftstheorie fußt dabei auf der Systemtheorie Talcott Parsons.15 Im Gegensatz zu der Variante von Luhmann hat Parsons eine explizite Vorstellung vom Zusammenwirken der Teilsysteme einer Gesellschaft; kann also auch die Bedingungen für soziale Integration angeben. Integrationserfordernisse auf sozialer wie systemischer Ebene beschränken die Freiheit der Systeme, weil diese auf einen normativen Konsens verpflichtet werden, indem sie wechselseitig auf die Reproduktionserfordernisse der anderen Systeme achten. „Erst wenn [...] die Wertorientierungen von ökonomischer Nützlichkeit, politischer Autorität, gemeinschaftlicher Solidarität und kultureller Integrität die Austauschbeziehungen zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen bestimmen, ist ein Modus gefunden, der dauerhafte, wechselseitige Rücksichtnahme auf die jeweils anderen Funktionserfordernisse sicherstellen kann.“16 Aus der Blickrichtung des Marxismus sieht Habermas, dass dieser Modus nicht mehr funktioniert, dass sich vor allem das Wirtschaftssystem, aber auch das politisch-administrative System (das System) von der Ebene gemeinschaftlicher Solidarität und kultureller Integrität (Lebenswelt) gelöst hat. In der Entkopplung von System und Lebenswelt zeigen sich tendenziell die Rücksichtslosigkeit und daher die Dominanz des systemischen Bereichs innerhalb der Gesellschaft. Denn dieser ist mehr oder weniger gegen Veränderungsimpulse aus der Lebenswelt abgeschirmt; hat eine Unabhängigkeit gewonnen, auf welche die Lebenswelt nur noch passiv reagieren kann. Habermas konstatiert hier in der Traditionslinie der Kritischen Theorie ein eindeutiges Machtgefälle zwischen Wirtschaft/Staat und der Alltagswelt der Individuen und deren privater Lebensführung. Der wichtigste Unterschied zwischen Habermas und Luhmann besteht daher hinsichtlich der theoretisch formulierten Verhältnisse zwischen Teilsystemen der Gesellschaft und die darin implizierten kausalen 14 Ebd., S. 780 15 Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Kap. VII 16 Schimank, U. (1996): Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, S. 112
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Mechanismen. Luhmann betont stark die Unabhängigkeit jedes Systems in modernen Gesellschaften; Habermas hingegen, wie stark auch die Gesellschaftsstruktur von Machtstrukturen durchzogen ist, von Unabhängigkeit und Kontingenz daher nur sehr begrenzt gesprochen werden kann. Diese Freiheit hat eigentlich nur der systemische Bereich, da er eigentlich keinen Grenzen ausgesetzt ist. Die enge Verwobenheit von Moderne und Bürgertum sei daran ersichtlich, dass alle drei Teilprozesse (kapitalistische Wirtschaft, bürokratischer Nationalstaat, Kultur im Sinne von Literatur und Kunst) ebenso wie an der Formierung der bürgerlichen Kultur, auch an der des Bürgertums als abgrenzbarer sozialstruktureller Einheit beteiligt waren.17 Schon Adam Smith zufolge schuf Kapitalismus die ökonomische Basis, auf der sich der Machtanspruch des Bürgertums seit dem 18. Jahrhundert gründen konnte. (Natur-)Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Literatur, kurz Bildung und Kultivierung im weitesten Sinne durchbrachen – teilweise revolutionär durchgesetzt – das Weltbild der feudal-aristokratischen Gesellschaft, eröffneten Welten des Denk- und Sagbaren und waren Quelle für die Selbstgewissheit und das Selbstbewusstsein des Bürgertums. Der moderne Nationalstaat sicherte – zumindest in einigen Ländern – auf den eben genannten Grundlagen die Etablierung einer neuen sozialen und politischen Ordnung, die mittels rational-bürokratischer Verwaltung der bisherigen an Effizienz und Kontrolle zudem überlegen war. Das Bürgertum wurde zur staatstragenden Schicht. Individuelle, bürgerliche (Aus-)Bildung wurde für alle drei Bereiche als die notwendige Funktionsvoraussetzung angesehen. Sie galten als Resultat von Leistung und nicht als Ergebnis von geburtsständischem Privileg. Individuelle Bildung, als Wert an sich und als Ergebnis qualifizierter Ausbildung, begann damit im Zentrum bürgerlicher Lebensführung und sozialer Ordnung zu stehen, da der Zugang zu den wichtigsten Bereichen der Gesellschaft zunehmend über den Besitz von Bildungsgütern und Bildungstiteln geregelt wurde. Bildung ist also ein zentraler Mechanismus zum Statuserhalt für das Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bis heute dienen Bildungsgüter und Wissen zur Distinktion zwischen sozialen Gruppen und damit zur ungleichen Verteilung von Macht und ökonomischen Ressourcen.18 Trotz des dynamischen Charakters der Epoche haben sich im bürgerlichen 19. Jahrhundert soziale Formen etabliert, die bis heute ihre Stabilität bewahren. Dazu zähle ich insbesondere neue Rechts- und Politikformen. Bereits ein kurzer Blick in die historische und soziologische Be17 Vgl. Stürmer, M. (1998): Das ruhelose Reich; Nipperdey, T. (1993): Deutsche Geschichte 1866–1918; Kocka, J. (2001): Das lange 19. Jahrhundert. Diese Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erzählen nicht explizit die Geschichte des Bürgertums, zeigen aber mehr oder weniger direkt die Bedeutung des Bürgertums für die gesellschaftliche (weniger die politische) Entwicklung, vor allem in den Bereichen der Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. 18 Siehe Kap. 2.8, zur Bildungsungleichheit exemplarisch: Vester, M. (2004), Grundmann, M./Bittlingmayer, H.-U. et. al. (2004)
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fassung mit dieser Entwicklungsgeschichte und ihren wissenschaftlichen Deutungen zeigt, dass es sich um eine in der bisherigen Geschichte einzigartige Sonderentwicklung handelte (Max Weber). Sie führte die Staaten Mittel- und Westeuropas (wenig später auch Nordamerikas) zu einem bis dahin nicht erreichtem Niveau gesellschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher, technischer und kultureller Entwicklung und für einige Jahrzehnte zur uneingeschränkten Weltherrschaft.
Das Konzept der „bürgerlichen Gesellschaft“ „Bürgertum“, „bürgerlich“ wird – folgt man der Literatur – mit der Moderne als historischer Epoche assoziiert, diese selbst als „bürgerliche Moderne“ bezeichnet. Das liege in der Parallelität der Prinzipien moderner Gesellschaften und dem Typus des Bürgers, d. h. typischen Eigenschaften, Habitusformen und Verhaltensweisen, die den Bürger von anderen sozialen Gruppen (v. a. Adel und Arbeiterschaft/Bauern) abheben, begründet. Moderne Gesellschaften sind mit der Durchsetzung der Herrschaft des Dritten Standes entstanden.19 „Modern“ ist dabei, wie oben in der kurzen begrifflichen Erläuterung angedeutet wurde, umfassend und gleichzeitig hybrid, schwer fassbar bestimmt. „Moderne“ verstehe ich also primär als historische Epoche, deren Beginn in der Forschung Ende des 18. Jahrhunderts festgemacht wird (Epochenbruch ist die Französische Revolution 1789). Die Frage, ob die Moderne inhärent „bürgerlich“ ist, wird mit Einschränkungen bejaht. Obwohl das Bürgertum in Deutschland vom 18. – 20. Jahrhundert nie mehr als 20% der Bevölkerung umfasste20, hat diese soziale Gruppe die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert stärker geprägt als andere Gruppen. So kommt Kocka zum Resümee: „Die Präge- und Ausstrahlungskraft des Bürgertums erwies sich als enorm. Es drückte dem Jahrhundert [19. Jhd.] seinen Stempel auf. Es gewann an Wohlstand und Ansehen, an Einfluss und Macht. Der Verallgemeinerungsanspruch seiner Kultur erschöpfte sich nicht nur in bloßer Rhetorik. Sie beeinflusste, durchdrang und veränderte viele Bereiche. Das Projekt einer bürgerlichen Gesellschaft gewann im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend Gestalt, zwischen Zivil- und Bourgeois-Gesellschaft oszillierend.“21 Dabei sei das Bürgertum weder in der Moderne entstanden, noch erschöpfte sich der Gehalt dessen, was die Moderne ausmachte, in der „Bürgerlichkeit“. Und dennoch sei die Gleichsetzung zwischen Bürgerlichkeit und Moderne ganz ohne Zweifel richtig, übernahm doch das Bürgertum in der Moderne des 19. Jahrhunderts in den meisten Ländern des Okzidents die politische und kulturelle Führung und konnte damit dieses Jahrhundert umfassend prägen. „Bürger“, „Bürgertum“ sind Kocka zufolge weniger Begriffe für exakt fassbare Phänome19 Koenen, E. (2001): S. 83, vgl. auch Kocka, J. (2001) 20 Wehler, H.-U. (2001): S. 621 21 Kocka, J. (2001): S. 138
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ne, sondern mehr Symbole, Platzhalter für sozialstrukturelle Gruppen, Produkte der akademischen-philosophischen Diskussion wechselnder Bedeutung, ohne feste Grenzen, scheinbar fast ohne sichere Merkmale der Identifizierung. Vergleicht man historisch wie geographisch jene Gruppen, die sich selbst zum Bürgertum rechnen, bzw. als dazugehörig bezeichnet werden, wird eine Vielzahl von Personen umfasst, die kaum Gemeinsamkeiten aufweisen, außer dass sie eben nicht zum Adel bzw. der Oberschicht oder zu den unterbürgerlichen Schichten oder Arbeiterklasse gehören. Im Feld dazwischen liegt (bis heute) eine breite Skala divergierender Lebensweisen. Weitere Verwirrung stifteten die Philosophen der Aufklärung und deren Nachfolger, die den Bürger entweder als bourgeois (d.h. als reinen Unternehmer, Kapitalisten) ohne soziales Gewissen gering schätzten (Frühsozialisten, Marx) oder ihn zum historischen Subjekt einer neuen, aus Absolutismus und Feudalismus hinausführenden und diese qualitativ überflügelnde Gesellschaftsordnung machten (so Kant, Fichte und Hegel). Und obwohl selbst nach großzügigen Schätzungen das Bürgertum in den Ländern Mittel- und Westeuropas auch im späten 19. Jahrhundert bestenfalls 15% der Gesamtbevölkerung ausmachte22, trägt diese Epoche für all diese Länder das Signum der „bürgerlichen Gesellschaft“. Der historischen Darlegung der Herkunft von Bürger und bürgerlicher Kultur soll daher eine gängige Definition der „bürgerlichen Gesellschaft“ vorangestellt werden, die bewusst eher das Ideal der damit Bezeichneten als deren Wirklichkeit beschreibt: „Bürgerliche Gesellschaft meinte ein Modell wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ordnung, das in Überwindung von Absolutismus, geburtsständischen Privilegien und klerikaler Gängelung das Prinzip rechtlich geregelter individueller Freiheit für alle realisiert, das Zusammenleben der Menschen nach Maßgabe der Vernunft gewährleistet, die Ökonomie auf der Grundlage rechtlich geregelter Konkurrenz marktförmig organisiert, die Lebenschancen nach Maßgabe von Leistung und Verdienst verteilt, die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechtsund Verfassungsstaats einerseits begrenzt und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentativorgane an den Willen mündiger Bürger zurückbindet und den Bereich von Kunst, Wissenschaft und Religion [...] strukturiert, [und] [...] zugleich ein hohes Maß an Selbstbestimmung (Autonomie) gewährt.“23 „Bürgerliche Gesellschaft“ meint also die Verknüpfung von kapitalistischer Privatwirtschaft, formalrechtlicher Gleichheit und Freiheit und kulturellpolitischer Autonomie und Mündigkeit.24 Das meint vor allem die vielfältigen Formen der Selbstorganisation des Bürgers in Vereinen und Organisationen (vor
22 Kocka, J. (1995): Europäisches Muster und deutscher Fall, S. 10 23 Kocka, J. (1995): S. 23 24 Vgl. Taylor, C. (1995): Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft im politischen Denken des Westens, in Brumlik/ Brunkhorst: Gemeinschaft und Gerechtigkeit, S. 117 – 149
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allem das deutsche Vereinswesen ist dafür symptomatisch). Darin zeigt sich der Anspruch des Bürgertums auf die autonome Gestaltung sozialer Verhältnisse. Dies wurde, wie sich zeigen wird, ein mit inneren Widersprüchen behaftetes Programm, so dass die konkreten Gesellschaften lediglich an diesem Ideal gemessen werden können. „Bürgerliche Gesellschaft“ erweist sich damit ebenso als Konstrukt, wie der Begriff des Bürgertums selber. Darunter sind, jenseits der vorhin genannten Abgrenzung nach oben und unten über die gesamte neuzeitliche Epoche hinweg, in aller Regel folgende Berufsgruppen zu fassen: Handwerker, Kaufleute und Händler, Unternehmer, Fabrikanten, Bankiers, Beamte, Akademiker und Freiberufler (Künstler), zum Teil auch Offiziere, später Angestellte, Dienstleistungsunternehmer.
Entstehung des Bürgertums Der Bürger ist ein sozialer Typus, definiert eine soziale Formation, der gewisse Gemeinsamkeiten unterstellt werden. Als sozialer Typus ist der Bürger – wie bereits angedeutet – wesentlich älter als die Moderne und hat eine wechselhafte Geschichte, die nicht als Modernisierung zu bezeichnen ist, da ihr diese Intention nicht zugeschrieben werden kann. Erst in der Rückschau lässt sich die Genese der modernen Gesellschaft in ihren institutionellen Formen, ihrer sozialen Trägerschaft wie geographischer Ausprägung sowie ihren kulturellen Prinzipien bis in die europäische Stadtkultur des Hoch- und Spätmittelalters zurückverfolgen. Die Kontinuität ergibt sich erst durch den Blick des Historikers. Die Entstehung des Bürgertums ist eng mit der langen Entwicklungsgeschichte moderner Gesellschaften in Europa verbunden. Bürger wurden die primären Träger und Protagonisten dieser Entwicklung. Die vielschichtigen Entstehungsbedingungen der Moderne selbst verlieren sich in einem hochkomplexen und kontingenten Zusammenhang, der mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen beschrieben worden ist.25 Das Bürgertum konnte der Moderne seinen Stempel aufdrücken, weil all jene Teilprozesse, die sich zur Modernisierung der europäischen Staaten verbanden, direkt oder indirekt letztlich das Bürgertum stärkten. Das gilt für die Territorialstaatsentwicklung26 und die Stadtentwick-
25 Gute Gesamtdarstellungen finden sich innerhalb der Sammlung des Fischer Verlages zur Weltgeschichte (hier in der Lizenzausgabe des Weltbild Verlags). Bd. 24, von Dülmen, R. (1998): Die Entstehung des frühzeitlichen Europa 1550–1648; und Bd. 12: Romano, R./Tenenti, A. (1998): Die Grundlegung der modernen Welt. Spätmittelalter, Renaissance, Reformation, siehe auch: Weber, A. (1960): Kulturgeschichte als Kultursoziologie, worin sich Alfred Weber die Fragestellung seines Bruders Max Weber zu Eigen gemacht hat, die Entwicklung der okzidentalen Moderne aus universalhistorischer und kultursoziologischer Perspektive nachzuzeichnen. Siehe auch: Schluchter (1991b): Religion und Lebensführung Bd. 2, Kap. 10 26 Vgl. dazu Elias, N. (1997): Prozess der Zivilisation 2 Bde.
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lung27 ebenso wie für die Entwicklung der kapitalistischen Geldwirtschaft28, Wissenschaft und Kunst29, wie für die protestantische Religion. In diesem Jahrhunderte währenden Prozess erwies sich das Bürgertum zunächst vor allem gegenüber dem Adel als die dynamischere und wandlungsfähigere soziale Gruppe. Diese identifizierbaren Dynamiken der Modernisierung sind nicht als metaphysische Prinzipien zu verstehen, die wie Hegels Weltgeist hinter dem Rücken der Akteure und durch deren Handeln historisch sich durchsetzten, sondern beruhen auf den Eigeninteressen sozialer Gruppen und dem Versuch, diese in Konkurrenz zu anderen Gruppen durchzusetzen. In einem zweiten Schritt gelang die Institutionalisierung dieser Sonderinteressen des Bürgertums und damit deren normative Generalisierung (wie soziale Wertschätzung von Arbeit, Bildung, Kultur, bürgerlicher Moral u. dgl.). Den Bürger gibt es oder gab es historisch ebenso wenig wie das Bürgertum. Heute hat der Bürgerbegriff zwei Konnotationen, die nur im Deutschen zu einem Wort verschmolzen, im Französischen und Englischen nach wie vor getrennt sind. Der Citoyen ist der für das Gemeinwesen verantwortliche Staatsbürger; Bourgeois bezeichnet den Bürger als Eigentümer von Produktionsmitteln und hebt die zentrale Stellung des Bürgers im Wirtschaftsprozess hervor.30 Das Wort bezeichnete auch zunächst nur den Stadtbürger, später den wohlhabenden, teilweise privilegierten Teil des Stadtbürgertums. Erst im 18. Jahrhundert wurde der Begriff in andere europäische Sprachen übernommen. Der Begriff des Bürgers ist griechischen Ursprungs und bezeichnete die männliche Einwohnerschaft der Polis, was auch „Burg“ bedeutet. Nach Aristoteles war die Polis schlechthin die Vereinigung von Bürgern31, im allgemeinen Sinn das freie, in politischer und sozialer Hinsicht vollberechtigte Mitglied einer politischen Gesellschaft. Hier hat die Verantwortung des Bürgers für sein Gemeinwesen seinen Ursprung, sehen wir den Bürger als lokalen Herrschaftsträger. Der Bürgertitel war im Mittelalter und der frühen Neuzeit abhängig von der Teilnahme am Regieren und Regiertwerden, der Herrschaft von Bürgern über Bürgern, verankert im Polisrecht als Stadt- und damit gleichzeitig Staatsbürger und weniger bezogen auf die „privaten“ Freiheitsrechte. Der arbeitende Bürger (bourgeois) als sozialer Typus entstand im Wesentlichen in den mittelalterlichen Städten Europas. „Nur in der Stadt eröffneten sich 27 Weber, M. (1972): Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte), auch: Schilling, H. (1993): Die Stadt in der Frühen Neuzeit 28 Weniger wirtschaftshistorisch, dafür auf die Entwicklung der modernen Kultur bezogen: Simmel, G. (1999): Philosophie des Geldes, siehe auch: Durchhardt, H. (2003): Kap. 2.3 29 Schneiders, W. (2005): Zeitalter der Aufklärung; Vogler, G. (2003), Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1650 30 Siehe exemplarisch die Verwendung des Begriffs im Werk von Karl Marx: Marx/Engels (1986): Kap. 1, S. 462ff. 31 Riedel, M. (1994): Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Klett-Cotta, Stuttgart, S. 673
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vielfältige Optionen einer mobilen, unkonventionellen und unabhängigen Lebensführung.“32 Städte gab es in allen Hochkulturen, aber nur im Okzident (besonders in Oberitalien, Süddeutschland, norddeutsche Küstenregion, England, Niederlande) entwickelten sich im späten Mittelalter Stadtverbände, die selbst bereits Ausdruck einer höchst spezifischen Entwicklung waren und wiederum den Nährboden für weltgeschichtlich weit reichende institutionelle und kulturelle Innovationen bildeten.33 Die (Groß-)Stadt ist der Nährboden und das Laboratorium der Moderne. Über alle geographischen Unterschiede hinweg bildete sich in diesen Städten ein neuer Typ des Bürgers heraus. Die Bürger Athens und Roms waren Grundherren. Sie lebten von der Arbeit anderer und den Erträgen ihrer Besitztümer. Der Bürger der mittelalterlichen Stadt begann meist als Handwerker oder Händler; das später erreichte politische Gewicht resultierte aus selbst erarbeitetem, akkumuliertem Reichtum. Und während in Griechenland die Bürger nur teilweise, in Rom aber über umfangreichen Landbesitz verfügten, war der Bürger des Mittelalters Stadtbürger. Kennzeichen dieser frühen Blüte urbaner Kultur und Macht ist die wirtschaftliche und politische Autonomie des Stadtverbandes. Sie konnte sich nur dort entwickeln, wo Feudalherren kein Interesse an direkter Beherrschung der Stadt hatten. Meist aus wirtschaftlichen Gründen gestatteten sie der Stadtbevölkerung Anfänge der Selbstverwaltung und fungierten selbst nur noch als Schutzherren, die, gegen Steuern, den örtlichen Marktfrieden sicherten. Indem unter diesem Schutz Handel und Gewerbe gediehen, sich Reichtum in einigen Kaufmannsfamilien akkumulierte, stieg Selbstbewusstsein und Wehrfähigkeit der Stadtbürger, begann der oft erfolgreiche Kampf gegen den Schutzherrn. In der gewonnenen Autonomie entstand ein neues Organisationsprinzip weltlicher Herrschaft: unpersönliche, formale Herrschaft in einem anstaltsmäßig organisierten weltlichen Verband, jenseits aller familialen Verbundenheit. Amt und Funktion der Stadträte und Bürgermeister haben hier ihren Ursprung, Einrichtungen, die die okzidentale Stadt von denen Chinas oder des Orients unterschied, wie überhaupt dort Städte die patrimoniale Herrschaft nicht abstreifen konnten.34 Der Bürgerstatus der mittelalterlichen Stadt war zunächst auch allein rechtlich definiert.35 Voraussetzung waren Besitz an Grund und Haus in der Stadt. Das befähigte ihn zur Teilnahme am politischen Leben der Stadt, machte den (natür32 Schulze, A. (2005): Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, R. Oldenbourg Verlag, München, S. 3 33 Die Rolle der Stadt für die Sonderentwicklung des Westens hat bisher unerreicht Max Weber in seiner Stadtsoziologie ausgeführt. Abgedruckt als: Nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte) in: Wirtschaft und Gesellschaft (Weber, 1972): S. 727–814. Meine Ausführungen werden sich weitestgehend auf diese Quelle stützen. Vgl. aber auch: Kofler, L. (1976): Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, S. 22–40 34 Vgl .Weber, M. (1972): S. 738, 745f. 35 Vgl. Riedel, M. (1994): S. 676f.
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lich) männlichen Bürger auch zum Herrn über seine Familie, sowie alle Angestellten und Bewohner seines Hauses. „Bürger sein hieß also im Mittelalter, einem ausgesonderten Rechtsbereich anzugehören, eine Tätigkeit in Handel oder Gewerbe auszuüben, eigenen genossenschaftlichen Organisationsformen anzugehören: Gilden und Zünften, Anteil an einzelnen Freiheitsrechten zu haben, insbesondere in Bezug auf Garantien für Person und Eigentum.“36 Innovativ im Vergleich zur Antike war die Verbindung von politischer Herrschaft und wirtschaftlicher Tätigkeit in der Figur des Stadtbürgers. Von einer städtischen Demokratie wie in der griechischen Polis, die allerdings auch ihre Sklaven kannte, kann aber nicht ausgegangen werden, sie bestand – wenn dann nur – in Ansätzen. Die heterogene Zusammensetzung der Bürgerschaft wie die gemeinsame Frontstellung gegen Feudalherren führte sehr rasch zur ständischen Formierung. Zünfte (Handwerk) und Gilden (Kaufleute) wurden zu den bestimmenden Akteuren, insofern entfalteten die mittelalterlichen Städte weniger individualisierende Tendenzen als die Polis, zeigten sich hier bereits deutliche Ansätze einer funktionalen Differenzierung und die enge Verbindung von Arbeit und politischer Partizipation.37 Aber: In der Zunftverfassung lag die Begünstigung rationaler, allein an Erwerb und Handel orientierten Verhaltensweisen. Sie führte zur „Steigerung der Machtstellung der innerstädtischen, an Handel und Gewerbe direkt beteiligten oder interessierten, in diesem modernen Sinne: bürgerlichen Schicht“38. Bereits im ausgehenden Mittelalter war die Herrlichkeit der Mehrzahl der Städte vorbei, ihre Autonomie von aufstrebenden Fürsten recht schnell beseitigt; am längsten konnte sich die Macht großer Handelsgesellschaften (Hanse) halten, bis auch diese im 15. Jahrhundert dem zentralisierenden Streben der Territorialstaaten zum Opfer fielen. So lässt sich von der mittelalterlichen Stadt keine direkte Entwicklungslinie zum modernen Kapitalismus oder zur modernen bürgerlichen Lebensführung ziehen. Allerdings wurden hier im wirtschaftlichen (Hypothek, Aktie, Pfandbrief, weltlicher Kooperationsbegriff) wie politischen Bereich (s. o.) institutionelle Innovationen getätigt, die der okzidentalen Welt erhalten blieben; konnte sich im befriedeten Raum der Stadt Handel, Gewerbe und Arbeit ihrer Eigenlogik nach in einem Maße entfalten, wie es jeder antiken Stadt fremd gewesen war.39 Erst am Ausgang des Mittelalters ist den Bürgern ein eigener „Status“ zugeordnet worden, und in der Frühen Neuzeit wurden sie, mit dem Niedergang des Rittertums, zum Dritten Stand.40 Und auch wenn sich die politische Stellung des Stadtbürgers wieder verschlechtern sollte, blieb das Bürgertum als sozialer, selbstbewusster nach politischer Herrschaft und Autonomie streben36 Vogler, G. (2003): Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500-1650, S. 298 37 zu den Differenzen zwischen antiker und mittelalterlicher Stadt siehe Weber (1972): Die nichtlegitime Herrschaft: § 5 38 Weber, M. (1972): S. 801 39 Schluchter, W. (1991b): 473f., auch Weber, M. (1972): S. 811 40 Riedel, M. (1994): S. 677
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der Typus in enger Verbindung mit gewerbsmäßiger Arbeit, Handel und Gewerbe erhalten. Dies präformierte den bürgerlichen Habitus und bereitete den Boden dafür, dass bürgerliche Schichten soziale Träger von Modernisierungsprozessen werden konnten. Auch die bis heute andauernde interne Differenzierung des Bürgertums war ansatzweise schon existent. Handwerker und Kleingewerbe bildeten den traditionellen Teil des Bürgertums mit ausgeprägtem Stolz auf das Werk der eigenen Hände Arbeit, dem von Beginn an eigentlich die Händler und Kaufleute gegenüberstanden, denen am ehesten Reichtumsakkumulation und damit deutlicher sozialer Aufstieg gelang, was letztlich teilweise zur Annäherung bzw. Nachahmung adliger, aristokratischer Lebensweisen führte. Die kleine Gruppe freier Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte) befand sich dazwischen. Das Bürgertum ist – wie bereits betont – die Trägergruppe der gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Modernisierung gewesen und die Mittelschichten sind es noch heute, da allein sie ausreichend umfänglich sind, um Entwicklungstrends zum Durchbruch zu verhelfen. Nach Identifizierung und Beschreibung des Bürgers/Bürgertums werden in den nächsten Kapiteln die von ihnen getragene und vorangetriebene Moderne und damit die Eigenheiten moderner Gesellschaften und Kultur beschrieben.
Die Kultur der Moderne In diesem Kapitel möchte ich die grundlegenden kognitiven, emotionalen und motivationalen Elemente herausarbeiten, die institutionalisiert wie alltagspraktisch im Denken und Handeln der Menschen moderner Gesellschaften verwirklicht sind; bzw. darlegen, welche Wirkungen sie darin entfalten. Natürlich kann es sich dabei nur um eine idealtypische Konstruktion handeln, welche möglichst umfassend jene Züge erfasst, welche die moderne Kultur ausmachen, ohne davon auszugehen, dass diese sich zu jedem historischen Zeitpunkt in der kulturellen Praxis so ausgewirkt haben. Zum einen handelt es sich dabei um Ideen, die implizit, hochgradig unbewusst, soziale und kulturelle Formen geprägt haben; zum anderen um deren Objektivation, ihre Manifestationen in objektiver und subjektiver Kultur. Wie die im letzten Kapitel behandelten Institutionengefüge reichen die Wurzeln moderner Kultur weit in die antike Zeit zurück; Max Weber und in seiner Nachfolge viele andere sehen in der jüdisch-christlichen Überlieferung und Gemeinschaftsformation und der hellenistischen Geisteswelt die grundlegenden Pfeiler des modernen Denkens. Folgt man dieser Sichtweise, so liegt dort die Sonderentwicklung der modernen europäisch-nordamerikanischen Kultur begründet, die über Jahrhunderte hinweg (gegen alle Widerstände) ihr Potential entfalten konnte. Weber versuchte das spezifisch okzidentale unter einen Begriff zu subsumieren
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und fand ihn im Rationalismus. Die Eigenheiten, die ihre Leistungsfähigkeit und (temporäre) Überlegenheit auf vielen Gebieten begründenden Faktoren, lassen sich ihm zufolge auf einen spezifischen okzidentalen Rationalismus zurückführen, der sich in allen sozio-kulturellen Bereichen ausdrückt und diese Bereiche mitgeformt hat. Die spezifische Form okzidentaler Rationalisierung ist die Erklärung, warum in anderen Kulturen „weder die wissenschaftliche noch die künstlerische noch die staatliche noch die wirtschaftliche Entwicklung in diejenigen Bahnen der Rationalisierung ein[lenkten], welche dem Okzident eigen sind”41. Spezifisch, weil Rationalisierungspotentiale in allen Weltreligionen und Kulturen angelegt waren, dort auch Rationalisierungsprozesse abliefen, jedoch nur im Okzident zur Perfektionierung wirtschaftlich, wissenschaftlich-technischer Weltbeherrschung führten. Ich werde zwischen kognitiver und habitueller Entwicklung unterscheiden. Beide, obwohl auch eng miteinander verwoben, speisen sich weitestgehend aus unterschiedlichen Quellen und hatten deutlich voneinander zu trennende Wirkungen. Kognitiv wurden die Grenzen des Denk- und Sagbaren und des ZuWissenden zunächst der mittelalterlichen Welt gesprengt und zum modernen wissenschaftlichen Weltbild ausformuliert. Habituell formte sich eine methodische, arbeitszentrierte, asketische Lebensführung als Triebfeder für die kapitalistische und wissenschaftliche Umgestaltung und Eroberung der Welt.
Bürgerliche Kultur Jede Verwendung des Kulturbegriffs muss sich der Vieldeutigkeit und daher: Missverständlichkeit dieses Begriffes bewusst sein, denn Problemstellung und Blickwinkel bestimmen jeweils den Bedeutungsgehalt.42 Kultur bezeichnet hier den immateriellen, nicht auf bestimmte Individuen oder öffentliche Assoziationsformen reduzierbaren gesellschaftlichen Zusammenhang; jenes intern unabgeschlossene System von Wahrnehmungs- und Bedeutungsschemata, mit dem die Bürger der modernen Gesellschaft sich in dieser verorten, als soziales Kollektiv und die Welt objektiv und rational beschreiben und erklären können. Kultur wird als Einheit von implizitem Wissen (lebensweltliches Hintergrundwissen) und explizitem Wissen verstanden.43 Und dabei sind nicht die Inhalte modernen Denkens gemeint, sondern ihre strukturellen Grundlagen. Sie beruhen auf der Zerstö41 Weber, M. (1988c): S. 11 42 Auf eine Diskussion des Kulturbegriffs verzichte ich hier. Er ist sicherlich der unschärfste und gleichzeitig meistgenutzte Begriff der Soziologie. Stattdessen werde ich jeweils angeben, in welchem Sinne ich Kultur im jeweiligen Kontext verstanden wissen möchte. 43 Renn, J. (2004): Explikation und Wissen: zum kognitiven Geltungsanspruch der „Kulturen“, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Hrsg. von Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, S. 241
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rung einer als naturwüchsig und unproblematisch erfahrenen ganzheitlichen feudalen Lebensweise in der Agrargesellschaft. In differenzierungstheoretischer Perspektive44 bedeuten Differenzierung und Autonomisierung der wirtschaftlichen, rechtlichen und administrativen Sphäre jeweils Effizienz- und Komplexitätssteigerung (einmal als Bedingung höherer Leistungsfähigkeit, einmal als deren Kehrseite). Zu objektiven Ordnungen und Strukturmustern geronnen und damit der Willkür individueller Handlungsintentionen entzogen, haben diese Lebensbereiche sich weitestgehend aus der traditionalen Gesellschaftsordnung gelöst. Der gravierende Unterschied zwischen moderner und vormoderner Wirtschafts- und Verwaltungsordnung besteht – sei es in materialistischer oder systemtheoretischer Konzeptualisierung – in ihrem modernen Universalismus, der Inklusion der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit, und spezifisch für die Verwaltung: sich auf immer mehr Lebensbereiche ausdehnend. Die Gesellschaften der Frühen Neuzeit waren trotz aller Ausweitung marktorientierter Produktion im Manufakturwesen Agrargesellschaften: Die überwiegende Mehrzahl der Menschen lebte auf und von dem Land, befand sich im überschaubaren Kreislauf lokaler Märkte und dörflicher Sozialverhältnisse, blieb damit auch in der ganzheitlichen Alltagskultur aus praktischer Religiosität und dem Wechselspiel aus harter Landarbeit und bäuerlich-traditioneller Festlichkeit eingebunden, fern jener Elemente, die als typisch „bürgerlich“ zu bezeichnen sind. Das betrifft insbesondere die Schulbildung, überhaupt den Bildungsstand der Landbevölkerung, der im Vergleich zur Stadtbevölkerung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein defizitär blieb. Der funktionalen Differenzierung korrespondierte, systemtheoretisch gesprochen, die eher homogene innerpsychische Differenzierung, sie machte den Menschen zum pluralen Rollenträger. Die ganzheitliche ländliche Lebensweise kann im städtischen Umfeld nicht reaktualisiert werden; es bedarf einer Vergesellschaftungsform, die jenseits der vielfältigen städtischen Partikularitäten eine hinreichende Homogenität und Ganzheitlichkeit herstellt. Und dies stellte die bürgerliche Kultur dar, die sich in der Moderne selbst als autonomer Handlungs- und Diskurszusammenhang konstituierte mit dem eigenen Anspruch nach universellen Inklusionschancen.45 Kultur soll einmal Vergemeinschaftung auf höherer Ebene leisten. D.h., sie soll die Zusammenführung pluralistischer und partikula44 Es herrscht darüber Einigkeit, die Entwicklung moderner Gesellschaften unter dem Aspekt multipler Differenzierungen zu sehen, sie also mit Differenzierungstheorien zu beschreiben. Diese Grundkonzeption ist bei den Klassikern Durkheim, Weber und Simmel ebenso zu finden wie bei den zeitgenössischen Theoretikern Habermas, Luhmann, Münch oder Giddens. Vgl. Schimank, U. (1996), siehe auch Ausführungen zur Differenzierungs- und Systemtheorie in Kap. 2.1.2. 45 Tenbruck, F.-H. (1989): Bürgerliche Kultur, in: ders. (1989), Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Die Verschränkung inkludierender und exkludierender Wirkungen bürgerlicher Kultur wird später behandelt.
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ristischer Lebensführungen leisten, also Aufhebung bzw. Kompensation der unpersönlichen, vielfältigen und losen, fragilen,46 das moderne urbane Leben prägenden Sozialbeziehungen47 in einer neuen Form von Gemeinschaft herstellen, und sie soll den Zusammenhang zwischen entrückten systemischen Handlungsund Funktionszusammenhängen und der Alltagswirklichkeit und Rationalität alltäglicher, individueller Lebensführung wahren. Die bürgerliche Kultur ist in kulturhistorischer Perspektive ein Kind der Aufklärung.48 Im ständisch differenzierten Bürgertum von Spätmittelalter und Früher Neuzeit ließen sich, von Dülmen zufolge, zwischen Handwerkern und wohlhabenden Kaufleuten kaum gemeinsame habituelle und kulturelle Gemeinsamkeiten finden. Beide Gruppen in Zünften und Gilden jeweils ständisch gegeneinander abgegrenzt, standen sich vielfach als Konfliktpartner gegenüber; kulturell orientierte sich das wohlhabende Bürgertum meist an der Lebensweise des Adels, trachtete nach Zugang zur höfischen Kultur. Und auch wenn diese ständischen Differenzierungen nicht verschwanden, im Gegenteil durch die Konstituierung von Kleinbürgertum und andere bürgerliche Gruppierungen fortgeschrieben wurden, entwickeln sich mit Reformation und insbesondere Aufklärung in Europa auch das gesamte Bürgertum einende Momente. Kultur- und sozialwissenschaftlich gesehen heißt bürgerliche Kultur in kognitiver Hinsicht: Bildung, Wissen, rationale Durchdringung und Begreifen der Welt. Habituell bedeutet sie die Priorität von Arbeits- und Leistungswerten, eine (mehr oder weniger) asketische Lebensführung und in diesem Zusammenhang die Motivstruktur der innerweltlichen Bewährung.49 Strukturell bedeutet bürgerliche Kultur die Ausweitung von Schriftmedien, von Theater und Musikbetrieb, da in den Großstädten mit dem Anwachsen des Bürgertums ein interessiertes Publikum entsteht.50 Zu ihm gehört die Innovation Museum, die Öffnung fürstlicher Kunstsammlungen für die breite Öffentlichkeit und das Bewusstsein des Bewahrenswerten, so dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur Kunst im herkömmlichen Sinne in Museen verwahrt wird, sondern nahezu alle Artefakte objektiver Kultur (Naturkunde-, Völkerkundemuseen, Technische Sammlungen u. dgl.). Es etablierte sich ein professioneller Kulturbetrieb, der sehr schnell ein Massenpublikum erreichte, denn aufgrund interner Differenzierungen wurde sehr 46 In der Bedeutung der weak ties der heutigen Netzwerkforschung 47 Vgl. Simmel, G. (1995): Die Großstädte und das Geistesleben 48 Vgl. Dülmen, R. von (1994): Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, 212ff. Im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, formiert sich die bürgerliche Kultur, auch wenn sie noch nicht gesellschaftlich führend ist – das bleibt bis zur Französischen Revolution die höfische Kultur des Adels. Auch sozialstrukturell sind die Gesellschaften der Aufklärung noch vormodern-ständische Gesellschaften. Vgl. Stollberger-Rilinger, B. (2000): Europa im Zeitalter der Aufklärung: Kap. 3, S. 68ff.; Dülmen, R. von (1998): Kap. 2 49 Kocka, J. (1995): S. 18 50 Vgl. zum Folgenden Tenbruck, F.-H. (1989): S. 257ff.; Dülmen, R. von (1994): S. 242ff.
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bald Theater, Musik und natürlich Literatur auch für weniger vermögende und nicht-bürgerliche Gruppen gemacht. Hier zeigen sich schon die expansiven Tendenzen bürgerlicher Kultur, ihre Anziehungswirkung auf die Arbeiterschicht sowie ihre zentrale Funktion für moderne Vergesellschaftungsverhältnisse. Zunächst und im kognitiven Sinne umfasst bürgerliche Kultur jenen Komplex, der heute als Hochkultur bezeichnet wird, ein gewisser Kanon allgemeinverbindlicher Wissenselemente aus Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaft. Bürgerliche Kultur konstituiert eine säkulare Publikums-, Rezeptions- und Diskursgemeinschaft. Säkular, da die Transformation der feudalen Gesellschaftsordnung vom Zerbrechen des geschlossenen, religiös strukturierten und begrenzten Weltbildes begleitet war. Neben allen immanenten Gründen der Wissenschaftsentwicklung und der Wirkungsmächtigkeit der Aufklärung realisierte die Durchsetzung moderner Gesellschaftsstrukturen Erfahrungen sozialen Wandels, die im herkömmlichen Weltverständnis nicht integrierbar waren. Geistesgeschichtliche und sozialstrukturelle Prozesse trafen sich hier in der Durchsetzung des wissenschaftlichen Weltbildes, mit dem sich das Argument und die rationale Begründung etablierten. Die Welt wurde nicht mehr als Offenbarung sondern als Frage, die zu klären und zu durchdringen war, angesehen. Das Ringen um ein neues eben modernes Verständnis der Welt ist konstitutiv für die seit der Aufklärung, folgt man Habermas51, zu beobachtende Entstehung und Ausweitung bürgerlicher Öffentlichkeit und diskursiver zunächst Vergemeinschaftung, später Vergesellschaftung. Ende des 18. Jahrhunderts begannen sich meist aus freiem Entschluss Lesezirkel und Lesegemeinschaften zu bilden. Weniger um Lesen zu lehren und zu üben, als vielmehr um Kommunikationsnetzwerke zu bilden, sich über Gelesenes auszutauschen und damit Teilhabe an der verselbständigten Kultur zu haben. „Erst diese Umwandlung der Gesellschaft in ein Lesepublikum verflüssigte die Kultur zu einem gemeinsamen Besitz.“52 Es ging um das Verständnis der Zeit, der Entwicklungsdynamik und -richtung und um die Herstellung von Gewissheit. Aufklärung und Wissenschaft hatten den Zweifel in die Welt gebracht, waren gegen das beengte Weltbild christlicher Offenbarung angetreten und hatten vor allem in den protestantischen Gebieten große Siege gefeiert. Und auch wenn Bürgertum und Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert noch sehr religiös waren (und in weiten Teilen der westlichen Welt ist es eine mehr oder minder große Gruppe der Bevölkerung bis heute), war die Fraglosigkeit der offenbarten Weltordnung, die Gewissheit von Jüngstem Gericht und Erlösung angesichts des Selbstbewusstseins und der scheinbaren Effizienz der Wissenschaften auf Massenbasis nicht wieder herzustellen.53 Durch (populär-)wissenschaftliche Publikationen, Kunst und Literatur rezipierend, wurde in der bürgerlichen Kultur in 51 Vgl. Habermas, J. (1999), kritischer: Sennett, R. (1983) 52 Tenbruck, F.-H. (1989): 259 53 Vgl. Weber, M. (1988f); Habermas, J. (1981): Bd. 1, S. 284ff.; Schluchter, W. (1991b): Kap. 11, S. 513ff.
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Lesezirkeln, den Salons des Großbürgertums in Paris (des Bildungsbürgertums in Berlin) und Ende des 19. Jahrhunderts in einer breiten publizistischen Öffentlichkeit versucht, neue Gewissheit und in Anbetracht sozialer und struktureller Differenzierung neue Einheitlichkeit zu finden. Die bürgerliche Gesellschaft konstituierte sich kulturell als Gemeinschaft gebildeter Individuen.54 Dem Prinzip nach universell – da nicht an persönlichen Merkmalen festgemacht –, wirkte dies natürlich hochgradig exkludierend, führte auf Grundlage sozialer Beziehungen (und nicht ideeller Zugehörigkeit) zu einem exklusiven Netzwerk. In Anbetracht der relativ geringen Verbreitung der Lesefähigkeit und der persönlichen Freiheit von alltäglicher Notwendigkeit blieb die literarische Öffentlichkeit, der Kreis der Gebildeten und Kulturrezipienten und -produzenten auf den Kreis des städtischen Bürgertums und des Adels, d. h. unter Ausschluss der ländlich-bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit (mit national unterschiedlicher Einbeziehung des Adels), beschränkt.55 Dem Anspruch nach war bürgerliche Kultur – und damit die bürgerliche Gesellschaftsordnung – universell, ohne formale Inklusionsschranken. Als kulturelle Vergesellschaftungsform war sie ein „Geflecht von Bedeutungen, in denen Menschen ihre Erfahrungen interpretieren“56, ohne die soziale Bedingtheit der Selektivität dieser Weltkonstruktion zu erkennen. Wahrung sozialer Distanz und Exklusivität erfolgte über informelle Distinktionsformen. Real war die bürgerliche Gesellschaft das Projekt des Dritten Standes, ihr Weg zu wirtschaftlicher und letztlich auch politischer Macht.57 Kultureller Universalismus, rechtliche individuelle Gleichheit und Freiheit sind die Legitimationsgrundlagen, sind die Ideologie, auf der sie beruht und der sie ihre Faszination und Anziehungskraft verdankt. Der Widerspruch ihrer elitären Selektivität ist Geburtsort alternativer Gesellschaftskonzeptionen, vornehmlich der sozialistischen. Aber auch jenseits dessen beruhte die bürgerliche Kultur auf Differenzierung, die den weiblichen Teil der Bevölkerung zunächst von der Öffentlichkeit ausschloss. Die für die Moderne konstitutive Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatwelt setzte sich in innerfamiliärer Arbeitsteilung fort. Die bürgerliche Familie war bzw. wurde als die typische Kleinfamilie aus Elternpaar mit Kindern konzeptualisiert58, mit idealtypisch klar verteilten Rollen. Der Mann war als Er54 55 56 57 58
Hettling, M. (2000): S. 324 Vgl. Schneider, J. (2004): S. 62ff (Bauern), S. 81ff. für das Bürgertum Hettling, M. (2000): S. 323 Koenen, E. (2001): S. 76 Die Familienforschung hat gezeigt, dass diese Vorstellung ein Mythos des 20. Jahrhunderts ist, denn ihren reinsten Ausdruck fand diese Kleinfamilie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vor der einsetzenden Pluralisierung der Familienformen. Historisch ist die Kleinfamilie wesentlich älter als die Moderne, die Vorstellung von der Großfamilie ebenso ein Mythos. Vormoderne Familienformen waren eher Haushaltsgemeinschaften, in denen Familienmitglieder und Hausangestellte (Mägde, Knechte, Gesellen) mit im Haushalt wohnten. Spezifisch modern ist, dass Haushaltsmitglieder gänzlich durch Familienbande miteinander verbunden sind.
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werbsperson für die materielle Versorgung der Familie zuständig; gleichzeitig aber auch Träger der repräsentativen, kulturellen und politischen Funktion des Bürgers. Sein Reich war die öffentliche Sphäre der Arbeit, der kulturellen Diskurse und der politischen Auseinandersetzung bzw. der bürgerlichen Selbstorganisation. Der Frau oblag die emotionale Pflege des Familienklimas und Unterstützung des Mannes, die Betreuung der Kinder und die Besorgung des Haushaltes; ihr Reich war die Privatwelt. Inwieweit die Realität dieser idealtypischen Konstruktion entsprach, kann hier nicht nachgeprüft werden. In der öffentlichen Anerkennung wie der rechtlichen Stellung blieb der Mann in den meisten europäischen Ländern bis Anfang des 20. Jahrhunderts klar bevorteilt. Danach schafften es bürgerliche Frauen auf vielfältige Weise, dem engen Korsett der ihnen zugewiesenen Beschränkung auf die Privatwelt zu entkommen.59
Der bourgeois – der bürgerliche Habitus Kann man überhaupt eine über alle nationalen und konfessionellen Unterschiede einheitliche bürgerliche Lebensführung identifizieren? Bei detaillierter historischer Betrachtung natürlich nicht. Und auch nach innen werden Gemeinsamkeiten von den deutlichen Unterschieden zwischen den verschiedenen Gruppen des Mittelstandes und dem Großbürgertum eher verdeckt. Sozialstrukturell bilden bürgerliche Gruppen im 19. Jahrhundert jene Gemengelage zwischen eindeutig identifizierbaren Großgruppen von Arbeiterschaft und (adliger) Oberschicht. Was alle diese Gruppen eint, ist nur in der Betrachtung bestimmter Verhaltensund Bewusstseinsformen zu erkennen; die Einheitlichkeit liegt in der spezifischen Verbindung von Arbeit, Bildung/Qualifikation bzw. Kultiviertheit und sozialem Status. So groß die internen Differenzen in diesen Bereichen auch waren; als Set unterschieden sie jedoch die bürgerliche Schicht von den zwar arbeitenden, aber lange Zeit bildungsfernen und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehenden Arbeitern, und den überwiegend nicht-arbeitenden, stärker plutokratisch geprägten Oberschichten. Die Arbeitsorientierung war im Wirtschaftsbürgertum ausgeprägter; der Wert von Bildung, „Kultiviertheit“ (die sich durch Bildung nicht erreichen lässt) im Bildungsbürgertum höher angesehen. Die soziale und wirtschaftliche Stellung des Bürgers beruhte auf individueller Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft; neben allen Relikten vormoderner Gesellschaftsordnung fußt sozialer Status in der bürgerlichen Gesellschaft auf der Leistung des Einzelnen.60 Das war in vielen Teilen natürlich Ideologie und ist es bis heute, dennoch baut die Gesellschaftskonzeption des Liberalismus in seinen un-
Eine Ausnahme stellte immer das gehobene Bürgertum dar, welches sich Dienstpersonal leisten konnte, welches ebenfalls mit im Haushalt der Familie wohnte. Vgl. Peukert, D. (1999) 59 Vgl. Stollberger-Rilinger, B. (2000): Kap. 6 60 Hettling, M. (2000): S. 325
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terschiedlichen Spielarten bis heute darauf.61 Das Leistungsprinzip als Handlungsorientierung und Legitimationsprinzip war für eine nach-agrarische Gesellschaft passender, da Kapitalakkumulation, Reichtumsentwicklung und wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Fortschritt weniger an Landbesitz und Landwirtschaft, sondern an in Produktion und Handel zu erbringende Arbeit gebunden ist. Und wie der Adel überall dort sozial abgestiegen ist, wo er sich nicht der gewerblichen, wirtschaftlichen Betätigung öffnete (außer in Deutschland, wo er im Wilhelminischen Reich teilweise noch unter staatlicher Alimentierung und Versorgung stand), beruht der Aufstieg des Bürgertums darauf, dass es zur vornehmlichen sozialen Trägerschicht dieser in vielfältige Kausalketten verschlungenen Entwicklung wurde.62 Arbeit ist der eine Aspekt, die antizipierte und zum Bürgersein dazugehörige Rolle als bestimmende politische Kraft, der Wille zur selbstverantwortlichen Gestaltung der politisch-sozialen Verhältnisse ist der zweite Aspekt des bürgerlichen Habitus. Dieser Gestaltungswille entspringt dabei nicht dem Glauben an die Bestimmtheit zur Herrschaft, wie es für den Adel typisch ist, sondern dem sich der Welt der Arbeit verdankenden Selbstbewusstsein. Bürgerlichkeit ist also – idealtypisch betrachtet – von Individualität, Selbstverantwortung, Gestaltungsund Leistungswillen geprägt. Im Großbürgertum verband sich dies mit einer konservativen Arriviertheit, dem Drang, Erreichtes zu bewahren und lediglich für das eigene Handeln bestehende Schranken fortzureißen. Im Mittelstand und Kleinbürgertum war der nach oben strebende, dynamische Impetus noch lebendiger, denn sie strebten nach der (groß-)bürgerlichen, etablierten Lebensweise. Hier, in diesen Gruppen nisteten noch jene Motivationsstrukturen, die das Bürgertum als soziale Gruppe stark gemacht hat, ohne dass dies jemals Intention oder Programm gewesen wäre. Hier verbanden sich Handlungsmaximen mit einer sozialen Gruppe, die letztlich fähig war, diesem Habitus eine Massenbasis zu liefern. Um zu verstehen, um welche Vorstellungskomplexe es sich dabei handelt, bietet es sich an, wie Max Weber, die reine Form, den Idealtypus dieses Habitus, zu formulieren, ihn in seiner inneren Konsequenz darzustellen. Die Schwierigkeiten unterschiedlicher realhistorischer Manifestation werden damit vermieden.
61 Vgl. Döhn, L. (1998a): Liberalismus – Spannungsverhältnis von Freiheit, Gleichheit und Eigentum; Fensker/Mertens/ Reinhard/Rosen (2004): Kap 36 und 37, S. 389–403 62 In England widmete sich die Gentry frühzeitig der kapitalistischen Produktion, Handel und Gewerbe; in Frankreich verpasste der Adel die Zeichen der Zeit und ließ sich wirtschaftlich vom Bürgertum überholen. Vgl. England: Hobsbawm, E. (1995), wobei man diese Aussage für den englischen Adel auch nicht verallgemeinern kann. Vor allem der Hochadel stand als Klasse der Arbeit ebenso ablehnend gegenüber, vgl. Kofler, L. (1979): S. 193ff. für Frankreich: Mager (1980); Haupt, H.-G. (1989)
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Im Wesentlichen wird der bürgerliche Habitus auf drei, teilweise miteinander verwobene, Ursachenkomplexe zurückgeführt, die in den westlichen Ländern jeweils unterschiedlich zur Wirkung gekommen sind.63 1. die spezifische Berufsethik und methodische Lebensführung verschiedener Strömungen des asketischen Protestantismus; 2. die Kultur- und Struktur prägende Kraft der auf Geldtausch beruhenden Wirtschaft, ihrer Ausweitung und dem Entsprechungsverhältnis der darin gebundenen Rationalität und Intellektualität zu den modernen Wissenschaften und dem großstädtischen Leben, 3. die Territorialstaatsentwicklung, in der sich im Zuge der Monopolisierung der Staatsgewalt ebenfalls ein affektregulierter, auf innerpsychischen Selbstzwangmechanismen beruhender Habitus formte. 1. Es ist Max Webers berühmte These, dass jener „Geist“, der den Kapitalismus erfüllt und ihn zur alles umwälzenden sozialen Macht werden ließ, im Wesentlichen religiöse Wurzeln hat, die in den verschiedenen Spielarten des asketischen Protestantismus zu suchen sind und im städtischen Bürgertum die soziale Trägerschicht fand. Zu nennen sind in erster Linie der Calvinismus und Puritanismus, aber auch das Quäkertum, die Methodisten und Pietisten. Ihnen gemein ist eine lustfeindliche Moral und arbeitszentrierte Lebensethik. Deren Bedeutung ergibt sich aus der Frage nach den Antrieben sozialer Entwicklung. Weber vertrat den methodologischen Individualismus, d. h. die Überzeugung, dass sich Entwicklungen nicht überindividuell allein aufgrund struktureller, institutioneller Voraussetzungen über die Köpfe der Menschen hinweg vollziehen, sondern nur durch ihr Handeln, worin sich strukturelle Bedingungen und Begünstigungen hineinweben. Es muss also nach den motivationalen Bedingungen gefragt werden, die zu einem identifizierten historischen Ergebnis geführt haben.
63 Keiner der hier aufgeführten Autoren verfolgt mit seinem Werk die Absicht, die Genese des bürgerlichen Habitus aufzuklären. Weber und Simmel, aber auch Elias ging es viel allgemeiner gefasst um die Genese der okzidentalen Moderne, ihre Strukturprinzipien und in erster Linie: ihrer Kultur. Die Bezugnahme auf individuelle Habitusformen erfolgt unterschiedlich und jeweils unter beschränktem Gesichtspunkt. Weber untersucht detailliert die Prägung der bürgerlichen Lebensführung durch den asketischen Protestantismus, genauer: die Herausbildung von ethischen Maximen bürgerlicher Lebensführung; Elias verfolgt, wie sich aus der spezifischen Konkurrenzsituation des absolutistischen Systems Habitusformen ergeben haben, die für den modernen Habitus bestimmend wurden. Allerdings macht dies auch nur einen Teil des Werkes von Elias aus, ebenso wie Simmels und Webers Analysen weit über die Wirkung von Modernisierungsprozessen auf das Individuum hinausgehen. Simmel argumentiert eher psychologisch, in dem er die Wirkung des Geldes und des Großstadtlebens auf das individuelle Gefühlsleben und daraus resultierende Handeln beschreibt. Habitus ist dagegen ein sehr zeitgenössisches Konzept. Der Begriff ist nicht neu, findet sich aber kaum bei den hier genannten Autoren, sondern ist hauptsächlich durch die Arbeiten von Pierre Bourdieu zu weiter Verbreitung in der Soziologie gekommen. Vgl. Bourdieu, P. (1982), Fuchs-Heinritz/König (2005): S. 113ff.
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Die Protestantische Ethik nach Weber64 entstand im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert, einer sehr religiösen Zeit. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Lebensführung der breiten Bevölkerungsmasse religiös orientiert war. Darin eingebettet findet sich, wie in allen anderen Religionen ebenso, eine konkrete Stellungnahme zum wirtschaftlichen Handeln.65 Während alle anderen Weltreligionen inklusive Katholizismus, diesem aufgrund seiner profanen, ethisch fragwürdigen Weltlichkeit indifferent bis kritisch gegenüberstanden, formulierte der asketische Protestantismus eine Wirtschaftsethik, die dem konsequenten Wirtschaftshandeln eine sittliche und sinnhafte Grundlage gab. Diese beantwortete die Frage der individuellen Heilsgewissheit, die Frage nach der individuellen Erlösung, dem jenseitigen Schicksal. Im Katholizismus konnte dies kaum problematisch werden, da mittels Beichte und Buße jedem die Gnade Gottes offen stand. Und auch im Luthertum entstand nicht jener Antrieb zur rastlosen Berufsarbeit, auch wenn die ‚Berufsidee‘ lutherischen Ursprungs ist. Aber auch Luther sah den Menschen hilflos der Gnade Gottes überlassen, und gottgefälliges Leben bestand in der richtigen inneren Einstellung, dem unerschütterlichen Glauben an Gott. Die Welt blieb jedoch Gottes Werk und innerweltliches Handeln für individuelle Gnadenauswahl ohne Belang. Zum „Werkzeug Gottes“66 wurde der Mensch erst im asketischen Protestantismus, am reinsten im Calvinismus. Jegliche Anstaltsgnade, die Sakramente, Beichte und Buße waren verworfen, göttliche Gnade blieb der „heimliche Ratschluss Gottes“67 und nur ein Teil der Menschen waren zur Erlösung bestimmt. Dieser göttliche Ratschluss ist jedoch unergründlich, eine tiefe, unüberbrückbare Kluft klafft zwischen Gott und Welt, hinterlässt das „Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums.“68 Aus dieser Ungewissheit resultierte, Weber zufolge, eine erhebliche innere Spannung, die zur Quelle unermüdlicher Rastlosigkeit wurde und die Umgestaltung der Welt beförderte. Man konnte sich für auserwählt halten und einen festen, durch nichts zu erschütternden Glauben daran entwickeln, wo ein Nachlassen, ein Zweifel nur als Indiz der Verdammnis gesehen wurde. Daher stammen jene selbstgewissen, risikobereiten, tatkräftigen Kaufleute, Unternehmer, die die Speerspitze kapitalistischer Entwicklung bildeten. Der zweite Weg bestand im Versuch, durch rastlose Berufsarbeit den Ratschluss Gottes zu ergründen, indem Erfolg als Hinweis auf Erlösung interpretiert wurde. Im Calvinismus konnte 64 Die Literatur zur Protestantischen Ethik ist nahezu schon unübersichtlich. Max Weber selbst hat bereits einen Band Kritiken und Antikritik herausgegeben. Vgl. exemplarisch: Habermas, J. (1981), Bd. 1, S. 299–331, Schluchter, W. (1991b): Kap. 10; Schluchter, W. (1998); Lehmann, H. (1996) 65 Zum Verhältnis zwischen religiöser Ethik und der weltlichen Sphäre vgl. § 11 in Webers Religionssoziologie in Wirtschaft und Gesellschaft 66 Vgl. Weber, M. (1988e): Zwischenbetrachtung, Theorie der Stufen und Richtungen der Weltablehnung, S. 539 67 Weber, M. (1988d): Protestantische Ethik, S. 93 68 Ebd., S. 93
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die Gemeinschaft Gottes mit seinen Begnadeten „vielmehr nur so stattfinden und zum Bewusstsein kommen, dass Gott in ihnen wirkte und dass sie sich dessen bewusst wurden, dass also ihr Handeln aus dem durch Gottes Gnade gewirkten Glauben entsprang und dieser Glaube wiederum sich durch die Qualität jenes Handelns also von Gott gewollt legitimierte“69. Nicht die Arbeit an sich, nicht der Erfolg war Bedingung für Erwähltheit, sondern lediglich die Bewährung im innerweltlichen Handeln war Anzeichen der Gnadenwahl. Jedes weltliche Handeln war damit göttlich sanktioniert, die Welt stand zur Bearbeitung offen. Der spezifische Aspekt dieser protestantischen Wirtschaftsethik liegt nun nicht in der hemmungslosen und extensiven Ausbeutung der Welt oder der individuellen Arbeitskraft, also eben nicht in der schrankenlosen Beförderung des Profitstrebens, sondern in dessen rationaler Temperierung. Denn nicht Erfolg an sich, sondern Bewährung war das Ziel, gepaart mit einer innerweltlichen Askese, die den Genuss der Früchte des Erfolges verwehrte. Der Antrieb zur „klugen“ Weltbeherrschung verband sich im asketischen Protestantismus auf historisch einmalige Weise mit einer weltablehnenden zu einer innerweltlichen Askese. Im asketischen Protestantismus findet sich also zudem eine weitere Quelle spezifisch okzidentaler Rationalität. Religiöse Ideen verbanden sich beim Mittelstand mit materiellen Interessen und setzten jene Dynamik frei, die deutliche Analogien zu Maximen kapitalistischer Wirtschaft aufwies. Marx hatte die Unersättlichkeit des Kapitalismus, seine Grenzenlosigkeit und alles kommerzialisierende Tendenz als Ausdruck der Grundprinzipien, des inneren Wesens des Kapitalismus gefasst. Max Weber führte diesen Geist, psychologisch exakter, auf seine Wurzeln in der protestantischen Religion zurück. Weber hat immer betont, dass der Kapitalismus nicht auf dem Boden der Protestantischen Ethik entstand, ebenso wenig auf die den kapitalistischen Institutionen innewohnende spezifische Rationalität und Rechenhaftigkeit. Und auch Nützlichkeitsüberlegungen und Profitstreben sind nicht dem religiösen Boden entwachsen. Die Protestantische Ethik zeigt nur auf, wie die Anforderungen des Kapitalismus mittels der Kulturmacht Religion breite Verbreitung in der Bevölkerung und religiöse Legitimation erfuhren. „Mit dem Bewusstsein, in Gottes voller Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden, vermochte der bürgerliche Unternehmer, wenn er sich innerhalb der Schranken formaler Korrektheit hielt, sein sittlicher Wandel untadelig und der Gebrauch, den er von seinem Reichtum machte, kein anstößiger war, seinen Erwerbsinteressen zu folgen und sollte dies tun. Die Macht der religiösen Askese stellte ihm überdies nüchterne, gewissenhafte, ungemein arbeitsfähige und an der Arbeit als gottgewolltem Lebenszweck klebende Arbeiter zu Verfügung.“70
69 Ebd., S. 108 70 Weber, M. (1988d), Protestantische Ethik, S. 198, Hervorhebung im Original
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2. Die kulturprägende Kraft des Geldes und der Geldwirtschaft wurde besonders von Georg Simmel herausgearbeitet; seine Sicht vielfach geteilt.71 Geld wurde Medium und Voraussetzung für die Ausweitung des Handels zum kolonialen Welthandel, zur Differenzierung und Spezialisierung der Produktion, Intensivierung der Arbeitsteilung; generell ist die Umstellung von Natural- auf Geldwirtschaft die wichtigste Transformation wirtschaftlicher Strukturen. Nur auf Basis der Geldwirtschaft konnte sich der moderne Kapitalismus entwickeln. Habituell bewirkte das Geld als Interaktionsmedium die Transformation des Affekthaushaltes. Rechenhaftigkeit, Schriftlichkeit der Betriebsführung, langfristige Kalkulation, zunehmende Formalisierung und Distanzierung in den öffentlichen Verkehrsverhältnissen entsprechen diesem Habitus. Arbeitsteilung und soziale Differenzierung verlängerten die Handlungsketten und steigerten die Abhängigkeiten zwischen den Menschen. „All diese Zwänge sind Ausdruck eines tief greifenden sozialen Wandlungsschubes im Affekthaushalt mittelalterlicher Kaufleute hin zu einer beständigen Kontrolle der Trieb- und Affektimpulse.“72 In dem Maße, wie sich die Folgen des individuellen Handelns der direkten Kontrolle entziehen, aufgrund vielfältiger Interdependenzen und Abhängigkeiten, tritt Vertrauen zwischen die Interaktionspartner; stabilisiert in Institutionen. Institutionen aber können nur wirken, insofern ihr normativer Gehalt internalisiert ist, ihre Geltung in der Interaktion vorausgesetzt werden kann. Und indem die kapitalistische Wirtschaft der am intensivsten prägenden Sphäre für modernes Leben wurde, bildeten die damit verbundenen habituellen Strukturen die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. In der auf dem Medium Geld beruhenden Wirtschaft liege gleichsam eine Quelle moderner Rationalität und Lebensführung. Simmel betont die Analogie zwischen Intellektualismus und Geld. Ausdruck finde sie im Erkenntnisideal der neuen Zeit, „die Vorgänge und qualitative Bestimmtheiten der Dinge in einem System von Zahlen aufzufangen“73. Wissenschaft und Wirtschaft prägten den Zeitgeist, strukturierten Kultur und Vergesellschaftungsverhältnisse. Indem „das Leben vieler Menschen [...] von solchem Bestimmen, Abwägen, Rechnen, Reduzieren qualitativer Werte auf quantitative ausgefüllt [wird]“74, niste sich die Rationalität im modernen Habitus ein. So entwickele sich ein intellektualistischer, rationalistischer, die Emotionalität zurückstellender moderner Habitus, der gleichzeitig, folgt man Simmel, die einzig mögliche alltägliche Lebensführung 71 Simmel, G. (1999): Philosophie des Geldes, Deutschmann (1995): Geld als soziales Konstrukt. Zur Aktualität von Marx und Simmel; von Flotow (1995): Geld, Wirtschaft und Gesellschaft. Georg Simmels Philosophie des Geldes, Pohlmann, F. (1987): Individualität, Geld und Rationalität. Georg Simmel zwischen Karl Marx und Max Weber 72 Hinz, M. (2002): ZivilisationsProzess: Mythos oder Realität, Leske + Budrich Verlag, Opladen, S. 255 73 Simmel, G. (1999): S. 613 74 Ebd., S. 614
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und Einstellung in modernen Großstädten darstellt. Im komplexen Interaktionszusammenhang der modernen Stadt, ihrer Überfülle, Schnelligkeit, Reizvielfalt kann der Alltag mittels primär emotional gesteuerter und die gesamte Persönlichkeit involvierender Interaktionen nicht bewältigt werden. Nicht umsonst sehen die meisten Sozialhistoriker in der okzidentalen Stadt die Brutstätte der Moderne. Hier entwickeln sich moderne Vergesellschaftungsverhältnisse, die die Menschen zuerst als Rollenträger und nicht als Persönlichkeiten miteinander in Kontakt bringen. In der Stadt entstehe ein ausgefeiltes System von auf Ignoranz oder Toleranz beruhender Verkehrsformen, die es jedem ermöglichen sich für die übergroße Mehrzahl der ständigen Begegnungen mit anderen Menschen nicht zu interessieren, ihnen keine Bedeutung beizumessen.75 Dass dies Schattenseiten hat, das moderne Individuum sich mehr und mehr von seiner Emotionalität entfernt, es von der Komplexität, Kontingenz und Schnelligkeit der Reize überwältigt werden kann und ihm letztlich Erschöpfungs- und Entfremdungserfahrungen zugemutet werden, sieht Simmel sehr deutlich. 3. Der Einfluss der Territorialstaatsbildung auf den bürgerlichen Habitus ist in Frankreich am größten gewesen, weder die protestantische Berufsethik noch die Städte wirkten hier in der beschriebenen Weise.76 Norbert Elias konzipiert, wie sich in der Modernitätsentwicklung in Frankreich die Form der sozialen Kontrolle hin zu bürgerlichen Sozialverhältnissen ändert77. Seit dem 17. Jahrhundert gehen, vor allem in den Städten, Formen direkter sozialer Kontrolle, körperlicher Gewalt und Zwanges zugunsten internalisierter Selbstzwangmechanismen zurück. Im Zentralisationsprozess des Staates liegt die Triebkraft zur Umformung von Fremd- in Selbstzwänge, zur Zügelung des Affekthaushaltes. Konzentration des Gewaltmonopols befriedet die innergesellschaftlichen Verhältnisse, zwingt zuerst den Adel zur Aufgabe der ritterlich-selbstherrlichen Lebensweise, befriedet ihn, indem er zum Hofadel gemacht wird. Die Konkurrenz um Macht und Einfluss beim und auch gegen den Zentralherrn bleibt bestehen, wird nur nicht mehr mit Waffengewalt, sondern mittels Taktik, Intrige und Verhandlungen ausgetragen. Hier finden Kalkulationen, Rechenhaftigkeit, Affektzügelung ebenso ihre Anwendung wie in der wirtschaftlichen Sphäre; eingebettet in eine hoch formalisierte höfische Kultur distanzierter, emotionsgezügelter Sozialbeziehungen. Soziale Differenzen trugen im vormodernen Frankreich, so argumentiert Elias, nicht ökonomischen Charakter, sondern waren kulturell symbolisiert. Der ökonomisch immer stärker ins Hintertreffen gelangende Adel schützte seine sozial und politisch privilegierte Stellung durch die Selbstdarstellung höchster Kultiviertheit und Zivilisiertheit. Der Distinktionswert habitueller Aspekte formulierte die Grenze zu unteren sozialen Schichten. In dem Maße jedoch, 75 Simmel, G., (1995): Die Großstädte und das Geistesleben 76 Vgl. Münch, R., (1986b): Kultur der Moderne, Bd. 2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, S. 626; und: Haupt (1989): S. 136 77 Vgl. zum Folgenden: Elias, N. (1997): Prozess der Zivilisation, Bd. 2
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wie sich die jeweils unteren sozialen Schichten an den nächsthöheren kulturell orientieren, deren Manieren und Konventionen übernehmen oder nachahmen, diffundieren diese ursprünglich aristokratischen Habitusformen in breite Bevölkerungsschichten zunächst des Bürgertums und prägten dessen Habitus nationalstaatsspezifisch aus.
Der citoyen – der politische Bürger Neben Besitz und Bildung gehört eine spezifische politische Ordnungsvorstellung unbedingt zum bürgerlichen Habitus dazu. In Abhängigkeit von ihrer wirtschaftlichen Stärke drängten bürgerliche Schichten kraft ihres der individuellen Leistungsfähigkeit und Gebildetheit entspringenden Selbstbewusstseins nach politischer Macht und sozialem Prestige. Die bürgerlichen Revolutionen sind Ausdruck davon. In den mittelalterlichen Städten war für kurze Zeit wirtschaftliche Freiheit bereits mit politischer Macht verbunden. Der Anspruch gesellschaftlicher Gestaltungsmacht liegt darin ebenso begründet wie in der aristotelischen Vorstellung einer politischen Vergemeinschaftung der Menschen. Mit der Kritik der politischen Lehre des Aristoteles78 durch die Vertrags- und Naturrechtstheoretiker des 17. Jahrhunderts (Hobbes, Hume, Locke) wird dieser Anspruch theoretisch neu begründet.79 Die Vorstellung der Gesellschaft als politischer Verband freier Bürger wird zugunsten der marktgesellschaftlichen Grundlegung aufgegeben. Aber erst Smith und Ferguson sehen den Menschen ausschließlich durch wirtschaftliche Verflechtungen und Abhängigkeiten vergesellschaftet. Zivilgesellschaft (civil society) wird als Wirtschafts- und Eigentumsordnung begriffen, die den Menschen zu einem sich selbst regulierenden Ganzen zusammenschließt.80 Der Staat, der politische Bürger wird hierbei nahezu überflüssig, Interessenausgleich, Interessenartikulation und -verwirklichung finden im vorstaatlichen Bereich bürgerlicher Selbstorganisation statt. Die anglo-amerikanischen Staatskonzeptionen stehen bis heute in dieser Tradition. Mit Hegel wurde in Deutschland anderen Sichtweisen der Weg geebnet.81 Marx’ Kritik an der bürgerlichen Marktordnung vorwegnehmend, sah er deutlich, 78 Vgl. Fenske, H./Mertens, D./Reinhard, W./Rosen, K. (Hrsg.), (1996): Geschichte der politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main, Kap. 7 79 Vgl. zur frühneuzeitlichen Staats- und Gesellschaftstheorie: Schwan, A., (1993): Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung, in: Lieber, H J. (Hrsg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 80 Kneer, G. 1997): Zivilgesellschaft, in: Kneer, G./Nassehi, A./Schroer, M. (Hrsg.): (1997), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, Wilhelm Fink Verlag, München UTB, S. 230f. 81 Ottmann, H. (2001): Georg Friedrich Wilhelm Hegel. In: Maier, H./Denzer, H. (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens, Bd. 2 Von Locke bis Max Weber, Verlag C. H. Beck, München, S. 131–144
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dass diese eben nicht die angestrebte harmonische Gesellschaftsordnung zur Folge haben werde, und stellt dem Markt daher den Staat als Verkörperung höchster Vernunft und Sittlichkeit kompensatorisch gegenüber. Der Staat garantiert für Hegel die Stabilität der sozialen Ordnung – und steht damit nicht-staatlichen Vergesellschaftungsverhältnissen als Obrigkeitsstaat gegenüber, wie sich dies auch in der Geschichte der deutschen Staaten in Folge der Restauration nach 1815 zeigte.82 Hinter Wirtschaft und Staat und als Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft zielte Hegel jedoch auf einen umfassenden Begriff der Sittlichkeit. In der Sittlichkeit werden die Freiheiten der modernen Gegenwartsgesellschaft positiv aufgenommen und gleichzeitig im Horizont des „Vernünftigen“, der Gemeinwohlorientierung und Gemeinschaftlichkeit begrenzt. Interessanterweise und für diesen Zusammenhang von Bedeutung sieht Hegel diese Eigenschaften nicht im „Wesen“ des Bürgers selbst begründet.83 Allein der Staat – als vernünftige Verkörperung der Sittlichkeit – hat die Macht, „dass der Privatbürger der bürgerlichen Gesellschaft sich bereits im Gesellschaftsleben versittlicht und nach Hegel kommt der Bildung, der Religion und den ‚Korporationen‘ die Aufgabe zu, den Privatbürger zum Staatsbürger zu präformieren.“84 Nur so ist zu verstehen, dass Hegel in der Vorrede zur Rechtsphilosophie sagen kann: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig“85. Offensichtlich ist jedoch die starke Stellung des Staates in Hegels Denken und die eindeutige Präferenz für den Bürger als citoyen, als Staatsbürger in Abgrenzung zum (wirtschaftlich agierenden) Privatbürger. Die Differenz zwischen Staat und Gesellschaft, citoyen und bourgeois etablierte sich so im deutschen Sprachgebrauch. Und auch wenn in Deutschland bis heute Bedeutung und Umfang des Staates wesentlich größer ist als in anderen westlichen Ländern, weisen die staatsfreien Bereiche ein dichtes Netz bürgerlicher Vereine, Assoziationen auf – ausgehend von der Aufklärung zunächst im kulturellen Bereich als Lese- und Diskurszirkel, als assoziiertes Publikum, später als Rezipient und Trägergruppen unterschiedlichster Tätigkeits- und Kulturbereiche.86 Die Beispiele sind reichhaltig: Gartenbaukultur, die Sportkultur, Jugendund Gesundheitsbewegung u. v. a. m. Alle sind genuine Bereiche bürgerlichen Denkens und Handelns, alle Ausdruck spezifisch bürgerlicher Dynamik und Rastlosigkeit. Politisch ist dies in dem Sinne, dass hier weite Bereiche individuel82 Obrigkeitsstaatlichkeit im Sinne polizeilicher Zensur, Einschränkung freier politischer, publizistischer Betätigung verhinderte die Ausbildung einer kritischen bürgerlichen, aber staatstragenden Öffentlichkeit. Wesentliche Kreise des Bürgertums stellten sich mit den Forderungen nach demokratischen und politischen Freiheitsrechten gegen die Staatlichkeit. 83 Zum Idealtypus des Bürgers vgl. Hettling, M. (2000): Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System. In: Lundgreen, P. (2000): hier S. 324ff. 84 Ottmann, H. (2001): S. 141 85 Ebd., S. 139 86 Schulz, A. (2005): S. 11ff., Dülmen, R. von (1994): S. 226ff.
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ler Lebensführung weder staatlich noch kulturell strikt normiert sind und daher subjektiver Entscheidung, Begründung und Ausgestaltung offen stehen und sich daraus eben auch soziale Institutionen und Strukturen formen. Genuin politisch bleibt der Bürger in den Kommunen, sofern sie Elemente der Selbstverwaltung beinhalten, und natürlich als Staats- und Nationalbürger. Bei beschränktem passivem und aktivem Wahlrecht erschöpfte sich politisches Engagement in erster Linie in der Publikumsrolle, im Zeitung lesenden, diskutierenden, politisch interessierten Bürger. Gleiches und allgemeines Wahlrecht ist in modernen Gesellschaften eine späte Errungenschaft. Es entspricht aber dem Ideal und der inneren Logik bürgerlicher Kultur und dem Selbstanspruch, auch wenn es die oberen Gruppen des Bürgertums selbst waren, die heftigen Widerstand gegen die Universalisierung bürgerlicher Freiheiten und Rechte leisteten.
Das Individuum der Moderne Es bedarf eigentlich keiner besonderen Betonung, dass Individualisierung und Modernität eng zusammen gehören. Im Bürger selbst steht das Individuum, die Person (und weniger der Mensch an sich) im Schnittpunkt sozialer Strukturen, ist selbst, und kein Kollektiv (Familie, Religionsgemeinschaft) Integrationsort differenzierter kultureller Sphären. Das Individuum ist die kleinste Reproduktionseinheit des Sozialen.87 Die Zusammenfügung divergierender Inklusionsimperative in subjektiver Lebensorganisation, die Aneignung jenes abstrakten, wissensbasierten Weltbildes, welches Orientierung, Handlungsfähigkeit in dieser komplexen und kontingenten sozialen Umwelt möglich macht, ist dem Individuum zur Aufgabe gestellt.
Rationalisierung der Weltbilder Modernisierung transformierte durch Urbanisierung die feudale Sozialstruktur, traditionelle (agrarische) Vergemeinschaftungsformen zerbrachen, mussten für moderne Verhältnisse neu hergestellt werden. Mit der alten Sozialordnung verschwand die darauf sich gründende Lebenswelt mit ihren fraglos geltenden Maßstäben des Richtigen, Angemessenen, des Guten und des Wahren. In einer idealtypischen Gegenüberstellung waren diese verschiedenen Aspekte im vormodernen religiös-traditionalistischen Weltbild noch zu einer Einheit verschmolzen. Erst Säkularisierungsprozesse, die Emanzipation wissenschaftlichen und bürgerlichen Denkens von der christlichen Religion haben diese Einheit gesprengt. Habermas bezeichnet diesen Prozess im Anschluss an Weber als „Rationalisierung der Lebenswelt“. Die in religiösen und metaphysischen Weltbildern ausgedrückte substantielle Vernunft tritt in die drei Momente der kognitiv-instrumentellen 87 Bauer, F. J. (2004): Das „lange“ 19. Jahrhundert, Reclam Verlag, Leipzig, S. 30
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Vernunft (Wissenschaft), der moralisch-evaluativen Vernunft (Moral) und der ästhetisch-expressiven Vernunft (Kunst) auseinander88, die Wertsphären verselbständigen sich (zusammengehalten nur durch das gemeinsame Prinzip formaler, argumentativer Begründung), stellen sich auf die autonome Bearbeitung ihres Gegenstandsbereiches um. Einerseits bedeutet dies kulturelle Differenzierung, da sich neue, spezifische Expertenrollen ausbilden – institutionalisiert jeweils in den wissenschaftlichen Teildisziplinen. Andererseits und viel entscheidender bewirkt dieser Prozess die Transformation der Geltungsregel von Weltbildstrukturen und Inhalten, weg vom Glauben, hin zum Wissen. Aus normativer Sicht sieht Habermas darin einen kollektiven Lerneffekt und Wissenszuwachs der Moderne. Säkularisierung richtet sich dabei weniger gegen die Inhalte religiös-metaphy-sischer Weltbilder, sondern gegen deren Axiome. Diese Grundbegriffe einer Weltauslegung werden beim Übergang zu einer höheren Stufe „kategorial entwertet. Nicht dieser oder jener Grund überzeugt nicht mehr, die Art der Gründe ist es, die nicht mehr überzeugt“89. Mit dem Glauben wird aber prinzipiell die Chance auf Gewissheit, auf Stabilität mit über Bord geworfen. Die Relativität moderner Wertordnungen und Ansichten beruht nicht allein auf kultureller Differenzierung, vielmehr mindestens ebenso auf der diskursiven Verflüssigung traditionaler Weltbildinhalte.90 Weltansichten, Geschmacks- und Stilfragen und Ethik wurden unter anderem Inhalt der bürgerlichen Diskurskultur, die sich, wie oben beschrieben, in reichhaltigen (populär-) wissenschaftlichen und literarischen Druckerzeugnissen niederschlug. Dass Gewissheit hier verloren geht, ist nur prinzipieller Natur. Auch das Weltbild selbst wird von der Illusion der Sicherheit und Stabilität gesicherten Wissens genährt, um jedoch immer wieder selbst Grenzen des verlässlichen Wissens neu und enger zu ziehen. Das ist nicht einmal kritisch zu sehen, denn es entspricht der wissenschaftlichen Logik und Methodik, Wissen nur unter Vorbehalt zu akzeptieren. Der lebensweltliche Alltag ist natürlich von den wissenschaftlichen Expertendiskursen weit entfernt; dennoch diffundiert dieses Wissen mit zeitlicher Verzögerung in lebensweltliches (Alltags-)Wissen. Orientierung, Lebensbewältigung ist für das moderne Subjekt prinzipiell prekär. Selbst wenn man die Auflösungsthese nicht dramatisiert, bleibt der Fakt, dass die moderne Kultur des Okzidents keine der Sakralität und Stabilität religiös-metaphysischer Weltbilder vergleichbare neue Ordnung hervorgebracht hat.91 Die weltliche Ordnung sollte ohne 88 Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, Bd. 1: S. 234 89 Ebd., S. 104 90 Vgl. Berger, J., (1986): Die Versprachlichung des Sakralen und die Entsprachlichung der Ökonomie, in: Honneth/Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln, Suhrkamp Frankfurt/Main 91 Für Max Weber ist die entscheidende Herausforderung der modernen Kultur an den modernen Menschen, ohne schützendes Weltbild (religiöses, mystisches etc.) auszukommen. Vgl. Weber (1988f): 612. Simmel hat den gleichen Aspekt im Blick,
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transzendentale Letztbegründung auskommen und den Menschen in „transzendentaler Obdachlosigkeit“ sich selbst überlassen. Mit dem die Modernisierung überhöhenden Fortschrittsglauben, typisch für die bürgerliche Gesellschaft seit der Aufklärung, schien eine Ersatzreligion gefunden zu sein. Doch bereits um die Jahrhundertwende mischte sich erhebliche Skepsis in diese sorglose Sicht, zeigten sich negative Folgen der Modernisierung; etablierte sich Fortschritts- und Kulturkritik als dialektischer Gegenpol zum Modernisierungsprinzip fortschreitender Technisierung und Verwissenschaftlichung.
Individualisierung und Vergemeinschaftung Inklusion über Rollenmuster in die objektiven Ordnungen der Gesellschaften hinterlässt eine Lücke, ist so formal wie die Funktionsimperative. Individuelle, emotionale Potentiale werden in aller Regel ausgegrenzt. Identität kann nur jenseits von Rollenmustern, überhaupt nur jenseits von Gesellschaftsbezügen als deren Synthese konstruiert werden. Im Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften ist Identität in der Moderne zum Problem geworden.92 Früher naturwüchsiges Produkt unreflektierter Sozialisation in lokalen Gemeinschaften, wird Identität mit deren Zerbrechen, mit der Herauslösung der Individuen aus diesen Gemeinschaftsbezügen zur individuellen Aufgabe. Auch nach dem Ende der feudal-ständischen Gesellschaftsordnung ließ sich die moderne Bevölkerung zu Großgruppen zusammenfassen. Gleiche Lebenslage, Arbeitsweise und kulturelle Prägung definierten Großmilieus. Sie restaurierten den aus der Vormoderne vertrauten ganzheitlichen Lebenszusammenhang, indem sie den Individuen milieu-spezifische, aber umfassende Orientierungs- und Erklärungsmuster lieferten. Das katholische und das protestantische Milieu im Wilhelminischen Kaiserreich sind die besten Beispiele dafür, wie aus der Stellung in der Gesellschaft eine holistische Weltanschauung wird. Allerdings, und das führt direkt in das Problem hinein, konnten die (protestantischen) bürgerlichen Kreise keine ähnliche stabile Miwenn er die Überforderung des modernen Individuums von der Überfülle der objektiven Kultur und die „wertnivellierende“ Wirkung des Geldes beschreibt, vgl. Simmel, G. (1996), (1999): Kap. 6 Die Analyse der Rationalisierung der Weltbilder, den Verlust ihrer Ganzheitlichkeit analysiert auch Habermas (1981) in seiner Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Teil II, S. 225ff. Allerdings unternimmt Habermas den Versuch, die Essenz, die unbestreitbare Gültigkeit von Wahrheitsansprüchen, auch die von ästhetischen und normativen Ansprüchen im Modus von Sprache und Kommunikation zu retten. Zur vollen Durchsetzung (und Übertreibung) der Relativität von Weltbildern, Wertordnungen, Lebensstilen, Religionen und Moralvorstellungen ist es im Heraufkommen des Diskurses der Postmoderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gekommen, vgl. Eikelpasch, R. (1997). 92 Keupp. H. et. al. (1999): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, S. 71
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lieuumwelt aufbauen, nistete sich hier die Pluralität und Relativität moderner Identität ein; verschwand Kohärenz und Konsistenz zwischen der Vielzahl der Möglichkeiten. Wie in der Anwendung des radikalen Descartes’schen Zweifels, wird hier erkannt, dass es außerhalb des Ichs nichts Stabiles, keinen Halt gibt. Die Ordnung der Welt und das Maß der Dinge zerfällt zur Beliebigkeit – dies zusammenfügen ist dem Individuum als Aufgabe überlassen. „Aus den verblassenden sozialen Vorgaben schält sich, verletzt und zaghaft, voller Fragen, das nackte, verängstigte, aggressive, Liebe und Hilfe suchende Ich heraus. In der Suche nach sich selbst und einer zärtlichen Sozietät verläuft es sich leicht im Urwald des eigenen Selbst [...] Wer im Nebel des eigenen Selbst herumstochert, ist nicht mehr in der Lage zu bemerken, dass diese ‚Einzel-Ich-Haft‘ Massenschicksal ist“93. In ihrem Kern ist hier die Individualisierungsthese formuliert worden94, die, oft missinterpretiert, nicht die Ausweitung von Individualität in modernen Gesellschaften beschreibt, sondern die Zuschreibung und Externalisierung von Identitätsbildung, Integration und Lebensführung auf die Entscheidungskompetenz des Individuums, d.h. die Institutionalisierung von vielfältigen Entscheidungszwängen. Vor allem Beck übersah in seiner Auflösungsrhetorik neue Formen der Vergemeinschaftung, die entlastend auf Identitätsbildung und alltägliche Lebensführung wirken.95 Identitätsbildung kann von Vergemeinschaftung nicht unabhängig gedacht werden. Identität entsteht in der Interaktion mit signifikanten anderen, wird also von anderen gestützt. Zwei der wichtigsten Pfeiler sind die soziale Anerkennung, die durch das Entwerfen einer Identität erreicht werden soll; und zweitens das Gefühl von Kohärenz, als Erleben eines inneren Zusammenhanges über verschiedene Zeiten und Situationen hinweg.96 Sie beruht zunächst nur sekundär auf Verstandesleistungen, ist in erster Linie Ergebnis der Prägewirkung primärer Sozialisationsprozesse im Kindesalter. Identität ist Ausdruck milieuspezifischer Lebensweltausschnitte, beruht auf latenten Wissensstrukturen, die moralisch-ethi-
93 Beck, U. (1991): Der Konflikt der zwei Modernen, S. 36f. 94 Beck, U. (1986): Risikogesellschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main: Kap. III; Beck/Beck-Gernsheim (1994): Individualisierung, in: dies. (Hrsg.), Riskante Freiheiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main. Individualisierung ist eines der Grundprinzipien der Moderne und findet sich insbesondere bereits im Werk von Georg Simmel (Das individuelle Gesetz, Philosphie des Geldes, Das Problem des Stils). Die Individualisierungsdebatte selbst ist allerdings neueren Datums. Entstanden in den 80er-Jahren, als einigen Sozialstrukturforschern und Kultursoziologen klar wurde, dass die Stabilität bürgerlicher Gesellschaftsordnung der deutschen Nachkriegszeit nur noch eine Schimäre darstellte. Ulrich Beck, Anthony Giddens und andere entwickelten daraufhin die Vorstellung von einer neuen Epoche der Moderne, die „Zweite Moderne“, in der das Individuum überwiegend auf sich selbst gestellt ist. Vgl. kritisch dazu: Münch, R. (2002) 95 Vgl. Vester, M./von Oertzen, R. et. al (2001): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, S. 78ff. 96 Keupp, H. u. a. (1999): Identitätskonstruktionen, S. 78
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sche, ästhetische und kognitive Orientierungsrahmen vorgeben, die in der Regel nicht hinterfragt werden. Sie bilden die Gesamtheit all dessen, was für selbstverständlich gehalten wird. Auf dieser Grundlage bilden sich feste Weltanschauungen, die jeweils mit bestimmten sozioökonomischen Lagen verbunden sind. Die ökonomische Situation einer Familie hat großen Einfluss auf den Umgang mit Kindern und wirkt sich besonders auf die Freiräume aus, die ihnen gewährt werden können. Die soziokulturellen Umwälzungen der letzten vierzig Jahre, die Etablierung einer eigenständigen, sich bis heute zur Massenkultur ausgeweiteten Jugendkultur in den 60er-Jahren, die vielfältigen Lebensstilinnovationen, Trends und Moden im ästhetischen Geschmack, den Geselligkeits- und Familienformen; kurz die bunte Vielfalt der Postmoderne97 in den 70er- und 80erJahren ist ohne den beträchtlichen Wohlstandszuwachs für breite Bevölkerungskreise, entsprechend der Ausweitung von Mittelschichtslagen, nicht zu denken.98 Die moderne Kultur weist seit den 60er-Jahren in allen westlichen Ländern eine neue Dynamik fortschreitender Differenzierung und Pluralisierung auf. Damit wird jenes scheinbar stabile Wertekorsett der Industriegesellschaft zerbrochen, das sich als kulturelles Pendant zu den ebenfalls Jahrzehnte prägenden industriellen Wirtschaftsstrukturen (d. h. mit standardisierter, arbeitsintensiver Massenproduktion) etabliert hatte und im Nachhinein als „Erste“ (Beck) oder „schwere“99 (Baumann) Moderne bezeichnet wird. Der Bevölkerungsmehrheit stellte diese Stabilitätsphase der Moderne verschiedene Identitätsgehäuse zur Verfügung, die jedoch ihre Passformen für die aktuelle Lebensbewältigung verloren haben.100 Dies kann als Befreiung gefeiert, als Anonymisierung und Anomisierung beklagt werden, ist jedoch Realität. Mit dem Ende der „großen Metaerzählungen“ und der Differenzierung sozialer Lebenslagen als Folge ökonomischen Strukturwandels und sozialer Mobilitätsprozesse schwand die Integrationsund Sozialisationskraft schichttypischer Weltanschauungen, separierten sich innerhalb des Schichtgefüges mehrere deutlich voneinander abgrenzbare soziale Milieus. Sie sind der Ort neuer Vergemeinschaftungen, die auf Ähnlichkeiten in ästhetisch-moralischen Präferenzen, persönlichen Interessen und Weltanschauungen, kurz: ähnlichen Lebensstilen beruhen.101 Aber, und hier liegt die Beson97 Auch der Begriff „Postmoderne“ kennzeichnet das Bewusstwerden des Unterschieds zwischen der Gegenwart und den ersten Nachkriegsjahren und markiert jenen oben schon angesprochenen Epochenbruch. Zum Überblick: Eickelpasch (1997). Interessanterweise ist seit Ende der 90er-Jahre die sozialwissenschaftliche Karriere dieses Begriffes scheinbar vorbei; hat sich die Verabschiedung der Moderne als vorschnell erwiesen. Vgl. Münch (1986): Bd. 1: S. 12ff. 98 von Beck als „Fahrstuhleffekt bezeichnet, vgl. Beck, U. (1986): Kap. III 99 Bauman, Z. (2003), Flüchtige Moderne, S. 136 100 Keupp, H. u. a. (1999): S. 55 101 Michailow, M., (1994): Lebensstilsemantik. Soziale Ungleichheit und Formationsbildung in der Kulturgesellschaft, in: Mörth, I./Fröhlich, G: (Hrsg.), Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie Pierre Bourdieus, Campus Verlag, Frankfurt/Main, New York 1994
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derheit, im Übergang von sozialisatorischer Milieuprägung im Elternhaus zur individuellen Einordnung als Erwachsener in die Gesellschaft können Brüche auftreten. Ausgehend von dem weithin spürbaren Bruch zwischen den Generationen in den späten 60er-Jahren, hat bisher jede neue Generation neue Milieutypen hervorgebracht, als Ausdruck und Verarbeitung spezifischer Sozialisationserfahrungen.102 Da ökonomische Verhältnisse höhere Stabilität und Kontinuität aufweisen, ist diese Pluralisierung ein in erster Linie autonom kultureller Prozess, konstituieren kulturelle Differenzen soziale Gemeinschaften. Der Verlust bzw. die Emanzipation von der Lebenswelt des Herkunftsmilieus wird durch die Assoziierung anhand kultureller Ähnlichkeiten ausgeglichen. „Verluste an sozialer Integration (in Folge reflexiver Modernisierung) sollen mit Hilfe der Sinnstiftungsinstanz Kultur restituiert werden.“103 Individualisierung, spätestens seit den 80er-Jahren Massenphänomen geworden, führt also zur Wiedervergemeinschaftung. Nur empirisch ist die Frage zu klären, wie stark die Milieumobilität ist. Neben lebenspraktischen und kulturellen Innovationen reproduzieren sich nach wie vor auch traditionelle bürgerliche oder ländliche Muster der Lebensführung, jedoch – sie haben ihre Selbstverständlichkeit, ihre Verbindlichkeit verloren. Es sind hergestellte und weniger natürlich gewachsene Gemeinschaftsbeziehungen. Sie beruhen überwiegend auf individuellen Entscheidungen, auf kollektiven Aushandlungsprozessen über die Art und Weise des richtigen Lebens, und sinken nicht immer in die latenten, Sicherheit gebenden lebensweltlichen Strukturen hinab. Sie sind teilweise lebensphasenspezifisch und generell durch Persönlichkeitsveränderungen von fragiler Existenz.104 Lebensstilgemeinschaften beruhen auf individuellen Identitätskonstruktionen, bilden für diese das soziale Netz, in dem sie Bestätigung und Anerkennung erfahren, sind dennoch nur begrenzt verlässliche Stütze für Identitätsentwürfe. Identität bleibt damit, prinzipiell zumindest, Projekt, dauerhafte Aufgabe. Sie kann kaum in kollektive Identitätsmuster eingearbeitet werden, sondern muss fortwährend individuell als kohärente Erzählung konstruiert und fortgeschrieben werden.105 Sie staffiert sich mit Konsumgütern aus, symbolisiert sich in Produkten objektiver Kultur, in Stilen und Moden, in der Narration von Erlebnisweisen. Die Schwierigkeit besteht darin, angesichts der Fülle von Optionen eine Auswahl zu 102 Dies ergibt sich aus der Altersstruktur der verschiedenen sozialen Milieus. Vgl. Vester, M./von Oertzen, R. et. al. (2001): S. 37–43 103 Michailow, M. (1994) 104 Baumann, Z. (2003): S. 49 105 In der aktuellen Diskussion um den Identitätsbegriff dominiert dessen dekonstruktivistische Auflösung. Die Annahme einer festen Identität wurde zugunsten der Erkenntnis aufgegeben, dass sich Identität, Individualität auch aus subjektiver Sicht nicht umfassend beschreiben lassen; Narrationen nur jeweils partielle Ausschnitte aktualisieren. Identität entgrenzt sich damit in die Multiperspektivität. Vgl. Keupp, H. u. a. (1999): Kap. 4; Straub, J. (2004)
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treffen; zu inneren Maßstäben zu finden, mit denen Welt, Mitmenschen, Konsumgüter und Erlebnisangebote beurteilt werden können. Nur empirisch ist zu klären, wann und in welchem Ausmaß dies gelingt. Moderne Identitätsarbeit beinhaltet immer das Risiko des Scheiterns, deren Folge Identitätsdiffusion, Anomiesymptome und Erfahrungen sozialer Desintegration sein können.
Die Kritik der Moderne Moderne Gesellschaften stellen aus vielerlei Perspektiven die höchsten Entwicklungsstufen menschlicher Lebensweise dar. Zu keiner anderen Zeit war die Beherrschbarkeit der natürlichen Umwelt, die technologieintensive Entlastung menschlicher Subsistenzsicherung so umfangreich, die alltägliche Lebensführung so sehr von Mühe und Not entlastet und mit vielerlei Vergnügungen und Erfreulichkeiten gespickt. Das Wohlstandsniveau moderner Gesellschaften ist ebenso historisch einmalig wie ihre kulturelle Differenzierung und Rationalität; die geistige Durchdringung des Menschseins; die Erkenntnis der Welt. Ebenso einmalig ist die politisch-gesellschaftliche Verfassung, eine auf internalisierten normativen Mustern beruhende politische Kultur, die weitestgehend auf physischen Zwang zur Machtdurchsetzung verzichtet. In keiner anderen Gesellschaftsformation ist die soziale Kontrolle so informalisiert, latent; ist Freiheit für alle in diesem Umfang erreicht und möglich geworden. So weit das Loblied. Natürlich sind alle Fortschritte rein relativer Natur. Besonders für die Wissenschaften gilt, dass jede gefüllte Wissenslücke, jeder Quantensprung neue Dimensionen des Nichtwissens eröffnet. Worauf enorme Leistungsfähigkeit und kulturelles Niveau der Moderne beruhen, habe ich versucht in diesem Kapitel deutlich zu machen. Zum einen auf den vielfältigen Ausprägungen okzidentaler Rationalität, die es ermöglichten, in vielen Bereichen die Grenzen des Möglichen, der Effizienz immer weiter vorzuschieben; zum anderen die motivationalen Grundlagen, die im spezifisch bürgerlichen Habitus zu suchen sind; in seiner der Protestantischen Ethik entstammenden Rastlosigkeit und Strebsamkeit; in dem im Fortschrittsdenken verwurzelten Glauben der fortwährenden Verbesserung der Lebensbedingungen; dem Selbstwert, der Wissen und Bildung zugeschrieben wird. Ausgespart wurden bisher die negativen Effekte der Modernisierung, die auch die Forschung benennt. Die Moderne trägt ein Janusgesicht. Jene Faktoren, die Gesicht und Gestalt der Moderne im positiven Sinn prägen, Rationalität, Formalität und zweckrationales Handeln, bereiteten ebenso den Weg zu ökologischen und gesellschaftlichen Katastrophen. Die bürgerliche Gesellschaft als normatives Konzept galt als Versprechen für soziale Aufwärtsentwicklung, der Fortschrittsglaube als Verheißung einer besseren, freieren Welt. Sie verfing sich bis heute im Widerspruch aus normativer Geltung und tatsächlicher Realisierung
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der Grundwerte der bürgerlichen Moderne, bezieht aus dieser Dialektik allerdings auch ihre bis heute nicht zur Ruhe kommende Dynamik.
Moderne und Bürgerlichkeit als Programm und Ideologie In der Moderne verbindet sich die Emanzipation des Individuums von allen autoritären Fremdbestimmungen mit dem Streben nach Erkenntnis, Beherrschung und Nutzbarmachung der Welt. Beide Aspekte finden sich bereits in der griechischen Philosophie und sind in Renaissance und Humanismus neu belebt und entfaltet worden. Ihre die mittelalterlich-christliche Kultur zersetzenden Inhalte und Prinzipien konnten nicht wieder beherrscht werden. Die Büchse der Pandora war geöffnet und der Geist von Rationalität, Vernunft und Individualismus in die Welt entlassen. Vom Bürgertum der Frühen Neuzeit begierig aufgenommen und fortentwickelt, bewirkten diese kulturellen Grundlagen ein ökonomisches und soziales Erstarken. Wissenschaft, Rationalität, Arbeit und Kultur umreißen die Lebensweise und den Horizont des Dritten Standes. Habermas hat die Moderne nachträglich als Projekt beschrieben, das darin bestehe, „die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen Grundlagen von Moral und Recht und die autonome Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln, aber gleichzeitig auch die kognitiven Potentiale, die sich so ansammeln, aus ihren esoterischen Hochformen zu entbinden und für die Praxis, d.h. für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nützen“106. Die Moderne begann mit dem Versprechen, gesellschaftliche Verhältnisse nach wissenschaftlichen, vernünftigen Prinzipien zum Wohle aller zu gestalten. Dies zeigte sich auch in der Ausweitung des Bürgerbegriffs in der deutschen Aufklärung. Das Menschenkonzept des Humanismus aufgreifend, ihn auf den Boden einer neuen Sittlichkeit stellend, die den Menschen von Natur aus nicht als sündig und schuldig, sondern das Gute in sich zur Entfaltung bringend ansah, verschwanden in dieser Konzeption alle ständischen Unterschiede. Der aufgeklärte Bürger wurde zum Kosmopolit: „Weltbürger zu sein hieß für die Aufklärer einmal, ihre intellektuelle Identität nicht mehr aus dem ständischen Bewusstsein, der Kirchlichkeit oder der Staatszugehörigkeit zu beziehen, sie verstanden sich primär [...] als Vertreter einer neuen aufgeklärten Weltordnung, ohne damit die traditionelle Welt in eigener Person zu überschreiten. Zum anderen hieß Kosmopolit sein, der Menschheit verpflichtet zu sein und der Herrschaft von Vernunft, Toleranz und Moral zu dienen, die allerdings auch an Ort und Stelle zu realisieren war.“107 Dieser unbeschwerte Optimismus und Egalitarismus beruhte auf der Selbstdeutung der Aufklärer als Angehörige einer Art Gelehrtenrepublik, 106 Habermas, (1990): Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, S. 42 107 Dülmen, R. von (1994): S. 225
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einer Gemeinschaft aufgeklärter und kultivierter Bürger. Die sich darin verbergenden bürgerlichen Gleichheit- und Freiheitsrechte wurden aber, trotz dieser Gedanken, nicht in Deutschland, sondern in England, Amerika und Frankreich formuliert und zum politischen Programm erhoben. Für die deutschen Aufklärer war es, bei allen guten Absichten, nur Rhetorik. „Für die Abschaffung des absolutistischen Staates, für die Trennung von Staat und Kirche und für die volle bürgerliche Gleichheit plädierte hier kaum jemand.“ 108 Radikal waren die Aufklärer nur im Denken. In Frankreich mit vielen Rückschritten im Wechselspiel von Revolutionen und Reaktionen, in England sukzessive und in Amerika prinzipiell und vollständig von Beginn an, bildeten die Menschenrechte die Grundlage der modernen Gesellschaft. Bourgeois und citoyen verschmolzen zum Citizen, zum Staatsbürger; die politisch-rechtliche Inklusion in den modernen Staat war generalisiert, formalisiert und unabhängig von ökonomischen Verhältnissen.109 Allerdings entkoppelte sich im gleichen Zuge die politische von der gesellschaftlichen Integration. Erstere war zwar nicht nur rein formal, allerdings bildete sich auf dieser politischen Assoziation freier Bürger keine allumfassende Gemeinschaft, sondern reproduzierten sich ständische, die Stellung im ökonomischen System widerspiegelnde soziale Großgruppen, meist als Klassen bezeichnet. Die jeweilige Zugehörigkeit zu ihnen determinierte Lebens- und Teilhabechancen. Denn lange Zeit (und vielleicht sogar bis heute) repräsentierte die hegemoniale, dominante öffentliche Kultur nicht die differenzierte Zusammensetzung der Gesellschaft, sondern die Alltagskultur der herrschenden Klasse oder Schicht, denn wie Marx es formulierte: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“110 Konnte das Zugestehen politischer Rechte auch an nicht-bürgerliche Schichten nicht verhindert werden, und erwies es sich aus ökonomischer Sicht sogar als funktional, so blieb die Exklusivität der bürgerlichen Kreise durch soziale Ausschließungsprozesse gewahrt. Politisch-rechtliche Gleichheit wurde von Distinktion überlagert, ökonomisch evozierte Ungleichheiten wurden als Unterschiede in Bildung und Kultiviertheit umgedeutet, damit verdeckt und legitimiert. Obwohl also der ideologische Charakter der bürgerlichen Ansprüche auf Allgemeinheit sichtbar gemacht wurde, behielt die Verwendung des Begriffs Bürgerlichkeit oder Bürgertum seine idealisierte Konnotation; wirkte dessen immanentes emanzipativ-aufklärerisches Programm fort. Bürgerlichkeit stand den nicht-bürger108 Ebd., S. 220 109 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs galt dies eigentlich für alle modernen Gesellschaften, nachdem die Entwicklung bis dahin höchst differenziert verlaufen war. Für Deutschland ist es bezeichnend, dass die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft, vor allem die Initialisierung der Revolution von 1848 stärker auf äußere Einflüsse, vor allem die französischen revolutionären Prozesse zurückgeht, als auf die intellektuelle und künstlerische Wirkung deutscher Philosophen, Gelehrter, Schriftsteller und Künstler. 110 Marx/Engels (1986): Das Manifest der kommunistischen Partei
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lichen Schichten als Ideal vor Augen, das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft fungierte als Modus sozialer Integration, auch und weil die im bürgerlichen Ideal gedachte gesellschaftliche Harmonie auf die Zukunft verlagert wurde: „Bürger sein, bedeutet Bürger zu werden.“111 Bis heute hat sich dieser utopische Gehalt, die Vorstellung, dass alle Individuen gleichberechtigtes und gleichgestelltes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft seien, in der Ideologie der Leistungsgesellschaft und dem politischen Programm des Liberalismus erhalten. In beiden steckt ein wahrer Kern. Individuelle Leistung (und damit verbunden (Aus-)Bildung) ist in der Moderne institutionalisierter Selektionsmechanismus zur Zuweisung sozialer Positionen, Einkommens- und Lebenschancen. Abgeschwächt durch die Effekte sozialen Kapitals (persönliche Beziehungen) und kulturellen Kapitals (soziale Herkunft), gilt es nicht absolut, bestehen Eliten nicht nur aus den Leistungsstärksten einer Gesellschaft; allerdings sind Elitepositionen ohne hohe Leistungspotentiale so gut wie überhaupt nicht erreichbar. Der zur Schau gestellte Glaube, allein Leistung und Erfolg bestimmten sozialen Status und damit verbundene Aufstiegschancen für jeden Leistungswilligen, ist der ideologische Anteil. Die Elitesoziologie kann deutlich zeigen, wie ständisch abgeschlossen Elitepositionen in manchen Teilsystemen noch stets sind, wie wenig Erfolg jener haben wird, der sich allein auf individuelle Leistung beruft.112 Historisch ist der Liberalismus mit seiner Konzentration auf die Sicherung von Eigentums- und Freiheitsrechten die politische Heimat des Bürgertums. Er ist das politische Pendant zur Leistungsethik; er sichert die Freiheit, individuelles Leistungsvermögen voll ausschöpfen zu können. Dass sich die Freiheit des Einzelnen beständig an der des anderen begrenzt, der Gewinn des einen oftmals den Verlust des anderen darstellt, da sich Güter, Leistungen und Möglichkeiten eben nicht mittels unsichtbarer Hand gleichmäßig unter der Bevölkerung verteilen, wird ausgeblendet. Liberalismus eröffnet universell die negative „Freiheit von“ und verschweigt, dass die positive „Freiheit zu“ von individuell schwer beeinflussbaren ökonomischen und sozialen Bedingungen abhängig ist. Der Liberalismus hat keine genuinen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und würde in seiner reinen Ausprägung, folgt man den Kritikern, jede demokratische Kultur unterminieren.113
111 Hettling, M., (2005): Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland, In: Hettling, M./ Ulrich, B. (Hrsg.), Bürgertum nach 1945, Hamburger Edition, S. 12 112 Hartmann, M. (2004a): Elitesoziologie, Campus Verlag, Frankfurt/Main 113 Döhn, L. (1998a): Liberalismus, in: Franz Neumann (Hrsg.), Handbuch Politische Theorien und Ideologien, Bd. 1, 2. Auflage, Leske + Budrich Verlag, Opladen, S. 188f.
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Freiheitsverlust Max Webers Kritik an der Moderne ist von ihm selbst auf zwei Schlagworte gebracht worden: Sinnverlust und Freiheitsverlust. Letzteres soll hier kurz erläutert werden. Kritisch kann es nur vom normativen Standpunkt der Selbstbestimmung und individuellen Freiheit des modernen Bürgers gesehen werden, der mit der Realität objektiver sozialer Verhältnisse kollidiert. Weber bezeichnet als „Freiheitsverlust“ die Tatsache, dass die großen Schicksalsmächte der Moderne: Kapitalismus, Rationalität und Bürokratie sich von ihren motivationalen Grundlagen gelöst, sich selbst objektiviert haben und die Motive ihrer Erhaltung selbst erzeugen (wenn auch nicht störungsfrei). Hierzu Weber: „Nur wie, ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte, sollte [...] die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr [...] Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist.“114 Kapitalismus und Bürokratie prägen die institutionellen Strukturen, inkorporieren normative Strukturen, denen nicht zu folgen individuell durchaus möglich, für erfolgreiche, („bürgerliche“) Lebensweise jedoch abträglich und gesamtgesellschaftlich verheerend wäre. Der systemische Bereich ist zu einem dem reformierenden Eingriff tendenziell widerstehenden Zusammenhang autonomer, unpersönlicher Mächte geworden, dem sich der Einzelne nur fügen kann. Brisant wird diese Tatsache dann, wenn man sich Marx’ Diktum von der alle Bereiche seinen Bedürfnissen anpassenden Dynamik des Kapitalismus hinzunimmt115; eine Sichtweise, die Habermas in seiner These der Kolonialisierung der Lebenswelt reformuliert hat. Kern dessen ist, dass die innere Rationalität und Effizienzsteigerung zu normativen Zwängen führen, zur Externalisierung von intersystemischen Koordinationsproblemen in die Lebenswelt, in den Alltag der Individuen einwirken, die einer selbstbestimmten Lebensweise zuwiderlaufen. Habermas wie Marx sehen dies als expansive, aber latente Tendenz, da Kapitalismus (und Verwaltung) keine direkten Zwangssysteme sind, sondern formal auf der Zustimmung der Individuen beruhen – in Form des rechtlichen Vertrages.116 Dem kapitalistischen System gelingt es, den Bedürfnissen, Wünschen der Men114 Weber, M. (1988d): S. 36 115 Marx, K. (1986): S. 280f. auch S. 618f. 116 Marx, K. (1986): S. 328
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schen so weit entgegenzukommen, dass sie dafür negative Effekte in Kauf nehmen. Wie gesagt, nur aus normativer, nicht aus historischer Perspektive kann dies stichhaltig kritisiert werden. Denn verglichen mit den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen feudaler oder antiker Gesellschaften, ermöglichen moderne, kapitalistische Gesellschaften einer größeren Zahl an Menschen ein Leben in relativ behaglicher Freiheit und Auskömmlichkeit. Allerdings werden hier Macht und Einfluss invisibilisiert und der demokratischen Bearbeitung entzogen, die demokratische Ordnung selbst unterminiert. Teilsysteme, die Eigenlogiken folgen, haben keine Zentrale, gegen die sich Proteste und Einsprüche richten können, die steuernd eingreifen kann; Protestaktionen können sich nur gegen symbolische Vertreter wenden. So hat die kapitalistische Wirtschaft keine Steuerungsinstanz, keine zentrale Vertretung, bei der Beschwerden eingereicht werden könnten. Proteste richten sich daher oft gegen besonders exponierte Vertreter der Wirtschaft, vor allem die Großbanken oder Großkonzerne.
Sinnkrise und Entfremdung Moderne Kultur hat jene holistische Einheitlichkeit traditioneller, religiöser Weltbilder verloren; kulturelle Rationalisierung hat die Harmonie von Wahrheit, Schönheit und Richtigkeit zerstört, aufgelöst, sie in separate Wertsphären zur eigenlogischen Bearbeitung verwiesen. Allein im Individuum treffen die Wertordnungen wieder aufeinander, da jeder zu Fragen der Wahrheit, der Ästhetik und Moral Stellung nehmen muss. Auf dieser rationalen Ebene können Wertordnungen jedoch nicht ihre primäre Funktion erfüllen: sichere Orientierung individuellen Handelns. Der Vergleich mit jeder religiösen Ethik, in der das Alltagshandeln generell auf einem definierbaren, aber unbefragten Wertekanon bezogen und dadurch sinnhaft orientiert ist, zeigt, dass dieser Effekt verloren geht, wo sich Wertordnungen aus holistischen, nicht-hinterfragten Weltbildern gelöst, ihre sinnstiftende Kohärenz und damit wertrationale Bindungsfähigkeit verloren haben. Für Weber ist das Ergebnis eines in der christlichen Religion selbst verwurzelten Entzauberungsprozesses. „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein.117“ Modernität bedeutet, die Relativität der verschiedenen Wertordnungen, ihre scheinbare Gleich-Gültigkeit auszuhalten, zu akzeptieren; und sie nur mit selbst produzierter Gewissheit zu unterfüttern. Zwar stabilisieren sich viele Wertordnungen innerhalb lebensweltlicher Vergemeinschaftungsformen, in Milieus, Lebensstilen, Vereinen u. dgl., allerdings bleiben sie jeweils nur ein Ausschnitt der Lebenswelt, bieten zwar oft ein umfassendes Weltbild an, allein: Es erreicht nicht mehr 117 Weber, M. (1988f): Wissenschaft als Beruf, S. 605
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jenen Grad von Allgemeinheit und Verbindlichkeit, wie dies dem christlichen Weltbild unterstellt wird. Auch der Glaube an die Wissenschaft, der Versuch das wissenschaftliche Weltbild als Ersatzreligion anzunehmen scheiterte u. a. daran, dass Werte, Schönheit, moralische Richtigkeit wissenschaftlich nicht zu begründen sind; im Gegenteil, wissenschaftliches Denken selbst ist Quelle der Relativität, des Vorläufigen, des Nicht-Definitiven. Die intellektuell-rationalistische Durchdringung der Welt, das idealistische Programm der Aufklärung, auf wissenschaftlicher Basis eine „vernünftige“ (d. h. absolut geltende) Weltordnung zu erschaffen, der ein ebenso holistisches Weltbild entspricht, führte stattdessen zur Versprachlichung allen Wissens, der diskursiven Gestaltbarkeit des modernen Weltbildes. Für Weber ist dies das Schicksal der modernen Zeit und erklärt, warum vor allem die junge Generation anfällig für Führerfiguren ist, die selbständige Orientierungsleistungen abnehmen können.118 Dahinter steckt letztlich ein anthropologisches Argument, wonach der Mensch kultureller Objektivationen bedarf, um mittels subjektiver Wiederaneignung, Persönlichkeit daran zu bilden.119 Was Simmel und Adorno eher im Sinne einer bildungsbürgerlichen Kultivierung verstanden, ist durch Lebenswelt- und Institutionentheorie heute generalisiert worden. Zur Sozialisation nachwachsender Generationen bedarf es institutionalisierter, d.h. überindividuell gültiger (objektiver) Wertordnungen, inkorporiert in sozialer Praxis und Kulturobjekten. Persönlichkeitsentwicklung soll über die Aneignung und Internalisierung objektiver Kultur stattfinden. In vormodernen Gesellschaften mit fester Sozialordnung und religiösem Wertehimmel konnte dies nicht als Problem begriffen werden. Die Moderne eröffnete dem Individuum hier ein bisher nicht gekanntes Reich der Freiheit ungeahnter Entwicklungsmöglichkeiten. Die Vermehrung der Kulturobjekte in der Moderne, die sich ausdifferenzierende Vielfalt, die sich etablierende Differenz zwischen Massen- und Hochkultur (und davon noch einmal zu unterscheiden: die Avantgarde) erweitern den Kosmos des Denk- und Erlebbaren derart, dass er individuell nicht überschaut werden, die Gesamtheit der objektiven Kultur kein Abbild in der subjektiven Kultur des Einzelnen mehr erzeugen kann. Enkulturation bleibt partiell, auch hier dem Relativismus offen stehend. Über lebensweltliche Vergemeinschaftung, in der sich moralisch-ethische Standards institutionalisieren, und die Einordnung in übergeordnete ima-ginierte Gemeinschaften wie Staat, Volk oder Nation wird dieser Relativismus aufzuheben versucht. In den meisten Fällen gelingt dies so weit, dass der prinzipielle Zweifel an der Geltung normativer Vorgaben weitestgehend suspendiert wird. Das ändert nichts daran, dass die moderne Rationalität und kulturelle Vielfalt zu Orientierungskrisen führt, die von empfindsamen Naturen dauerhaft erlebt werden und als Identitätskrisen temporär (Adoleszenz) virulent werden. 118 Ebd. 119 Simmel, G. (1996): Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Simmel, G., Philosophische Kultur, GSG 14, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main
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Rationalität selbst, so sehr sie die Modernisierung mit all ihren Errungenschaften beförderte, belastet das moderne Individuum durch die Auflösung traditionaler Gewissheiten mit vielfältigen Orientierungsleistungen; lässt Identitätsbildung zum Problem werden. Indem sie die moderne Kultur prägt und bestimmt, gerät die Balance zwischen Emotionalität und Verstandestätigkeit aus dem Gleichgewicht. Die Institutionalisierung zweckrationalen Handelns in den unpersönlichen und hochstabilen systemischen Ordnungen belohnt Rationalität und Sachlichkeit fördernde Motivationsstrukturen und vernachlässigt gleichzeitig emotionale Facetten der menschlichen Persönlichkeit. Simmel beschreibt dies als Tragödie der Kultur, dass sie objektiviert zu festen Formen geronnen ist, die der Vitalität und Sprunghaftigkeit des konkreten Lebens hemmend, dieser einengend gegenüberstehen.120 Viel wichtiger ist jedoch Simmel zufolge die Vernachlässigung von Gefühlen, Empathie im vereinseitigten modernen Denken und Handeln, die jene Exzesse industrieller Barbarei, wie sie die beiden Weltkriege zeigten, möglich machten. Aufgrund der Inklusion der Individuen als Träger versachlichter Rollenkonzepte hat Emotionalität in der Gesellschaft keinen anderen Platz als in der Privatwelt des Einzelnen121, dort jedoch ist sie sich selbst überlassen, da es keine generalisierte Ordnung gibt, die wertrational-affektuell besetzt und unterfüttert werden kann. Vielmehr müssen auch Leidenschaften und Interessen selbst ihr Ziel in der Vielfalt der Möglichkeiten finden. In den offiziellen Verkehrsformen drücke sich dies in einer gewissen „Charakterlosigkeit“, einer „eigentümlichen Abflachung des Gefühlslebens“122 aus, in indifferenter Toleranz, deren Kehrseite Rücksichtslosigkeit ist. Psychologisch führe ein Mangel an Definitivem in der Seele zu innerer, richtungsloser Unruhe und Unsicherheit: „Durch die moderne Zeit, insbesondere die neueste geht ein Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen, als sollte die Hauptsache erst kommen.“123 Hieraus gewinne die moderne Kultur ihre unerschöpfliche Dynamik, die sich in rascher Abfolge von Moden und Trends ausdrückt und nicht zwingend eine Weiterentwicklung im Sinne einer Zielvorstellung beinhaltet. Die unbestreitbar positive Freiheit modernes Leben selbständig gestalten zu können, wird zum normativen Zwang, es tatsächlich tun zu müssen; die Freiheit der Wahl wird zum Entscheidungszwang unter Bedingungen der Multioptionalität und prinzipieller Ungewissheit über Wert und Richtigkeit der getroffenen 120 Ebd. 121 Und es zeichnet auch die staatlichen Schulsysteme der Moderne über lange Zeit aus, dass sie als Sozialisationsinstanzen überwiegend die kognitive Entwicklung der Schüler im Auge hatten. Erst in jüngster Zeit, aufgrund der weitreichenden Defizite familialer und öffentlicher Sozialisation, sehen sich Schulen auch mit dem Anspruch auf affektuell-normative Beeinflussung und Ausbildung Heranwachsender konfrontiert. 122 Simmel, G. (1999): S. 595 123 Ebd. S. 669
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Entscheidung. Mittels Konsum und Massenmedien bzw. massenmedial vermittelter Kultur Individualität auszubilden, stellt eher ein Teil des Problems als dessen Lösung dar, da der Kapitalismus wie die kommerzialisierte Kulturindustrie selbst auf permanenten Wandel, immer neue Neuigkeiten und Innovationen angewiesen sind; Stabilität nicht in ihrem Interesse liegen kann.124
Moderne und Gegenmoderne Soeben sind aus meiner Sicht die Grundprinzipien der modernen Kultur beschrieben worden. Das sich daraus ergebende Problem besteht darin, dass dem menschlichen Bedürfnis nach festen kognitiven, normativen, evaluativen und ästhetischen Orientierungsmustern in der Moderne prinzipiell nicht mehr entsprochen werden kann; die fortwährende Ablösung herrschender Moden und Trends, kurz: der Wandel ist inneres Gesetz der Moderne. Nihilismus ist eine Konsequenz, die aus der Relativität und der fortwährenden Entwertung von Werten in ihrem steten Wandel gezogen werden kann (Nietzsche), aber auch jenseits dessen haben sich Formen und Wege gefunden, die Zumutungen der modernen Gesellschaft an ihre Subjekte zu meistern, Kontingenz und Ambivalenz der Verhältnisse zu reduzieren bzw. auszuhalten. Die Dynamik der Grundprinzipien der Moderne riefen permanent Gegenbewegungen hervor bzw. führten vorübergehend zu neuen stabilen Strukturfigurationen. Diese stellen letztlich alles in Frage, „verflüssigen“ und „verflüchtigen“ alles.125 Das erzeugt Unsicherheit126, teilweise Orientierungslosigkeit127 und Ambivalenz128. Strategien der Gegenmodernisierung versuchen genau das zu beheben, richten sich gegen die Auflösungstendenzen und werden daher von Ulrich Beck als „hergestellte, herstellbare Fraglosigkeit“, also als Konstruktionen und Imaginationen definiert.129 Gegenmodernisierung hat also die Vernichtung von Ambivalenz zugunsten Homogenität und Harmonie zum Ziel. Als gegenmoderne Konzeptionen gelten u. a. der Nationalismus, Sozialismus/Kommunismus und Faschismus als jeweils auf die Gemeinschaft bezogene Einheitlichkeitsvisionen.130 Eine andere Version ist der Versuch der Moderne, auf Fortschrittsoptimismus und Positivismus aufbauend, sich selbst als naturwissenschaftliches holistisches und Sicherheit verbürgendes Weltbild anzubieten;
124 Böhnisch, L. (1999): Abweichendes Verhalten, Juventa Verlag, Weinheim und München, S. 36f. siehe auch ders. (1994): Gespaltene Normalität, Juventa Verlag, Weinheim und München, S. 132–144 125 Bauman Z. (2003) 126 Vgl. Durkheims Anomietheorie, Durkheim, E. (1999), auch Bohle, H./Heitmeyer, W. et. al. 1997 127 Vgl. Habermas, J. (1981), im Anschluss an Weber, hier Bd. 1, S. 332 128 Bauman, Z. (1995) 129 Beck, U (1993): S. 102 130 Döhn, L. (1998b)
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eine dritte Form stellen die Versuche dar, Religion und Aufklärung/ Wissenschaft/Vernunft in so genannten Vernunftreligionen zu verbinden, eine Idee, die auf Immanuel Kant zurückgeht.131 Exemplarisch sei auf Rousseaus Konzeption einer Zivilreligion hingewiesen132, aber auch die großen philosophischen Systeme des deutschen Idealismus, v. a. Hegels können dahingehend interpretiert werden.133 Die rationalistische Vereinseitigung bzw. innere Widersprüchlichkeit dieser Konzeptionen provozierte dann jedoch Empfindsamkeit und Romantik als Kulturepochen des frühen 19. Jahrhunderts sowie religiös motivierte Gegenaufklärung, da die Vernunftreligionen der Aufklärer nicht befriedigten.134 Moderne und Gegenmoderne, Tradition stützende Mächte wie Religion, Mystik, Aberglaube, Esoterik, Sozialismus, Nationalismus, zum Teil auch Wissenschaft, verbanden sich demnach zu einer spannungsvollen Dialektik. Die Pluralität von Lebensentwürfen und Weltanschauungen beruht nicht zuletzt darauf, dass all diese verschiedenen Mächte sich lediglich in ihrer eine Epoche prägenden Dominanz ablösten, jedoch nicht auflösten, sondern erhalten blieben. Das ermöglicht dem Fortschrittsoptimisten heutzutage ebenso wie dem Fortschrittsskeptiker, dem Neoliberalen wie dem Sozialisten, seine spezifische Weltsicht und Alltagspraxis im Rahmen lebensweltlicher Gemeinschaften zu leben. Die pluralistische, konfliktträchtige Struktur moderner Gesellschaften wird hier deutlich, doch es dauerte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, bis deren Implikationen, nämlich die friedliche Austragung sozialer, kultureller Konflikte in demokratischen Prozessen, sich in der westlichen Welt überall durchsetzen konnte, wenn auch stets von Rückfällen bedroht. Bis dahin erlebte die Welt vielfache Versuche, die Zumutungen der Moderne, ihre alles auflösende, individualisierende und kommerzialisierende Wirkung mit gegenmodernen Vorstellungen zu überwinden bzw. zu verdecken. Naturalismus (Weltabwendung), Sozialismus, Nationalismus, Religion und Positivismus eint die Reduktion von Komplexität; die Bevorzugung eindeutiger Deutungs- und Handlungsschemata, in negativer Abgrenzung zu anderem, teilweise eine neue Form von Vergemeinschaftung und Herstellung jener Fraglosigkeit und Selbstverständlichkeit der Weltanschauung, wie sie im Übergang zur Moderne eigentlich verloren gegangen ist. „Die Gegenmoderne absorbiert, verteufelt, fegt die Fragen vom Tisch, die die Moderne aufwirft, auftischt und auffrischt [...] meint hergestellte, herstellbare Fraglosigkeit.“135 Besonders Fundamentalismen, religiöse, nationalistische, völkische, reduzieren die Komplexität moderner Verhältnisse und suggerieren bzw. imaginieren ein neues, die Partikularitäten moderner Sozialverhältnisse überwindendes Gemeinschafts131 132 133 134 135
Zuckermann, M. (2006), auch Windelband, W. (1892): § 93 Tarnas, R. (1999): S. 394f. Ottmann, H. (2001) Schneiders, W. (2005): S. 128 Beck, U. (1993): Erfindung des Politischen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main: 101f., Hervorhebungen weggelassen.
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gefühl, gepaart mit hoher Selbstwertzuschreibung und Abwertung Nichtzugehöriger. Der Nationalsozialismus ist dafür das historisch anschaulichste Beispiel. Durch die Konstruktion einer idealisierten Gemeinschaft mittels rassistischer Ideologie wurde versucht, den Auflösungstendenzen, der emotionslosen Rationalität der technischen Moderne zu entkommen. Rationalität schlug letztlich in Irrationalität und Barbarei um.136
Die Transformation der bürgerlichen Gesellschaft – postmoderne Herausforderungen Die Moderne, wie sie sich im 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika herausgeprägt hat, ist zwar einerseits für unsere Gegenwart noch von Relevanz, da wir uns immer noch in der geschichtlichen Epoche der „Moderne“ befinden (Selbstbezeichnung als „moderne Gesellschaften“); gleichzeitig haben die Gesellschaften natürlich Wandlungsprozesse durchgemacht, die unsere Gegenwart von der Zeit um 1900 bei aller Kontinuität deutlich abhebt. Dieses Kapitel wird sich mit diesen Transformationsprozessen befassen. Diese bedeuten 1. Differenzierung und quantitative Ausweitung des Bürgertums als sozialstrukturelle Gruppe, 2. Generalisierung der im bürgerlichen Gesellschaftsmodell formulierten Rechte, Pflichten und Ansprüche auf zumindest alle erwachsenen Mitglieder einer Gesellschaft (in Form von Menschenrechten sogar deren Universalisierung) und 3. die Transformation der Bürgerlichen Gesellschaft als Gesellschaftsmodell selbst im Zuge weiterführender Modernisierungsprozesse, was einen Wechsel in der Terminologie zur Zivilgesellschaft rechtfertigt.
Differenzierung der Mittelschichten oder die Auflösung des Bürgertums Der innere Widerspruch bürgerlicher Gesellschaft provozierte Kritik und Gegenbewegungen.137 Bisher konnte die bürgerliche Gesellschaft allen Angriffen widerstehen, allerdings nur, indem sie mehr und mehr ihrem universalistischen Inklusionsanspruch gerecht wurde. Das lässt sich als Ausweitung persönlicher Freiheitsrechte, politischer und sozialer Rechte auf immer größere Bevölkerungsgruppen – gleichzeitig generalisierte soziale Anerkennung beschreiben. Mit der sich politisch artikulierenden Arbeiterschaft war im 19. Jahrhundert eine neue soziale Formation entstanden, die zunächst aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen war, was dauerhaft nicht zu legitimieren war. In der gleichen Zeit entwickelten sich bürgerliche Gesellschaften auch zu demokrati136 Vgl. Horkheimer, M./Adorno, T.-W. Dialektik der Aufklärung. 137 Der Sozialismus/Kommunismus auf Basis der Werke von Marx und Engels war die stärkste Gegenkonzeption.
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schen Gesellschaften, was eine gewaltsame Unterdrückung sozialer Gruppen ausschloss. Die bürgerliche Gesellschaft konnte daher nur überleben, wenn sie ihre idealistischen Heilsversprechungen, die Gewährung individueller, politischer und sozialer Rechte und Ansprüche sukzessive auf immer größere Personenkreise ausweitete. Schrittweise erfolgte die Gewährung politischer und wirtschaftlicher Rechte; Eigentumsrechte, Unternehmensrechte und letztlich das Wahlrecht. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten auch die Frauen als letzte Gruppe mündiger Bürger das allgemeine Wahlrecht zugestanden bekommen. Ebenso schrittweise ging die Gewährung sozialer Rechte, die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit voran, die dem Gleichheitsimpetus bürgerlicher Ideologie widersprach. Dessen Verwirklichung ist international höchst unterschiedlich verlaufen. In Kontinental- und Nordeuropa haben sich umfangreiche Wohlfahrtsstaaten zur Lösung der sozialen Frage herausgebildet; angelsächsische Länder kennen kein so umfangreiches soziales Sicherungssystem, weisen dafür bis heute größere soziale Ungleichheiten auf. Allerdings beruht diese sukzessive Verwirklichung der Ideale der Aufklärung nicht nur auf dem Entgegenkommen herrschender Eliten. Mindestens ebenso lag dies in der Logik und dem Interesse der kapitalistischen Wirtschaft. Die Teilhabe bisher ausgeschlossener Bevölkerungsteile am Wohlstand moderner Gesellschaften erweiterte jeweils den Binnenmarkt. Der langsame, aber kontinuierliche Aufstieg von Teilen der Unterschicht in Mittelschichtslagen provozierte die interne Ausdifferenzierung der Mittelschicht, um bisher existente und neue soziale Grenzen zu wahren.138 Die Grenzziehung erfolgte dabei mittels Ausbildung differenzierter Konsummuster und Lebensstile, wie vor allem Hörning und Michailow diskutieren, für welche die kapitalistische Industrie zunächst die nötigen symbolträchtigen Waren und etwas später auch Erlebnis- und Entfaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stellte.139 Die Verbreiterung der Mittelschichten – in Deutschland seit der Weimarer Republik, vollendet in den Wirtschaftswunderzeiten Nachkriegsdeutschlands – beerdigte auch die Gesellschaft des Bürgertums.140 Das Bürgertum als relativ einheitliche soziale Schicht gab es vielleicht im 19. Jahrhundert, bestehend aus Großbürgertum der Industriellen und Manager, dem 138 Geißler, R. (2002): S. 83, vgl. auch: Hörning, K.H./ Michailow, M., (1990): Lebensstil als Vergemeinschaftungsform. Zum Wandel von Sozialstruktur und sozialer Integration, in: Berger, P. A./Hradil, S., (Hrsg.), Lebenslagen – Lebensläufe – Lebensstile, Soziale Welt, Sonderband 7, Verlag Otto Schwarz & Co., Göttingen 139 Dieser Prozess ist also nur die Kehrseite eines tiefgreifenden ökonomischen Strukturwandels, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann. 140 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden einige Nekrologe auf das deutsche Bürgertum geschrieben, da es als soziale Gruppe verschwunden scheint und sich im Nationalsozialismus ohnehin moralisch disqualifiziert hatte, siehe Maurer (1963). Mit Siegrist (1994), Wehler (2001) und Conze (2004) ist aber davon auszugehen, dass sich Bürgerlichkeit erhalten hat, wenngleich natürlich das Bürgertum des 19. Jahrhunderts nicht mehr existiert – wohl aber seine Nachfahren, die deutlich von diesen Traditionen geprägt sind.
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Bildungsbürgertum und dem unternehmerischen Mittelstand. Dieser Gruppe können eine hohe interne soziale Vernetzung und ähnliche soziale Interessen zugeschrieben werden (das Kleinbürgertum gehörte in Teilen ebenfalls dazu). Nach 1945 gab es das zumindest in Deutschland nicht mehr. Nationalsozialismus, Integration der Heimatvertriebenen und Wohlfahrtsgewinne nach dem Krieg zerstörten und transformierten die gewachsenen Netzwerke der sozialen Großgruppen und ließen endlich die bisher so deutlichen Grenzen mit dem (scheinbaren) Ende der Klassengesellschaft141 undeutlich werden. Diese Abkehr ist in der Sozialstrukturforschung nicht unumstritten, finden Klassen- bzw. Schichttheoretiker und Milieutheoretiker nur schwierig zueinander. Letztlich erhellen die verschiedenen Konzepte unterschiedliche Differenzen zwischen Bevölkerungsgruppen, die sich aufgrund einer relativ weit vorangeschrittenen Entkopplung von ökonomischer Lage und alltagsästhetischer Lebensführung kaum noch integrieren lassen. Will man die Entwicklung des Bürgertums verfolgen, bieten Milieumodelle und -beschreibungen noch den vielversprechendsten Ansatz, da hier en detail jene Milieus identifizierbar sind, in welchen sich der bürgerliche Habitus weitgehend rein erhalten hat und diskutiert werden kann, inwieweit er sich als Mittelschichtshabitus generalisiert hat. Abbildung 5 zeigt die Milieus der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft. (Tabelle 12: Beschreibung der Sinus-Milieus 2009 im Anhang liefert die dazugehörigen Milieubeschreibungen). Milieudarstellungen dieser Form beanspruchen ein umfassendes Bild der Sozialstruktur zu zeichnen und gleichzeitig die kulturelle Differenzierung der Gesellschaft, durch die Verwendung von Werten, Lebenseinstellungen und Habitusformen als differenzierende Merkmale zwischen den Milieus, deutlich zu machen. So ist jedem Milieu neben einer spezifischen sozialen Lage (Schichteinstufung) auch eine typische Habitusform zugeordnet, also typische Verhaltens- und Denkweisen, Formen der Lebenseinstellung und Weltsicht. Und aus den Milieubeschreibungen wird deutlich, wie zentrale Teile jenes oben herausgearbeiteten bürgerlichen Habitus heute in fast allen Milieus der Mittelschicht zu finden sind. Damit hat die Bürgerlichkeit natürlich ihre Exklusivität verloren; ist im Kern mit dem Bürgertum des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts nur noch begrenzt vergleichbar.142
141 Am vernehmlichsten propagierte Ulrich Beck schon Anfang der 80er-Jahre den Abschied von der Klassengesellschaft. Vgl. Beck, U. (1983): Jenseits von Klasse und Stand, in: Kreckel, R. (Hrsg.) Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, Schwartz Göttingen, S. 35–74; zur Debatte in der Sozialstrukturforschung siehe: Geißler (2002): Kap. III.; Flaig, B. B./Meyer, T./Ueltzhöffer, J. (1993): Alltagsästhetik und politische Kultur, Verlag J. H. W. Dietz, Bonn; Hradil, S. (1992): Alte Begriffe und neue Strukturen. Die Milieu-, Subkultur und Lebensstilforschung der 80er-Jahre, in: Hradil, S. (Hrsg.), Zwischen Bewusstsein und Sein, Leske + Budrich Verlag, Opladen 142 Vgl. Conze, E. (2004), Wehler, H.-U. (2000), (2001)
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Wie der Abbildung 5: Sinus-Milieus in Deutschland 2005 im Anhang zu entnehmen ist, beschränkt sich die klassische Bürgerlichkeit heute auf die Gruppen der Bürgerlichen Mitte und vor allem der Konservativen. Letztere sind am ehesten Vertreter des klassischen Bürgertums. Bürgerliche Habitusformen wie eine ausgeprägte Arbeitsorientierung, Bildungsstreben, Gemeinwohlorientierung wie Wertschätzung individueller Freiheit und Persönlichkeitsentfaltung lassen sich darüber hinaus aber auch in vielen anderen Milieus finden143, vor allem der jungen Milieus der linken Seite des Schaubildes. So ergibt sich der Befund, dass die quantitative Ausweitung von Mittelschichtslagen einerseits das klassische Bürgertum als soziale Formation an den Rand drängte und ihm mit dem Aufkommen der Jugend-, Populär- und Massenkultur auch die kulturelle Hegemonie nahm, gleichzeitig wichtige Elemente bürgerlicher Lebensführung (Bildungs- und Arbeitsorientierung, Selbstverantwortung und individuelle Autonomie) für große Bevölkerungsteile (in unterschiedlicher Gewichtung) normativ orientierend wirken. Nicht erhalten hat sich jedoch, was in konservativen Milieus als melancholische Erinnerung an die Nachkriegszeit noch abrufbar ist, ein eigenes Standesbewusstsein der Mittelschichten. Zwar wird die Distinktion innerhalb der Mittelschichten und vor allem gegenüber Unterschichtsmilieus nicht vernachlässigt, dennoch haben sich kaum Formen eines kollektiven Bewusstseins gemeinsamer sozialer Lage oder alltagsästhetischer Lebensführung entwickelt. Gemeinschaften bilden sich nahezu ausschließlich mittels sozialer Beziehungsnetzwerke, nicht über die Selbstverortung in eine sozialstrukturelle Großgruppe unterhalb der nationalen Ebene.144
Von der klassischen zur (Post-)Moderne Seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhundert hat sich ein grundlegender Wandel in der westlichen Welt vollzogen, der Intellektuelle und Sozialwissenschaftler zum Nachdenken über Signum und Charakter der neuen Epoche anregte. Ob nun von Postmoderne, Spätmoderne oder reflexiver Moderne145 gesprochen wird: Es herrscht weitestgehend Konsens über die Merkmale heutiger Kultur. Hier soll nur insofern darauf eingegangen werden, inwiefern kollektiver Identität davon betroffen sind. In der klassischen Moderne (wie die Zeit zwischen 1850–1960 zur Abgrenzung von der heutigen Zeit genannt wird) waren Muster kollektiver Iden143 Vgl. Hettling, M. (2005) 144 Zur Auflösung traditioneller Gemeinschaften siehe die Individualisierungsthese von Ulrich Beck, in: ders. (1986): Kap. III. Vgl. auch Fn. 117 145 Vgl. Vester, H. (1995): Postmoderne Soziologie; Beck, U./Giddens, A./Lash, S., (1996): Reflexive Modernisierung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main; Eikelpasch, R. (1997): Postmoderne Gesellschaft, in: Kneer, G./Nassehi, A./Schroer, M. (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe; Hall, S. (1999): Kulturelle Identität und Globalisierung, in: Hörning, K.H./Winter, R., Widerspenstige Kulturen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main
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tität, vor allem Nationalstaatsidentitäten, relativ stabil in die moderne Kultur eingeschrieben und vielgestaltig institutionalisiert.146 Sie waren nie ohne innergesellschaftliche Kritik und Alternativkonzeptionen, dennoch blieb die kulturelle Hegemonie nationaler Identitätsmuster unangefochten und überwiegend selbstverständlich. In den 60er- und 70er-Jahren mit den vielen sozialen Bewegungen in den westlichen Demokratien, der Entkolonialisierung, der Verflüssigung und gleichzeitig Pluralisierung sozialstruktureller Grenzen setzte ein umfänglicher Alltagswelt und Wissenschaft einbeziehender Reflexionsprozess der eigenen Gegenwart und Vergangenheit ein, in dessen Folge jene von der Moderne errichteten Einheitlichkeiten und festen Orientierungs- und Identifikationsmuster als Konstruktionen und daher als kontingent und veränderbar erkannt wurden. Dekonstruktivismus (Derrida) und Konstruktivismus (von Förster) entrümpelten gründlich die Welt der Selbstverständlichkeiten und scheinbaren Klarheiten; trugen die Objektivität sozialer, wissenschaftlicher oder alltagsweltlicher Tatsachen zu Grabe, indem die Multiperspektivität, die Abhängigkeit der Erscheinungsweise des Objekts vom subjektiven Blickpunkt, zum neuen Paradigma der Weltbetrachtung erhoben wurde. Struktureller Hintergrund bilden funktionale und sozialstrukturelle Differenzierungen, die ganzheitliche soziale Erfahrungen angesichts der Partikularität von Teilsysteminklusionen und Pluralität von Vergemeinschaftungsformen nicht zulassen.147 Subjektive wie kollektive Identitäten sind also in ihrer Stabilität gefährdet und zu Anpassungsleistungen herausgefordert. Für Nationalstaaten ergibt sich diese Herausforderung zum einen aus einer in den 50er- und 60er-Jahren einsetzenden Migration in die westlichen Industrienationen.148 Zum anderen schwinden im Zuge der Globalisierung nationalstaatliche Steuerungsmöglichkeiten wie nationalkulturelle Grenzziehungen. (Post-)Moderne Identitäten sind demnach gezwungen, einerseits das kulturell-ethnisch Andere und Fremde in ihre alltagspragmatische Weltsicht zu integrieren, andererseits Identifikationsmöglichkeiten transnationalen Charakters (Europa, universelle Werte der Zivilgesellschaft) zu nutzen, um sich von der überkommenen Vorstellung einer nationalen 146 Zu den Institutionen zählen nicht nur Hymnen und andere identitätsstiftende Symbole, mit denen jedes Gesellschaftsmitglied aufwächst, sondern Feiertage, nationale Gedenktage und Feste und vor allem das System des internationalen Sports und der großen prestigeträchtigen Sportveranstaltungen (Olympiade, Fußball-Weltmeisterschaften, Tour de France) 147 Vgl. Hahn, A./Bohn, C. (2001): Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung: Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft, in: Hahn, A./Willems, H. (Hrsg.), Identität und Moderne, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 148 Zum Teil als dringend benötigte Arbeitsmigranten, wie in Deutschland. Die Bewohner britischer oder französischer Kolonien besaßen entweder die Staatsbürgerschaft des Koloniallandes oder hatten Anspruch darauf, so dass der Abwanderung aus den in ihre Unabhängigkeit entlassenen Kolonien in die Mutterländer kaum Hindernisse im Wege standen.
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Identität auf Grundlage ethnisch oder kulturell homogener Nationalgesellschaften zu verabschieden. Und wie der Aufbruch in die Moderne tiefe Identitäts- und Kulturkrisen auslöste, provoziert auch der Abschied von der klassischen Moderne Verteidigungs- und Abwehrreflexe; stellen Pluralität, Relativität und Kontingenz gegenwärtiger Welterfahrung und Weltdeutung eine nicht leicht zu bewältigende Herausforderung für die Individuen dar, die umso schwerer zu bewältigen ist, als es keine „objektiven“, keine feststehenden normativen, evaluativen oder ästhetischen Maßstäbe oder andere Orientierungsformen mehr gibt.149
Identitätsgestaltung in der „fluiden“ Gesellschaft Only Breath Not Christian or Jew or Muslim, not Hindu Buddhist, sufi, or zen. Not any religion or cultural system. I am not from the East or the West, not out of the ocean or up from the ground, not natural or ethereal, not composed of elements at all. I do not exist, am not an entity in this world or in the next, did not descend from Adam and Eve or any origin story. My place is placeless, a trace of the traceless. Neither body nor soul. I belong to the beloved, have seen the two worlds as one and that one call to and know, first, last, outer, inner, only that breath breathing human being. Rumi150 Was Rumi vor 800 Jahren schrieb, kann heute noch als Muster der Identitätsgestaltung und auch des damit manchmal verbundenen Dramas gelten: placeless, traceless. Dieses Phänomen ist seither von vielen Wissenschaftlern beschrieben worden – gerade von den Münchener Soziologen bzw. Sozialpsychologen Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim und Heiner Keupp. Das Erbe der Moderne, die flexible Gesellschaft mit „flexiblen Identitäten“, tritt – was Keupp im Anschluss an die amerikanische Diskussion „fluide Gesellschaft“151 nennt – in eine neue Phase: Wesentlich dafür ist die Suche nach kollektiver, in erster Linie aber individueller Identität.152 Alles befindet sich in konstanter Veränderung, globale Horizonte sind nicht nur in den großen Städten oder intellektuellen Zirkeln sicht149 150 151 152
Vgl. oben Kap. 2.4.1 und Kap. 2.5.3 Rumi (1995): S. 32 Oder „liquid modernity“ – vgl. Keupp, H. (2003): Identitätskonstruktion. S. 4 Vgl. Keupp, H. et. al. (1999)
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bar – sie verändern mehr und mehr auch den Lebensalltag in ländlichen Regionen und ermöglichen dort den Anschluss an die urbanen Zentren und die globale Kultur. Heiner Keupp beschreibt sieben Merkmale der „liquid modernity“, die für die Identitätsgestaltung in einer historischen Situation des Verlusts von Stabilität relevant wurden153: • Individualisierung • Pluralisierung • Dekonstruktion von Geschlechterrollen • Wertewandel • Disembedding • Globalisierung • Digitalisierung Dabei bekommen die Medien ihm zufolge eine immer größere sozialisierende Rolle.154 Was wir Identität nennen, ist weder ein stabiles Resultat, noch ist es gleichsam fest vorgegeben. In der Identitätsgestaltung, -konstruktion und -reflexion gibt es erstaunliche Unterschiede, die den Blick dafür schärfen, dass Identität eben nicht ein festliegendes Ergebnis ist, sondern sozial wie individuell konstruiert wird.155 Nach dem heutigen Identitätsverständnis ist Identität als „work in progress“ zu begreifen, der nicht abgeschlossen ist; Identitätsfindung als lebenslange Aufgabe und Entwicklung. Das Bleibende ist der Wandel, lässt sich pointiert formulieren, heute mehr denn je, in der Selbstreflexivität zum quälenden Zwang oder zu verlockender Chance geworden ist.156 Selbstbilder werden nach diesem Verständnis nicht länger von der Gesellschaft, der Familie, der überkommenen Religion und der überkommenden Profession vorgeben – auch nicht vom Territorium – sie müssen konstruiert werden. Denn offensichtlich haben bisher Identität verbürgende Symbole, soziale Positionen und Rollen an Eindeutigkeit und Konstanz verloren, so dass Identität 1. wohl nur vorläufig gelingt, in dem Sinne, dass sie im Lebensverlauf variiert – je nach Statuspassage, nach übernommenen Rollen usw., und 2. prinzipiell fragil bleibt, die fraglose Einordnung in ein gesellschaftliches Gefüge ebenso fragloser Normalität nicht mehr gelingen wird. Unsere Welt verändert sich zu schnell, als dass eine erwachsene Identität die Person das ganze Leben lang charakterisieren und sie über die Klippen und Krisensituationen des Lebens sicher führen könnte. Die gewonnene Unbestimmtheit enthält auch eine Pflicht zur Ausgestaltung dieser
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Keupp, H. (2003): S. 4–6 Ebd., S. 8 Vgl. Tibi, B. (1998): Europa ohne Identität? S. 105 Vgl. Kraus, W. (1996): Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion der Identität in der Spätmoderne. S. 161
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Offenheit und die Möglichkeit, bei der Gestaltung der eigenen Identität zu scheitern157. Aus der an verlässlichen sozialen Vorgaben orientierten Normalbiographie wird Beck zufolge die Wahlbiographie, die in hohem Maße Entscheidungskompetenz, Ambiguitätstoleranz und ein gutes soziales Netz fordert und zum Teil eben auch als Belastung erlebt werden kann.158 Diese Öffnung gehe über territoriale und Kulturgrenzen hinweg: „Neu an den zeitgenössischen Globalisierungsprozessen ist die exponentielle Zunahme der Kulturkontakte. Durch sie entsteht eine noch nie da gewesene Vielfalt an Kulturund Lebensformen. Anders als früher beziehen sich diese neuen Kulturformen heute zunehmend aufeinander.“159 Amartya Sen beschreibt sehr bildhaft, wie eine Person viele gleichzeitige Identitäts- oder Zugehörigkeits-Zweige umfassen kann, wie zum Beispiel Frau sein, Vegetarierin, Umweltschützer, Tennisfan etc.160 Wie Breidenbach und Zukrigl zuspitzen: „Für eine wachsende Anzahl von Menschen wie Migranten, Geschäftsleute, Jugendliche, Wissenschaftler, Künstler oder Internetbenutzer verlieren feste geografische Räume als wichtigste Bezugspunkte der Identität und des Alltagslebens ihre Bedeutung und werden von deterritorialisierten Gemeinschaften abgelöst, die durch soziale, berufliche und ideelle Gemeinsamkeiten miteinander verbunden sind.“161 Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass für viele Menschen lokale Bedingungen und Bezugspunkte von großer Bedeutung sind162. Die eigene Herkunft und das Erforschen der eigenen Zugehörigkeit bleiben, so einige Forscher, weiter ein wichtiges Thema bei der Identitätsentwicklung163. Das scheint auch für viele Muslime zuzutreffen, wie ich später noch näher erörtern werde.
Chancen und Risiken moderner Identitätskonstrukte Als Manager unseres „Identitätsprojekts“ und unserer „sozialen Netze“ müssen wir, wie insbesondere Keupp ausführt, das, was wir sind oder zu sein meinen, offenbar immer stärker nach außen begründen, obwohl dieses Außen sich immer schneller wandelt.164 Die neuen Chancen eröffnen neue Möglichkeiten, aber sie bedrücken auch: Viele scheint das Gefühl zu bestimmen, die selbst gebastelte Identität sei am Ende eine beliebige und nicht bedeutsame.165 Der inter- und in-
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Vgl. Keupp, H. (2003): S. 7 Keupp, H. (1994): Ambivalenzen postmoderner Identität. S. 343ff. Breidenbach, J./Zukrigl, I. (2000): Tanz der Kulturen, S. 97 Sen, A. (2007): Die Identitätsfalle. S. 8 Breidenbach, J./Zukrigl, I. (2000): S. 142 Sen, A (2007): Er weist ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Wahlfreiheit und Reflexion von Identitäten hin. S. 38ff. 163 Vgl. Breidenbach, J./Zukrigl, I. (2000): S. 83 164 Vgl. Keupp, H., in Beck und Beck (1994): S. 336ff. 165 Vgl. Breidenbach, J./Zukrigl, I. (2000): S. 233
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traindividuelle Diskontinuitätszuwachs stellt dabei an die Gestaltungskompetenz des Individuums besondere Anforderungen, soziale und „Eigenzeit“166 des Individuums klaffen immer weiter auseinander. Zusätzlich kommt es im Verhältnis der Lebensbereiche zueinander stärker zu Effekten, in denen sich Lebensbereiche nicht mehr aufeinander einstellen und sich zunehmend desynchronisieren. Es wird offenbar zunehmend schwieriger, sich selbst als „kohärentes Ganzes“ zu erleben167, von einem Gefühl der regionalen und sozialen „Behaustheit“ ganz zu schweigen. Die Frage nach der Kohärenz der eigenen Identität scheint dabei eine zentrale Rolle zu spielen und ist dies auch für die in dieser Arbeit interessierenden Fragestellungen. Denn für Migranten (egal ob innerhalb von Nationalstaaten oder transnational) ist die Aufrechterhaltung einer kohärenten Identität ein besonderes Problem, da durch den Wohnortswechsel das soziale Milieu verloren geht, in welchem Identität bisher verortet und festgemacht war – räumlich wie kulturell. Migranten, Fremde stehen immer vor der Herausforderung, ihre Biographie am neuen Lebensort sinnhaft, d. h. ohne gravierende Brüche fortführen zu können. Daher ist Integration und Anerkennung von Fremden/Migranten in der Zuwandergesellschaft ja von so großer Bedeutung. „Kohärenzsinn“, unterstellt, nach Keupp, „Lebenserfahrungen, in denen Subjekte sich als ihr Leben Gestaltende konstruieren können, in denen sie sich [...] als aktive Produzenten ihrer Biographie begreifen können“. Kohärenz ist dann vorhanden, wenn es dem Menschen gelingt, sich in eine der vielen gesellschaftlichen Formen „hineinzuerzählen“168 und sich so in einem bestimmten Kontext verorten und verwurzeln zu können. Kohärenz stellt sich jedoch meines Erachtens in Zeiten gelockerter sozialer und kultureller Bindungen nicht mehr „einfach so“ her, sondern muss im jeweiligen System immer wieder gebaut und umgebaut werden, oder, wie es Viktor Frankl formuliert: „Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er tun muss, und im Gegensatz zum Menschen von gestern sagen dem Menschen von heute keine Traditionen mehr, was er soll.“169 Es stellt sich die Frage, ob Kohärenz in Identität und Biographie an sich170 a) erreichbar ist, und wenn, an welchem Punkt dieser Biographie (wie Erikson etwa es formulierte: als Zeichen des ausgereiften Erwachsenen) b) wie diese Kohärenz zu werten ist (als Zeichen der Reife, Stabilität oder als Rigidität und Realitätsverlust durch Ignorieren der eigenen Heterogenität)
166 Nowotny, H (1993): Eigenzeit. 167 Vgl. Bilden, H./Keupp, H. (1989): Verunsicherungen. Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel.,S. 54 168 Keupp, H. (1996): S. 244 169 Keupp, H. (1994): S. 336 170 Kraus, W. (1996): Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion der Identität in der Spätmoderne, S. 158
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c) wirklich existiert oder ein Ideal ist, möglicherweise nur ein Gedankenprodukt der Wissenschaftler Doch ist Kohärenz an sich überhaupt „gesund“ und wünschenswert? Oder ist es nicht eher eine gesellschaftliche Prämisse, die den Menschen möglicherweise unnötig unter Druck setzt? Je nach Disziplin und Wert- und Weltbild wird dies sehr unterschiedlich beantwortet. Es sei an den Theologen Henning Luther erinnert, für den die Fragmentarität des Menschen geradezu ein theologisch notwendiges Faktum darstellt, da es die Voraussetzung für die lebenslange Suche des Menschen ist.171 Man sollte auch regressive (individuelle) und obskurantistische (soziale) Dynamiken des Strebens um Kohärenz im Augen behalten: Das gesellschaftlich tradierte Kohärenz-Ideal setzt Individuen möglicherweise stark unter Druck, Kohärenz unter der Verleugnung, Unterdrückung oder Abspaltung von Identitätsteilen „zusammenzulügen“ 172 – dies wird gerade in Situationen mit starkem Konformitätsdruck brisant. Dies kann etwa bei Migranten beobachtet werden, die unter dem Druck von außen eine muslimische Identität präsentieren, von der sie sich innerlich längst distanziert haben.173 Der Druck zu Kohärenz ist mächtig. Kritisch-differenzierend erweist sich hier etwa die Arbeit von Wolfgang Kraus, in der er zwar noch implizit über seine Kohärenz-Metaphern wertet, aber doch immer wieder eine eindeutige Kohärenz anhand weicherer und schärferer Dissoziationsbeispiele in Frage stellt. Trotz aller versuchten Relativierungen, um die sich auch etwa Kraus stets bemüht, scheint Kohärenz unserem Streben eine Art Zielrichtung oder Perspektive zu geben. Wichtige Faktoren zur Herstellung des Kohärenzsinns scheinen so folgende zu sein: • „Reize“ werden als geordnet und kontrollierbar erlebt (Verstehensebene, comprehensibility) • Probleme werden als lösbar erlebt (Bewältigungsebene, manageability) • Aufgaben werden als Herausforderungen erlebt, für die es sich lohnt, sich zu engagieren (Sinnebene, meaningfulness) In unserem globalen Labyrinth stellen diese drei Schritte große Herausforderungen dar. Die „Reizvielfalt“ ermutigt nicht dazu, sie als kontrollierbar zu erleben, gerade nach einem Wechsel in eine andere Kultur, deren vielfältige Bedingungen man noch nicht kennt. Angesichts der medialen Verbreitung von globalen Hiobsbotschaften ist es eine hohe Kunst, Probleme als lösbar zu erleben, und ange-
171 Vgl. Luther, H. (1992): S. 162 172 Vgl. Keupp, H. (1994): S. 232 173 Tibis Lamento über „Fremdenfreunde“ weist etwa in die Richtung. Vgl. Tibi, B. (1998): S. 343
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sichts der Schwierigkeit vieler Aufgaben scheitern viele nicht zuletzt daran, ihr eigenes Verhalten als sinnvoll einzustufen. Je mehr Kohärenz jemand herzustellen versucht, desto leichter gelingt es der Person offenbar, Ressourcen zu mobilisieren und anscheinend daher sowohl eine gute Basis für Gesundheit, wie für eine Vielfalt verarbeitende Identitätsarbeit zu bilden174. Forschungen weisen darauf hin, dass Streben nach Kohärenz positiv mit dem „Gefühl einer sinnvollen, gerichteten Existenz und deshalb mit psychischer Gesundheit und Sicherheit“175 korreliert. Auch hier spielen soziale und individuelle Faktoren eine Rolle – von der Körperwahrnehmung, der sozialen und subjektiven Konstruktion von Gesundheit und Krankheit bis hin zu den individuellen und institutionellen Betreuungs- und Bewältigungsstrategien. In jeder Gesellschaft werden, wie Antonowsky argumentiert, sie durch soziale Institutionen kontrolliert und normiert.176 Bei den Versuchen Kohärenz – hier dann auch die Vereinbarkeit des an sich Heterogenen –herzustellen, lassen sich zwei Strategien wahrnehmen: a) regressive Lösungsstrategien, durch Leugnung von Widersprüchen, Ambiguitäten, Konflikten und die Leugnung von Vielfalt innerhalb und außerhalb des Individuums b) progressive Lösungsstrategien durch das Akzeptieren von Heterogenität und das Aushalten der Spannung zwischen Wunsch und Realität177 Gelingende Identität verlangt demzufolge eine Vielzahl von Schritten: Auf individueller Ebene müssen partikulare Gesellschaftsbezüge, die Vielzahl von Rollenübernahmen zu einem relativ kohärenten Selbstbild integriert werden, ohne dass gesamtgesellschaftlich noch verbindliche Identitätsmuster zur Verfügung stehen. Auf kollektiver Ebene gilt es dann homogenitätsfixierte, nationalstaatliche Identitätsmuster durch die Einbeziehung des Anderen, des Fremden, die soziale Anerkennung und Wertschätzung von der eigenen Lebensweise abweichender (Teil-)Kulturen zu ersetzen bzw. aufzulösen..Im Kern geht es um die positive Anerkennung der Pluralität und die Einsicht in die Partikularität des eigenen Standpunktes. Das bezieht sich nicht allein auf die Anwesenheit großer Gruppen von „fremdkulturellen“ Zuwanderern, sondern schon auf interne kulturelle Differenzierungen der Einwanderungsgesellschaft, bspw. zwischen bürgerlicher Hochkultur, traditioneller Volkskultur und urbaner massenmedialer Populärkultur, womit sich jeweils deutlich verschiedene Lebensstile und Weltsichten verbinden178, auf deren Basis sich wiederum neue Vergemeinschaftungsformen herausbilden. Die Cultural Studies argumentieren, dass sich Milieus nicht als 174 Vgl. Keupp, H. (2003): S. 10ff. 175 Kraus, W. (1996): S. 140 176 Vgl. Antonowsky, A. (1993): Gesundheitsforschung versus Krankheitsforschung, S. 5 177 Vgl. Kraus, W. (1996): S. 156 178 Vgl. Schulze, G. (1992): Erlebnisgesellschaft, Campus Verlag, Frankfurt/Main
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identitätsgenerierende Kollektive erleben, sondern nur als Aggregate gleicher Lebensführungen und Wertorientierungen179, und zwar auf der Basis ihrer sozialen Beziehungen. Sie existieren meist als Netzwerke, nicht als Gruppe mit einer intersubjektiv geteilten Selbstbeschreibung. Allerdings geht es den Cultural Studies zufolge angesichts unterschiedlicher Milieus immer auch um die Durchsetzung der jeweils eigenen Deutungsmacht180, um bestimmenden Einfluss auf den „Zeitgeist“ (was nicht nur zu einem kulturellen Konflikt, sondern auch zu einem Macht- und Verteilungskonflikt werden kann). Dabei spielt die quantitative Verbreitung, die Geltung von Wert- und Lebensstilmustern in der Gesellschaft, der relative Einfluss dieser Gruppe auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs über die Realität und Normalität (im Sinne von: Sein-Sollen) der Gesellschaft eine wichtige Rolle.181 Natürlich bilden auch die Zuwanderer eine solche Gruppe, jedoch weniger aufgrund homogener Wertorientierungen, sondern meist aufgrund des einheitsstiftenden Status als Ausländer, als Fremde in einer Gesellschaft. Haben sie eine bestimmte Populationsgröße überschritten und organisieren sie sich, können sie als Gruppe im Diskurs nicht mehr ignoriert werden; dann muss die Mehrheitsgesellschaft zur Anwesenheit, zur Kultur und zum Anspruch der Minderheit auf Teilhabe und Integration Stellung nehmen. Die innergesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, Konfliktlinien, die wirtschaftliche und politische Situation beeinflussen den Verlauf und das Ergebnis der Diskussionen und damit der Beziehung zwischen Mehrheitsgesellschaft und ihren Minderheiten. Besonders stark ist auch die Abhängigkeit von der gesamtwirtschaftlichen Situation. Prosperitätsphasen bieten selbstverständlich mehr Raum zur Anerkennung von Differenz und Fremdheit, da Verteilungskonflikte weniger ausgeprägt sind. Anders in wirtschaftlich komplizierten Situationen, denn diese führen verbunden mit sozialem Stress, Unsicherheit und Angstgefühlen zu Strategien der Statussicherung der individuellen Position. Sie bereiten den Boden für Abwehrund Entlastungsstrategien, wie Sündenbockdenken und führen zum Streben nach Homogenität und Kohärenz und damit zur Abwertung und Ausgrenzung des Fremden (wie die Historie in vielen Fällen vor allem anhand des Antisemitismus in Europa belegt).182 Für die hier diskutierte Identitätsgestaltung einzelner Milieus ist, wie oben beschrieben, offensichtlich relevant, welche Erfahrung und welcher Umgang mit 179 Hörning/Michailow (1990): vgl. Grossberg (1999) 180 Diese Konzeption ist den Cultural Studies entlehnt, die Kultur nicht als essentialistische Objektivitäten ansehen, die man anfassen und ins Museum stellen kann, sondern als diskursiv reproduzierbares, transformierbares, verhandelbares System sozialer Repräsentationen, die Denken und Handeln der Individuen beeinflussen. Siehe Literaturhinweise in vorhergehender Fußnote. 181 Vgl. Keupp, H. (2003): S. 5 182 Vgl. Bohle, H./Heitmeyer, W. et. al. (1997): die diesen Zusammenhang im Kontext der Anomietheorie von Emile Durkheim detaillierter ausführen.
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Grenzen bzw. Entgrenzung durchlebt werden. Ein Mensch zu Zeiten der liquid modernity, so Keupp, muss somit mehr denn je „seine Grenzen selbst einziehen, er muss Grenzmanagement betreiben“183. Dies scheint in der Identitätsgestaltung von Muslimen ein wesentlicher Faktor zu sein.
Exkurs: Identitätsgestaltung von Muslimen Zentrale Werte westlicher Demokratie (Liberalismus, Gleichberechtigung der Geschlechter, allgemeine Menschenrechte u. a.) werden bis heute im Orient verbreitet abgelehnt und negiert. Dies sind zweifellos Entwicklungsdefizite und kein unzulässiges Werturteil aus eurozentristischer Perspektive. Dabei gilt nicht aus den Augen zu verlieren, dass der Islam nicht per se modernitätsfeindlich ist. Sein Traditionalismus beruht stärker auf kulturellen Gepflogenheiten, v. a. Herrschaftsstrukturen, als dass er ausschließlich der Religion als solcher inhärent wäre. Diese Beobachtungen bilden den Hintergrund für die Situation der muslimischen Migranten in den westlichen Staaten. Sie müssen diese kulturellen Unterschiede – wie groß oder klein sie im Einzelfall auch sein mögen – in ihrem Alltagsleben, ihrer Identitätsvergewisserung, ihrer Religionsausübung überwinden oder zumindest ausbalancieren. Schwierigkeiten ergeben sich dabei zum einen aus diesen Fremdheitserfahrungen; zum anderen aber auch aus der Uneinheitlichkeit der muslimischen Diaspora. In den Einwanderungsländern kommen Muslime der verschiedensten Glaubensrichtungen zusammen, können mitunter also nur begrenzt ein neues Gemeinschaftsgefühl entwickeln – wobei dies in Ländern wie Deutschland oder Frankreich leichter fällt, wenn die Mehrheit der Muslime einem Herkunftsland entstammt. Prinzipiell bleibt Identitätsvergewisserung aber ambivalent, muslimische Identität gewinnt nicht jene Selbstverständlichkeit, die sie vielleicht in den Herkunftsländern hatte. Auch Muslimen ist die Konstruiertheit und Instabilität ihrer neuen Identität und Selbstzuschreibungen bewusst und gegenwärtig. Man kann dies als Schritt der Integration sehen: Aushalten von Differenzen unter den Bedingungen von Reflexivität und Relativität. Radikalismus und Fundamentalismus stellen eine Möglichkeit dar, dem nochmals zu entkommen. Zentrale Frage bleibt also, wie der innere Frieden in einer multikulturellen Gesellschaft geschaffen und gesichert werden kann. Sicher nicht durch gegenseitige Angleichung, sondern durch einen möglichst authentischen Blick auf Unterschiede und einen sicheren Wertekanon.184 Religionen können ganz unterschiedlich in die Identität eines Menschen eingepasst werden. Die Frage nach dem Verhältnis okzidentaler und orientalischer Kultur fragt auch nach religiösen Identitäten. In Europa leben derzeit mehr als 15 Millionen Muslime.185 Vielen, die zuerst ihren Aufenthalt zeitlich begrenzt sa183 Keupp, H. (2003): S. 5 184 Vgl. Tibi, B. (1998): S. 93ff. 185 Tibi, B. (1998): Europa und Identität?, S. 195
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hen, ist inzwischen klar geworden, dass sie hier bleiben werden. Aus einem oft rein befristet gedachten Arbeitsaufenthalt wird ein Leben, in der die Religion mitzieht – natürlicherweise. Folgt man Bassam Tibi, ändert sich dabei aber nicht nur der Blick des Fremden in der Fremde auf dessen eigene Wurzeln, sondern auch der aufnehmende Teil der Gesellschaft sieht anders auf die eigene Identität; auch man selbst bekommt eine andere Perspektive auf sich.186 Wie konstruieren muslimische Migranten ihre Identität? „Die Identität, die Westeuropäer muslimischen Migranten andichten, karikiert diese oft eher, als dass sie sie zu beschreiben vermögen, reduziert man sie auf Kopftuch und Kebab. Das Bild der reinen, homogenen und integrierten Kultur der jeweils anderen entpuppt sich immer mehr als Projektion der mit der fragmentierten Realität der Moderne hadernden Westler“.187 Doch die neue ethnologische Kritik am Differenzen hervorhebenden Kulturkonzept zwischen Islam und Christentum geht noch weiter: Es schafft und verabsolutiert in seiner Konzentration auf „Unterschiede“ eben diese. Kultur wird dadurch zum „Werkzeug, um andere anders zu machen“, wie die Ethnologin Lila Abu-Lughod kritisiert.“188 Auch Roy sieht bei Vergleichen zwischen dem Islam und dem Christentum – was etwa die öfter betonte Rückständigkeit des Islam angeht –, eher regionale, historische, ethnokulturelle, politische oder territoriale Probleme, die nicht unweigerlich durch den Islam verursacht wurden.189 Dabei stellt sich in dem diskutierten Kontext zunächst die Frage, was unter dem Islam konkret zu verstehen ist. Hier liefern verschiedene Forscher mehrere Erklärungen: „Der Islam ist eine Zivilisation und entspricht als solche sowohl der Christenheit als auch dem Christentum im Westen. Zweifellos haben sich viele lokale, nationale und regionale Traditionen und Eigentümlichkeiten unter den muslimischen Völkern erhalten und in der modernen Zeit ungemein an Wichtigkeit gewonnen, aber allen Völkern, die ihn angenommen haben, haben der Glaube und das Recht des Islam den Stempel einer gemeinsamen Identität aufgeprägt, die auch dann bestehen bleibt, wenn der Glaube sich verliert und das Recht abgeschafft ist.“190 Der Islam ist damit einer von mehreren Bezugspunkten, die die Identität eines muslimischen Einwanderers prägen können. Diese Prägung steht dabei auch nicht unbedingt in Konkurrenz zu anderen Merkmalen und vor allem ist sie nicht einheitlich. Bezüglich der Diskussion um „islamische Identitäten“ gilt es, nie zu verkennen, dass es zwar nur eine islamische Religion gibt, die sich aber in eine Vielzahl lokalkultureller Spielarten ausdifferenziert hat, die u. U. nur wenig Ähnlichkeiten miteinander aufweisen.191 In den Zuwanderungsstaaten des 186 Ebd., S. 207 187 Vgl. Tibi, B. (1998): S. 299 188 Breidenbach, J./ Zukrigl, I. (2000): S. 78 189 Vgl. Roy, O. (2004): S. 29 190 Lewis, B. (1998): S. 41 191 Tibi, B. (1998): S. 167 und S. 249. Vgl. auch Roy, O. (2004): S. 133
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Westens treffen sich diese unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Spielarten des Islam und sehen sich von der Mehrheitsgesellschaft jeweils als Einheit bzw. homogen behandelt. Die daraus sich ergebenden Widersprüche sind, positiv gesprochen, Herausforderung für die Identitätsarbeit der Muslime. In der Einpassung in westliche Gesellschaften und lokale muslimische Gemeinschaften verlieren sie leicht die Verbindung zur lokal geprägten Herkunftskultur, indem sich über diese innerislamischen Unterschiede hinweg ein neues Bewusstsein vom Muslimsein in westlichen Gesellschaften herausbildet. Heiner Keupp beschreibt diesen Prozess als die Bildung neuer Hybriditäten.192 Offen blieb bisher die Frage, was denn nun tatsächlich als „muslimisch“ zu bezeichnen ist bzw. woran der islamische Glaube zu identifizieren ist. Was bezeichnen Muslime, was bezeichnen Nicht-Muslime als „muslimisch“. • Der Islam existiert193 – • als Zivilisation194 aus• als kulturelles Bezugssystem, das auch ohne Glauben und Eschatologie kommt (in diesem Sinne gibt es auch nicht-gläubige Muslime195) • als Glaubensrichtung mit Werten und Regeln • als System zur Organisation von Geschlechter-Verhältnissen und • als kulturell unterschiedlich gehandhabtes Bezugssystem, das Spielräume der Interpretation bietet. Islamische Kulturen und islamische Religionsrichtungen sind dabei zu unterscheiden, auch wenn das häufig versäumt wird, wie Roy warnt.196 „Wir können also feststellen, dass die Behauptung, es gebe eine auf spezifischen gesellschaftlichen Mustern beruhende ‚muslimische Kultur‘, mit der sozialen Realität der demografischen und sozialen Entwicklung der muslimischen Bevölkerungen nicht zusammenpasst.“197 Es gibt unterschiedliche Kulturen im Islam, unterschiedliche Spielarten von Gemeinwesen und Wertenetzen – auch wenn sie sich auf die gleiche Referenz – den Islam – beziehen.198 Trotzdem ist der Islam mit einer ganzen Reihe übergreifender Muster und Werte verbunden, etwa Vorbehalte gegen Nacktheit, Ablehnung von Autopsien und Einäscherung von Toten; eine starke Betonung der Ehre des Mannes und der Keuschheit der Frau; und einer Ablehnung der Koedukation.199 Auch scheinen sich viele Muslime ihrer Geschichte viel bewusster zu sein, 192 Vgl. Keupp, H. (2003): S. 8 193 Vgl. Roy, O. (2004): 130ff. 194 Islamische Zivilisation und Religion verhalten sich etwa wie unsere Begriffe von Christentum und Christenheit – vgl. Lewis (2004): S. 27 195 Vgl. Roy, O. (2004): S. 137 196 Ebd., S. 327 197 Ebd., S. 145 198 Ebd., S. 25 199 Ebd., S. 135
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werden vielfach historische Schlüsselsituationen als bedeutsamer wahrgenommen als das heute z.B. in Mitteleuropa der Fall ist. „Wie alle Völker auf der Welt werden auch die Muslime von ihrer Geschichte geprägt, doch im Gegensatz zu manchen anderen Völkern sind sie sich ihrer Geschichte auch überaus bewusst.“200 – dazu hat, wie Lewis im Folgenden ausführt – die Geschichte für den gläubigen Muslim eine tiefe religiöse Bedeutung – sie ist für ihn, im Gegensatz zu dem Europäer heute, eine Heilsgeschichte. Der Islam neigt dazu, eher die Religion in verschiedene Nationen zu unterteilen als eine Nation in religiöse Gruppen zu unterteilen.201 Damit nehmen Muslime eine ganz spezifische Perspektive ein, in der plötzlich Bedrohungsszenarien verständlicher werden: „Berücksichtigt man die Tatsache, dass für die gläubigen Muslime ihr religiöses Leben die herausragende Form und gewissermaßen der konzentrierte Ausdruck ihres gesamten kollektiven Lebens ist, so begreift man, warum sie mit der angedrohten Verwestlichung ihres religiösen Lebens zugleich ihr kollektives Leben, also ihre Gesellschaft bedroht sehen.“202 Die Identitätskonstruktionen der Einwanderer scheinen zwar auf den ersten Blick fester gefügt als die etwa eines Westeuropäers, erweisen sich aber auf den zweiten Blick als ebenso brüchig. Die Einheit von Religion und Kultur, die primäre Prägung von Gesellschaft und Politik nach den Vorschriften der Religion, wie es dem Islam zumindest traditionell eigen ist, lässt sich nun mal auf Dauer im Westen nicht durchhalten. Die Alltagswirklichkeit erzwingt diesbezüglich Konzessionen oder eben eine schleichende Modernisierung des Islam. Wird dennoch die Einheit von Religion und Politik betont, kann dies gerade als Versuch gewertet werden, gegen die faktische Realität im Sinne vermeintlicher Traditionen zu protestieren.203 Gerade die Abnahme der Wirkungsmächtigkeit von Traditionen der Herkunftskultur im neuen, westlichen Lebensumfeld ist vielfach zu beobachten und zwingt auch Muslime im Westen zur Identitätsarbeit bzw. in das ambivalente Projekt der individuellen, selbstverantwortlichen Lebensgestaltung. Und so müssen Muslime in den Gesellschaften des Westens für sich festlegen, was es heißt, ein „guter Muslim“ zu sein.204 Verhaltensweisen, Einstellungen, Werte werden im Kontakt mit der Umwelt und durch die Umwelt zunehmend hinterfragt – man muss sich nun plötzlich näher damit befassen und Fragen stellen, die früher nicht auftraten – gegenüber der Einwanderungsgesellschaft besteht Bedarf der Rechtfertigung oder Erklärung bisher nicht hinterfragten Normen und Gebote, wie Kleidungsvorschriften und 200 201 202 203 204
Lewis, B. (2004): S. 12 Vgl. Lewis, B. (2004): S. 13 Gholamasad, D. (2004): Beten und Kämpfen, S. 164 Roy, O. (2004): S. 7 Ebd., S. 9. Vgl. auch S. 177 „Die Autonomisierung der religiösen Sphäre und die Entstehung neoethischer Identitäten, die stärker vom sozialen Status als von der Sprache oder der Kultur des Herkunftslandes abhängig sind, sind auch in der türkischen Bevölkerung Deutschlands zu beobachten.“
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Speisegebote. Und gerade hier kann die Differenz zwischen Herkunfts- und Einwanderungskultur als sehr deutlich erlebt werden – zu denken ist da zum Beispiel auf die Selbstverständlichkeit des westlichen Banken- und Kreditwesens, was für Muslime zumindest prinzipiell problematisch ist.205 Aus einer Identität, die durch das umgebende Umfeld gespiegelt und gestützt wurde, kann so eine Diasporaoder Ghettomentalität werden. Von der selbstverständlichen, universell erscheinenden Religion im Herkunftsland bleiben unterschiedlich gestaltete religiöse Gemeinschaften.206 Manche Gläubige entscheiden sich in der Diaspora als Abwehr der Ambivalenzzumutung fluider Identitäten in westlichen Gesellschaften zu einem Rückzug in den eigenen Glauben und versuchen dadurch, Eindeutigkeit und Konstanz zu gewinnen. Die Einzigartigkeit des Islam kann überbetont, manchmal geradezu karrikiert werden.207 Der Blick auf die eigene Kultur macht diese in der Diaspora oft fragiler: Plötzlich stehen einander widersprechende Lebensformen des Islam zur Disposition, einander widersprechende Fatwas verschiedener Ulemmas machen die Beantwortung auf Fragen nach dem „richtig“ oder „falsch“ der eigenen Lebensführung einmal mehr zum Drahtseilakt. Dies zeigt sich etwa in einer Ghettoisierung der zweiten Einwanderergeneration. Die Konstruktion religiöser Identität zeigt sich auch an der Biografie radikaler Islamisten: Meist waren sie in ihrem Heimatland unauffällig gewesen und haben erst im Westen, im Umfeld radikaler Moscheen von London bis Montreal, ihre muslimischen Wurzeln wiederentdeckt und neu interpretiert.208 Gerade in den Wohnvierteln, in denen eine scheinbare Re-Islamisierung der Einwanderer stattgefunden hat, findet man, dass sich traditionelle Familienmuster zunehmend auflösen.209 Das sieht man nicht zuletzt daran, dass diese oft vor allem von den Jüngeren angestoßen werden, die sich eigentlich den Älteren, oft Moderateren, zu fügen hätten. Islamische Kultur in Westeuropa erscheint heute oft in Form von Subkulturen, die sich sehr vielfältig durch unterschiedlichste Herkunftsländer und Einwanderergruppen gebildet hat.210 Folgt man Bassam Tibi, so sollte Europa eine „nicht-exklusive Identität und eine Orientierung [bieten], die die Migranten als Leitfaden annehmen können. […] Als liberaler Muslim, sprich Euro-Muslim, räume ich ein, dass die Welt des Islam nicht auf Europa ausgeweitet werden kann und soll; Migranten müssen die europäische Identität akzeptieren und respektieren; sie ist pluralistisch und gewiss nicht islamisch.“211 Roy dagegen schlägt einen „echten Pluralismus“ vor, 205 Ebd., S. 156 und S. 261 206 Roy, O. (2004): S. 52 207 Kepel, G. (1994): Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. S. 133 208 Roy, O. (2004): S. 295 209 Ebd., S. 142 210 Ebd., S. 121 211 Tibi, B. (1998): S. 62
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„um Konflikte mit der muslimischen Bevölkerung zu vermeiden, die ihrerseits zwar sehr vielfältig ist, sich aber in eine ghettoisierte Gemeinschaft gepresst fühlen könnte.“212
Das Konzept der Zivilgesellschaft Das Konzept der Zivilgesellschaft spielt, trotz oder wegen seiner Mehrdeutigkeit, gerade auch in der gegenwärtigen Diskussion um Migration und die Integration von Migranten eine erhebliche Rolle. Wird doch auch im Blick auf die mit ihr verbundenen Probleme unterstellt, dass Lösungen für die neuen Herausforderungen nicht nur im Kontext staatlicher Initiativen zu finden seien. Zivilgesellschaft als Begriff geht – wenn man nicht antike Traditionen aufrufen will – auf das englische civil society zurück. Im angelsächsischen Raum hat civil society noch immer die Doppelbedeutung von bürgerlicher und Zivilgesellschaft,213 während in der deutschen Diskussion der Begriff eher als politische Konzeption, als Kritikformel auch in der (neo-) liberalen bürgerlichen Gesellschaft eine Rolle spielt. Begrifflich wie ideengeschichtlich stammt die Zivilgesellschaft jedoch eindeutig von der bürgerlichen Gesellschaft ab. Die Verschiebung in der Begrifflichkeit lässt sich m. E. gut durch den ideologischen Gehalt des deutschen Verständnisses von „bürgerlicher Gesellschaft“ erklären. Die obigen Darstellungen zur Entstehung von Bürgertum und bürgerlicher Gesellschaft in Deutschland haben deutlich gemacht, dass sie als Projekt des Bürgertums eine sehr schmale soziale Basis hatte; zwar dem Prinzip nach alle Gesellschaftsmitglieder einschloss, de facto aber vor allem die Mehrheit der Bevölkerung (die Arbeiterschaft) von der Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft – und das heißt in erster Linie gleiche Teilhabe an Wohlfahrtsentwicklung und politischer Macht und Repräsentation – ausschloss. Bestimmte früher die bürgerliche Gesellschaft (in jeweils historisch-sozialen Verhältnissen), welche Bevölkerungsgruppen darin sozial, kulturell, politisch und ökonomisch einbezogen und welche ausgeschlossen waren, so betont Zivilgesellschaft normativ weitestgehend jene Merkmale der bürgerlichen Gesellschaft, die die Sphäre der politischen Freiheit der Bürger und die demokratische Teilhabe betonen, jedoch ohne deren sozialer Exklusivität, sondern mit sozialer Universalität.214 In den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Konzept deshalb nicht zufällig von osteuropäischen Bürger- und Dissidentenbewegungen populär gemacht. 212 Roy, O. (2004): S. 13. Oder, wie es Tibi formuliert: „Als ein im Westen lebender Muslim, der sich aus freiem Willen dafür entschieden hat, europäischer Bürger zu werden, beanspruche ich auch unmissverständlich, zugleich politisch ein citoyen […] zu sein und meine islamische kulturelle Identität beizubehalten.“ Tibi (1998): S. 118 213 Reese-Schäfer, W. (2000): Politische Theorie heute, S. 78 214 Schiffauer W. (2002): Staat – Schule – Ethnizität, S. 10 – 19
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Im angelsächsischen Raum ist civil society eng mit der Gesellschaftslehre von John Locke und David Hume, stärker noch mit der Moralphilosophie von Adam Smith und Adam Ferguson verbunden. Smith hegte noch den Optimismus, dass sich über marktförmige Austauschprozesse wechselseitige, friedliche Interessenausgleiche einstellen werden – bürgerliche Gesellschaften also eine Funktion der Selbstregulation und Selbststabilisierung haben (und nichts anderes meint die Idee der invisible hand).215 Adam Ferguson ist da skeptischer. Er sieht den Menschen durchaus als geselliges Wesen, mit sozialen Fähigkeiten und Anlagen ausgestattet, dessen Fokus die soziopolitischen Bürgertugenden sind, die auch Smith vor Augen hat (friedliche Interessenbeschränkung und -ausgleich, Gemeinwohlorientierung, liberale Einstellungen). Aber menschliches Handeln vollzieht sich durch Versuch und Irrtum, d. h., die Konsequenzen individuellen Handelns sind meist nicht vollständig überschaubar, woraus sich soziale Konflikte ergeben. Diese werden durch in Aushandlung ermittelte Formen der Konfliktlösung beigelegt, die als soziale Erfahrungen in Formen von Institutionen präsent bleiben. Als Institutionen gewinnen sie normative Kraft und damit Handlungsorientierung für den Einzelnen. Ferguson begreift daher die Gesellschaft nicht mehr als Ergebnis eines Vertragswerkes (wie die klassischen Vertragstheoretiker Locke, Hobbes, Rousseau), sondern als historisch entwickelte Gebilde, welches dem Individuum jeweils bereits einen durch Institutionen vorgegebenen sozialen Handlungsraum vorgibt, an die er sich – zur Stabilisierung der Gesellschaftsordnung anzupassen hat.216 Zivilgesellschaft hat in der angelsächsischen Tradition zwei Aspekte: einmal, bestimmte zivilgesellschaftliche oder bürgerschaftliche Verhaltensdispositionen und Habitusformen der in der Gesellschaft lebenden Menschen – eben der Bürger. Und zweitens die Existenz sozialer, politischer, wirtschaftlicher Institutionen, die den äußeren, objektiven Handlungs- und Orientierungsrahmen der Zivilgesellschaft abgeben, in dem sich Bürgerlichkeit entfalten kann. Der Bezug auf Smith und Ferguson diente dabei der exemplarischen Herleitung dieser beiden Komponenten von Zivilgesellschaft. Sie ist beides: zivil und bürgerlich. In den von den osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen angestoßenen Traditionen des Begriffs ist dagegen stärker die Kritik an Institutionen, insbesondere dem Staat festgehalten. Selbstregulierung und Solidarität werden betont. Zivile Organisationen und Assoziationen bewegen sich dem nach eher in nichtstaatlichen Kontexten, deren Mitglieder sich auf Tolranz und Anerkennung berufen. Deutlich wird damit die wechselseitige normativ-kritische Bezogenheit von Institutionen und Verhaltensdispositionen in dieser Konzeption. Erstere sollen Letzterem den Raum zur Entfaltung geben. Zivilgesellschaft ist damit auch eine
215 Waschkuhn, A. (1998): Demokratietheorien. Politiktheoretische und ideengeschichtliche Grundzüge, S. 499ff. 216 Ebd., S. 503ff.
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politische Ordnungsvorstellung für ein Gemeinwesen (Gesellschaft).217 Konzeptuell hat die Zivilgesellschaft ihren Ort zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen, ist selbst nicht als solches aufzufassen. So ist die Definition von Antonio Gramsci zu verstehen. Dort „bezeichnet Zivilgesellschaft das Netzwerk von Assoziationen zwischen dem Staat, dem Markt und dem privaten Bereich“.218 Bürgerlichkeit als dazugehörige Ethik oder politische Kultur wird darin allerdings nicht beachtet, ist aber unverzichtbar. Idealtypisch zählen zu ihr: Freiheit, Pluralität, Toleranz und Friedfertigkeit, Zivilcourage und Partizipation, Gegenseitigkeit und Empathie, Werte wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Gemeinschaft.219 In den gegenwärtigen theoretischen Ansätzen zur Zivilgesellschaft werden beide Aspekte nicht immer zusammen diskutiert; oft stehen normative Aspekte, also die Verhaltenserwartungen an den Bürger im Vordergrund. Daher lässt sich grob zwischen einer liberalen, den Wirtschaftsbürger mitdiskutierenden und einer kommunitaristischen, auf Gemeinschaftlichkeit orientierten Variante der Zivilgesellschaft differenzieren. Die liberale Variante geht im deutschen Sprachraum auf Ralf Dahrendorf zurück, den ich ausführlicher zitieren möchte: „Die Bürgergesellschaft ist eine Welt, die dem Einzelnen Lebenschancen offeriert, ohne dass der Staat dabei eine Rolle zu spielen braucht. Sie ist eine Welt, in der ein großer Teil des Lebens in freien Gesellschaften sich abspielen kann, eine Welt, die insofern den Staat eigentlich nicht braucht, und die den demokratischen Staat allenfalls indirekt stützt, insoweit sie ihn entlastet und Menschen Lebensmöglichkeiten offeriert, für die diese den Staat nicht brauchen. Das heißt genau die Tatsache, dass der Staat nicht nötig ist in großen Teilen unseres Lebens, macht diesen Staat zu einem demokratischen Staat, macht die Verfassung zu einer Verfassung der Freiheit“.220 Dahrendorf steht deutlich in der Tradition von Adam Smith, setzt sehr stark auf die Selbstregulation demokratisch-gesellschaftlicher Verhältnisse, letztlich also auf bürgerliche Verhaltensdispositionen, die fest genug in den Individuen eingeschrieben sind, so dass sie starker externer Kontrolle durch Staat und Gesellschaft nicht bedürfen. Dieses Denken steht in der Tradition der Aufklärung und ihrer Hochschätzung der Vernunftfähigkeit des Menschen und dem Glauben, auf dieser Basis eine Gesellschaftsordnung gründen zu können. Dahinter steht eine positive Anthropologie, welche alle bekannten kritischen Entgegensetzungen der Neuzeit – von Hobbes über Rousseau, Schopenhauer, Nietzsche bis zu Freud – ignoriert bzw. geringer schätzt wie auch die Selbstregulationsfähigkeit von Gesellschaften über-
217 218 219 220
Schiffauer, W. (2002): S. 5 Reese-Schäfer, W. (2000): S. 77 Waschkuhn, A. (1998): S. 505 Dahrendorf, R.(1992): Die Zukunft der Bürgergesellschaft, S. 80
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schätzt.221 Die auch von Ferguson herausgestellte und zur Grundlage seines institutionstheoretischen Konzepts der Zivilgesellschaft gemachte ambivalente Grundnatur des Menschen, ihn gleichsam zu Freundschaft und Feindschaft, zu Kooperation und Eigennutz befähigt zu sehen, wird hier eher einseitig harmonisierend aufgelöst.222 Der Kommunitarismus hat sich als wichtigster Gegenpol zur liberalen Auffassung der Zivilgesellschaft etabliert. Allerdings ist der Kommunitarismus keine einheitliche Theorie, sondern eher eine Sammelbezeichnung für Autoren, die ursprünglich die Kritik an John Rawls liberaler Gerechtigkeitstheorie einte223 und zu denen Charles Taylor und Michael Walzer zu zählen sind wie auch Atmai Etzioni als Vertreter eines gesellschaftstheoretisch orientierten Kommunitarismus. Die theoretische Diskussion ist inzwischen kaum zu überblicken224, und ich möchte mich auf einige Grundzüge beschränken, um die Differenzen deutlich zu machen. Diese liegen nicht in der Institutionenordnung oder in der grundsätzlich demokratischen Verfasstheit auch der kommunitaristischen Zivilgesellschaft. Der wichtigste Unterschied besteht in der primären normativen Bewertung bzw. Stellung des Einzelnen. Im Liberalismus sind individuelle Freiheitsrechte als oberste Norm anzusehen. Der Kommunitarismus hält dem die Vorstellung des Guten entgegen: Nicht alles, was Individuen in ihrer Freiheit tun wollen und anstreben, ist aus gemeinschaftlicher Perspektive wünschenswert. Hauptkritik am Liberalismus ist dessen Ansicht, dass Grundrechte, vor allem die Freiheit, jeden Gerechtigkeitsvorstellungen, jeden Formen kollektiver Selbstbestimmung vorgeordnet sind. Dem wird hier die alternative Konzeption entgegengehalten, dass gemeinschaftliche Vorstellungen des Guten ein normativer Vorrang zukommt.225 Allerdings sollte man die Konzepte der Zivilgesellschaft eher als politische Utopien oder normative Orientierungsmaßstäbe verstehen und sie daher nicht direkt an der Praxis oder der praktischen Verwirklichung messen. Diese utopische Kraft speist sich aus der Allgegenwart von Ungleichheit und Ungerechtigkeit auch in modernen demokratischen Gesellschaften. Von den eben kurz dargestellten Ansätzen einer Zivilgesellschaft abstrahierend, lässt sich sagen, dass im Zentrum der Zivilgesellschaft die Idee von Gerechtigkeit und Gemeinschaftlichkeit und Solidarität steht, ohne dies in Widerspruch oder Gegensatz zu individuellen Freiheitsrechten zu stellen. Indem öffentliche Angelegenheiten diskursiv-demokratisch durch die davon Betroffenen geregelt werden, finden sich gemeinschaftliche Lösungen. Demokratie und Zivilgesellschaft bilden ein Bollwerk gegen den Sieg des privaten Eigennutzes in demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften, 221 Vgl. Döhn, L. (1998a), zum Liberalismus als politische Idee, soziale und ökonomische Ordnungsvorstellung siehe: Fenske/Mertens/Reinhard/Rosen (2004): Kap. 35– 37 222 Vgl. Waschkuhn, A. (1998): S. 503 223 Haus, M. (2003): Kommunitarismus. Einführung und Analysen, S. 21 224 Vgl. exemplarisch Haus, M. (2003): zum Kommunitarismus vgl. Lange, S. (2000) 225 Kneer, G. (1997): S. 240
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indem sie ihn (den Eigennutz) auf die Verantwortung für das Gemeinwesen verpflichten und dieses als festen normativen Orientierungsmaßstab für wert- und zweckrationales Handeln226 zu verpflichten versuchen. Zivilgesellschaft antizipiert eine vernünftige, da konsensuell hergestellte, gemeinschaftliche (emotional geprägte) Gesellschaftsform auf der Basis freier, vernünftiger und selbstverantwortlicher Bürger. Die idealisierte Zivilgesellschaft ist die Einheit von politischen und sozialen Rechten und Pflichten,227 die auch einem neoliberalen Markt Schranken setzt. Wie alle anderen auch, bricht sich diese Utopie an den realen Verhältnissen, ist kritisierbar, kann als Utopie jedoch Wertbindung und damit soziale Integration erzeugen. Mit ihr verbindet sich die Hoffnung auf ein starkes, basisdemokratisches Fundament der europäischen Gesellschaften. Zivilgesellschaft als normatives Konzept gegenwärtiger demokratischer Gesellschaft nimmt also die unterschiedlichen in der Praxis vorfindbaren Formen auf. In angelsächsischen Ländern steht eher der bourgeois und das liberale Element im Vordergrund; in Frankreichs Republikanismus der citoyen, mit hoher Wertschätzung solidarischer Gleichheitswerte; Letzteres gilt auch für Deutschland. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sozioökonomischer Veränderungen, globaler wie regionaler politischer Krisen und Bedrohungen gilt die Zivilgesellschaft als eine solidarische Gesellschaft, die von hohem bürgerschaftlichem Engagement und sozialer Gerechtigkeit geprägt ist, als wichtiges Leitbild und Integrationsutopie und -mechanismus in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften.228 Wie lässt sich nun Zivilgesellschaft als Gesellschaftstypus ohne Fokussierung auf normative Aspekte, sondern im Blick auf die funktionale Praxis demokratischer Gesellschaften charakterisieren? Mit anderen Autoren bin ich der Meinung, dass sich Zivilgesellschaft als Form gesellschaftlicher Ordnung wie folgt beschreiben lässt:229 1. Zivilgesellschaft ist eine gesellschaftliche Ordnungsvorstellung und beinhaltet als solche auch Regeln über die Verteilung von Gütern und Leistungen (Privateigentum und Marktwirtschaft), über die Beziehung zwischen den Menschen (bürgerliches Privatrecht, bürgerliche Kultur) und Regeln über Ausübung und Zugang zur Macht (politisches System, demokratische Regeln) sowie darüber hinaus Vorstellungen über die Zusammengehörigkeit aller Mitglieder einer Gesellschaft und über die Teilhabe an dieser Gesellschaft über alle sozialen Differenzen hinweg. Zivilgesellschaft ist kein Subsystem im Sinne der Systemtheorie, eher der Ort, an dem sich Partikularitäten treffen und koordiniert werden müssen.
226 Arenhövel (2000): Die zögerliche Annäherung des Bürgers an den Citoyen, in: Wochenblatt II, Nr. 2, März/April 2000, S. 59 227 Kneer, G. (1997): S. 236 228 Vgl. Keupp, H. (2003): S. 3 229 Vgl. Arenhövel (2000): S. 62
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2. Zivilgesellschaft bietet einen Modus zur Regelung sozialer Konflikte. Durch plurale und sich überschneidende Mitgliedschaften in unterschiedlichen Assoziationen werden Konflikte minimiert, durch Kommunikationsnetzwerke entschärft und diskursiv bearbeitet. 3. Zivilgesellschaft erwartet eine verstärkte Selbstorganisation von sozialen, kulturellen Leistungen, Entlastung des Staates (Übernahme der Kompensationsfunktion für marktverursachte soziale Ungleichheiten). 4. Zivilgesellschaft unterstellt, dass der Interaktionszusammenhang auch als Sozialisationsinstanz fungiert. Sie dient folglich der Verankerung, der Weitergabe, der Vermittlung von Bürgertugenden wie Toleranz, gegenseitige Akzeptanz, Kompromissbereitschaft und -fähigkeit, Vertrauen, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit. 5. Zivilgesellschaft stellt einen Ort der Subpolitisierung (Beck) und der Demokratisierung politischen Handelns im Sinne einer Erweiterung der Möglichkeiten politischer Artikulation, Agenda-Setting, der Veröffentlichung politischer Themen dar, die sonst im politischen Mainstream untergehen oder unterdrückt werden. 6. Zivilgesellschaft so verstanden soll im Wesentlichen sechs Funktionen erfüllen230: • Schutz vor Übergriffen des Staates in die Privatsphäre, Sicherung bürgerlicher Freiheiten (Meinungsfreiheit, Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit, Freiheit der Berufswahl etc.). Der Staat als Hüter des Gewaltmonopols, Garant der öffentlichen Ordnung strebt durch vielfältige Kontrollmechanismen auf die Sicherung seiner eben genannten Funktionen. Zivilgesellschaft funktioniert primär aber nicht durch umfassende Kontrolle der Bürger, sondern durch freiwillige Selbstverpflichtung auf die zivilgesellschaftliche Ordnung. Ermöglicht wird dies aber nur durch Freiheit des Einzelnen in seinen privaten Lebensbezügen. • Beobachtung und Kontrolle staatlicher Macht. • Politische und gemeinwohlorientierte Sozialisation der Bürger zur Übernahme und aktiven Ausgestaltung der demokratischen politischen Kultur der Zivilgesellschaft . • Ort der politischen Willensbildung jenseits des politischen Systems in Form einer diskursiven und meinungsbildenden Öffentlichkeit. • Demokratisierungsfunktion für die lokale Ebene (kommunale Selbstverwaltung, freiwillige bürgerliche Assoziationen. • Ermöglichung von überlappenden Mitgliedschaften in verschiedenen Assoziationen, Initiativen und Bewegungen. So werden soziale Konfliktlinien durchschnitten oder überbrückt, da sich keine klaren Fronten ergeben.
230 Merkel, W./Lauth, H.-J., (1998): Systemwechsel und Zivilgesellschaft: Welche Zivilgesellschaft braucht die Demokratie?, in APuZ B 6-7/1998, S. 6f.
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Unabhängig davon, ob man Zivilgesellschaft als politisch-utopische Konzeption oder als tatsächliche Form gesellschaftlicher Organisation betrachtet: Beide stehen tief in der Tradition der westlichen Ideengeschichte, vor allem in der Tradition der bürgerlichen Aufklärung und der christlichen Religion. Die zentralen Institutionen wie privates Eigentum, individuelle Autonomie, friedliche Konfliktlösung etc. sind sämtlich in der Staats- und Gesellschaftsphilosophie von Hobbes bis Kant und Hegel begründet und ausgeführt und wirken bis heute nach. In den ethischen Prinzipien ist somit die christliche Ethik säkularisiert aufgehoben. Zivilgesellschaft ist demnach, trotz ihres universalistischen Anspruchs, ganz entschieden europäisch, und in einer Zeit europäischen Aufstiegs und Dominanz in der Welt entstammend. Das bedenkend, ist zumindest die Frage zu stellen, ob die für uns wie selbstverständlich erscheinende Idealität zivilgesellschaftlicher Vorstellungen über das gesellschaftliche Zusammenleben nicht mit den Augen des Nicht-Europäers als problematisch oder inakzeptabel angesehen werden kann. Ob man also andere gesellschaftspolitische Vorstellungen für ebenso selbstverständlich halten kann und das zivilgesellschaftliche Modell ablehnt und dessen universalistischen Anspruch letztlich als eurozentristisch entlarvt. Ob der behutsame Lewis oder der polemische Tibi, Roy in seinen faktenreichen Analysen oder kirchlich-interreligiöse Forschungsgruppen – einen Faktor betonen alle Forscher und Analysten als besonders wichtig: Die Wertbilder von Christentum und Islam sind trotz der gemeinsamen monotheistischen Wurzeln verschieden: „Es handelt sich um reine Fakten, wenn hier angeführt wird, dass jede Zivilisation ihr eigenes Weltbild hat und auch unterschiedliche Auffassungen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Wissen sowie von Krieg und Frieden pflegt. […] Nur aus Ignoranz oder politischem Opportunismus kann man diese Dissonanz leugnen.“231 „Wir leben in einer Welt hegemonialer Ansprüche, in der immer häufiger Mittel des Terrors, des Krieges und demokratisch nicht legitimierter Herrschaft zum Einsatz kommen.“232 Bedeutet das, dass die Zivilgesellschaft, der die Europäer so viele Errungenschaften verdanken, auf Dauer nicht bestehen kann? So fragt Keupp und antwortet, dass im Gegenteil klar ist, dass die Zivilgesellschaft weiter gestärkt werden muss233, dass Partizipation, Solidarität und (ehrenamtliches) Engagement der Bürger wesentlich werden für gelingende Integration und damit für ein weiteres Gelingen unseres Gesellschaftsprojekts. Werden muslimische Migranten, die Schwierigkeiten haben, sich in westlichen Gesellschaften zu integrieren, in denen Religion einen gänzlich anderen Stellenwert haben, einfügen?
231 Tibi, B. (1998): S. 247 232 Keupp, H. (2003): S. 4 233 Ebd., S. 3
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Die Bildung in der modernen Gesellschaft Bildung und Erziehung sind für jede Gesellschaftsformation von eminenter Bedeutung. Ihnen obliegt die Einfügung neuer Generationen in bestehende soziale Strukturen. Es ist dabei eine Frage der sozialen und politischen Machtverteilung, welchen Zielen diese Sozialisationsbestrebungen untergeordnet sind. Historisch war in Europa lange Zeit die Kirch wichtigster Bildungsträger; in manchen Ländern hat sie heute noch großes Gewicht. Dennoch ist es ein Zug der Moderne, dass Bildungssysteme die Institutionen sekundärer Sozialisation in öffentlicher oder privater Trägerschaft sind. Denn, ebenso wie die normative Wertordnung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gesellschaften religiös geprägt war, ruht die Moderne prinzipiell auf einer säkularen Ordnung, die daher in säkularen Institutionen weitergegeben wird. (Aus-)Bildung und Erziehung sind in der Moderne derart bedeutend, dass sie von der Differenzierungstheorie234 als eigenes Teilsystem angesehen werden, also als umfangreicher makrosozialer Strukturzusammenhang mit eigener Handlungslogik und einer spezifischen Funktion für die Gesellschaft.235 Bildungssysteme tragen heute eine doppelte Last: Durch die Anpassung der Qualifikation heranwachsender Generationen an die Nachfrage der Wirtschaft versuchen Gesellschaften ihr eigenes Fortbestehen zu sichern. Gleichzeitig wird mittels Wissensvermittlung und in Grenzen auch Bildung (im Sinne von Kultivierung) versucht, jenseits der fortgeschrittenen sozialen Differenzierung, die Einheitlichkeit der Gesellschaft und damit ihre symbolische Integration wieder herzustellen. Diese beiden Funktionserfordernisse beförderten die Expansion des Bildungssystems seit der Renaissance. Eine andere Quelle liegt in der affirmativen Beziehung zwischen Bürgertum und Bildung im umfassenden Sinne, denn Bildung, Kultivierung, Entfaltung des Menschen waren ursprünglich bürgerliche Werte und Lebensmaximen. Im nächsten Abschnitt wird dies anhand des bürgerlichen Bildungsideals näher ausgeführt.
Bürgerliches Bildungsideal Antike, Renaissance und Aufklärung kannten jeweils ein spezifisches Ideal der Bildung und Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten; glaubten an die Möglichkeit der Perfektionierung und höchsten Ausbildung des Menschseins durch die kultivierende Wirkung der Hinwendung zu den schönen Künsten, der Literatur, der Philosophie und der Sprache. Meist blieb diese eher kontemplative Lebensweise auf wohlhabende und damit sehr kleine Bevölkerungsgruppen beschränkt; also nicht im eigentlichen Sinne bürgerlich, jedoch war mit der Wiederentdeckung des antiken Erbes der Wert der Bildung und der Wissenserweiterung zum 234 Vgl. oben Kap. 2.1.2 235 Luhmann, N. (2002): S. 62f.
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Selbstwert avanciert. Und auch wenn die Bildung nie ausschließlich der Bereich bürgerlicher Betätigung gewesen war, es immer auch Abkömmlinge des Adels gab, die sich in die alten Schriften vertieften und für neue Wissenschaften interessierten, kann dennoch von einer tiefen Affinität zwischen Bildung und Bürgertum gesprochen werden. Die gesellschaftliche Stellung als nicht-agrarisch arbeitende Schicht befördert diesen Zusammenhang. Wissenschaft, Schriftkultur, die Bewahrung antiken Wissens, Literatur waren im Späten Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit primäre Domäne des Klerus und der im Umkreis der weltlichen Höfe und Universitäten tätigen Gelehrten.236 Die Einrichtung von Universitäten und anderer weltlicher Bildungseinrichtungen, die Schaffung einer literarischen Öffentlichkeit (Expansion der Druckerzeugnisse), die Aufforderung der Reformatoren, den Glauben auf selbständiges Studium der Bibel zu gründen, Ausweitung und Intensivierung der Rechnen und Schreiben fördernden Wirtschaft – all das beförderte den Bedeutungsgewinn von Bildungsgütern, zumindest der grundlegenden Kulturtechniken. Und da all diese Bereiche genuine Domänen des Bürgertums waren, wurden Bildung, Kultiviertheit und Wissen zu zentralen Aspekten bürgerlicher Lebensführung. Gleichzeitig wurden, vor allem in Deutschland, Bildungsgüter, Bildungstitel zur negativen Abgrenzung gegenüber dem Adel und Unterschichten genutzt. Indem Bildung mit Kultiviertheit, mit innerlicher Selbstvervollkommnung und Selbstentfaltung gleichgesetzt wurde, konnte das noch schwache Bürgertum daraus jenes Selbstbewusstsein ziehen, um gegen den lediglich „zivilisierten“, nur fassadenhafte Repräsentation pflegenden Adel eine eigene Stellung zu beziehen. Daraus erklärt sich die Wertschätzung der Bildung weit über den Nutzen für wirtschaftliches Fortkommen hinaus, wie sie für die Ausprägung der deutschen Moderne typisch war.237 Damit ist auch die Etablierung der semantischen Differenz zwischen Kultur und Zivilisation geknüpft, die so weder die englische noch die französische Sprache kennt, sondern wie das Bildungsbürgertum eine deutsche Eigenheit ist. Der emphatisch-überhöhte Bildungsbegriff im Sinne Herders, die „Bildung des Menschen zur Humanität“238, bleibt dabei typisch für die deutsche Geistesgeschichte. Diese Humanität verwirklicht sich dabei durch eine ganzheitliche Bildung des Menschen, darin liegt die Bestimmung des Menschen, wie es Wilhelm von Humboldt sieht: „Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“239 Das meint also auch die Entwicklung und Ausgestaltung aller im Einzelnen angelegten Potentiale und Kräfte, worin auch ausdrücklich praktische Fertigkeiten mit eingebunden
236 Dirlmeier, U./Fouquet, G./Fuhrmann, B. (2003): Europa im Spätmittelalter. S. 84ff. 237 Vgl. Elias, N. (1997) Bd. 1: Kap. 1; auch Münch, R. (1986): Bd. 2: S. 686ff. 238 Bollenbeck, G. (1994): Bildung und Kultur. Glanz und Elend deutschen Deutungsmusters, .S. 126 239 Humboldt, zitiert nach Lenhart, V. (2005): S. 34
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sind. Allerdings ging die Wertschätzung für die Praxis innerhalb des neuhumanistischen Bildungsverständnisses recht schnell verloren. „Innerhalb weniger Jahre wertet die deutsche Intelligenz mit dem Ideal einer zweckfreien geistigen ‚Bildung‘ die Ökonomie und Nützlichkeit, die Berufserziehung und Technik ab.“240 Es verliert in der deutlichen Bevorzugung des „reinen Menschen“ den gesellschaftlich realen Menschen in seinen tatsächlichen Weltbezügen zu Wirtschaft, Politik und Kultur aus dem Blick.241 So wenig sich das neuhumanistische Bildungsideal in die Praxis umsetzen ließ, auch wenn die preußischen Reformen im Bildungsbereich zu Beginn des 19. Jh. davon inspiriert waren, so sehr war es dennoch von kultureller Dominanz. Hier liegt die Ambivalenz begründet, mit der in Deutschland (und auch in Frankreich) die moderne bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft von den Intellektuellen beurteilt wird; hieraus speist sich die Tradition der Kulturkritik. Das Ideal zeigt also weniger praktische Wirkung durch Institutionalisierung im Bildungssystem als vielmehr durch die dauerhafte Prägung des kollektiven Ideals im deutschen (Bildungs-)Bürgertum eine Hochschätzung für Kultur allgemein. Hier liegt aber auch die Wichtigkeit begründet, die Bildung im Sinne von erworbenem, vor allem geistig-kulturellem Wissen für die Integration von Individuen in Kollektive hat. Denn dieses Bildungsideal wirkte natürlich sozial selektiv, markierte deutliche soziale Grenzen zwischen jenen, die an weiterführender Bildung teilhaben konnten, und jenen, denen dies verwehrt blieb. Und in Deutschland wie in Frankreich blieb dies bei der Gymnasialausbildung bis zu den Bildungsreformen der 60er- und 70er-Jahre so. Diese brachten erstens Ausweitung weiterführender Schulbildung auf breitere Bevölkerungskreise, wobei am stärksten die (bereits mehr oder weniger bildungsnahen) Mittelschichten profitierten, während die Benachteiligung von bildungsfernen Unterschichtsangehörigen kaum verbessert werden konnte.242 Zweitens passierte damit aber auch eine Abkehr von der überkommenen Bildungsidee. Nicht mehr die Persönlichkeitsbildung des Individuums stand im Zentrum, sondern die Erfordernisse von Wirtschaft und Gesellschaft. „An die Stelle der überlieferten Kategorien ‚Persönlichkeit‘, ‚Geist‘ und ‚Kultur‘ traten in unverhüllter Einseitigkeit die leitenden Begriffe ‚Gesellschaft‘, ‚Einkommen‘ und ‚soziale Gerechtigkeit‘. Bildung wurde [...] nicht mehr als geistiger Prozess verstanden, der das Individuum zu Selbständigkeit und Freiheit, zur Teilhabe am Kulturganzen und zu voraussetzungsreichen ästhetischen Wahrnehmungen befähigen sollte; sie figurierte nur noch als‚ gesamtökonomischer Produktionsfaktor‘ sowie als ‚individueller Sozialfaktor‘, d. h. als die die künftigen Konsummöglichkeiten und den künftigen gesellschaftlichen Status bestimmende Instanz“.243 240 241 242 243
Bollenbeck, G. (1994): S. 99 Ebd., S. 171 Vgl. Vester, M. (2004) Fuhrmann , M. (2002): Bildung, Europas kulturelle Identität.
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Die klassische, dem Neuhumanismus entstammende Bildungsidee verlor damit endgültig ihre kulturelle Hegemonie und entlastete die Schulbildung von ideologischem Ballast und einigen unzeitgemäßen Unterrichtsinhalten und Bildungsvorstellungen. Für die entwickelte Industriegesellschaft mit ihrer Abhängigkeit von naturwissenschaftlich-technischer Intelligenz und Innovationskraft zur Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung und des Wohlfahrtsniveaus ist das unbeirrte Festhalten dominanter sprach- und kulturwissenschaftlicher Ausbildung (Latein, Altgriechisch, antike Kultur und Kunst) im Gymnasium unangemessen. Der typisch deutsche emphatische Bildungsbegriff hat also an Bedeutung verloren, aber die dahinter stehenden Ideen und Hoffnung sind stets lebendig geblieben und sind es bis heute. Sie gingen ein in vielfältige Formen kritischer Pädagogik244, bilden den normativen Hintergrund für als Verfallsgeschichten formulierte Ausführungen zu Subjektivität, Identität und Bildung bei den Vertretern der Kritischen Theorie.245 In der gegenwärtigen Bildungsdiskussion um ein neues Bildungsverständnis, Bildungsinhalte und Organisationsstrukturen ist die Lebendigkeit des neuhumanistischen Bildungsideals nicht zu übersehen. Wie beispielhaft im Bildungsplan für die Grundschule in Baden-Württemberg ausformuliert, wird derzeit versucht, die gesellschaftlich wichtige Ausbildungs- und Qualifizierungsfunktion mit dem Anspruch einer Persönlichkeitsbildung und der Anpassung an die besonderen Umstände der gegenwärtigen Zeit zu verbinden.246 Bildung in diesem umfassenden Sinne der Subjektentfaltung nährt heute wieder die Hoffnung, als Integrationsmechanismus fungieren zu können. Unterstellt ist, dass Bildung die Antwort auf die Schwierigkeiten gegenwärtiger Lebensführung ist, wie dies zum Beispiel von Hentig nahe legt: „Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung.“247 Für Migranten ist dies besonders relevant. Oft fehlen ihnen die für selbstverständlich erachteten Bildungsgüter und Qualifikationen, denn sie verfügen eben über eine andere Bildung, über andere Wertvorstellungen bezüglich Bildung und überhaupt Individualität. Das hier diskutierte Bildungsideal beinhaltet ganz deutlich hohe Individualisierungsansprüche, denn es geht um die Bildung des Einzelnen, um die humanistische Bildung des autonomen Subjekts.248 Auch wenn also das gegenwärtige Bildungsideal ausdrücklich die kulturelle Pluralität westlicher Gesellschaft mit einbezieht, müssen die soziokulturellen Bedingungen nationaler Bildungssysteme neu definiert werden. 244 Vgl. Heydorn, H.-J.(1970) Bernhard, A. (1997) 245 Adorno, T.-W. (1997): Theorie der Halbbildung; Habermas, J. (1976): Kap. II; vgl. auch: Koller, H.-C. (1999) 246 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden –Württemberg (2004): S. 8, vgl. Bittlingmayer/Bauer (2005) 247 Hentig, H. von (1996): S. 13, auch Fuhrmann, M. (2002) kurze Darstellung ist in diesem Sinne zu vertehen 248 Bollenbeck , G.(1994): S. 128f.
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Bildungswirklichkeit und Bildungsbürgertum in Deutschland Nach dieser kurzen Darstellung des neuhumanistischen Bildungsideals als ein kulturelle Deutungsmuster und Ideal, wie es für Deutschland und in Teilen auch Frankreich von Bedeutung gewesen ist, soll nun kurz aufgezeigt werden, wie groß die Bedeutung von Bildung für das deutsche Bürgertum gewesen ist; dass Bildung wesentliches Bestimmungsmerkmal von Bürgerlichkeit geworden ist. Die Expansion von Schriftkunst, Rechnen, nützlichem Fachwissen und die Entwicklung einer literarischen Öffentlichkeit und somit die Differenzierung der Kultur ist ein kontinuierlicher Prozess in der Frühen Neuzeit, der jene Dynamik fortschreibt, die mit Humanismus, Buchdruck, Reformation und Konfessionalisierung begonnen hatte.249 Expansion und Differenzierung des Schulwesens gingen damit einher, die Forderung nach einer allgemeinen Schulpflicht tauchte auf (so bei Comenius), die ab Beginn des 19. Jahrhunderts nach und nach Realität wurde. Die deutschen Staaten, und besonders Preußen, hatten hierin eine Vorreiterrolle inne, daher wie auch aus Platzgründen, wird sich die Darstellung darauf konzentrieren. Aufgrund der ökonomischen Schwäche des deutschen Bürgertums entdeckte es Bildung und Kultur als genuin eigenes Betätigungsfeld, als Quelle des bürgerlichen Selbstbewusstseins. Befördert durch Aufklärung und Klassik, etablierte sich der Anspruch an die harmonische Entwicklung aller geistigen und körperlichen Fähigkeiten eines nie beendeten, lebenslangen Prozesses der Selbstverbesserung: „Sich vom Privatstand der gesitteten Bürger zum universalen Abbild des Menschen fortzubilden, war das Projekt der bürgerlichen Aufklärung.“250 Bildung wurde hier zum zentralen Merkmal bürgerlicher Identität. In keinem anderen Land konstituierte Bildung, über die vermittelnde Wirkung von Bildungsabschlüssen, ein darauf gegründetes Selbstbewusstsein und Sozialprestige, wie es den Beamten, Angestellten, Wissenschaftlern und Schriftstellern sowie der interessierten bürgerlichen Öffentlichkeit im Wilhelminischen Kaiserreich zu eigen war (dem einer Abwertung der rein adligen Lebens- und Herrschaftspraxis und des materiellen Gewinnstrebens des Wirtschaftsbürgertums entsprach). Wenn der Begriff „Bildungsbürgertum“ (ohnehin eine deutsche Besonderheit) historisch Sinn macht, dann für die Zeit des Deutschen Bundes, vor der Reichsgründung. Denn später waren auch Unternehmer, Kaufleute und Handwerker gut ausgebildet, etablierte sich die Berufsausbildung und eine Vielfalt weiterführender Bildungsabschlüsse besonders im naturwissenschaftlich-technischem Bereich, so dass Bildung an sich innerhalb des Bürgertums keine di249 Schindling, H. (1994): Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit, R. Oldenbourg Verlag, München S. 77 250 Schulz, A. (2005): Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, S. 19
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stinktive Wirkung mehr entfalten konnte.251 Geblieben ist in Deutschland – bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und teilweise bis heute – die Wertschätzung von Kunst, Literatur und Musik in den bürgerlichen Kreisen, die Entfaltung eines reichen kulturellen Lebens in den Städten als typische Form gesellschaftlichen Lebens der Mittelschichten und tendenziell die Höherschätzung von Bildungstiteln, Gebildetsein und Beherrschung der kommunikativen Codes und Praktiken einer bürgerlichen Hochkultur252 gegenüber dem in angelsächsischen Ländern präferierten individuellen Besitz- und Erwerbsstreben. Die enorme Wertschätzung von Bildung war in der bürgerlichen Epoche auf einen kleinen Bevölkerungskreis beschränkt, da das Bürgertum ja selbst nur eine Minderheit darstellte. Wie oben beschrieben, wuchsen die Mittelschichten vom Umfang her im 20. Jahrhundert; sie differenzierten sich intern. Die Prägung durch bildungsbürgerliche Traditionen zeigt sich in Deutschland nach wie vor durch die Bildungsbeflissenheit der breiten Mittelschichten; ihre Wertschätzung einer soliden Allgemeinbildung und anerkannten Berufsausbildung.253 Gleichzeitig wurde die Bildungsbeflissenheit durch diese Generalisierung über die eigentlichen bildungsbürgerlichen Kreise hinaus ihrer idealisierten Überhöhung entkleidet, sozusagen säkularisiert. Der bildungsbürgerliche Geist hat sich in wenige, noch klassisch bürgerliche Milieus der akademisch-technischen und künstlerischen Intelligenz zurückgezogen. Dadurch hat dieses Ideal auch längst an selektierender Kraft verloren. Die verschiedenen Sozialmilieus haben in unterschiedlicher Weise Anteil am bürgerlichen Kulturgut und Wertehorizont. Allerdings beruhen Selbstverständnis und Alltagskultur der kulturell bestimmenden Mittelschichten in Deutschland nach wie vor auf den Idealen der Bürgerlichkeit, stehen in Tradition des bürgerlichen Habitus wie oben beschrieben; auch wenn die sozialstrukturelle Formation des Bürgertums wie im 19. Jahrhundert nicht mehr existiert.254 Insofern also Bürgerlichkeit den Hintergrund deutscher Alltagskultur bildet – in Frankreich ist die Traditionsgebundenheit im kulturellen Selbstverständnis ebenso stark –, sind damit Integrationsschranken definiert oder zumindest Integrationsschwierigkeiten aufgezeigt. Migranten aus anderen Kulturen erscheinen als Fremde und fordern durch diese Fremdheit das kulturelle Selbstverständnis wie die Normalitätserwartungen der Mehrheitsgesellschaft heraus. Wie sich diese als kollektives Gut über Bildungsprozesse herausbilden, wird im Abschnitt über die Funktion des Bildungssystems näher ausgeführt. 251 252 253 254
Kocka, J. (1995): S. 44 Vgl. Schulze, G. (1992): Kap. 3.5 Hochkulturschema Vgl. zu den Bildungsstrategien: Grundmann, M. et. al. (2003): S. 25–45 Die Wissenschaft pflegt eine intensive Debatte über die Frage, inwieweit die deutsche Nachkriegs- und Gegenwartsgesellschaft als bürgerlich bezeichnet werden kann. Es ist Hans-Ulrich Wehler zuzustimmen, die gegenwärtige Bindung an die bürgerlichen Traditionen anzuerkennen, nicht zuletzt erleben ja Bürgerlichkeit und die Maximen der bürgerlichen Gesellschaft im Konzept der Zivilgesellschaft eine Renaissance. Vgl. Meißner (2005); Wehler (2000) und (2001); Hettling (2005)
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Unabhängig von dieser kulturellen Dimension ist Bildung neben der sozialen Herkunft jedoch zentraler Zuweisungsmechanismus auf soziale Positionen und damit Regulator sozialer, ökonomischer, kultureller und politischer Teilhabe an der Gesellschaft. Daher auch die strukturbildende Kraft von Bildungszertifikaten.255
Strukturen des Bildungssystems In modernen Gesellschaften übernahm die Bildung wichtige Funktionen. Spezialisierung und Professionalisierung von Berufsbildern, die zunehmende Integration wissenschaftlichen Fachwissens in alle zunächst öffentlich-systemische Bereiche, später auch in die Alltagskultur weckte den Bedarf an spezifisch ausgebildeten Arbeitskräften. Das triff in erster Linie für die Lehrer selbst zu; Professionalisierung d.h. Akademisierung und Fachspezifizierung des Lehrers ist integraler Bestandteil modernern Bildungswesens und selbst Vorreiter fachspezifischer Ausbildungen. Seit dem späten 19. Jahrhundert war Lebensbewältigung ohne Erlernen zentraler Kulturtechniken und Wissenskomplexe in einer mehrjährigen Schulausbildung schwierig.256 Denn moderne, bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts ist in erster Linie eine schriftliche, eine lesende Kultur; Lesen und Schreiben wird damit zur Grundvoraussetzung. Vormoderne Kulturen in Europa waren nicht schriftlos, nein, aber Schriftlichkeit, Bildung und Kultur blieben vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit, trotz Expansion, auf Städte beschränkt. Ländliche Lebensweise, und das betraf bis ins 19. Jahrhundert mehr als 80% der Bevölkerung, war durch oral tradierte Konvention und Bräuche geregelt und geprägt, zusätzlich zur ebenfalls mündlich weitergegebenen Überlieferung der Heiligen Schrift. Die Etablierung eines staatlichen Schulsystems geschah im Zuge der geplanten Modernisierung und die deutschen Länder waren anderen Staaten in Europa weit voraus.257 Übergänge zum staatlichen Bildungswesen liegen in allen deutschen Staaten um die Wende zum 18. Jahrhundert. Das Allgemeine Preußische Landrecht definierte Schul- und Universitätsbildung bereits als staatliche Aufgabe, die nicht ohne Genehmigung des Staates durchzuführen sei. Allerdings führte Preußen, anders als Bayern oder Baden, keine Schulpflicht ein, sondern eine Un-
255 Vgl. Schulz, A. (2005): S. 191 256 Glück, H. (1987): Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach– und kulturwissenschaftliche Studie, S. 176 Wobei es aus funktionalen Gesichtspunkten egal ist, ob Bildung staatlich oder privat organisiert wird. 257 Zur Institutionalisierung des Schulwesens allgemein; Herrlitz, H.-G./Hopf, W./Titze, H. (1984): S. 55–71, zur Entwicklung in Preußen und anderen deutschen Ländern Klewitz, M./Leschinsky, A. (1984): S. 72–98
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terrichtspflicht. Kinder mussten unterrichtet werden, gleichgültig ob in staatlichen oder privaten Bildungseinrichtungen.258 Auch das moderne Bildungssystem in den westlichen Nationalstaaten war und ist in struktureller Hinsicht von Differenzierung, Pluralisierung und Spezialisierung geprägt. Zudem ist eine qualitative Verbesserung in dem Sinne zu beobachten, dass der Umfang der in den Elementarschulen vermittelten Bildung ständig anstieg. Gleichzeitig differenzierten und spezialisierten sich die Formen höherer Schulausbildung. In Deutschland führte der Weg zur Universität klassischerweise über das neuhumanistische Gymnasium, das inhaltlich stark auf alte Sprachen und Geschichte konzentriert war. Die wissenschaftlich-technologische Entwicklung und ihre Implementierung in Berufsleben und Alltag beförderte seit dem frühen 20. Jahrhundert jedoch stark die Etablierung technischnaturwissenschaftlicher Bildungsinstitutionen und Bildungsgänge. Dem Gymnasium wurde in Deutschland das Realgymnasium mit spezifisch naturwissenschaftlichem Profil und auch das Obergymnasium mit Konzentration auf moderne Sprachen gleichwertig zur Seite gestellt, deren Abschluss auch, zunächst begrenzt, Hochschulzugangsberechtigung darstellte. In die gleiche Zeit fiel die Gründung naturwissenschaftlicher Fakultäten an den deutschen Universitäten; Naturwissenschaften standen bisher unter dem Dach der Philosophie. Die Ablösung des Bildungsmonopols der Geistlichkeit und die Übernahme durch den Staat stellte dabei einen der wichtigsten Konflikte des 19. Jahrhunderts dar.259 Vor allem gegen die katholische Kirche in Frankreich richtete sich seit dem ausgehenden Mittelalter in den Städten die Aufklärung mit ihrem Streben nach Freiheit des Denkens. Die französischen Revolutionen richteten sich auch immer gegen die kulturelle Macht des Katholizismus, die bis heute nicht verschwunden ist. Aber Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Bildung zur ausschließlichen Aufgabe des Staates, die Trennung von Staat und Kirche in der Verfassung verankert. In anderen westlichen Ländern wurde der Laizismus nicht zur offiziellen Staatsräson. Im Kaiserreich gab es Versuche, das Bildungsmonopol der Kirchen zu brechen– bis 1918 ohne Erfolg. So blieben die allgemeinbildenden Schulen in Deutschland größtenteils Konfessionsschulen. 95% aller protestantischen Kinder und 90% aller katholischen Kinder besuchten im Kaiserreich jeweils die Schule ihrer Konfession.260
258 Tenorth, H.- E. (2000): S. 142 259 Die katholische Kirche wirkte, anders als die evangelischen Kirchen, in vielen Ländern als Widerstandsmacht gegen Modernisierungsprozesse und die Herrschaftszentralisierung der Staatsmacht. Das führte zu vielfältigen Versuchen, die politische und kulturelle Macht des Katholizismus zu brechen und überall etablierten sich Kompromisse zwischen katholischer Kirche und säkularem oder protestantisch geprägtem Staat. Vgl. zum Kulturkampf in mehreren mitteleuropäischen Ländern: Franz (1954) 260 Wehler, H.-U. (1995): 1194, siehe auch Tenorth, H.- E. (2000): S. 144
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In den 1880er-Jahren erhielten trotz aller Schwierigkeiten nahezu 100% der unterrichtspflichtigen Kinder auch tatsächlich eine Unterrichtung; die Analphabetenquote lag unter 1%.261 Moderne Bildung wirkte damit insofern egalisierend, dass elementare Kulturtechniken des Lesens und Schreibens nicht mehr Privileg einer kleinen Elite blieben – die prinzipiellen Voraussetzungen für die Teilhabe an bürgerlicher Kultur waren damit ebenfalls gegeben. Ganz allgemein gesagt etablierte sich in den modernen Gesellschaften ein fachlich und qualitativ differenziertes Berufsbildungssystem auf der Grundlage allgemein-pflichtmäßiger Grundbildung. Deutschland und Frankreich haben ein institutionell sehr differenziertes; in England, den USA und Kanada sind qualitative Unterschiede zwischen Bildungseinrichtungen weniger institutionalisiert, ergeben sich eher aus der Form der Finanzierung, des Renommees und der davon abhängigen Qualität des Lehrkörpers. Die Autonomie des Bildungssystems ist dabei weniger umfassend ausgeprägt als in der Wirtschaft. Bildungseinrichtungen sind eng in die staatliche Bürokratie eingebunden – organisatorisch und inhaltlich von staatlichen Vorgaben geprägt. Nicht primär pädagogische Aspekte bilden die Grundlage bildungspolitischer Entscheidungen, sondern die in anderen gesellschaftlichen Bereichen entstandene Nachfrage oder politische Ziele. Wie ausgeführt, sind Einführung und Ausgestaltung der Allgemeinbildung ein politisches Projekt der Herrschenden gewesen; und bis heute sind Lehrplaninhalte wesentlich durch die politische Kultur geprägt. Wie in der DDR Staatsbürgerkunde die Heranwachsenden auf den sozialistischen Staat prägen sollten, gibt es mit Gemeinschaftskundeunterricht, Ethik, Geschichte auch heute Fächer, denen die Vermittlung demokratischer Grundwerte und Orientierungen obliegt. Diese staatstragende Funktion ist seit jeher Bestandteil von Bildungseinrichtungen. Und natürlich ist das Bildungssystem eng mit den Anforderungen des Wirtschaftssystems verwoben; passen sich Lehrpläne, wenn möglich, den nachgefragten Qualifikationsanforderungen an.
Die Funktionen des Bildungssystems Schul- und Ausbildung haben u.a. das Ziel, den Einzelnen zur selbstständigen Lebensführung zu befähigen und dadurch den Fortbestand der Gesellschaft zu sichern (durch Erwerbsarbeit, politische Partizipation, gesellschaftliches Engagement, Familie etc.). In vormodernen Zeiten leistete dies die lebensweltliche Einheit von Familie, dörflicher Gemeinschaft und Religion. Die „Ausdifferenzierung des Erziehungssystems“, wie Luhmann es nennt262, hat ihren Ursprung im Zerbrechen des praktischen Zirkels von Erziehung, Sitte und Lebenswelt263, des einheitlichen ländlichen Lebenszusammenhangs im Zuge 261 Wehler , H-U. (1995): S. 1193 262 Luhmann, N. (2002): S. 62 263 Tenorth, H.- E. (2000): S. 32
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von Industrialisierung und Urbanisierung. Wie im letzten Abschnitt dargelegt, oblag es von nun an der Kultur, die Einheit von differenzierter und pluralisierter Lebenswelt und systemischer Handlungssphäre symbolisch neu zu generieren und zu tradieren. Über partikulare, der persönlichen sozialen Position und Herkunft verhafteten Moral und Konvention hinweg, sollten zur Herstellung und Wahrung kollektiver Identität (scheinbar) allgemeingültige Moralvorstellungen und Handlungsmaßstäbe sozialisiert werden.264 Diese Funktion, die zuvor Religion und Familie übernommen hatten, ging in staatlich-kommunale Verantwortung über. Trennung von Beruf und Privatleben, Einbindung zumindest des Vaters, bei Arbeitern auch der Mütter (wenn nicht sogar den Kindern selbst) reduzierten die Sozialisationswirkung des familiären Kontextes. Wissensvermittlung konnte in Arbeiterhaushalten so gut wie gar nicht, und auch in Bürgerhaushalten nur begrenzt geleistet werden. Bedeutsam blieb die Familie allerdings für die Vermittlung schichtspezifischer Kulturformen und Weltsichten. Demnach hat diese Funktionszuweisung an das Bildungssystem zwei Komponenten. Aus erzieherischer Perspektive besteht sie in der Vermittlung eines universellen, auf den Grundrechten der demokratischen Verfassungen beruhenden Werte- und Normenkanons. Hier werden die Regeln sozialer Umgangsformen der öffentlichen bürgerlichen Gesellschaft und damit die Trennung zwischen öffentlicher und privater Welt sozialisiert – in erster Linie in den Kindertageseinrichtungen und noch in der Grundschule. Der zweite Aspekt ist in sich wieder ein doppelter. Zum einen beinhaltet er die Vermittlung möglichst umfangreicher Grundkenntnisse der wichtigsten Wissenschaften, womit sich die inhaltliche Dimension des wissenschaftlichen Weltbildes tradiert. Das Ziel besteht in der naturwissenschaftlichen Erklärung von Alltagsphänomenen – nicht im Sinne wissenschaftlicher Korrektheit, sondern auf jenem sozial eingespielten Niveau allgemein geteilten, naturwissenschaftlichen Wissens und der Vorbereitung auf die Berufsausbildung. Der zweite Punkt berührt die formalen Aspekte des modernen Weltbildes, besteht in der Ausbildung zentraler, kognitiver Fähigkeiten. Analytisches, systematisches, wissenschaftlich-rationales Denken, Verknüpfungsfähigkeit, Abstraktion, Komplexitätsreduzierung: Mittels dieser Fähigkeiten gelingt die Orientierung in einer unübersichtlichen, komplexen und relativistischen Kultur, wie sie die Moderne entwickelt hat. Dies ist idealtypisch formuliert, denn praktisch haben sich vielfältige Wege generiert, diese schier unüberschaubare Komplexität zu reduzieren. Unterschiedliche kognitive Stile und milieuspezifische Prägungen formen individuelle Relevanz- und Wissenssysteme, die wiederum Grundlage der Integration in die Gesellschaft und der alltagsnahen Vergemeinschaftung bilden. Hier befindet sich die Kombination von Differenz und Einheitlichkeit. Na264 Zur Abhängigkeit der Erziehungsziele von der Staatsform siehe fürs dt. Kaiserreich Wehler, H.-U. (1995): S. 1196; für die Weimarer Republik, Wehler (2003): S. 450ff. Für die Gegenwart: Bittlingmayer/Bauer (2005); Detjen (2007): S. 5
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hezu jede denkbare Weltsicht, egal ob neoliberal, erzkonservativ, fortschrittspessimistisch oder nihilistisch, findet in Persönlichkeiten Ausdruck, prägt das konfliktträchtige Feld moderner Kultur – auf dem Boden generalisierter Wertvorstellungen und abstrakter, kognitiv-rationaler Prinzipien. Schulbildung vermittelt also Elemente einer allgemeinen Kultur, die, neben der kulturellen Pluralität und Differenzierung existierend, individuelles Zugehörigkeitsempfinden zu einem Kollektiv ermöglicht (Vereinheitlichungs- und Integrationsfunktion). Inwiefern der Schulbildung und Berufsausbildung die auferlegte Ausbildungs- und Integrationsfunktion erfolgreich gelingt, ist eine empirische Frage. Theoretisch bleibt das Problem, dass die generalisierungsfähigen Bestandteile der Bildung so abstrakt und formal sind, dass sich darauf keine Partikularitäten übergeordnete Weltsicht gründen lässt. Denn jede Perspektive (und auch das Bildungssystem vermittelt eine partikulare Sicht, die zwar Anspruch auf Universalität hat, der man jedoch widersprechen kann) ist schlussendlich wertgebunden, damit wertrelativ und nicht geeignet, Definitives und Unumstößliches zu formulieren. Es ist unzweifelhaft, dass Gesellschaften auf einer normativen Grundlage funktionieren, auf einem Set von Regeln, die Interaktionen der Gesellschaftsmitglieder regeln, koordinieren und orientieren. Die Sozialwissenschaften tun sich jedoch schwer, diese vage Vorstellung begrifflich-abstrakt zu fassen oder gar mit Inhalten zu füllen. Im Wissen der kulturellen Differenzierung und pluralen Milieulandschaft ist die Frage nach den Gemeinsamkeiten vor allem empirisch schwer zu beantworten. Kollektive Identität ist auch kein brauchbarer Ausdruck dafür; es erscheint fraglich, ob er überhaupt tauglich ist, da größere Bevölkerungsgruppen eigentlich nicht als Kollektive (sondern bestenfalls als Aggregate) zu bezeichnen sind. Zudem sind kollektive Identitäten, wo sie behauptet werden, immer zugeschriebene, konstruierte Identitäten einer ebenso konstruierten, „imaginierten Gemeinschaft.“265 Dennoch: Spätestens wenn Komplexe der nationalen oder ethischen Zugehörigkeit thematisiert oder gar problematisiert werden, zeigt sich die individuelle Relevanz solcher, aber eben nur latent vorhandener und kognitiv nicht ausgestalteter, Vorstellungsinhalte. So wird sich die Mehrheit der Deutschen auch als Deutsche bezeichnen – unabhängig von der persönlichen Bewertung dieses Deutschseins und ohne genau benennen zu können, worin sich dieses „Wesenhafte“ ausdrückt. Vermittelt werden diese Vorstellungskomplexe aber ebenfalls in der Sozialisation; im Elternhaus, im lokalen Milieu ebenso wie im Bildungssystem. Die Teilhabe an den staatlichen Bildungsleistungen und ihr selbstverständliches Einfügen in milieutypische Lebensläufe, Familienalltag u. dgl. ist auch aus diesem Grund für individuelle Lebensführung und Lebenszufriedenheit von zentraler Bedeutung.
265 Ebd., S. 297ff.
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Die Selektivität von Bildungsabschlüssen Der Durchlauf durch die Bildungsinstitutionen verschafft prinzipiell jedem Gesellschaftsmitglied Inklusionschancen in die Gesellschaft. Darüber hinaus, und dieser integrativen funktionalen Bestimmung zuwiderlaufend, wirkt Bildung über Bildungszertifikate hochselektiv, erzeugt und reproduziert soziale Rangunterschiede und ungleiche Lebensverhältnisse. „Der Zugang zu verschiedenen sozialen Positionen mit ihren Privilegien und Benachteiligungen, der Zugang zu verschiedenen Schichten, soziale Aufstiege und Abstiege sind relativ eng an das Bildungsniveau gekoppelt. Bildung ist eine zentrale Ressource für Lebenschancen.“266 Diese Platzierungsfunktion kann Bildung erfüllen, da für die Besetzung von wichtigen Positionen die Vorlage von Bildungsabschlüssen institutionalisiert ist. „Die Zulassung zu Berufen und somit die Möglichkeit, das erworbene kulturelle Kapital in ein finanzielles Einkommen, d.h. in ökonomisches Kapital umzuwandeln, ist zuallererst von der Verfügung über entsprechende Legitimitätsnachweise in Form von Schul-, Berufs- und Bildungsabschlüssen abhängig.“267 So ist erklärlich, dass Einkommen und meist auch sozialer Status eng an Bildungspatente gekoppelt sind. Bis zur Bildungsexpansion in vielen westlichen Ländern in den 60er- und 70er-Jahren wiesen untere, mittlere und höhere Bildungsabschlüsse nahezu automatisch den Weg in eine bestimmte Berufskarriere und damit soziale Position. Die heutigen Entwicklungen betrachtend, ist die negative Selektionswirkung von Bildungsabschlüssen am augenscheinlichsten. So wenig Hochschul- und Universitätsabschlüsse heute eine entsprechende soziale Position garantieren268, so sehr bewirken die niedrigsten Bildungszertifikate oder gar deren Fehlen tendenziell den dauerhaften Ausschluss aus geregelter Erwerbsarbeit269, von welcher in modernen Gesellschaft alle sozialen Partizipationschancen und damit die Verfügung über ausreichendes Einkommen gebunden sind; bestimmen Bildungsabschlüsse in hohem Maße individuelle Lebenschancen. Es ist eine empirisch zu klärende Frage, wie zielsicher Bildungssysteme die Bevölkerung nach ihrer tatsächlichen Kompetenz und Leistungsfähigkeit selektieren. Neben persönlichen Faktoren gibt es weitere, direkte und indirekte Einflüsse auf den Schulerfolg. Der konkrete Unterricht, die Praxis des Benotens und Förderns, überhaupt die Gestaltung der Bildungsangebote, Bildungswege bis hinauf zu den Studiengängen kanalisieren, bremsen und fördern unterschiedliche Begabungen. Die Methode des Messens prägt das Ergebnis vor. So sind generell im Schulsystem Kinder mit stark praxisorientierten Fähigkeiten jenen gegenüber 266 Geißler, R. (2002): S. 333 267 Schwingel, M., (2000): Pierre Bourdieu zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg, S. 88f 268 Länder mit ausgewiesenen Elitebildungseinrichtungen bilden insofern eine Ausnahme, als deren Absolventen mehrheitlich nach wie vor alle Türen zu den gesellschaftlichen Elitepositionen offen stehen. 269 Hradil, S. (2001): Soziale Ungleichheit in Deutschland, S. 199
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benachteiligt, die abstrakt, formal, rein sprachlich vermittelte Unterrichtsinhalte besser reproduzieren können. Man kann diese die Leistung beeinflussenden Faktoren unterschiedlich bewerten; wichtiger ist, dass im Bildungssystem ein leistungsunabhängiger sozialer Filter wirksam ist; dessen selektive Wirkung im Alltag weniger offensichtlich ist.270 Hinter diesem als ‚soziale Herkunft‘ zu bezeichnenden Faktor verbirgt sich ein Wirkungsgeflecht aus schichtspezifischen Sozialisationsprozessen, typischen Lebensläufen und Alltagsorientierungen, aus schichttypischen kulturellen Partizipationen und einer stark unterschiedlichen Stellung zum „Bildungsgut“ als Wert an sich und als Mechanismus der sozialen Positionierung. Wie sich diese selektierenden Effekte strukturprägend auswirken, muss für jedes Land gesondert untersucht werden. Dennoch lässt sich länderübergreifend feststellen, dass es am ehesten die Unterschichten sind, für die sich die negativen Wirkungen dieser Aspekte zu einer Bildungsferne addieren. Die Behauptung in einer auf Bildungszertifikaten beruhenden Integration in die Erwerbsarbeit ist dadurch erschwert. Hier wirkt jene enge Verbindung zwischen Bürgertum, Bildung, Leistungsethik fort. Für mittlere und obere Schichten ist es selbstverständlich, den sozialen Status der Familie, der Kinder über entsprechende Bildungskarrieren zu sichern, die dementsprechend auch geplant werden. Bildung ist hier, wenn schon nicht mehr ein Wert an sich, so doch zumindest in seiner Bedeutung erkannt. Leistungsfähigkeiten sind vor diesem sozialen Hintergrund ebenso von den Bildungsinstitutionen abhängig. Ein stark und frühzeitig differenzierendes Schulsystem wie in Deutschland verstärkt den selektiven Einfluss sozialer Herkunft, so dass Schüler frühzeitig gemäß ihren Schulleistungen getrennt werden. Nicht erst PISA hat gezeigt, dass dem sozialen Einfluss durch integrative Schul- und Unterrichtsformen entgegengewirkt werden kann.
Zusammenfassung Zivilgesellschaft als neues Etikett? Das Konzept der Zivilgesellschaft steht unübersehbar in der sozial- und geistesgeschichtlichen Tradition der europäischen Moderne seit dem 18. Jahrhundert. Zum einen verwies es in den Aufklärungsschriften auf die nicht-staatliche Sphäre gesellschaftlichen Handelns, zum anderen war es Ausdruck einer programmatischen Idee, der zufolge eine Zivilität der Nationen, ja der ganzen Menschheit erreicht werden müsse. Mit guten Argumenten lässt sich begründen, dass der ebenfalls von den Denkern der europäischen Aufklärung diskutierte Begriff der „Bürgerlichen Gesellschaft“ heute in der Zivilgesellschaft Wiederauferstehung feiert
270 Geißler, R. (2002): S. 354
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bzw. hier unter neuem Etikett angeboten wird.271 Bezeichnet und akzentuiert allerdings der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel und bei Marx eine Wirtschaftsgesellschaft, so betont der Begriff der Zivilgesellschaft die politischen Räume und Freiheiten der Bürger. Beide Begriffe spielten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft keine Rolle, wurde das Bürgertum konzeptuell und sozial verabschiedet und durch den Mittelstand „ersetzt“.272 Das Bürgertum verlor seine Exklusivität und sukzessive auch seine kulturelle Hegemonie.273 Mit der Ausweitung sozialstaatlicher und bürokratischer Zuständigkeit und der industriegesellschaftlichen Durchstrukturierung und Uniformierung des Wirtschaftslebens274 schien die für Bürgerlichkeit selbstverständliche Selbstständigkeit strukturell eingeschränkt; schien die Gesellschaft ihr bürgerliches Gesicht weitgehend verloren zu haben. Auch auf habitueller Ebene veränderte sich Bürgerlichkeit: Es verschwand die bildungsbürgerliche Attitüde wie auch das verbreitete Exklusivitätsbewusstsein bzw. zog sich in die schmalen Milieus der oberen Mittel- und Oberschicht zurück. Wie uns die Milieuforschung seit den 80er-Jahren zeigt, ist die breite Mitte heute primär von anderen Leitvorstellungen geprägt, die eher zu einer Konsum- und Populärkultur passen. Es sei materialistisch, privatistisch und politisch indifferent geworden.275 Bei den Vertretern der Kritischen Theorie, aber auch bei Arnold Gehlen ist diese Entwicklung als Verfallsgeschichte beschrieben worden.276 Erst mit dem Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und bürokratischer Zuständigkeiten, dem Erstarken neoliberaler Wirtschaftspraktiken, überhaupt dem Zerbrechen jenes Sicherheit versprechenden Arrangements der Nachkriegsgesellschaften im Zuge der Globalisierung erlebt die Bürgerliche Gesellschaft als „Bürgergesellschaft“ als „Zivilgesellschaft“ wieder eine Renaissance, da nun die Selbstverantwortung des Einzelnen, die Fähigkeit zur Selbstorganisation und der Anspruch auf Selbstgestaltung für Funktion und Integration der Gesellschaft notwendig geworden schien.277 Gleichzeitig ist die bürgerliche Gesellschaftsordnung, so sieht Wehler es, aus dem Widerstreit der Ideologien und Systeme während des 20. Jahrhunderts als Sieger und damit als wirkungsmächtigste politische 271 Wehler, H.-U. (2001): S. 627 272 Das verweist auf den Abbau sozialer Ungleichheiten, in erster Linie den kollektiven Aufstieg der Arbeitermilieus – ohne allerdings von Verbürgerlichung sprechen zu können, denn die kulturellen Distinktionen zwischen beiden Gruppen blieben erhalten und wurden explizit gemacht. Vgl. Vester, M. (1998): Was wurde aus dem Proletariat? 273 Siegrist, H. (1994): S. 571 274 Vgl. Ostner, I. (2001) 275 Niethammer, L. (1990): Bürgerliche Wechseljahre – zur Konjunktur erinnerter Gefühle, S. 546 276 Exemplarisch: Horkheimer/Adorno (1997): Dialektik der Aufklärung; Fromm, E. (1993): Furcht vor der Freiheit; Marcuse, H. (1967): Der eindimensionale Mensch; Gehlen, A. (1963): Die Seele im technischen Zeitalter 277 Vogt, L. (2005): Das Kapital der Bürger, S. 58
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Utopie hervorgegangen.278 Angesichts der Tatsache, dass der Begriff der „Bürgerlichen Gesellschaft“ in seiner Bedeutung im deutschen Sprachraum durchaus eine Sonderstellung einnimmt, für den sich in England, Amerika oder Frankreich keine Entsprechung findet, und sich gleichzeitig damit Vorstellungen und Bedeutungen verbinden, die eng an die historische Realität des langen 19. Jahrhunderts gebunden sind, bleibt es zur Vermeidung von Missverständnissen wichtig, die Akzente, die der Begriff der „Zivilgesellschaft“ gegenüber dem der „Bürgergesellschaft“ setzt, nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn wenn der Begriff der Zivilgesellschaft, wie z.B. Habermas kritisch hervorhebt, die Ökonomie nicht mehr einschließt, sondern sich primär auf die nicht- staatlichen und nicht- ökonomischen Zusammenschlüsse bezieht,279 dann sind Fragen und Probleme von Migration nur eingeschränkt diskutierbar. Insofern bleibt mit ihm und neben ihm der Begriff der Bürgerlichen Gesellschaft ein wichtiges analytisches Instrument.
Moderne Gesellschaft – quo vadis? Moderne Gesellschaften sind dynamische Gesellschaften. Auch wenn sich Entwicklungsprozesse nicht linear vollziehen, ist die Bewegung das Signum der Moderne. An Marx und Weber anschließend können Kapitalismus und Rationalismus als wichtigste Triebkräfte dieser Dynamik der Moderne angeführt werden. Die Bewegung zeigt in Richtung Auflösung und Differenzierung zunächst vormoderne Gesellschaftsordnungen und Weltbilder.280 Doch auch nach Durchsetzung der Moderne kam diese Bewegung nicht an ihr Ende. Was immer auch als neuer fester Grund von Sozialordnung und Kultur angesehen wurde: Nationalismus, Sozialismus, Industriegesellschaft, wurde strukturell wie kulturell/ideologisch wieder von Transformationen überholt, bis letztlich in der fluiden Moderne die Einsicht sich durchsetzte, dass jene fraglose Selbstverständlichkeit einer vorgegebenen Weltordnung, wie sie die vormoderne Zeit kannte, nicht mehr zu erreichen sein wird.281 „Die großen Leitideen und ‚Meta-Erzählungen‘ der Aufklärung von Fortschritt und Emanzipation, vom Sinn der Geschichte der Autonomie des Subjekts und der Beglückung aller Menschen waren [...] seit jeher mit dem Terror verschwistert. ‚Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt.‘ [...] An die Stelle der Einheitsprogramme und Totalitätsideen der Neuzeit-Moderne tritt [...] die Zustimmung zur irreduziblen 278 Wehler, H.-U. (2001): S. 627 279 Habermas, J. (1992): Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 443 280 Vgl. Weber, M. (1988e): Zwischenbetrachtung; Habermas, J. (1981): S. 262; Luhmann, N. (1997): Kap. 4 281 Hinz, M. (2002): Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität, S. 111
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Vielfalt lokaler und heterogener Sprachspiele, Handlungsformen und Lebensweisen.“282 Die Zumutung an die Individuen besteht im Aushalten mangelnder Eindeutigkeit, des „Sowohl-als-auch“ (Beck); in der Fähigkeit, subjektiv handeln und Weltdeutung zu orientieren, ohne verbindlich vorgegebene kognitive und normative Schemata. Ambiguitätstoleranz, das Aushalten von Widersprüchen und Dissonanzen stellt eine Schlüsselqualifikation moderner Lebensführung dar. Die Zumutung besteht darin, dass sich die jeweils individuelle Lebensführung auf eine gesellschaftliche Sphäre konzentriert, diese aber nicht verabsolutieren kann. Hinzu kommt, dass wir uns über die Partikularität bzw. Konstruiertheit und damit des fragilen Charakters von Identitäten klar sind und sie dennoch als sichere Basis für individuelle Lebensführung benötigen. Leben in der fluiden Moderne erzwingt den Umgang mit dieser Reflexivität der Lebensvollzüge, der Identitätszuschreibungen und Weltbildkonstruktionen, eben in der Abkehr von fraglos gegebenen „Wahrheiten“. Diese Herausforderungen sind für alle im Westen lebenden Menschen in etwa gleich; allerdings stehen nicht-europäische Zuwanderer mit ihrem differenten kulturellen Hintergrund in einer gewissen Differenz dazu, da sie eben nicht in die westliche Kultur hineingeboren wurden. Sie erleben deutlich eine Differenz zwischen Herkunftskultur und europäischer Kultur. Notwendig sind Lern- und Akkulturationsprozesse. Und das Bildungssystem ist der bevorzugte Ort, wo diese stattfinden oder stattfinden sollen. Wie lässt sich abschließend diese westliche Kultur, in die es sich zu integrieren gilt, beschreiben? Im Kern geht es um die Anerkennung von Ambivalenz und Unbestimmtheit283, von individueller Autonomie und der Unbeeinflussbarkeit gesellschaftlicher Strukturen. Strukturformen und Prozesslogiken moderner Gesellschaften sind so weit objektiviert, so fest institutionalisiert – eben zum „stahlharten Gehäuse“ geworden, dass sie jeder individuellen Einflussnahme völlig entzogen sind. Auch kollektive Akteure (Bürgervereinigungen) und im globalen Zeitalter selbst nationale Regierungen vermögen nicht, wesentliche strukturelle Grundlagen moderner Gesellschaften zu verändern bzw. direkt zu beeinflussen. Sie sind zu einer Stabilität geronnen, die es möglich machte, selbst die Kritik an der Moderne, in die Moderne zu inkorporieren, Kulturkritik, gegenmoderne, alternative Gesellschaftskonzeptionen auf dem Boden und in den Freiräumen der Moderne gedeihen zu lassen. Auch und gerade der Sozialismus, als vielleicht wirkungsmächtigste gegenmoderne Vision, stellte nicht die moderne Gesellschaft an sich in Frage, sondern nur ihre kapitalistisch-bürgerliche Grundlage. Und auch, wenn Arbeiterbewegung, Frauenemanzipation, ökologische Bewegung Formen und Wege sozialer Entwicklung stark beeinflussten, vermochten sie nicht am Grundgerüst der Moderne zu rütteln. Allerdings gilt nur bis auf Widerruf, nur vorläufig, dass es der Moderne stets gelingt, alle inhärenten negativen
282 Eickelpasch, R. (1997): S. 15, dort zitiert: F. Loytard 283 Nick, P. (2003): S. 103ff.
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Folgen von Kapitalismus, Industrialismus und Wissenschaft für Umwelt und Sozialstruktur mittels Strukturanpassung auszugleichen. Die Anerkennung von Ambivalenz, Unsicherheit und Pluralität, das Aushalten der fluiden Moderne ist auch für die Menschen des Okzidents nicht selbstverständlich. Europäer und Nordamerikaner beginnen erst Stück für Stück (in Kanada schneller, in Deutschland und Frankreich langsamer) anzuerkennen, dass ihre Kultur und Gesellschaftsordnung eben nicht universelle Gültigkeit hat. Sie versuchen sich in der Wahrnehmung und Akzeptanz kultureller Differenz, ohne diese zu hierarchisieren. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts hatte die Wahrnehmung der europäischen Geschichte als Sonderentwicklung, als einzigem Weg in die Moderne ihre Berechtigung. Inzwischen haben die meisten Länder der Welt einen Weg in das moderne industrielle, wenn nicht sogar schon globale Zeitalter gefunden. Nicht alle sind dabei dem Vorbild Europas gefolgt (v.a. asiatische Staaten). So geht Eisenstadt berechtigt von einer Vielfalt der Modernen aus, in der sich die hier beschriebenen Aspekte europäischer Modernität in unterschiedlicher Weise wiederfinden, aber eng verbunden mit eigenen Traditionen und jeweiligen Kulturen.284 Die okzidentale Moderne sieht sich damit im Lichte anderer Kulturen relativiert; euphorische, universalistische Entwicklungstheorien, wie die Modernisierungstheorie des Strukturfunktionalismus, sind angesichts vielgestaltiger Modernisierungspfade als historisch widerlegt anzusehen, blenden sie zudem auch die negativen Aspekte, die Widersprüche der Modernisierung aus. Im Vergleich anderer Kulturen geraten die negativen Seiten und Widersprüche der europäischen Moderne heller ins Licht – und die gegenwärtige Kultur muss als Weg verstanden werden, dies auszuhalten und produktiv zu wenden. Das meint vor allem, dass der Rückfall in falsche Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit versprechende totalitäre Ideologien, wie sie das 20. Jahrhundert bestimmt haben (Nationalismus, Sozialismus, Faschismus), vermieden wird. Das ist die Herausforderung, vor der nicht nur Regierungen, sondern jeder einzelne Bürger der westlichen Welt gestellt ist, da er sie in seinem individuellen Leben auch bewältigen muss. Damit sind in erster Linie ganz alltägliche Erfahrungen von Pluralität und Differenz gemeint, die Akzeptanz ausländischer Migranten, fremder Kulturen und Religion. Heute muss man mit Ambivalenz, Pluralität und Unübersichtlichkeit leben. Dies ist die zentrale Einsicht der fluiden Moderne – als Beschreibungsformel der gegenwärtigen Gesellschaft – und ebenso Basis der Hoffnung, dass wir uns wirklich mit der „unheilbaren Anerkennung der Pluralität der Welt“ abgefunden haben, Abneigungen gegen „große Erzählungen“ und Ideologien hegen und das Interesse an „absoluten Wahrheiten“ verloren haben, wie Bauman sie äußert.285
284 Eisenstadt, S. (2000): Vielfalt der Modernen; Schwinn, T. (2006): Die Vielfalt und Einheit der Moderne. 285 Bauman, Z. (1995): S. 126
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In meinen Augen ist dies die ethische Basis der Zivilgesellschaft, die ihr entsprechende politische Kultur. Dabei besteht die Kunst darin, die Freiheit demokratischer Gesellschaften mit probatem Schutz demokratischer Institutionen und Verfahren zu verbinden, also zu verhindern, dass Demokratie selbst totalitär und gegen Fremdes abschottend wird.
Das kanadische Mosaik – Einheit in der Vielfalt
Nach diesen theoretischen und historischen Ausführungen zu modernen Gesellschaften, ihrer Entwicklung und der sie prägenden Kultur soll nun am Beispiel Kanadas ganz konkret untersucht werden, wie eine westliche Gesellschaft mit der ethnischen und religiösen Pluralität ihrer Bevölkerung umgeht und welche praktischen Lösungen sich für die verschiedensten Probleme gefunden haben. Kanada stellt, im Vergleich zu Frankreich und Deutschland, einen Sonderfall dar. Einerseits ist es eine moderne, westliche Gesellschaft im oben beschriebenen Sinne – andererseits fehlt ihr aber jene lange historische Tradition, welche europäische Gesellschaften bis heute prägt. Kanada ist eigentlich ein „Kunstprodukt“, ein Staat, in dem fast die gesamte Bevölkerung früher oder später Einwanderer gewesen ist; ein Staat, der bis heute allerdings aus zwei (englisch- und französischsprachige Kanadier) – und wenn man das erstarkende Selbstbewusstsein der Ureinwohner mit einbezieht – drei verschiedenen Kulturen und Traditionslinien besteht. Zunächst soll gezeigt werden, wie sich aus dem Nach- und Gegeneinander von Anglo- und Frankokanadiern der kanadische Staat und eine (gespaltene) kanadische Identität entwickelte. Dieser Grundkonflikt – manifestiert in den Separationsbestrebungen von Quebec – prägte die kanadische Geschichte, auch wenn er zunächst in Form einer eindeutigen Hegemonie der Anglokanadier gelöst wurde. Daher ist die geschichtliche Darstellung von Bedeutung, denn im Aufbrechen dieser Ungleichheitsverhältnisse in den 60er-Jahren liegt die Quelle dafür, dass Kanada heute eines der wenigen Länder mit explizit multikulturalistischer Politik und multikulturalistischem Staatsverständnis ist. Denn als Frankokanadier Gleichberechtigung im kanadischen Staat und Gesellschaft anstrebten, weitete sich die Perspektive auf die multiethnische Zusammensetzung der kanadischen Bevölkerung, begannen auch andere ethnische Gruppen ihre Interessen auf kulturelle Anerkennung zu vertreten. Das wird im zweiten Teil der Betrachtung näher ausgeführt und anhand der Implementierung der interkulturellen Erziehung im kanadischen Schulsystem verdeutlicht.
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Überblick: Der Staat Kanada als historische Konstruktion Die politische und rechtliche Stellung von und der alltägliche Umgang mit kultureller Vielfalt, ethnischem Fremdsein in Kanada kann, vor allem mit Blick auf die meisten europäischen Staaten, als vorbildlich und richtungweisend bezeichnet werden. Aus historischer Sicht ist es alles andere als selbstverständlich, dass Kanada eines der wenigen Länder auf der Welt ist (neben bspw. Australien), in dem der Multikulturalismus nicht nur offizielle Staatsdoktrin mit Verfassungsrang, sondern – zwar nicht unwidersprochen – auch gelebte soziale Praxis geworden ist. Geht man davon aus, dass staatliche Identitäten wie individuelle Identitäten konstruiert sind, ist die „Konstruktion“ des Staates Kanadas ein besonderes Beispiel für eine Integration sehr unterschiedlicher Elemente. Vielfalt bietet erhebliche Chancen, aber auch eine Reihe von Risiken. Wie vielfältig die Bilder des Kanadischen Staates sind, zeigen etwa die unterschiedlichen Bilder vom Canada Poster Challenge 2006.1 Erst spät politisch unabhängig geworden, war der kanadische Bundesstaat, wie sein südlicher Nachbar, zunächst ein primär britischer Staat – im Selbstverständnis der Bevölkerungsmehrheit wie in der politischen Kultur. Doch anders als den USA gelang es Kanada nicht, obwohl ebenso Einwanderungsland, eine neue, nationale Erzählung bzw. Identität zu entwickeln, der die Integration unterschiedlicher Immigrantengruppen, bei großen Freiräumen für Traditionsbewahrung, gelang. Der durch die wechselvolle Besiedlungs- und Eroberungsgeschichte Kanadas begründete innerstaatliche Dualismus (und Antagonismus) zwischen Anglo- und Frankokanadiern verhinderte die Ausbildung einer genuinen homogenen Nationalstaatskultur, einer nationalen Identität. Die anglophonen Siedler außerhalb Quebecs waren meist zufriedene Untertanen der britischen Krone. Weder sprang der revolutionäre Funke aus den südlichen 13 britischen Kolonien über, noch weckten die USA durch ihre Vereinnahmungsversuche große Sympathien. Im Gegenteil, wenn die Kanadier etwas eint(e), so war es am ehesten die Abgrenzung, die Distinktion gegenüber den südlichen Nachbarn. Elaborierter, konkreter wurde ein kanadisches Selbstverständnis jedoch nicht. In den Schulen wurde britische Geschichte, britische Literatur und Kunst gelehrt – nur in Quebec regte sich, aufgrund der Marginalisierungserfahrung so etwas wie Nationalstolz, ein Bewusstsein für die eigene Geschichte und die Verbundenheit mit Frankreich. Und erst als der Dualismus, das Gegeneinander beider höchst unterschiedlicher Bevölkerungsteile den kanadischen Bundesstaat in seinem Bestand bedrohte, wurde nicht der Multikulturalismus „erfunden“, sondern zunächst das hegemoniale, britisch-anglophone Selbstbild der Kanadier hinterfragt und versucht, in einem neuen Bilingualismus und Bikulturalismus neu aufzuheben. Als 1
Vgl. Multiculturalism National Office (o.D.): o.P.
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in Quebec ernsthaft die Trennung von Kanada diskutiert wurde, zog ein Bewusstsein für unterschiedliche Lebensweisen, kulturelle Traditionen sowie für deren Eigenrecht in die Politik ein. Also nicht aus primär philanthropischen Motiven, aus starker Verbundenheit mit dem normativen Projekt der Moderne, sondern sowohl aus pragmatischen als auch aus machtpolitischen, letztlich selbst existentiellen Gründen setzte sich die große politische und kulturelle Wende in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts durch. Multikulturalismus war nicht intendiert; seine Durchsetzung liegt eher in den einmaligen historischen Randbedingungen dieser Zeit begründet. „Der Multikulturalismus ist ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt des Quebec-Separatismus.“2 Als sich Anglo- und Frankokanadier über die zukünftige Form ihres Zusammenlebens im kanadischen Bundesstaat, dem Verhältnis ihrer Kultur und Traditionen und nicht zuletzt auch über die politische und ökonomische Machtverteilung zu verständigen begannen, betraten andere (damals vor allem dem restlichen Europa entstammende) Immigrantengruppen als politische Akteure das nationale Feld. Gestärkt und motiviert von den weltweiten Bürgerbewegungen der 60er-Jahre versuchten sie ihre Stellung neben den beiden „Gründungsnationen“ deutlich kenntlich zu machen, und – nach bisher anglophoner Dominanz – nun nicht einem offiziellen Bilingualismus unterlegen zu sein. Die von Pierre Trudeau im Jahr 1971 begonnene und bis heute fortgeführte Politik des Multikulturalismus ist das Ergebnis dieser kanadischen Staatskrise. Im Detail ist dies so spezifisch, dass es zwar dem kosmopolitischen Anspruch der europäischen Aufklärung Rechnung trägt, aber primär an den Bedürfnissen kanadischer Nationalstaatlichkeit orientiert ist. Nicht Multikulturalismus um seiner selbst willen, nicht schiere Begeisterung und Respekt für fremde Kulturen stellen dessen letzte Motive dar, sondern der unbedingte Wille (der Bundesregierungen), Kanada als Staatsgebilde zu erhalten und ihm endlich eine eigene Identität, ein eigenes Nationalbewusstsein und eine Nationalkultur zu geben. Neben der rechtlichen Fixierung, der organisatorischen Institutionalisierung ist die Implementierung von Prinzipien multikultureller Politik im kanadischen Bildungssystem, damit die Erziehung Heranwachsender im Bewusstsein von Respekt für kulturelle Heterogenität, für das Gelingen des multikulturellen, aber nationalstaatlichen Projekts von besonderer Bedeutung. Anhand der kurzen Geschichte Kanadas wird der enge Zusammenhang zwischen staatlichem Institutionensystem, kulturell-ethnischer Zusammensetzung der Bevölkerung und nationaler Identität – und damit den Inhalten und Formen der Erziehung sowie dem Umgang mit Fremdheit besonders deutlich.
2
Geißler, R. (2003): Multikulturalismus in Kanada – Modell für Deutschland? in: Apuz B 26/2003, S. 22
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Kanada – Eroberungs- und Einwanderungsland3 Die Entstehung Kanadas Der Dualismus und Antagonismus von Anglo- und Frankokanadiern, den beiden „Gründungsnationen“, hat die kanadische Geschichte geprägt. Nachdem Giovanni Caboto (John Cabot) im Auftrag Englands auf der Suche nach dem westlichen Seeweg nach Indien bereits 1497 die Küste Labradors und Nova Scotia entlang- segelte, war es Jacques Cartier, der die Einfahrt in den St.Lorenz-Strom entdeckte, ihn bis zur Stelle des heutigen Montreal hinauffuhr und das Land beiderseits des Stromes für Frankreich in Besitz nahm. Dies sollte die Keimzelle und bis heute das Herz Kanadas werden. Die europäischen Mächte befanden sich bis ins 18. Jahrhundert in einem regen Kolonialisierungswettlauf um die nordamerikanischen Gebiete. Neben Frankreich und England hatten zeitweise auch die Portugiesen, Spanier und Niederländer Stützpunkte auf dem nordamerikanischen Kontinent. Und bereits frühzeitig entbrannte der Kampf um Siedlungen und Territorien. So wurde Quebec 1629 von den Engländern erobert, kehrte jedoch 1632 unter französische Herrschaft zurück. Frankreich und England konnten sich zunächst als stärkste Kolonialmächte auf dem Gebiet, welches heute die Vereinigten Staaten und Kanada umfasst, behaupten.4 Französische Siedler folgten dem St.-Lorenz-Strom, entdeckten die Großen Seen und das Mississippi-Tal. Britische Siedler gründeten die 13 Kolonien an der amerikanischen Ostküste und nahmen, ausgehend von der Expedition Henry Hudsons, den weiten kanadischen Westen und Norden in Besitz. Auch in Neufundland und Nova Scotia gründeten die Briten Siedlungen und vertrieben die dort bereits ansässigen Franzosen nach Westen. Der Siebenjährige Krieg, eigentlich ein von Preußen provozierter Konflikt der europäischen Großmächte, wurde zwischen England und Frankreich auch in den nordamerikanischen Territorien ausgetragen. Mit dem Ergebnis, dass im Frieden von Paris 1763 Frankreich seine Besitzungen nördlich und westlich der 13 Kolonien (bis zum Mississippi) an England abtreten musste.5 3
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Für dieses Kapitel ist folgende Literatur maßgeblich: Sautter, U. (2003): Geschichte Kanadas, C. H. Beck Verlag, München; Harzig, C. (2004): Einwanderung und Politik, Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen, Kapitel 4; Mintzel, A., (1997): Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika, Wissenschaftsverlag Rothe, Passau, Kap. XII. Spanien behielt als einzige europäische Macht nennenswerte Territorien. Bis 1819 Florida (Verkauf an die USA) und in Form von Mexiko weite Teile des Westens, die aber unentschlossen blieben (abgetreten 1848 nach Niederlage Mexikos im Krieg gegen die USA). Nur der Vollständigkeit halber sei Russland erwähnt, das im 18. Jahrhundert mit Alaska ein Territorium in Nordamerika erwarb. Louisiana hieß das französische Territorium, welches sich vom Westhang der Appalachen über den gesamten Mittleren Westen den Missouri entlang bis hinauf ins heutige Oregon und Washington (State) erstreckte, aber unerschlossen blieb, von
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Die französischen Siedler hatten auf die kanadischen Kolonien die Strukturen des Ancien Regime übertragen: das typische Seigneuralsystem aus Grundbesitzern und abhängigen Bauern sowie der katholischen Kirche als zentraler gesellschaftlicher Ordnungsmacht, der vor allem das Bildungswesen vollständig unterstellt war. Die Grundzüge der agrarwirtschaftlichen Gesellschaftsformation und kulturellen Dominanz der katholischen Kirche blieb für die frankophonen Teile Kanadas bis in das 20. Jahrhundert hinein strukturprägend. Parallel entwickelte sich eine spezifisch frankokanadische Traditionalität. Die Auswanderung von französischen Landsleuten nach Kanada wurde von Ludwig XIV. bereits 1673 gestoppt, da der Exodus an Menschen aus Frankreich selbst nicht mehr tolerabel war, so dass sich der Bevölkerungszuwachs im französischen Kanada bis Mitte des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich aus dem Anstieg der Geburten ergab und sich eine homogene und fest verwurzelte Bevölkerung entwickelte. Der Herrschaftswechsel 1763 brachte jedoch nicht die erzwungene oder schleichende Assimilierung an die britische Kultur, vielmehr wurde den Frankokanadiern im Quebec Act von 1776 die Beibehaltung französischer zivilgesellschaftlicher Verhältnisse (Seigneuralsystem und Stellung der katholischen Kirche) zugesichert. Darauf beruht bis heute die Sonderstellung Quebecs und der Frankokanadier im kanadischen Staatswesen. Zunächst bedeutete dies, dass in Quebec (damals: Lower Canada) eben keine, dem englischen Vorbild entnommenen demokratischen Strukturen weitgehender Selbstverwaltung eingeführt, sondern an der autoritären, aus 20 Mitgliedern bestehenden Ratsregierung festgehalten wurde. Dieser Vertrag war hinreichend attraktiv, um beide Nationen zur Abwehr der Übergriffe US-amerikanischer Revolutionäre 1776 gegen Quebec zusammenzuschweißen und überhaupt bewusst Distanz zum revolutionären Süden zu wahren und damit den Grundstein zur Eigenstaatlichkeit Kanadas zu legen.6 Die Festlegung der Grenze zwischen den beiden Staaten erfolgte grundsätzlich am Verhandlungstisch, wie auch die Vereinbarung der dauerhaften Demilitarisierung der Grenze. Wurde dieser formale Rahmen erst im 19. Jahrhundert abgesteckt, begann die Erschließung des Westens und Nordens bereits im 18. Jahrhundert.7 Doch es waren Pelzhändler und Jäger der Britischen Hudson’s Bay
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einigen Forts am Mississippi abgesehen. 1803 verkaufte Napoleon Bonaparte dieses Land an die USA, womit dort der Erschließung des Westens Tür und Tor offenstanden. Abgesehen von Inseln im St.-Lorenz-Strom ist Frankreich nichts von den nordamerikanischen Kolonien geblieben. Im amerikanisch-britischen Krieg 1812–1814 und während des amerikanischen Bürgerkriegs war Kanada Eroberungsversuchen durch die USA ausgesetzt. Während im ersten Krieg, der die Eroberung Kanadas zum Ziel hatte, dieses überwiegend von Briten verteidigt wurden, begegneten die Kanadier der zweiten Gefahr selbst – sie war auch wesentlicher Antrieb zur Formierung des kanadischen Bundesstaates. Sir Alexander Mackenzie unternahm mehrere Expeditionen in den subpolaren Norden und stieß auf dem nach ihm benannten Strom bis an die Grenzen des Eismeeres
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Company, welche das riesige Territorium zwischen Rocky Mountains, dem Großen Sklavensee und der James Bay erschlossen und vor allem entlang der großen Ströme Siedlungen und Forts errichteten. Die britische Dominanz und ein nahezu natürliches britisches Selbstverständnis des kanadischen Staates folgten aus jener Entwicklungsgeschichte. Die frankophone Bevölkerung behielt ihren Minderheitenstatus. Nur in Quebec stellte sie die Bevölkerungsmehrheit; nennenswerte frankophone Minderheiten gibt es nur in Manitoba, Ontario und in New Brunswick, welches heute die einzige, offizielle zweisprachige Provinz Kanadas ist. Wirtschaftlich ist Kanada lange Zeit überwiegend ein Rohstoffexportland gewesen, noch heute leisten Holzwirtschaft, Fischerei, Bergbau und Landwirtschaft einen wichtigen Beitrag zum Bruttosozialprodukt. In erster Linie sind hier Getreide, Holz, Kohle, Mineralien und Erze zu nennen (Kupfer, Zink, Cadmium). Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt die Bedeutung und nehmen die Wachstumsraten der verarbeitenden und produzierenden Industrie in Ontario und Quebec zu, so dass Kanada heute mit zu den hochindustrialisierten Ländern und den G7-Staaten zählt. Es werden in erster Linie die einheimischen hochwertigen Rohstoffe verarbeitet, vornehmlich für den großen nordamerikanischen Markt (Freihandelszone). In der Siedlungsstruktur steht Kanada hinter den europäischen Ländern nicht mehr zurück. Nachdem es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein typisches Agrarland war, beträgt der Urbanisierungsgrad der Bevölkerung heute etwa 79%.8
Nation-Building Jede Nation wird in ihrer Geschichte von Gründungsmythen getragen, die die Identität bestimmen und die die Bürger innerhalb der staatlichen Grenzen motivieren sollen, diesem Staat gegenüber loyal zu sein. Das ist wichtig, weil innere Unruhen Kraft kosten und das wirtschaftliche und gesellschaftliche Wohlergehen einer Region gefährden. Länder, die von inneren Unruhen zerfressen sind, sind für ihre Bürger und erst recht für die Gruppe potentieller Migranten, die ein Staat braucht, um weiter zu prosperieren, nicht attraktiv. Eine Nation zu werden ist damit kein rein politischer oder rein administrativer Akt, er bestimmt die Kohäsion der Menschen in diesem Territorium. Der kanadische Staat musste sich also bilden, um überleben zu können und um seinen Bürgern halbwegs vernünftige Lebensbedingungen zu bieten. Die Bestimmung einer kanadischen Nation, die Emergenz eines Zusammengehörigkeitsgefühls zwischen allen Kanadiern stellte von Beginn an ein zentrales Problem Kanadas dar. Eine Nation konnte weder durch Rückgriff auf ethnische Kategorien begründet werden (wie es in Europa geschah, als die Idee eines „Va-
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vor; George Vancouver erkundete die Westküste des heutigen British-Columbia (1790–1795). D. h., dass 79% der Bevölkerung in Städten leben.
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terlandes“ aufkam), da die Urbevölkerung erstens selbst ethnisch äußerst inhomogen war und zweitens ohnehin von Beginn an zurückgedrängt, bekämpft und marginalisiert wurde. Auch stand den Kanadiern nicht die einigende Erzählung revolutionärer Erfahrungen zur Verfügung. Der Dualismus zwischen Anglo- und Frankokanadiern, die enge Anbindung ersterer an die britische Krone verhinderten zudem jedes Identität stiftende Projekt. Die Gründung des Bundesstaates 1867 war eher ein rationales politisches Projekt, wesentlich stärker durch die militärische Bedrohung aus dem Süden begründet als auf einer nationalen Bewegung aufbauend, wie man sie aus Europa kennt. Und tatsächlich entwickelte sich danach auch keine spezifisch kanadische Identität, sondern ein vor allem der Landesnatur geschuldeter Regionalismus. „Während einige Länder zu viel Geschichte haben, hat Kanada zu viel Geographie“, so der ehemalige Premierminister Mackenzie King.9 So besitzt Kanada, trotz der Bedeutung, die das „Herz Kanadas“ (Ontario und Quebec) hat, kein wirkliches gesellschaftliches, politisches, wirtschaftliches oder kulturelles Zentrum. Die Atlantikprovinzen, das Gebiet zwischen den Großen Seen und dem St.Lorenz-Strom, die Region um Winnipeg (Manitoba), Regina-Saskatoon (Saskatchewan), Calgary-Edmonton (Alberta) und rund um die Metropole Vancouver bilden regionale Zentren, an die sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen sowie die Orientierung der Bevölkerung, der Medien und der Kultur heften. Die Bundeshauptstadt Ottawa spielt eine nachgeordnete Rolle. Kanadische Identität ist daher nur oberhalb der regionalen Verwurzelung in Form einer Staatsnation möglich. Auch die Teilnahme an den beiden Weltkriegen konnte keine dauerhafte nationale Bewegung und Bewusstseinshaltung entfachen; ebenso fehlte die offensive Reklamation von Machtansprüchen im internationalen System politischer Beziehungen. Zwar ist Kanada keine Großmacht, aber auch als gewichtige Mittelmacht können kanadische Politiker keine Ziele verfolgen, die als typisch „kanadisch“ definiert wären, da nicht einmal ein binnenstaatlicher Konsens darüber zu erzielen war, was „typisch kanadisch“ sein könnte. Die Lösung des Problems des fehlenden Zusammengehörigkeitsgefühls lag von Beginn an in der Verantwortung der Bundesregierung. Premier John Alexander Macdonald (1867-1891) versuchte durch Eisenbahnbau, gezielte Besiedlung des Westens, Einführung von Schutzzöllen (Protektionismus) vor allem die geographischen Dimensionen Kanadas einander näher zu bringen und gleichzeitig in ihrer Autonomie zu stärken. Besonders wirtschaftlich bestand immer die Gefahr, nur ein Anhängsel der US-Wirtschaft zu werden.
9
Mintzel, A. (1997): S. 581
132 | PLURALISMUS UND ZIVILGESELLSCHAFT
Die Sonderrolle Quebecs Lange verstand sich Kanada wie andere Industrieländer als expansiv, modern, industrialisiert und fortschrittlich, als rationalistisch und sachlich auf eine Kultur festgelegt, hinter der die ethnische Vielheit als unerheblich zurückgestellt wurde. Die wirtschaftliche, politische und demographische Dominanz der Anglokanadier und daran assimilierter europäischstämmiger Bevölkerungsgruppen haben ein Selbstverständnis evoziert, welches zwar in der frankophonen Kultur Quebecs seine Grenzen fand, sich jedoch indifferent zu allen anderen ethnischen Gruppen in Kanada verhielt – solange diese ihre Vorfahren in Europa hatten. Erhalt und Pflege landestypischer Traditionen waren zwar möglich, dennoch bestand weitestgehend der Anpassungsdruck an die anglophone Öffentlichkeit außerhalb von Quebec. Englisch war die einzige Umgangssprache, Amtssprache und Unterrichtssprache. In den Schulen wurde nur begrenzt kanadische Geschichte oder Literatur gelehrt, vielmehr Geschichte und Kultur des britischen Mutterlandes. Die anglophone Kultur war bis 1971 nie in ihrer kulturellen Hegemonie gefährdet, wurde daher oft nicht so bewusst gepflegt und brauchte nicht verteidigt zu werden, so dass man sich subjektiv zunächst noch als Schotte, Deutscher oder Ukrainer fühlte denn als Kanadier. Auch die religiösen Bekenntnisse sind so heterogen, dass auf kultureller Ebene innerhalb der Bevölkerung schwer ein kollektives WirGefühl herzustellen war und ist. Völlig anders verhält es sich mit Quebec. Quebec hat aktuell 7.651.000 Einwohner. Die Bevölkerung besteht zu 82% aus Frankophonen, die größte Minorität sind Anglophone mit ca. 9%. In Quebec gibt es eine große Zahl bi- und multilingualer Menschen. Dabei sinkt der englischsprechende Anteil Quebecs kontinuierlich: “Although the role of English for international business and external communication purposes in Quebec can hardly be challenged, both the absolute number and the share of native English speakers has dropped significantly during the past forty years (from 13,8% in 1951 to just 8% in 2001) due to a net outmigration to other Canadian provinces. This decline is likely to continue in the near future.”10 77% aller Frankokanadier leben in Quebec und sind noch einmal von jenen zu unterscheiden, die in den anderen Provinzen leben.Wie beschrieben, ist die Einwanderung französischer Siedler nach Kanada schon relativ früh nahezu zum Erliegen gekommen. Quebecs Bevölkerung ging damit überwiegend aus sich selbst hervor und bildet heute eine äußerst homogene Gruppe – eine Besonderheit in Kanada. Die meisten Bewohner Quebecs haben Französisch als Muttersprache und sind katholischer Konfession. Im Zentrum frankokanadischer Identität steht jedoch nicht die Religion, sondern die französische Sprache. Als Ergebnis der Niederlage gegen England, der 10 Wikipedia (2007): o.P.
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kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Dominanz hat sich diese Identität in deutlicher Abgrenzung zur anglophonen Mehrheit entwickelt. „Allen Frankokanadiern ist der Stolz gemeinsam, französischen Ursprungs zu sein.“11 Und sah man sich früher zwar als Frankokanadier, so nutzen die Bewohner Quebecs heute, seit dem Aufschwung der Separatistenbewegung in den 60er-Jahren, keine Form der Bindestrich-Kanadier (French-Canadians), sondern bezeichnen sich als Québécois, und Quebec ist nicht einfach eine von 10 Provinzen, sondern für sich ein Nationalstaat innerhalb einer schlecht definierbaren Konföderation. Quebec beharrt auf einer Sonderidentität und auf einem Sonderweg.
Von der dichotomen zur pluralistischen Identität Im Ergebnis hat die Differenz beider Kulturen eigentlich zwei Nationalstaaten auf kanadischem Territorium hervorgebracht. Ähnlich wie die britischen und USamerikanischen Bürger ist die anglophone Mehrheitskultur protestantisch, liberal und wirtschaftsorientiert geprägt, mit einem als unbekümmert beschriebenen Fortschritts- und Modernisierungsglauben, der die Grundlage für die ökonomische Entwicklung Kanadas bildet. Demgegenüber blieb Quebec und damit die Mehrheit der frankophonen Bevölkerung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts landwirtschaftlich geprägt und agrarisch-katholischen Traditionen verhaftet. „Fortschrittsgläubigkeit auf der einen und Fortschrittsfeindlichkeit auf der anderen Seite ließen zwei parallele Gesellschaften mit entsprechenden historischen Erzählungen entstehen, in denen andere Einwanderer zunächst keinen Platz hatten.“12 Auch wenn einwanderungshistorisch diese Dichotomie nicht stichhaltig ist (Briten, Deutsche, andere Europäer siedelten ebenso in Quebec, wie sich nennenswerte frankokanadische Bevölkerungsanteile außerhalb Quebecs finden lassen), bestimmte sie jedoch die innenpolitischen, sozialen und kulturellen Konflikte. Das Selbstverständnis Kanadas beruhte auf dieser Dichotomie, die für mehr Heterogenität zunächst keinen Platz hatte. Bereits Premier Bourasse hatte die Vision, dass Kanada eine Nation sei, in der beide Kulturen gleichberechtigt existieren könnten. Die Entwicklung der Nation wurde durch das öffentliche Schulsystem, den Versuch, eine kanadische Geschichte erzählen zu können (was aber letztlich daran scheiterte, dass die jeweiligen Einwanderungsgenerationen nie in diese Geschichte involviert waren), durch den Aufbau einer innerstaatlichen Verwaltung und der Regelung der Verhältnisse zwischen Provinzen und Bundesregierung, erheblich gefördert. Wie kann daraus aber eine Erfolgsgeschichte werden, die in erster Linie protestantisch und anglophon ist; gegen die sich der frankokanadisch-katholische Einschlag zwar behaupten konnte, andere Ethnien aber keine Durchsetzungschancen hatten? 11 Mintzel, A. (1997): S. 583 12 Harzig, C. (2004): S. 88
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Es gibt vielfältige Beispiele in der Geschichte Kanadas, wo ein echter Bikulturalismus, die Realisierung dieser Vision, die Anerkennung der frankophonen Minderheit und ihrer Kultur außerhalb von Quebec gescheitert ist. So die Kürzung des Französischunterrichts in den Schulen von Ontario oder die quasi selbstverständliche Integration der neuen westlichen Provinzen in das anglophone Kanada (anglophone colony of Canada). Die Auswirkungen auf den kanadischen Nationalismus sind insofern eindeutig, als den Kanadiern in Quebec deutlich wurde, dass sie 1. anders sind, eine andere Kultur und andere Tradition haben, und dass sie 2. keine gleichberechtigten Kanadier sind und dass Kanada kein bikultureller, sondern ein britischer Staat ist. Bezeichnend dafür ist auch, dass Kanada in den Weltkriegen jeweils an der Seite der britischen Armee auftrat und nicht zur Unterstützung der französischen.13 Als Selbstbeschreibung wählten kanadische Politiker bereits damals gern das Bild des Mosaiks oder der Salatschüssel, also der Einheit verschiedener Ethnien, auch wenn das für die Zeit bis 1960 eher Illusion als Realität war und eher eine Abgrenzungsbemühung gegenüber der Melting-Pot-Ideologie der Vereinigten Staaten als tatsachenorientiertes Selbstbild darstellte. Unter der Dominanz britischer Kultur hatte die Anerkennung der Vielfalt keine wirkliche Chance – wie es sich auch in der Einwanderungspolitik ausdrückte – und eine kanadische Nationalität spielte, vor allem in den westlichen Provinzen, eine stark untergeordnete Rolle. In der Schule bekam man sie nicht gelehrt, sondern es wurde das Bewusstsein gefördert, Mitglied des britischen Empire zu sein. Ebenso waren Kanadier Untertanen der britischen Krone, denn die kanadische Staatsbürgerschaft wurde erst 1946 geschaffen.14 Erst nach dem 2. Weltkrieg, unter innen- wie außenpolitisch anderen Vorzeichen und Problemlagen, begann der Zusammenhalt des kanadischen Bundesstaates und die Integration seiner Bevölkerung, ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit zu rücken.
Einwanderungspolitik – die Entstehung der kanadischen Bevölkerung Kanada ist ein klassisches Einwanderungsland, welches für die Wahrung und Erweiterung des Wohlstandes des Landes der Einwanderung auch dringend bedurfte und bedarf. Wie viele Einwanderungsländer ging Kanada ebenso wie die USA Anfang des 20. Jahrhunderts zur selektiven Einwanderungspolitik über. Erst ab 1896 gab es eine Einwanderungsgesetzgebung. Bis zu dem Zeitpunkt kamen überwiegend Briten und US-Amerikaner, die Letzteren vor allem, nachdem in den USA das Homestead-Program (die günstige Landvergabe im Westen) abgeschlossen worden war – später ging deren Anteil gegenüber anderen europäischen Einwanderungsgruppen merklich zurück. Neben den Beschränkungen 13 Ebd., S. 105 14 Ebd., S. 243
DAS KANADISCHE MOSAIK – EINHEIT IN DER VIELFALT | 135
bzw. den Regelungen zur Verhinderung asiatischer (d. h. chinesischer) Einwanderung wurden weiterführende, diskriminierende Gesetze nach 1910 erlassen. Ursächlich dafür waren die sozialen Probleme, die sich aus der Einwanderung für Kanada ergaben, da viele Migranten relativ schnell unterstützungsbedürftig wurden und in den Städten in Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung gerieten. Tatsächlich begann hier die teils verschleierte, teils offen rassistisch und elitär motivierte selektive Einwanderungsbeschränkung, die nahezu allen nicht-europäischen Ethnien, wie überhaupt allen Mittellosen, Wirtschaftsflüchtlingen den Zuzug nach Kanada verwehren sollte. Deutlich zu Tage trat die Tendenz, die britisch-europäische Dominanz in Kanada aufrechtzuerhalten und gleichfalls Einwanderung nur unter Kosten-NutzenGesichtspunkten zu erfassen. Diese Politik des „Weißen Kanadas“ wurde vom zwischen 1896-1914 amtierenden Innenminister Clifford Shifton initiiert, der eine Rangfolge der bevorzugten Herkunftsländer von Einwanderern aufstellen ließ. Den britischen und amerikanischen Farmern folgten Westeuropäer (Franzosen, Belgier, Niederländer), Mittel- und Nordeuropäer und mit Polen und Ukrainern auch Osteuropäer.15 Diese Auswahl und Überlegungen wurden vom sogenannten „Klima-Paragraphen“ geleitet16, d. h. dem Argument, dass den Einwanderern aufgrund ihrer Herkunft die Assimilation und Eingliederung in die kanadische Gesellschaft gelingen würde oder nicht. In dieser Einschätzung trafen sich Öffentlichkeit und Regierung weitestgehend, so dass Südeuropäer sich bereits am unteren Ende dieser Liste befanden; Juden, Schwarze17, Asiaten und Lateinamerikaner waren völlig ausgeschlossen. Aufgrund dieser Restriktionen, durch die Kriegsjahre und die große Depression gingen die Einwanderungszahlen bis nach dem Zweiten Weltkrieg auf den absoluten Tiefstand von nur 12.801 im Jahr 1944 zurück.18 Die Kriegszeiten brachten weitere Beispiele für die problematische Beziehung der kanadischen Öffentlichkeit und ihrer gewählten Vertreter zu ethnisch und kulturell Fremden zu Tage, offenbarten, in welch geringem Maße humanitäre Motive ein Abgehen von der restriktiven Einwanderungspolitik bewirkten. Im Zweiten Weltkrieg wurden die im Land befindlichen Nachfahren oder Migranten aus Italien und Deutschland einer intensiven Beobachtung und teilweisen Drangsalierung ausgesetzt – bis hin zu Inhaftierung in einigen Fällen. 15 Mintzel, A. (1997): S. 565 16 Harzig, C. (2004): S. 112 17 Hier muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff „Schwarze“ oder „Black“ deutlich schlechter zu bestimmen ist als „Asiaten“ oder „Lateinamerikaner“, da diese Begriffe territoriale Bezüge beinhalten, während Schwarze sehr unterschiedlicher territorialer Herkunft sind, zu sehr unterschiedlichen Zeiten eingewandert sind bzw. als Sklavan verschleppt wurden, und auch unter Mitgliedern dieser Gruppe ist umstritten, wer nun – etwa mit welchem Mischungsanteil anderer Ethnien, noch „dazugehört“. Hierzu passt die aktuelle Diskussion um die ethnischen Wurzeln von Obama, dem jetzigen Präsident der USA – vgl. dif-bw.de (o.D.) 18 Mintzel, A. (1997): S. 566
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Schwerwiegender war das Vorgehen gegen die im Lande lebenden Japaner im Februar 1942 (vorwiegend in Britisch Columbia), die kollektiv unter Spionageverdacht gerieten und von denen eine Vielzahl in speziellen Lagern tief im Landesinneren interniert wurde; ihr Eigentum wurde zwangsveräußert und damit ihre Existenz vernichtet. Als „Linderung“ wurde teilweise die Umsiedlung nach Ontario gestattet, da das Arbeitspotenzial der Betroffenen in der Kriegswirtschaft dringend benötigt wurde. Nach dem Krieg sollte die Mehrheit der Japaner eigentlich nach Japan abgeschoben werden, was von der dortigen amerikanischen Besatzungsmacht jedoch verhindert wurde, so dass sie in Kanada verblieben, wenn auch nicht unbedingt in ihr vorheriges Leben zurückkehren konnten. Bis 1988 sollte es dauern, bis sich der kanadische Staat für diese unrühmliche Politik moralisch und finanziell verantwortlich erklärte.19 Auch der Antisemitismus war in Kanada lange Zeit gesellschaftsfähig; in vielen Bereichen galten ungeschriebene Gesetze, welche den Juden die Inklusion in das normale gesellschaftliche Leben erschwerte. Auch hier fanden während der Verfolgung der Juden in Europa durch die Nationalsozialisten humanistische Überlegungen in der praktischen Einwanderungspolitik keinen Platz; lediglich 4.000 geflohene deutsche Juden wurden von Kanada aufgenommen. Geprägt von den Erfahrungen der Not während der Weltwirtschaftskrise bestand in der kanadischen Gesellschaft ein Konsens, möglichst keine Menschen in das Land zu lassen, die als Belastung der Wirtschaft zu Buche schlagen würden. Antisemitismus und Rassismus, Überfremdungsängste und Ablehnung waren gesellschaftsfähig und prägten die Geisteshaltung großer Teile der Administration und etlicher Ministerien. Vor allem der Name von Frederick Charles Blair, in den 30er-Jahren Leiter der Einwanderungsbehörde (Immigration Branch), der die restriktive Einwanderungspolitik in eine Praxis der Ausschließung transformierte, ist damit verbunden. Zwar konnte er als Hardliner nicht die gesamte Einwanderungspolitik des Landes bestimmen, doch war seine antisemitische Geisteshaltung, hinter der sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens verbarg, Ausdruck eines entsprechenden Zeitgeistes. Offen antisemitisch äußerten sich bspw. Kabinettsmitglieder der Liberalen Partei in Quebec: „Almost every French-language newspaper had warned the gouvernment against opening Canada’s doors to European Jews.“20 Die endgültige Überwindung der Weltwirtschaftskrise gelang Kanada während des Zweiten Weltkrieges. Durch wesentliche Beschränkung auf die Kriegswirtschaft war das Konsumniveau stark abgesunken, und es hatten sich in privaten Händen beträchtliche Kapitalsummen angesammelt, die nun für private Ausgaben und wirtschaftliche Investitionen zur Verfügung standen. Wie andere westliche Industrienationen trat Kanada nach dem Krieg in eine längere Phase wirtschaftlicher Prosperität ein. Zugleich war Kanada als gestärkte Mittelmacht 19 Vgl. Harzig, C. (2004): S. 122f. 20 Harzig, C. (2004): S. 119
DAS KANADISCHE MOSAIK – EINHEIT IN DER VIELFALT | 137
aus dem Weltkrieg hervorgegangen und engagierte sich intensiv in den neuen internationalen Organisationen (UNO). Ersteres entzog einer restriktiven Einwanderungspolitik die wirtschaftspolitische und affektbeladene Argumentation; Letzteres desavouierte den jüngsten Umgang mit Fremden, Flüchtlingen und auch das antisemitische Klima in den Augen der Weltöffentlichkeit. Alle Zeichen standen demnach auf Veränderung, zumal immer deutlicher wurde, dass Einwanderung zur Sicherung des ökonomischen Wachstums notwendig war. Tatsächlich sollte es aber bis in die 60er-Jahre dauern, bevor neue Gesetze und Richtlinien zur Regelung der Einwanderung erlassen wurden.21 Dies ging einher mit neuen, bisher so nicht gekannten Formen politischer Willensbildung. Im Folgenden werde ich auf die Motive dieser in der Literatur als „Stille Revolution“ bezeichneten Willensbekundungen eingehen. Denn diese waren in ihrer gesamtgesellschaftlichen Diskursfähigkeit auf einem Ausgleich und eine Integration der Migrationsthematik ausgerichtet. Hier war ein fundamentaler Wandel in der politischen Kultur zu beobachten, der einen Grundstein für die Durchsetzung einer staatlichen Multikulturalismuspolitik bilden sollte: und zwar in der Bereitschaft, möglichst vorurteilsfrei und antidiskriminierend einen Interessenausgleich zwischen den kanadischen Bedürfnissen nach sozialverträglicher Einwanderung, dem Einwanderungsdruck von außen und dem Selbstbestimmungsrecht der verschiedenen ethnischen Gruppen zu suchen. Neben den bestehenden Spannungen zwischen Anglo- und Frankokanadiern entstand ein weiteres Erwachen des Selbstbewusstseins der in Kanada lebenden Ethnien – überhaupt der gesellschaftlich-öffentlichen Wahrnehmung (oder Konstruktion) von Ethnizität. Also die Abkehr von hegemonialer anglophoner Kultur und Identitätskonstruktionen und das Eingestehen des Scheiterns der klassischen Assimilationsstrategie bzw. dem der Modernisierungstheorie und dem Fortschrittsoptimismus entlehnten Glauben, dass wirtschaftliche Prosperität, soziale, ökonomische und kulturelle Teilhabe allein zur Integration moderner Gesellschaften genügen und alle Differenzen unbedeutend machen würden.
Transformation und Krise der 60er-Jahre Selbstthematisierung, Reflexion über die eigene Geschichte und die Rolle der jeweiligen Einwanderungspopulationen – mit diesen Schlagworten könnte man Kanada in den 60er-Jahren beschreiben; doch entwickelte sich Kanada natürlich nicht im luftleeren Raum, es entwickelte sich in einer Zeit weltweiter Bürgerbewegungen und dem Aufkommen eines neuen Zeitgeistes. Es herrschte ein Klima der Veränderung, des Rückblicks und Besinnens, eine Art Bilanzierung der bisherigen Moderne auf den Höhen neuen Wohlstands, den der weltweite Wirtschaftsaufschwung nach dem Kriegsende bescherte. Wertschätzung und Einstellung der Kanadier gegenüber Einwanderung und kulturell Fremden sollten sich 21 Vgl. Lüsebrink in Ertler, Löschnigg (2004): S. 195ff.
138 | PLURALISMUS UND ZIVILGESELLSCHAFT
deutlich ändern, sollten als Ausdruck des gewandelten Zeitgeistes angesehen werden. Auch materielle Gründe bewirkten eine Stärkung des Drängens auf Veränderungen.22 Die prosperierende Wirtschaft bedurfte umfangreicherer Einwanderung, um ihren Arbeitskräftebedarf decken zu können. Wirtschaftliche Interessen spielen in Kanada noch eine besondere Rolle (neben ihrer generell zentralen Bedeutung für moderne Gesellschaften), beruht doch Kanadas Selbstbehauptung und Autonomie auf autonomer Wirtschaftskraft, die als Bollwerk gegen dauerhafte Wanderungsverluste von Kanadiern in die Vereinigten Staaten angesehen wird. Nachdem bereits 1962 diskriminierende und rassistische Beschränkungen der Einwanderungsgesetzgebung aufgehoben waren, bestand Mitte der 60er-Jahre Konsens in der Bevölkerung und der Bundesregierung, dass Kanada Einwanderer zur Sicherung des Wohlstandes dringend brauche; unklar war nur, welches Profil diese Einwanderer haben sollten, welches Profil am besten nicht und wie viele Einwanderer ins Land gelassen werden sollten. Erstmals entwickelte sich ein staatlich initiierter gesellschaftlicher Diskurs zu diesem Thema, in welchen auch die einheimischen ethnischen Minderheiten eingebunden wurden und ihre Vorstellungen bspw. über die Regelung des Familienzusammenzuges kundtun konnten. Zuwanderungsbeschränkungen sollten zwar nicht abgeschafft werden, aber die Vorteile für Kanada sollten im Fokus der Migrationspolitik stehen, um soziale Probleme durch Einwanderung weitestgehend zu vermeiden. Allerdings fehlten zunächst die Kriterien, anhand derer die Einwanderung begrenzt werden sollte. Klargestellt wurde nur, dass Religion und Ethnie keine relevanten Kriterien mehr darstellen dürften. Letztendlich kam ein Punktesystem zum Tragen, das anhand objektiv nachvollziehbarer Kriterien wirken sollte. Die Leitlinien gelten heute noch. Im Wesentlichen will Kanada als Immigranten – zumindest legen das die offiziellen Verlautbarungen der Einwanderungsbehörde nahe – vor allem Fachkräfte und Investoren.23
22 Maßgebliche Literatur: Harzig, C. (2004): Kap. 7; Kempf, U., (1994): Der gesellschaftliche Umbruch – Die Auswirkungen der „Stillen Revolution“ auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer, Bochum; Thunert, M., (1991), Das Verhältnis der politischen Kulturen Kanadas und der Vereinigten Staaten, in: Zeitschrift für Kanada-Studien, Jg. 11, Nr. 1+2, Bd. 19/20, auch unter: www.kanada-studien.de/Zeitschrift/zks19–20/Thunert.pdf; Geißler, R. (2003), Multikulturalismus in Kanada – Modell für Deutschland, in: Apuz B 26/2003; Schneider, P. (1994), Quebec: Nation – Provinz –Staat in Kanada und Nordamerika, in: Zeitschrift für Kanada-Studien, 14. Jg./Nr. 2/Bd. 26 (1994) auch unter: www.kanada-studien.de/Zeitschrift/zks26/Schneider.pdf 23 Vgl. Migrationsbureau, (2004): o.P.
DAS KANADISCHE MOSAIK – EINHEIT IN DER VIELFALT | 139
The objective is to achieve the passmark. Applicants with the greatest likelihood of success are those: • With tertiary qualifications (i.e. post-secondary school), for instance a Diploma, Trade Certificate or Apprenticeship, Bachelors Degree, Masters Degree or PhD • With a high level of proficiency in English and/or French • In a position to claim maximum points for relevant work experience • Aged between 21 and 49 • With the ability to claim points for adaptability • All applicants must have at least 12 months of post-graduation work experience in an occupation listed as Skill Type O or Skill Level A or B on the National Occupations Classification (NOC) list. […].24 Familienzuzug ist auch möglich, nur muss der Unterhalt der zuziehenden Familienmitglieder gesichert sein. Geschäftsleute sind besonders gefragt, um der Wirtschaft neue Ideen zu geben und Geld ins Land zu bringen. Aber auch an sie werden klare, operationalisierte Anforderungen gestellt. Dazu müssen sie gewisse Rahmenkriterien erfüllen: „All applicants must satisfy health, police, character and credibility checks, and a range of other criteria.“ Von diesen strengen Kriterien gibt es nur wenige Ausnahmen, ähnlich den limitierten Greencard-Verlosungen, die jedes Jahr in den USA veranstaltet werden.25
Ethnische Zusammensetzung der kanadischen Bevölkerung Es ist bereits betont worden, dass sich die ethnische Zusammensetzung der kanadischen Bevölkerung seit den 60er-Jahren deutlich geändert hat. Bis 1961 sorgte die Einwanderungspraxis dafür, dass rund 90% der Immigranten aus Europa kamen, Kanada ein europäisch dominiertes Land blieb.26 Mit dem Fall dieser rassistisch motivierten Zuwanderungsbeschränkungen änderte sich die Zusammensetzung der Migrationsströme schnell. Kanada nutzte, bedacht auf möglichst vorteilhafte Einwanderung, den natürlichen Brain Drain der Entwicklungsländer aus, öffnete sich gerade gut ausgebildeten Zuwanderern aus dem Nahen Osten, Indien und Ostasien, aber auch Lateinamerikanern und Afrikanern. Da die Elitenauswanderung aus Europa bzw. den Vereinigten Staaten vom Umfang wesentlich geringer war, veränderten sich die Relationen zwischen europäisch-stämmigen und nicht Europa entstammenden Bevölkerungsgruppen. Tabelle 1 gibt die größ24 Vgl. Migrationsbureau, (2004): o.P. 25 Vgl. Migrationsbureau, (2004): o.P. 26 Canada's ethnocultural portrait: The changing mosaic: www12.statcan.ca/english/ census01/products/analytic/companion/etoimm/pdf/96F0030XIE2001008.pdf
140 | PLURALISMUS UND ZIVILGESELLSCHAFT
ten ethnischen Gruppen innerhalb der kanadischen Bevölkerung in Zahlen wieder. Tabelle 1: Größte ethnische Gruppen in Kanada 200127 Herkunft nach Ursprungsland
In Millionen
Kanadier
11,7
Engländer
6,0
Franzosen
4,7
Schotten
4,2
Iren
3,8
Deutsche
2,7
Italiener
1,3
Chinesen
1,1
First Nations
1,0
Diese Tabelle vermittelt zumindest einen Eindruck von der ethnischen Zusammensetzung, auch wenn sie die deutlichen Veränderungen noch nicht widerspiegelt, da die meisten asiatischen Nationen der Zahl nach noch nicht eine Millionenstärke erreicht haben, die Chinesen ausgenommen, die zehn Jahre zuvor auch noch nicht unter den zehn größten Bevölkerungsgruppen vertreten waren. Anhand der Aufschlüsselung der Zuwanderungspopulationen für die Dekade von 1991-2001 lässt sich sehr gut der Trend der zukünftigen demographischen Entwicklung Kanadas ableiten. Von den 1,8 Millionen Immigranten dieser Dekade kamen 58% aus Asien (inklusive Naher Osten28), 20% aus Europa (überwiegend Großbritannien, Polen, Rumänien), 11% aus Lateinamerika (inklusive Karibik), 8% aus Afrika und 3% aus den Vereinigten Staaten.29 Die Zahl der asiatischen Einwanderer nahm dabei seit 1961 kontinuierlich zu. In den 1970erJahren stellten sie erst 33% der Migranten. Angesichts der höheren Geburtenraten vor allem der asiatischen, aber auch lateinamerikanischen Bevölkerung in Kanada ist zu erwarten, dass der aus Europa stammende Bevölkerungsteil sich bald in der Minderheitsposition befinden wird. Allerdings ist die Verteilung der Einwanderer alles andere als gleichmäßig, sie konzentriert sich seit den 70er-Jahren in immer stärkerem Maße auf die drei 27 ebd. S. 13. Kurz zur Methodik: Ausschlaggebend ist die Herkunft der Eltern der Befragten. Kanadisch bedeutet daher, dass beide Eltern bereits in Kanada geboren wurden. Ebenso reicht zur Zuordnung, wenn ein Elternteil zur jeweiligen Gruppe zu zählen ist. 28 In den kanadischen Originalquellen wird von Middle East gesprochen, was, aus europäischer Perspektive dem Nahen Osten, sprich den arabischen Staaten, Israel und Türkei entspricht. 29 Canada's ethnocultural portrait: The changing mosaic: S. 6
DAS KANADISCHE MOSAIK – EINHEIT IN DER VIELFALT | 141
urbanen Zentren des Landes (Toronto, Vancouver, Montreal). 73% der Immigranten in den 90er-Jahren ließen sich dort nieder (nur 6% ziehen in den ländlichen Bereich). Im Vergleich: Nur reichlich ein Drittel der einheimischen kanadischen Bevölkerung lebt dort.30 Die Präsenz der Migranten, ihr prägender Einfluss auf das Stadtbild, Stadtentwicklung, Politik und Kultur wird daher noch weiter zunehmen – wohingegen vor allem die Prärieprovinzen neben den nördlichen Gebieten davon relativ unbeeinflusst bleiben werden. Dementsprechend werden urbane Zentren auch Kristallisationspunkte sozialer, vor allem interethnischer Probleme. Sie werden zum Experimentierfeld für neue Formen des Zusammenlebens. In Toronto, aber auch in Vancouver ist dies bereits greifbare Realität, hier liegt der Anteil der Migranten (also jener Einwohner, die nicht in Kanada geboren sind) bei 17%. Hinzu kommt, dass beide Städte auch in den Jahrzehnten zuvor Hauptzielpunkt der Einwanderströme waren, sich also Neuankömmlinge mit der entsprechenden ethnischen Gruppe vermischen. So liegt der Anteil an „sichtbaren Minderheiten“ in Vancouver und Toronto bei knapp 37% der Gesamtbevölkerung; Montreal liegt mit 13,9% etwa auf dem Niveau des kanadischen Durchschnitts (13,6%).31 Unterschieden nach Religionszugehörigkeit ergibt sich folgendes Bild, wie es aus Tabelle 2 zu ersehen ist. Auch hier haben asiatische Religionen natürlich in den letzen Jahrzehnten zugelegt und erlaubt die Quantifizierung kultureller Gruppen, deren Homogenität eher religiös gestiftet ist als durch gemeinsame Nationalität (wie dies vor allem für Christen zutrifft). Tabelle 2: Religiöse Zusammensetzung der kanadischen Bevölkerung32 Quebec
Ontario
Total
29.639.035
Total
7.125.580
11.285.550
Manitoba 1.103.700
Sask. 963.150
Alberta
Katholisch
12.936.905
5.939.715
3.911.760
323.690
305.390
786.360
Protestantisch
8.654.850
335.590
3.935.745
475.185
449.195
1.145.460
Orthodoxe
479.620
100.375
264.055
15.645
14.280
44.475
Andere Christen
780.450
56.750
301.935
44.535
27.070
123.140
Muslime
579.640
108.620
352.530
5.095
2.230
49.040
Juden
329.995
89.915
190.795
13.040
865
11.085
Buddhisten
300.345
41.380
128.320
5.745
3.050
33.410
2.941.150
30 Ebd., S. 13 31 Ebd., S. 44 32 Legende: B. C.: British Columbia; Nf. & L.: Neufundland & Labrador; P. E. I.: Prince Edwards Islands; N.S.: Nova Scotia; N. B.: New Brunswick; Sask.: Saskatchewan; Y. T.: Yukon Territorium. Eigene Zusammenstellung, Daten entstammen folgenden drei Internetseiten: Religion Canada – Ostprovinzen: www40.statcan.ca/l01/cst01/demo30a.htm?sdi=religion Quebec-Saskatchewan: www40.statcan.ca/l01/cst01/demo30b.htm Alberta-Yukon: www40.statcan.ca/l01/cst01/demo30c.htm
142 | PLURALISMUS UND ZIVILGESELLSCHAFT Hindus
297.200
24.525
217.555
3.835
1.585
15.965
Sikh
278.410
8.225
104.785
5.485
500
23.470
Östl. Religionen
37.550
3.425
18.780
795
780
3.335
Andere
63.975
3.870
18.985
4.780
67.501
10.560
Keine Religion
4.900.090
205.865
151.455
694.840
N.B
Y.T.
B.C.
413.190 Nf. &L.
1.841.290 P.E.I.
N.S.
Total
3.868.875
508.080
113.385
897.570
719.710
28.520
Katholisch
675.320
187.440
63.265
328.700
386.050
6.015
Protestantisch
1.213.295
303.195
57.080
438.150
263.075
9.485
Orthodoxe
35.655
365
245
3.580
635
150
Andere Christen
200.345
2.480
3.205
10.105
8.120
1.010
Muslime
56.200
630
195
3.545
1.275
60
Juden
21.230
140
55
2.120
670
35
Buddhisten
85.540
185
140
1.730
545
130
Hindus
31.500
405
30
1.235
475
10
Sikh
135.310
135
0
270
90
100 190
Östl. Religionen
9.970
110
105
565
330
Andere
16.205
135
100
1.155
790
33
Keine Religion
1.388.300
12.865
8.950
106.405
57.665
11.015
Verteilung und Vielfalt der Muttersprachen verdeutlichen die Breite und Diversität der Bevölkerungszusammensetzung. Zunächst die Verteilung der beiden offiziellen Landessprachen für die jeweiligen Provinzen. Tabelle 3: Englisch oder Französisch als Muttersprache
Kanada Newfoundland and Labrador Prince Edward Island Nova Scotia New Brunswick Quebec Ontario Manitoba Saskatchewan Alberta British Columbia Yukon Northwest Territories Nunavut
Englisch 59,1 98,4 94 93 65 8,3 71,3 75,4 85,4 81,5 73,6 86,8 77,8 26,9
Französisch 22,9 0,5 4,4 3,9 33,2 81,4 4,5 4,2 1,9 2,1 1,5 3,3 2,7 1,5
Bevölkerung mit Englisch oder Französisch als Muttersprache (in %)33 Um einen Eindruck von der Verbreitung von Ein-, Zwei- oder Mehrsprachigkeit Kanadas zu geben, hier ein Überblick:34 33 Statistics Canada/Statistique Canada, Census/Recensement 2001: www.dfait-maeci.gc.ca/canada-europa/germany/aboutcanada11-bilingue-de.asp
DAS KANADISCHE MOSAIK – EINHEIT IN DER VIELFALT | 143
Abbildung 1: English-French Bilingualism
English-French Bilingualism 0 – 4.9 % 5 – 9.9 % 10 – 19.9 % 20 – 34.9 % 35 – 49.9 % 50 – 71 %
Vor allem die Atlantikprovinzen sind noch sehr homogen, aber auch in New Brunswick und Quebec entfallen mehr als 90% auf die beiden offiziellen Sprachen. Dem stehen vor allem Ontario und Britisch Columbia gegenüber, in denen fast 25% der Bevölkerung weder Englisch noch Französisch beherrscht. (Im Northwest-Territorium und Nunavut handelt es sich nicht um Migranten, sondern um Angehörige der Inuit.) Auf chinesische Migranten entfällt mit rund 30% der größte Anteil an Personen, welche die Landessprachen nicht beherrschen. Dem folgen weitere asiatische Sprachen (aber auch Russisch und Spanisch), allerdings von keiner nennenswerten Größe. Viel interessanter ist die Betrachtung jenes Anteils pro Zuwandergruppe, die bei der Einreise nach Kanada keiner der Landessprachen mächtig ist (Tabelle 4). Tabelle 4: Weitere Muttersprachen Herkunftsländer der Migranten
Anteil ohne Englisch- oder Französischkenntnisse in %
China
88,4
Indien
70,6
Philippinen
46,8
Hongkong
87,9
Sri Lanka
73,4
Pakistan
67,7
Taiwan
86,8
USA
9,7
Iran
76,0
Polen
73,1
Andere Länder
50,9
Anteil jener ohne englische oder französische Muttersprache( in %)35 34
Atlas.nrcan.gc.ca/site/english/maps/peopleandsociety/lang/officiallanguages/english frenchbilingualism (o.D.): o.P. 35 Canada's ethnocultural portrait: The changing mosaic: S. 43
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Ganz deutlich lassen sich daraus spezifische Anforderungen an staatliche Integrationsangebote und -leistungen ablesen. Daher genießt das Erlernen einer der beiden Landessprachen höchste Priorität und Förderung im öffentlichen Schulsystem, aber auch jenseits dessen für erwachsene Migranten.
Kanada: Multiculturalism, multiculturalité Im Zeichen des Multikulturalismus Wichtiger als die Verfahrensfragen zur Einbürgerung ist die Wandlung der Einstellung der kanadischen Bevölkerung zu kultureller Differenz und Fremdheit. Die neuen Regelungen boten den Migranten zum ersten Mal einen nachvollziehbaren und rechtlich auch einklagbaren Modus der Einwanderung (bis dato lag die Entscheidungsmacht weitestgehend in der Hand der Staatsbeamten ohne juristische Anfechtungsmöglichkeit). Darüber hinaus setzte sich generell in der Öffentlichkeit eine positive Einstellung zu Einwanderern und fremden Ethnien durch; besonders im Bildungswesen ließ man sich von der Ansicht leiten, dass Fremde einen positiven Einfluss auf die kanadische Kultur haben können; dass ihr Ressourcen - Potenzial die Nation bereichern kann. Auch hier wird die Sonderstellung Quebecs innerhalb Kanadas wieder augenscheinlich. Auf dem Weg in die plurale Einwanderungsgesellschaft wurde die bisherige Dichotomie von frankophonen und anglophonen Kanadiern in Frage gestellt. So nahm Quebec als potentieller Verlierer in dieser Debatte, in der es ja auch darum ging, die künftige nationale Identität zu verhandeln, erneut die Position des „Störers“ oder Warners ein. Quebec blieb im Wandlungsprozess zu einem multikulturellen Einwanderungsstaat nicht außen vor, bezog aber aufgrund des allgegenwärtigen Sonderstatus andere Positionen. So wurde bereits eine eigene, frankophone Einwanderungsgruppen bevorzugende Migrationspolitik gefordert, wie sie in den 70er-Jahren dann durchgesetzt wurde. Hinter den tief greifenden Veränderungen in Quebec der 60er-Jahre stehen diese Aspekte jedoch als weniger bedeutend zurück. Aus dem Interesse, die Rückständigkeit Quebecs abzubauen, wurden grundlegende Reformen durch die liberale Regierung ab 1960 eingeleitet, die weitgehende Transformation bewirkten. Modernisierung und Wohlfahrtsentwicklung waren an Quebec teilweise vorbeigegangen, was die Industrialisierung und die Modernisierung der Sozialstruktur und Alltagskultur (Pluralisierung der Lebensführung) anbelangt. Die Rückständigkeit Quebecs erklärt sich aus mangelnder Anpassungsbereitschaft an die anglophone Umgebung. Selbstverständlich war Englisch die Umgangssprache in der nordamerikanischen Wirtschaft und Wissenschaft; doch nur wenige Frankokanadier beherrschten es fließend. Nicht nur die kulturelle, sondern auch die wirtschaftliche Integration der Frankokanadier scheiterte oft an der Sprache. So
DAS KANADISCHE MOSAIK – EINHEIT IN DER VIELFALT | 145
blieb Quebec wirtschaftlich von englischsprachigen „Fremden“ dominiert. Es fehlte ein breites, öffentliches Schulsystem, welches mehr als nur Grundkenntnisse vermittelte. 1961 besuchten nur 50% aller 15-19 jährigen Schüler und Schülerinnen eine weiterführende Schule. Der Anteil der frankophonen Kinder lag noch niedriger, da hier englischsprachige Jugendliche mit erfasst sind.36 Auch die kollektive Selbstzuschreibung als gefährdete Minderheit erfuhr kaum Korrekturen. Im Gegenteil, es bildete sich eine „Bunkermentalität“ (Kempf) aus der Überzeugung heraus, dass die französische Sprache und Kultur nur durch Aufrechterhaltung der Traditionen und damit der agrarischen Lebensweise und der kulturellen Dominanz der katholischen Kirche zu bewahren sei. Dagegen stand der Modernisierungsprozess, der als „Stille Revolution“ in die kanadische Geschichte eingehen sollte. Diese Bewegung hatte ihre Wurzeln in den Differenzerfahrungen zum prosperierenden restlichen Kanada der 50er-Jahre. Getragen wurde er von der Liberalen Partei, die in erster Linie die städtischen Mittelschichten vertrat. Innerhalb von nur vier Jahren wurden Reformen auf den Weg gebracht, die das Gesicht Quebecs für immer verändern sollten und auch von der Konservativen Partei nach der Rückkehr zur Macht 1966 nicht wieder rückgängig gemacht werden konnten. Die katholische Kirche wurde aus dem Bildungswesen weitestgehend verdrängt, das nun als öffentliches Bildungssystem auf- und ausgebaut wurde. Es folgte die Erweiterung der Sekundarstufe, der Studienplätze und der naturwissenschaftlich-technischen Ausbildung. Die Provinzregierung förderte mit Infrastrukturausbau, Gründung von Staatsunternehmen die Industrialisierung und die wirtschaftliche Entwicklung. Es entwickelte sich parallel dazu eine säkulare Alltags- und Konsumkultur, jenseits katholischer Hegemonie. Allerdings bewirkte dies keinen Abbau der Spannungen, des kulturellen Dualismus und Nebeneinanders in Kanada, kein Aufeinanderzugehen beider Kulturen, denn Erhalt und Pflege des französischen Erbes blieb von höchster Bedeutung. Außenpolitisch orientierte sich Quebec noch stärker an Frankreich, brachte sich vermehrt in den internationalen Austausch der frankophonen Welt ein und provozierte damit neue Spannungen mit der Bundesregierung in Ottawa. Insgesamt ist also zunächst die Verschärfung des Gegensatzes zwischen englisch- und französischsprachigen Kanadiern ein Ergebnis der „Stillen Revolution“. Zwar wurde die Dominanz anglophoner, vor allem auch US-amerikanischer Wirtschaftsunternehmen in Quebec nicht gebrochen, dennoch entwickelte sich aus dem Reformprozess ein neues Selbstbewusstsein der Frankokanadier in Quebec, das ein neues Nationalbewusstsein entstehen ließ. Neu, weil es nicht mehr auf der Kirche und dem ländlichen Leben beruhte, sondern dem Staat die Aufgabe zuwies, die französische Kultur zu erhalten und zu verteidigen. Während sich also das restliche Kanada auf dem Weg zu einem ausgleichenden, versöhnenden, Heterogenität und Pluralität anerkennenden Umgang ver36 Kempf, U. (1994): Der gesellschaftliche Umbruch. Die Auswirkung der „ Stillen Revolution“ auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 13
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schiedener Kulturen befand, erklangen in Quebec Forderungen, die Sonderstellung durch eine bessere Position Quebecs im kanadischen Bundesstaat (größere Autonomie, Neuordnung der Kompetenzen, positivere Finanzverteilung), kurz: durch einen „Platz an der Sonne“ (Gerad Pelletier) zu untermauern, eher sogar auszubauen. Die immer noch deutlichen Benachteiligungen von Frankokanadiern, insbesondere die Nachrangigkeit der französischen Sprache lieferten für diese Position breite Unterstützung. Es war der konservative Premier David Johnson, der den Gedanken mit dem Ausscheidenn aus der kanadischen Föderation für den Fall des ausbleibenden Entgegenkommens der Bundesregierungen auf Quebecs Forderungen zuerst zur Disposition stellte. Johnson war zu dieser Zeit in Quebec gesellschaftsfähig und populär, motiviert durch seine Position und wurde eine Reihe von terroristischen Anschlägen verübt, denen allerdings heftige öffentliche Missbilligung zuteil wurde. Diese Umstände stellten also die große Herausforderung für die Bundesregierung in Ottawa dar, die sich veranlass sah, das Verhältnis der beiden Sprachgruppen in Kanada neu zu regeln. Von Multikulturalismus wurde nicht gesprochen. Es ging vielmehr darum, der doppelten Nationalität und der Zweisprachigkeit Kanadas und damit den Ansprüchen der Québécois Rechnung zu tragen. Zu diesem Zweck setzte Premier Lester Pearson 1963 die Royal Commission on Bilingualism and Biculturalism ein, welche die institutionelle Implementierung des Bilingualismus, den öffentlichen Umgang mit der Zweisprachigkeit regeln sollte. Diese Kommission hatte nur die Aufgabe, sich um das Verhältnis zwischen Anglo- und Frankokanadiern zu kümmern. Der Aspekt des Multikulturalismus kam eher durch die Hintertür hinein, denn acht weiteren ethnischen Gruppen waren Stellungnahmen zu dieser Problematik gestattet: Schwarzen, Chinesen, Niederländern, Deutschen, Ungarn, Juden, Polen und Ukrainern. Alle anderen Minoritäten, vor allem die Urbevölkerung, blieben außen vor. Diese Beschränkung provozierte öffentliche Kritik. Dank fähiger Interessenvertreter gelang es auch anderen Ethnien, und vor allem den Indianern und Inuit, sich innerhalb dieser Verhandlungen Gehör zu verschaffen.37 Das bedeutete zunächst zumindest die prinzipielle Anerkennung der jeweiligen ethnischen Gruppe als solche und war für die Urbevölkerung bereits ein wichtiger Schritt. Schon die Hundertjahrfeiern zur Unabhängigkeit Kanadas 1967 standen ganz im Zeichen des Multikulturalismus; in den Vordergrund der vielfältigen Veranstaltungen wie auch der Weltausstellung in Montreal wurden die First Nations38 gerückt und wurde die Vielfältigkeit der kanadischen Bevölkerung39 hervorgehoben. Diese sollte, verbunden mit der Einheit der kanadischen Föderation, in das
37 Harzig, C. (2004): S. 244 38 Selbstbeschreibung und bald offizielle Bezeichnung der Urbevölkerung, die ihre interne ethnische Heterogenität besser zum Ausdruck brachte. 39 Vgl. hierzu: Mackey, E. (2003), The House of Difference, Routledge, London and New York, S. 58–60
DAS KANADISCHE MOSAIK – EINHEIT IN DER VIELFALT | 147
Bewusstsein aller gesellschaftlichen Gruppen gestellt werden. Die Weltausstellung in Montreal 1967 wurde genutzt, um Ideen des Zusammenlebens verschiedener Kulturen darzustellen und auszutauschen und das Konzept westlicher Zivilisation durch andere Kulturen reflektieren zu lassen. Sie war Begegnung unterschiedlicher Kulturen, Ort des Kennenlernens, des Kontaktknüpfens, der Versuch, Toleranz zu üben und Interesse zu wecken. Feierlichkeiten und Weltausstellung waren explizit der pädagogische Versuch, der zahlenmäßig starken Nachkriegsgeneration (babyboomer) ein nationales Identitätskonzept anzubieten. In den Schulen wurde die Nationalhymne vor Unterrichtsbeginn gesungen, die Flagge aufgehängt, die Schulklassen wurden in die Vorbereitung der Veranstaltungen miteinbezogen, einer Vielzahl von Schülern der Besuch der Weltausstellung durch staatliches Sponsoring ermöglicht. Das patriotische Ritual der Hundertjahrfeier sollte entsprechende Gefühle wecken und das Bewusstsein schärfen, was es heißt, ein Kanadier und eine Kanadierin zu sein. Allerdings wurde dies damals erst noch entwickelt. Offiziell stand noch der Bilingualismus und Bikulturalismus aufgrund der Situation in Quebec im Vordergrund, der nach der Wahl Pierre Trudeaus zum Premierminister in Gesetzesform gegossen wurde. Mit dem Official Language Act von 1968 wurde Kanada zum offiziell zweisprachigen Land; alle Bundesbehörden und öffentliche Dokumentationen mussten von nun an in beiden Sprachen angeboten werden.40 New Brunswick, die Provinz mit der größten frankophonen Bevölkerungsgruppe (nach Quebec), wurde zur offiziell zweisprachigen Provinz. Manitoba führte die 1890 abgeschafften Sonderrechte für die Förderung der französischen Sprache wieder ein; darüber hinaus wurden erhebliche Finanzmittel zur Förderung, vor allem des Französischunterrichts, an den kanadischen Schulen bereitgestellt. Bei anderen kulturellen Minderheiten wurde die offizielle Förderung der französischen Sprache als einseitig und diskriminierend wahrgenommen. In der sozialen Realität, der Öffentlichkeit, vor allem in den Städten waren die unterschiedlichen ethnischen Gruppen bereits derart präsent und selbstbewusst, dass sie mit dem Bikulturalismus-Programm nicht einfach übergangen werden konnten. Die Bundesregierung stand nun vor der Aufgabe, nicht nur die Sonderinteressen Quebecs zu garantieren, sondern auch für die Ansprüche der anglophonen Mehrheit, der größten ethnischen Populationen einen Ausgleich zu finden und nun zusätzlich den jeweils ethnisch- spezifischen Bedingungen in den Provinzen
40 Allerdings wurde dieses Gesetz 1971 bereits modifiziert. In den westlichen Provinzen erschien das Aufzwingen der englisch-französischen Zweisprachigkeit angesichts der geringen Zahl der Frankokanadier und weitaus größerer fremdsprachiger Populationen als unnötig und künstlich. Die Zweisprachigkeit der Bundesbehörden blieb erhalten, darüber hinaus blieb es den Provinzen selbst überlassen, inwieweit sie die Förderung der französischen Sprache finanziell und institutionell unterstützten.
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Rechnung zu tragen. In aus deutscher Sicht bemerkenswerter Weise41 wurde diese Problematik in einer Vielzahl von Konsultationen zwischen Bundes- und Provinzialregierungen, in Regionalkonferenzen mit Vertretern zivilgesellschaftlicher Assoziationen, d.h. den unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung, diskutiert und Vorschläge erarbeitet, deren Empfehlungen in die 1971 verkündete Multikulturalismuspolitik eingingen. Diese kann als Versuch angesehen werden, größtmöglichen kulturellen Pluralismus, Selbstbestimmung ethnischer Gruppen und Antidiskriminierung mit dem offiziellen, den Empfindlichkeiten Quebecs entgegenkommenden Bilingualismus zu verbinden.
Neubestimmung – Multikulturalismuspolitik Multikulturalismus ist der Kernbegriff, mit dem jenes Bündel von Maßnahmen und Gesetzesinitiativen versehen wurde, welche von Premierminister Pierre Trudeau 1971 verkündet wurde. Dabei handelte es sich nicht allein um eine neue Einwanderungsgesetzgebung, sondern um eine Idee vom Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller und ethnischer Herkunft in einem Nationalstaat. Ihre wesentlichen Quellen hat die Multikulturalismuspolitik 1. im Bestreben, die Zuwanderung angesichts ökonomischer Erfordernisse neu zu regeln und gleichzeitig das Problem kanadischer Identität zu lösen und 2. in der Bedrohung der bundesstaatlichen Einheit durch separatistische Bestrebungen in Quebec. Für die Schwierigkeiten der landesweiten Umsetzung dieser Politik war von Bedeutung, dass sich beide Aspekte eher gegenüberstanden und -stehen denn miteinander verbanden. Während Multikulturalismus für das anglophone Kanada tatsächlich so etwas wie Integrationsideologie oder nationale Erzählung darstellen konnte, misslang die Einbeziehung der Frankokanadier eher. Zunächst möchte ich eine kurze Bestimmung des Begriffs „Multikulturalismus“ bzw. „multikulturelle Gesellschaft“ versuchen. Das Multikulturalismus-Konzept als sozialwissenschaftliche Konzeption entstammt den anglo-amerikanischen Sozialwissenschaften (Milton Gordon, John Rex, Charles Taylor) und lässt sich idealtypisch wie folgt bestimmen: „Eine multikulturelle Gesellschaft ist [...], eine Gesellschaft, in der im öffentlichen Bereich Einheit („public unarity“) besteht, deren privater Bereich dagegen von „cultural diversity“ geprägt ist“.42 Multikulturelle Gesellschaften stehen also vor der Herausforderung, im staatlichen und gesamtgesellschaftlichen Bereich Rechts- und
41 Die politische Kultur Kanadas ist von einer wesentlich geringeren Distanz zwischen Regierung und Regierenden, Politikern und Volk geprägt, als bspw. in Deutschland oder Frankreich üblich ist – ohne dass dies sich zwingend in institutionalisierten Regelungen plebiszitär-direkter Demokratie niederschlägt. 42 Mintzel, A. (1997): S. 273
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Chancengleichheit herzustellen, bei gleichzeitiger Toleranz und dem Schutz ethnischer Heterogenität im privaten und kulturellen Bereich, die eine ungehinderte Pflege verschiedener Traditionen erlaubt. Der idealistische Charakter dürfte leicht einsichtig sein. Es reflektiert die typisch moderne Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatwelt, sowie die Konzeption der Zivilgesellschaft (oder der bürgerlichen Gesellschaft), welche als normative Gesellschaftsordnung die Grundlage moderner, westlicher Staatlichkeit bildet. Die Schwierigkeit der Anpassung beider Bereiche, der eher abstrakt, rationalistischen öffentlich-normativen Ordnung mit dem emotional gefärbten, fest internalisierten Traditionsbestand der Herkunftskultur wird gesehen und dem Schulsystem zur Lösung überantwortet. Hier sollen die Heranwachsenden gleichzeitig zu Staatsbürgern mit demokratisch-rechtsstaatlichen Tugenden, wie zur Toleranz gegenüber anderen Kulturen, erzogen werden. Dies kann nur als beständige Gratwanderung funktionieren, die eine abgesicherte Balance dieser beiden Ideale durch die schulische Sozialisation anstrebt. „Durch das Erziehungssystem dürften weder die Chancengleichheit im öffentlichen Bereich in Frage gestellt, noch die „Kultur der Privatsphäre“ eingeschränkt werden“.43 Multikulturalismus steht damit in verschiedenen Spannungsverhältnissen44: 1. Toleranz vs. Anerkennung: Toleranz gegenüber fremden Kulturen, wie überhaupt Toleranz gegenüber dem Nicht-Eigenen (und fremd können in modernen Gesellschaften schon Angehörige anderer Sozialmilieus sein), ist in erster Linie politisch-moralisches Gebot, unverzichtbare zivilgesellschaftliche Tugend, ohne die ein Funktionieren differenzierter Gesellschaften nicht vorstellbar ist. Gleichzeitig ist sie aber auch ein wesentlicher Teil der political correctness. Sie entspringt dem Universalismus und Kosmopolitismus der Aufklärung, wird jedoch zum reinen Lippenbekenntnis, wenn sie nur formal geübt, d. h. nicht wirklich mit Leben und wertrationaler Bindung erfüllt wird. Schnell geht sie dann nämlich mit Gleichgültigkeit, „wohlwollender Ignoranz“ und u. U. latenter Ablehnung und Ressentiments einher. Der rechtlich-moralische Universalismus moderner Rechtsstaaten ist demnach differenzblind, da auf die universelle Würde des Menschen, begründet in einer scheinbar differenzlosen Natürlichkeit, Bezug genommen wird. Dem steht die tatsächliche Anerkennung von Anderssein entgegen, die aktive und positive Bejahung von fremden Identitätskonstruktionen und Weltanschauungen, hinter denen persönliches Interesse und die Reflexivität über der Begrenztheit des eigenen Standpunkts steht. Dies kann als Voraussetzung für die Anerkennung des Eigenwerts fremder, vor allem nichtwestlicher Kulturen 43 Mintzel, A. (1997): S. 279 44 Taylor, C. (1993) : Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main.
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angesehen werden. Doch nicht jede kulturelleAusformung ist prinzipiell wertvoll oder anerkennungswürdig; in pädagogisch normativer Absicht würde diese Einstellung weit über das Ziel hinausschießen und wiederum alle Kulturen gleich machen, ihre Differenzen in einer normativen Gleichwertigkeit aufheben und verwischen. „Zwischen der unechten, homogenisierenden Forderung nach Anerkennung einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit einerseits und der Selbsteinmauerung mit ethnozentristischen Maßstäben andererseits muss es noch etwas anderes geben.“45 Für Taylor besteht dies in der Anerkennung eines Anspruchs auf Gleichwertigkeit für fremde Kulturen, der nach reichlicher Prüfung auch abgelehnt werden kann. Allerdings bedarf dies einer sehr reflexiven Position, d.h. Distanz zur Eigenkultur. 2. Differenz vs. Assimilation: Von einer wirklichen, Gleichwertigkeit akzeptierenden Anerkennung fremder, vor allem nichtwestlicher Kulturen kann auch in multikulturellen Staaten nicht die Rede sein, wenn diese Kulturen politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen oder kulturelle Wertesysteme, Sitten und Moralvorstellungen transportieren, die mit etablierten Strukturen – hier jenen der modernen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft nicht kongruent sind. Allein dieses Anerkennen stellt alle fremden Kulturen unweigerlich zunächst in eine Ungleichheitsrelation. Denn die Distanz zwischen Herkunftskultur und der westlichen Vorstellung von Zivilisation – deren Hegemonie nicht in Zweifel gezogen werden kann – ist für jede fremde Ethnie oder Kultur unterschiedlich groß, verlangt demnach unterschiedliche Anpassungs- und Verzichtleistungen. In der Praxis haben jedoch nichtwestliche Kulturen kaum detaillierte Vorstellungen über das menschliche Zusammenleben, die mit einer toleranten, liberalen Gesellschafts- und Staatsordnung kompatibel sind.46 Es ist kein rein theoretisches Problem, denn diese Anpassungsleistungen müssen in der Praxis erbracht werden und auch nur dort entscheidet sich, wie das Verhältnis zwischen universeller, öffentlicher Kultur und individuellen, privaten Freiräumen tatsächlich ausgestaltet wird. Allerdings dürfte dieser Problematik nur begrenzter sozialer Sprengstoff innewohnen, da diese Integrationsbemühungen den Migranten, egal welcher Herkunft, zuzumuten sind. Denn Multikulturalismus ist nur in einer offenen, liberalen und demokratischen Gesellschaft denkbar. Soziale Gruppen, die diese Ordnung unter Rückgriff auf ihre differenten kulturellen Traditionen in Frage stellen, unterminieren damit gleichzeitig die Basis ihrer sozialen Anerkennung. Man sollte daher nicht so weit gehen und das Konzept des Multikulturalismus aufgrund dieser Einschränkung kritisieren, wie dies HoffmannNowotny nahelegt: „Warum also die Einwanderer im privaten und gemeinschaftlichen Raum Anspruch auf die Aufrechterhaltung ihrer Kultur haben 45 Taylor, C. (1993): S. 70 46 Geißler, R. (2003): S. 21
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sollen, in der Sphäre der „ ,Öffentlichkeit‘ [...] jedoch die dort geltenden Gesetze und Normen nicht nur formell akzeptieren, sondern offenbar auch internalisieren (assimilieren) sollen“, sei fraglich. „Hier wird überaus deutlich, wie ‚eurozentristisch‘ die Konzepte ‚Kultur‘ und ‚Identität‘ auch von denjenigen gesehen werden, die zwar ‚Multikulturalität‘ fordern, sich dabei aber offenbar nicht vorstellen können, dass ‚Kultur‘ und ‚Identität‘ auch ganzheitlich – und nicht nur nach gesellschaftlichen Teilbereichen segregiert – existieren können“.47 Mit der Beschränkung des Eigenrechts fremder Kulturen auf die Privatwelt werden diese meiner Ansicht nach auch nicht nur auf „Folklore“ oder Brauchtum reduziert und degradiert. Eine stimmige, Vielfalt akzeptierende eigene Identität ist auf dem Boden der Tradition auch dann möglich, wenn man den Individuen Lernfähigkeit und jene Bereitschaft zu Toleranz und Entgegenkommen zugesteht, wie sie auch von der Bevölkerungsmehrheit für eine multikulturelle Gesellschaft verlangt wird. Auf der Basis wissenschaftlicher Argumentation kann nicht entschieden werden, welche Kultur einen höheren oder geringeren Wert hat, welche daher kleinere oder größere Anpassungsleistungen zu vollbringen habe. Das sind Wertfragen, die historisch stets durch die sozialen Verhältnisse und in modernen Gesellschaften mittels demokratischer Interessenauseinandersetzungen geregelt werden. Die Reflexivität des subjektiven Standpunktes darf daher – in der Umgehung des Eurozentrismus – nicht so weit getrieben werden, dass sich für die Praxis daraus die Idee oder Forderung einer „neuen“ Kultur für Einwanderungsländer wie Kanada oder die USA ergibt, zu der alle kulturellen Gruppen einen gleichen Beitrag leisten bzw. eine gleiche Distanz aufweisen. In gewissem Sinne, der nur in der Praxis konkretisiert werden kann, müssen Zuwanderer mit den gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen der Einwanderungsländer ihr Auskommen finden, nicht jede ethnische Gruppe kann sie nach ihrem Belieben auch nur teilweise umgestalten wollen. Zumal die europäische Tradition mit der Zivilgesellschaft bereits ein Ordnungsmodell entwickelt hat, welches die Zustimmung zu nur wenigen Prinzipien (Individualität, Liberalismus, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie) zur Bedingung macht. Zur Begründung muss keine normativ-kulturelle Überlegenheit der europäischen Tradition bemüht werden, es genügt der Hinweis auf die Funktionalität dieser Prinzipien in den internationalen Beziehungen48; die Anzie47 Hoffmann-Nowotny,H.-J. (1992): Chancen und Risiken multikultureller Einwanderungsgesellschaften, Nr. 119, Schweizerischer Wissenschaftsrat, Bern, S. 14. 48 Hier meine ich vor allem die Vereinten Nationen und ähnliche Organisationen, denen es um einen Ausgleich von Interessen und gleichberechtigten Status aller Länder der Welt ankommt. Es existieren natürlich transnationale Institutionen und Organisationen westlicher Prägung (vor allem wirtschaftlicher Natur, aber auch politische wie NATO), die nicht diesem Ziel folgen und daher als Versuch zu werten sind, die globale Hegemonie des Westens aufrechtzuerhalten.
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hungs- und Assimilationskraft, die sie seit jeher ausstrahlen. Letztlich ist es der europäische Glaube an die Universalität und Überlegenheit dieser Gesellschaftsordnung vor allen anderen – ein wissenschaftlich nicht zu belegender Wertstandpunkt. Das Multikulturalismus-Konzept besteht in der Tat gerade in der Überwindung dieser Partikularismen und ist die Utopie einer globalen Gesellschafts- und Werteordnung als Produkt intensiven, vielfältig kulturellen Austausches und Interessenausgleiches zwischen den Kulturen und einzelnen Staaten. Multikulturalismus bedeutet daher die Bereitschaft, den individuellen Horizont zu überschreiten, andere Horizonte kennen zu lernen und mit ihnen zu verschmelzen auf dem Weg, zu einer zukünftigen größtmöglichen Harmonie zwischen den Völkern49 zu gelangen.
Die Struktur des kanadischen Multikulturalismus „Simplement cela. A la place du discours autoritaire des idéologies identitaire, un regard ouvert et le désir de comprendre."50 Gyurcsik weist darauf hin, wie einfach und extrem anspruchsvoll das kanadische Multikulturalismus-Konzept ist. Eine erste Annäherung verspricht die Auflistung von Thornhill, die alle in der Literatur als wesentlich erachtete Elemente des kanadischen Multikulturalismus enthält: • Multiculturalism is a recognition of the cultural diversity which has existed since the founding of Canada. is meant to complement Canada’s Federal Policy of Bilin• Multiculturalism gualism.51 • Multiculturalism is viewed as a governmental administrative policy response to the findings of the Royal Commission on Bilingualism and Biculturalism. • Multiculturalism is the educational answer to national unity, international understanding, or ethno-cultural survival. • Multiculturalism is a dynamic ever-changing “museum”, a colorful, exotic and entertaining way of-selectively, according to one’s own comfort levelexpanding one’s knowledge base, and promoting intercultural understanding and solidarity. • Multiculturalism is the panacea par excellence by which we can support and preserve our Human Rights, develop our Canadian identity, strengthen citizenship participation, reinforce Canadian unity, encourage cultural diversity within a bilingual framework, and promote unity in diversity.
49 Taylor, C. (1993): S. 71 50 Gyurcsik in Ertler, K.-D.(2004): Canada in The sign of migration and transculturalism: from multi- to transculturalism, S. 73 51 Kanadas Verständnis für multikulturelle Kontexte hat sich aus der bilingualen Situation entwickelt.
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• • • • •
Multiculturalism seeks to enhance the appreciation of the contributions of the many ethno-cultural groups to Canadian society. […] Multiculturalism is a new resource, just waiting to be tapped, commodified, packaged, marketed and managed productively, and above all, profitably. Multiculturalism is an educational reality. […] Multiculturalism signifies the elimination of Racism and Racial Discrimination. Multiculturalism evokes the “social contract” which we must re-negotiate in the name of equality and non-discrimination in a democratic society.”52
In der Einleitung zum Multikulturalismus-Gesetz (von 1988) ist formuliert, dass „die Regierung Kanadas die Verschiedenheit der Kanadier bezüglich ihrer Hautfarbe, ihrer nationalen oder ethnischen Herkunft sowie ihrer Religion als wesentliches Merkmal der kanadischen Gesellschaft anerkennt. Die Regierung bekennt sich zu einer Politik des Multikulturalismus, die dazu bestimmt ist, das multikulturelle Erbe Kanadas zu bewahren und zu fördern. Gleichzeitig steht sie dafür ein, dass die Gleichwertigkeit aller Kanadier im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Leben unabdingbar ist und erlangt werden muss“53. Allerdings ist dies der vorläufige Höhepunkt multikulturalistischer Gesetzgebung nach 17 Jahren praktischer Erfahrung auf diesem Gebiet. Der Kerngedanke Trudeaus war: Außerhalb des bilingualen Rahmens sollte es keine kanadische Leitkultur geben, erst dort, wo Menschen oder Gruppen an die Grenzen einer Leitkultur stießen, würde die Regierung eingreifen.54 Wie Gyurcsik schreibt: „Canada […] s’est construit dans le contexte d’une hétérogénéisation de la population censée mettre en question les stéréotypies du discours identitaire traditionelle.“55 Die Anerkennung anderer Sprachen neben den beiden offiziellen war damit (noch) nicht gemeint. Multikulturalismus bedeutete eben nicht Multilinguismus. Begründet wurde dies von Trudeau ganz pragmatisch: Beide Gründernationen hätten aufgrund ihrer Größe und territorialen Verteilung die Macht, den Bund aufzulösen, was auf keine andere ethnische Gruppe zuträfe. Deshalb würden jenen nur individuell Rechte auf Erhalt ihrer kulturellen Traditionen zugestanden56, was dennoch die Ernsthaftigkeit des Multikulturalismusprojektes nicht beeinträchtigen sollte. Dessen Grundprinzipien sind wie folgt zu beschreiben: 1. Prinzipielle Zustimmung zur ethno-kulturellen Verschiedenheit 2. Recht auf kulturelle Differenz 52 Thornhill, E. (2001): Multicultural and Intercultural Education: The Canadian Experience. 53 Steiner-Khamsi, G. (1992): Multikulturelle Bildungspolitik in der Postmoderne, Leske + Budrich Verlag, Opladen, S. 130 54 Harzig, C. (2004): S. 250 55 Gyurcsik in Ertler, Löschnigg (2004): S. 73 56 Mackey, E. (2003): The House of Difference. S. 66
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3. Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit und gegenseitigen Toleranz. Der Identifikation mit der Herkunftsgruppe sollen jedoch Identifikationsmodelle mit der kanadischen Gesamtgesellschaft vorausgehen. Man ist erst Kanadier und dann Mitglied einer ethnischen Minorität, sozusagen ein BindestrichKanadier. 4. Sicherheit – Kontakt – Hypothese: Wer sicher in die primäre Heimatgruppe integriert ist, hat die Offenheit, den Kontakt mit kulturell Fremden zu suchen. 5. Einheit in Verschiedenheit, ein Kern von gemeinsamen Grundwerten und Regeln garantiert den Zusammenhalt der differenzierten Gesellschaft. Kombination des Rechts auf Verschiedenheit mit dem Recht der kulturellen Gleichwertigkeit. 6. Recht auf gleiche Chancen ohne Ansehen der Herkunft 7. Management-Annahme: Multikulturalismus entwickelt sich nicht von selbst, sondern bedarf des politischen Managements – der politischen Ermutigung und Förderung.57 Mit dieser Politik wurde die Hegemonie britisch-anglophoner Kultur von Staatswegen abgeschafft und durch die Konzeption eines „neuen“ Kanada ersetzt. Sie stellt damit einen Bruch mit der etablierten Gesellschaftsauffassung nach spezifisch britischen Traditionen dar. Das Bildungswesen war und ist ein zentraler Bereich, in dem diese Politik praktisch umzusetzen ist. Die Umsetzungsversuche unterlagen einer ständigen Reflexion, parlamentarisch-administrativer Kontrolle und Nachbesserung.58 Das Canadian Consultative Council on Multiculturalism – später umbenannt in Canadian Multicultural Council – machte sich die Integration der unterschiedlichen ethnischen Gruppen in den politischen Prozess zur Aufgabe. Im Human Rights Act von 1978 (der ersten Verankerung von Menschenrechten in der kanadischen Verfassung) wurde eine Untersuchungskommission geschaffen, die Erscheinungsformen und Umfang von Diskriminierungen untersuchen, bekämpfen und ein entsprechendes Erziehungsprogramm entwickeln sollte. Das Bundesparlament in Ottawa setzte 1983 eine Allparteien-Untersuchungskommission ein (The Special Committee on Participation of Visible Minorities in Canadian Society.), die positive und konstruktive Ideen entwickeln sollte, um das Verhältnis von sichtbaren Minderheiten (visible minorities59) und britischen Kanadiern zu verbessern, um Integration, Ausgleich und das Zusammenleben zu fördern. Daraus ging ein ständiger Untersuchungsausschuss hervor, dessen Berichte 1988 im 57 Geißler, R. (2003): S. 21, vgl. Harzig, C. (2004): S. 247 58 Vgl. Harzig, C. (2004): S. 251–254 59 Wie der Name schon sagt, sind damit jene Personen gemeint, deren nicht-europäische Abstammung in der Öffentlichkeit offensichtlich ist, da diese am ehesten Opfer von Diskriminierungen wurden; vor allem die First Nations und Afro-Amerikaner. Die Problematik dieses Begriffes, der ja dennoch von einer „weißen“ Majorität ausgeht, wird unten noch behandelt.
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Canadian Multiculturalism Act in rechtliche Form gegossen wurden. Multikulturalismus wurde erst damit wirklich nationale Politik, erhielt geradezu Verfassungsrang; Kanadier jeder Herkunft sollten gleichen Zugang zu Ausbildungsund Arbeitsstellen und Aufstiegsmöglichkeiten haben, Förderung politischer Programme, die den Menschen den Beitrag zur Entwicklung Kanadas ermöglichten und ihnen den Respekt vor Verschiedenheit nahe legten, Förderung der multikulturellen Realität Kanadas. Es war nicht einfach ein Anti-Rassismus- oder Anti-Diskriminierungsgesetz, sondern ein „Gesellschaftsvertrag zwischen Regierenden und Regierten, der festlegte, dass die multikulturelle Vielfalt des Landes auf allen Ebenen und in allen Bereichen anzuerkennen sei“60. Der Übergang zur Anerkennung ethnischer Heterogenität, zunächst der Zweisprachigkeit, die administrative Förderung des Zusammenlebens und des Eigenrechts der kulturellen Gruppen geschah einerseits, wie dargelegt, aus der Notwendigkeit heraus angesichts der separatistischen Drohung in Quebec, vom britisch-hegemonialen Selbstverständnis abzukehren. Gleichzeitig aber auch vor dem Hintergrund einer boomenden Wirtschaft, die reiche Finanzmittel für eine offene Kulturpolitik und für die institutionelle Umsetzung der Zweisprachigkeit zur Verfügung stellte. Der allgemeine Wohlstand trug auch zur Akzeptanz des Multikulturalismus, des Endes der bisher fraglosen Dominanz anglo-kanadischer Kultur bei. Bekanntlich führen Zeiten, die von Versorgungs- und Zukunftsängsten geprägt sind, eher zur Zementierung innergesellschaftlicher Grenzen, zur Stärkung von Ressentiments gegen Fremde, befördern Diskriminierung und Abwertung des Fremden. Trotz Zustimmung der Bevölkerung zu dieser Politik zeigte sich schnell, dass deren Verabschiedung und politisch-institutionelle Umsetzung und ihr Eindringen in die Alltagspraxis nicht parallel liefen. Sozioökonomische Ungleichheiten, Formen von Diskriminierung und Kulturhegemonie verschwanden nicht durch verstärktes Interesse vor allem der AngloKanadier an ihren ethnischen Minderheiten. Die oberen bis mittleren Segmente der Gesellschaft blieben deutlich von europäisch-stämmigen Kanadiern dominiert.61 Multikulturalismus sei demnach nur Augenwischerei, kaum mehr als Ideologie, die als kleinsten Nenner die differenzierte kanadische Gesellschaft zusammenhalten sollte. Dahinter stehe, so die Kritik, immer noch das Modell einer kanadischen Kern-Kultur (core culture) was gleichbedeutend anglophon und britisch meint, zu der die anderen Ethnien eben nur ihren unterschiedlichen Beitrag leisten würden.62 Unabhängig davon, dass sich die Zusammensetzung der kanadischen Gesellschaft bis heute derart verändert hat, dass auch Anglokanadier nicht mehr die Bevölkerungsmehrheit stellen, wurde diese Problematik im politischen Prozess aufgegriffen und der Multikulturalismuspolitik eine entscheidende Wendung ge60 Harzig , C. (2004): S. 254 61 Steiner-Khamsi, G. (1992): S. 154 62 Mackey, E. (2003): S. 66
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geben (verabschiedet im oben genannten Multiculturalism Act 1988). Anerkennung, Toleranz, soziale Freiräume für kulturelle Besonderheiten reichten eben nicht aus, um das anvisierte Ziel – die Emergenz einer Nation trotz kultureller Vielfalt ohne Ungleichheit determinierende Hegemonie einer Teilkultur – zu erreichen. Es musste eine dezidierte, in alle Bereiche des Alltags eindringende, quasi zu verinnerlichende Antirassismus- und Antidiskriminierungspolitik und Gesetzgebung hinzukommen. Wie noch zu sehen sein wird, ist auch der Schulalltag davon geprägt. Die eigentliche Durchsetzung des Multikulturalismus in seinen ursprünglichen Intentionen geschah erst in den 80er- und dann 90er-Jahren. Zunächst war es nur der kleinste gemeinsame Nenner, eine plakative Basis, auf der die verschiedenen Teilkulturen zwar miteinander leben, das Projekt einer neuen kanadischen Identität aber nicht wesentlich vorangetrieben wurde. Das änderte sich durch die Hervorhebung des Zusammenhangs zwischen kultureller Vielfalt und nationaler Identität. Kanadier sein bedeutete von nun an, ethnisch identifizierbar zu sein. Ethnisierung und Multikulturalisierung wurde seit Mitte der 80er-Jahre von Regierungsseite unterstützt und vorangetrieben.63 Getreu dem Motto: „Wir sind alle Minderheiten.“ (Staatsminister für Multikulturalismus James Fleming, 1981): „Die Regierung hat den Multikulturalismus nicht erfunden, sie hat lediglich seine Existenz anerkannt. Wir sind nicht nur eine politische Vereinigung verschiedener geographischer Regionen. Vielmehr sind wir eine Gemeinschaft von über siebzig Kulturen. Montreal ist die zweitgrößte französischsprachige Stadt der Welt. Die Mehrheit der Einwohner der Prärieprovinzen ist weder anglophon noch frankophon. Mehr als die Hälfte der Schüler in Toronto haben eine nicht-englische Muttersprache. Es ist eine Realität, dass in Kanada keine einzige Gruppe die Mehrheit bildet. Wir sind alle Minderheiten, so wie wir auch alle ‚Boat-People‘ sind, die auf dem Meeresweg hierher gekommen sind. Der einzige Unterschied ist, dass das Boot bei einigen früher anlegte als bei anderen.64“ Aus heutiger Sicht erscheint die Multikulturalismuspolitik als großer Erfolg. Auch wenn bei wirtschaftlicher Flaute und sinkenden Staatseinnahmen Ausgabeeinsparungen auch bei der Förderung von Kulturprojekten und Sprachunterricht stattfinden, ändert dies wenig an den hohen Zustimmungsraten zu den Grundprinzipien dieser Politik in der kanadischen Bevölkerung. Natürlich hat sich auf 63 Generell zeigte die Bundesregierung in Ottawa großes Interesse daran, den Multikulturalismus zu institutionalisieren, vor allem die Vielzahl der ethnischen Gruppen institutionell zu erfassen. Wo sich dies nicht aus Eigeninitiative ergab, wie bei den in den 60er–Jahren noch marginalisierten, zudem ethnisch selbst sehr heterogenen und zahlenmäßig kleinen Gruppen der First Nations, half der Staat mit der Ausbildung organisatorischer Strukturen. Er selbst schuf sich damit Ansprechpartner für seine Politik, die natürlich auch für zwischenethnische Kommunikation genutzt wurden, und die Politik blieb auf diese Weise beherrschbar, da nachvollziehbar. 64 Steiner-Khamsi, G. (1992): S. 147ff.
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der politischen Rechten ein Potential gebildet, welches beständige Kritik an dieser und der Einwanderungspolitik übt und den Multikulturalismus lieber heute als morgen abschaffen wollte, dennoch ist er in dieser Form in der Gesellschaft fest verankert. 95% sind der Meinung, dass sich der Stolz, Kanadier zu sein, mit jenem auf die eigene Herkunft verbinden lässt; 90% befürworten Chancengleichheit ohne Angesicht von Rasse und Religion; 79% glauben, dass Multikulturalismus notwendig ist, 73% geben an, dass sie Freunde anderer ethnischer Herkunft haben; 66% glauben, dass Rassendiskriminierung in Kanada ein Problem darstellt; 68% glauben, dass Rassendiskriminierung nicht ohne staatliche Initiativen abzubauen sei.65
Herausforderungen für den kanadischen Multikulturalismus Multikulturalismus kann nicht um jeden Preis verordnet werden. Es bleibt ein nicht nur humanitärer, ethischer Akt, Fremde ins Land zu lassen, damit sie sich dort beheimaten und auch eine neue Chance bekommen, sondern auch ein politischer, indem es darum geht, den Staat zu schützen und bestimmte Leitlinien und -werte, die ihn ausmachen, zu bewahren. Nur kurz sei darauf eingegangen, dass Einwanderer sich immer an die gegebenen Rechtsordnungen halten müssen – in unserem Beispiel an die liberal-demokratische Rechtsordnung Kanadas. Das Gefühl, durch Zuwanderung in der inneren Sicherheit bedroht zu werden, gibt es vermutlich, seit Menschen sich eine neue Heimat suchen. Besonders virulent wurde es in neuerer Zeit durch den 11. September 2001, der als symbolisches Ende des Gefühls der Unverletzbarkeit für viele Regierungen der westlichen Welt gelten kann. In der theoretischen Diskussion des Multikulturalismuskonzeptes wurde dieser Punkt bereits angesprochen. Selbstverständlich endet auch in Kanada die Toleranz und die Freiheit kultureller Selbstbestimmung von Migranten dort, wo kanadisches Recht verletzt wird. Eine weitere wichtige Herausforderung resultiert daraus, dass Kanada zwar ethnisch wie kulturell multikulturell, aber zumindest offiziell „nur“ bilingual ist, d.h., von Zuwanderern und deren Nachfahren wird die Beherrschung einer der offiziellen Sprachen (meist die dominierende Sprache der jeweiligen Provinz) erwartet. Denn nur so kann Integration in die Gesellschaft gelingen, und das heißt hier: Partizipation an der Öffentlichkeit – was jedes Individuum erst zum (Staats-)Bürger macht, ihm überhaupt gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Ausdruck findet dies auch in der Formulierung der Doppel-Identität, einmal vorrangig als Kanadier und erst nachgeordnet jeweils der individuellen ethnischen
65 Adam, H., Wohlfahrtsstaat, Einwanderungspolitik und Minderheiten in Kanada: Modell für Deutschland und Europa, in: Treichler, A. (Hrsg.), Wohlfahrtsstaat, Einwanderung und ethnische Minderheiten. Probleme, Entwicklungen, Perspektiven, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, S. 336
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Herkunft folgend (unberücksichtigt bleibt hier die auf mittlerer Ebene angesiedelte wichtige Identifizierung des Einzelnen mit der jeweiligen Provinz). Multikulturalismus führt damit nicht zu Kulturrelativismus, nicht zu chaotischer Relativität der Gleichwertigkeit und Gleichgültigkeit aller Kulturen. Trotz der Anerkennung fremder, vor allem nicht-westlicher Kulturen ist diese Politik ein durch und durch westliches Projekt. Schließlich stellt es ja, wie schon mehrfach betont, den Versuch dar, das zivilgesellschaftliche Fundament der kanadischen Gesellschaft zwar von den überwiegend britischen Wurzeln zu lösen, jedoch durch Einbindung aller Ethnien transformierend zu erhalten. Aus Migranten unterschiedlichster ethnischer Herkunft sollen (Staats-) Bürger im klassischen Wortsinn werden. Multikulturalismus beinhaltet ein singuläres Konzept öffentlich erwünschter Lebensführung, die sehr tolerant gegen kulturelle Besonderheiten ist – und daher andere Kulturen eben nicht zur Folklore reduziert – jedoch am Ziel eines kanadischen way of life festhält.66 Eine weitere Herausforderung findet sich in der Rolle Quebecs. Neben den First Nations waren die Frankokanadier begreiflicherweise vom Multikulturalismuskonzept nicht begeistert, sahen sie darin doch den Versuch der Bundesregierung, die französische Kultur in der Pluralität der ethnischen Vielfalt in Kanada aufgehen zu lassen, um damit auf die Sonderbehandlung der Frankokanadier verzichten zu können. Zwar wurden die Antirassismus- und Antidiskriminierungsgesetze und viele weitere Bestimmungen auch in Quebec wirksam. Die Freiheit in der kulturellen Betätigung endete hier jedoch bereits an der als französisch definierten Leitkultur. Aufgrund ihrer historischen Erfahrung, dem ständigen bedrohten Status als gleichberechtigte Gründungsnation – bei sinkender Reproduktionsrate der Frankokanadier – konnten und wollten die Québécois nicht auf die Sicherung ihrer Eigenständigkeit verzichten, so dass sich fremde Kulturen nur innerhalb dieser entfalten können. Und deren Konzeption ist nicht so formal wie jene der Zivilgesellschaft, sondern inhaltlich klar und deutlich als französisch definiert. Auch die Urbevölkerung verhielt sich prinzipiell und aus ähnlichen Gründen kritisch zum Multikulturalismusprojekt, obwohl sie diesem viele Rechte und Freiheiten, wie überhaupt erst die Anerkennung als Ethnie verdankt. Dem subjektiven Anspruch nach sehen sich die First Nations jedoch mit den Frankokanadiern in ihrem Ansinnen auf Gruppenzugehörigkeit verbunden. Aufgrund ihrer marginalen Größe im Vergleich zu vielen anderen ethnischen Gruppen ist ihre Einflussnahme auf politische Prozesse sehr gering, die Anerkennung eines Sonderstatus wohl nicht zu erreichen. Große Verbesserungen finden hier jedoch im Detail statt. Zwei Beispiele sind zu nennen: 1999 geschah die Teilung des Northwest-Territoriums, Gründung von Nunavut als Territorium der Inuit. In Gemeinden mit deutlichem Anteil an Urbevölkerung kann deren Sprache in den Schulunterricht aufgenommen werden, wenn sie nicht ohnehin lokale Umgangs66 Mackey, E. (2003): S. 90
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sprache ist; überhaupt profitieren die Inuit stark von der Antidiskriminierungsgesetzgebung – was jedoch ihre bisher benachteiligte soziale Stellung mit anzeigt.
Interkulturelle Erziehung in Kanada Facetten des kanadischen Multikulturalismus heute „Canada’s relationship to the world beyond its borders is defined in the popular Canadian imagination by the country’s continuing commitment to multilateral cooperation and to global peacekeeping in particular.“67 Kanada ist berühmt geworden für seine multikulturell ausgerichtete Erziehung und ist für viele westliche Gesellschaften beispielgebend. Besonders hervorgehoben wird die Umsetzung politischer Vorhaben in konkrete praktische Modelle, die hinreichend evaluiert werden und darin gute Ergebnisse erzielen, also offensichtlich wirksam sind. Gleichzeitig ist Kanada auch insofern exemplarisch, als nach der großen Euphorie und dem großen Aufbruch in den 60er-Jahren nun zunehmend weitere Reformen angedacht werden, die, weg von einem allzu idealisierten Bild des Fremden, doch multikulturelle Erziehung als die Chance verstehen, Ressourcen in der Bevölkerung wirksamer zu erschließen. Denn „immigration is an important part of our development as a country.“68 Multikulturelle Erziehung hat in der kanadischen Ausprägung drei Zielgruppen: • Kanadier ohne „aktuellen“ Migrationshintergrund, also jene Kanadier, deren kulturelle Identität sich aus dem kanadischen Melting Pot schöpft, • kanadische Migranten69und • nationale Minoritäten. • Multikulturelle Erziehung, die in ihren Zielen in Kanada sehr explizit und evaluierbar durchformuliert wird – sogar um festzustellen, wie viele Minoritätsvertreter etwa in der Erziehung beschäftigt sind – hat folgende unmittelbar erziehungsrelevante Aufgaben70: • die Curricula von Geschichte und Literatur im Hinblick auf die bessere Repräsentation ethnokultureller Minoritäten zu verändern, • Arbeitszeiten – und auch Unterrichtszeiten – und Ferien an religiöse Rituale und Feste von Migranten anzupassen, • Kleidungsvorschriften so weit zu fassen, dass Migranten dadurch nicht ausgeschlossen werden, 67 Alper, D./Sparke, M. (1997): Canada and the World. S. 61 in: Beach, R./Joyce, W. (1997): Introducing Canada, National Council for the Social Studies. S. 61 68 Kymlicka, W. (1998): Finding our way. Rethinking Ethnocultural Relation in Canada. S. 1 69 Ebd., S. 97 70 Ebd., S. 42
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• •
anti-rassistische Erziehungsprogramme zu entwickeln und zu implementieren und zweisprachige Erziehungsprogramme für Migranten anzubieten
Ab den neunziger Jahren rücken in den Schulbüchern auch andere Gruppen ins Blickfeld, und die Spannbreite des Multikulturalismus-Begriffs wird größer – sie bezieht teilweise offensichtlich benachteiligte Gruppen wie Frauen, Homosexuelle und neuerdings auch taube Menschen mit ein. Die multikulturelle Frage ist eine Frage, die von Beginn an Kanada bewegte. Ein erstes Standbein waren kulturtypische Schulen, die für einzelne Ethnien entstanden – so wurde etwa in Victoria schon 1909 die erste chinesische Schule eröffnet.71
Die kanadische Multikulturalismuspolitik als gesellschaftliche Bewegung Das kanadische Multikulturalismusprogramm hat vier Prioritäten72: • die Kapazität der ethno-kulturellen Minoritäten auszubauen, am öffentlichen, politischen Leben teilzunehmen • systemische Barrieren in öffentlichen Institutionen abzubauen, die der Diversifikation entgegenstehen • staatlichen Institutionen zu helfen, Diversity-Fragen in der Politik, in Programmen und Diensten verstärkt zu beachten • Gemeinden und die breite Öffentlichkeit zu motivieren, in Dialog mit Minoritäten zu treten und sich rassistischen Tendenzen entgegenzustellen. Multikulturelle Fragen sind in Kanada ein so intensiver Teil der Politik, dass sie als wesentliche Bestandteile der „Corporate Identity“, der kanadischen Kultur, gelten können. Im Programm des National Office wird dies mit folgenden Argumenten näher ausgeführt. The Canadian Charter of Rights and Freedoms guarantees the rights and freedoms set out in it subject only to such reasonable limits prescribed by law as can be demonstrably justified in a free and democratic society. Every individual is equal before and under the law and has the right to the equal protection and equal benefit of the law without discrimination and, in particular, without discrimination based on race, national or ethnic origin, colour, religion, sex, age or mental or physical disability. This Charter shall be interpreted in a manner consistent with the preservation and enhancement of the multicultural heritage of Canadians.“73 71 Katz, J (1974): Education in Canada. S. 105 72 Vgl. Multiculturalism National Office (o.D.): o.P. 73 Multiculturalism National Office (o.D.): o.P.
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Der kanadische Multikulturalismus erscheint als inzwischen in der Politik und in verschiedenen Gremien tief verwurzelt. Dies zeigt ein kurzer Blick darauf, welche kanadischen Institutionen und Initiativen 2005-2006 an der Bildung und Erziehung der kanadischen Bevölkerung auf die eine oder andere Weise beteiligt sind: • Canada Council for the Arts • Canadian Human Rights Commission • Canadian Race Relations Foundation • Citizenship and Immigration Canada • Canadian Radio-television and Telecommunications-Commission • Department of Canadian Heritage • Health Canada • Human Resources and Social Development-Canada • Indian and Northern Affairs Canada • Indian Residential Schools Resolution Canada • National Film Board of Canada • Public Safety and Emergency Preparedness-Canada • Social Sciences and Humanities Research-Council of Canada • Statistics Canada • Status of Women Resources Management-Agency of Canada • Public Service Human • Telefilm Canada74
Interkulturelle Pädagogik in Kanada: spezifische Herausforderungen Dass die Bevölkerungszusammensetzung Kanadas für schulische Pädagogik und Didaktik eine besondere Herausforderung darstellt, braucht nicht betont werden. Sie ist Chance und Risiko, Gewinn und Last zugleich, wie im Folgenden deutlich werden soll. Die kanadischen Schüler verfügen nicht nur über einen unterschiedlichen Level der Sprachbeherrschung (der Unterrichtssprache); die Pluralität der ethnischen Herkunft führt zum Aufeinandertreffen unterschiedlicher Lernniveaus, Lern- und Wissenstraditionen und Einstellungen zur Schule und zur westlichen Kultur. Bis in die 70er-Jahre bestand dieses Problem nicht. Die Zuwanderer kamen überwiegend aus Europa, konnten im anglophonen Kanada die Sprachbarriere relativ schnell überwinden, kulturell partizipierten alle an den gemeinsamen Wurzeln abendländischer Kultur. Zumindest schien es so und wurde so offenbar wahrgenommen und gedeutet. Die Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Zuwanderungsströme schlug sich natürlich auch in der ethnischen
74 Vgl. Multiculturalism National Office (o.D.): o.P.
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Struktur der Schulklassen nieder. Als Antwort und Problemlösungsversuch kann das Konzept der Interkulturellen Pädagogik verstanden werden. Es versucht, auf der Basis einer einheitlichen Unterrichtssprache Diversität individueller Herkunft und formale Lehrplananforderungen und Leistungserwartungen miteinander zu verbinden. Das praktische Einüben interethnischer Toleranz, Antirassismus und Antidiskriminierung ist integraler Bestandteil des Schulalltags und der Curricula. Die soziale Integration der Zukunft wird also in der Schule verhandelt und eingeübt. Über diese Ausgleichsfunktion hinaus bekam das Schulwesen in Kanada zusätzlich die Funktion zugewiesen, gemäß dem Multikulturalismus-Konzept, jenseits der Anerkennung ethnisch-kultureller Heterogenität kanadisches Nationalbewusstsein zu formen, entsprechende Identitätskonstruktionen zu sozialisieren. Interkulturelle Pädagogik startete Anfang der neunziger Jahre mit dem Anspruch, die zentrifugalen Kräfte multiethnischer und multikultureller Gesellschaften zu neutralisieren und für den Zusammenhalt sorgen zu können, davon ausgehend, dass Migration zunächst das Gefühl einer gemeinsamen, unbefragt geltenden Heimat, sozialer Geborgenheit in einer Mehrheitsgesellschaft und dominanten Kultur verhindere. 75 Interkulturelle Pädagogik verstand sich als Kompensation gesellschaftlicher Probleme. „Sie war gewissermaßen ein bildungspolitisch humanitärer Akt an Kindern, deren Eltern als Außenseiter und Fremde benachteiligt waren.“76 Sie beruht heute auf der theoretischen Perspektive der Cultural Studies.77 Diese sehen die Schule als eine kulturelle Sphäre, in welcher soziale Beziehungen geschaffen, strukturiert und reproduziert werden. Die unterschiedlichen Gruppen entwickeln aufgrund ihrer Traditionen, ihrer Stellung in der Gesellschaft und ihrer Erfahrungen spezifische Einstellungen und Gesellschaftsbilder – gruppenspezifische Weltanschauungen und Lebensweisen. In differenzierten Gesellschaften befinden sich die verschiedenen Sozialmilieus mit ihren Wirklichkeitsdeutungen und Interessenartikulationen (unabhängig davon, inwieweit dies mit ethnischer Differenzie-
75 Zu diesem Abschnitt siehe: Steiner-Khamsi, G. (1992): Multikulturelle Bildungspolitik in der Postmoderne, Leske + Budrich Verlag, Opladen, Kap. 8; Keck, R. H. Zum Stellenwert von Heterogenität und Multikulturalität in der pädagogischen Gegenwartsdiskussion, Waiter, W., Kulturelle Integration – Begriff und Ideal einer Pädagogik der Vielfalt, beide Aufsätze in: Keck, R.W./Rudolph, M./Whybra, D, Waiter, W. (Hrsg.) (2004): Schule in der Fremde – Fremde in der Schule, Heterogenität, Bilingualität – kulturelle Identität und Integration, Lit Verlag, Münster; Nieke, W., (1995): Interkulturelle Erziehung und Bildung, Wertorientierungen im Alltag, Leske + Budrich Verlag, Opladen, Kap. 2; Hormel, U./Scherr, A., (2005): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 76 Steiner-Khamsi (1992): S. 199 77 Vgl. dazu den Sammelband Widerspenstige Kulturen, hrsg. Von K. H. Hörning und R. Winter, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1999
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rung einhergeht) in stetigem Wettbewerb miteinander um die Durchsetzung ihrer Weltsicht und Interessen. Idealtypisch bestimmen nicht kollektive Ressourcen und Machtpositionen die Durchsetzungschancen, sondern es wird praktisch unparteiisch per Ausgleich geregelt, so dass jede Gruppe zu ihrer Geltung kommt und sich so auf dem Boden einer allgemein akzeptierten Gesellschaftsordnung und Weltsicht autonom entfalten kann. Zentrale Werte sind: Respekt, soziale Anerkennung, Vorurteilsfreiheit, Vernetzung mit den verschiedenen religiösen Verweisungen und positive Bewertung der kulturellen Vielfalt. Sie reflektieren das Grundanliegen der Pädagogik nach gesellschaftlicher Integration, zwischenmenschlichem Ausgleich und Gleichbehandlung. Praktischer Ausdruck dessen ist eine Integrationspolitik – und hier ist der Bildungs- und Erziehungsbereich der wichtigste – die nicht Assimilation zum Ziel hat, sondern sich als Prozess gegenseitiger Befruchtung versteht und wo die Vorstellung aufgegeben wird, dass sich klar umrissene Gruppen von Einwanderen in eine Mehrheitsgesellschaft eingliedern sollen, sondern in der sich alle zusammen wechselseitig beeinflussen und so eine neue Gesellschaft entwickeln78. Wie weit reichend hierbei Änderungen am bestehenden sozialen Grundkonsens möglich sind, liegt in der Bereitschaft und Einsicht der Akteure. Kanada ist ein Beispiel, wie die Selbstverständlichkeit einer anglophonen Nationalkultur im Prinzip freiwillig zugunsten neuer Formen gesellschaftlichen Umgangs und Selbstdeutung aufgegeben wurde. Zur interkulturellen Pädagogik gehört die Skepsis gegenüber jeglichen Formen von angeblichen Essentialismus, Universalismus und Fundamentalismus – kurz allen Formen, welche die soziale Pluralität und Komplexität vereinfachen und restriktiv reduzieren wollen. Es gehört dazu, eigene Denkgewohnheiten und Sprachregelungen zu reflektieren und gegebenenfalls zu ändern. Auch die Erziehungswissenschaften mussten sich kritisch mit der Schule und ihrer Vermittlungsfunktion auseinandersetzen. Sie blieben lange dem eurozentristischen Blick verhaftet, sofern sie die europäische Kultur als Zentrum der Zivilisation ansahen, dessen Kulturverständnis im engeren Sinne ohnehin elitär war.79 Auch das Ethnizitätsparadigma, wie es im Westen entwickelt wurde, die Beschäftigung mit fremden Kulturen, mit Minderheiten und Multikulturalismus bewirkte weniger die Anerkennung des Fremden, sondern eher die Festschreibung des Fremden als Fremdes in seinem Anderssein und betonte eher die Grenzen des Miteinanders.
78 Waiter, W. (2004): Kulturelle Integration. S. 50 79 Der erste Aspekt ist für die meisten modernen Staaten zutreffend gewesen; das elitäre Kulturverständnis ist jedoch – aufgrund ihrer spezifischen Geschichte und Bevölkerungszusammensetzung – in erster Linie ein europäisches Phänomen. Es reflektiert die historisch überkommene Spaltung zwischen Ober- und Unterschichten, die nicht wie in Nordamerika allein ökonomisch bestimmt ist, sondern historisch auf geburtsständischer Differenzierung beruht.
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Demgegenüber stehe – so Waiter – die Entwicklung einer interkulturellen Pädagogik, die versucht, kulturelle Grenzen zu überschreiten. Sie soll Schülern ermöglichen, sich in unterschiedlichen kulturellen Bezugssystemen zu bewegen, obwohl jedes dieser Systeme über verschiedene kulturelle Codes, Erfahrungen und Sprachen verfügt. Diese Fähigkeiten werden für postmoderne Gesellschaften, in denen fortwährend neue Bedeutungszusammenhänge generiert werden, als notwendig angesehen. Schüler sollen lernen, die zugrunde liegende Ideologie einer Aussage oder eines Textes sowie den Standort des Autors zu erkennen; Multiperspektivismus, Reflexionsfähigkeit und Perspektivenübernahme sind die dafür notwendigen Lernziele. Für Lerninhalte und Lernmethoden bedeutet dies die Anerkennung verschiedener Bildungstraditionen und die jeweils kulturell verschiedene Gewichtung von Bildungsinhalten, aber auch der unterschiedlichen Sichtweisen auf Wissensbestände an sich. Dazu gehört die Dekonstruktion oder Entnaturalisierung westlicher Wissensbestände und -konzepte, die Anerkennung der Tatsache, dass westliche Wissenschaften eben auch westliches Wissen hervorgebracht haben, welches nicht per se Überlegenheit gegenüber anderen Herangehensweisen beanspruchen kann. Es wurde eben im Westen akkumuliert auf dem Boden des dortigen Selbstverständnisses und geltenden Standards. Multiperspektivität bedeutet hier, aufzuzeigen, wie verschiedene Kulturen zu ähnlichen Wissensinhalten gelangt sind (als Beispiel lassen sich die unterschiedlichen Zahlensysteme oder Schriftkulturen anführen). Konsequenterweise muss auch in den Entscheidungen darüber, welches Wissen gelehrt wird, die ethnisch-kulturelle Proportionalität gewahrt bleiben, um jeder Form oder auch nur dem Verdacht der Kulturhegemonie zu begegnen. Dies ist ein relativ spätes Produkt des 20. Jahrhunderts, geboren aus vielfältigen Erfahrungen des Scheiterns der klassischen Assimilierungsstrategie von Einwanderern an eine dominante, selbstsichere Mehrheitskultur. Bis in die 60erJahre hatte die Schule auch in Kanada das „eindeutige Mandat [...] nicht nur die Einwanderer, sondern selbst die eingeborene Bevölkerung zur Anglo-Konformität zu erziehen“80, bis sich diese Ansicht im Zuge der Debatten um Bilingualismus und Multikulturalismus definitiv änderte. In Kanada reifte diese Einsicht also relativ früh; in Deutschland scheint man sich ihr erst in den letzten Jahren geöffnet zu haben. Zwar gab es auch hier eine Ausländerpädagogik, die versuchte, soziale Ungleichbehandlung von Ausländern zu minimieren und ihre soziale Integration zu fördern. Aufgrund ihrer theoretischen Perspektive und ihres Sprachgebrauchs betonte und verschärfte sie aber eher die Trennung von Einheimischen und Zuwanderern. Es war die Pädagogik einer sich als homogen sehenden Mehrheitsgesellschaft, die nicht Gleichberechtigung, sondern Assimila-
80 Stephan, W. (1993): Die kanadische Schule im Spannungsfeld des Kulturpluralismus, in: Bildung und Erziehung, Jg. 46 (1993): Heft 4, S. 451
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tion herstellen wollte und damit Exklusion dort produzierte bzw. auf Dauer stellte, wo sich Widerstände gegen die Assimilation richteten. Es gibt viele Programme zur Integration von Migranten in Kanada, und immer wieder tauchen neue, noch nicht erfasste Faktoren auf, die die Dynamik der interkulturellen Erziehung verändern. Phantasie, kreatives Problemlösen und Intuition, verbunden mit einer fundierten Evaluation zeichnen etliche der Programme aus, die in Kanada aufgrund der Multikulturalismuspädagogik entstanden sind. Zentral war und ist dabei vor allem, die Zielgruppen dieser Programme damit auch tatsächlich zu erreichen, d. h., die Wahl der Medien und des Ansprechens sind bedeutsam. Gleichzeitig ist auch zu untersuchen, wie sich die Menschen, die man in eine Gesellschaft heranführen will, bewegen und mittels welcher Medien sie sich im Alltag informieren. In der Regel bedient man sich Mittlerpersonen aus einem migrantennahen Umfeld, versucht also, die Menschen in ihrem Alltag anzusprechen. Was das kanadische Multikulturalismus-Programm hervorragend aufgreift, ist der Vernetzungsgedanke – das Multikulturalismusprogramm funktioniert auf mehreren Ebenen und verschiedene Stellen sind eng vernetzt – etwa mit der „Family Violence Initiative“81.
Das kanadische Schulsystem Kanada hat ein landesweites öffentliches und kostenloses Schulsystem82, mit einer Schulpflicht von 6-17 Jahren. Für den Besuch der Colleges oder Universitäten werden jedoch Gebühren verlangt. Bildungspolitik und Praxis liegen in der Verantwortung der Provinzen, und hier liegt es an der jeweiligen Regierung, wie aktiv sie wird oder ob den School Boards (Oberschulbehörde) weitgehend Freiraum in der Gestaltung des Schulunterrichts gelassen wird. Bereits auf Organisationsebene zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen der deutschen und kanadischen Schulorganisation, die nicht ohne Bedeutung sind. Kanada verfolgt von Seiten des Staates eine umfassende und integrative, alle Schulformen umfassende Politik und Bildungspraxis. Gemeinsames Lernen beginnt früh im Kindergarten, dort bereits auch die Curricula, so dass die Kinder bei Eintritt in die 1. Klasse bereits lesen und schreiben können. Migrantenkinder, Kinder mit Lerndefizite (in Deutschland: Sonderschüler), wie auch besonders Begabte lernen prinzipiell gemeinsam mit allen anderen, genießen aber besondere, ihren jeweiligen Bedürfnissen angepasste Förderung (bei Migranten meist zusätzlicher Sprachunterricht).
81 Vgl. Multiculturalism National Office (o.D.): o.P. 82 Siehe dazu Milhoffer, P, Informationen über das Schulwesen in Kanada, www.deutschdidaktik-primar.uni-bremen.de/Kanadisches_Bildungswesen_Mil hoffer_.pdf; Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule, Gesamtschulverband, Informationen zum Schulsystem in Kanada/Ontario, www.ggg-nrw.de/Europa/GGGKanada.pdf; Bundesministerium für Bildung und Forschung, (2003): Vertiefender Vergleich der Schulsysteme ausgewählter PISA-Staaten, Bonn, Kap. 4.1
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An den Kindergarten schließt sich eine 6-8 jährige Elementarschule an, darauf folgt die Sekundarschule (High School), die verschiedene berufs- bzw. weiterqualifizierende Abschlüsse anbietet. Allerdings eben nicht räumlich-organisatorisch getrennt in verschiedenen Schulen, sondern integriert. Kanada verfügt also über ein integriertes Gesamtschulsystem, welches dennoch große Wahlmöglichkeiten und individuelle Unterstützungsleistungen beinhaltet. Auch der Unterricht ist in aller Regel mit dem uns Gewohnten nicht zu vergleichen. Frontalunterricht ist selten, auch den festen Klassenverband an sich gibt es nicht. Die Schüler arbeiten häufig selbständig anhand von Unterrichtsmaterialien ohne starres Zeitschema. Es herrscht also relativ viel Bewegung der Schüler zwischen einzelnen Unterrichtsräumen, für deutsche Verhältnisse eine unvorstellbare Lärmund Unruhequelle, die in Kanada jedoch nicht also solche aufgefasst wird83. Die Fachcurricula sind nicht auf die Vermittlung quantifizierbarer Wissensbestände und deren Abfragung beschränkt, sondern orientieren sich an folgenden Erziehungszielen: 1. Academics (Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten) 2. Personal management (Arbeitsorganisation, Zeiteinteilung, Systematik, Lerntechniken, Fitness und Gesundheit, Berufsplanung) 3. Communication (Wissen aufbereiten und mitteilen, argumentieren, sozialintegrativ kommunizieren) 4. Critical thinking (Reflexionsfähigkeit) Die Schulen sind kultureller und sozialer Mittelpunkt eines Stadtteils, eines Milieus und in der Regel materiell sehr gut ausgestattet. Schulbibliotheken sind die Regel. Die Lehrerschaft ist hochqualifiziert und verfügt über ein hohes Berufsprestige und soziales Ansehen. Schule und Bildung erfahren in Kanada also eine besondere gesellschaftliche Wertschätzung. Aufgrund der Dezentralisierung schlägt sich dies nicht überall und immer in der Praxis nieder, dies ändert aber nichts an der funktionalen Bestimmung des Schulwesens innerhalb der kanadischen Gesellschaft und dem prinzipiellen Versuch ihrer Erfüllung. Schulpädagogik hat primär die Förderung von Verständnis für die kulturellen Hintergründe der jeweiligen Migrantengruppen zum Ziel; die konsequente Multikulturalisierung und Ausdifferenzierung der schulischen Curricula, einschließlich unterschiedlicher Lehr- und Lernstile und Methoden, bilden deren Inhalt. So soll Bewahrung des kulturellen Hintergrundes, nationale Identitätsprägung und interethnischer Dialog und Austausch realisiert werden. Das schließt Bewusstseinsförderung, Anregung zur Toleranz gegenüber kulturellen Differenzen, Förderung von Minderheitensprachen und das fast rituelle Zelebrieren fremder Kulturen mit ein. Inzwischen, nach Rückschlägen in der Multikulturalismuspolitik
83 Volkholz, S.(o.J.): S. 11f.
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während der 90er-Jahre, wurde die dahinter liegende Idee, wie oben schon angesprochen, weiterentwickelt. Nicht Freiheit, Toleranz und Anerkennung genügen bereits für eine funktionierende multikulturelle Gesellschaft, es müssen konkrete Aktivitäten zur Beseitigung von Diskriminierung hinzutreten. Ontario hat hier, wie in vielen die Multiethnizität betreffenden Dingen, die Vorreiterrolle übernommen und den AntiRacism- and Ethnocultural Equity-Approach als grundlegende Verhaltensnorm und Organisationsstruktur in das Schulwesen implementiert. Das bedeutet: Vorbereitung der Schüler auf das Leben in einer zunehmend differenzierten Gesellschaft, sie in die Lage versetzen, kulturelle und soziale Vielfalt anzuerkennen und diskriminierende Handlungen und Praktiken zu erkennen und ihnen entgegenzutreten.84 Dazu gehört die Durchforstung der schulischen Organisationsstrukturen nach diskriminierenden Schranken und Praktiken, die bisher latent geblieben sind – vor allem bei bestimmten, sehr speziellen Leistungsanforderungen. Daher müssen in Form inklusiver Curricula die Lehrpläne der differenzierten und pluralisierten Gesellschaft Rechnung tragen. Auch sie sind auf enthaltene Stereotypisierungen und Vorurteilen geprüft, bemühen sich um die Überwindung eurozentristischer Perspektiven. „Denn es wird davon ausgegangen, dass die tradierte eurozentristische Perspektive als ‚heimlicher Lehrplan‘ zum Ausschluss des überlieferten Wissens und der Geschichte von Minderheitengruppen führt, und damit zu einer Entwertung ihres soziokulturellen Hintergrunds.“85 Und dies gilt nicht nur für Geschichte oder Politikunterricht, sondern auch für Naturwissenschaften – in deutschen Schulen wird bspw. der außereuropäische Anteil an der Entwicklung der Mathematik bzw. gar parallele Entwicklungsgänge weitestgehend ausgespart. Es herrscht also das Bewusstsein, dass die Art und Weise, wie Wissen aufbereitet und vermittelt wird, zentralen Einfluss auf die Haltungen und Sichtweisen hat, die Individuen bezüglich ihrer sozialen Umgebung (und damit auch anderen sozialen Gruppen) entwickeln. Dazu gehört bspw., dass neuen Zuwanderungskindern, die andere Lehrerfahrungen mitbringen, die impliziten Regeln des dialogzentrierten Unterrichts an Kanadas Schulen aufgezeigt und damit erlernbar gemacht werden. Dazu wird ihnen auch eine Eingewöhnungsphase eingeräumt. In Ontario haben einige School Boards inzwischen Programme (Students Together Against Racism) entwickelt, in denen Schüler die Übernahme persönlicher Verantwortung für die Entwicklung und Durchsetzung antirassistischer Strategien lernen sollen. Sie sollen über die Strafbarkeit diskriminierender Handlungen sowie die Effekte individueller und struktureller Diskriminierung aufgeklärt wer-
84 Hormel, U/Scherr, A. (2005): S. 87f. 85 Ebd., S. 90
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den, ihre Rechte und Möglichkeiten, sich gegen Diskriminierungen zu wehren, kennen lernen.86 Eingebettet sind diese Strategien meist in einen Anerkennung und Respekt gebietenden Verhaltenscodex (code of conduct), der weit über die Multikulturalismusthematik hinaus für ein gutes Schulklima und das Erlernen sozialer Verantwortung sorgen soll. Dazu gehören Übungen im Zuhören87; die Verpflichtung der Lehrkräfte, erwünschtes Verhalten als Rollenvorbild vorzuleben, was auch als Anspruch an die Eltern herangetragen wird. Dazu gehört, soweit es geht, der Verzicht auf hierarchisch geprägte Interaktionsmuster – so müssen sich auch Lehrer bei Fehlverhalten rechtfertigen und entschuldigen.88 Zu dieser Schulkultur gehört auch das Einüben sozialer Verantwortung. Ältere Schüler begleiten und unterstützen Jüngere, leisten für Schule und Gemeinschaft gemeinnützige Arbeit. Zivilgesellschaftliches Engagement, Verantwortungsübernahme, Führungsfähigkeit und gegenseitiger Respekt sind elementare Lernziele und scheinen auch von allen gestützt zu werden. Entsprechendes Verhalten wird auch belohnt, bspw. kochen Lehrer für die Schüler ein Essen. Und es gibt ähnliche Rituale, die eine hohe Bedeutung haben.89 Wie bereits erwähnt, ist man sich gerade in Kanada über die Bedeutung der Sprache für die Ausbildung sozialer Integration sehr wohl im Klaren. Der Konflikt mit Quebec wird oberflächlich als Konflikt um Geltung und Verbreitung der französischen Sprache geführt. Der tatsächliche Umgang mit dem Sprachproblem – von welchem, wie oben gesehen, die Mehrheit der asiatischen Migranten der letzten Dekaden mit betroffen ist – ist je nach Region wiederum verschieden. Selbstverständlich steht das Erlernen einer offiziellen Sprache an erster Stelle. In Quebec ist dies zwingend Französisch (nur Kinder, deren Eltern eine englischsprachige Erziehung genossen haben, dürfen eine englischsprachige Schule besuchen); in allen anderen Provinzen (außer New Brunswick – offizielle Zweisprachigkeit) ist dies ebenso natürlich die englische Sprache, da häufigste Umgangssprache. Mit ESL (English as Second Language) wurde dafür ein spezifisches Programm entwickelt. Vor der Einschulung werden die Kinder einem intensiven Sprachtest zur Ermittlung nicht ihrer Rückständigkeit, sondern ihres individuellen Förderungsbedarfs unterzogen. Dementsprechend werden daraufhin unterrichtbegleitend zusätzliche Stunden Sprachunterricht angeboten. Kinder, die bereits in Kanada geboren sind, können jedoch nicht in den Genuss dieses Programms kommen, auch wenn sie ebenso Defizite in den Unterrichtssprachen aufweisen (wenn bspw. im sozialen Umfeld keine offizielle Sprache die normale Umgangssprache ist). Hier 86 Ebd., S. 96 87 Im Englischen: how to listen: das ist so griffig eigentlich nicht zu übersetzen. Es ist damit gemeint, dass Kinder lernen Interesse zu zeigen – eben aufmerksam anderen zuzuhören und diese Informationen individuell auch zu verarbeiten. 88 Volkholz, S. (o.J.): S. 8 89 Ebd., S. 11
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liegt es in der Entscheidung der School Boards, diese Kinder in dieses Programm aufzunehmen.90 In aller Regel bieten jedoch die Migrantenorganisationen entsprechende Sprachförderung an – und die Schule befürwortet deren Nutzung ausdrücklich. Diesen obliegt ganz offiziell und ausdrücklich die Pflege und Vermittlung der jeweiligen Muttersprachen. Es gibt also in der Regel keinen spezifischen Deutsch- oder Polnischunterricht, jedoch vielfältige andere Möglichkeiten, diese Sprachen und damit die jeweiligen kulturellen Kontexte zu pflegen und zu erhalten. Teilweise werden Unterrichtsstunden in diesen „heritage languages“ abgehalten (cultural enrichment program“)91, d.h., die nicht-offiziellen Sprachen werden zu Unterrichtssprachen, ohne dass es sich dabei um Sprachunterricht handelt (Immersionsprogramme). Allerdings finden sie nur innerhalb dieses Programms ihren Platz; darüber hinaus sind die Schulen um die Durchsetzung des Bilingualismus bemüht, d.h. die Förderung einer ersten Minderheitssprache und das ist eben meist das Französische.92 Bezogen auf die Lernleistungen und Förderung der Kinder, wie auch der organisatorischen und ehrenamtlichen Unterstützung bzw. Belebung des Schulalltags, ist für den Gesamterfolg schulischer Sozialisation die Einbeziehung des sozialen Umfeldes in den schulischen Prozess von entscheidender Bedeutung. Die Schule ist Mittelpunkt eines Sozialmilieus. In Form des School-CommunityPartnership öffnen sich Schulen dem Alltagsleben, der sozialen Gemeinschaft der Schüler. Alltag und Schule/Lerninhalte und -praxis können sich wechselseitig befruchten. Interkulturalität und Multiethnizität werden für alle damit anschaulich und zu real vermittelten Erfahrungen. Für die Gestaltung der Schule und des schulischen Lebens, der Organisation von Festen und Feiern, Projekten und Veranstaltungen ist die Elternmitarbeit von großer Bedeutung und es wird auch darauf geachtet, dass keine Gruppe in den verschiedenen Elterngremien unterrepräsentiert ist – also aktive Gleichstellungspolitik. Zwar kann man dies kritisch als Verallgemeinerung weißer Mittelschichtserfahrungen und -ansprüche sehen, da Bereitschaft und Verfügbarkeit wenigstens eines Elternteils besonders hier vorausgesetzt werden kann (immerhin bedeutet dies die zumindest teilweise Freistellung eines Elternteils vom Erwerbsleben). Auch besteht die Möglichkeit der kulturell begründeten Distanz gegenüber Werten und Inhalten, wie sie in der kanadischen Schule vermittelt werden. Aber selbst für dieses Problem sind in den Schulbehörden Spezialisten angestellt: die Community Liaison Counsellors93. Deren Arbeit orientiert sich an den Bedürfnissen der jeweiligen Communities und Ethnien. Zu ihren Aufgaben
90 Ebd., S. 6 91 Steiner-Khamsi, G. (1992): S. 133 92 In Manitoba, Saskatchewan und Alberta teilweise auch Ukrainisch, Hebräisch, Deutsch und Arabisch. Ebd. S. 134 93 Hormel, U./Scherr, A. (2005): S. 90 (gilt hier nur für Toronto)
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gehört die Sprachunterstützung und Übersetzung (für Eltern), Beratung bei der Bewertung und Einstufung von Schülern (Erstellung individueller Förderungspläne), Aufklärung und Erläuterung des kanadischen Schulsystems – aber auch Beratung, Fortbildung und Aufklärung der Lehrkörper über die ethnische Zusammensetzung der Communities und ihrer Besonderheiten und letztlich das Konfliktmanagement zwischen diesen Beteiligten. In Kanada wird also versucht, die Entstehung von „bildungsfernen Schichten“ mittels weitreichender Integration der Eltern in den Schulprozess zu verhindern bzw. sie zu beseitigen. Hinter diesen Einzelaspekten und Initiativen steckt, schwer begrifflich fassbar, eine spezifische Einstellung und Sichtweise auf die Schule, Unterrichtsformen und -inhalten, die zumindest von der Mehrheit der Lehrer und Schüler geteilt wird. Es wird davon ausgegangen, dass jedes Kind lernen will und auch zum Lernen fähig ist, dass es Spaß daran entwickeln kann. Es herrscht ein positives Schulklima der wechselseitigen Anerkennung und Respektierung und es wird sehr viel Wert auf Lob und andere Formen positiver Verstärkung gelegt.94 Aus deutscher Sicht stechen diese dezidiert positiven Einstellungen ebenso direkt ins Auge wie das Bemühen der Schule, jeden einzelnen Schüler ganzheitlich, d.h. mit all seinen Begabungen, Schwächen, aber auch seinem familiären und sozio-kulturellen Kontext zu betrachten. So durchlaufen Kinder von neu Zugewanderten zusammen mit ihren Eltern ein etwa dreistündiges Family-Assessment, in dem die Lehrer versuchen, möglichst viel über den familiären Hintergrund, die Bildungsabschlüsse und die sozio-ökonomische Situation der Familie zu erfahren. Denn nur auf Grundlage dieser umfangreichen Informationen können qualifizierte Fallanalysen erstellt werden, die dann in individuellen Förderungsplänen umgesetzt werden.95 Schon in der Schulorganisation wird vermieden, individuelle Unterschiede zu betonen oder zu erzeugen. Es finden sich eben keine nach Leistungsunterschieden differenzierte Schultypen; die qualifizierbare und vergleichbare Messung der Lernleistung der Schüler mittels Kontrollen und Zensuren hat auch nicht die Bedeutung wie in Deutschland, auch wenn Qualitätsmanagement und Qualitätskontrolle der kanadischen Schulen im Rahmen international vergleichender Bildungsstudien zugenommen haben.96 Auch das positive, auf Zusammenarbeit, gegenseitigen Respekt und Unterstützung angelegte Schulklima wirkt präventiv auf die Entstehung sozialer Spannungen.
94 Volkholz, S, (o. J.): S. 21 95 Ebd., S. 6 96 Ratzki, A./Schumann, B. (2003): Statt Vertrauen und Förderung: Misstrauen und Kontrolle, in: Deutsche Schule, Heft 2/2003
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Methoden und Projekte Interkultureller Erziehung Der kanadische Multikulturalismus hat im Erziehungsbereich vier Ziele: Er soll verstanden werden als 1. Erziehung für die ethnokulturell Verschiedenen (multikulturelle Erziehung i.S.v. Kompensation) 2. Erziehung über kulturelle Unterschiede (multikulturelle Erziehung als Bereicherung) 3. Erziehung als Erweiterung (multikulturelle Erziehung hin zu kulturellem Pluralismus) 4. Erziehung zur Gleichheit (multikulturelle Erziehung als Stärkung)97 Die wesentlichen Methoden, die im Unterricht genutzt werden, sind: • Rituale – Multikulturalismus feiern, religiöse Feste feiern etc. 98 • Information – Information über Minoritätskulturen geben, ethnologisches Interesse wecken am „fremden Nachbarn“ oder zu solchen Recherchen anregen99 • Zukunftswerkstätten – wie soll die Zukunft Kanadas aussehen, was würden die Schüler tun, was können sie jetzt für „ihr“ Kanada von morgen tun – hier wird nicht nur gesprochen, sondern gemalt und gebastelt – je nach Alter100 Vorurteilen kritisch ausei• kritischer Dialog, in101der sich etwa mit bestimmten nandergesetzt wird , inkl. Rollenspiele102 Interkulturelle Erziehung ist Kanadas Antwort auf Diversity.103 Dieser aktive, offensive Umgang mit der eigenen Bevölkerungsstruktur und ihren speziellen Herausforderungen kann als beispielhaft betrachtet werden. Tabelle 12 im Anhang zeigt einige Beispiele für multikulturelle Erziehungsprojekte in Kanada. Man sieht dort, wie Interkulturelle Pädagogik das Prinzip für alle Fächer in Kanada ist. Interkulturelle Erziehung spielt in Kanada eine große Rolle bei der Sicherung des sozialen Friedens, aber auch bei der Erschließung der Ressourcen der Migranten104: „Intercultural educational measures, which include interculturallyeducated teachers, as well as multilingual policies, which attempt to improve in-
97 Fleras, A./Elliott, J.L. (1995): Multiculturalism in Canada, S. 192 98 Kalman, B. (1993): Canada celebrates multiculturalism. 99 Beach, R./Joyce, W. (1997): Introducing Canada, National Counsil for the Social Studies. S. 131ff, Fleras/Elliott (1995): S. 204 100 Beach, R./Joyce, W. (1997): S. 137 und S. 139 101 Ebd., S. 139 und S. 145 102 Ebd. S. 204 103 culturalpolicies.net/web/canada.php, (o.D.): o.P. 104 Vgl. culturalpolicies.net/web/canada.php (o.D.): o.P.
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tercultural relations and non-centric curricula, help create inclusive, stable and peaceful and democratic polities.”105 Einige wenige besondere Beispiele für multikulturelle Erziehungsprogramme möchte ich im Folgenden illustrieren: das „Civic Participation of Ethno-Racial Communities in the School System Project“ in Kitchener-Waterloo, Ontario. Es hat zum Ziel, die Kapazität der ethno-kulturellen Minoritäten auszubauen, um am öffentlichen und schulischen Leben teilzunehmen.106 Es soll helfen, Immigranten-Familien, die erst seit kürzerer Zeit zugezogen sind, zu schulischer Partizipation einzuladen. Durch Workshops sollen die Eltern der betroffenen Schüler lernen, besser die schulischen Stärken und Schwächen, aber auch Vorlieben ihrer Kinder zu erkennen und auf sie zu reagieren. Damit wird eine Win-win-Situation für alle geschaffen – die Schulen erkennen leichter die Bedürfnisse der Migranten-Kinder, die Eltern der Kinder können diese leichter erkennen, verbalisieren und durchsetzen. Ein weiteres Beispiel stellt das schulische Multikulturalismusprogramm des National Council of the Social Studies (NCSS) dar und hat folgende Bestandteile: • Kultur • Zeit, Kontinuität und Veränderung • Menschen, Plätze, Umgebungen • individuelle Entwicklung und Identität • Individuen, Gruppen und Institutionen • Macht, Autorität und Herrschaft • Produktion, Verteilung und Konsum • Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft • globale Verbindungen • zivile Ideen und Praktiken107 Fragestellungen an die Schüler, die sich aus den einzelnen Punkten ergeben, sind etwa Folgende108: • Zeit, Kontinuität und Veränderung: „How did you feel to be an immigrant to Canada in the early twentieth century?“109 of land forms • Menschen, Plätze, Umgebungen: „[…] how ist multiplicity have shaped its regional identities and economic patterns?“110 • Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft: „You are the developer […] Where would [you] lauch [your] initiative and why?“111 105 106 107 108 109 110 111
culturalpolicies.net/web/canada.php (o.D.): o.P. Vgl. Multiculturalism National Office (o.D.): o.P. Beach, R./Joyce, W. (1997): S. 133 Ebd., S. 134ff. Ebd., S. 135 Ebd., S. 136 Ebd., S. 137
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Es ist zu erkennen, dass durch gezielte Unterrichtsprogramme und -methoden die Schüler und Schülerinnen sich sowohl als Teil der unmittelbaren Nachbarschaft ihres Viertels als auch als Subjekt der kanadischen Gesellschaft definieren und teilhaben sollen. Auch das Projekt PROMIS in Montreal widmet sich diesem Ziel.112 Es geht darum, „to familiarize participants with the values, legislation, regulations, and institutions of Canadien and Quebec society, and to provide opportunities for hands-on participation in various local organisations.” Auch hier finden wir einen ähnlich positiven Effekt wie in dem Projekt aus Kitchener-Waterloo: Tatsächlich engagieren sich nun in Montreal mehr Immigranten im öffentlichen Leben, dazu werden die Institutionen offener für die Bedürfnisse von Migranten113. Ein besonderes, Jugendliche ansprechendes Projekt scheint das „Diversity in Sports“ zu sein. Dieses wurde vor dem Hintergrund etabliert, dass sich in Studien zeigte, dass in der Regel das sportliche Engagement von Migranten sehr leicht zu aktivieren ist. Es ist daher natürlich nicht nur aus sportlicher Sicht wichtig, deren Potentiale zu fördern und zu nutzen – und Freiwillige zu finden, die bei der Organisation der Sportveranstaltungen mithelfen: „The Regina 2005 Canada Summer Games Host Society undertook an institutional change project to address this issue. The project was a pilot to develop inclusive policies that invite diverse members of Canadian society, particularly the Aboriginal and ethno-cultural/ racial communities, to become more involved in major games.”114 Ein weiteres Projekt ist das der Saskatchewan-Indianer, wo ältere Menschen und andere nichtschulische Ressourcenträger in der Schule mitwirken. “Specific IMED (Indian and Métis Education Program) funding from Saskatchewan Learning has been allocated for Aboriginal Elder/outreach initiatives that bring Aboriginal resource people, such as Elders, cultural advisors, or other Aboriginal resource people into the school. The purpose of this special component of IMED is to encourage the building and enhancement of relationships between school divisions and the Aboriginal community. Aboriginal Elders, cultural advisors, outreach workers and other Aboriginal resource people play a vital role in creating a culturally-affirming school environment. These resource people can link students, staff, families and community to Aboriginal cultures and traditions, as well as bring an enhanced Aboriginal perspective to the school and transfer that knowledge to the classroom.”115 Schließlich geht es – darauf weist gerade dieses Projekt hin – auch darum, ein Wissensmanagement zu betreiben, das es erlaubt, die Ursprungskultur möglichst genau kennenzulernen.
112 Vgl. Multiculturalism National Office (o.D.): o.P. 113 Vorsichtshalber muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Bewertung intern geschah und in dem Bericht keinerlei konkrete Zahlen genannt werden – vgl. Multiculturalism National Office (o.D.): o.P. 114 Multiculturalism National Office (o.D.): o.P. 115 Indian and Métis Education Program (o.D.): o.P.
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Auch Preise und Ehrungen wie der „Canada Award and Prix du multiculturalisme“ sollen die ,corporate identity‘ Kanadas als anti-rassistischem, multikulturell aufgeschlossenem Staat stärken.116
Muslime und der Islam in Kanada Muslime in Kanada Muslime sind in Kanada eine religiöse Gruppe neben vielen anderen.117 Sie stellen etwa 2% der Bevölkerung118, sind jedoch nach den christlichen Religionen und dem Judentum die drittgrößte Religionsgemeinschaft. Die übergroße Mehrheit der Muslime lebt in den drei größten urbanen Zentren: Toronto, Vancouver und Montreal. Die Muslime in Kanada sind nicht auffälliger als andere Gruppen von Einwanderern, bis in die 90er-Jahre hinein waren sie praktisch als Gruppe nicht wahrnehmbar. Die wenigsten Muslime sind Flüchtlinge vor den unwürdigen Bedingungen in einigen islamischen Staaten oder wegen kriegerischen Auseinandersetzungen in den Herkunftsländern. Die meisten waren auf der Suche nach einem besseren Leben in Kanada. Ganz allgemein können die Muslime somit als integraler Bestandteil der kanadischen Gesellschaft bezeichnet werden. Sie können in Lebensmittelgeschäften Nahrungsmitteln aus ihren Ursprungsländern kaufen, bekommen in Schulen und Krankenhäusern gesonderte Kost, viele Schulen, Geschäfte und Berufsverbände berücksichtigen muslimische Feiertage; es gibt inzwischen eine hinreichende Zahl an Moscheen. Wie bei anderen Religionsgemeinschaften fühlt sich etwa ein Drittel der Muslime der Religion sehr verbunden und ist sehr aktiv, ein weiteres Drittel nur mäßig und das letzte Drittel hat nur eine lose Verbindung zu religiösen Praktiken und Überzeugungen. Viele Muslime besuchen die öffentlichen Schulen, jedoch sind islamische Privatschulen relativ weit verbreitet. In ihnen werden die Kinder zwar im muslimischen Glauben erzogen, darüber hinaus werden sie jedoch nach den gleichen Lehrplänen unterrichtet wie die Schüler an öffentlichen Schulen.Die Grundlage dafür liegt im Recht, katholische Schulen zu gründen, das sich Quebec erstritten 116 Vgl. Multiculturalism National Office (o.D.): o.P. 117 siehe: Todd, D., Muslime in Kanada (übersetzt von Susanne Bosch), www.dfait-maeci.gc.ca/canada-europa/germany/aboutcanada1101-de.asp; Haddad Y. Y., Islam in Canada, in: The Canadian Encyclopedia www.thecanadianencyclopedia.com/PrinterFriendly.cfm?Params=A1ARTA000407 4; Hamdani, H. A./ Bhatti, K./ Munawar, N. F., Muslim Political Participation in Canada: From Marginalization to Empowerment?, in: www.ihyafoundation.com/ pdf/muslim_pol_partic_final_version.pdf 118 Pakistan und Iran sind die am häufigsten genannten Herkunftsländer der Muslime, die jedoch ansonsten aus der gesamten islamischen Welt vom Balkan bis nach Ostasien ihren Weg nach Kanada gefunden haben. Die arabischen Staaten spielen keine herausragende Rolle.
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hatte, zumal protestantische Schulen traditionell private Einrichtungen waren. Diese homogenen Schulen stehen aber im Zentrum der Kritik, da sie gerade nicht der Idee von kulturellen Vielfalt, Horizonterweiterung und Anerkennung von Gleich-Wertigkeit verpflichtet sind. Denn im Education Act von 1998 reformierte man das Bildungsystem anhand sprachlicher und nicht mehr religiöser Richtlinienen. Danach bieten auch öffentliche Schulen Religionsunterricht an, was dazu führte, dass viele christliche Privatschulen absorbiert wurden. Aufgrund der Einwanderungspraxis und der unterstützenden Schulpolitik und pädagogischen Praxis erreichen viele Muslime höher qualifizierte Bildungsabschlüsse (27%, bei 17% im kanadischen Bevölkerungsdurchschnitt), auch und vor allem viele Frauen. Die Anpassung islamischer Traditionen an zivilgesellschaftliche Bedingungen scheint vielerorts unproblematisch zu funktionieren. ”In other words, the Canadian Muslim community is the most educated, affluent, fastest growing and youngest community.”119 Es gibt mehrere muslimische Verbände, die auch Schulen und Jugendarbeit machen, wie die Muslim Association of Canada120 oder die Canadian Civil liberties Association121 oder die Canadian Arab Federation122, die schon 1967 gegründet wurde. Jedoch haben sich regional und lokal unterschiedliche Verhältnisse zwischen Muslimen, der Öffentlichkeit und anderen Bevölkerungsgruppen eingespielt. Und nur wenige Muslime versuchen islamisches Recht möglichst „rein“ oder restriktiv traditionalistisch in Kanada fortzuführen. Radikalisierung scheint bisher selten in muslimischen Gemeinden anzutreffen zu sein. Im Gegenteil, es haben sich etliche islamische Organisationen gebildet (Canadian Society of Muslims, Muslim Canadian Congress123), die bspw. für die Implementierung bestimmter islamischer Rechtsvorschriften in kanadisches Recht eintreten, gleichzeitig aber auch den interreligiösen Dialog (vor allem mit Christen und Juden) fördern. Darüber hinaus bemühen sich öffentliche Stellen darum, den positiven Effekt der islamischen auf die kanadische Kultur herauszustellen – mittels Wanderausstellungen, Filmdokumentationen oder entsprechenden Texten in Schulmaterialien. Aufgrund ihrer unterschiedlichen nationalen Herkunft haben sich Muslime in Kanada lange Zeit nicht als politisch oder gesellschaftlich wahrnehmbare Gruppe konstituiert. Auch existiert der Islam in zu vielen Spielarten, als dass er zweifelsfrei und automatisch überregionale vergemeinschaftende Wirkung hätte entfalten 119 Hamdani, H.-A./Bhatti, K./Munawar, N.-F. (o. J.): Muslim Political Participation in Canada, S. 2 120 Vgl. macnet.ca, (o.D.) 121 Vgl. cmcla.org, (o.D.) 122 Vgl. caf.ca, (o.D.) 123 http://muslim-canada.org/ und www.muslimcanadiancongress.org/index.html. Auf beiden Webseiten findet sich eine Vielzahl von Artikeln und Zusammenschau von Presseartikeln bezüglich des muslimischen Lebens in Kanada, seiner öffentlichen Wahrnehmung und Beschreibung.
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können. Allein die Ausnahmesituation nach dem 11. September 2001 und die seit dem für islamische Themen sensibilisierte und teilweise auch sehr irritierte Öffentlichkeit führten und führen zu gesteigerter Aufmerksamkeit gegenüber den muslimischen Gemeinschaften in Kanada. Sie sehen sich in der Gefahr, in Sippenhaft genommen zu werden, falls muslimische religiöse Praktiken und Weltanschauung, religiöse Gemeinschaften per se nicht mit der governemental bestimmten, gesellschaftlich akzeptierten Norm übereinstimmen. Es gab bereits Einzelfälle, in denen Muslime aufgrund dieser Hypersensibilität Opfer dieser Gesetze wurden, gegen die kaum rechtsstaatliche Mittel anzuwenden sind.124 Westliche Gesellschaften scheinen eine Hypersensibilität gegenüber dem Islam und den Muslimen zu entwickeln, die in Nordamerika teilweise in eine Islamophobie übergeht. In Toronto hat mittlerweile eine Gruppe namens MENTORS (Muslim Educational Network, Training and Outreach Service) einen Workshop in Antirassismus entwickelt, der sich in der Öffentlichkeit als so populär erwies, dass er sogar von einigen Schulen auf freiwilliger Basis angeboten wird.125 Er ist Teil des größer gefassten Projekts dieser Gruppe, welches sich gegen Rassismus und Islamophobie richtet. “Through public education targeted at children and youth, we will be proactively addressing the current widespread incidents of discrimination, harassment, hate crimes and racial profiling directed against Arab, South Asian, Afghani and Muslim Canadians as the result of the September 11 tragedy”, so die Zielsetzung von MENTORS, die sich zwar in erster Linie um Diskriminierung von Muslimen sorgt, generell jedoch für ähnliche Probleme anderer Minderheiten ebenso offen ist. In diesem Programm wird der Ansatz verfolgt, ganz gezielt über fremde Kulturen aufzuklären und aus aktuellem Anlass über den Islam. Ethnizität als Kategorisierung und Beschreibung Fremder soll nicht einfach ignoriert werden, aus einem Verständnis politischer Korrektheit heraus, dass dies keine Rolle spielen dürfe. Gerade weil die ethnische Herkunft für Individuen in Kanada von erheblicher Bedeutung ist, müssen diese unterschiedlichen Horizonte kommuniziert werden, ist es wichtig, sich auszutauschen, Fragen zu stellen und Wissen über die anderen zu erwerben – um gegen Halbwissen und Fehlinformationen in der medialen Berichterstattung oder politischer Argumentation gefeit zu sein. Wie schwierig der Umgang in speziellen Fällen mit dem Islam und den Muslimen für die kanadische Öffentlichkeit und Regierungsstellen ist, verdeutlicht der Streit um die „Einführung der Scharia“ in Kanada. Dahinter verbirgt sich tatsächlich ein Konflikt um die Gleichberechtigung verschiedener Religionsgemeinschaften.126
124 Ebd., S. 3 125 Nasir, M, Canadian Schools Counter Islamophobia, www.islamonline.net/English/ News/2004-06/22/article06.shtml 126 Siehe dazu: Braune, G, Nein zur Scharia im multikulturellen Kanada, 16.09.2005 http://blog.handelsblatt.de/ottawa- braune/eintrag.php?id=16;
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Der Arbitration Act (Schlichtungsgesetz) wurde 1991 in Ontario verabschiedet und erlaubt die Einsetzung nicht-professioneller Schiedsgerichte im Wirtschafts- und Handelsrecht. Bald wurde es auch auf andere zivile Rechtsbereiche ausgeweitet; in jüdischen – hier gibt es das „Beit Din“, ein Forum von mehreren Rabbinern – und christlichen Gemeinden bspw. wird es oft von Geistlichen ausgeübt. Konflikte konnten damit innerhalb der Gemeinschaft geschlichtet werden, wobei die Teilnahme bzw. die Bindung an den Schlichtungsspruch freiwillig war. Bis 2003 galt das Gesetz als Beispiel für die Umsetzung multikulturalistischer Politik. Zum politisch-öffentlichen Streitobjekt wurde es erst 2003, als der Verband das „Islamische Institut für zivile Gerichtsbarkeit“ mit dem Ziel gründete, Schlichtungsstellen („Darul-Qada“) für Familien- und Erbrechtsfälle zu schaffen. Sie sollten nach islamischem Recht auf der Basis der Scharia, dem auf dem Koran beruhenden Normengefüge, entscheiden.127 Der Streit entzündete sich daran, dass Frauenrechtsbewegungen und liberale Gruppen die Einführung der Scharia unter dem Schutzmantel dieses Gesetzes befürchteten und darin das Hintergehen verfassungsmäßiger Grundrechte sahen. In Kanada wurde gegen dieses Gesetz demonstriert und die Schärfe des Konfliktes entzündete sich an der „Scharia“. Der öffentlichen Meinung fehlte das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der kanadischen Muslime, da die Beteiligten muslimischen Verbände unbedinget auf den Begriff der Scharia bestanden. Aufgrund dieser Unnachgibigkeit konnte die öffentliche Meinung sich nicht vorstellen, dass die Freiwilligkeit dieser Verfahren vor allem für Frauen – also die Freiheit sich im Streitfall doch eher an ein staatliches Gericht zu wenden – angesichts der Stellung der Frau im Islam und der sozialen Kontrolle innerhalb der muslimischen Gemeinschaften gewahrt bleiben würde. Es ist nahezu unmöglich, die Rationalität und Angemessenheit dieser Diskussion einzuschätzen. Denn Ontarios Regierung hatte dem Ersuchen um Zulassung dieser Zivilgerichte zunächst positiv gegenübergestanden, beugte sich letztlich aber dem massiven öffentlichen Druck und nahm das gesamte Gesetz zurück. So konnten zwar muslimische Schiedsstellen verhindert werden, allerdings wurden alle anderen Religionsgemeinschaften ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Es handelt sich um eine enorme gesellschaftliche und politische Herausforderung, einerseits den kanadischen Muslimen jenes Maß an kultureller Eigenständigkeit und kulturellem Selbstbestimmungsrecht zuzugestehen, wie dies andere Religionen und Kulturen genießen, und gleichzeitig die Werte der demokratischen Verfassungs- und Gesellschaftsordnung zu verteidigen. Es ist nicht nur eine Herausforderung für die Regierungen in den Provinzen und in Ottawa, sondern vor al-
Pipes, D., Enforce Islamic Law in Canada?, in: New York Sun, 27. September 2005, www.danielpipes.org/article/2989. Weitere in kanadischen Zeitungen erschienene Artikel sind unter www.muslimcanadiancongress.org/articles.html zu finden. 127 Braune, G. a.a.O
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lem für die kanadischen Muslime selbst, ihre religiösen und kulturellen Traditionen in Einklang mit der westlichen Moderne zu bringen und fundamentalistische, antiwestliche Tendenzen innerhalb der Gemeinschaft der Muslime selbst zu unterbinden. Ein anderer Weg der Einbindung des Islam und der Muslime in eine moderne westliche Gesellschaft ist kaum denkbar.
Fazit Ein wichtiger Punkt, auf den Klymicka hinweist, ist, dass das aktive Umgehen mit Multikulturalismus auch Probleme generiert. Es herrsche, so Klymicka, auch eine gewisse Verunsicherung vor, ob der staatlich verordnete Multikulturalismus irgendwann demokratische Grundwerte wie die Menschenrechte aushöhlen könne. Klymicka hat hier ganz klare Vorstellungen davon, wann eine Überforderung von Migranten eintreten könne: „[…] they [migrants] must uphold or promote equality between groups, rather than allow one group to oppress other groups; and they must respect the freedom of individuals within each group, rather than allow a group to oppress its own members by limiting their basic civil and political rights.”128 Eine andere Frage, die Klymicka aufwirft, ist, ob und inwieweit multikulturelle Erziehung nicht nur ethnokulturelle Gruppen einbeziehen sollte, sondern auch etwa Homosexuelle und Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen.129 Schließlich teilen sie mehrere Merkmale wie soziale Stigmatisierung und eine Identität, die sich oft an einer Kumulierung von Merkmalen festmachen, wie „mein türkischer/homosexueller Freund“. Auch hätten Behinderte wie Homosexuelle ein Bewusstsein geschaffen, dass sie zwar anders seien als etwa der durchschnittliche heterosexuelle anglophone Kanadier, aber nur eine der unendlichen Spielarten der Natur darstellten130, sie also ebenfalls ein Recht auf eine bewusste, respektierende oder schätzende Wahrnehmung durch andere haben, was Interkulturelle Erziehung befördern könne.131 Aus dem bikulturellen Kanada werde langsam ein buntes Mosaik, so beschreibt Katz die Bildungserfolge multikultureller Erziehung: „This mosaic is reflected in the number of immigrants who come to Canada and bring with them the value systems of their countries of origin, values which in most instances include respect and desire for education.“132 Auch ist die Erziehung des Multikulturalismus eine ständige Herausforderung und – da ist die kanadische Forschung sich einig – ist auch in ihrer symbolischen Bedeutung von großer Wichtigkeit133; 128 129 130 131 132 133
Kymicka, W. (1998): S. 70 Kymlicka (1998): S. 91ff. Ebd., S. 93 Ebd., S. 103 Katz, J. (1974): S. 106 Fleras, A./Elliott, J. L. (1995): S.165
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und nur Schule und Erziehung mit kontinuierlicher Evaluation und Feinsteuerung biete den notwendigen Rahmen für den inneren Frieden134: „In short, multicultural and intercultural educators in Canada, both wellintentioned do-gooders and self-proclaimed experts, have not yet been able to acknowledge and adopt behavioral modification as a priority. They still nurture the false but comforting ,conventional wisdom‘ that, above all else, the priority to be targeted is attitudinal change which should, at all costs, be promoted along with careful deference to White comfort level, so that White people will not be ,turned off by the whole thing‘.”135 Interkulturelle Erziehung müsse tatsächlich die Einstellungen aller Menschen sehr weitgehend verändern. Da bleibt, fürchtet Thornhill, auch für Kanada noch jede Menge zu tun.136 Haben denn die Programme zur interkulturellen Erziehung die Erwartungen, die viele Kanadier an sie hatten, wirklich erfüllt und woran lässt sich der Erfolg der Multikulturalismuspolitik und der Umsetzung interkultureller Pädagogik im kanadischen Bildungssystem messen? Zur Beantwortung der Fragen nach Nutzen und Wirkung von Multikulturalismus und Interkultureller Erziehung müssen die Maßstäbe reflektiert werden, die man zur Bewertung heranzieht. Angesichts der Differenzierung der kanadischen Gesellschaft dürfte es nicht verwundern, wenn die Ergebnisse dieser Politik auch differenziert eingeschätzt und bewertet werden. Und es gibt eine Vielzahl von Gesichtspunkten, unter denen eine solche Bewertung vollzogen werden kann (soziale Ungleichheit, soziale Konflikte, Lebenszufriedenheit der verschiedenen Ethnien u. dgl.). Aus der Perspektive der Bundesregierung in Ottawa kann insofern eine positive Bilanz gezogen werden, als die Integration der verschiedenen Ethnien bisher gelungen sei. Das letzte Referendum über die Unabhängigkeit Quebecs vom Oktober 1995 macht jedoch deutlich, wie bedroht und fragil die Nationalstaatlichkeit nach wie vor ist. Mit hauchdünner Mehrheit (50,6%) stimmten damals die Québécois für den Verbleib in der kanadischen Föderation.137 Das lässt vermuten, dass der Konflikt zwischen Quebec und dem restlichen Kanada wesentlich bedeutender ist als andere ethnische Konflikte. 134 135 136 137
Ebd., S. 215 Thornhill (2001): o.P. Vgl. Thornhill (2001): o.P. Das Separationsbestreben Quebecs erzeugt selbst neue Dilemmata. Mit der Unabhängigkeit Quebecs würde innerhalb Kanadas ein Präzedenzfall geschaffen, der weiterem Unabhängigkeitsstreben Nahrung geben würde. Wie könnten vor allem die First Nations in Kanada aber auch Quebec begründet daran gehindert werden, ebenfalls staatliche Unabhängigkeit anzustreben? Die Zerfaserung des kanadischen Territoriums scheint zumindest als apokalyptische Vision am Horizont auf. Vgl. von Bredow (2000): Ironische Mythen der Souveränität. Kanadas Sorgen um eine staatliche Einheit, in: Zacharasiewicz, W./Kirsch, F.P., Kanada/Europa, Chancen und Probleme der Interkulturalität, ISL-Verlag, Hagen 2000, Kanada-Studien, Bd. 28, S. 35
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Es hat dennoch den Anschein, als wenn es nur mit Hilfe der Multikulturalismuspolitik gelungen sei, eine nationale Erzählung zu stiften, die in individuelle Identitätskonstruktionen eingebaut werden kann. Mit ihrer Hilfe kann vor allem die Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten – die nach wie vor für die kanadische Identität von immenser Bedeutung ist – gelingen. Aufgrund der demographischen Dynamik Kanadas, die sich relativ schnell ändernde ethnische Zusammensetzung der kanadischen Bevölkerung (durch Zuwanderungsströme und unterschiedliche Reproduktionsraten) und die damit erfolgte Verschiebung der relativen Bedeutung und Machtchancen einzelner Gruppen kann man wahrscheinlich davon ausgehen, dass das Projekt einer kanadischen Identität nie als abgeschlossen betrachtet werden kann, sondern beständiger Transformation bzw. fortwährender Aushandlung unterliegt. Kanada kann sich nicht auf eine jahrhunderte währende Geschichte oder andere Gesichtspunkte berufen, die von der Aura der Einzigartigkeit oder Unveränderlichkeit umgeben sind. Im Gegenteil, die Neuschreibung der kanadischen Geschichte als Summe ethnisch spezifischer Erzählungen, als Geschichten von Einwanderungen und ihren jeweils unterschiedlichen Erfahrungen und Realitäten in Kanada ist durch die Multikulturalismuspolitik bereits in Gang gesetzt. Vor allem in den 80er-Jahren wurden viele Forschungsgelder an die so genannten Ethnical Studies vergeben, die sich um die Erforschung der jeweils unterschiedlichen Rollen von Einwanderungsgruppen innerhalb der kanadischen Geschichte verdient gemacht haben.138 Eine neue einheitliche Nationalgeschichte – eine europäische Illusion, deren Integrationskraft jedoch nicht unterschätzt werden darf – kann so nicht entstehen. Hierin liegt gerade der Vorteil und die Attraktivität dieses Forschungszweiges, weil hierdurch die Einwanderungsgruppen sich selbst angemessen im nationalen Geschichtsrahmen Kanadas repräsentiert sehen. Multikulturalismuspolitik und Interkulturelle Pädagogik sind ambitionierte Projekte, die beide versuchen, den Menschen im Sinne aufklärerischer Ideale zu Humanismus und Kosmopolitismus zu erziehen. Der Ausgleich ethnisch-kultureller Heterogenität scheint bisher – Quebec ausgenommen – recht gut zu gelingen. Es versteht sich von selbst, dass wirtschaftliche Prosperität die Umsetzung dieser Konzepte erleichtert. In der leichten Rezession der 90er-Jahre zeigten sich Formen von Diskriminierungen. Betroffen war in erster Linie die junge Generation. Bei teilweise 25% Jugendarbeitslosigkeit breitete sich eine pessimistische Sicht auf die individuelle berufliche Zukunft aus; Angst vor sozialem Abstieg und Marginalisierung förderten Rassismus und Gewaltbereitschaft.139 Dennoch wird, auch angesichts veränderter ökonomischer Bedingungen, an der schulischen Praxis interkultureller Erziehung festgehalten. Einwanderungspolitik, pädagogische Praxis, Medienpolitik und staatliche Kulturförderungen ergänzen sich wechselseitig und versuchen Konfliktpotentiale zu minimieren. Die 138 Steiner-Khamsi , G. (1992): S. 130 139 Stephan, W. (1993): S. 445
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Einwanderungspolitik sorgt dafür, dass überwiegend qualifizierte Zuwanderer nach Kanada kommen, denen die Integration in den Arbeitsmarkt (und damit die finanzielle Absicherung) leichter fällt (was gleichzeitig Kanadas Wirtschaft stärkt). Die Einwanderer ordnen sich damit problemlos in den allgemeinen Trend zur Höherqualifizierung der Bevölkerung ein. Insgesamt 61% der 25-35 Jährigen verfügen heute über Post-Secundary Certificates, noch 1991 waren es nur 49%.140 Für Migranten (bezogen auf die Erwerbstätigen), die in den letzten Jahrzehnten nach Kanada kamen, gelten im Prinzip die gleichen Zahlen und Relationen. 61% von ihnen verfügten bereits bei Einwanderung über weiterführende Bildungsabschlüsse oder erwarben diese dann in Kanada; 41% davon haben eine Universität besucht, 13% ein anderes College, 8% eine Handelsschule.141 Kanada hat also überwiegend die gesellschaftlichen Eliten unterentwickelter Staaten angezogen, was die soziale Integration erleichtert, wie bei diesen auch die Affinität zum westlichen Konzept der Zivilgesellschaft als höher angesehen werden kann, denn nicht wenige haben gerade wegen rückständigen, vormodernen Traditionen verhafteten sozialen Verhältnissen bzw. gesellschaftlicher Instabilität und Gefährdung ihr Heimatland verlassen. Die geringe soziale Distanz – aufgrund des ähnlich hohen Bildungsniveaus – zwischen einheimischer und jüngst zugewanderter Bevölkerung verhinderte die Ausbildung scharfer, durch ethnisch-kulturelle Merkmale definierter Differenzen in der kanadischen Gesellschaft. Als Fazit lässt sich sagen, dass Kanada seit den 70er-Jahren wie kaum eine andere westliche Industrienation versucht, der demographischen Realität in der Selbstbeschreibung und den realen gesellschaftlichen Verhältnissen zu entsprechen. Und wie in wenig anderen Ländern wurde dort frühzeitig die Bedeutung der schulischen Sozialisation, der Lerninhalte und Lernformen für dieses Projekt erkannt und entsprechend in pädagogisches Handeln und Denken umgesetzt.
140 Education in Canada, Raising the standard: S. 5 www12.statcan.ca/english/census01/Products/Analytic/companion/educ/pdf/96F00 30XIE2001012.pdf Da in Kanada Berufsausbildung nicht so obligatorisch ist wie in Deutschland, sind Bildungsabschlüsse jenseits der High-School-Ausbildung schon bemerkenswert. Generell gelingt in Kanada, wie auch in den Vereinigten Staaten der Eintritt in das Erwerbsleben ohne Bildungszertifikate leichter als in Deutschland. Immerhin verlassen 30% der Schüler die Schule vor dem Erreichen des High-School-Abschlusses, ohne damit automatisch in der Dauerarbeitslosigkeit zu landen. 141 Im Original Trade Qualification. Vgl. Education in Canada, Raising the standard: S. 15
Frankreich – im Schatten der Republik
Anders als Kanada steht der Weg Frankreichs in die Moderne in der vielhundertjährigen Tradition europäischer Geschichte. Seine Bevölkerung geht nicht auf Zuwanderung zurück, sondern ist seit Generationen fest regional verbunden; gleichzeitig ist sie aber alles andere als homogen. Basken, Korsen, Aquitanier im Süden, Bretonen im Westen, Flamen an der Grenze zu Belgien und Elsässer im Osten zeugen von einer kulturellen Heterogenität, die auch auf ethnischen Unterschieden beruht. So musste auch Frankreich in seiner Nationalstaatsbildung Formen der kollektiven Identität entwickeln, die diese Unterschiedlichkeiten integrieren kann, ohne sie gewaltsam zu unterdrücken. Auch hier werde ich also mit der Betrachtung der Nationalstaatsentwicklung beginnen und vor allem jenes Ideengebäude skizzieren, welches die französische Nation konstituiert und integrieren soll (Republikanismus). Der Ausgangspunkt war in der Französischen Revolution, verstärkt und seitdem wirksam durch die Stabilisierung der Dritten Republik Ende des 19. Jahrhunderts. Sein Grundgedanke liegt in der Universalität und daher alle sozialen, ethnisch-kulturellen oder religiösen Differenzen überbrückenden Geltung republikanischer Werte, der Vorstellung des französischen Bürgers als Staatsbürger (citoyen) im idealtypischen Sinne. In den folgenden Abschnitten wird dann zu sehen sein, wie die historisch-gesellschaftliche Entwicklung derart verlief, dass die soziale Wirklichkeit mehr und mehr in Widerspruch zum Gleichheitsideal des Republikanismus geriet. Gleichzeitig und damit eng verbunden ist der Umgang mit kulturell Fremden in Frankreich problematisch – vor allem mit Angehörigen muslimischer und nordafrikanischer Herkunft. Dem wird in einem gesonderten Abschnitt nachgegangen.
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Überblick Einwanderungsland: ja – multikulturelle Gesellschaft: nein! In diese plakative These lassen sich Stellung, Bedeutung und Problematik mit Immigranten und ihren Nachfahren in Frankreich zusammenfassen. Seit Eintritt in die Moderne bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein war Frankreich offen für Menschen unterschiedlichster Herkunft. Aus Süd- und Osteuropa, Nord- und Schwarzafrika kamen Migranten. Ihre Herkunft und kulturelle Eigenheit spielten keine Rolle – denn sie sollten zu Franzosen werden, jene Begeisterung und Überzeugung für die Werte und Regeln der Republik und der Menschenrechte erwerben und teilen. Seit der Revolution 1789 verfügt Frankreich über ein sehr einfaches Integrationsmodell: Werdet Bürger! Werdet zu Republikanern! Die Nation als freiwilliger Zusammenschluss mündiger, aufgeklärter Citoyens. Mit dieser Formel gelang die Konstitution des französischen Nationalstaates auf der Grundlage abstrakter Normen und Werte, ohne Rückgriff auf völkisch-ethnische Kategorien. So konnten die internen ethnisch-kulturellen Differenzen zwischen den verschiedenen Volksgruppen (der Begriff Minderheit wird in Frankreich für die Basken, Bretonen oder Korsen nicht verwendet) ebenso überbrückt wie die Eingliederung der Zugewanderten vor allem auch aus den ehemaligen Kolonien geleistet werden. Das „republikanische Modell“ beruht auf dem Selbstbewusstsein, welches die Franzosen bis heute aus der Französischen Revolution ziehen. Diese stellte die erste Durchsetzung demokratischer, republikanischer, aufgeklärter Werte und gesellschaftlicher Organisationsprinzipien zumindest im Mutterland dar und lieferte gleichsam für Europa den Auftakt in die Moderne. Wenn die Stabilisierung republikanischer Verhältnisse auch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (in der Dritten Republik) auf sich warten ließ1, gründeten sich auf diese Fortschrittlichkeit doch der Nationalstolz, das mystifizierte Selbstbild einer Grande Nation und ein gewisses Sendungsbewusstsein. Dass Frankreich für die Bewohner fremder Länder damit anziehend wirkte, war nahezu selbstverständlich, wie auch die Erwartung, dass die Neuankömmlinge sich bereitwillig dem republikanischen Konsens einfügen würden. Dieser hatte (und hat) den Status einer Zivilreligion (Rousseau). Die Republik war gegen die katholische Kirche erkämpft worden; die Dritte Republik betrieb die Trennung von Kirche und Staat und die Schaffung einer säkularen Gesellschaft auf dem Boden republikanischer Werte. Wichtigste Integrationsinstanz wurde die öffentliche Schule, die aus Bewohnern des Landes Franzosen und Citoyens zu machen hatte. Auch darüber hinaus prägte der Republikanismus die öffentliche Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung von Staat und Gesellschaft. „In Stadt und Land galt es, Alltagskultur und Lebenswelt der Menschen einen republikanisch-nationalen Anstrich zu geben und damit ein Regime dauerhaft zu 1
Siehe Sieburg, H.-O. (1995): Geschichte Frankreichs. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 5. Aufl., Kap. V.1
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stabilisieren, das sich die Vollendung der Revolution auf die Fahnen geschrieben hat.“2 Unter den Bedingungen wirtschaftlicher Prosperität, gesellschaftlicher Modernisierung und Fortschrittsentwicklung funktionierte dieses Modell sehr gut; seit den 1970er-Jahren jedoch scheint es zunehmend nicht mehr die optimale Antwort auf die Herausforderungen der Zeit zu sein. In vergleichbarem Maße wie in Deutschland begannen in Frankreich zu dieser Zeit Transformationsprozesse, welche die soziale Realität zunehmend dem gängigen Selbstverständnis, den gewohnten Begrifflichkeiten und Wahrnehmungsweisen entzog. Bis heute befindet sich Frankreich in einem Veränderungsprozess, im steten Kampf zwischen Festhalten am traditionellen republikanischen Konzept, der revolutionären Trias von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit – wobei vor allem Egalitarismus als grundlegender Wert angesehen wird – und dem Wandel Frankreichs zu einer pluralisierten Gesellschaft, die sichtbarer und konfliktträchtiger war als anderswo, „war doch die Vorstellung zutiefst verinnerlicht, Musterbeispiel eines Nationalstaats zu sein, der für die Einheit aller Franzosen stand und das Aufgehen der eigenen nationalen in der Universalgeschichte.“3 Vor allem in den 1980er-Jahren zeigten sich viel versprechende Ansätze, der multikulturellen und multiethnischen Zusammensetzung der französischen Gesellschaft Rechnung zu tragen. Die Verstetigung der sozialen und wirtschaftlichen Krise im Zuge wirtschaftlichen Strukturwandels, das Ende herkömmlicher Vorstellungen sozialer Sicherheit und Möglichkeiten individueller Lebensplanung entzogen jedoch dieser Richtung die gesellschaftliche Unterstützung und damit die politische Legitimation. Mit der Front Nationale etablierte sich eine erstarkende rechtsgerichtete Opposition, die jeder Regierung – egal ob sozialistischer oder bürgerlicher Couleur – die Bedienung nationalistischer Interessen aufzwingt und damit den Einwanderern die bedingungslose Übernahme des eigenen republikanischen Modells abverlangt. Nicht als tatsächlich ausformulierte Bedingung, aber es zeigt sich am Festhalten von Politik und meinungsbestimmender Öffentlichkeit an den positiven und von Widersprüchen geglätteten Formen der Selbstbeschreibung Frankreichs bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. In den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts begannen alternative Geschichtsbilder erzählt zu werden (die vor allem alternative Darstellungen französischer Kolonialgeschichte beinhalten) und der harmonisierende Kanon der Nationalgeschichte zerfiel in ein Konfliktfeld pluraler und mit dem Anspruch auf
2 3
Hüser, D. (2005): Das Gestern im Heute, in: Kimmel, A./Uterwedde, H. (Hrsg.), Länderbericht Frankreich, S. 48 Hüser, D. (2005): S. 50. Egalitarismus meint den Anspruch und die Norm gleicher Lebenschancen und vergleichbarer Lebensverhältnisse aller Mitglieder einer Gesellschaft; die Delegitimierung und Skandalisierung großer sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten.
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Gleichberechtigung auftretender Geschichten.4 In diesem offenen kulturellen Disput um Deutungsmacht und kulturellen Einfluss halten große Teile der französischen Bevölkerung und Eliten nach wie vor am republikanischen Modell fest. Und das nicht nur aus Angst vor Fremdem, vor Pluralität und Unübersichtlichkeit, sondern auch aufgrund eines „gesunden Selbstbewusstseins, verinnerlichten Leitbildern und dem festen Wunsch, eigenen Ansprüchen gerecht zu werden“5, die sich mit den Errungenschaften des französischen Republikanismus verbinden. Insofern dient das republikanische Modell mit seinen Werten von gesellschaftlicher Inklusion, sozialstaatlicher Absicherung und politischer Partizipation als gesellschaftliches Ideal. Es verspricht Solidarität und Konsens und sieht sich dem Widerspruch sozialer Ungleichheiten ausgeliefert, die bereits zu „Gräben“ zwischen Bevölkerungsgruppen geworden sind. Auch Frankreichs Gesellschaft differenziert sich mehr und mehr in „Menschen, die dauerhaft drin sind, anderen, die sich sorgen, herauszufallen, und wieder anderen, die schon draußen sind und dies wohl bleiben.“6 Diese Situation bestimmt gleichfalls Umgang und Lösungsansätze für innere soziale Probleme, in erster Linie die vielfältige soziale Benachteiligung Afrikastämmiger Franzosen bzw. Migranten aus dem Maghreb oder Schwarzafrika. Vor allem ist es ein sozialer Konflikt um Teilhabechancen in der französischen Gesellschaft, um Partizipation am gesellschaftlichen Wohlstand. Ethnische oder religiöse Aspekte tangieren nicht den Kern des Problems, jedoch scheinen soziale Verteilungskonflikte zunehmend auf den Feldern von Religion und Kultur geführt zu werden. Sozialstrukturelle Unterschichtslagen sind nur zum Teil Effekte anonymer Wirtschaftsprozesse. Für die dort stark überrepräsentierten Franzosen arabisch-maghrebinischer Herkunft sind sie Ergebnis einer alle Bereiche des Alltags umfassenden, oft latenten Diskriminierung, für die die räumliche Segregation in etlichen unwirtlichen Vorstädten (Banlieue) französischer Metropolen nur das sichtbarste Beispiel ist. Zu ihrer öffentlichen, ideologischen Legitimation wird auf den Islam zurückgegriffen, da ethnisch nicht argumentiert werden kann. Zum einen würde dies gegen republikanische Grundsätze verstoßen, zum anderen sind es Franzosen (wenn auch mit Migrationshintergrund) und keine Ausländer, die Opfer von Diskriminierung und sozialer Benachteiligung werden. „Da aber die Hautfarbe der politisch-intellektuellen Diskussion nicht als Kriterium dienen darf, wenn sie sich nicht des Rassismus schuldig machen will, wird die Religion der Immigranten, der Islam, zu einer Herausforderung hochstilisiert, die die Grundlage der Republik in Frage zu stellen scheint.“ 7 Indem jedoch auf den Islam verwiesen wird und damit die Muslime in den Verdacht mangelnder Inte4 5 6 7
Hüser, D. (2007): Plurales Frankreich in der unteilbaren Republik. Entwürfe und Auswüchse zwischen Vorstadt-Krawallen und Kolonialdebatten S. 22 Hüser, D. (2007): S. 27 Hüser, D. (2007): S. 18 Thomas, J. (2002): Laizität, Immigration, Islam in Frankreich, in: Kolboom/ Kotschil/Reichel (Hrsg.), S. 516
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grationsfähigkeit und -bereitschaft gebracht werden, entlastet sich die französische Gesellschaft von der Einsicht, dass das republikanische Staatsmodell unter kapitalistischen Produktions- und Wirtschaftsbedingungen und mehr oder weniger latenter Diskriminierung von (muslimischen) Zuwanderern soziale Ungleichheiten nicht verhindern konnte. Es lassen sich daher nur vereinzelt pädagogische Ansätze finden, die den kulturellen Unterschieden im Schulunterricht zur Anerkennung verhelfen sollen. Die massiven Schulprobleme der maghrebinischen Jugend werden durch intensiveren Sprachunterricht, durch Verbesserung der Lernsituation (Klassenstärke) und Ansätze spezifisch individueller Förderung bearbeitet. Erfolge sind nicht ausgeblieben, doch bleiben sie im Gesamtzusammenhang marginal, da schulische Erfolge nicht jene Alltagsdiskriminierung verhindern können, der Kinder muslimischer Einwanderer in der Gesellschaft ausgesetzt sind. Als ungenügend kann daher der Versuch der französischen Regierung angesehen werden, bürgerlich republikanische Werte (citoyenneté) durch intensivierten Staatsbürgerunterricht zu vermitteln. Denn Franzosen sind die meisten der Betroffenen, gute Bürger des Staates wollen bzw. sollen sie sein, nur wird ihnen der Zutritt zur Bürgergesellschaft in vielen Fällen verwehrt. Allein das bietet erst den Nährboden für eine Reislamisierung bereits überwiegend säkularisierter Muslime, begründet die Attraktivität einer radikal muslimischen Identität, in der sich der Haß gegen das sie ausschließende Frankreich ausdrücken kann.8
Frankreich – Der gefühlte Niedergang einer großen Nation Nation und Republik Frankreich hat eine Jahrhunderte währende Geschichte und so fällt es nicht leicht, jene Punkte zu identifizieren, die für das heutige Frankreich noch bestimmend sind. An erster Stelle ist die führende Rolle des Staates bzw. der Zentralgewalt zu nennen. Frankreich ist für seinen Zentralismus, für Paris als einzig relevantes Zentrum bekannt. Und auch wenn seit zwanzig Jahren versucht wird, das Land stärker zu dezentralisieren, so ist Frankreich bis heute davon geprägt. Allein dem Staat, der monarchischen Zentralgewalt, ist Entstehung und Sicherung des französischen Nationalstaats zu verdanken. Nach Jahrhunderten dynastischer Auseinandersetzungen zwischen Territorialherren gelang es den französischen Königen in der frühen Neuzeit, das Gebiet des französischen Staates unter ihre Kontrolle zu bringen.9 Nicht dezentrale Gewalten oder Territorien bildeten 8 9
Tietze, N. (2003): Islamische Identitäten. S.14 Am bedeutendsten war der Konflikt mit dem Haus Anjou-Plantagenet, längere Zeit Träger der englischen Königskrone und größte Territorialmacht in Frankreich. Der hundertjährige Krieg, der keinen direkten Sieger hatte, beendete jedoch die Hoff-
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den Staat, sondern das von Paris oder Versailles aus kontrollierte Gebiet. Zu besonders reiner Ausprägung kam dieser Zentralismus in Form der absolutistischen Monarchie, wie sie bspw. Ludwig XIV. ausübte. Wichtigstes Herrschaftsmittel, neben dem stehenden Heer, war die umfangreiche Bürokratie, womit Paris den Herrschaftsanspruch in der Provinz durchsetzte und verwaltete. Trotz vielfachen Regimewechsels hat diese Grundkonstellation in Frankreich bis heute überdauert, sicherte vor allem im von Revolutionen und Staatsstreichen reichen 19. Jahrhundert die Kontinuität staatlich-gesellschaftlicher Ordnung. Das staatliche Gebilde Frankreich ist in seinen Umrissen seit Jahrhunderten erkennbar, auch wenn die tatsächlichen Grenzen sich vielfach änderten. Und wie bei den meisten europäischen Ländern sind diese Grenzen insofern willkürlich, als sie nur begrenzt Rücksicht auf Grenzen ethnischer Zugehörigkeiten nahmen und nehmen. Aus ethnischer Homogenität, gemeinsamer Abstammungsgeschichte konnte eine französische Nation nicht entstehen. Mehrere ethnische und kulturelle Minderheiten leben heute auf dem französischen Territorium: die Basken im Südwesten, Bretonen in der Bretagne, eine flämische Minderheit im Westhoek im Nordwesten, die Korsen auf Korsika und im Süden die Katalanen. Mit dem Okzitanischen und dem Provençal (beides im Süden) sowie der deutschen Sprache im Elsaß gibt es weitere Minderheitensprachen.10 Allein eine abstrakte, ethnisch-kulturell neutrale Vorstellung und Konzeption von Nation und Nationalität war in der Lage, diese Gräben zu überspannen und eine Nation zu begründen. In den politischen Ideen der Aufklärung fanden sich diese geistigen Wurzeln.11 In Montesquieus „Geist der Gesetze“ wird die Vorstellung einer auf abstrakten Normen beruhenden Gesellschafts- und Staatsordnung, der Verzicht auf sakrale Legitimation weltlicher Herrschaft formuliert. Voltaire und andere entfalteten die Ideen der gleichen Würde und Rechte aller Menschen, ihrer faktischen Gleichheit vor Gott und Staat. Dahinter stand die Überzeugung, Gesellschaft könne sich auf Vernunftprinzipien gründen lassen, könne eine Ordnung bilden, deren Wert und Funktion rational einsehbar und dadurch legitimierbar sei. Jean-Jacques Rousseau formulierte dazu eine dezidierte Gegenposition, war der gesellschaftskritischste Denker der Aufklärung. Gesellschaftlichkeit im damaligen Sinne, bürgerlicher Individualismus und Privateigentum galten ihm als Übel, als Entfremdung vom natürlichen Wesen des Menschen. Rousseaus Sozialutopie sah den einzelnen Menschen in der Allgemeinheit eines kleineren Kollektivs aufgehen, seinen Einzelwillen, seinen Individualismus hinter dem die Sozialverhältnisse bestimmenden Allgemeinwillen (volonté general) zurücktreten und ihn aufgehen
nung der englischen Krone auf französische Territorien. Norbert Elias hat diesen geschichtlichen Prozess ausführlich analysiert und beschrieben. Vgl. Elias, N. (1997) 10 Mintzel, A. (1997): S. 242 11 Schneider, W. (2001): Das Zeitalter der Aufklärung, C. H. Beck Verlag, München
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in einer Gemeinschaft von einander gleichen Bürgern.12 Rousseau hatte dieses Bild mit Blick auf die Schweizer Kantone, im Sinne kleiner überschaubarer Sozialeinheiten entworfen. Seine Gedanken waren nicht für die Organisation einer großen Nationalgesellschaft bestimmt. Dennoch sollten sie in der revolutionären Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts zentraler Bezugspunkt werden.13 Bis heute ist in der politischen Kultur Frankreichs diese Grundkonzeption Rousseaus zu erkennen, denn nach wie vor versteht sich das französische Gemeinwesen nicht als Assoziation von unabhängigen Individuen, sondern als Kollektiv, verbunden mit einer Gleichheitsfiktion und moralischen Autorität.14 Auch wenn die Französische Revolution nicht mehr in die Epoche der Aufklärung fällt und alle relevanten Protagonisten dieser Zeit bereits tot waren, wurde sie wesentlich von deren Ideen inspiriert. Allerdings sollten fast einhundert Jahre vergehen, bis sich die Intentionen der Revolution, nämlich Republik, Menschenrechte und Demokratie, in Form der Dritten Republik in Frankreich stabilisieren konnten. Nach republikanischem Terror, Kaiserreich, Restauration und einer Kette von Revolutionen und Staatsstreichen verstanden sich die Politiker der Dritten Republik15 als Vollender der Revolution. Diese wurde zum Gründungsmythos der französischen Nation, daher ist ihr tatsächlicher Verlauf für das heutige Frankreich weniger von Bedeutung als die nachträgliche Sichtweise auf die Revolution durch die Franzosen selbst. In den 1880er-Jahren begann die Formulierung einer Frankreichmythologie, die alle konfliktträchtigen und widersprüchlichen Facetten der französischen Geschichte versöhnen konnte und die Dritte Republik selbst als „Höhepunkt und Zukunftsentwurf der Nationalgeschichte erstrahlen ließ.“16 In der moralischen Überhöhung der revolutionären Ideale von Freiheit, Gleichheit, Solidarität, von Republikanismus und Demokratie sollte eine kollektive Identität gestiftet werden, die jede innere Heterogenität überwinden kann. Aufklärung und Revolution werden als Aufbruch in eine neue, bessere Welt gesehen und als Überwindung wissenschaftsfeindlicher, aufklärungsfeindlicher, kirchlich-autoritär geprägter Gesellschaftsverhältnisse verstanden; als Aufbruch in die Moderne der Freiheit und Selbstbestimmung. Trotz wichtiger Vor12 Zu Rousseau siehe überblickartig: Maier, H. (2001): Jean-Jacques Rousseau, in: Maier, H./Denzer, H. (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens, Bd. 2 Von Locke bis Max Weber; und ausführlicher: Fetscher, I. (1975): Rousseaus politische Philosophie, besonders Kap. III und IV. 13 Altwegg, J. (2002): Politische Kultur der V. Republik, in: Kolboom, I./Kotschil, T./Reichel, E. (Hrsg.), Handbuch Französisch: Sprache-Literatur-Kultur-Gesellschaft, Erich Schmidt Verlag, Berlin, S. 495 14 Kimmel, A. (2002): Staat-Nation-Republik in Frankreich, in: Kolboom, I./Kotschil, T./Reichel, E. (Hrsg.), Handbuch Französisch: Sprache-Literatur-Kultur-Gesellschaft, Erich Schmidt Verlag, Berlin, S. 486 15 Die Dritte Republik entstand auf den Trümmern des Zweiten Kaiserreiches nach Abdankung Napoleon III. und nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen und der Abtretung von Elsass-Lothringen an das neue Deutsche Kaiserreich 1871. 16 Hüser, D. (2005): S. 47
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läufer in der englischen Aufklärung und der Amerikanischen Revolution sahen und sehen sich die Franzosen als Pioniere der nationalen Befreiung, aus den Verhältnissen der vormodernen Feudalgesellschaften und als Hort von Fortschrittlichkeit und Modernität. Diese Errungenschaften bewirken einen anhaltenden Stolz, so dass das republikanische Modell der französischen Nation bis heute Grundlage des Selbstverständnisses der Franzosen und der Integrationspolitik Frankreichs ist.17 Es lässt sich durch folgende Gesichtspunkte charakterisieren: • Primat des Individuums vor dem Kollektiv • Gleichheit • Solidarismus • Laizität • Patriotismus • Vorherrschaft des Parlaments18 Freiheit und Gleichheit stehen dabei zusammen mit dem Laizismus in einem Spannungsverhältnis. Die individuelle Freiheit wurde in Aufklärung und Revolution gegen die alles durchdringende Macht der katholischen Kirche erkämpft, mündete jedoch nicht in einen angelsächsischen Liberalismus. Werte und Ethik der katholischen Soziallehre blieben in Form des Gleichheits- und Solidaritätspostulats wirksam und begrenzten die Freiheit des Einzelnen sehr schnell. Voraussetzung – und zugleich ausreichend – ist das Bekenntnis zum Republikanismus um Teil der französischen Gesellschaft zu sein. Diese trägt ganz im Sinne Rousseaus deutliche Züge einer Zivilreligion und war seit dem 18. Jahrhundert der Aufklärung, wie auch im 19. und 20. Jahrhundert dezidiert gegen die katholische Kirche als soziale und kulturprägende Macht gerichtet. Es war ein Kampf um ein grundlegend neues Weltbild, denn die Kirche stand allen Bereichen der Modernisierungsbestrebungen entgegen. Nicht nur weil die katholische Kirche die alten sozialen und politischen Verhältnisse stützte, sondern auch weil von den Aufklärern die Zivilreligion der Vernunft als Ersatz für den religiösen Glauben propagiert wurde. „Auf diesem von der Aufklärung bereiteten Boden inthronisierte die Revolution 1789 an die Stelle des alten kirchlichen Glaubens den Glauben an die Vernunft und an die Stelle der kirchlichen Glaubenslehre die republikanische Verfassung.“19 Zwar agierte Napoleon weniger radikal gegen die katholische Kirche, aber in der Dritten Republik wurden der Kirche dann endgültig alle staatlichen Machtpositionen genommen, vor allem durch die Verstaatlichung des Bildungswesens. Die bewahrende Kraft der Kirche blieb zwar erhalten, allerdings nicht in Verbindung mit dem Staat, auch nicht gegen die staatliche
17 Hüser, D. (2007): S. 27 18 Kimmel, A. (2002): S. 486 19 Münch, R. (2005): S. 38
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Politik. Mit der Festschreibung der Trennung von Kirche und Staat 1905 wurde der Laizismus zur Staatsräson.20 Der Laizismus ist damit die vierte wichtige Säule des republikanischen Modells. Doch die religiöse oder transzendentale Neutralität des Staates ist nur eine scheinbare. Revolution und Republik selbst, Menschenrechte, Demokratie und der Glauben an die Gestaltung der Welt nach rationalen Prinzipien sind selbst zum Glauben geworden.21 Sie bilden bis heute die Koordinaten französischer Weltdeutung und Politik und Grundlage für das ausgeprägte Nationalbewusstsein, sich selbst als Grande Nation zu sehen. „Seit der Aufklärung und verstärkt seit der Französischen Revolution besitzt das französische Nationalbewusstsein eine kulturell begründete universalistische Tendenz.“ Es galt und gilt immer noch als „besonders gelungene Schöpfung der Zivilisation.“22 So sind die oft ausgeprägten Ressentiments gegen eine anglikanisch dominierte globale Kultur zu erklären.
Exkurs zu Frankreichs Bedeutung für die moderne Staatsentwicklung Die Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Erklärung der Menschenrechte und der versuchte Aufbau eines demokratischen Staatswesens waren im 18. und auch im 19. Jahrhundert in Europa noch ohne Beispiel (lediglich die amerikanische Entwicklung konnte dem entsprechen). Für andere Länder diente Frankreich als Modell für Staats- und Gesellschaftsorganisation (Preußische Reformen nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806) mit bisher für den Bürger unbekannten Freiheiten und Rechten. Aus dem Gegenüber von Staat/Monarchie und Untertanen in der feudalen Gesellschaft ist ein Staat für den Bürger geworden. „Der Staat ist politische Herrschaftsorganisation zur Sicherung der natürlichen und vorstaatlichen Rechte und Freiheiten des Einzelnen. Sein Wollen und seine Legitimation hat er nicht in seiner geschichtlichen Herkunft oder göttlichen Stiftung, nicht im Dienst an der Wahrheit, sondern in der Bezogenheit auf die freie selbstbestimmte Einzelpersönlichkeit, das Individuum.“23 Der säkulare und bürgerliche Charakter des modernen Nationalstaates wird hierin zum Ausdruck gebracht. Er kann daher als konsequente und optimale Antwort auf das konfessionelle Zeitalter (17./18. Jahrhundert) gesehen werden, welches aufgrund der vielen Religionskriege in weiten Teilen Europas staatliche Ordnung überhaupt zum Problem werden ließ. Die Durchsetzung der zentralen Staatsgewalt und mit zentralem Gewalt- und Steuermonopol24 ist daher eine entscheidende politisch-historische Zäsur und herausra-
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Münch, R. (2005): S. 36ff., vgl. auch Veil, M. (2002): S. 29 Altwegg, J. (2002): Politische Kultur der V. Republik, S. 495 Kimmel, A. (2002): Staat-Nation-Republik in Frankreich, S. 486 Böckenförde, E.-W. (1992): Recht, Saat, Freiheit. S. 107 Zur Genese vgl. Elias, N. (1997): Bd. 2
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gende Leistung. Wie Böckenförde es formuliert: „Die Französische Revolution brachte den politischen Staat, wie er in den konfessionellen Bürgerkriegen entstanden und von Hobbes vorgedacht worden war, zur Vollendung.“25 Mit dem Solidarität und Integration explizit einschließenden Wirtschaftsmodell26 Frankreichs hebt sich auch der französische Staat des 21. Jahrhunderts als Alternative gegenüber dem libertären, angelsächsischen Modell der Marktvergesellschaftung ab. Dabei geht es nicht nur um Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern dahinter steht eine andere Idee der Staatsbegründung. Trotz der prinzipiellen Differenz von Staat und Gesellschaft erscheint im französischen Republikanismus der Staat eben noch als Gemeinschaft der Bürger – so würde ich die citoyenneté verstehen – wirtschaftlichen, religiösen oder anderen partikularen Interessen vorgeordnet. Individualinteressen und Kollektivinteressen bleiben aufeinander bezogen, wie es auch die kommunitaristische Variante der Zivilgesellschaft vorsieht. Kanada wie auch die Vereinigten Staaten stehen hingegen eindeutig in der Tradition liberaler Vorstellungen moderner Staatlichkeit mit einer deutlichen Präferenz für individuelle Freiheiten, aus denen sich dann auch die Sicherung von Kollektivinteressen ergeben sollte. Die Wertschätzung, die der Französischen Revolution und des Republikanismus zuteil wird, begründet jenes Selbstbewusstsein der Franzosen, welches sie aus der Geschichte ziehen. Nun scheint dieser Stolz und der daraus resultierende Traditionalismus für notwendige Entwicklungen Frankreichs eher hinderlich zu sein. Sicherlich ist es eine Wertentscheidung, auf die Widersprüche zwischen Anspruch und Praxis stärker zu fokussieren als auf die Leistungen und Verdienste des republikanischen Modells. Ich halte dies insofern für gerechtfertigt, als ich denke, dass sich die hier interessierenden gesellschaftlichen Probleme Frankreichs (Integration der Migranten) gerade aus dem universalistischen Inklusionsanspruch des Republikanismus27 und deren (kaum zu umgehende) nur partikulare Einlösung ergeben. Natürlich geht es nicht um eine Abkehr von der Geschichte, vom Republikanismus, wohl aber um die Notwendigkeit, „die Bewahrung nationaler Lebensart mit den Erfordernissen der Europäisierung und Globalisierung abzugleichen und in Kenntnis der Zwänge ein neues nationales Zukunftsprojekt auf den Weg zu bringen.“28 Hiernach ist darauf hinzuweisen, dass dies keine spezifische Herausforderung für Frankreich ist, sondern Bestandteil einer dem Wes25 Böckenförde, E.-W. (1992): S. 107 26 Utterwedde, H. (2005b) 27 Dieser gründet sich auf den Wahlspruch der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und ist aber stets Utopie bzw. normativer Maßstab geblieben, an den allenfalls Annäherungen zu erreichen waren. Anders ausgedrückt: Vor allem das in der Revolution von 1789 siegreiche Bürgertum hatte Interesse daran, diese drei Maximen zugunsten seiner Status- und Machtsicherung auszulegen. Vgl. Loewe (2005): S. 567 28 Hüser, D. (2007): Plurales Frankreich in der unteilbaren Republik, Einwürfe und Auswüchse zwischen Vorstadt-Krawallen und Kolonialdebatten, S. 21
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ten und weite Teile des Globus umfassenden Entwicklung, die zumindest die Frage aufnötigt, „ob wir denn mit unseren Begriffen von Demokratie, Politik und Freiheit tatsächlich noch die konkrete Situation der Gegenwart im globalen Kontext beschreiben oder nur noch einer idealisierten Nachbetrachtung anhängen, spätestens seitdem muss man in der Tat hinterfragen, ob und wie denn die Sache des Nationalstaats auch weiterhin von Nachhaltigkeit geprägt sein kann.“29 Kritische Distanz am französischen Nationalstaatsmodell ist unter den gegenwärtigen Bedingungen und den hier interessierenden Fragestellungen gerade auch deshalb angebracht, weil es mit einer ausgeprägten Schwäche der Zivilgesellschaft einhergeht. Die entsprechenden „corps intermédiaires“ beziehen ihre Legitimation wie Aufgabe von oben, vom Staat, nichtstaatliche bzw. nicht vom Staat legitimierte Organisationen genießen in Frankreich geringes Ansehen.30 Natürlich bedeutet diese Fokussierung auf die gegenwärtigen Schwächen des republikanischen Modells in Frankreich nicht die Empfehlung, sich von der demokratisch-republikanischen Grundordnung zu verabschieden. Vielmehr geht es um die Verdeutlichung, wie notwendig politische, aber auch mentale Veränderungen in Frankreich sind.
Frankreichs Moderne Die bestimmende Rolle des Staates, der Pariser Zentralverwaltung, zeigt sich im spezifisch französischen Weg in die Moderne. Frankreich kennt, wie auch Deutschland, zwei Phasen intensiver Modernisierung und Industrialisierung. Einmal die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg; zweitens die in den ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg. In beiden Fällen waren die jeweiligen Regierungen und nicht die Parlamente oder das Bürgertum die bestimmenden Akteure. Die Stabilisierung der Dritten Republik, die Durchsetzung und Etablierung demokratischer Verhältnisse und moderner Strukturen geschah im Wesentlichen auf Initiative des Staats. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es ebenfalls der Staat, der mit sehr aktiver Wirtschaftspolitik versuchte, den Modernitätsrückstand31, den Frankreich bezüglich Industrialisierungsgrad und Wohlstand gegenüber anderen westlichen Staaten hatte, aufzuholen. Dieser nachholende Modernisierung prozess gründete auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens. Mit der Gründung von Staatsunternehmen in zentralen 29 Nitschke, P. (2000): Der Nationalstaat und seine klassische Funktion: Ein theoretischer Problemaufriss, S. 11 30 Hartmeier, M. (2001): S. 14f. 31 Bis zum Zweiten Weltkrieg war Frankreich relativ traditionell und agrarisch geprägt geblieben. Die Dynamik der Moderne mit Urbanisierung und Industrialisierung, Massengesellschaft und Konsumkultur ist aufgrund anderer demographischer Verhältnisse langsam verlaufen. Frankreich erlebte keine Bevölkerungsexplosion, konnte aus sich heraus nicht den dynamischen Kapitalismus nach englischem oder amerikanischem Vorbild entwickeln.
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Großindustrien (Bergbau, Metall- und Rüstungsindustrie, Energie), dem administrativen Durchgreifen bis auf die lokale Ebene zur Zielerreichung und damit der Schaffung relativ einheitlicher Bedingungen im ganzen Land, gelang der französischen Regierung eine dem deutschen Wirtschaftswunder durchaus vergleichbare Entwicklung. In den 60er-Jahren herrschte ebenfalls Vollbeschäftigung und mehr als 90% der Erwerbsbevölkerung waren abhängige Beschäftigte. Die Integration in den Arbeitsmarkt regelte die soziale Teilhabe, denn auf dem Beschäftigungsstatus ruht ein umfangreiches Netz sozialer Sicherung , welches in Zeiten reicher staatlicher Einnahmen zu einer umfassenden Absicherung individuellen Lebens ausgebaut wurde.32 Und wie in Deutschland endete die Phase der Prosperität zu Beginn der 70er-Jahre im Zusammenspiel von Ölkrisen und weltwirtschaftlichen Krisenphänomenen bzw. Transformationsprozessen durch die sich ankündigende Dritte Industrielle Revolution. Bis dahin erlebten die Franzosen jedoch „Zwanzig glorreiche Jahre“, die nicht frei von Konflikten, jedoch eine Epoche eines ungebrochenen Selbstbildes und positiver Zukunftsaussichten waren, was die soziale Integration erheblich beförderte. Diese Modernisierung war kein zivilgesellschaftliches Projekt und schuf auch keine feste zivilgesellschaftliche Basis. Modernisierungspolitik wurde nicht im Parlament gemacht, sondern von der Regierung in Koordination mit korporativen Akteuren, Berufs- und Wirtschaftsverbänden und Großunternehmen. Trotz Wohlstandsentwicklung (oder gerade deswegen) äußerte sich Kritik an diesen autoritär-technokratischen Verfahrensweisen, an der Klientelbeziehung zwischen Staat und Bevölkerung. Erst durch die Studentenproteste und Bürgerbewegungen des Mai 1968 wurden betriebliche Mitbestimmungsrechte und basisdemokratische Verfahrensweisen erstritten, Letztere jedoch zaghaft umgesetzt.33 An der Staatsorientiertheit des französischen Bürgers änderte dies nichts. Die Mehrheit der Franzosen hatte und hat eine positive Einstellung zum Staat. Man fühlte sich von ihm nicht unterdrückt, sondern bestenfalls schlecht versorgt, wenn staatliche Politik nicht die gewünschten Erfolge erzielte.34 Da der Staat ja gerade kein Staat von „oben“ sein soll, sondern das Resultat eines „volonté generale“ ist, drückt der Citoyen als aktiver Bürger eher seinen Unmut in Protesten denn in Form institutionalisierter Mitbestimmung – die ohnehin nicht so etabliert ist – aus.35 Idealtypisch betrachtet weist das französische Bürgertum eine deutli32 Estébe, P. (2005): Entstehung und Niedergang eines Sozialmodells, in: Kimmel, A./Uterwedde, H. (Hrsg.), Länderbericht Frankreich, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, auch: Dubet, F. (1999): Strukturwandel der Gesellschaft: von den Klassen zur Nation, in: Christadler, M./Uterwedde, H. (Hrsg.), Länderbericht Frankreich, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 97–117 33 Uterwedde, H. (2002): Französische Wirtschaft und Gesellschaft, in: Kolboom, I./Kotschil, T./Reichel, E. (Hrsg.), a. a. O., hier S. 501 34 Kimmel, A. (2002): S. 485 35 Nicht von ungefähr kommt der Spruch, dass man in Frankreich eher eine Revolution denn Reformen durchführt.
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che Distanz zum angelsächsischen, auch zum deutschen auf. „Ganz anders als in England teilte das französische Bürgertum bis zu einem gewissen Grad die Vorurteile des Adels gegen Handels- und Geschäftsberufe.“36 Wie gesehen ist die Durchsetzung des Kapitalismus eher auf staatliche Maßnahmen zurückzuführen als auf den Unternehmergeist breiter Bevölkerungsschichten. Fehrenbach sieht eine Skepsis gegenüber Individualismus und Liberalismus37 und führt sie auf die katholische Prägung des Landes zurück, während dies doch wesentlich mehr im Protestantismus prägend sei.38 Im Staatskapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Entwicklung eines breiten Mittelstandes ebenso wenig gefördert wie Eigeninitiative und Verantwortlichkeit. Der Staat, das System sozialer Sicherheit, war für die Lösung gesellschaftlicher Probleme und Vermeidung individueller Notlagen zuständig. Das heißt nicht, dass es keine sozialen Vereinigungen gegeben hätte oder heute gibt; ganz im Gegenteil. Aber es soll bedeuten, dass diese weniger eine staatstragende Rolle spielen als in den angelsächsischen Ländern. Frankreich ist hier eher mit Deutschland als mit Großbritannien oder Kanada zu vergleichen. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Anspruchshaltung gegenüber dem öffentlichen Schulsystem als wichtigste und eigentlich einzige Sozialisationsinstanz, die Einwohner Frankreichs zu Franzosen, d.h. Citoyens machen kann. Der zentralistische Etatismus Frankreichs weist also eine durchaus positive Leistungsbilanz auf. Zentrale Planung und Lenkung von Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Dirigismus bis in lokale Verwaltungsebenen hat sich als effizient und erfolgreich erwiesen und damit eine Form sozialer Normalität geschaffen, an der sich die Zukunft messen lassen musste. Das republikanische Modell scheint als Ideal in diesen „glorreichen dreißig Jahren“ Wirklichkeit geworden zu sein. Charles de Gaulle hatte es, zur Etablierung der V. Republik nach 1958, wieder neu bestärkt und ganz konkret zum Selbstverständnis dieser Republik erhoben.39 Der Wohlstandsgewinn begünstigte den sozialen Aufstieg bisher benachteiligter Schichten und es schien die Erfüllung des Traums von sozialer Gleichheit bei individueller Freiheit, die Ver36 Fehrenbach, E. (1986): Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress, Oldenbourg Verlag, München, S. 20 37 Das bedeutet nicht, dass das französische Bürgertum antiindividualistisch zu nennen ist. In der Figur des Intellektuellen, des Gelehrten findet sich ein markanter Typ von Individualismus in kritischer Distanz trotz Loyalität zu Gemeinwesen und Staat (vgl. Loewe, 2005e). Das ist hier aber weniger relevant. Wichtiger ist, herauszustellen, dass in Frankreich traditionell die Verantwortung des Staates für sozialstaatliche Leistungen, für kollektive Entscheidungen und Normierungen über der Eigenverantwortung und Eigeninitiative des Bürgers steht. 38 Interessanterweise war das stärker protestantisch geprägte Elsass im 18. und 19. Jh., vor allem die Region um Mühlhausen, die wirtschaftlich entwickeltste Region Frankreichs. 39 Hüser, D. (2005): Das Gestern im Heute, Zum Wandel französischer Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, S. 49
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schmelzung aller internen Differenzen in einer modernen Konsumkultur erreicht worden zu sein. Für die gesellschaftliche Entwicklung und die Struktur sozialer Konflikte der letzten dreißig Jahre ist es nicht wichtig, ob diese Sichtweise der Realität entsprach; sondern allein von Bedeutung ist, dass sie für wahr gehalten wurde. Wie in allen anderen westlichen Gesellschaften auch, transformierte sich unter der langen Prosperitätsphase nach dem Zweiten Weltkrieg die Wirtschaftsund Sozialstruktur. Darin lag der Keim zur Ablösung der gesellschaftlichen Normalität der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Auf Zeiten industriegesellschaftlicher Produktion und stabilen Wohlstands, kultureller Konventionalität und relativer Homogenität folgte die Auflösung dieser scheinbar festen Institutionengefüge durch beginnende Globalisierung, soziale und kulturelle Pluralisierung und Differenzierung. Daraus erwuchsen die bis heute wirkenden gesellschaftspolitischen Konfliktlinien zwischen Verteidigern des alten Wohlfahrts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells und den Apologeten des Neuen; zwischen den (mit Ersteren nicht deckungsgleichen) Verlierern der sozialen Entwicklung der letzten Jahrzehnte und den Gewinnern. Das weist schon darauf hin, wie sehr soziale Konflikte im Kern Verteilungskonflikte sind zwischen jenen, die drinnen, und jenen, die außerhalb der Gesellschaft stehen, und das vor dem Hintergrund des Integration aller Bürger versprechenden republikanischen Modells.40
Einwanderungsgeschichte Frankreich hat sich immer als Einwanderungsland verstanden. Als Mutterland der Menschenrechte und des Republikanismus fand man es ganz selbstverständlich, dass Bürger fremder Länder Franzosen werden wollten. Nur kurz soll hier auf die Einwanderungsgeschichte und die damit verbundene Frage der Integration eingegangen werden, um die ethnisch-kulturelle Pluralität der französischen Gesellschaft zu verdeutlichen, die in der inneren Krise Frankreichs seit den 70erJahren eine wichtige Rolle spielen wird. Bereits im 19. Jahrhundert zog Frankreich größere Einwanderungspopulationen an (aus Belgien, Italien), im 20. Jahrhundert zunächst aus Portugal, Teilen Osteuropas und nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt aus den Kolonien bzw. später den unabhängigen Staaten der ehemaligen Kolonialländer41 – vor allem aus dem Maghreb, aber auch aus Schwarzafrika. Bis in die 1970er-Jahre hinein gab es praktisch keine bedeutenden Restriktionen gegen Einwanderung. Die niedrige Geburtenrate Frankreichs machte Einwanderung während der letzten beiden Jahrhunderte für die gelingende Industrialisierung und Modernisierung des Landes notwendig. Es gab in dieser Zeit keine spezifische Integrationspolitik, die über Angebote von Sprachkursen hinausging, zumal ja auch die meisten 40 Hüser, D. (2007): S. 18 41 Mintzel, A. (1997): S. 416ff., Loewe, S. (2005a), Immigration, in: Schmidt, B./Doll, J./Tekl, W./Loewe, S./Tauber, F. Frankreich-Lexikon
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Einwanderer französisch sprachen. Es hatte sich ein dreistufiges Modell der sozialen Integration eingespielt. Zunächst Einbindung in die Ökonomie (die meisten waren Arbeitsmigranten, nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Gastarbeiter), das ermöglichte rasch eine angemessene Lebensführung. Darauf folgte über Gewerkschaftsmitgliedschaft die Teilhabe am politischen System und die Möglichkeit von Statusgewinn und zusätzlicher sozialer Anerkennung. Die kulturelle Assimilation, die Übernahme der Nationalkultur bildete den Abschluss. All dies wurde durch die sehr entgegenkommende Einbürgerungspraxis erleichtert. Bis in die 1990er-Jahre genügten fünf Jahre regulärer Aufenthalt in Frankreich zum Erlangen der Staatsbürgerschaft; die Kinder von Migranten erhielten sie mit dem 18. Geburtstag automatisch, wenn sie überwiegend in Frankreich groß geworden sind. Unter Bedingungen wirtschaftlicher Prosperität funktionierte dieses republikanische Integrationsmodell sehr zuverlässig. Bedingung war (und ist) jedoch die unbedingte Assimilationsbereitschaft der Migranten. Unvorstellbar ist es, wie in den Vereinigten Staaten oder Kanada, ethnische Gemeinschaften zu bilden. Alltagsweltliche Zusammenschlüsse von Einwanderern gleicher Herkunft gab es weder auf lokaler Ebene noch überregional im Sinne der Gründung spezifischer Organisationen oder Vereine. Undenkbar ist die Artikulation ethnisch-spezifischer politischer Interessen. Dieses Festhalten an der Einheitlichkeit der französischen Nation kontrastiert auffällig mit der tatsächlichen ethnisch-kulturellen Heterogenität. Ruft man sich die vielen originären Minderheiten auf dem französischen Staatsgebiet in Erinnerung und nimmt die Vielzahl der unterschiedlichen Einwanderungspopulationen hinzu, ergibt sich eine polyethnische Bevölkerung, die den klassischen Einwanderungsländern nur unwesentlich nachsteht. In der Literatur gibt es wenig Hinweise auf systematische Diskriminierung von Bürgern mit Migrationshintergrund. Zu nennen wäre in erster Linie die massive Unterdrückung der deutschsprachigen Minderheit in Elsass-Lothringen nach Rückkehr dieser Teile in den französischen Staatsverband 1919, wie generell so zum Beispiel die Repressionen gegen Regionalkulturen und -sprachen der verschiedenen Minderheiten. Allerdings handelt es sich hierbei auch um ein methodisches Problem. Ethnische Minderheiten als solche gibt es im französischen Sprachgebrauch nicht; und die rasche Einbürgerungspraxis erlaubt es nicht, Migrantengruppen anhand ihrer ehemaligen Staatsangehörigkeit zu identifizieren. So gibt es keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Franzosen aus welchen Herkunftsländern stammen. Da sie als Gruppen nicht zu identifizieren sind, kann auch wenig über ihre Position in der Sozialstruktur ausgesagt werden, was Voraussetzung ist, um Diskriminierung zu beurteilen.42 Von systematischer Dis42 Auch die Betrachtung von Regionen führt nicht viel weiter. Folgt man Bernhard Schmidt mit seinem Artikel über soziale Exklusion und die neue Armut in Frankreich, gibt es zwar einige Regionen mit unterdurchschnittlichem ökonomischem Status, allerdings kann dies nicht mit sozialer Diskriminierung von bestimmten
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kriminierung im heutigen Frankreich scheinen in erster Linie „sichtbare Minderheiten“ betroffen zu sein. Diese Begrifflichkeit wird in Frankreich nicht verwandt, allerdings bezeichnet sie die Situation sehr treffend, da sich Diskriminierung, Rassismus in erster Linie an askriptiven Merkmalen festmachen.
Die Krise des französischen Modells Die Transformation in Verbindung mit der beginnenden Globalisierung wirtschaftlicher Prozesse in eine neue, postfordistische, postindustrielle Ära von Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften43 bedeutete für Frankreich vor allem eines: Einsicht in die zunehmende Trennung zwischen nationalstaatlicher Politik und verstärkt transnational operierender Wirtschaft, Einsicht in die Notwendigkeit und Akzeptanz von flexibleren Arrangements wirtschaftlicher Beziehungen auf allen Ebenen. Ein Land, welches sich im scheinbar stabilen und vor allem allumfassenden System abhängiger Beschäftigung bis zum Rentenalter eingerichtet hatte, und daran das umfangreiche Netz sozialer Sicherung und Vergünstigung geknüpft hatte musste dies als große Herausforderung, wenn nicht gar als tiefe Krise empfinden. Dass dem so war, steht außer Zweifel; interessant ist, wie in Frankreich diese Entwicklung wahrgenommen, beurteilt und darauf reagiert wurde. Alle westlichen Industriestaaten wurden von diesen Transformationen erfasst44, und wie am Beispiel Kanada zu sehen war, erzeugte dort die wirtschaftsstrukturelle Transformation weniger Krisenphänomene und -rhetorik als der ungelöste Konflikt zwischen Anglo- und Frankokanadiern. Auf dem Boden einer wesentlich wirtschaftsfreundlicheren bürgerlichen Tradition gelang die Anpassung an Anforderungen der globalen, postindustriellen Ökonomie in der Bevölkerung, aber auch im staatlichen Bereich der Bildungspolitik (Anpassung der Curricula und Ausbildungsgänge) relativ zügig. Frankreich gelang dies nicht. Es dauerte einige Zeit, bis das Ende der „glorreichen dreißig Jahre“ als solches erkannt wurde und man verstand, dass sich Bedingungen in der Gesellschaft geändert hatten.45 Wie andere europäische Staaten hatte Frankreich in den 70er- und auch noch 80er-Jahren mit wachsender Arbeitslosigkeit und geringen Wachstumsraten der Ökonomie zu kämpfen. Flexible, geringfügige, prekäre Beschäftigungsformen weiteten sich zulasten der regulären Beschäftigung aus und begannen damit sukzessive das So-
Gruppen in Verbindung gebracht werden, auch wenn Korsika zu diesen Regionen zählt. Vgl. Schmidt, B. (2005a): Soziale Exklusion/Neue Armut, in: Schmidt, B./Doll, J./Tekl, W./Loewe, S./Tauber, F. Frankreich-Lexikon, Erich Schmidt Verlag, Berlin. 43 Zur Transformation der Industriegesellschaft siehe Mikl-Horke, G. (2000), Kap. XI 44 Vgl. dazu den Sammelband von Hradil, S./Immerfall, S. (1997), für den kulturellen Wandel in Europa Therborn (2000): Teil IV 45 Estebé, P. (1997): S. 90ff.
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zialsystem zu unterminieren und neue Ungleichheiten zu schaffen. Diese sind heute zu deutlich sichtbaren innergesellschaftlichen Gräben angewachsen.46 Während der ersten Nachkriegsjahrzehnte war auch Frankreich zu einer Mittelschichtsgesellschaft geworden, in der Statusunterschiede durch die breite Teilhabe an der Konsumkultur überdeckt wurden. Ehemalige Arbeiterschichten konnten in dieser Zeit zumindest nach Einkommen und Lebensstandard zur Mittelschicht aufschließen.47 (Es kann vorweg genommen werden, dass Einwandererpopulationen und ihre Nachfahren die freien Stellen am unteren Ende der Sozialstruktur besetzten.) Aufstieg der Arbeiterschaft, damit Verbreiterung der Mittelschicht bedingte aber deren interne Differenzierung. Ähnlich wie in Deutschland markierten sozio-kulturelle Differenzen die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Gruppen.48 Von Bedeutung ist dieser Pluralisierungsprozess sozialer Wirklichkeiten, weil er von den Franzosen als negativ erfahren wird. Wie schon erwähnt, stellt Einheitlichkeit und Gleichheit der Nation einen hohen Wert im französischen Selbstverständnis dar, bildet(e) die Grundausrichtung aller staatlichen Politik. Die französische Gesellschaft soll die Einheit sein von Nationalökonomie, Kultur (Lebensweise) und starkem Staat. Strukturveränderungen in diesen Bereichen oder den Beziehungen zwischen diesen Bereichen werden daher als Angriff auf die Nation, auf das französische Gesellschaftsmodell angesehen.49 Die Effekte zeigen sich allmählich, sind deutlich quantifizierbar, zum Beispiel die Erosion des unkündbaren, vollbeschäftigten Arbeitnehmermodells. Bei Neueinstellungen – und damit bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen – sind befristete Verträge, Zeitarbeit, also prekäre Beschäftigungsformen bereits die Regel (13,2% insgesamt 2003, gegenüber 3,9% 1985).50 Gleichzeitig stieg die Arbeitslosenquote von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern, Frauen und Einwanderern erheblich an, so dass, überspitzt formuliert, im Wesentlichen nur eine Generation der 30-50 Jährigen über Vollarbeitszeitplätze verfügt. Besonders die Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 25% (bei den 15-24 Jährigen) ist als dramatisch anzusehen. Auch Einkommensdifferenzen sind größer geworden, wie der Anstieg der Arbeitnehmer zeigt, die nicht mehr als den staatlich garantierten Mindestlohn bekommen. In den letzten 10 Jahren ist er von 8% auf 13%51 gestiegen bei gleichzeitig wachsender Einkommenskonzentration in der Oberschicht aufgrund größerer Einkommenszuwächse bei Kapitalerträgen.52 46 Hüser, D. (2007), Uterwedde, H. (2005 u. 2005) 47 Estebé, P. (1997): S. 95 48 Vester, M./von Oertzen, R. et. al. (2001): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, S. 52 49 Vgl. Dubet, F. (1999): S. 106f.; Estebé, P. (2005), Uterwedde, H. (2005): Frankreich 2005: Brüche im Gesellschaftsmodell, in: Frankreich-Jahrbuch 2005, Bildungspolitik im Wandel; Uterwedde, H. (2002) 50 Estebé, P. (2005): S. 95 51 Schmidt, B. (2005a): Soziale Exklusion/Neue Armut, S. 372 52 Dubet, F. (1999): S. 101
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Frankreichs Wirtschaft ist die Anpassung an die neuen Spielregeln globaler Ökonomie bisher dennoch gelungen, wobei die Transformation noch nicht als beendet angesehen werden kann. Die staatlich gelenkte Industrialisierung hatte den traditionellen Mittelstand größtenteils unberührt gelassen, hatte eine eigenartige duale Wirtschaftsstruktur aus moderner Industrie und kleinhandwerklichen und kleinunternehmerischen Betrieben geschaffen. Letzteres hat vor allem dem kleinstädtischen und ländlichen Gebieten ihr traditionelles Gesicht belassen. Inzwischen sieht sich diese Gruppe verstärkt der Konkurrenz verschiedener Unternehmensketten mit ihren zahlreichen Filialen ausgesetzt.53 Sozialstrukturell etablierte sich eine neue Differenz, die teilweise alte Differenzen überlagert, nämlich zwischen Gewinnern und Verlierern dieses neuen Modernisierungsschubes. Neu, weil nicht mehr nur die Unterschichten von sozialer Benachteiligung betroffen sind, sondern die Destabilisierung, die Flexibilisierung von Erwerbsbiographien und damit Verunsicherung alltäglicher Lebensführung wirken weit in die Mittelschicht hinein. All diese Prozesse haben dem identitätstiftenden republikanischen Modell die soziale Grundlage geraubt, d.h., nicht das politische Modell veränderte sich, sondern die soziale Wirklichkeit, auf die es sich bezog und die es beschreiben und inkludieren wollte.54 Mit Verzögerung trat dies in das Bewusstsein der französischen Öffentlichkeit, dort sogleich Verunsicherung, Orientierungslosigkeit auslösend. Schleichend hat sich die Gesellschaft auch kulturell ausdifferenziert; ebenso zunächst unbemerkt haben sich die ehemaligen Arbeitersiedlungen in den Vorstädten der französischen Metropolen zu sozialen Brennpunkten von größtenteils Arbeitslosen entwickelt. Steigende Miet- und Immobilienpreise in den Städten, alltägliche Diskriminierung und blockierte Aufstiegs- und Einstiegswege in geregelte Erwerbsarbeit haben zu einer sozialen Segregation geführt, von der maghrebinische Migranten bzw. ihre Nachfahren am stärksten betroffen sind.
Exkurs: Das Leben in den rouge cités – die Banlieue Der französische Inlandsgeheimdienst (RG) berichtet 2002, dass rund 1,8 Millionen Menschen in der Banlieue in einer Ghettoisierung leben, die dem republikanischen Ideal und jeden europäischen Werten zutiefst widerspricht.55 Die konflikthaften Verhältnisse in den Vorstädten französischer Metropolen sind im letzten Jahr auch über die Grenzen Frankreichs hinaus Gegenstand intensiver Beobachtung geworden. Nacht für Nacht lieferten sich Jugendliche in französischen Großstädten Straßenschlachten mit der Polizei, zündeten tausende von
53 Münch, R. (2005): Grundzüge und Grundkategorien der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs, in: Kimmel/Uterwedde (Hrsg.), Länderbericht Frankreich, S. 33 54 Vgl. Uterwedde, H. (2005a); Hüser, D. (2007) 55 Schmidt, B. (2005b): Banlieue, in: Frankreich-Lexikon, S. 103
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Autos an, beschworen bürgerkriegsähnliche Verhältnisse herauf.56 Diese Vorkommnisse waren jedoch alles andere als neu. Schon 1990 entbrannte in Vaulxen-Velin, einem Vorort von Lyon, eine ähnliche Welle der Gewalt, die europaweit für Aufsehen sorgte. An weniger drastischen Beispielen aus den letzten zwanzig Jahren mangelt es nicht. Gesonderte Ausführungen zu diesem Phänomen scheinen angebracht, da die hier interessierenden Punkte wie Schulversagen, Perspektivlosigkeit, Islam und Diskriminierung eng mit dem Leben in der Banlieue verknüpft sind. Hier bündeln sich verschiedene Formen sozialer Benachteiligungen zu einer mehr oder weniger randständigen Lebensweise. Diese bildet den Hintergrund für jedes pädagogische oder sozialpolitische Engagement. Im Zuge der nachholenden Modernisierung erlebte Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Welle intensiver Urbanisierung, die den Wohnraum in den Großstädten knapp werden ließ. Als Maßnahmen des sozialen Wohnungsbaus entstanden am Stadtrand Neubauviertel, die Banlieue57, die überwiegend von Arbeitern bewohnt und von der kommunistischen Partei regiert wurden (daher der Name: rote Vorstädte). Durch die Auflösung der Arbeiterklasse (teilweise gelang der Aufstieg in die Mittelschicht, teilweise erfolgte die soziale Degradierung durch Status- und Qualifikationsverlust in einer postindustriellen Ökonomie) zerfiel auch diese Gemeinschaftsform. Wer es sich leisten konnte, zog noch weiter hinaus in den vorstädtischen Raum, die Neubauviertel blieben Ort der sozial Benachteiligten. Wie schon gesagt, zogen vorwiegend Franzosen maghrebinischer Abstammung bzw. Migranten afrikanischer Herkunft in diese Quartiere, da ihnen die Einordnung in die französische Wirtschaft und Gesellschaft in vielen Fällen nur auf der untersten Ebene gelang. Und während die erste Generation überwiegend ins Erwerbsleben integriert ist, sind alltägliche Gewalt und immer wieder aufflammender Protest jeweils Ausdruck der jungen Generation gegen ihre perspektivlose Lage. Ist Jugendarbeitslosigkeit für Frankreich allgemein ein Problem (die Quote schwankt je nach Quelle zwischen 20-25%, bei Ritzenhofen findet sich, ohne Jahresangabe, 22,8%),58 so ist die Situation in den Vorstädten dramatisch. Schmidt nennt 30-40% Arbeitslosigkeit unter den 15-24 Jährigen, Ritzenhofen bis zu 50%.59 So ergibt sich ein Bild stufenweiser Ausgrenzung. Zuerst aus 56 Vgl. bspw.: Unruhen in Frankreich „Wir sind im Krieg“ von Rudolph Chimelli, www.sueddeutsche.de vom 6.11.2005 57 Zum Überblick über die Banlieue siehe: Schmidt, B. (2005b): Banlieue, Frankreich-Lexikon, und Loch, D. (1999): Vorstädte und Einwanderung, in: Christadler, M./Uterwedde, H. (Hrsg.), (1999): Länderbericht Frankreich, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 118–138 58 Zum Vergleich:in Deutschland liegt die Jugendarbeitslosigkeit zwischen 11 und 15%, in den Niederlanden bei 8%. Vgl. Ritzenhofen, M. (2006): Frankreichs zornige Jugend, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Heft 2/06, hier S. 6 Eine geschlechtsspezifische Differenzierung ist anhand der Daten nicht möglich. 59 Schmidt (2005b): S. 102; Ritzenhofen (2006): S. 7
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dem ersten Arbeitsmarkt dauerhafter, regulärer Beschäftigung, gefolgt von der Nichtteilhabe an als offensichtlich normal und erstrebenswert angesehenen Formen des Massenkonsums und der Kulturrezeption; zuletzt die geographische Beschränkung des Lebens auf die cités selbst. Diese sozialen Lagen sind nicht allein auf Erwerbslosigkeit oder Perspektivlosigkeit zurückzuführen, auch wenn dies eine wichtige Rolle spielt. Doch sie ist vielleicht nur der am leichtesten messbare Indikator. In vielen Biographien kumulieren sich negative Sozialisationserfahrungen (Ausfall der Familie als Sozialisationsinstanz aufgrund innerfamiliärer Konflikte), Schulversagen und Diskriminierungserfahrungen seitens einer schwer definierbaren Mehrheitsgesellschaft, welche die Türen so verschlossen hält, dass selbst begabte Schüler kaum die Möglichkeit haben, die Vorstädte zu verlassen, um in einer positiveren Umgebung ihre Potentiale zu entfalten. Inzwischen handelt es sich dabei um zirkulär verlaufende Kausalitäten, um sich wechselseitig bedingende und verstärkende Effekte. Individuelles Schulversagen und mangelnde Förderung führen zu gesellschaftlicher Aussichtslosigkeit – provozieren Gewalt und deviantes Verhalten in der Banlieue und reproduzieren ein negatives Klima und Lebensumfeld, was die Durchbrechung dieses Kreislaufes erschwert.60 Fast unmöglich wird dies durch die ausschließenden Effekte alltäglicher Diskriminierung. Bei Bewerbungen ist eine Adresse in den Vorstädten, genauso wie ein arabisch klingender Name, in vielen Fällen ein Ausschlusskriterium. Das katastrophale Image der Banlieue eilt ihren Bewohnern voraus, macht es fast unmöglich, sie losgelöst davon als Bürger anzusehen.61 Zu staatlich-administrativen Organen stehen die Bewohner der Vorstädte, bei grundsätzlich ablehnender bis feindlicher Haltung, in einem Klientelverhältnis paternalistischer Abhängigkeit von Sozialleistungen. Trotz vielfältiger Versuche staatlicher und kommunaler Entscheidungsträger gibt es kaum öffentliche intermediäre Instanzen zwischen Staat und Bevölkerung dieser Quartiere und ist diese mancherorts für sozialpolitische oder sozialpädagogische Maßnahmen nicht mehr erreichbar. Die Lebenswirklichkeit in den cités stellt sich meist grundverschieden von der Wahrnehmungs- und Bearbeitungsweise administrativer Stellen dar. Organisierte Kriminalität, illegale Schattenwirtschaft, Verdienstmöglichkeiten zwischen Legalität und Kriminalität ermöglichen das Überleben vieler pauperisierter Familien – das sind Formen der Reorganisation, wie sie von der kommunalen Politik nicht geplant gewesen sind und nicht erfasst werden. Sie entziehen sich damit auch der Interventionslogik. Obwohl die Bewohner der Banlieue ethnisch und religiös alles andere als homogen sind und lange Zeit keine Vergemeinschaftungs- oder Organisierungseffekte zeigten, sind in den letzten Jahren For60 Bildungschancen in Frankreich – Nur Naserümpfen für die Vorstadtkinder, Spiegel Online, 11. Dezember 2005 61 Zimmermann, M. (2005): Black Power in Frankreich, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Heft 3, S. 80
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men dieser Selbstorganisation verstärkt zu beobachten. Nicht nur im illegalen Bereich hat sich eine eigenständige kleine Ökonomie entwickelt. Für Jugendliche ist ihre nächste Wohnumgebung Lebensmittelpunkt und integraler Bestandteil personaler Identität. Zerrüttete Familie und gesellschaftliche Marginalisierung eröffnen oftmals kaum andere Lebenswege als Apathie, Straße und Delinquenz – vor allem für junge Männer ist dies sehr frustrierend, ihr Aggressionspotential dementsprechend höher, so wie auch die Kriminalitätsrate. Verstärkt durch die Hinwendung zum Islam vollzieht sich zumindest unter den muslimischen Jugendlichen (auch hier eher Männer) hier jene Community-Bildung, die seitens der französischen Politiker immer vermieden werden sollte.62 Aufgrund der geltenden Gesetzeslage zur staatlichen statistischen Datensammlung und wegen der ohnehin schwierigen Verhältnisse in den Vorstädten gibt es keine verlässlichen statistischen Daten bspw. zur ethnisch-religiösen Zusammensetzung der Einwohnerschaft der Banlieue, denn laut Gesetz ist das statistische Erheben von ethnischen oder religiösen Unterschieden nicht erlaubt – es widerspricht dem republikanischen Geist.63 Informationen des Nachrichtendienstes weisen jedoch auf eine Ausweitung der Gemeinschaftsbildung auf Grundlage der islamischen Religion und Tendenzen einer Radikalisierung hin. Dies zeigt sich im Ausmaß, wie sehr der Islam das Alltagsverhalten der Menschen prägt – vor allem ihr Verhalten in der Öffentlichkeit (Schule), wo mehr und mehr auf islamische Kleidung, die Einhaltung des Ramadan und der Speisevorschriften geachtet wird, Einrichtung von Gebetsstätten in Schulen und am Arbeitsplatz; aber auch in der immer wieder auftretenden Gewalt gegen Jugendliche/Erwachsene (in erster Linie muslimisch geborene Frauen), die einen „westlichen“ Lebensstil pflegen.64 Diese Entwicklung kann man als Antwort auf die Unfähigkeit der französischen Gesellschaft verstehen, die Bewohner der Banlieue, vor allem die Franzosen maghrebinischer Herkunft an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Die vielfältigen Akte der Ausgrenzung werden aufgegriffen und in Aggression und Ablehnung gewendet, in eine Einstellung und Identitätskonstruktion, wo Integration nicht mehr das Ziel ist. Hier ist die tiefere Ursache für die um sich greifende Reislamisierung der arabisch-stämmigen Franzosen vor allem in der Banlieue zu suchen, die diesen sozialen Verteilungskonflikt zunehmend als ethnisch-kulturell oder gar religiösen Konflikt aussehen lässt. Was er nicht ist. Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen in den Vorstädten sind als Franzosen aufgewachsen und wollen nichts anderes als Chancengleichheit und Gleichberechtigung mit jenen Franzosen, deren Wurzeln nicht in Afrika liegen.65 Stattdessen wird ihnen teilweise eine ethnisch fremde Identität zugeschrieben, Differenz und Distinktion
62 Loch, D. (1993): Jugend, gesellschaftliche Ausgrenzung und Ethnizität in der Banlieue, S. 108 63 Crevel/Wagner (2004): S. 123 64 Crevel/Wagner (2004): S. 122 65 Loch, D. (1993): S. 107
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zwischen Franzosen und Ausländern künstlich erzeugt und der Konflikt scheinbar vereinfacht auf seine ethnisch-religiösen Bestandteile beschränkt. Es handelt sich dabei um eine Verteidigungsstrategie sich bedroht fühlender sozialer Gruppen, die dazu übergehen, die Essenz französischer Kultur (oder Zivilisation) nicht mehr in den republikanischen Werten, sondern in Genealogie, d. h. in der Ansammlung kultureller Traditionen über Generationen hinweg, zu sehen. So ist man in der Einbürgerungsgesetzgebung vom traditionellen (und fortschrittlichen) ius soli abgewichen, was bedeutet, dass den in Frankreich geborenen Kindern von Zuwanderern die Staatsbürgerschaft mit Erreichen der Volljährigkeit nicht mehr automatisch, sondern nur auf Antrag verliehen wird.66 So geht der Blick auf den Teufelskreis von sozialer Ausgrenzung und Identitätsbildung auf ethnisch-religiöser Basis verloren. „Die Jugendlichen der Vorstädte waren von einem starken Identitätsgefühl beseelt, das nicht nur auf ihrer ethnischen und geographischen Herkunft, sondern auf dem Gefühl des Ausgeschlossenseins aus der französischen Gesellschaft beruhte.“67 Neben der aktuellen Situation in den Vorstädten gab es bereits weitere Beispiele, wie das auf gesellschaftliche Einheit fixierte Selbstbild der Franzosen ins Wanken geriet. 1968 ist auch für Frankreich der Beginn veränderter Selbstwahrnehmung, hier haben alternative Perspektiven auf die französische Geschichte, das Bewusstsein für soziale und kulturelle Heterogenität ihren Ausgang. Das Ende der „Großen Erzählungen“ veränderte auch die französische Erinnerungskultur, brach das bis dahin geteilte Geschichtsbild auf und mündete in die bereits beschriebene Identitätskrise. Bisherige Minderheitsgruppen konnten sich erstmals wirksam Gehör verschaffen (vor allem die autochthonen ethnischen Minderheiten) und für eine stärkere Beachtung ihrer Besonderheit eintreten und ihre Version der französischen Geschichte mit stärkerer Betonung von Unterdrückung, Krieg und Benachteiligung artikulieren.68 Auch gerieten die Zeiten der Vichy-Regierung während der nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs und die Kollaboration ebenso erst nach 1968 in die öffentliche Reflexion und Diskussion wie der Kolonialismus und hier besonders der Krieg in Algerien. Unter Präsident Chirac setzte erstmals eine öffentliche Erinnerungskultur ein, die dieses nationale Trauma aufarbeiten sollte.69 Sie ist Teil des Versuchs, das einheitliche nationale Selbstbild durch Integration bisher ausgeblendeter Aspekte zu bewahren. Allerdings hatte diese Gedenkkultur etwas Künstliches, wurde nicht wirklich Teil kultureller Alltagspraxis, in der 66 Loewe, S. (2005a): Immigration. S. 498. Dies geschah unter Premierminister Baladur, der für eine Politik der zero immigration eintrat. Auf seine Initiative gehen sehr restriktive Einreisebedingungen und Einbürgerungsbestimmungen sowie umfangreichere Möglichkeiten der Ausweisung von Ausländern zurück. 67 Veit, W. (2006a): Der Kampf um das verlorene Paradies. S. 2 68 Vgl. Hüser, D. (2005), Uterwedde, H. (2005), Dubet, F. (1999) 69 Dazu gehört bspw. die Ausbildung einer offiziellen Sprachregelung für diesen Krieg („Krieg ohne Namen“).
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fragmentierte Erinnerung vorherrschend blieb. Es fehlen Orte, Personen, Helden, Mythen, an denen sich ein solch einheitliches Bild – und wenn auch nur für die Mehrheit – anknüpfen kann.70 Als Folge struktureller Transformationsprozesse in verschiedenen Gesellschaftsbereichen wandelte sich das Selbstbild Frankreichs von einem historisch fundierten, republikanisch-einheitlichen Selbstbewusstsein zwar nicht zur Anerkennung von Heterogenität der Bevölkerung und gruppenspezifischer Geschichte, aber zu deren Bewusstwerdung. Dreierlei Reaktionsformen sind auf diese Herausforderung durch – eigentlich unerwünschte Differenzerfahrungen denkbar: 1. deren Anerkennung und konstruktiver Umgang, 2. der Versuch Einheitlichkeit wiederherzustellen und 3. Akzeptanz von Einheitlichkeit und Differenz. Frankreich wählte letztlich den zweiten Weg, versuchte auf sozio-ökonomischer und auf kultureller Ebene die verlorene Vertrautheit und Sicherheit des republikanischen Modells der „glorreichen dreißig Jahre“ durch umfangreiche sozial-, aber vor allem bildungspolitische Maßnahmen zu reanimieren.
Sozialisationsagentur Schule Am Beispiel Kanada war zu sehen, wie aus der Wahrnehmung sozio-kultureller, ethnischer Diversität der Versuch entstand, mittels Anerkennung und Selbstbestimmungsrecht aus Verschiedenheit eine neue Einheit zu schaffen. Mit der Multikulturalismuspolitik wurde dies als nie abgeschlossenes Projekt begonnen. Der Beginn der Krise Frankreichs fällt in etwa dieselbe Zeit, in der Kanada sich neu zu finden begann. Dass Frankreich nicht denselben Weg wählte, kann ohne nähere Prüfung nicht vorweg schon negativ beurteilt werden. In der Rekonstruktion der Problemwahrnehmung französischer Politiker in den 60er- und 70er-Jahren wird deutlich, dass fast ausschließlich Dimensionen sozialer Ungleichheit, Diskrepanzen zwischen dem Gleichheit verheißenden republikanischen Ideal und der kapitalistischen Wirklichkeit am Ende der glorreichen Jahrzehnte ins Blickfeld gerieten und Lösungsansätze sich darauf konzentrierten. Es wurde deutlich, dass Ungleichheitsrelationen trotz kollektiver Wohlstandsvermehrung nahezu unverändert geblieben waren; die Sozialstruktur blieb trotz quantitativer Zunahme von Mittelschichtslagen stratifikatorisch geprägt.71 Die besondere Benachtei-
70 Hüser, D. (2005): S. 57 71 Noch Bourdieu rekonstruiert diese französische Schichtungsgesellschaft in seinem 1979 veröffentlichten Werk La distinction (Die feinen Unterschiede, dt. 1982), welches auf empirischen Untersuchungen Ende der 60er- Anfang der 70er-Jahre beruht. Obwohl Bourdieu, fixiert auf Begrifflichkeiten der Klassen- und Schichtungstheorie, dadurch wichtige sozio-kulturelle Differenzen innerhalb statusgleicher Gruppen übersehen bzw. ihnen nicht genügend Rechnung getragen hat, ist die Grundaussage der stetigen Reproduktion schichtspezifischer Lagen bei geringer
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ligung von Migranten bzw. Migrantenkindern oder Jugendlichen spielte keine Rolle. Wie schon erwähnt, wurden ethnische Minderheiten nicht als solche wahrgenommen oder zumindest wurde diese Terminologie vermieden, da Begriffe Realität erschaffen konnten, die es nicht geben durfte.72 Um dieses Ideal sozialer Chancengleichheit zu verwirklichen, wurde, für Frankreich besonders nahe liegend, in den 60er-Jahren mit einer umfassenden Reform des Bildungswesens begonnen. Diese, zusammen mit pädagogischen Konzepten, hatte zum Ziel, die übergroße Mehrheit der Schülerschaft zu hohen allgemeinbildenden Schulabschlüssen zu führen, da in diesen am ehesten die Chancengleichheit in der Konkurrenzsituation Arbeitsmarkt gewahrt schien. 1997 wurde die bereits in den 80er-Jahren entwickelte Zielvorstellung, 80% der Schüler eines Jahrgangs zur Abiturreife zu führen, gesetzlich formuliert.73
Organisation des Schulunterrichts Das Bildungswesen und die Bildungspolitik nimmt in der französischen Gesellschaft eine besondere Rolle ein. „Kaum ein europäisches Land hat in dem Ausmaße wie Frankreich den historischen Weg zur Einheit der Nation auf die kulturell und sozial vereinheitlichende Kraft seiner Bildungseinrichtungen gegründet.“74 „Neben der Nationalversammlung wurde die Schule zur wichtigsten Institution der Demokratie. Über den Lehrplan versicherte sich die Republik der Loyalität ihrer künftigen Citoyens.“75 Wie schon erwähnt, gelang dies endgültig in der Dritten Republik mit der Umwandlung der kirchlichen Schulen in ein öffentliches Schulsystem, u. a. zementiert in der rechtlichen Festschreibung der Trennung von Kirche und Staat von 1905.76 Nach Abstreifen aller Bindungen an das Ancien Régime und damit auch dessen Integrationsmuster war es allein der Staat, der die Einheit der Gesellschaft garantieren bzw. herstellen konnte und letztlich auch musste. Nur die Schule konnte Vereinheitlichung der französischen Kultur (Sprache, Symbolik), die Sozialisation einer kollektiven Identität leisten –
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Auf- und Abwärtsmobilität für Frankreich sicher zutreffend. Vgl. Bourdieu, P. (1982) Mintzel, A. (1997): S. 417 Ritzenhofen, M. (2005): Blaue Briefe an die Bildungspolitik, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Heft 2/05, S. 19 Picht, R. (1994): Die durchlöcherte Pyramide, in: Frankreich-Jahrbuch, Leske + Budrich Verlag, Opladen, S. 36 Ritzenhofen, M. (2005): S. 19 Zum geschichtlichen Überblick über Frankreichs Schulsystem vgl. Veil, M. (2002): Ganztagsschule mit Tradition: Frankreich, in: APUZ B 41/2002; Zettelmeier, W. (2005): Bildungssystem im Wandel, in: Kimmel/Uterwedde, a. a. O.; Picht (1994), Hormel, U./Scherr, A. (2005): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
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und erhob explizit diesen Anspruch.77 Heute sind in Frankreich die Kinder wesentlich umfangreicher (zeitlich gesehen) in das Schulsystem integriert und damit aus den Familien genommen als in anderen Ländern, ist die Bedeutung schulischer Sozialisationsfaktoren damit ungleich höher. Dementsprechend bedeutungs- und konfliktvoll ist die Bildungspolitik, die daher immer auch Gesellschaftspolitik ist. Verantwortlich ist das Erziehungsministerium in Paris; alle untergeordneten Ebenen haben nur ausführenden Charakter (allerdings mit unterschiedlichen Ermessungsspielräumen), so dass der Staat als „Pädagoge der Nation“ fungiert.78 Bis in die 60er-Jahre glich das französische Schulsystem dem deutschen in seiner strukturellen, d.h. organisatorischen und institutionellen Differenzierung. Es gab nach Leistung differenzierte Schulen, deren Schülerschaft auch sozial relativ homogen war. Neben der ohnehin etablierten Trennung zwischen Elite- und Massenbildung durch das System der Grand Ecoles existierte eine allgemeine Volksschulbildung. Die Sekundarstufe war mehrheitlich faktisch Schülern der Mittelschicht vorbehalten und das Gymnasium war kostenpflichtig. Damit wurde über das Bildungssystem die Struktur sozialer Ungleichheit auch weiter reproduziert.79 So ist die französische Schule seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute eine Ganztagsschule. Da überhaupt kein anderes begriffliches Verständnis von Schule existiert, werden französische Kinder überdurchschnittlich lange außerhalb der Familien und in staatlichen Institutionen betreut.80 Das verdeutlicht, wie wichtig in Frankreich von Staats wegen die öffentliche „staatsbürgerliche“ Erziehung genommen wird. In mehreren Etappen wurde zwischen 1959 und 1975 ein einheitliches, die Schüler im Wesentlichen bis zum Abschluss der 9. Klasse zusammenhaltendes Schulsystem aus Vorschule, Primarschule und Sekundarstufe I (collège unique) geschaffen. Nennenswerte Differenzierungen und Spezialisierung in der Ausbildung setzen erst mit Übergang in die Sekundarstufe II ein. Das collège kann mit dem niedrigsten Schulabschluss (brevet d’études) verlassen werden. An das collège schließen sich zwei Typen von lycées an: das lycée d'enseignement général et/ou technologique, das in drei Jahren zum allgemeinen Abitur (baccalauréat général) oder zum Fachabitur (baccalauréat technologique) bzw. Technikerzeugnis (brevet de technicien) führt, und das lycée professionnel (Berufsgymnasium), das entweder zum Berufsabitur (baccalauréat professionnel) oder zu einem beruflichen Abschluss (CAP oder BEP) führt.81 Technisches und berufliches 77 Hörner, W. (2004): Kontinuität, Krise und Zukunft der Bildung in Frankreich, S. 207 78 Veil, W. (2002): S. 30 79 Zettelmeier, W. (2005): Bildungssystem im Wandel, S. 125f. 80 Veil, W. (2002): S. 37 81 Lauer, C. (2003): Bildungspolitik in Frankreich, in: Discussions-Paper No. 03–43, Zentrum für europäische Wissenschaftsforschung GmbH, ftp://ftp.zew.de/pub/zew-docs/dp/dp0343.pdf, S. 5
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Gymnasium sind im Wesentlichen Neugründungen. Formal sind sie dem allgemeinen Abitur gleichgestellt; später wird deutlich, dass diese unterschiedlichen Bildungswege und -abschlüsse sehr wohl eine Hierarchie bilden. All diese Abschlüsse sind berufsqualifizierend; eine Berufsausbildung, wie wir sie aus Deutschland kennen, gibt es in diesem Sinne in Frankreich nur in Ansätzen (und das auch erst seit kurzem). Sie befähigen in unterschiedlichem Maße zur Aufnahme eines Studiums. Das Hochschulsystem ist noch wesentlich unübersichtlicher und differenzierter als der Sekundarschulbereich.82 Frei zugänglich und kostenlos sind ausschließlich die 85 französischen Universitäten. Daneben gibt es eine Vielzahl spezifischer Hochschulen mit unterschiedlichem sozialem Ansehen und Qualifizierungsprofil, deren Zugang meist begrenzt ist und auf spezifischen Auswahlmechanismen beruht. Über allem steht das System der Elitehochschulen, die sicherlich die härtesten Anforderungen stellen. Vor der Auswahlprüfung sind zwei Jahre in Vorbereitungsklassen zu absolvieren (classes préparatoires). Frankreich hat also eine einheitliche Ganztagsschule mit relativ langem Unterrichtstag bei sehr langen Sommerferien (2 Monate) und trug sich mit der nicht unbegründeten Hoffnung, durch gemeinsames Lernen von Schülern unterschiedlicher Leistungsniveaus die beiden wichtigsten Ziele der Bildungspolitik, nämlich Demokratisierung der Bildung und allgemeine Hebung des Bildungsniveaus, zu erreichen. Als wichtiges Instrument dafür ist die Vorschule anzusehen (école maternelle), deren Besuch nicht verpflichtend, heute aber Standard geworden ist. So besuchten im Schuljahr 1999/2000 35% der zweijährigen und 100% der drei- bis fünfjährigen Kinder diese Vorschulen.83 Die Praxis der Vorschule ist weniger auf Unterricht ausgelegt wie die vergleichbare kanadische Institution; sie dient vor allem der Förderung von Ausdrucksfähigkeit und Verständnis der französischen Sprache und Kultur. Studien belegen eindeutig einen positiven Effekt der Vorschule auf die Leistungen in der Primarschule. Klassenwiederholungen sind erheblich zurückgegangen, auch bei Schülern mit Migrationshintergrund. Allerdings verliert sich der Effekt während der Schullaufbahn, so dass er am Ende kaum noch Auswirkungen auf den Schulabschluss hat.84 Die Gesamtschule brachte neue Probleme mit sich, die durch die Gestaltung des Unterrichts bzw. der Schulorganisation behoben werden mussten. In erster Linie betraf dies Leistungsunterschiede zwischen den Schülern und die Zusammenballung von Lernschwierigkeiten und schwierigem Lernumfeld (bspw. in der Banlieue) in der Schule. Es handelt sich also um die Schaffung flexibler Interventions- und Fördermöglichkeiten auf individueller wie schulischer/regionaler
82 Überblick bei: Zettelmeier, W. (2005): S. 129f. 83 Daten von Eurybase 2003, zitiert nach Lauer, C. (2003): S. 3 84 Ebd.
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Ebene. Offensichtlich genügte die Schaffung einer einheitlichen Gesamtschule und der Vorschule nicht, um die Diversität in den Schulleistungen zufrieden stellend zu minimieren, genauer: die gravierende Problematik des Schulversagens vor allem in Problemgebieten in den Griff zu bekommen. Bildungspolitisch wurde darauf mit der Abkehr von einheitlichem Unterricht und staatlichem Zentralismus reagiert, lokalen Schulleitungen und den Lehrern größerer Ermessensund Gestaltungsspielraum in der Unterrichtsgestaltung eingeräumt (bei Festhalten an den bisherigen Bildungszielen). Konkret wurde versucht, einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Lerntempi und der Vorgabe nationaler Curricula (alle sollen das Gleiche lernen) zu schaffen.85 So ist die Primarschule in Stufen (und erst danach in Klassen) unterteilt. Lernziele und deren Evaluation erfolgen am Ende einer Stufe. Lernschwachen Schülern ist damit ein längerer Zeitraum der gezielten Förderung gegeben, wodurch Klassenwiederholungen verhindert werden können. Leistungsstarken Schülern wird ein schnelleres Lerntempo, das Überspringen von Klassen ermöglicht. In der Praxis bleibt die Klasse die Grundeinheit des Systems, jedoch wird der Unterricht umorganisiert. Die Schüler können ihrem Leistungsvermögen entsprechend für bestimmte Fächer in Untergruppen eingeteilt werden, in denen sie dann gezielten Unterricht erhalten. Darüber hinaus sind die ersten beiden Jahre auf dem collège und das erste Jahr auf dem lycée Orientierungsstufen mit einheitlichem Unterricht, in denen alle Schüler einerseits auf das gleiche Leistungsniveau gebracht werden sollen, andererseits dienen sie zur Orientierung für nachfolgende Spezialisierungen. Im collège wird ebenfalls individualisierter Förderungsunterricht angeboten, damit möglichst vielen Schülern der Wechsel zum lycée gelingt. Neu zugewanderte, aber auch französische Schüler mit unzureichenden Sprachkenntnissen können sowohl in Vorschule und Primarschule Förderunterricht (integrierten Stützkurs, cours de rattrapage integré, CRI) als auch Nachhilfeunterricht für Kinder mit „vorübergehenden Schwierigkeiten“ (actions spécifiques destinées aux élèves de l’école élémentaire en difficulté passagère) erhalten. Förderunterricht und Auffangklassen haben nur temporären Charakter und sollen so schnell wie möglich die Schüler wieder in die Regelklassen integrieren. Begleitet sind diese Maßnahmen von neuen pädagogischen Ansätzen, der Abkehr von traditionellem (Frontal-)Unterricht und abstrakter Wissensvermittlung: dialogorientiertes Lernen, Arbeit in kleinen Gruppen je nach Förderungsbedarf, selbständiges Lernen der Schüler bei zurückhaltender Rollenausübung des Lehrers, intensive individuelle Betreuung, Aufmerksamkeit und Begleitung lernschwacher Schüler, um sie Schritt für Schritt an das gewünschte Lernziel heran85 Vgl. hierzu: Lauer, C. (2003): Dübert, H./Klieme, E./Sroka, W. (Hrsg.) (2004): Conditions of School Performance in Seven Countries, S. 285–290; AllemannGhionda, C. (1999): Schule, Bildung und Pluralität, Peter Lang Verlag, Bern, S. 140–144
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zuführen, und schließlich der Verzicht auf räumliche Separierung lernschwacher Schüler.86 In Schulen sozialer Brennpunkte sind diese Ansätze nur begrenzt praktikabel. „In den [...] sozial destabilisierten Vororten der großen Städte scheinen die Schulen nicht mehr in der Lage, die kulturelle Integration der Kinder und Jugendlichen so zu gewährleisten, wie dies französischer Tradition entspricht, also jenen einheitlichen Mindeststandard sprachlicher Fertigkeiten, moralischer und politischer Werte, Denk- und Verhaltensmuster zu vermitteln, der allen Franzosen gemeinsam sein soll.“87 In diesen Bezirken finden sich die meisten Schulabgänger ohne Schulabschluss, die meisten Klassenwiederholungen, die meisten Schulabgänger der Sekundarstufe I ohne zum Teil hinreichende Kenntnisse des Lesens und Schreibens. Seit 1982 wurden einige dieser Bezirke zu „bildungspolitischen Prioritätsgebieten“ (Zones d’Education Prioritaire – ZEP) erklärt.88 Dies stellt den Versuch dar, Schulversagen einerseits durch intensivere Förderung und andererseits durch Miteinbeziehung des außerschulischen Hintergrunds der Schüler zu bekämpfen. Die Umsetzung geschieht dabei in konzertierter Aktion von Schulen, Gebietskörperschaften, kulturellen Verbänden, Elternvereinigungen und Behörden. Diese Bezirke bekommen sowohl zusätzliche Mittel für mehr Lehrer und nicht-unterrichtendes Personal als auch Lehrstunden und ein zusätzliches Budget für pädagogische Maßnahmen oder außerschulischen Begleitmaßnahmen. „Somit soll eine ‚positive Diskriminierung‘ zugunsten der am stärksten Benachteiligten erfolgen.“89 Das Instrument des ZEP wurde mehrfach ausgeweitet, so dass es heute fast 800 dieser Schulen und regionalen Fördernetzwerke Réseaux d´éducation prioritaire (REP) gibt. Zwischen 15% und 20% der Schüler lernen in einer solchen Schule.90 Die Politik der ZEP stellte eine Form der besonderen Förderung von Schulen und Lehrkräften dar, die allerdings nur vorübergehenden Charakter haben sollte. Idealerweise sollten die Schulen durch diese Maßnahmen wieder aus dem Programm herausfallen. Allerdings ist das nur begrenzt geschehen, auch wenn diesbezüglich wenige Daten vorliegen, wie Bongrand beklagt.91 86 Installiert im Rahmen des Programms: Programmes Personnalisés d’Aide et de Progrés, PRAP, vgl. Dübert/Klieme/Sroka (2004): S. 289 87 Picht, R. (1994): S. 37. Die gegenwärtige Relevanz der Problemlage zeigt das Fortbestehen der ZEPs an. Vgl. Bongrand, P. (2006) 88 Die Politik der ZEP stellte einen Wendepunkt französischer Bildungspolitik dar, da sie erstmals von der rein strukturellen und inhaltlichen Organisation des Schulsystems absah und sich hier konkreten Problemen mit einem über die Schule hinausgreifenden Konzept zuwandte, verbunden mit Versuchen dezentraler Organisation und pädagogischen Innovationen. Vgl. dazu: Bongrand, P. (2006): ZEP – Gebiete mit vorrangigen Bildungsaufgaben, in: Frankreich-Jahrbuch 2005, Hörner, W. (1995): Schulqualität in Frankreich – Zwischen Eliteschulen und Massenbildung; die „Zones d’Education Prioritaires“. 89 Lauer, C. (2003): S. 15 90 BMFB, Vertiefender Vergleich der Schulsysteme ausgewählter Staaten, S. 205 91 Bongrand, P. (2006): S. 76
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Sicher ist nur die quantitative Ausweitung des Programms, wohl auch, weil sich Schulen gegen ein Ende der Förderung wehrten. Die Einführung der REP wird von Bongrand insofern als ministerieller Trick angesehen. Das System der REP stellt eine vergleichbare Form der besonderen finanziellen Förderung dar, insofern handelt es sich wohl nur um ein neues „Etikett“, mit der Wirkung, dass sich beide Förderprogramme (ZEP und REP) heutzutage regional überschneiden und auch inhaltlich scheint es nicht mehr möglich, „eine für das gesamte Staatsgebiet gültige Definition von ZEP und REP zu geben.“92 Auffällig ist die dem französischen Schulwesen inhärente starke Leistungsorientierung, die sich im Streben nach höheren Bildungsabschlüssen ausdrückt. Nicht nur auf der Ebene der Bildungsstrategien der Schüler oder ihrer Familien, sondern auch in Form staatlicher Vorgaben So wurde 1997 unter Premier Jospin eine gewünschte Abiturientenquote festgelegt.93
Pädagogik zwischen Differenz und Assimilation – die Quadratur des Kreises In diesem Abschnitt soll die pädagogische Ausrichtung des Schulunterrichts, die Problemanalyse und Konzeptionalisierung entsprechender Lösungsansätze zusammen mit außerschulischen und gesellschaftlichen Aktivitäten dargestellt werden. Im Fokus wird stehen, inwieweit sie der komplizierten Verschränkung von kultureller Differenz, sozialer Exklusion und massivem Schulversagen vor allem bei Kindern aus dem Maghreb Rechnung tragen. Man darf dabei nicht von der Prämisse ausgehen, dass Interkulturelle Pädagogik für ethnisch plurale Gesellschaften die via regia zur Lösung bzw. zumindest Verhandlung sozialer Konflikte darstellt. Die Voraussetzungen in Frankreich weichen erheblich von denen Kanadas ab. In Frankreich hat sich eine Nationalkultur über viele Jahrhunderte herausgeprägt und etabliert, zu der sich – trotz aller ethnisch-kulturellen Differenzen – die übergroße Mehrheit der französischen Staatsbürger bekennt. Die Zahl derer, die sie ablehnen, zum Beispiel im Baskenland oder auf Korsika, ist verhältnismäßig gering. Es gibt daher keine Veranlassung, diese dominante Kultur in ihrer Bedeutung zugunsten Minderheitskulturen nennenswert zu relativieren. Worum es gehen kann, sind überfällige Zugeständnisse an die französischen Minderheiten, die ihnen in den Regionen Gebrauch, Pflege und auch Unterricht ihrer Sprachen ermöglichen. Ihre Eigenständigkeit können sie daher nur in der Betonung von Differenzen zu Frankreich bewahren. Die Sprache ist da ein wichtiges Mittel. In einem pluralen Frankreich, welches stärker als bisher kulturelle Unterschiede unter den Franzosen wie auch die verschiedenen Einwanderungspopulationen berücksichtigt, gilt dies natürlich nicht nur für „neue“ Minderheiten – wie muslimische oder afrikanische Zuwan92 Ebd., S. 77 93 BMFB (2003): S. 105, Ritzenhofen, M. (2005a): S. 19
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derer –, sondern auch für die seit Jahrhunderten in Frankreich lebenden ethnischen Minderheiten. Und das nicht aus Prinzip, denn an Kanada war ja zu sehen, dass Multikulturalismus nicht Multilingualismus bedeuten muss. In Frankreich liegen m. E. die Verhältnisse jedoch anders, da den ethnischen Minderheiten zur Abgrenzung gegenüber der französischen Bevölkerungsmehrheit die eigene Sprache besonders wichtig ist. Entsprechende Maßnahmen wurden von den sozialistischen Regierungen der 80er-Jahre ergriffen. Regionalsprachen (Bretonisch, Katalanisch, Baskisch, Korsisch usw.) wurden, wenn Interesse bestand, in der Sekundarstufe in den Fremdsprachenunterricht aufgenommen; teilweise, wenn regional möglich und erwünscht, sind sie auch Unterrichtssprache. Aber das stellen eher Einzelfälle dar. Ausgenommen ist das offiziell zweisprachige Elsass, wo vielerorts auch der Schulunterricht zweisprachig abgehalten wird.94 Auf Migrantensprachen, vor allem das Arabische aus den ehemaligen Kolonien, wurde diese Praxis nicht ausgeweitet. Jedoch gibt es seit den 80er-Jahren Modelle bilingualen Unterrichts (Arabisch und Französisch) wie an der Schule Rue de Tanger in Paris.95 In gemischtsprachigen Klassen von der Vorschule bis zur Sekundarstufe II wird der allgemeine Lehrplan in beiden Sprachen vermittelt. Der frühzeitige Kontakt mit einer andere Sprache fördert generell die Sprachkompetenz, erleichtert das Erlernen weiterer Sprachen und für die Maghrebiner vor allem die sichere Beherrschung des Französischen. Die Chancen dieser Schüler sind überdurchschnittlich positiv zu beurteilen. Zurzeit lernen etwa 60.000 Schüler in 50 Schulen dieser Art. Bedarf und Interesse sind jedoch wesentlich größer. Allerdings erfahren sie durch den Staat kaum Förderung und keine finanzielle Subventionierung. Getragen werden diese Schulen heute von den Regierungen Tunesiens und Marokkos (früher auch von Algerien). Initiative und Umsetzung beruhen im Wesentlichen auf dem Engagement von Schulleitung und Lehrerschaft. Darüber hinaus wird von französischen Bildungspolitikern bezüglich der Einwanderer besonders afrikanischer Herkunft der Bedeutung von Sprachkompetenz für den Schulerfolg wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zunächst hatte man Arabisch ins reguläre Fremdsprachenangebot der Sekundarstufe aufgenommen, jedoch 1995 wurde es wieder zum „Wahlfach“ degradiert, was den Zulauf hemmte, da im regulären Unterricht ohnehin eine zusätzliche Sprache gelernt werden musste.96 Auch hinter der Sprachförderung in Französisch für Migranten oder deren Kinder scheinen kaum systematische Versuche zu stehen, sichtbare und nachhaltige Erfolge zu erzielen. Zwar wird in Primar- und Sekundarschulen gesonderter Unterricht in Französisch angeboten, jedoch fehlt es an didaktischer 94 Allemann-Ghionda, C. (1999): S. 180 95 Groux, D. (1998): Bekämpfung des Schulversagens durch frühzeitigen Spracherwerb, in: Bildung und Erziehung 51 (1998), Heft 3, S. 271–278 96 Ebd., S. 275
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Kompetenz und Mitteln, Französisch effektiv als Zweitsprache zu unterrichten. Die Notwendigkeit wurde nicht gesehen, da in den 90er-Jahren die Zuwanderung fremdsprachiger Schulpflichtiger nahezu zum Erliegen kam. Dieser Förderunterricht (enseignement des langues et cultures d’origine ELCO oder LCO) wird daher meist mit den unzureichenden didaktischen Mitteln des Fremdsprachenunterrichts abgehalten.97 Dabei mangelt es nicht am Wissen um diese Zusammenhänge. Berichte unterschiedlichster Forschungskommissionen und administrativer Stellen weisen seit den 70er-Jahren immer wieder darauf hin und befürworten die Einführung ausgewählter Aspekte Interkultureller Pädagogik (besonders im Bereich des Spracherwerbs) in die französischen Schulen. So der Arabist Beroque 1985 mit einem Forschungsbericht an die französische Regierung, in dem er darlegte, Minderheiten endlich als solche anzuerkennen und etwa das Bretonische und Arabische gleichberechtigt neben den verbreiteten Fremdsprachen Englisch und Deutsch zu stellen. In die gleiche Richtung argumentiert der Bericht des Generalinspektors Hussenet éducation nationale von 1990, der allerdings nie veröffentlicht und auch in administrativen Kreisen kaum beachtet wurde.98 Zum Jahrestag der Revolution, 1989, erging ein Rundschreiben des Erziehungsministers, welches zur Einrichtung multikultureller Projekte an Schulen und in Verbindung mit außerschulischen Einrichtungen zur Stärkung des Zusammenlebens, zur besseren Kenntnis der französischen Geschichte, wie auch der Migration und des Kolonialismus, aufrief. Es nimmt nicht wunder, dass landesweit nur 80 Schulen darauf tatsächlich reagierten. Der Bericht des Haut Conseil à l’intégration (1991) wie auch die Evaluation des Bildungssystems der Inspection générale (1992) befürworteten neue Leitlinien. Ersterer stellt den Unterricht in französischer Sprache, Geschichte und Kultur deutlich heraus und beflügelt damit das klassische Assimilationsmodell sozialer Integration. Anerkennung von Differenziertheit ja, aber Betonung der Notwendigkeit, diese durch regelnde Ordnungsprinzipien zu temperieren. „Die Annahme der Diversität muss durch ein Dispositiv ergänzt werden, das den republikanischen Grundsatz der Gleichheit wiederherstellt und die zeitweise Abweichung von der Normalität durch die unsachgemäße Verwendung des Begriffs ‚minorité‘ korrigiert. Möglichen Konflikten, die aus den ‚specificités culturelles, sociales et morales‘ resultieren könnten, muss vorgebeugt werden.“ Und zwar durch die Fundierung des Unterrichts wie des sozialen Zusammenlebens auf einem minimalen gemeinsamen Nenner gemeinsamer Werte; der Betonung der Logik der Gleichheit im Gegensatz zu einer der Verschiedenheit und Minderheiten.99 Der Evaluationsbericht nimmt dies auf, stützt sich aber wesentlich stärker
97 Allemann-Ghionda, C. (1999): S. 142f. 98 Ebd., S. 151 99 Ebd., S. 154
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auf praktische Schwierigkeiten in der Umsetzung Interkultureller Pädagogik, wie bspw. den Sprachkursen des LOC.100
Interkulturelle Erziehung in Frankreich? Nicht die Einsichten in die Problemlagen, in das partielle Scheitern der bisherigen Assimilationsstrategie und Integrationspolitik oder positive Vorbilder gelungener Interkultureller Pädagogik fehlen, sondern der Mangel am politischen Willen und die gesellschaftliche Akzeptanz, entsprechende Maßnahmen systematisch und landesweit umzusetzen.101 Worin sind die Ursachen zu sehen? In den 70er- und 80er-Jahren gab es einerseits im Zuge der Antidiskriminierungsgesetzgebung durchaus Ansätze dieser Art. Durch mangelhafte Vorbereitung, bedingt auch durch fehlende Erfahrung, scheiterten jedoch fast alle diese Versuche. Insgesamt wirkte sich das auch negativ auf diese gesamte pädagogische Richtung aus. Zum anderen, und das scheint mir entscheidend zu sein, war diese Richtung in der französischen Öffentlichkeit und Politik seit Ende der 80er-Jahre nicht mehrheitsfähig. Bis heute hat sich daran wenig geändert. Im wissenschaftlichen, pädagogischen und im politischen Diskurs scheinen Begriffe wie „Interkulturell“ oder „Multikulturell“ entwertet. Das Erstarken einer rechtsnationalistischen bis rechtsextremen politischen Opposition in Form der Front Nationale seit 1983 und das Heraufziehen des Dauerkonfliktes zwischen Teilen der französischen Gesellschaft und der im Land lebenden Muslime engen den politischen Handlungsspielraum ein, zwingen den Regierungen jeder Couleur Zugeständnisse ab (so wurde auch von sozialistischen Regierungen in den 90er-Jahren die restriktive Einwanderungsregelung und Einbürgerungspraxis nicht revidiert). Hohe Arbeitslosigkeit und die allgemeine französische Krise entziehen Idealen Interkultureller Pädagogik oder multikulturellen Zusammenlebens jede Grundlage und Anziehungskraft. Seit einigen Jahren befindet sich die französische Schulkultur im Umbruch. Kulturelle und religiöse Diversität erhalten mehr Raum und Anerkennung; dies wird als Zeichen gesellschaftlicher Freiheit verstanden. Allerdings deutlich beschränkt durch den republikanischen Universalismus, wie überhaupt „die republikanische Orientierung dazu tendiert, kulturelle Vielfalt primär als Problem und
100 Die mangelnde Ausbildung der Lehrer für diese Form von Unterricht wurde bereits genannt. Hinzu kommt, dass für viele Maghrebiner früher der zweiten, heute der dritten Generation das Arabische längst nicht mehr die alltägliche Umgangssprache darstellt; diese Maßnahme hat damit ihr Ziel verfehlt. Begründet liegt dies in der sozialen Verachtung, die dem Arabischen (wie auch abgeschwächt dem Türkischen, Portugiesischen und anderen) entgegengebracht, von den Jugendlichen internalisiert und damit geteilt wird. Das ist also weniger ein Argument für die Einstellung spezifischer Förderprogramme für Arabisch, sondern eher für die gesellschaftliche und politische Akzeptanz von Minderheitensprachen. 101 Hormel, U./Scherr, A. (2005): S. 102; Allemann-Ghionda, C. (1999): S. 161
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Konfliktpotential für die republikanische Gesellschaftsordnung darzustellen.“102 Ein tatsächliches Bekenntnis zu Interkultureller Pädagogik und Multikulturalismus ist das natürlich nicht, denn es hat zu sehr die Begrenzung von Vielfalt im Blick. Bezüglich von Werten, die der demokratischen Grundordnung entgegenstehen, bzw. der für Frankreich grundlegenden Trennung von Religion und Politik ist dies noch verständlich. Eine Auseinandersetzung mit anderen Wertvorstellungen und Lebensweisen (wie in der Kopftuchdebatte) erfolgte allerdings nicht.103 Zur Stärkung republikanischen Bewusstseins und Durchsetzung des Sozialisationsauftrages wurde stattdessen die Bürgerkunde (éducation civile oder citoyenneté) – eingeführt bereits 1985 – intensiviert. Die Zielsetzungen lauten: • Bewusstwerdung der Verantwortung des Einzelnen gegenüber den anderen, der Umwelt und den Institutionen bis hin zur generellen Verantwortung des Bürgers, des Citoyen für das Gemeinwesen und gegenüber dem Staat • Bewusstmachung der Gleichheit der Rechte und Wege der sozialen und kulturellen Integration • Die Menschenrechte und Grundlagen der Demokratie sollen ausgehend von einigen Schlüsselkonzepten und Gesetzestexten über Grundrechte und -freiheiten sowie der Beschreibung der Institutionen und Verfahren erarbeitet werden.104 Durch die Thematisierung der Einwanderungsgesellschaft und ihrer Integrationsprobleme wird vorsichtig das Aufbrechen der dichotomen Verengung von einheitlicher Nationalkultur und ethnischer Minderheitskultur versucht. Praxisnah und frei von unnötigem traditionalistischem Ballast französischer Geschichtsmythen soll die Vermittlung grundlegender Werte sein. Der sozialen Realität wird ein Stück weit entgegengekommen, doch Erhalt bzw. Festigung der republikanisch-demokratischen Grundordnung der Gesellschaft stehen unübersehbar im Mittelpunkt dieses Unterrichts.105 Es gibt also Ansätze eines Multiperspektivismus, gespeist aus der Erkenntnis, dass man die europäische Kultur, wie überhaupt das menschliche Zusammenleben, aus verschiedenen Blickwinkeln sehen kann und keiner Kultur automatisch Vorrang gebührt. Aber es bleiben Ansätze, denn letztlich geht es in diesen Schulstunden um die „Vermittlung jener Werte [...], denen der republikanische Universalismus verpflichtet ist.“106 Diese Form von Pädagogik ist nicht pauschal zu kritisieren, bietet sie doch das Potential für die Anerkennung kultureller Vielfalt, auch wenn es sich nur be102 103 104 105
Hormel, U./Scherr, A. (2005): S. 111 Ebd., S. 113 Ebd., S. 110 Die Unterschiede zu Kanada sind dabei sehr feiner Natur. Wie oben gesehen, haben natürlich auch der Multikulturalismus und die Toleranz gegenüber fremden Kulturen ihre Grenzen an den Grundlagen der Demokratie. Allerdings wird nur im Konfliktfall darauf hingewiesen. 106 Hormel, U./Scherr, A. (2005): S. 113
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grenzt entfaltet. Und sie ist keine Defizitpädagogik, die Migrantenkinder (oder andere) mit der Zuschreibung eines besonderen Förderungsbedarfs stigmatisiert; und auch keine moralisierende Didaktik für potentielle Abdrifter ins rechte Milieu. Sie fördert sogar die Demokratisierung der bisher sehr hierarchisch und autoritär geprägten, wenig dialogorientierten Schule. Probleme erwachsen eher in der Praxis. Auch hier zeigt sich ein deutliches Qualifikationsdefizit bei den Lehrern.107 Kontroverse Themen wie das Kopftuchverbot werden daher kaum behandelt. Es fehlt an den didaktischen Mitteln, den Geist der Idee des Staatsbürgerkundeunterrichts tatsächlich zu vermitteln. Vielleicht liegt dieses Scheitern aber auch im Gegenstand selbst begründet und die Schule stößt hier an die Grenzen ihrer Sozialisationsmacht. Aus Hilflosigkeit wird mancherorts die éducation civique auf Schlagworte reduziert: die Republik, ihre Symbole (Flagge, Marseillaise), der Staatspräsident.108
Antirassistische Schulpädagogik Die Einübung antirassistischen und antidiskriminierenden Verhaltens ist an französischen Schulen wesentlich weniger entwickelt als beispielsweise in Kanada. Man beschränkt sich doch oft auf die Vermittlung abstrakter Werte in der Staatsbürgererziehung (citoyenneté). Allerdings gibt es seit 1972 eine beachtenswerte Antidiskriminierungsgesetzgebung und ein vor allem in den 80er-Jahren breit gefächertes zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rassismus und Benachteiligung. Seit 1972 sind Diskriminierungen justiziabel – über die Erfolge ist das Urteil geteilt; die Zahl der Verhandlungen und Verurteilungen ist relativ gering – allerdings hält der Staat an dieser Strategie fest und intensivierte in den 90erJahren die Bemühungen durch die Schaffung einer Expertenkommission zur Ermittlung des Umfangs diskriminierenden und rassistischen Verhaltens und zur Evaluation bisheriger Antidiskriminierungsmaßnahmen. Wesentlich bedeutender in der Umsetzung des Impetus dieser Gesetzgebung kommt zivilgesellschaftlichen Organisationen auf allen Ebenen zu, die von Diskriminierung oder Rassis107 Trotz Aufwertung der Lehrerausbildung war die Lehrerschaft in Teilen auf die Bildungsexpansion und die damit in den Schulalltag einziehende Heterogenität der Schüler ebenso ungenügend vorbereitet, wie auf die Herausforderung einer multiethnischen Zusammensetzung der Schülerschaft. Aufgrund des geringen Stellenwertes Interkultureller Pädagogik in der französischen Bildungspolitik sind entsprechende pädagogische und didaktische Mittel und Ansätze kaum Gegenstand der Lehrerausbildung. Die derzeit favorisierten Konzepte Interkultureller Bildung sehen nicht vor, die Pädagogik zu kulturalisieren. „Die interkulturelle Bildung dient dazu, die Sichtweisen der künftigen bzw. bereits im Beruf stehenden Lehrer zu hinterfragen. Ausgehend von verschiedenen Fragestellungen findet hier eine Arbeit über Identität und Alterität statt, die es erlauben soll, folklorisierende Vorstellungen zu überwinden und zur Erziehung zur Citoyenneté beizutragen.“ Hormel, U./Scherr, A. (2005): S. 121; vgl. auch: Allemann-Ghionda, C. (1999): S. 183 108 Allemann-Ghionda, C. (1999): S. 167
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mus Betroffene direkt unterstützen. Sie leisten Opferberatung, Rechtshilfe und versuchen Konflikte unmittelbar auszugleichen. Zudem wird Jugendlichen bei der Arbeitssuche und bei schwierigem Lebensumfeld geholfen. Antirassismusund Migrationsarbeit ist selbstorganisiert, kommt mit wenigem hauptamtlichem Personal aus und lebt vom überwiegend ehrenamtlichen Engagement. Diese Organisationen sind stolz auf Unabhängigkeit vom Staat und pflegen eine intensive Streitkultur mit Politik und Institutionen. Es gibt vier große AntirassismusOrganisationen: Ligue des droits de l´homme (LHD) – Liga der Menschenrechte; Ligue internationale contre le racisme et l’antisémitisme (LICRA) – Internationale Liga gegen Rassismus und Antisemitismus; Mouvement contre le racisme et pour l’amitié des peuples (MRAP) – Bewegung gegen Rassismus und für Völkerverständigung und SOS Racisme, wobei auf lokaler und regionaler Ebene ihnen noch eine Vielzahl kleinerer Organisationen zur Seite stehen. Ihnen obliegen das alltägliche Engagement gegen Rassismus und Diskriminierung. Die Bildungsarbeit beruht dabei auf dem Grundsatz: Rassismusprävention durch Erziehung zur citoyenneté und zu den Menschenrechten in der Schule, in den Medien und den Stadtteilen und umfasst kontinuierliche Aktivitäten und Kampagnen. Es wird versucht, Effekte indirekter Diskriminierung zu erkennen und zu beheben; Freiwillige wirken als eine Art Schulsozialarbeiter, geben Fortbildungen für Polizisten, professionelle Sozialarbeiter, Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes; sie entwickeln pädagogisches Material zur Verwendung im Unterricht.109 Vor allem die großen Organisationen sind also gut in den Schulunterricht miteingebunden, was auch als Kritikpunkt angesehen werden kann, da Antirassismus und Antidiskriminierung kein integraler Bestandteil der Schulpädagogik ist, sondern eben nur durch externe Stellen in die Schulen gebracht wird. Über die Umsetzungspraxis und Wirkung dieser vielfältigen zivilgesellschaftlichen Projekte und Bewegungen liegen keine verlässlichen Informationen vor. Auch die Gewerkschaften Frankreichs haben sich den Kampf gegen Diskriminierung von Migranten ins Programm geschrieben.110 Erfolg ist der Antidiskriminierungs- gesetzgebung insofern beschieden gewesen, als sich ein gesellschaftlicher antirassistischer Konsens etabliert hat; eine Art gemeinsamen Verständnisses, eine political correctness, rassistisches bzw. diskriminierendes Verhalten in der Öffentlichkeit negativ zu sanktionieren. Die massive reale Benachteiligung von vor allem sichtbaren Minderheiten in vielen Gesellschaftsbereichen – oft implizit und eben nicht strafrechtlich verfolgbar – konnte aber ebenso wenig verhindert bzw. gemildert werden. Zudem flammte Ende der 1990er-Jahre auch wieder ein neo-nationalistischer Diskurs auf, der sich auch auf eine Festigung dieses rechten Wählerpotentials auswirkte.111 So teilen nicht wenige Franzosen (48–60%) die Einstellung, zu
109 Hormel, U./Scherr, A. (2005): S. 115 110 www.rosalux.de/cms/index.php?id=4525 111 Zur Fragmentierung des Parteiensystems vgl. Schild (2005): S. 276ff.
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viele Ausländer würden in Frankreich leben und die Einwanderung sei zu begrenzen, wie dies auch seit den 90er-Jahren geschieht.112 Im Vorgriff sei erwähnt, dass heute die Auflösung dieses, wenn auch nur fragilen antirassistischen Konsenses in der französischen Gesellschaft zu beobachten ist. Der Konflikt zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Franzosen, aufflammender Antisemitismus und Übergriffe gegen Juden (von Teilen muslimischer Jugendlicher) und die Wahrnehmung differenzierten Vorgehens und Beurteilens von Diskriminierungen der unterschiedlichen religiösen Gruppen durch Polizei und Öffentlichkeit haben in vielen Teilen das gesellschaftliche Klima vergiftet. „Den kleinen Gruppen Radikaler auf allen Seiten ist es gelungen, dass die verschiedenen Gruppen nicht mehr nach allgemeiner Gleichheit trachten, sondern nach Gleichheit oder Gleichberechtigung für die jeweilige Gruppe. Jeder will so gleich sein wie die anderen und wacht streng über (angebliche) Ungleichbehandlungen oder Bevorteilungen, anstatt diesen diskriminierenden Blick generell aufzugeben“, so Dominique Sopo, Präsident von SOS Racisme.113
Die Persistenz sozialer Ungleichheit Die gewaltigen Anstrengungen der französischen Bildungspolitik dienten dem Ziel, die soziale Ungleichheit in dem Sinne zu minimieren, dass den Schülern durch eine einheitlich hohe Formalbildung die möglichst besten und eben vergleichbaren Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnet werden. Rein formal betrachtet lassen sich durchaus Erfolge beobachten. Das anvisierte Ziel von 80% Abiturienten pro Jahrgang ist zwar noch nicht erreicht; aber immerhin zwischen 60% und 70%114 (1970 waren es noch 20%)115 verlassen die Schule mit dem höchsten Abschluss. Neben der tatsächlichen Höherqualifizierung der Bevölkerung, vor allem der Mittelschichten und Teilen der ehemaligen Arbeiterklasse, wurden mit dem technischen und beruflichen Abitur zwei Bildungsabschlüsse aufgewertet und dem allgemeinen Abitur gleichgestellt. An der Hierarchie, welche diese Bildungsabschlüsse bildeten, ihrer Ungleichwertigkeit, änderte dies wenig. Nach wie vor genießt das allgemeine Abitur (baccalauréat général) das höchste Ansehen. Von hier aus führt am ehesten der Weg zu den verschiedenen Hochschulen bzw. in die Vorbereitungsklassen der Grandes Ecoles.116 Hier do-
112 Hormel, U./Scherr, A. (2005): S. 107 113 Zimmermann, M. (2006): Ist der antirassistische Konsens in Gefahr?, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, 2/06, S. 83, Hüser, D. (2007) 114 Die Zahlen unterscheiden sich stark in der Literatur, je nachdem, was sie bezeichnen. Zettelmeier (2005) nennt für 2004 61,7% der 17–24–Jährigen, die Abiturprüfungen bestanden haben– hier ist also nicht der Jahrgang Referenzgrundlage, S. 128 115 Lauer, C. (2003): S. 10 116 Ritzenhofen, M. (2005a): S. 19ff.
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miniert der wissenszentrierte Unterricht mit einer abstrakt-formalen Wissensvermittlung (Mathematik, Geschichte, Französisch), ist sehr naturwissenschaftlich geprägt, dennoch mit deutlicher Dominanz bildungsbürgerlicher Lerninhalte unter Vernachlässigung praktischer Kenntnisse und Fertigkeiten. Früher wurde dabei von einem „Imperialismus der Mathematik“ gesprochen, und trotz Modularisierung und Vereinfachung des Schulunterrichts blieb dieses Grundproblem erhalten, so dass „die Noblesse eines Abschlusses […] weiterhin davon ab [hängt], wie viel Mathematik der Absolvent/die Absolventin im Curriculum hatte.“117 Hier werden bestimmte Begabungen allgemeiner Intelligenz prämiert und wirken daher auf die Schülerschaft selektierend. Das allgemeine Abitur eröffnet die meisten beruflichen Wahlmöglichkeiten, es ist daher nicht verwunderlich, dass es von den meisten Schülern angestrebt wird. Nicht wenige wiederholen auf dem collège oder im lycée freiwillig Schuljahre, um den Anforderungen des allgemeinen Abiturs entsprechen zu können. Von deutlich geringerem Ansehen ist das berufliche Gymnasium, nicht aufgrund schlechter pädagogischer Arbeit, sondern weil Berufe dieser Art wenig erstrebenswert erscheinen. Trotz guter Beschäftigungsaussichten im Handwerk ist dieser Bereich wesentlich weniger attraktiv als der öffentliche Dienst. Staatliche Stellen haben bisher nicht wirklich versucht, diese Orientierung mittels Kampagnen und effizienter Beratung zu beeinflussen. Neben dieser internen Hierarchie gibt es eine vielfältige und stets aktualisierte Rankingpraxis der verschiedenen Schulen auf regionaler Ebene. Die Einheitsschule konnte nicht verhindern, dass sich deutliche Leistungs- und Qualitätsunterschiede zwischen den Schulen ausbildeten. In großem Maße hängen diese von der sozialen Umgebung, vom sozialen Hintergrund der Schüler ab, der sich meist räumlich in sozial homogenisierten, daher vertikal hierarchisierbaren Wohngebieten manifestiert. Die formale Gleichheit der Bildungsabschlüsse, wodurch individuelle Begabung damit tendenziell hinter dem Image und der Rankingposition einer Schule verschwindet, wird in der Wirtschaft, im öffentlichen Dienst und auch in der post-sekundären Fortbildung als ungleichwertig angesehen. Die Schule übersetzt damit die sich im segregierten Wohnen ausgedrückte soziale Ungleichheit in real ungleichwertige Bildungsabschlüsse.118 Darüber hinaus führt das Streben nach dem Abitur zur massiven Benachteiligung all jener, die es nicht erreichen. Das Abitur stellt nicht mehr den Königsweg sozialen Aufstiegs und bürgerlicher Lebensführung dar, sondern ist zum Nadelöhr geworden, welches zwingend passiert werden muss. Hieß es in den 60erJahren (als nur etwa 30% der 17-Jährigen noch zur Schule gingen): Büro oder Fabrik, heißt es heute (wo 90% der 17-Jährigen zur Schule gehen): Schule oder
117 Hörner, W. (2004): S. 210 118 Ritzenhofen, M. (2005a): S. 17, siehe auch mit Schwerpunktsetzung auf die Banlieue: Dubet/Laplyronnie (1994): Im Aus der Vorstädte
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Straße.119 Vergleichbar mit dem deutschen Hauptschulabschluss sind niedrigere Bildungsabschlüsse in Frankreich auf dem Arbeitsmarkt angesichts des Überangebots an Abiturienten kaum verwertbar. Bildungsexpansion hat auch hier zur Inflation von Bildungstiteln geführt. Für die Vielzahl an Abiturienten steht keine vergleichbare Zahl qualifizierter Arbeitsplätze zur Verfügung, so dass nicht wenige von ihnen unterqualifizierte Arbeiten annehmen müssen. Ein Aspekt, der das Krisenbewusstsein der Jugend nur noch verstärkt. Zur Beurteilung der Leistungsdifferenzen und damit Ungleichheiten bezüglich von Migranten und deren Kinder gibt es in Frankreich methodische Probleme, diese Gruppen (1–3) quantitativ zu bestimmen. (1) 88% der Schüler sind selbst bzw. wenigstens ein Elternteil in Frankreich geboren, bei (2) 9,8% sind die Eltern nicht in Frankreich, bei (3) 2,2% auch die Schüler nicht in Frankreich geboren.120 Da die meisten Kinder mit Migrationshintergrund wie auch deren Eltern als zweite Generation der maghrebinischen Einwanderer bereits französische Staatsbürger sind, sagen diese Zahlen wenig über die tatsächliche Zusammensetzung der Schülerschaft aus. Die PISA-Studie 2000 ergab signifikante Leistungsunterschiede zwischen diesen drei Gruppen. Generell rangiert auch die erste Gruppe der durchschnittlich Leistungsstärksten nur leicht über dem Durchschnitt aller OECD-Länder und deutlich unterhalb führender Staaten wie Kanada, Finnland, auch Großbritannien oder die Niederlande. Innerhalb Frankreichs sind die Differenzen zwischen den Gruppen 1–3 signifikant (siehe Tabelle 5). Tabelle 5: Leistungsdifferenzen nach Herkunft121 Gruppe 1
Gruppe 2
Gruppe 3
Kompetenzbereich
Lesen
Mathe
Naturwiss.
Lesen
Mathe
Naturwiss.
Lesen
Mathe
Naturwiss.
OECDDurchschnitt
506
504
504
467
474
462
446
456
444
Kanada
538
537
530
539
530
521
511
522
503
Frankreich
512
523
510
471
487
451
434
441
408
Im Vergleich zu Kanada, steht die Leistungsfähigkeit französischer Schüler in allen Bereichen zurück, verweist auf Mängel in der Performanz des Bildungssystems. Mangels Daten kann nicht untersucht werden, ob sich Leistungsschwächen bei Schülern mit Migrationshintergrund konzentrieren und einen wesentlichen Beitrag zum Abschneiden Frankreichs in der Bildungsstudie leisten. Wie schon 119 Ebd., S. 19 120 BMFB (2003): S. 204 121 Quelle: BMFB (2003): S. 198. Die Werte bezeichnen das erreichte Punktniveau in den jeweiligen Kompetenzbereichen.
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erwähnt, werden solche Minderheiten konstruierende Daten in Frankreich nicht erhoben. So lassen sich nur einige allgemeine Bemerkungen machen. Etwa 150.000 Schüler verlassen jährlich ohne Abschluss das Schulsystem; etwa ein Viertel der Schüler hat beim Übergang auf das collège noch spürbare Lese- und Schreibschwächen.122 Die Wirkung der verschiedenen Maßnahmen zur Behebung von Lernschwierigkeiten und Schulversagen sind schwierig zu beurteilen, da es auch hier oft am validen Datenmaterial fehlt. Im Bemühen, die geforderte Abiturientenquote zu erreichen, wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, die Quote der Übertritte auf das lycée zu erhöhen, bspw. durch Einrichtung spezieller Vorbereitungskurse im collège. Diese lösten die früheren berufsvorbereitenden Kurse für die leistungsschwächsten Schüler auf dem collège ab. Die Erfolge sind jedoch gering: Nur 2-3% der Schüler dieser Klassen beendeten auch nur das erste Jahr auf dem lycée.123 Auch in der sozialen Zusammensetzung dieser Vorbereitungskurse zeigt sich die Persistenz von Ungleichheiten trotz Vorschule und einheitlicher Ganztagsschule. Sie ist die gleiche geblieben wie in den früheren berufsvorbereitenden Klassen: ein Sammelbecken für Schüler aus sozial schwachen Familien. Auch die Performanz der ZEP ist schwierig zu evaluieren.124 In jährlichen landesweiten Tests schneiden die Schulen der ZEP deutlich unterdurchschnittlich ab, Wiederholungsraten sind höher, Anteil der Übergänge auf das lycée geringer. Es verhärtet sich der Eindruck eines ambivalenten bis kritischen Bildes. Erfolge scheinen eher Einzelfälle zu sein und auf spezifischen Umständen in der jeweiligen Schulregion zu beruhen. ZEP-Schulen, die das Leistungspotenzial ihrer Schülerschaft deutlich steigern konnten, zeichnen sich unter anderem durch die gegenseitige Unterstützung der Lehrkräfte und die Kohärenz ihrer Aktivitäten, durch eine starke und dynamische Schulleitung, die Betonung schulischer Leistung und eine relativ konstante Schülerschaft und eine damit verbundene pädagogische Kontinuität aus. Mehrheitlich dürften die ZEP von anderen Umständen geprägt sein. Zum schwierigen sozialen Umfeld aus Arbeitslosigkeit, Gewalt, Diskriminierungserfahrungen und problematischen Familienverhältnissen kommen institutionelle Versäumnisse hinzu (auch wenn diese nicht generalisiert werden können). So ist eine relativ hohe Fluktuation der Lehrerschaft (aufgrund der besonders schwierigen Arbeitsbedingungen an den Schulen) ebenso zu beobachten wie eine teilweise Überforderung bzw. unzureichende pädagogische Ausbildung für diese spezifische Aufgabe.
122 Ritzenhofen, M. (2005a): S. 18 123 Dübert, H./Klieme, E./Sroka, W. (Hrsg.) (2004): S. 242 124 Vgl. BMFB (2003): S. 205ff.; Lauer (2003): S. 15ff.; Allemann-Ghionda (1999): S. 133f.
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Muslime und der Islam in Frankreich Dimensionen eines Konflikts In diesem Abschnitt soll das zum Teil angespannte Verhältnis sowohl von Teilen der Muslime als auch der Öffentlichkeit systematisiert werden, auch wenn dem einige Schwierigkeiten entgegenstehen. So gibt es keine sicheren Zahlen über die tatsächliche Größe der muslimischen Population in Frankreich. In der laizistischen Republik werden diese Differenzen in der Religionszugehörigkeit amtlich nicht erhoben. Schätzungen gehen von etwa 3,5-6 Millionen Muslimen aus, was die größte muslimische Gemeinde Europas darstellen würde.125 Darüber hinaus gibt es wenig detaillierte Erkenntnisse über die Lebensweise der gut assimilierten und integrierten Muslime Frankreichs; die Situation der sozial Benachteiligten in der Banlieue beherrscht die Literatur. Die Ausführungen sind daher auf die Konfliktkonstellation sowie die staatlichen und muslimischen Reaktionen bzw. Wechselwirkungen zentriert. Abgesehen davon, dass die Mehrheit der französischen Muslime als unauffällige Mitglieder der französischen Gesellschaft lebt, existiert die öffentliche Wahrnehmung und ein entsprechender Diskurs, dass Islam, Muslime und die französische Kultur und Gesellschaft heute in einem konflikthaften Verhältnis stehen, ohne dass leicht zu bestimmen sei, welche Personen und Gruppen überhaupt darin eingebunden sind und wer auf welcher Seite steht. Sorgen muslimische Zuwanderer fremder Staatsangehörigkeit für Konfliktstoff, weil sie sich der Integration in die französische Gesellschaft entziehen? Ist diese selbst integrationsunwillig? Und auf welcher Seite stehen die Muslime französischer Staatsangehörigkeit, die algerischen Einwanderer und ihre Kinder? Auf beiden vielleicht? Ja und nein, die Beantwortung dieser Fragen und die Schilderung dieses Konfliktes entziehen sich simplifizierenden Aussagen. Von der französischen Gesellschaft kann ebenso wenig gesprochen werden wie von den Muslimen. Nicht oft genug kann betont werden, dass etwa 90% der Muslime in Frankreich sich in die französische Kultur integriert fühlen bzw. integrieren wollen, dass sie die zugeschriebene Differenz aufgrund ihres Glaubens ablehnen, und „nur eine sehr kleine Gruppe (rund 10%) ihre Identität im islamischen Neofundamentalismus oder, zu einem größeren Teil, in einer imaginierten, weil nicht erlebten ‚maghrébinité‘ zu finden versucht.“126 Während also die Mehrheit der Muslime die vorgegebene laizistische Haltung zur Religion akzeptiert, entzündet sich die Ablehnung durch Teile der französischen Gesellschaft einerseits an Aktionen islamischer Extre-
125 Ritzenhofen, M. (2005b), Laizität und die islamische Herausforderung, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Heft 6/05, S. 21 126 Thomas, J. (2002): Laizität, Immigration, Islam in Frankreich, in: Kolboom/ Kotschil/ Reichel, (Hrsg.), Handbuch-Französisch, S. 517
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misten und zweitens an der künstlichen Aufbauschung von scheinbar den Gesetzen der Laizität widersprechenden Vorfällen. Betrachtet man die Genese des Konflikts, zeigt sich, dass er weder im Islam an sich noch in der Herkunftskultur der Migranten begründet liegt. Vielmehr handelt es sich einerseits um soziale Verteilungskonflikte – also Statussicherung, was zur Abdrängung muslimischer Zuwanderer (v. a. Algerier) an den unteren Rand der Sozialstruktur führte; andererseits um Vermeidungsverhalten gegenüber Auseinandersetzungen mit der kolonialen Vergangenheit Frankreichs – auch und gerade mit Algerien und dem Unabhängigkeitskrieg Anfang der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Die folgenden Abschnitte sollen dies etwas verdeutlichen. Aufgrund des Kolonialismus leben seit dem 19. Jahrhundert Muslime in Frankreich; eine nennenswerte Population entstand allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg und der anschließenden Entkolonialisierung in den 50er- und 60er-Jahren. Wenn man sagt, dass ihre Integration damals gelang, so meint dies die Unauffälligkeit ihrer Lebensführung. Die boomende Wirtschaft ermöglichte den Einwanderern wie auch der einheimischen Unterschicht ein erträgliches Auskommen. Die Reaktion der nicht-muslimischen Bevölkerung zeigte sich eher in Formen von Alltagsdiskriminierung, als aggregierte Effekte bspw. in Form segregierter Lebensweise – Entstehung der Banlieue in den 70er-Jahren. Zum den öffentlichen Diskurs und die Politik bewegenden Konflikt zwischen Islam und Frankreich führte das nicht; im Gegenteil. Die 80er-Jahre wurden das Jahrzehnt des Antirassismus, in dem zahlreiche zivilgesellschaftliche und staatliche Initiativen versuchten, der sozialen Benachteiligung der Vorstadtbewohner entgegenzuwirken. Der Angelpunkt, um den sich diese Geschichte dreht, liegt Ende der 80er-Jahre. In diese Zeit wurde der französischen Bevölkerung im Allgemeinen bewusst, dass ihr sorgsam gepflegtes republikanisches Selbstbild der Grande Nation nur mehr oft Fassade einer inzwischen vielfältig differenzierten Gesellschaft gewesen ist, die nun unter den besorgten Blicken zerbröselte und Orientierungslosigkeit und Verunsicherung zurückließ. Patriotische Appelle und Rituale im Zuge der 200-Jahr-Feiern der Französischen Revolution konnten diesen Prozess nur kurz verdrängen. Die öffentliche Artikulation bisher sorgsam verdrängter Aspekte französischer (Kolonial-)Geschichte seitens der ehemaligen Kolonialbevölkerung und ihrer Nachfahren verstärkte krisenhaftes Bewusstsein und panikartige Suche nach neuen sicheren Ufern.127 Dies traf mit dem Erstarken einer islamischen Bewegung zusammen, in der das Berufen auf den Islam als wichtiges Identitätsmerkmal und Akt der Selbstverortung Massenphänomen wurde.128 Die tieferen Ursachen dieser Entwicklung, vor allem der starken Affekte der Franzosen gegenüber den Maghrebinern im Allgemeinen und den Algeriern im Besonderen liegen naheliegenderweise im psychologischen Bereich, verlangen 127 Hüser, D. (2007): S. 22, Veit, W. (2006a): S. 4 128 Kepel, G. (1996): S. 219
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nach einer Untersuchung in einem Analyserahmen, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Nur so viel sei gesagt: Wie in Deutschland die Erinnerung, Schuld und Verantwortung am Faschismus, am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust in den ersten Nachkriegsjahrzehnten tabuisiert, also verdrängt war, handhabten es die Franzosen mit der Kollaboration und der Vichy-Regierung während der nationalsozialistischen Herrschaft.129 Auch die Verbrechen im Bürgerkrieg und der anschließenden Niederlage in Algerien und dem reellen Macht- und Geltungsverlust durch den Verlust des Kolonialbesitzes wurden vielfach negiert. Auf die Bedrohung der kollektiven republikanischen Identität durch soziale Differenzierung, abweichende Erinnerungskulturen und den Eindruck allgemeiner Gesellschaftskrise reagierte ein Teil der französischen Öffentlichkeit abwehrend. In Abgrenzung zu ethnischen oder kulturellen Fremden wird versucht, die kollektive Identität Frankreichs zu stabilisieren. Der Islam und die Muslime, da in großer Zahl Algerier, stellten eine nahe liegende Option dar. „Da aber die Hautfarbe der politisch-intellektuellen Diskussion nicht als Kriterium dienen darf, wenn sie sich nicht des Rassismus schuldig machen will, wird die Religion der Immigranten, der Islam, zu einer Herausforderung hochstilisiert, die die Grundlage der Republik in Frage zu stellen scheint.“130 So entwickelte sich eine hohe Sensibilität gegenüber dem Islam, welche in Folge der Kopftuchaffären (1989, 1993), des Golfkriegs und der Radikalisierung des Islam und der Reislamisierung der Gesellschaft in Algerien zur selben Zeit131 zielsicher zur Eskalation des Konfliktes führte. Die Kopftuchaffäre in Creil 1989, als drei Schülerinnen sich vehement weigerten, den Schleier abzunehmen, kann als Initialzündung verstanden werden, auch wenn es eigentlich eine Bagatelle war.132 Es waren nicht die ersten Fälle dieser Art, und bisher war nie Aufhebens darum gemacht worden. Aus heute schwer nachzuvollziehenden Gründen wurde dieser lokale Konflikt in die Öffentlichkeit getragen und konnte als Exempel fungieren, an dem der Laizismus verteidigt werden sollte. Auf die staatlichen Regelungen bezüglich des Schleiers wird später eingegangen. Hier ist festzuhalten, dass dieser öffentliche Aufruhr von vielen Muslimen als schwere Diskriminierung erfahren wurde. Vergleichbare christliche oder jüdische Symbole hatten nie ähnliche Reaktionen provoziert. Seit Napoleon I. sind Katholizismus, Protestantismus und Judentum als Religionen in Frankreich staatlich akzeptiert und formal gleichgestellt. Somit sind sie alle von der Trennung von Kirche und Staat in gleichem Maß betroffen.133 Un129 Zum Vichy-Regime vgl. Baruch (2000), zur Erinnerungskultur im Nachkriegsfrankreich vgl. Hüser, D. (2005): S. 52 130 Thomas, J. (2002): S. 516 131 Vgl. Kepel, G. (1996): Allah im Westen, Piper Verlag, München, S. 231–251 132 Siehe Kepel, G. (1996): S. 268 133 Zur Entwicklung des Laizismus in Frankreich siehe: Cabanel, P. (2005): Laizität und Religion im heutigen Frankreich, in: Kimmel. A./Uterwedde, H. (Hrsg.), Länderbericht Frankreich
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gleichheiten (wie die staatliche Finanzierung des Personals katholischer Privatschulen und die Sorge um den Erhalt der Kirchenbauten) werden registriert, aber am Status quo wird nicht gerüttelt.134 Der dynamische Islam wird jedoch anders wahrgenommen. Mit Sorge wird beobachtet, wie er vor allem in der Banlieue Identität stiftend wirkt und jenem kommunitaristischen135 Community-Denken Vorschub leistet, welches als Bedrohung der Einheit der Republik angesehen wird. Dabei wurde lange Zeit übersehen, dass diese Effekte durch Betonung der Differenz zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, den Ausschluss der Muslime aus der französischen Gesellschaft in Form unterstellter Integrationsunwilligkeit136 selbst hervorgerufen wurden. Fremdbestimmt wurde den Muslimen eine Identitätskonstruktion übergestülpt, derer sie sich zum Teil zur Kompensation ihrer sozialen Benachteiligung, zur Artikulation von Hass und Ablehnung gegenüber Frankreich oder der gesamten westlichen Welt angesichts des als Demütigung erfahrenen Umgangs des Westens mit Muslimen (Kopftuchaffären, Golfkrieg) angenommen haben.137
Reislamisierung versus Islam à la française Die Realität des Islam ist sehr vielgestaltig. Die innere Heterogenität der islamischen Religion artikuliert sich auch außerhalb der islamischen Welt. Es gibt keine islamische Gemeinschaft in Frankreich, was nicht heißt, dass es keine Ansätze von Gemeinschaftsbildung gibt. Die Form des Islam und ihre Art der Religionsausübung hängen stark vom Herkunftsland und der sozio-kulturellen Stellung der 134 Der Versuch der sozialistischen Regierung 1993 dies zu ändern, führte zu massiven Protesten der Bevölkerung, was zeigt, dass der Katholizismus schon noch als wichtige Stütze der französischen Gesellschaft anzusehen ist. Vgl. Ritzenhofen, M. (2005b): S. 20 135 Kommunitarismus ist eine auf Amitai Etzioni zurückgehende Theorietradition, die sich um die Herausstellung von gemeinschaftlichen Beziehungen gegenüber der liberalen Wertschätzung von Individualismus und Egoismus verdient macht. Ließe sich das mit dem französischen Selbstverständnis noch vertragen, wird in der expliziten Stärkung lokaler Gemeinschaftsbildung und sozialer Bewegungen (dem Werben für wechselseitige Anerkennung und Toleranz) eine Gefahr für die Einheitlichkeit der französischen Gesellschaft gesehen. „Der Kommunitarismus als soziale Bewegung versteht sich damit auch als Propagandist für eine alternative politische Ordnungskonzeption zwischen den Polen eines Laissez-faire-Liberalismus und des ethischen Sozialismus.“ Frankreich ist jedoch genau der zweiten Idee verhaftet. Siehe ausführlicher: Lange, S. (2000): Auf der Suche nach der guten Gesellschaft. Der Kommunitarismus Amitai Etzionis, in: Schimank, U./Volkmann, U. (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsdiagnosen I, Leske + Budrich Verlag, Opladen 136 Das heißt hier Verkehrung der Kausalität. Die soziale Benachteiligung der Bewohner in den Vorstädten wird nicht als Effekt einer kapitalistischen und nationalkulturfixierten Gesellschaft angesehen, sondern bezogen auf den Anteil der Muslime, auf deren mangelnde Integrationsbereitschaft zurückgeführt – bis hin zur Deklarierung des Islam als zentrales Integrationshemmnis. 137 Kepel, G. (1996): S. 297
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französischen Muslime ab. Zusätzlich zeigen sich in der Diaspora Ansätze eines französischen Islam.138 In vielen Bereichen hat sich die religiöse Praxis denen der anderen Weltreligionen innerhalb einer modernen, säkularen Gesellschaft angepasst, bspw. in der langsamen Abnahme aktiver Gläubiger (derzeit etwa 30-40% der Muslime, was nicht wesentlich über der Zahl der aktiven Christen liegt), der Beschränkung der Religion auf die Privatsphäre und damit Unterordnung unter das säkulare Gesellschaftsmodell. Diese Muslime leben einen französischen Islam und unterscheiden sich in Lebensweise und Einstellungen nur unwesentlich von französischen Christen, Juden oder Atheisten. Die produktive Synthese aus republikanischer Staatsbürgerkultur und privater Religiosität ist in vielen Fällen gelungen. Voraussetzung dafür ist die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft als Konsument, als Staatsbürger, Wähler u. dgl. Anders sieht es demnach bei jenen sozial Benachteiligten aus, die sich zwar in unterschiedlicher Intensität die französische Kultur angeeignet haben, denen aber der Zutritt dazu verwehrt wird. Dies muss als gesellschaftliche Negation individueller Identitätsentwürfe verstanden werden. Als Franzose aufgewachsen zu sein oder bestrebt Franzose zu werden, türmen sich Mauern an der Grenze der „guten Gesellschaft“, den Einkaufszentren der Innenstädte, Kultur- und Bildungsinstitutionen und dem Arbeitsmarkt auf; hier erscheint die liberale Republik als „Privatclub ‚weißer‘ Franzosen“ mit schwer zu überwindenden Zugangshürden.139 Diese Negation scheint nach alternativen Identitätsentwürfen zu verlangen. Die jeweiligen Herkunftskulturen können dies meist nicht leisten, da sie in Frankreich nicht existieren. Es gibt eigentlich keine nennenswerte Vergemeinschaftung der Migranten gleicher Herkunftsländer, keine Pflege landestypischer Traditionen und Kulturen. Dafür gibt es innerhalb des Schulsystems kaum Freiräume, das Schulsystem entfremdet jede Generation Migrantenkinder ihrer Elterngeneration durch die Sozialisation französischer Kultur. Denn die Elterngeneration hat nicht wirklich Anteil an der in der Schule vermittelten französischen Kultur, kann sich selbst in diesen Geschichten nicht verorten, da sie sehr an ihrer Herkunftskultur – und einem ethnisch geprägten Islam gebunden bleibt (gilt v. a. für die erste Einwanderergeneration).140 Die Kinder sind, da bereits frühzeitig in das öffentliche Schulwesen integriert, dadurch wesentlich stärker von der französischen Kultur geprägt – werden eigentlich als Franzosen sozialisiert, wie Hormel/Scherr schreiben141 – erleben dennoch die Differenz zwischen Kultur ihrer Eltern und der Frankreichs, die Nichtanerkennung Ersterer und schaffen damit Distanz. So wird bzw. bleibt beides fremd: die kulturelle nicht-französische Her-
138 Thomas, J. (2002): S. 517, Loewe, S. (2005b): Französischer Islam, in: Schmidt/ Doll/ Tekl/ Loewe/ Tauber, Frankreich-Lexikon, S. 529 139 Zimmermann, M. (2005): S. 79 140 Tietze, N. (2003): S. 27 141 Hormel, U./Scherr, A. (2005): S. 102
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kunft der Familie wie auch die Kultur Frankreichs. Betroffene Jugendliche verbleiben daher zunächst in einem labilen Zwischenstadium, sind gleichzeitig und doch jeweils nur zum Teil Dazugehörige und Ausgeschlossene, wie Tietze dies beschreibt.142 Dazugehörig, weil in Wertorientierungen und Verhaltensmustern einheimischen Jugendlichen des gleichen Milieus sehr ähnlich. Fremd, da in der Wahrnehmung der anderen die islamische Religiosität (oder sei es nur die maghrebinische Abstammung) bereits zur Markierung einer Differenz führt. Fremdheit manifestiert sich des Weiteren in der nuanciert differenten Wahrnehmung der französischen Gesellschaft durch Migranten und ihre Nachkommen, da sie automatisch eine andere Sicht auf die Welt ausbilden als Einheimische. Viele könnennn sich so nicht selbstverständlich dazugehörig fühlen, zumal wenn diese abweichende Perspektive von der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert wird; sich die Lebenswelthorizonte von Migranten und Einheimischen nicht wechselseitig durchdringen lassen, was die Anerkennung dieser Form von Heterogenität zur Voraussetzung hat.143 Identität und Zugehörigkeiten auf individueller wie kollektiver Ebene bleiben in diesem Falle ambivalent, fragil. Pluralität und Differenziertheit schließt Identitätsbildung und feste Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen nicht aus; allerdings muss diese Einheit auf narrativ-biographischer Ebene subjektiv konstruierbar und im Alltag praktisch umzusetzen und erlebbar sein. Beides fällt den Betroffenen in diesem Falle schwer, da die disparaten Lebensbezüge und Sozialisationseinflüsse dieser integrierenden Identitätsarbeit widerstreben. Neben dem Verbleib in dieser unangenehmen Zwischenlage gibt es zwei Möglichkeiten, neue Zukunft zu gewinnen. Die beurs haben gezeigt, wie sich auf Grundlage von Exklusionserfahrungen eine soziale Bewegung bilden kann, die vergemeinschaftend und Identität stiftend wirkt, ohne im Kern auf Formeln religiöser Selbstzuschreibung zurückzugreifen. Beurs gilt heute als generalisierte Bezeichnung für die Generation der in Frankreich geborenen Kinder der muslimischen Migranten der 60er- und 70er-Jahre. Ursprünglich handelte es sich jedoch um die Aktivisten einer sozialen Bewegung, die zu Beginn der 80er-Jahre (1983 Marsch von Marseille nach Paris) für ihre Gleichberechtigung, Chancengleichheit und gegen Rassismus und die Anerkennung ihrer Bikulturalität auf die Straße gingen.144 Sie waren nicht Initiatoren, aber doch dynamische Quelle muslimischer Selbstorganisation, die heute ein plurales Netzwerk von Organisationen und Bewegungen umfasst. Sie sind inzwischen politische Interessenvertretung und Partner der Stadtverwaltung, gleichzeitig Unterstützungsnetzwerke ökonomischer wie nachbarschaftlicher Solidarität, auch für Schule und Freizeit, gleichzeitig aber auch wichtigste Kraft sozialer Kontrolle. Dieses Netzwerk füllt jene 142 Tietze, N. (2003): Islamische Identitäten, Hamburger Edition, S. 14 143 Tietze, N. (2003): S. 14 144 Loewe, S. (2005c), Beurs, in: Frankreich-Lexikon, S. 112; Loch, D. (1999): S. 131ff.
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Lücken aus, die der Rückzug bzw. die Ablehnung von Kirchen und Antirassismusorganisationen aus den Problemgebieten hinterlassen haben. Hierin ist alltägliche Glaubenspraxis und damit der säkularisierte Islam fest institutionalisiert. Die zweite Möglichkeit knüpft daran an, provoziert jedoch eine doppelte Konfliktstellung. Indem Organisationen verstärkt den Islam zur Bindung an ihre Strukturen nutzen, befördern sie die Ausbildung einer spezifisch, eben im Wesentlichen religiös motivierten kollektiven Identität und einer Gemeinschaftsbildung, wie sie von der französischen Öffentlichkeit nicht toleriert wird. Eine andere Alternative richtet sich gegen diese Mehrheitsgesellschaft, grenzt sich explizit davon ab, aber auch gegen die säkularisierte Form des Islam, gegen die Institutionen islamischer Zivilgesellschaft selbst. Hier entsteht das radikale und gewalttätige Potential. Es lässt sich also festhalten, dass dieser Konflikt mit religiösem Extremismus in Frankreich zum Teil hausgemacht ist, denn diese Re-Islamisierung erfasst eine größtenteils bereits säkularisierte Generation.145
Die Auseinandersetzung um den französischen Islam: Kopftücher, Imame und Laizismus Dem Staat war von Beginn an daran gelegen, den Islam und die Muslime in die Republik zu integrieren. Wichtig war daher, für administrative Zwecke einen Ansprechpartner zu finden, der als Vertreter der organisatorischen Vielfalt der Muslime legitimiert ist. Das meint nicht Integrationspolitik zur Eingliederung der Muslime in das soziale Leben, sondern die Einbindung der Muslime als Gruppe in die Gesellschaft, um sie für die administrative Ansprache erreichbar zu machen. So sollten die Muslime innerhalb des republikanischen Systems ihren Ort finden. Als ersichtlich wurde, dass viele Muslime dauerhaft diesen Erwartungen nicht entsprachen, sich eben nicht unproblematisch in das republikanische Institutionen- und Gesellschaftssystem integrieren ließen, änderte sich auch das Verhalten des Staates gegenüber den Franzosen muslimischer Herkunft und den muslimischen Zuwanderern, wie die nächsten Abschnitte ausführlicher zeigen werden. Innerhalb der muslimischen Welt in Frankreich hatte sich Ende der 80er- zu Beginn der 90er-Jahre eine „kopernikanische“ Wende ereignet.146 Frankreich wurde nun als Land des Islam (Dar el islam) angesehen, in denen die Muslime ihren Regeln entsprechend leben sollten. Das Streben der Muslime war, sich auf Basis der Selbstorganisation ein politisches Sprachrohr zu verschaffen. Die den muslimischen Muslimbruderschaften nahe stehende Vereinigung islamischer Organisationen in Frankreich (UOIF, Union des organisations islamiques en France) repräsentierte, nach eigenem Anspruch, die Mehrheit der orga145 Loewe, S. (2005c): S. 113 146 Kepel, G. (1996): S. 282ff.
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nisierten Muslime in Frankreich und forderte die Anerkennung der Muslime als Minderheit in Frankreich mit begrenzter Autonomie, um nach den Regeln des Islam, wie sie diese auslegten, leben zu können. Die Reaktionen der Regierung waren zurückhaltend. Beide Seiten sahen sich vereint im Streben, dem Islam in Frankreich einen definierbaren Standpunkt zuzuweisen. Uneinigkeit herrschte über dessen Konkretisierung und die Wege dahin. Man sah sich seitens der Politik einer unübersichtlichen Gruppe islamischer Vertreter gegenüber, die im unterschiedlichen Maße mit Misstrauen bedacht wurden (vor allem die Angehörigen der Moschee in Paris, aber auch die UOIF). Gleichzeitig sah man sich aber von der islamischen Bewegung und dem öffentlichen Diskurs um Kopftücher an den Schulen herausgefordert und getrieben. „Die Anerkennung der islamischen Gemeinschaft wurde zum Einsatz in einem politischen Spiel, ohne dass klar war, wer eigentlich die Mitspieler waren.“147 Staatliche Stellen wollen ungern die Kontrolle über diesen Prozess der Austarierung des Verhältnisses zwischen Islam und französischem Staat verlieren, was in der letzten Konsequenz bedeutet, den Muslimen einen bestimmten Platz zuzuweisen. Daher das hohe Misstrauen gegenüber autonomen Formen der Interessenartikulation bspw. durch die UOIF oder die Moschee in Paris. Besonders bei Letzterer ist der erhebliche Einfluss Algiers gut bekannt. Wichtigstes Bestreben der Regierungsstellen war und ist daher, den französischen Islam auch durch französische Muslime aller relevanten Richtungen vertreten zu lassen. Der Conseil de réflexion sur l’islam en France (CORIF), als beratende Kommission vom Minister für Inneres und Kultus, Pierre Joxe, 1990 geschaffen, und der Conseil français du culte musulman (CFCM), einer vom damaligen Innenminister Sarkozy 2003 gegründeten Vertreterorganisation aller Muslime in Frankreich148, stellen Versuche administrativer Stellen dar, sich die gewünschten Gesprächspartner selbst zu suchen. Natürlich kranken diese dann daran, dass sie von vielen Muslimen des Landes nicht als Repräsentanten angenommen werden. Auch die Gründung eines universitären Instituts für islamische Theologie in Nièvre zur Ausbildung von Imamen in Frankreich dient der Zielsetzung, den Einfluss der arabischen Welt auf die etablierten Imame und Moscheen zu minimieren, und verbindet die Hoffnung, so könnte eine Synthese zwischen westlichen, republikanischen Werten und dem Islam am ehesten realisiert werden. Dies wurde von breiten Teilen der Öffentlichkeit, auch von einigen sonst kritisch eingestellten Intellektuellen und sogar von der UOIF unterstützt, jedoch unter anderen 147 Kepel, G. (1996): S. 270 148 Vgl. Kepel, G. (1996): S. 273, Ritzenhofen, M. (2005b): S. 21. Im Falle des CORIF handelte es sich um eine Kommission aus muslimischen Honoratioren, die für das Ministerium beratende Funktion hatten. Bereits mit dem Golfkrieg gerieten diese jedoch zwischen die Fronten von Muslimen und Staatsräson; nach dem Staatsstreich in Algier 1992 konnte die Zusammenarbeit zwischen CORIF und Ministerium nicht mehr aufrechtgehalten werden. Er löste sich auf. Welches Schicksal und welche Wirkung dem CFCM zufallen, wird erst die Zukunft zeigen.
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Vorzeichen. Sie hoffte, auf diesem Weg die Französisierung des Denkens, der Sprache und der Kultur der Maghrebiner durch die Schaffung einer, wenn auch nur symbolischen, Enklave für die Umma in Frankreich aufhalten bzw. dem entgegenwirken zu können.149 Bis heute hat es mehrere kleine Verbesserungen für das muslimische Leben in Frankreich gegeben (so die Einrichtung muslimischer Abteilungen auf den Friedhöfen, so dass Muslime in Frankreich entsprechend bestattet werden können); eine verbindliche Regelung des Verhältnisses zwischen Islam und französischem Staat oder Gesellschaft steht aber noch aus. Das ist in nicht unerheblichem Maße auf die Radikalisierung bzw. Heterogenisierung auf beiden Seiten zurückzuführen. Im Heraufziehen des neo-nationalistischen Diskurses als Machtfaktor der französischen Politik etablierte sich, wie schon erwähnt, in den 90er-Jahren eine restriktive Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik und nachlassende Kompromissbereitschaft des Staates gegenüber dem Islam. Die Behandlung des immer wieder aufflammenden Kopftuchstreites gibt dafür ein gutes Beispiel. Da jegliche konfessionelle Identifikation in öffentlichen Schulen verbannt ist, scheint die Forderung nach Zulassung von Kopftüchern im Unterricht sogleich eine Frage des republikanischen Konzepts der Laizität. Bezeichnend daher der Aufruf von fünf prominenten (Regis Debray, Elisabeth Badinter, Alain Finkielkraut, Elisabeth de Fontenay und Catherine Kintzler) französischen Intellektuellen: „Die Laizität ist und bleibt aus Prinzip ein Kampf, ebenso wie die öffentliche Schule, die Republik und die Freiheit selbst. […] Die Schüler sollen die Möglichkeit haben, ihre Herkunftsgemeinschaft zu vergessen und an etwas anderes zu denken als das, was sie sind, um selbständig denken zu können. Wenn die Lehrer dabei helfen sollen und die Schule bleiben soll, was sie ist – ein Ort der Emanzipation – dürfen die Zugehörigkeiten in der Schule nicht den Ausschlag geben.“150 Hier wird unterstellt, dass das Zurschaustellen von religiösen Symbolen und somit im Falle des Erlaubens auch die Zugehörigkeit in der Schule dann den Ausschlag geben würde. Nach diesem Verständnis scheint religiöse Orientierung eine potentielle Bedrohung nicht nur für die Schule, sondern auch für die Ideale der Republik darzustellen. Folgerichtig ist dann die Forderung, Schule müsse eine entschiedene, ordnungspolitische Rolle als Schutzfunktion ausüben und ein Ort strikter Neutralität sein. Das generelle Kopftuchverbot reflektiert den historischen Kampf, der in Frankreich seit der Einführung des öffentlichen Schulsystems gegen die katholische Kirche geführt wurde. Laizität war also ursprünglich keineswegs ein Anspruch von Neutralität, sondern eine ideologische Auseinandersetzung zwischen den Werten der Republik, den Traditionen der Revolution und dem Machtanspruch und der Morallehre der katholischen Kirche. 149 Kepel, G. (1996): S. 290 150 Zit. n. Sabine Mannitz, Religion in vier politischen Kulturen, S. 103, Schiffauer/ Baumann/ Kastoriyano/ Vertovec (Hrsg.), (2002): Staat – Schule – Ethnizität
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Da Religion heute in französischen Schulen ausschließlich Thema im Geschichtsunterricht ist, erscheint es eher als ein Beitrag zur Zivilisationsgeschichte denn als möglicher Beitrag zur gegenwärtigen Gesellschaft. Die erste Krise dieser Art (1989) ist durch die oberste Verwaltungsbehörde (Conseil d’état) noch dahingehend entschieden worden, dass Kopftücher als privater Ausdruck von Religionszugehörigkeit auch in der Schule zu gestatten sind, solange sie den Unterricht nicht merklich behindern. Dies stärkte generell die individuelle Freiheit im Rahmen der Wahrung der öffentlichen Ordnung.151 Die erste gesetzliche Regelung dieser Art von 1994 verbot lediglich das Tragen „herausfordernder“ religiöser Symbole. Eine Regelung mit großem Spielraum in der praktischen Auslegung, die allerdings 2003 von Präsident Chirac dahingehend verschärft wurde, als nun offensichtliche religiöse oder politische Symbole aus der Öffentlichkeit zu entfernen waren. Diese Regelungen sind formal natürlich nicht gegen den Islam gerichtet, sondern für den Laizismus, doch ist deren praktische Stoßrichtung offensichtlich. Keiner katholischen Schule droht die Entfernung christlicher Symbolik, ebenso wenig wie das Tragen christlicher Symbole im Alltag davon berührt wird.152 Die Ungleichartigkeit der Symbolik von Christentum und Islam erzeugt hier diskriminierende Effekte. Ein Kreuz kann klein und verborgen unter der Kleidung getragen werden – ein Kopftuch nicht. Das Klima in der öffentlichen Auseinandersetzung hatte sich in der zweiten Amtszeit Chiracs spürbar verändert, die Zeichen stehen – wohl auch unter Sarkozy – weiter stärker auf Konfrontation. Auch die islamische Bewegung kämpft um ihre Einheitlichkeit, UOIF und CFCM um ihre Legitimation, gemäßigte Gruppen gegen Traditionalisten, da durch das Verhalten des Staates islamistische Radikalisierung und Abkehr vom Französischen gefördert wird.153
Fazit In modernen Gesellschaften sind Bildungssysteme jene Agenturen, in denen soziale Ungleichheiten der Herkunft, des Wohlstandes und des kulturellen Milieus bearbeitet – entweder perpetuiert oder vermindert – werden. Die Homogenisierung von Schulleistungen hat Grenzen zumal die französische Gesellschaft auf die leistungsdifferenzierende Wirkung des Schulsystems zur Besetzung der unterschiedlichsten Positionen setzt. In gewisser Hinsicht schafft sich Frankreich seine Probleme im Bildungssystem daher selbst, da es andererseits auch Chancengleichheit im Bildungssystem, sondern möglichst Leistungsgleichheit an des-
151 Kepel, G. (1996): S. 270 152 Ritzenhofen, M. (2004): Republik ohne Schleier, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Heft 1/04, S. 79 153 Vgl. Mönninger, M. (2003): Fatwa Adieu, in: DIE ZEIT 30.04.2003, Nr.19, www.zeit.de
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sen Ende gestellt sehen will. Als normative Zielvorgabe, als leitendes Ideal schulpädagogischen Handelns, der Lehrplangestaltung und des Prüfungswesens ist diese Sichtweise angebracht, wenn nicht sogar wünschenswert. Wenn soziale und kulturelle Heterogenität jedoch im Lichte des normativen Ideals republikanischer Gleichheit als untragbar erscheinen, werden Leistungsdifferenzen und Schulversagen zum Problem.154 Frankreich scheint, folge ich Hormel und Scherr, zwei Fehler zu begehen, die zufrieden stellende Ergebnisse verhindern. Zum einen werden die Grenzen der Beeinflussung in der Schule nicht beachtet. Sie wird mit Integrations- und Sozialisationsfunktionen überfrachtet, da andere Gemeinschafts- und Solidaritätstiftende Institutionen und Bereiche der französischen Gesellschaft diese Wirkung nicht mehr entfalten können, die Gesellschaft ihren Zusammenhalt (im Status quo) aus sich selbst heraus scheinbar nicht mehr bewerkstelligen kann.155 Zweitens wird der Bildungspolitik Halbherzigkeit in der konsequenten Verfolgung ihrer ehrgeizigen Ziele vorgeworfen.156 Strukturell wurden zwar Möglichkeiten geschaffen, auf individuelle oder regionale Probleme und Bedürfnisse flexibel und spezifisch zu reagieren; in Pädagogik und Didaktik, in Inhalt und Struktur der Lehrpläne wurden jedoch kaum Veränderungen vorgenommen, stattdessen wird an traditionellen Bildungsidealen und Unterrichtsmethoden festgehalten. So erfolgte unter Bildungsminister Fillion 2003 die Rehabilitierung des Auswendiglernens, des Frontalunterrichts, der untermauerten Zentralität französischer Sprache, Kultur und Zivilisation.157 Von einer Integrationspolitik, die auf Assimilation beruht, wurde und wird im Wesentlichen nicht abgewichen. Gegenwärtige Reformbemühungen im Bildungswesen streben zwar eine allgemeine Verbesserung der Performanz des Bildungswesens an, indem u. a. die Schüler besser auf das Berufsleben vorbereitet werden sollen und mehr auf die Verwirklichung von sozialer Chancengleichheit erzogen werden soll. Konkrete Programme, die die ethnisch-kulturelle Pluralität Frankreichs thematisieren und pädagogisch-didaktisch angehen, fehlen allerdings.158 Aber das stellt auch nicht das zentrale Problem dar. Was nützen ausgleichende Maßnahmen zur Behebung von Chancenungleichheiten durch das Schulsystem, wenn diese isoliert bleiben, nicht integraler Bestandteil einer gesamtgesellschaftlichen Strategie zur Verringerung sozialer Benachteiligung sind? Hier lassen sich zwar einige Ansätze finden, die bspw. die Wohnungsqualität in den Vorstädten verbessern wollen, sich allgemein gegen die soziale Segregation in den Städten richten. Vermisst wird jedoch ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel, der zur Wahrnehmung und Bekämpfung der vielfältigen Formen von 154 155 156 157 158
Dübert, H./Klieme, E./Sroka, W. (Hrsg.) (2004): S. 290 Hormel, U./Scherr, A. (2005): S. 109 Allemann-Ghionda, C. (1999): S. 138 Ritzenhofen, M. (2005a): S. 17 Vgl. dazu Projet de loi d’orientation pour l’avenir de l’école vom 12.01. 2005, URL: www.internationale-kooperation.de/de/laenderinfo18962.htm
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Diskriminierung sichtbarer Minderheiten im Alltag führt. Die Schule kann nicht als nationale Korrekturanstalt fungieren, wenn die dort hochgehaltenen Werte von Revolution und Republik (Freiheit, Gleichheit und Solidarität) nur begrenzt und mit signifikanten Einschränkungen der alltäglichen Lebenswirklichkeit entsprechen.159 Das soll diese Bemühungen im Schulwesen nicht als nutzlos abstempeln; sie sind ein Anfang, doch sie genügen nicht. Die pädagogische und didaktische Implementierung dieser gesellschaftlichen Problemkonstellation in ihren verschiedenen Dimensionen in den Unterricht wäre ein erster Schritt; doch vom etablierten, national-einheitlichen Curriculum wird nicht abgewichen. Der Bildungserfolg bleibt daher in hohem Maße von den Bildungsaspirationen der Eltern abhängig. Notenvergabe und Bildungsempfehlungen orientieren sich wesentlich daran und nicht nur an den Leistungen der Schüler. So stellt das kulturelle Kapital160 eine wichtige Variable für den Schulerfolg der Kinder dar, und es verwundert nicht, dass eben vor allem Abkömmlinge des Bildungsbürgertums hohe Bildungsabschlüsse erreichen, jene der Einkommensschwachen, der Arbeiter und Arbeitslosen eben niedrige oder gar keine.161 Die Ungleichheitsrelationen zwischen den Schülern ohne Migrationshintergrund haben sich dabei in den letzten dreißig Jahren zweifelsohne verringert, wenn auch nicht im gewünschten Maße. Da genaue Zahlen nicht erhoben werden, können für Schüler arabischer Herkunft diesbezüglich keine Aussagen gemacht werden. Deren Konzentration in der Banlieue und den ZEP (bis zu 55%) gibt jedoch einen Hinweis auf die Problematik dieser Lage. Neben vielen anderen Gründen ist auch die Herkunft dieser Migranten dafür mitverantwortlich. Bei den maghrebinischen, auch afrikanischen Einwanderern der letzten Jahrzehnte handelte es sich in erster Linie um Arbeitsmigranten, die in Frankreich die unterste Stufe der Sozialstruktur besetzten. Es wurde nicht gezielt wie in Kanada die Zuwanderung gefördert, welche eine wirksame Prävention von migrationsspezifischen Integrationsproblemen und Schulversagen darstellt. Und es ist nicht gelungen, die Bildungsferne dieser Schichten im Generationenwechsel zu überwinden, trotz Akkulturation in die französische Kultur die Inkorporation deren kulturellen Kapitals zu befördern. Das traditionelle nationale Curriculum wirkt daher sehr selektiv; Sprachbarrieren erhöhen diesen Effekt. Alltagsweltlich wird das Schulversagen vieler Migrantenkinder längst mit ihrer ethnischen Herkunft erklärt, die Banlieue und 159 De Champris, T. (2003): Wieviel Schule brauchen wir? in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Heft 6/03, S. 10 160 Hier ist in erster Linie das Bildungskapital der Eltern gemeint, welches Sozialisationsumwelt für die Kinder bestimmt. Darin liegt ja die von Bourdieu besonders hervorgehobene Wirkung kulturellen Kapitals: Es reproduziert sich eben nicht nur durch Schulbildung, sondern bewirkt ganz wesentlich bereits die Voraussetzungen für gute Schulleistungen über die vorschulische Sozialisation, welche die Kinder in Kontakt mit Bildungsgütern (Bücher, Musik) bringt, ihnen überhaupt eine anregungsreiche Umwelt bietet. Vgl. ausführlich: Bourdieu, P. (1983): S. 185ff. 161 BMFB (2003): S. 252
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ihre Schulen sowie deren Schüler werden damit nachhaltig negativ stigmatisiert. Wer kann, sucht einen Schulplatz außerhalb dieser Viertel, was die Homogenisierung und Kumulation sozialer Benachteiligung in den Problemschulen verstärkt.162 Der Handlungsbedarf ist enorm, und Ansätze lassen sich zumindest auf institutioneller Ebene finden. So wird versucht, auch in sozialen Brennpunkten Elitegymnasien einzuführen, um das Potential der dortigen Leistungsstärksten (denen oft der Zugang zu Gymnasien außerhalb der Banlieue verwehrt ist) nicht verloren zu geben.163 Im Übergang von der Industrie- zur postindustriellen Gesellschaft ändern sich Produktions-, Arbeits- und Lebensbedingungen, was die Bevölkerung völlig neu in Gewinner und Verlierer dieser Entwicklung einteilt.164 Unter diesen Bedingungen fällt eine neue Selbstvergewisserung Frankreichs schwer. Die übergeordnete Differenz zwischen Profiteuren und Verlierern bisheriger Transformationsprozesse erschwert das Finden eines neuen sozialen Konsenses. Das Referendum zur EU-Verfassung verdeutlicht dies. Für Ja stimmten jene subjektiven und objektiven Gewinner von Europäisierung und Globalisierung. Jene Gutsituierten der Mittel- bis Oberschicht, die von der EU auch weiterhin eher Positives zu erwarten haben. Für Nein stimmten einerseits die sozial Abgehängten, sofern sie überhaupt zur Wahl gingen, und vor allem jene große Gruppe der unteren Mittelschichten und der Unterschicht, die die wirtschaftliche und soziale Verunsicherung spüren, für die Europa eben kein Zukunftsprojekt ist. Sie wollen Schutz vor den Unbilden der Globalisierung, und Europa kann ihnen dies weniger bieten als die Nation, der Staat.165 Grundlegende Reformen sind daher nicht zu erwarten, auch nicht in der Bildungspolitik. Sie ist für jede Regierung wohl die diffizilste Aufgabe, sie provoziert reflexartig Widerstände bei sozialen Fraktionen in der französischen Gesellschaft. Letztlich sollte jedoch das Verständnis dafür reifen, dass mit Schulpolitik allein die sozialen Konflikte vor allem in den Vorstädten nicht gelöst werden können. Die Konzeption des heutigen Laizismus ist natürlich offen für alle Migrantinnen und Gläubige anderer Religionen, doch verlangt dieses Staatsbürgerideal von allen „Neubürgern“ striktes Aufgeben von Bezügen zur Religion in weiten Teilen des öffentlichen Raumes. Weil dies aufgrund von Vorbehalten geschieht, wird Religiosität heute oft als Rückständigkeit gewertet, da Migrantenfamilien Grenzen gesellschaftlicher Anerkennung aufgezeigt werden. Denn „diejenigen, die den Anforderungen der Laizität nicht vollständig entsprechen, stehen außerhalb der Vorstellung von der modernen, zivilisierten und rationalen Gemeinschaft und werden auf dieser Ebene zur marginalisierten Minderheit.“166
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Loch, D (1993): S. 108, vgl. auch Loch, D. (1999) Spiegel Online, 11. Dezember 2005 Vgl. Hüser, D. (2007), Uterwedde, H. (2005a) Uterwedde, H. (2005a): S. 11 Mannitz, S. (2002): Religion in vier politischen Kulturen. S. 108
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Der mehrdimensionale Konflikt mit dem Islam und den einheimischen Muslimen weist er jedoch weit über diese Problematik hinaus und ist Beispiel für reale Globalisierungsprozesse. Dieser innerfranzösische Konflikt steht in ständiger Wechselwirkung mit den globalen Auseinandersetzungen zwischen islamischer und westlicher Welt, der Islamisierung arabischer Staaten, dem fundamentalistischen Terrorismus und den Reaktionen darauf, und nicht zuletzt: dem NahostKonflikt. In den letzten Jahren ist eine spürbare Zunahme von Antisemitismus und Auseinandersetzungen zwischen Juden und Muslimen in Frankreich zu beobachten, vor allem seit der zweiten Intifada gegen Israel 2000.167 Diese Konflikte vergrößern die Attraktivität muslimischer oder gar islamistischer Identitätsentwürfe für die deklassierten Jugendlichen der Banlieue. Soziale und weltpolitische Konflikte haben sich hier auf komplexe Art und Weise ineinander verschränkt; die Lösung ist gedanklich dennoch nicht schwer. Die Mehrheit der Jugendlichen in der Banlieue will vor allem eines: eine lebenswerte Zukunft innerhalb der französischen Gesellschaft.168 Das verweist wieder auf die ökonomische Dimension und Basis des Konfliktes; auf das Dilemma traditioneller Wohlfahrtsstaaten, das erreichte Wohlstandsniveau zu sichern, obwohl die Einflussmöglichkeiten auf ökonomische Prozesse minimal sind.
167 Ritzenhofen, M. (2004): S. 77, Crevel/Wagner (2004): S. 124 168 Vgl. Zitzmann, M.(2006): „Es ist Frankreich, das die Kinder wahnsinnig macht“, Neue Zürcher Zeitung vom 15.06.2006, www.nzz.ch/2006/05/15/fe/articleE3073 .html
Deutschland – das verkannte Einwanderungsland
Das Untersuchungsmuster aus den vorangegangenen beiden Länderstudien wird nun auf Deutschland angewandt. Es ist auch hier wichtig, mit der Analyse der Nationalstaats- und Nationenentwicklung zu beginnen, denn anders als in Kanada und Frankreich geschah dies nicht unter demokratischen Bedingungen und auch nicht auf breiter bürgerlicher Basis (sondern als „Revolution von oben“ der monarchischen Eliten). Das nationale Selbstverständnis ist daher weniger auf die Staatsform oder auf die Bürgergesellschaft konzentriert (wie in Kanada und Frankreich), sondern hatte sich bereits im frühen 19. Jahrhundert unabhängig von der Politik in der kulturellen Sphäre der Gebildeten entwickelt und kreiste sehr um Kultiviertheit und Gebildetsein, wie im zweiten Kapitel beschrieben. Das Nationenkonzept war daher alles andere als formal und universalistisch, auch wenn es in der politischen Auseinandersetzung des Kaiserreiches so verwandt und letztlich zum rassistischen, hypertrophen Nationalismus übertrieben wurde. Anders als in den anderen beiden Ländern ist eine gewisse Fremdenfeindlichkeit dem deutschen Nationalitätskonzept von Beginn an zu eigen gewesen, was Umgang mit und Integration von ethnisch fremden Zuwanderern prinzipiell problematisch werden lässt. Und die weitere Darstellung wird zeigen, wie sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit der Erkenntnis, ein Einwanderungsland zu sein, im öffentlichen Diskurs wie in der Schulpolitik und pädagogik, verwehrt. Auch hier wird den muslimischen (i. e. türkischen) Migranten – als größte Minderheit in Deutschland – und ihren Lebensbedingungen ein gesonderter Abschnitt gewidmet.
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Die verspätete Nation Der lange Weg zum deutschen Nationalstaat Die Geschichtswissenschaft kennt ein Schlagwort, mit dem der deutsche Weg in die Moderne gern bezeichnet wird. Helmuth Plessner bezeichnet Deutschland als „verspätete Nation“1, die einen „Sonderweg“ der Nationalstaatsentwicklung eingeschlagen hat. Während sich in Westeuropa und Nordamerika in der Frühen Neuzeit aus monarchischen Herrschaftsverbänden Nationalstaaten und Nationen herausbildeten, blieb Deutschland ein bunter Flecken einiger großer und vieler kleiner fürstlicher Herrschaften ohne starke Zentralgewalt. Der Prozess des „nation-building“ geht auf die historische Dynamik des Bürgertums zurück. Es nutzte seine ökonomische Macht im heraufziehenden Kapitalismus, um den exklusiven Herrschaftsanspruch des Adels zu brechen. Adel und Bürgertum verschmolzen dabei zu einer neuen Machtelite, es gründete sich bürgerlicher Habitus auf wirtschaftlicher, kultureller und politischer Sphäre. In den deutschen Ländern verlief die Entwicklung anders. Von Kapitalismus und Industrialisierung noch nicht erfasst, von politischer Macht durch Selbsteinschließung des Adels ausgeschlossen, formierte sich der bürgerliche Charakter durch Wertschätzung von Bildung und Leistungsfähigkeit – dennoch nicht nach außen in die Öffentlichkeit gerichtet, sondern nach „innerer“ Bildung von Verstand und Persönlichkeit strebend.2 Bürgerlicher Erfolg und Selbstbewusstsein gründete sich auf universitäre Ausbildung und Entfaltung einer breiten Literaturproduktion. Die deutsche Nation entstand daher nicht als Staats-, sondern als Kulturnation, als Projekt bürgerlicher Künstler und Gelehrte.3 Auf diese Konstellation gründete sich die deutsche nationale Identität. Da ein einheitliches Territorium zur Bestimmung der Grenzen der Nation fehlte, wurde der Nation eine völkische Grundlage gegeben. Die deutsche Nation war Ausdruck des deutschen Volkes und seines Wesens. Zugehörigkeit wurde nicht über das Teilen einer gemeinsamen Geschichte oder die Anerkennung eines bestimmten Wertekanons, sondern allein qua Geburt als Deutscher geregelt. Für Offenheit gegenüber kulturell oder ethnisch Fremden bot diese Konzeption keinen Raum – und angesichts des damit
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Plessner, H. (1974): Die verspätete Nation. Über die politische Verfügbarkeit des bürgerlichen Geistes, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, vgl. auch: Faulenbach, B. (1982): „Deutscher Sonderweg“. Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen geschichtlichen Bewusstseins, in: APuZ B 33/1981, S. 3– 21 Riedel, S. (1994), Vgl. Elias, N. (1997): Über den Prozess der Zivilisation Bd. 1, S. 120ff. Vgl. Sheeman, J. J. (1996): Nation und Staat. Deutschland als „imaginierte Gemeinschaft“, in: Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays. Herausgegeben von Manfred Hettling und Paul Nolte, C. H. Beck Verlag, München, S. 33–45
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verbundenen Überlegenheitsgefühls deutschen Nationalbewusstseins auch keine Notwendigkeit. Diese historische Entwicklung manifestierte eine spezifische Schwäche der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland. Deutsches Bürgertum erreichte nie politische Teilhabe und Verantwortung. Die Nationalstaatsgründung 1871 folgte keiner bürgerlichen Dynamik, sondern dem Machtkalkül Bismarcks. Im Deutschen Kaiserreich verband sich eine obrigkeitsstaatliche, geburtsständisch hierarchisierte und monarchische Staatsverfassung, mit einer halbliberalen Gesellschaftsverfassung und einer kapitalistischen Wirtschaftsverfassung. War es in Frankreich und England der Übergang zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die der Feudalgesellschaft den sozialen Boden entzog und sie als bürgerliche Klassengesellschaft in die Moderne eintreten ließ, so folgte in Deutschland die Industrialisierung dem politisch motivierten Zusammenschluss der deutschen Staaten unter der starken Hand Preußens. Bismarcks Reich kann als Versuch verstanden werden, die monarchische Macht- und Gesellschaftsordnung mit der privilegierten Stellung des Adels unter den modernen Bedingungen kapitalistischer Wirtschaft und moderner Wissenschaft zu erhalten. Und so weitsichtig Bismarck außenpolitisch war und Bescheidenheit dem Deutschen Reich in seinen Ansprüchen auferlegte, so blind war er der inhärenten Dynamik moderner Gesellschaften gegenüber. Natürlich vollzog sich auch im Kaiserreich die Transformation der Agrargesellschaft in eine industrielle Klassengesellschaft. Mit der Arbeiterschaft erschien ein neuer und zahlenmäßig stärkster Akteur auf der politischen Bühne, der von der gesellschaftlichen Teilhabe und der politischen Macht aber weitestgehend ausgeschlossen war. Dieser Konflikt prägte auch andere kapitalistische Gesellschaften. Was ihn in Deutschland besonders und folgenreich machte, war, dass es sich nicht um einen reinen Klassenkonflikt zwischen Arbeiterschaft und gesellschaftlicher (bürgerlicher) Elite handelte, sondern das deutsche Bürgertum tendenziell zwischen den Fronten stand. Trotz der Staatsorientierung, ja Staatslastigkeit des deutschen Bürgertums4 spürte es, wie unzeitgemäß die höfisch-militaristisch geprägte Gesellschaftsordnung, die konservative Enge und Rigidität bürgerlicher Moral- und Wertvorstellungen im Wilhelminismus, der Widerspruch zwischen politischer Macht auf kommunaler Ebene und Machtlosigkeit in Landtagen und Reichstag war. Und dennoch stellte es sich auf die Seite der konservativen Machteliten, da man sich nur davon die eigene Besitzstandswahrung gegen die aufstrebende, als bedrohliche Masse wahrgenommene Arbeiterschaft versprach. Dieser Grundkonflikt sollte für die deutsche Geschichte bis wenigstens 1945 bestimmend sein, denn die Republik von Weimar wie die nationalsozialistische Herrschaft musste zur eigenen Herrschaftssicherung diese tiefen Gräben in der deutschen Gesellschaft überwinden können. Das Kaiserreich und die Weimarer Republik sind daran ge4
Kocka, J., (2000): Bürgertum und Sonderweg, in: Peter Lundgreen (Hrsg.), Sozialund Kulturgeschichte des Bürgertums, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen S. 105
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scheitert, dass es nicht gelang, ein von einer dominierenden Mehrheit akzeptiertes kollektives Selbstbild zu formulieren. Dennoch oder gerade deswegen war der Nationalismus (Chauvinismus, Militarismus, Antisemitismus und Imperialismus) bevorzugtes Mittel, diese Einheit des deutschen Volkes als „imaginäre Gemeinschaft“ zu konstruieren.
Die schwierige Suche einer deutschen Identität Der übersteigerte Nationalismus Mit dem von Bismarck geschaffenen Reich konnte sich deutsches Nationalgefühl erstmals mit einem Staatsgebilde verbinden. Die Transformation von der Kulturnation zu einer zivilisierten Staatsnation gelang jedoch nicht, und nicht weil es den Deutschen an der Fähigkeit oder der humanistischen Tradition mangelte, sondern aufgrund umfänglichen Versagens der politischen und gesellschaftlichen Eliten.5 Trotz seiner kulturell bedeutsamen Leistungen kann das deutsche Nationalbewusstsein zum Zeitpunkt der Reichsgründung als seltsam unausgefüllt bezeichnet werden. Von keiner nationalen Erzählung gespeist, die Selbstbewusstsein und Saturiertheit nähren konnte – kein Stolz auf eine bürgerliche Revolution, republikanische Werte – überhaupt hatte das Bürgertum keinen aktiven Anteil an der Entstehung des Reiches, wurde es doch mit Blut und Eisen geschmiedet, als dass es von unten mit kraftvoller Bewegung herbeigeführt wurde. Nicht die „Ideen von 1789“, nicht die britische Wirtschaftskraft oder die Selbstzufriedenheit stiftende Weltgeltung als Kolonialmacht ruhte im Kern des deutschen Nationalbewusstseins, sondern der Stolz über den erreichten Nationalstaat und mit wachsender Wirtschaftsleistung auch auf dessen Leistungsfähigkeit und Potential. Wie oben schon angesprochen, vollzog sich die deutsche Nationsbildung gegen Ideen und Ideale der Französischen Nation und der britischen Tradition des individualistischen Liberalismus. Die Nation verstand sich als Volk, als Kollektiv und war als Idee und politische Forderung bis ins Kaiserreich Bestandteil liberalen, fortschrittlichen Denkens – als typisch bürgerliches Projekt. Realisiert wurde der Nationalstaat jedoch von oben und stand damit in der Tradition des mittelalterlichen Kriegeradels, der alten Reichsidee und des Gottesgnadentum. Der tiefe soziale Graben zwischen Adel und Bürgertum in den deutschen Staaten und vor allem in Preußen verhinderte, dass bürgerlicher Geist in die politische Führung einzog. Kultur- und Bildungsbeflissenheit, Erwerbstreben und Erfindergeist des deutschen Bürgertums prägten Wirtschaft und Gesellschaft – nur nicht den politischen Betrieb. Wo sich in England und Frankreich Adel und Bürgertum zu 5
Vgl. Stürmer, M. (1998): Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, Siedler Verlag, Berlin; Ullmann, H. P. (1995): Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main
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einer neuen Elite verbanden, Humanismus und Aufklärung selektiv für sich nutzend – indem sie zu Staats-Bürgern wurden –, blieben diese Vorstellungen dem deutschen Adel aufgrund seiner Abgeschlossenheit und unangefochtenen Führungsstellung fremd und darüber hinaus auch weiten Kreisen des Bürgertums aufgrund negativer Erfahrungen durch die Napoleonischen Kriege nicht attraktiv. Deutsches Nationalbewusstsein gründete sich daher auf die Kultur, die inneren Werte des deutschen „Wesens“, auf die Kultiviertheit der Persönlichkeit und der Entfaltung von Innerlichkeit und wurzelte nur in einer relativ kleinen Schicht bürgerlicher Intelligenz ohne breites stadt- und wirtschaftsbürgerliches Hinterland. „Der Geist und das Buch sind [der bürgerlichen Intelligenz] ihre Zuflucht und ihre Domäne, Leistungen in Wissenschaft und Kunst ihr Stolz. Raum für politische Aktivität, für politische Zielsetzung ist dieser Schicht kaum gegeben. Kaufmännische Probleme, Fragen der Wirtschaftsordnung sind, entsprechend dem Aufbau ihre Lebens und ihrer Gesellschaft, Randprobleme für sie.“ 6 Das Selbstbewusstsein des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert liegt in der „Bildung“ des Einzelnen, in seiner Persönlichkeit – und nicht in der Gestaltung der Welt, im Wirtschaftsleben, in der Politik.7 Daher gründeten sich auch die Ideale des deutschen Bürgertums auf die in Wissenschaft und Kunst zu entfaltenden Qualitäten und eben nicht auf wirtschaftliche oder politische Macht und bildeten die soziale Antithese zum Leben und Habitus des herrschenden Adels in Deutschland. „Mit dem langsamen Aufstieg des deutschen Bürgertums aus einer zweitrangigen Schicht zum Träger des deutschen Nationalbewusstseins und schließlich [...] zur herrschenden Schicht, aus einer Schicht, die sich zunächst vorwiegend in der Abhebung gegen die höfisch-aristokratische Oberschicht, dann vorwiegend in der Abgrenzung gegen konkurrierende Nationen sehen oder legitimieren musste, änderte auch die Antithese ‚Kultur und Zivilisation’ mit dem gesamten Bedeutungsgehalt, der dazu gehört, ihren Sinn und ihre Funktion: Aus einer vorwiegend sozialen wird eine vorwiegend nationale Antithese.“8 Auf die als authentischer, „tiefer“ und ehrlicher empfundenen deutschen bürgerlichen Kultur gründete sich bereits vor 1871 deutsches Überlegenheitsgefühl gegenüber den slawischen Nachbarn, Frankreich und England.9 Neben der Kompensation der im Vergleich zu den Weltmächten nachrangigen Machtposition des Deutschen Reiches diente der nach 1900 zur Hybris übersteigerte Nationalismus zur Überbrückung tiefer sozialer Gräben im anachronistischen Gesellschaftssystem des Reiches. Propagiert wurde dieser Nationalismus von konservativ-reaktio6
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Vgl. Elias, N., (1997): Über den Prozess der Zivilisation Bd. 1, S. 120, vgl. auch Münch (1986b): S. 619ff, auch Bollenbeck (1994) beschreibt dies sehr ausführlich, siehe dort Kap. II. 1 Elias, N. (1997): S. 120 Elias, N. (1997): S. 126 Hervorhebungen im Original Vgl. Bußmann, W. (1983): Das deutsche Nationalbewusstsein im 19. Jahrhundert, in: Weidenfeld, W. (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, Carl Hanser Verlag, München und Wien
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nären Kreisen und Publikationsorganen; fest verankert war er aber auch in weiten Teilen des Bürgertums. „Um die Jahrhundertwende stand im bürgerlichen und namentlich im evangelischen Deutschland eine deutliche Mehrheit hinter allem, was als ‚vaterländisch‘, ‚national‘ und der deutschen ‚Weltgeltung‘ förderlich galt.“10 Die den innergesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohende Konfliktkonstellation zwischen Herrschaftseliten und auf politisch-soziale Teilhabe drängenden Gesellschaftsschichten blieb bis 1945 ebenso erhalten wie die Strategie, die Einheit von Volk und Nation mittels übersteigerten antisemitischen Nationalismus der imaginierten Berufung des deutschen Volkes zu imperialer Größe zu bewahren. Mit dem Zusammenbruch 1945 standen die Deutschen auch bezüglich ihrer kollektiven Identität vor einem Scherbenhaufen. Die mythische Beschwörung des deutschen Volkes und die Politik in seinem Namen hatten zur Verwüstung Europas und der Vernichtung der europäischen Juden geführt. Öffentlich konnte sich kein Nationalstolz mehr artikulieren, gab es jedoch nichts, mit dem sich Deutsche positiv identifizieren konnten. Darum sollte der Nationalsozialismus als negativer Bezugspunkt deutscher Politik und deutschen Selbstverständnisses bestimmend für die Bundesrepublik werden. Adenauer begann diesen Weg konsequent, indem er den westdeutschen Teilstaat im Geiste des Internationalismus unter Verzicht eines deklarierten Selbstbildes in die westliche Staatengemeinschaft führte. Von der Regierungspolitik blieb die Frage nach der Identität der Republik unbeantwortet. M. Lepsius sprach 1968 von einer „unbestimmten Identität der Bundesrepublik.“11 An der Einheit der Nation wurde über die deutsche Teilung hinweg festgehalten. Das Verhältnis der Bevölkerung zum westdeutschen Teilstaat – wie auch zur DDR – musste unbestimmt bleiben, da die aktuelle politische Verfasstheit Deutschlands als Provisorium aufgefasst wurde. Der Abschied vom deutschen Nationalstaat und die Emergenz einer neuen Identität vollzogen sich über anderthalb Jahrzehnte und die Jahre des Wiederaufbaus. Für die ersten Nachkriegsjahre ermittelten die amerikanischen Umfragen in den Besatzungszonen eine manifeste Identifikation mit dem untergegangenen Reich, sozialisatorische Prägungen konnten nicht über Nacht abgelegt werden.12 Gleichzeitig prägte sich auch schon ein verbreiteter pragmatischer Umgang mit der neuen Situation aus; das alltägliche Überleben stand im Vordergrund, man besann sich auf die neue Tugenden Fleiß, Ordnung und Disziplin und hoffte, noch einmal davonzukommen. Man kann unterstellen, dass mehr oder weniger latent die Einsicht vorherrschte, dass es auf dem bisherigen Weg nicht weiterginge und sich aus diesem 10 Winkler, H. A. (2002): Der lange Weg nach Westen Bd. 1, Deutsche Geschichte von 1806–1933, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 276 11 Lepsius, R. M. (1967): Die unbestimmte Identität der Bundesrepublik, in: Hochland 60 (1967/68), S. 562–569 12 Von Beyme, K., (1996): Deutsche Identität zwischen Nationalismus und Verfassungspatriotismus, in: Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays. Herausgegeben von Manfred Hettling und Paul Nolte, Verlag C. H. Beck, München, S. 87f.
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Bewusstsein für einen Neuanfang die Legitimität Adenauers Politik speiste. In der Öffentlichkeit und in den internationalen Beziehungen wurde auf neue Begrifflichkeit und Sprachgestus geachtet. Die Öffentlichkeit war hochsensibel für jede Äußerung, die nationalistische Assoziationen zuließ. Begrenzt waren die Möglichkeiten, sich öffentlich positiv über Deutschland ohne einschränkenden Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen zu äußern. So ist erklärlich, dass sich in vielen Deutschen ein ambivalentes Selbstbild entwickelte. Auf der einen Seite ein gewisser Stolz: Demokratie, wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Absicherung, Alltagskultur (Pünktlichkeit, Ordnung, Fleiß), Hochkultur (Musik, Literatur, Geschichte, Bauwerke, Sprache). Auf der anderen Seite blieben Gefühl und Bewusstsein von Scham und Schuld erhalten; verbot die allgegenwärtige Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit eine positive Identifikation mit Deutschland. So stand der Stolz auf die deutschen Tugenden neben der Distanzierung von „typisch“ deutschen Verhaltensweisen und Mentalitäten.13 Ein weiterer Bruch in der kollektiven Identität der Deutschen geht auf den Generationenkonflikt zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration zurück. Der Bundesrepublik wurde mangelnde Vergangenheitsbewältigung und Persistenz jener gesellschaftlichen Strukturen vorgeworfen, die den Faschismus begünstigt hatten, worauf sich eine teilweise heftige Ablehnung des Staates und des Deutschen unter der jungen Generation gründete.14
Die Berliner Republik und die „deutsche Leitkultur“ Dass sich unter Bedingungen der deutschen Teilung keine einheitliche Identität der Deutschen entwickeln konnte, ist leicht verständlich. Und auch die Vereinigung führte nicht schnell zu einer Renaissance gemeinsamer Repräsentationen, denn das wiedervereinigte Volk bildete keine Erfahrungsgemeinschaft15, hatte keine gemeinsame zeithistorische Erfahrung; die Erinnerung und der Bezug auf die gemeinsame Geschichte vor 1945 unterlag in Ost und West unterschiedlichen Interpretationen.16 Wie sehr sich jedoch die Westdeutschen in ihrer Teilstaatlichkeit eingerichtet hatten, zeigt sich daran, dass die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung und Regierungspolitiker glaubten, die Einheit mit einem 13 14 15 16
Weigl, M./Colschen, L.-C. (2001): Politik und Geschichte. S. 64-67 Weidenfeld, W. (2001): S. 36ff. Weidenfeld, W. (2001): S. 42 Die DDR hatte mit Entnazifizierung und dem antifaschistischen Gründungsmythos sehr schnell mit der NS-Vergangenheit abgeschlossen; sie war permanenter Begleiter der DDR-Politik. Das heißt, dass die Schuld an der Katastrophe dem kapitalistischen System und seinen Protagonisten zugeschoben wurde, die in der DDR keinen Platz hatten. Sie konnte sich daher als Volk von Antifaschisten und Widerständlern inszenieren. Vgl. Weidenfeld (2001), auch: Weidenfeld, W./Lutz, F. P. (1992): Die gespaltene Nation. Das Geschichtsbewusstsein der Deutschen nach der Einheit, in: APuZ B 31–32/1992, S. 3-22
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„Weiter so“ bewältigen zu können; sie sahen in der Wiedervereinigung nur die territoriale Erweiterung des bundesrepublikanischen Gesellschaftsmodells. Man trug sich der Illusion hin, dass sich mit der Transformation des westdeutschen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems die dazugehörige Kultur und Mentalität mitverpflanzen ließe und sich somit für Westdeutschland eigentlich nicht viel ändern würde.17 Ungebrochen wirkte das Wohlfahrtsmodell der alten Bundesrepublik bis zum Regierungswechsel von SPD und Grünen fort. „Im Juste Milieu der Kohlschen Republik war der Traum vom Wohlfahrtsstaat, zu dessen Lebenslügen nicht zuletzt die Rentenlüge gehörte, noch immer nicht ausgeträumt.“18 Erst danach wurde grundlegender Reformbedarf des deutschen Gesellschaftsmodells im öffentlichen Bewusstsein akzeptiert. Deutschland war in der Globalisierung erwacht. Im Parlament, den Massenmedien, den Feuilletons und auf den Politikseiten der großen Tageszeitungen entbrannte ein intensiver, teilweise polemischer Reformdiskurs, eine mediale Inszenierung und Prophezeiung des „Niedergangs“ Deutschlands, begleitet von vielfältigen „ultimativen“ Lösungsstrategien. Aufkommen und Erstarken eines in der Bundesrepublik so nicht gekannten Neoliberalismus und einer neuen linken Opposition können als Symptome des Verlustes vertrauter Realität und herrschender Orientierungslosigkeit und Zukunftsungewissheit gedeutet werden. Globalen und lokalen Transformationsprozessen bewusst geworden, ist man in Deutschland nun gemeinsam auf der Suche nach einem neuen Bild von sich selbst, darin der oben beschriebenen Situation in Frankreich durchaus vergleichbar. Aber insofern im Vorteil, als eine ähnlich positiv besetzte und seit Generationen tradierte Identifikationsmöglichkeit wie die Französische Revolution und die Grande Nation in Deutschland nie existierte. Über ein neues, transformiertes Selbstbild der Deutschen kann nur spekuliert werden. Die Wiedervereinigung kann aufgrund differenter Erfahrungs- und Bewertungsweisen nicht Identität stiftend wirken, ebenso wenig, wie sich eine ostdeutsche Teilidentität dauerhaft erhalten wird.19 Die nationalsozialistische Vergangenheit wird allmählich in weiterem Kontext gesehen, so mit der „Entdeckung“ der deutschen Opfer des Krieges (Bombenkrieg) und der Vertreibung (markiert durch die Novelle von Günter Grass Im Krebsgang und unzählige Fernsehdokumentationen aus den Zeitgeschichtsredaktionen im Umfeld des Gedenkjahres 2005). Micha Brumlik spricht in diesem Zusammenhang von einem Anschein „erinnerungspolitischer Torschlusspanik“20. Damit verliert auch das „gespaltene Geschichtsbewusstsein“ der differenten Lebenswirklichkeiten in Ost und West an Relevanz und kann sich die Selbstwahrnehmung neu der deutschen 17 Lepenies, W. (1992): Folgen einer unerhörten Begebenheit. Die Deutschen nach der Vereinigung, Berlin S. 25ff. 18 Thomas, C. (2006): Nervöses Deutschland?, www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=900745 19 Ebd., S. 48ff. 20 Brumlik, M. (2005): Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. S. 7
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Geschichte für ein gemeinsames Verständnis öffnen. Das Interesse daran ist erwacht.21 Unterschwellig bleiben diese milieuspezifischen Traditionen zunächst erhalten, prägen zum Teil noch nachfolgende Generationen, doch liegen Wiedervereinigung und Einheitsfreude inzwischen lang genug zurück, um angesichts neuer Herausforderungen gesellschaftliche Diskurse noch zu präformieren. Wahrscheinlich ist es den Deutschen beschienen, auf eine den Briten, Franzosen oder Amerikanern eigene nationale Identität und Erzählung dauerhaft zu verzichten. Diese haben sich im Übergang zur Moderne formiert und bis heute Kontinuität trotz Veränderlichkeit bewahrt22; Deutschlands Weg in die Moderne führte mehrfach in die Katastrophe. Seit dem tiefen Einschnitt 1945 ist die Zeit zu kurz, und angesichts soziokultureller Differenzierung und des postmodernen Skeptizismus gegenüber holistischen Erzählungen und Ideologien wohl auch endgültig vorbei, in der sich ein Nationalbewusstsein formieren kann. Doch scheinbar ist die Gesellschaft noch nicht so weit. Auch wenn sich der Diskurs um Zuwanderung und Migranten seit dem Regierungswechsel 1998 spürbar entkrampft und liberalisiert hat, werden die Positionen von den politischen Lagern nach wie vor gehalten; repräsentieren sie eine diffuse gesellschaftliche Angst vor Überfremdung, Konkurrenz durch Zuwanderer und Unbehagen mit dem, was konservative Politiker und Publizisten deutsche Leitkultur genannt haben. Die sich im Jahr 2000 daran anschließende und seitdem mehrfach wieder aufflammende Debatte um Leitkultur, Integration und Zuwanderung ist die jüngste Aufführung im Stück der deutschen Selbstvergewisserung und gleichzeitig ein Schritt in Richtung Anerkennung der deutschen Einwanderungsgesellschaft und Ausgleich mit den Migrannten.23 Die rot-grüne Bundesregierung hatte mit bis dato sehr liberalen Vorstellungen für ein Zuwanderungsgesetz 1999 die Reife des Volkes dafür beträchtlich überschätzt, so dass sich Überfremdungsängste wahlkampftaktisch instrumentalisieren ließen (in Hessen). Das Gerangel um politische Macht verhinderte einen konsensuellen Diskurs auf höchster politischer Ebene um die Notwendigkeit von Zuwanderung und deren Integration in die deutsche Gesellschaft und damit die Veränderung dieser Gesellschaft. Erst jetzt hat sich die Einsicht in die Notwendigkeit von Zuwanderung (einschließlich einer Änderung in der Semantik, mit der wir Einheimische und Frem21 Fuhr, E. (2005): Eine neue deutsche Selbstwahrnehmung, in: Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte 3/2005, S. 24 22 An Frankreich wurde es bereits deutlich, und für die USA und Großbritannien ist es eine offene Frage, inwieweit die unübersehbare multiethnische Zusammensetzung der Gesellschaft nicht auch eine grundlegende Transformation dieser Muster der Selbstwahrnehmung erzwingt. 23 Vgl. Tibi, B. (2001): Leitkultur als Wertekonsens, Bilanz einer missglückten deutschen Debatte, in: APuZ B 1-2/01; Oberndörfer, D. (2001): Leitkultur und Berliner Republik, Die Hausordnung der multikulturellen Gesellschaft ist das Grundgesetz, in: APuZ B 1–2/01; auch: Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland 2005: S. 177ff.
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de bezeichnen, denn die fremden Zuwanderer von heute sind in Anbetracht demographischer Entwicklungen die Deutschen von morgen), mehr und mehr durchgesetzt. Die „Leitkulturdebatte“ als Reaktion auf den weltweiten islamischen Fundamentalismus, der die Auseinandersetzung mit der deutschen muslimischen Minderheit erst beförderte, kann jedoch bisher als vertane Chance angesehen werden, ein zeitgemäßes Bild von der deutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts in der öffentlichen Wahrnehmung zu entwickeln.24 „In der Gesamtbilanz wurden von den politischen und akademischen Gegnern des deutschen Multikulturalismus exotische Auswüchse des amerikanischen Kommunitarismus benutzt, um die Bemühungen der deutschen Multikulturalisten für die politische Integration von Fremden in die Gesellschaft Deutschlands zu kritisieren.“25
Die Deutschen und das Fremde In der knappen Darstellung der Entwicklung des deutschen Nationalbewusstseins ist deutlich geworden, dass kulturell oder ethnisch Fremde darin höchstens die Rolle eines negativen Abgrenzungsobjektes bzw. Gegenstands kollektiver Überlegenheitsartikulationen spielen. Vor allem der Antisemitismus war integraler Bestandteil des deutschen Nationalismus26, bis hin zum Holocaust im Nationalsozialismus. Neben der historischen und ideologischen Komponente hatte der Antisemitismus auch eine soziale; ist er, wie andere Formen von Fremdenfeindlichkeit auch, Symptom sozialen Stresses und Anomie-Erfahrungen in Zeiten schnellen sozialen Wandels.27 Konkurrenzverhältnisse in weiterführenden Bildungsgängen (in denen Juden überrepräsentiert waren) und sozialer Neid gegenüber der relativ sicheren sozialen Lage jüdischer Mittelschichten28 beförderten die Etablierung des Antisemitismus im deutschen Bürgertum, auch und gerade im Bildungsbürgertum. Elitepositionen in Verwaltung, Politik und Militär blieben ihnen verschlossen, akademische Laufbahnen wurden massiv behindert. Ein glühender Antisemitismus kann nicht verallgemeinert werden, doch auch jenseits dessen herrschte die Einstellung vor, dass zur Akzeptanz jüdischer Bürger deren vollständige Assimilation an die deutsche Kultur d.h. der Verzicht auf alle 24 Vgl. Geis, M. (2004): Vom Gastarbeiter zum Schläfer, in: Die Zeit Nr. 17, 15.04.04, www.zeit.de/2004/17/04_zuwand_vsp_hz_txt?page=all 25 Oberndörfer, D. (2001) 26 Spezifisch deutsch war der Antisemitismus nicht, sondern allgemeines Merkmal der europäischen Moderne (als Beispiel: die Dreyfus-Affäre in Frankreich 1896). 27 Zu Geschichte des Antisemitismus und des Judentums in Deutschland siehe: Weiss, J. (1998): Der lange Weg zum Holocaust. Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und in Österreich, Propyläen Taschenbuch, Ullstein Verlag, Berlin; Volkow, S. (1994): Die Juden in Deutschland 1780-1918, R. Oldenbourg Verlag, München; Alter, P./Bärsch, C. E./Berghoff, P. (Hrsg.), (1999): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, Wilhelm Fink Verlag, München 28 In vielen deutschen Städten leisteten die jüdischen Bürger, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, ein überdurchschnittliches Steueraufkommen.
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Merkmale, die sie als Juden identifizierte, unverzichtbar sei. Die Einbeziehung der Fremden in die deutsche Mehrheitsgesellschaft konnte nur durch deren Invisibilisierung gelingen. Seit 1900 bis zum Ende der Weimarer Republik radikalisierten sich antisemitische und offen rassistische Programmatik und politische Rhetorik im gesamten rechten Spektrum.29 Die oben schon beschriebne Kontinuität in den Sozial- und Konfliktstrukturen zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik führte auch die Mittel gesellschaftlicher Konfliktaustragung fort; und damit die relativ leichte Verfügbarkeit antisemitischer und xenophober Feindbilder. Begrenzt war diese Empfänglichkeit nicht nur auf rechtskonservative Kreise, sondern reichte weit in die etablierte Mittelschicht, in die Geistlichkeit und das Bildungsbürgertum und bildete ein wichtiges Potential für die Wählerrekrutierung der NSDAP. Unter dem deutschen Chauvinismus hatten nicht nur die Juden, sondern auch die slawischen Minderheiten in den preußischen Provinzen und im Sudentenland zu leiden. Xenophobe Einstellungen existierten vor dem Weltkrieg gegen Franzosen ohnehin und teilweise zum Hass übersteigert auch gegenüber Engländer. Kriegsniederlage und Demütigung durch den Versailler Vertrag bestärkten diese Ressentiments eher, als es der Bevölkerung während der Weimarer Zeit gelang, ein Auskommen mit den westeuropäischen Nachbarn zu finden.30 Auch wenn dies generelles Merkmal moderner Nationalstaaten war; in Westeuropa und Nordamerika gelang dennoch schrittweise die Demokratisierung von Politik und Gesellschaft. Warum nicht in Deutschland? Eine solche Erklärung kann nur multikausal sein und an dieser Stelle nur kurz umrissen werden. Im Vergleich mit Kanada und Frankreich, aber ebenso mit den USA, Großbritannien oder anderen europäischen Staaten springt eine abweichende soziale Konfiguration ins Auge – die Schwäche und später die Staatsuntertänigkeit des deutschen Bürgertums. In Deutschland gab es keine, dem bürgerlichen Habitus entsprechende Umgestaltung von Staat und Gesellschaft, da der Adel und bürgerliche Eliten bis 1945 die wichtigsten Einflusspositionen und -chancen behaupten konnten. Bürgerlicher Geist zog erst 1918 in die deutsche Regierungspolitik ein und hatte letztlich im permanenten Sperrfeuer von den autoritär gesinnten Linken und Rechten keine Durchsetzungschance. Hieran wird das vielleicht zentrale Problem deutlich: der Mangel einer starken liberalen Tradition nicht nur in Kultur und Geistesleben, sondern auch in entsprechend geprägten Sozialmilieus und Lebenswelten. Der Liberalismus zählte stets, 1815, 1848, 1878, 1933, zu den Ver29 Vgl. Weiss, J. (1998): Kap. 15, auch: Winkler, H.-A. (1991): In den Jahren vor dem Weltkrieg herrschte in der deutschen Öffentlichkeit eine paranoide Furcht vor der „slawischen Gefahr“, die von Russland mit seinen unerschöpflichen Ressourcen und dem Panslawismus ausgehen sollten. Vor dem Krieg steigerte sich dies fast zur Hysterie; auch die Propaganda der NSDAP griff diesen Topos auf. Vgl. Fischer, F. (1969): Krieg der Illusionen, Kap. 17 30 Winkler, H. A. (1991): Nationalismus, Nationalstaat und nationale Frage in Deutschland seit 1945, in: APuZ B 31/1991, S. 13
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lierern der Geschichte; und er ist keine genuin deutsche Tradition. In der Philosophie der Aufklärung und des deutschen Idealismus wurde der britische Liberalismus zwar rezipiert und bspw. in der deutschen Klassik von Schiller und Goethe im Sinne eines neuen Humanismus fruchtbar gemacht (dem Geist entstammen auch die Bildungsideale Humboldts), allerdings formierte sich der bürgerliche Habitus in Deutschland nicht jenem Unternehmergeist des bourgeois. Aller wirtschaftlichen Kraft und Vitalität, allem Forschergeist zum Trotz, hielten sich Ressentiments gegen den bourgeois, gegen Wirtschaftsliberalismus und Profitstreben; blieb das Wirtschaftsbürgertum, der klassische Mittelstand in der Statushierarchie hinter dem Bildungsbürgertum, den Angestellten, Beamten und Gelehrten positioniert. Letztlich, wie dargestellt, solidarisierte sich die Mehrheit des Bürgertums zwischen 1871 und 1945 gegen die Aufstiegs- und Partizipationsbestrebungen der Arbeiterklasse mit den adligen und großbürgerlichen Eliten. In Deutschland war die innere Spaltung zwischen Elite und Masse ebenfalls ausgeprägter als in vergleichbaren Ländern. Sie provozierte teilweise paranoide Furcht aufgrund der ihr zugeschriebenen Kraft und Wildheit, die das bestehende Gesellschaftssystem hinwegfegen würde, könne sie nicht aufgehalten werden. Somit hatte auch der Klassenkampf in Deutschland eine besondere Schärfe.31 Für die vorhandenen Ansätze liberalen Denkens mangelte es einer hinreichend starken gesellschaftlichen Trägerschicht, die deren Geist inkorporieren und verbunden mit wirtschaftlichem Erfolg und zivilgesellschaftlichem Engagement zu gesellschaftlicher Dominanz hätte führen können. Stattdessen setzte sich die romantische Volkskonzeption Herders durch, ebenso Fichtes hypertropher Idealismus und die Apologie der bürgerlichen Gesellschaft preußischer Prägung durch Hegel. Rassentheorien und sozialdarwinistisches Denken (Gobineau, Le Bon)32 fanden in der Öffentlichkeit und Politik starke Resonanz und bestärkten die Motivation, der scheinbar natürlich gegebenen Macht und Größe des deutschen Wesens, seiner Bestimmung zur Hegemonie gegen alle Widerstände durchzusetzen. „Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer
31 Bekämpft wurde jedoch die Arbeiterbewegung, SPD und später KPD. Den Arbeitern als Individuen oder soziale Gruppe wurden viele Anstrengungen des Bürgertums, der politischen Führung auf allen Ebenen zuteil, den Lebensstandard und die Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft zu heben – durchaus erfolgreich (erhebliche Lohnsteigerungen, Sozialversicherungssystem). Vgl. Schildt, G. (1996): Die Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert, R. Oldenbourg Verlag, München, S. 91f. 32 Vgl. Herman, A. (1997): Propheten des Niedergangs. Der Endzeitmythos im westlichen Denken, Propyläen, Berlin: Teil 1
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deutschen Weltmachtpolitik sein sollte“, so Max Weber in seiner Antrittsvorlesung in Freiburg 189533. Widersprechende, kontrollierende und korrigierende Stimmen waren allzeit zu schwach.
Einwanderungsgeschichte Wie kaum ein anderes europäisches Land hat Deutschland Wellen der Aus- und Einwanderung erfahren. Bereits im 19. Jahrhundert konnte der Arbeitskräftebedarf der expandierenden Industriewirtschaft nur durch Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften gedeckt werden. Sie kamen überwiegend aus Italien und (Süd-)Osteuropa. In der Generationenfolge gelang ihnen die Integration in die deutsche Gesellschaft, wurden sie zu Deutschen – nur die Namen erinnerten an eine fremde Herkunft. Während des Zweiten Weltkriegs wurde eine große Zahl an Zwangsarbeitern nach Deutschland gebracht; nach dem Krieg herrschte zunächst ein Chaos dieser „displaced persons“34 und heimatvertriebenen Deutschen aus den Ostgebieten35. Die Restabilisierung der Sozialstruktur gelang unter den günstigen Bedingungen des Wirtschaftswunders relativ konfliktfrei. Es gab keine nennenswerten, sich dieser Differenz bedienenden sozialen Verteilungskonflikte36. Wie lange es u. U. dauern kann sich in deutschen Regionen heimisch zu fühlen, ist u. a. im süddeutschen Raum nach wie vor anschaulich. Gleiches gilt für die rund 3 Millionen DDR-Bürger, die zwischen 1950-1961 nach Westdeutschland umsiedelten. Von Fremden im eigentlichen Sinne kann hier ohnehin nicht gesprochen werden. Die für die Gegenwart maßgebliche Zuwanderung erfolgte in der Nachkriegszeit. Zwischen 1955 und 1966 schloss die Bundesrepublik zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs Anwerbeabkommen mit folgenden Staaten ab: Italien (1955), Spanien/Griechenland (1960), Türkei (1961), Marokko (1964), Tunesien 33 Max Weber, Antrittsvorlesung in Freiburg, zitiert Fischer, F. (1969): Krieg der Illusionen, S. 70 34 Der Terminus umfasst ehemalige Kriegsgefangene und Zwangs- bzw. Fremdarbeiter nicht-deutscher Herkunft auf deutschem Staatsgebiet, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren wollten. 35 Zu den Vertriebenen, Kriegsrückkehrern etc. vgl. als kurzen Überblick: Glaser, H. (1997): Deutsche Kultur 1945-2000, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, Kap. Im dunklen Deutschland 36 Als Anzeichen für die Integration von Vertriebenen ist der Bedeutungsverlust des Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BDE) zu sehen, der bis Mitte der 50er-Jahre eine ernstzunehmende politische Kraft in der Bundesrepublik und Mitglied der Regierungskoalition unter Adenauer war. 1957 verpasste die Partei den Wiedereinzug in den Bundestag und verschwand daraufhin allmählich von der politischen Bühne. Vertriebene integrierten sich in großer Zahl in die Wählerschaft von CDU/CSU. Vgl. Winkler, H.-A. (2005): 184. Zur Integrationskraft des „Wirtschaftswunders“ siehe Glaser, H. (1997): Kap. Das Land der großen Mitte, bes. S. 210ff.
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(1965), Jugoslawien (1966).37 Die sich an den Ölpreisschock anschließende Wirtschaftskrise 1973, die erst in der Rückschau als wirkliches Ende der dauerhaften Prosperitätsphase erkannt wurde, brachte den bis zur Neuregelung des Zuwanderungsgesetzes geltenden Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte.38 2,5 Millionen Menschen waren bis 1973 in die Bundesrepublik gekommen.39 Deren Situation als Gastarbeiter war wenig gastlich. Fast ausschließlich besetzten sie die unteren Positionen in der Tätigkeitshierarchie in Industrie und Landwirtschaft, bildeten den Rücken, auf dem sich der kollektive Aufstieg der deutschen Arbeiterschaft in die Mittelschicht vollzog. Ihnen war nur ein beschränktes Bleiberecht zugebilligt. Sie wohnten in gesonderten, unangemessenen Wohnanlagen, das von der Bundesregierung erdachte Rotationsprinzip, nachdem ein Arbeitnehmer nach einem Jahr in seine Heimat zurückkehren sollte, um durch einen anderen ersetzt zu werden, fand kaum Anwendung. Für die Industrie stellte es beständig Verlust von Bildungskapital dar, das jeweilige Neuanlernen verursachte unnötige Kosten. Aufenthaltsgenehmigungen wurden daher von den Ausländerbehörden still und umstandslos um jeweils zwei Jahre verlängert.40 Integration war dennoch nicht vorgesehen, man ging von der Rückkehr der Arbeitskräfte aus. Wirtschaftskrise und steigende Arbeitslosigkeit enthüllten dies als Illusion, Rückkehr in die Heimatländer blieb von geringem Umfang. Aus politischen, sozialen und moralischen Gründen schreckte die Bundesregierung vor einer Zwangsrückkehrregelung zurück und sah sich nun dem Problem gegenüber, dass man „Arbeitskräfte geholt hatte, aber Menschen gekommen waren“41. Wie haben sie sich in die deutsche Gesellschaft eingefügt? Geographisch konzentrieren sich die Zuwanderer auf die urbanen Zentren und Industrieregionen der westdeutschen Bundesländer und (West-)Berlins. 70% der ausländischen Schüler leben heute in NRW, Baden-Württemberg, Hessen und Bayern.42 Die Verteilung der Zuwanderer auf die wichtigsten Herkunftsländer ist der Tabelle 6 zu entnehmen. 37 Ghadban, R. (2003): Reaktionen auf muslimische Zuwanderung in Europa, in: APuZ 26/03, S. 30 38 Auch das neue Zuwanderungsgesetz behält den Anwerbestopp für gering- und nichtqualifizierte Arbeitnehmer prinzipiell bei. Es existieren Ausnahmeregelungen für Selbständige und größere Aufnahmechancen für Hochqualifizierte. 39 Wichard, R. (1996): Migration und Migrationspolitik: Deutsche Erfahrungen – europäische Perspektiven, in: Coburn-Staege, U./Zirkel, M. (Hrsg.), (1996): Interkulturelle Erziehung in Deutschland, Großbritannien und Italien, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, S. 8 40 Bischoff, J./Teubner, W. (1990): Zwischen Einbürgerung und Rückkehr. Ausländerpolitik und Ausländerrecht der Bundesrepublik Deutschland, Hitit Verlag, Berlin, S. 46f. 41 Max Frisch, zitiert nach Bischoff, J./Teubner, W. (1990): Zwischen Einbürgerung und Rückkehr, S. 48 42 Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland 2005, S. 50
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Tabelle 6: Herkunftsländer der Zuwanderer Herkunft
In 1.000
In %
Türkei
2054
28
Ehem. Jugoslawien
1118
15
Italien
616
8
Griechenland
363
5
Polen
292
4
Österreich
186
3
Portugal
133
2
Spanien
130
2
Ehem. UdSSR
118
2
Großbritannien
113
2
Zwischensumme
5.123
70
Gesamt
7.344
100
Herkunftsländer der Zuwanderer (Ende 1999, in %)43 Entsprechend der Stellung der ehemaligen Gastarbeiter in der Berufsstruktur gliederte sich die überwiegende Mehrheit der Zuwanderer in die unteren Etagen der Sozialstruktur ein, die sie – trotz gewissen Statuszuwachses – bis heute ebenso mehrheitlich nicht verlassen haben. Zwar gibt es keine Lohndiskriminierung, doch aufgrund größerer Haushaltsgrößen und durchschnittlich höheren Anteils an ungelernten Arbeitern als unter den Deutschen, liegt das Pro-Kopf-Einkommen deutlich unterhalb des Durchschnitts (2000: bei 77%).44 So ist nach wie vor die Wohnungssituation schlechter, kleinere Wohnungsgrößen, hinzukommen größere Gesundheitsrisiken aufgrund belastender und schwerer körperlicher Arbeit. Das Arbeitslosigkeitsrisiko liegt höher als im deutschen Durchschnitt, aber ist in etwa vergleichbar mit der Situation einheimischer Angehöriger der Unterschicht. Darüber hinaus offenbaren sich jedoch erhebliche Differenzen in den Lebenslagen der Zuwanderer, die sich nur grob an der Herkunftsregion festmachen lassen. Weiter unten wird die Bildungsbenachteiligung näher dargestellt, von der am stärksten italienisch– und türkischestämmige Kinder und Jugendliche betroffen sind. Migranten, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, bzw. deren nachfolgenden Generationen ist in Teilen ein beachtlicher sozialer Aufstieg gelungen, sei es durch Erreichen qualifizierter Bildungsabschlüsse oder innerhalb des selbständigen Mittelstandes. Allerdings werden die untersten Berufspositionen der an- und ungelernten Arbeiter und des einfachen Dienstleistungspersonals heute von den nicht- bis gering-qualifizierten Arbeitskräften und neuen Zuwanderern aus Süd-/Ost-europa besetzt, nicht selten außerhalb des legalen Beschäftigungssystems. 43 Böcker, A./Thränhardt, D. (2003): Erfolge und Misserfolge der Integration – Deutschland und Niederlande im Vergleich, in: APuZ 26/2003, S. 10 44 Geißler, R. (2002): Die Sozialstruktur Deutschlands, Westdeutscher Verlag, Opladen, S. 297
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Der Verbleib der Gastarbeiter in Deutschland, der Schulbesuch ausländischer, des Deutschen nicht mächtiger Schulkinder schufen für Bundes- und Länderregierung einen dringenden Handlungsbedarf. Die Integrationspolitik der Bundesregierung bestand, nachdem in sozialen Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften und Schulen erheblicher Druck aufgrund der alltäglichen Schwierigkeiten mit den Migranten entstanden war, in der Betonung der Rückkehr-Option und einer Verschärfung der Regelung für den Familiennachzug. Ein klassischer Abwehrreflex gegenüber einer Realität, die nicht wahrgenommen werden wollte. 1977 formulierte die Regierung Schmidt auf Grundlage eines Kommissionsberichts neue Richtlinien für die Ausländerpolitik, die eine ambivalente Mischung aus prinzipieller Ablehnung und pragmatischer Anerkennung dieser Realität darstellten. Trotz Einsicht in die Notwendigkeit weiteren Zuzugs ausländischer Arbeitskräfte für die heimische Wirtschaft wurde am Diktum: „Deutschland sei kein Einwanderungsland!“ festgehalten. Das Bemühen um die Integration und Sicherung des rechtlichen Status der Zuwanderer stand neben der Förderung der Rückkehrbereitschaft und –fähigkeit.45 Bei diesem unentschlossenen Hin und Her, der rhetorischen und politischen Ablehnung von Zuwanderung und Integrationspolitik und dem Versuch, auf pragmatischer Ebene dem Status quo gerecht zu werden, ist es bis zum Ende der Regierung Kohl im Wesentlichen geblieben. Die vom Beauftragten der Bundesregierung für ausländische Bürger und ihre Familien geforderte Anerkennung des Status als Einwanderungsland und die zu ziehende Konsequenz, wirksame Integrationsstrategien zu entwickeln, wurden von der sozial-liberalen Koalition, wenn auch ungenügend, umgesetzt, bevor mit dem Regierungswechsel diese Ansätze verkümmerten und zurückgenommen wurden. Deutschland sei kein Einwanderungsland, so der Tenor und die Zuwanderer – unabhängig von ihrer Aufenthaltsdauer – hatten die Wahl zwischen Rückkehr und Assimilation. Der Zwischenstatus des langfristigen Verbleibs mit sicherer Aufenthaltsgenehmigung wurde 1982 abgeschafft46; die Problematik blieb fortwährend im politischen und öffentlichen Diskurs, der als Diskurs um das nationale Selbstverständnis zwischen konservativ-bürgerlichen und links-alternativen, liberalen Milieus gelesen werden kann. Die Konfliktlinie lief zwischen dem Festhalten an nationalen kollektiven Identitätsmustern und der Präferenz für transnationale Identifikationen, verbunden mit einem liberalen Multikulturalismus. Mehrheitsfähig war Letzteres nicht. Auch jenseits xenophober Ressentiments hatte sich in den Jahrzehnten in weiten Teilen der Bevölkerung ein Bewusstsein von der deutschen Nachkriegsnormalität herausgebildet, im Wesentlichen auf christlichen und deutschen Tugenden beruhend. Schon im Generationenkonflikt mit der Achtundsechziger spielte dieser Habitus als Grenzmarkierung und Konfliktauslöser eine Rolle; erst recht markierte er die Grenzen der Zugehörigkeit 45 Bischoff, J./Teubner, W. (1990): S. 50 46 Ebd., S. 54ff.
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und damit die Gruppen der Fremden (wovon natürlich Muslime, also Türken und Araber, stärker betroffen waren als Zuwanderer europäischer Staaten). Dieser unreflektierte Sozialcharakter wurde von der Regierung Kohl ebenso entschieden verteidigt, wie das oben beschriebene etablierte, diffuse Selbstverständnis der Bundesrepublik, unabhängig davon, ob das Land, worauf es sich bezog, überhaupt noch existent war. So war vor allem eine Änderung im Staatsbürgerrecht als wirksames Integrationsangebot nicht mehrheitsfähig. Das ius sanguinis des Reichs- und Staatsangehörigkeitsrechts von 1913 behielt prinzipiell Gültigkeit. Damit konnten nur Kinder deutscher Abstammung deutsche Staatsangehörige werden.47 Erst in den 90er-Jahren und vollends erst mit dem jüngsten Zuwanderungsgesetz wurde von diesem, dem Geist des Wilhelminischen Nationalismus atmenden Gesetz, abgegangen, welches jedoch typisch und bezeichnend für den Umgang der Deutschen mit Heterogenität und mit Fremdheit war. Recht, alltäglicher Umgang, Wahrnehmungsformen und Semantik betonten stets die Differenz zum Fremden. Erst mit Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes zum 1. Januar 2000 wurde vom ius sanguinis zugunsten des ius soli abgegangen.48 Fortan erhielten all jene Kinder ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sie in Deutschland geboren sind, und ein Elternteil mindestens acht Jahre in Deutschland lebte und über eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung verfügte. Allerdings müssen sich die Kinder mit Erreichen der Volljährigkeit zwischen der deutschen und der nicht-deutschen Staatsangehörigkeit entscheiden. Für Einbürgerungswillige hat die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts einige wesentliche Erleichterungen gebracht. Sie erwerben bereits nach acht Jahren rechtmäßigen und gewöhnlichen Aufenthalts einen Einbürgerungsanspruch, wenn sie über einen verfestigten Aufenthaltsstatus verfügen, sich zur freiheitlichen und demokratischen Grundordnung bekennen, ihren Lebensunterhalt für sich und ihre Familienangehörigen bestreiten können und nicht vorbestraft sind. Auf rechtlicher Ebene ist damit der Abschied von der Angst gegenüber dem Fremden zumindest ein Stück weit vollzogen. Das Beispiel Frankreich zeigt aber, dass die Staatsangehörigkeit für Diskriminierungen unerheblich ist, solange diese sich an sichtbaren Merkmalen des Fremdseins anheften kann.
47 Vgl. Cramer, A., (1997): Deutschland als Aus- und Einwandererland. Soziopolitische Handlungsspielräume und Reaktionen im Hinblick auf bestimmte Gruppen von Zuwanderern, in: Nassehi, A., (Hrsg.), Nation, Ethnie, Minderheit. Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte, Böhlau Verlag, Köln, S. 245 48 Vgl. www.zuwanderung.de/2_Staatsangehoerigkeit.html, Informationen des Bundesministeriums des Inneren
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Das Schulsystem – Gleichheitsfiktion und soziale Selektivität Die Struktur des deutschen Schulsystems Das öffentliche Schulwesen verfügt in Deutschland über eine längere Tradition als das der anderen europäischen Länder. Anfänge einer allgemeinen Volksbildung liegen in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Allgemeine Preußische Landrecht (1794) definiert Schul- und Universitätsbildung bereits als staatliche Aufgabe, die nicht ohne Genehmigung des Staates durchzuführen sei.49 Allerdings blieb das Schulwesen in den deutschen Ländern bis ins 20. Jahrhundert weitestgehend in der Hand der christlichen Konfessionen, bis 1918 konnte aus den unterschiedlichsten Gründen keine für das Reich einheitliche Schulgesetzgebung verabschiedet werden, so dass sie in der Verantwortung der Bundesstaaten blieb.50 So blieben die allgemeinbildenden Schulen in Deutschland größtenteils Konfessionsschulen. 95% aller protestantischen Kinder und 90% aller katholischen Kinder besuchten im Kaiserreich jeweils die Schule ihrer Konfession.51 Die Übernahme der Kompetenzen für den Schulbetrieb durch die öffentliche Hand geschah schrittweise, beginnend in der Weimarer Republik, endend mit dem Grundgesetz 1949, welches ein öffentliches Schulwesen vorsieht, gleichfalls aber auch den Religionsunterricht festschreibt. Strukturell etablierte sich von Beginn an ein Dualismus aus Volks- und Elitebildung (Volksschule und Gymnasium). Elementarbildung war kostenlos und ab 1909 auch verpflichtend; das Gymnasium lange Zeit entgeltpflichtig und daher sozial hochselektiv.52 Aufgrund gestiegener Nachfrage nach technisch- und naturwissenschaftlich gebildeten Arbeitskräften differenzierte sich die Sekundarbildung durch Einführung des Realgymnasiums, dem nun das neuhumanistische Gymnasium als Hort deutschen Bildungsgutes mit Konzentration auf alte Sprachen und Geschichte gegenüber stand.53
49 Tenorth, H.- E., (2000): Geschichte der Pädagogik, Juventa Verlag, Weinheim und München, S. 142 50 Lundgreen, P. (1981): Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick Teil 2, S. 15-20 51 Wehler, H. U. (1995): Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 4, Verlag C. H. Beck, München, S. 1194, siehe auch Tenorth, H.- E. (2000): S. 144 52 Vgl. Wehler, H.-U. (1995): S. 1203ff.; s. a. Grüttner, M. (1995): Studenten im Dritten Reich; erst ab 1908 wurden auch Mädchen zum Studium zugelassen, S. 109 53 Es ist zu bemerken, dass dieser Differenzierungsvorgang der Vergrößerung und Differenzierung der Mittelschichten im Kaiserreich entsprach, Bildungsexpansion (die sich dann auch in steigenden Studentenzahlen bemerkbar machte) mit Strukturwandel der Mittelschichten konform ging.
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Abbildung 2: Verteilung der Schülerzahlen Schüler im 8. Schuljahr nach Schulart in Detuschland
100% 90%
15
80%
7
17
23
27
30
28
29
11
70%
21
60%
Gymnasien
50% 40%
78
5 72
30%
Realschulen IGS+Walddorf
10
Hauptschule
56 41
20%
34
10% 0% 1952
1960
1970
1980
1990
Verteilung der Schülerzahlen auf Schultypen 1952–199054 (in %) Die allgemeine, achtjährige Volksschule deckte die Schulpflicht ab; der Zugang zum Gymnasium war den Abkömmlingen des Bürgertums vorbehalten, auch wenn er inzwischen kostenlos war. Abbildung 2 gibt die Verteilung der Schülerzahlen wieder. Das Bildungssystem stellte ein Abbild und Reproduktionsmuster der geschichteten Gesellschaftsstruktur dar. Bildungssystem, Berufsstruktur und kulturelle Diskurse griffen ineinander und erhielten die privilegierte Stellung bürgerlicher Mittelschichten. Dem stand die Fiktion einer egalitären Mittelschichtsgesellschaft55 als meritokratisches System der Chancengleichheit und des sozialen Ausgleichs gegenüber, deren Realitätsgehalt im tatsächlichen sozialen Aufstieg und Wohlfahrtsgewinn für weite Teile der Arbeiterschaft bestand. Die Relation von Ungleichheitsverhältnissen blieb davon unberührt, entsprechend die Bildungsbeteiligung, die von Georg Picht in einem Aufsehen erregenden Artikel „deutsche Bildungskatastrophe“ genannt wurde. Dadurch entfachte intensive Debatten in Politik und Öffentlichkeit mündeten in die Bildungsreformen der 60erund 70er-Jahre, die das erklärte Ziel hatten, regionale, konfessionelle und soziale Unterschiede im Bildungssystem abzubauen, um dem Gleichheitsideal gerecht zu werden und das „Bürgerrecht auf Bildung“ zu verwirklichen.56 Strukturell wurde an der Dreigliedrigkeit des Schulsystems (nach einer allgemeinen vierjährigen Grundschule57) und seinen institutionalisierten Selektionsmechanismen festgehalten, obwohl bereits der Bildungsrat 1968 anders lautende
54 Daten entnommen: BMFB (2001), 15. Sozialberichterstattung des Deutschen Studentenwerks, S. 58 55 Vgl. Geißler, R. (2002): S.114f. 56 Vgl. Gotschall, K./Hagemann, K. (2002): Die Halbtagsschule in Deutschland: Ein Sonderfall in Europa?, in: APuZ B 41/2002, S. 12ff. 57 In Bremen und Berlin dauert die Grundschule inzwischen bis zum Ende der 6. Klasse.
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Empfehlungen gemacht hatte. Daraufhin wurde zwar die Gesamtschule eingeführt, die genau jene Selektion verhindern sollte, allerdings konnte sie sich außerhalb der SPD-geführten Bundesländer nicht etablieren und auch dort die bisherige Struktur nicht ersetzen; ihr Anteil an der Schülerzahl überstieg nirgends 10%.58 Wirkliche Strukturreformen im deutschen Schulwesen hat es daher kaum gegeben. Im Wesentlichen ist es bei der Halbtagsschule geblieben, die die Kinder nachmittags in die Familien (oder wenigen Hortangebote) entlässt. Sie ist auf den Unterricht, auf die Wissensvermittlung ausgerichtet; zum Bildungssystem gehören weder Kindergarten noch eine Vorschule. Schule beschränkt sich auf den Unterrichtsauftrag und ist viel stärker auf die Familie als Sozialisationsumfeld angewiesen, als es in anderen Ländern der Fall ist. Kindergarten und Vorschule existieren als Angebot, wurden jedoch – wie letztlich auch die PISA-Studie feststellt – vor allem im Kleinkindalter unzureichend angenommen.59 Erst in allerjüngster Zeit kommt die Debatte um Ganztagseinrichtungen, Zweigliedrigkeit und Integrierten Gesamtschulen wieder in Fahrt.
Soziale Herkunft und Bildungserfolg Migrantenkinder unterlagen von Beginn an der deutschen Schulpflicht; ihre Berufschancen sind damit wesentlich vom Durchlaufen des deutschen Schulsystems abhängig. Die Vermutung ist nahe liegend, dass sie größeren Schwierigkeiten gegenüberstehen als deutsche Kinder – die in erster Linie durch Sprachunterschiede und den kulturellen Herkunftskontext erklärbar sind. Die Häufung von Schulversagen der Migrantenschüler (vor allem türkischer Herkunft), und deren überproportionale Verteilung auf Haupt- und Sonderschulen ist in den letzten Jahren vielfach dokumentiert und regelmäßig Gegenstand der Berichterstattung in den Printmedien, so dass sich der Eindruck eines Effekts systematischer Benachteiligung im deutschen Schulsystem aufdrängt. Bei näherem Hinsehen ergibt sich ein differenzierteres Bild. Zuerst lassen sich drei Ursachenkomplexe vonein58 Geplant waren 15-30% zum Ende der 70er-Jahre. Vgl. Gotschall, K./Hagemann, K. (2002): S. 19. Die dezentrale Zuständigkeit der Bundesländer für die Schulbildung verhindert – bis heute – große nationale Reformversuche des Schulwesens. Jeder Ansatz kann durch falsches Traditionsbewusstsein bzw. gewollter Beibehaltung der bestehenden Selektionswirkung durch die Schule torpediert werden. In süddeutschen Ländern wurde die Einführung von Gesamtschulen dadurch umgangen, dass formal alle drei Schularten in einem gemeinsamen Gebäude als eine Institution zusammengefasst, in der Praxis jedoch getrennt weitergeführt wurden. 59 Vgl. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland 2005, S. 41 In einigen neuen Bundesländern wurde auf die Einrichtung der Hauptschule verzichtet, dort gibt es nur Realschulen und Gymnasien. Die Anzahl der Kindergartenund Hortplätze ist, trotz massiver Schließungen, immer noch höher als in Westdeutschland, ebenso die Besuchsquoten – Auswirkungen auf das gesamtdeutsche Schulsystem, auf die praktische Bildungspolitik hatte dies letztlich aber keine.
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ander trennen. 1. den sozio-kulturellen Hintergrund der Schüler; die Stellung der Herkunftsfamilie in der Sozialstruktur, in der alltagskulturellen Differenzierungen folgenden Milieustruktur und damit der jeweiligen typischen Lebensführung und -orientierung (die wesentlichen Einfluss auf die Ausbildungsstrategien haben); und 2. Mechanismen innerhalb des Schulsystems (institutionalisierte Selektionsmechanismen und pädagogische Ansätze), die soziale Ungleichheiten ausgleichen oder eben stabilisieren oder gar verstärken können; 3. kann dieser Effekt auf eine latente (d.h. nicht institutionalisierte und offiziell nicht legitimierte), aber systematische Diskriminierung der Einwanderer in relevanten Gesellschaftsbereichen zurückzuführen sein. Abbildung 3: Schulbesuchsquoten
Schichtspezifische Schulbesuchsquoten in Deutschland 200060 Abbildung 3 zeigt die Verteilung der Schüler auf die verschiedenen Schultypen in Abhängigkeit ihrer sozialen Herkunft. Die obere Dienstklasse entspricht dabei dem oberen Drittel der Sozialstruktur (Oberschicht und obere Mittelschicht), untere Dienstklasse, Routinedienstleister dem mittleren Drittel, Facharbeiter, Unund Angelernte bilden das untere Drittel, wobei die Facharbeiter noch Berührungen zur Mittelschicht haben und sich teilweise auch selbst dazurechnen. Selbstständige finden sich auf allen Ebenen, tendenziell jedoch eher in der Mittel- und Oberschicht. Aus der Abbildung geht eine relative Gleichverteilung des Realschulbesuchs sowie ein deutlich schichtspezifischer Zusammenhang zwischen Gymnasial- und Hauptschulausbildung hervor. Kinder aus einkommensstarken Haushalten sind auf Gymnasien überrepräsentiert; Kinder aus einkommensschwachen Familien auf den Hauptschulen. Zahlen aus der 15. Sozialberichterstattung des deutschen Studentenwerks verdeutlichen, wie sehr der Bildungs60 Hradil, S. (2001): Soziale Ungleichheit in Deutschland, S. 154
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erfolg der Kinder vom Bildungsniveau der Eltern abhängig ist. 58% aller 17-18 Jährigen (in den alten Bundesländern) haben Väter, deren höchster Schulabschluss der Hauptschulabschluss ist; und immerhin 33% davon besuchen das Gymnasium. Lediglich 17% haben Väter mit allgemeiner Hochschulreife als höchstem Bildungsabschluss, allerdings besuchen 89% davon die Klassen der Sekundarstufe II.61 Hier wird schon deutlich, dass der Bildungserfolg der Eltern und damit kulturelles Kapital, Lebensstil und Lebensstrategien für die Ausbildungsbiographie der Kinder wichtiger sind als der rein ökonomische Status; denn obwohl die Selbstständigen überwiegend zu den Besser- bis Sehrgutverdienenden gehören, zeigen sie keine entsprechend starke Präferenz für höhere Bildungswege. Aus dieser makroskopischen Perspektive ist der deutliche Zusammenhang zwischen sozialer Positionierung in der Unterschicht, d.h. geringes ökonomisches Kapital, mangelnde innerfamiliäre Akkumulation von Bildungskapital und dem überproportionalen Besuch der Schüler von Haupt- und Sonderschulen ersichtlich. Auch die Daten der PISA-Lesestudie haben erneut darauf verwiesen, dass ein wesentlicher Effekt der deutschen Schule auf Benachteiligung oder Bevorzugung durch Herkunftsmilieus hinausläuft. Nirgendwo ist die Kluft zwischen den besten und den schlechtesten Leistungen der Schüler derart groß wie in Deutschland, und nirgendwo ist die soziale Herkunft einflussreicher. Abbildung 4: Schulabgänger 45 41,3
40,8
40 35 28,8
Prozent
30 25
Oh n e A bsch luß
25,1
24,1
Hauptsch ule Realsch ule
19,5
20
Fach h sr. A llg. Hsr.
15 10
8,2
9,5
5 1,4
1,3
0 Deutsche
Ausländer
Deutsche und ausländische Schulabgänger nach Abschlussart 2002 (in %)62 Jürgen Oelkers weist daraufhin, dass ein hoher Bildungsgrad der Eltern in herausragender Weise die intellektuelle Entwicklung des Kindes maßgebend beein61 BMFB (2001): 15. Sozialberichterstattung des Deutschen Studentenwerks, S. 67 62 Quelle: Datenreport 2004, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 68
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flusst und dass somit kein großer Unterschied zur Erkenntnis einer Studie von M. Zergiebel aus dem Jahre 1913 zu erkennen sei.63 Diese Verteilung lässt die Hypothese zu, dass Kinder ausländischer Herkunft auf Haupt- und Sonderschulen deutlich über-, auf weiterführenden Schulen deutlich unterrepräsentiert sind und wesentlich häufiger niedrigste bzw. keine Schulabschlüsse erreichen. Alle verfügbaren Daten bestätigen diesen Befund. Abbildung 3 zeigt, dass diese Schüler wesentlich häufiger die Schulzeit ohne Schulabschluss bzw. mit Hauptschulabschluss beenden als Schüler deutscher Herkunft. Dieser allgemeine Befund verlangt nach Binnendifferenzierung, denn der Pluralität der sozialen Lagen der verschiedenen ethnischen Gruppen kann im Rahmen einer allgemeinen Betrachtung nicht gerecht werden. Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass sich hinter diesen akkumulierten Zahlen für das Bundesgebiet deutliche Länderunterschiede verbergen. 1990 haben in Bremen 42% aller Migrantenschüler den Realschulabschluss erreicht, 14,6% die Hochschulreife; in Nordrhein-Westfalen waren es 33,5% und 8,1%, in Bayern und Baden-Württemberg entsprechend 25,1% und 6,9%.64 Die Gründe können in der unterschiedlichen Verteilung der Zuwanderer auf die Bundesländer liegen, wie auch in unterschiedlicher Bildungspolitik und schulpädagogischen Ansätzen. Dem kann hier nicht detailliert nachgegangen werden; es sollte nur der Blick dafür geschärft werden, dass Zahlen und Aussagen, die sich auf das Bundesgebiet beziehen, nur den Wert einer durchschnittlichen Charakterisierung haben. Tabelle 7: Ausländerpopulationen Grundschule
Hauptschule
Realschule
Gymnasium
Gesamtschule
Deutsche
33,7
11,1
12,7
22,7
5,5
Türken
45,3
20,6
8,0
5,4
7,8
Jugoslawen
41,2
23,4
8,9
8,0
6,2
Italiener
40,9
25,9
9,3
6,2
5,5
Griechen
40,2
23,2
10,7
11,4
5,4
Portugiesen
40,7
23,1
10,3
8,9
5,6
Spanier
38,3
14,8
13,0
15,7
8,4
Aufgliederung der Ausländerpopulationen nach Schultypus (1999/2000)65 Hier zeigen sich auch deutliche Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen. Die beiden Tabellen lassen erkennen, wie stark der Schulerfolg zwischen ausgewählten Herkunftsländern schwankt, und identifizieren Kinder mit italienischer und türkischer Herkunft als Problemgruppe. 63 Oelkers, J. (2006): Gesamtschule in Deutschland, S. 96 64 Zentrum für Türkeistudien, (1994): Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, S. 233 65 Steinbach, A./Nauck, B. (2004): Interkulturelle Transmission von kulturellem Kapital in Migrantenfamilien, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Heft 1, S. 24
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Tabelle 7 gibt die Verteilung der Schülerzahl nach Herkunft auf die Schultypen wieder, Tabelle 8 den jeweils erreichten Schulabschluss. Tabelle 8: Abschlüsse Deutsche
Italiener
Spanier
0,7
17,9
12,6
10,7
- ohne beruflichen Abschluss
8,6
38,2
37,7
22,9
- mit beruflichem Abschluss
42,8
28,7
32,2
30,4
- ohne beruflichen Abschluss
1,7
2,9
2,1
4,3
- mit beruflichem Abschluss
26,0
6,9
9,5
17,0
- ohne beruflichen Abschluss
1,2
1,3
1,0
2,8
- mit beruflichem Abschluss
7,3
2,0
1,4
4,7
Hochschulabschluss
11,8
2,0
3,5
7,1
Kein Abschluss
Türken
Hauptschule
Realschule
Abitur
Schulische und berufliche Abschlüsse nach ethnischer Herkunft (in %)66 Das durch diese Datenlage gezeichnete Bild verschließt sich einfachen Erklärungen. Religion oder Herkunftskultur als wichtigster Faktor scheidet aufgrund der vergleichbaren Situation italienischer und türkischer Schüler aus. Größere Erklärungskraft scheint die soziale Herkunft, Ausbildungsgrad und Sprachfähigkeit der Migranten zu sein. Sowohl die italienischen wie türkischen ,Gastarbeiter‘ kamen überwiegend aus den ländlichen und rückständigsten Regionen ihrer Heimatländer (Süditalien des Mezzogiorno; Anatolien)67, stehen daher der urbanen, (bildungs-)bürgerlichen Lebensweise besonders fern. Daten des sozioökonomischen Panels belegen für türkische Migranten deutliche Qualifikationsunterschiede (siehe Tabelle 9), v. a. in der Sprachfähigkeit und der Berufsausbildung. Tabelle 9: Sprachkenntnisse Deutsche
Türken
EUAusländer
Ehem. Jugoslawien
Aussiedler 78
Deutschkenntnisse
-
52
75
59
Kein Schulabschluss
2
19
11
21
7
Haupt-/Pflichtschule
47
65
63
63
73
Realschule
27
10
11
10
10
Gymnasium
25
7
15
7
10
Berufsausbildung
65
36
40
51
59
Sprachkenntnisse und Bildung von Deutschen und Zuwanderern 2001 (in %)68 66 Kristen, C. (2003): Ethnische Unterschiede im deutschen Schulsystem, in: APuZ 21–22/03, S. 28 67 Schmalz-Jacobsen, C./Hansen, G. (Hrsg.), (1994): Ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Lexikon, Verlag C. H. Beck, München, S. 512 (Türkei) und S. 230 (Italien) 68 Datenreport 2004: S. 578
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Angehörige der Unterschicht und Zuwanderungspopulationen in weiterführenden Bildungswegen deutlich unterrepräsentiert sind. Die makroskopische Analyse konnte dafür die Kontextbedingungen beleuchten, die jedoch nicht als kausale Faktoren zu verstehen sind. Ebenso indirekt wirken die institutionalisierten Selektionsmechanismen (Bildungsempfehlung nach der Grundschule, Abschlussprüfungen am Ende von Sekundarstufe I und II). Sie bewirken keine unrevidierbaren Weichenstellungen; das differenzierte Bildungssystem weist zwar formal eine hohe Flexibilität auf, die mehrfach Möglichkeiten des Auf- oder Abstiegs bietet (bis hin zum zweiten Bildungsweg der Abendschulen, der ebenfalls zum Abitur führt). Doch faktisch determiniert der erste Übergang im Schulsystem von der Grundschule in die Sekundarstufe I den weiteren Bildungsverlauf in hohem Maße, da Schulalltag, Unterrichtsform und -inhalte sowie Unterstützungsangebote und außerschulischer Kontext der Revidierung des einmal eingeschlagenen Weges eher hinderlich sind.
Auf dem Weg zur Anerkennung von Heterogenität – Schulunterricht und Schulpädagogik Der bildungspolitische Diskurs der 60er- und 70er-Jahre sowie die „katastrophalen“ Ergebnisse der PISA-Studie haben aufgezeigt, wie selektiv das deutsche Bildungssystem ist und dass es dadurch kaum einen Beitrag zum Ausgleich sozialer Ungleichheiten leisten kann. Es ist hilfreich, in der Darstellung dieser Zusammenhänge zwischen der Zeit vor der PISA-Studie und jener danach zu unterscheiden, da diese eine intensive und tief greifende Diskussion um die Leistungsfähigkeit und organisatorisch-inhaltliche Ausgestaltung des Bildungssystems von den Kindergärten bis zu den Hochschulen initiiert hat. Deren Ergebnis waren eine Vielzahl von Reformversuchen, die je nach Bundesland oder Region unterschiedlich umgesetzt wurden und werden.69 Für eine solide Bewertung der Bildungsreformen nach PISA ist es noch zu früh, weshalb zugunsten der Darlegung der Reformansätze verzichtet wird.70
69 Sie stehen einerseits in starker Abhängigkeit von der Bildungspolitik der jeweiligen Länderregierung (mit deutlichen Unterschieden zwischen den politischen Lagern). Und andererseits müssen regionale Unterschiede und Besonderheiten berücksichtigt werden, da bspw. Kinder mit Migrationshintergrund sehr ungleich über die Republik verteilt sind. 70 Weitere internationale Bildungsvergleichsstudien in der Nachfolge von PISA haben schon eine Leistungsverbesserung deutscher Schüler erkennen lassen. Reformen sollten nicht (nur) daran gemessen werden, ob bei Leistungsuntersuchungen bessere Ergebnisse erzielt werden, sondern ob es gelungen ist, deutlich identifizierte und analysierte Benachteiligungsformen bestimmter Schülergruppen nachhaltig zu beheben.
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Unterrichtsgestaltung Ein erster Faktor, der für die Selektivität des deutschen Schulwesens verantwortlich ist, ist die organisatorische Gestaltung des Unterrichts. Das Curriculum erfasst die Kinder mit Eintritt in die Grundschule. Vorschulische Kinderbetreuung war und ist in Westdeutschland vor allem für die Kleinkindphase (2-4 Jahre) nicht üblich; erst der Rechtsanspruch auf einen (Halbtags-) Kindergartenplatz führte zu Besuchsquoten von 80-100% der 3-6 Jährigen.71 Da aber Kindergärten wie Vorschulangebote nicht Bestandteil des öffentlichen Schulsystems sind, kann in ihnen keine systematische Unterrichtung oder gar die Behebung von Kompetenzdefiziten stattfinden. Zwar ist es ungerecht von einem System der „Kinderaufbewahrung“ statt einer pädagogischen Betreuung zu sprechen, aber die Empfänglichkeit der Kinder für Lernreize in diesem Alter wird nicht ausgereizt, wie überhaupt die Sozialisationswirkung einer allgemeinen und pädagogisch angeleiteten Kinderbetreuung unzureichend wird. So bestand lange Zeit und besteht bis heute zum Teil noch ein deutlicher Standes- und Qualifikationsunterschied zwischen Erzieherinnen und Grundschulpädagogen; ist Erster ein reiner Ausbildungsberuf, Letzteres eine akademische Ausbildung.72 Weder Kindergarten noch Grundschule verfügen über einen expliziten Erziehungsauftrag. Der im Grundgesetz festgeschriebenen Vorrangstellung der Sozialisationsinstanz Familie wird auf allen Ebenen Rechnung getragen. Grundschulen sind in Deutschland daher überwiegend Halbtagsschulen (wie auch ganztägige Kindergärten nicht flächendeckend existieren); die Hortbesuchsquoten liegen zwischen 8-10%.73 Kindergärten haben eine relativ hohe Heterogenitätstoleranz, da die Unterschiede zwischen den Kindern gerade dazu dienen, dass Kinder von anderen Kindern lernen. Da im Elementarbereich noch keine festgelegten Leistungsziele zu erreichen sind, wird die Heterogenität von Alter, Geschlecht oder nationaler Herkunft insbesondere von Erziehungswissenschaftlern als Lernchance begriffen.74 So werden z.B. sprachliche Unterschiede im Kindergarten noch nicht als problematisch erlebt, da das Hauptlernziel des Kindergartens – das soziale Lernen – von sprachlichen Unterschieden nicht maßgeblich tangiert wird. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich dieser Umgang mit Heterogenität durch aktuelle politische Vorgaben wie z.B. den Sprachtests verändern wird.75 In Grundschulen sowie in den weiterführenden Schulen wird verstärkt eine homogene, zumindest leistungs- und verhaltensho71 Gotschall, K./Hagemann, K. (2002): S. 21 72 Ebd. S. 13 73 Gotschall/Hagemann (2002): S. 20. Trotz Stellenabbaus ist in Ostdeutschland der Hortbesuch von Grundschulkindern nach wie vor verbreiteter (rund 60%). 74 Diehm, I., Radtke, F.-O. (1999): Erziehung und Migration, Kohlhammer, Stuttgart 75 Vgl. auch den dazu sehr aufschlussreichen Artikel von Rosenthal (2007), in dem er ausdrücklich auf die Gefahren des Tests hinweist, da er über mehrsprachig aufwachsende Kinder keine validen Aussagen mache, sondern diese durch das Instrument eher stigmatisiere.
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mogene Gruppe angestrebt. Die sprachliche Vielfalt von zwei- oder mehrsprachigen Schülern führt oft zu Irritationen und bei den Schülern häufig zu Verunsicherungen.76 Die Schulen reagieren auf die steigende Heterogenität der Schülerschaft sowie auf die pädagogische Forderung, diese Heterogenität angemessen zu bewältigen, mit verschiedenen organisatorischen Maßnahmen: Um die Homogenität wieder herzustellen, bedient man sich diverser organisatorischer Kategorisierungen und Klassifizierungen.77 Es wird nach Alter, Geschlecht, Leistungen, prognostiziertem Leistungsvermögen sowie Beherrschung der deutschen Sprache selektiert.78 Die Defizite des deutschen Bildungssystems treten an dieser Stelle besonders deutlich hervor:79 Aufgrund der hohen Selektion des mehrgliedrigen Schulsystems werden vor allem Migrantenkinder benachteiligt. Die starke äußere Differenzierung zielt auf hohe interne Homogenität. Das Problem vor allem ist, dass angehende Lehrkräfte nicht auf den angemessenen Umgang mit Heterogenität vorbereitet werden. Dies verstärkt im Klassenzimmer wiederum den Ausschluss der Migrantenkinder.80 Die Schule konzentriert sich stark auf den Unterrichtsauftrag, auf Wissensvermittlung und dessen Kontrolle. Mit einkalkuliert sind dabei außerschulische Lernleistungen der Schüler, wenigstens in Form von Hausaufgaben, deren Durchführung der individuellen Disziplin bzw. familiären Kontrolle obliegt. Für den Schulerfolg und bei Lernschwierigkeiten sind also familiäre Unterstützungsleistungen, außerschulisches Engagement, in zunehmendem Maße, von hoher Bedeutung. Das macht individuellen Bildungserfolg so hochgradig abhängig vom verfügbaren Bildungskapital in den Familien und den entsprechenden Bildungsstrategien. Ein zweiter Faktor besteht in der Unterrichtsgestaltung und der Leistungsüberprüfung. Von Pilotprojekten und Modellversuchen abgesehen, dominierte und dominiert bis heute in den allgemeinbildenden Schulen der Frontalunterricht mit der Zentrierung auf die Vermittlung quantifizierbaren Lernstoffes, hinter dem die Kompetenzvermittlung deutlich zurücksteht. Dementsprechend sind die Leistungstests aufgebaut und prämieren primär die Fähigkeiten, abstrakt-formale Lerninhalte wiederzugeben. In die gleiche Richtung wirken die Bildungsempfehlungen bzw. Kriterien für den jeweiligen Bildungsweg. Leistungen in Deutsch und Mathematik sind in besonderer Weise maßgebend – die PISA-Studie hat gezeigt, dass Schüler aus bildungsfernen sozialen Schichten und jene mit Migrationshintergrund hier deutlich unterdurchschnittliche Leistungen erzielen81; demnach ist ihre Bildungskarriere hiervon entscheidend beeinflusst. 76 77 78 79
Diehm, I/Radtke, F.-O. (1999): S. 115 Ebd., S. 104 Ebd., S. 104 Auernheimer, G. (2005): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, WBG: Darmstadt 80 Ebd., S. 165 81 Kristen, C. (2003): S. 29, Allemann-Ghionda, C. (1999): S. 60
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Innerhalb der Halbtagsschule gibt es nur geringen Spielraum für individuelle Förderung der Schüler; weder für leistungsstarke noch zur Behebung von Lernschwierigkeiten. Das Zeitbudget der Lehrer ist sehr begrenzt, entsprechende Einrichtungen beruhen überwiegend auf dem individuellen Engagement des Lehrkörpers bzw. der Schule. Grundsätzlich wird schulpädagogisch meist das Ideal der Homogenität angestrebt, was zu einem erhöhten Anpassungsdruck bei Schülern führt.82 Zunehmend werden Schüler, die nicht „passen“, ausgegliedert – zuerst zur Förderung der Homogenisierung in diverse Fördermaßnahmen, dann in spezielle Einrichtungen wie Sonderschulen oder auch Hauptschulen: „Solange die Schüler die Mitgliedschaftsbedingungen, d.h. die Lernfähigkeit in einer bestimmten Klasse, nicht erfüllen, ist deshalb aus Sicht der Organisation eine Nachschulung in geeignete Vorbereitungs- oder Auffangklassen notwendig. Was schon für die ,einheimischen‘ SchülerInnen gilt, betrifft verstärkt die zugewanderten Kinder.“83 Durch Schüler sehr unterschiedlicher sprachlicher Kompetenz, auch durch Seiteneinsteiger gestaltet sich deren angemessene Förderung im Schulunterricht oft schwierig, oft überlastet. Es scheint dann im Interesse der Schulen, sich vor einer solchen Überlastung zu schützen und dann lieber Heterogenität zu marginalisieren.84 Diese Situation aber begünstigt Vielfalt nicht. Die steigende Heterogenität wirkt sich jedoch nicht nur auf die organisatorische Seite der Schulen aus, sondern auch auf inhaltliche Aspekte. Die Existenz der zugewanderten Seiteneinsteiger beeinflusst insofern auch die Umsetzung der Schulentwicklungspläne sowie die methodisch-didaktische Konzeption des Unterrichts.85 Darauf reagieren die meisten Schulen überwiegend mit Differenzierung in Form von speziellen Förderklassen. Diese Bearbeitung der vermeintlichen Defizite, die am deutschen Schulsystem orientiert sind, führt häufig zur Rückstufung der Schüler in eine untere Klasse. Aufgrund der Überalterung verlassen diese Schüler die Schule häufig ohne Abschluss oder werden an die Hauptschule weitergeleitet. Dies kann wiederum zu sozialen Problemen im Klassenverband führen, in deren Folge sich Disziplinschwierigkeiten zeigen können. „Dass die Schule Homogenität bevorzugt, erweist sich im Kern als eine Normalitätserwartung an die Schüler. Abweichung stellt für die deutsche Schule eine beständige didaktisch-methodische Herausforderung dar, die sie eher zu vermeiden sucht“86, weil Lehrer nicht mit Blick auf Differenz und Vielfalt ausgebildet werden. Die leistungsmäßige Heterogenisierung der Schülerschaft erfährt nicht die normative Ablehnung wie in Frankreich; sie wird als Tatsache angesehen, für die es institutionalisierte Lösungswege gibt. Prinzipiell steht jedem Schultyp die Externalisierung der leistungsschwächsten Schüler in den jeweils nächstniedrigeren
82 83 84 85 86
Diehm, I./Radtke, F.-O. (1999): S. 103 Ebd., S. 117 Ebd., S. 119 Ebd., S. 118 Ebd., S. 13
DEUTSCHLAND – DAS VERKANNTE EINWANDERUNGSLAND | 265
Bildungsgang (bis hin zur Überstellung auf Sonderschulen) offen, um eine relative Homogenität der Schülerschaft im Rahmen definierter Leistungsanforderungen zu erreichen. Dies entbehrte die Notwendigkeit umfangreiche Förderungsangebote zu installieren mit dem Effekt, dass Schüler überwiegend in leistungshomogenen Gruppen lernen und sich Lernschwierigkeiten (zusammen mit sozialen Problemen) in bestimmten Schultypen konzentrieren und gegen pädagogische Einflussnahme mehr und mehr unempfänglich sind.87
Ausländerpädagogik – zwischen Schulpädagogik und Bildungspolitik Die integrierte Gesamtschule war als Versuch gestartet worden, mittels heterogener Lerngruppen88 den individuellen Lern- und Leistungsfähigkeiten der Schüler besser gerecht zu werden89 und insgesamt ein höheres Qualifikationsniveau zu erreichen.90 Die Performanz von Gesamtschulen ist empirisch wegen Datenmangels nicht einschätzbar. In den 80er-Jahren erlahmte das politisch-gesellschaftliche Interesse an den Gesamtschulen, ihr Ausbau wurde gestoppt und sie überwiegend sich selbst überlassen. Das gilt auch für die dem Schulunterricht zugrunde liegenden pädagogischen Paradigma und der inhaltlichen Gestaltung der Lehrerausbildung. Weder für die sich abzeichnende Verschlechterung der Bedingungen und Lernvoraussetzungen auf den Hauptschulen (in erster Linie der Großstädte) noch für die Problemlage der fremdsprachigen Schulkinder in den Regelklassen waren und sind Lehrer hinreichend durch ihre Ausbildung vorbereitet. Auch an den Gesamtschulen zeigte sich zum Teil, dass die Pädagogik den realen Folgen der sozialen und ethnischen Heterogenität nicht gewachsen war, so dass Pädagogik und Unterricht „vielerorts zu einer Art Entwicklungshilfe geworden [war], die nur noch mit sehr viel Idealismus und Kämpfergeist zu bewältigen ist“91. Haupt- aber auch Realschulen in sozialen Brennpunkten bilden eine schwierige Lernumgebung, der mit pädagogischen Mitteln schwer abzuhelfen ist (da ihre Ursachen nicht allein im Schulsystem liegen) und sich daher, wie in den ZEP in Frankreich, eher reproduzieren als positiv transformieren. Schüler mit Migrationshintergrund bilden eine davon nicht unabhängige, aber abgrenzbare Problematik, da mangelnde Sprachkenntnis und kulturelle Fremdheit in jedem Lernkon-
87 Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, 2005, S. 60 88 Hier ist Leistungsheterogenität und soziale Heterogenität gemeint, keine kulturelle Pluralität. 89 Rang, A. (1970): Historische und gesellschaftliche Aspekte der Gesamtschule, S. 9-24, in: Klafki/Rang/Röhrs, Integrierte Gesamtschule 90 Vgl. Edelstein, W. (1970): Gesellschaftliche Motive der Schulreform, in: Rang, A./Schulz. W (Hrsg.): Die differenzierte Gesamtschule, S. 23-36 91 Gotschall, K./Hagemann, K. (2002): S. 19
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text behindernd wirken können. Mit der hohen Bedeutung der Schulleistungen im Fach Deutsch wird die Sprach- und Lesefähigkeit in der deutschen Sprache zur Schlüsselqualifikation für den Schulerfolg, müssten pädagogische Hilfen zur Behebung von Sprachdefiziten und Förderung von Lesekompetenz in den Vordergrund rücken.92 Wenn im Folgenden der Fokus auf die Hindernisse und Schwierigkeiten für Migrantenschüler liegt, sollte bewusst werden, dass italienische und vor allem türkische Schüler davon in besonderem Maße betroffen waren und sind. Eine weitergehende Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Zuwanderergruppen zur Klärung ihres jeweiligen Erfolges oder Misserfolges im deutschen Bildungssystem kann hier nicht geleistet werden. Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs sind diese besonderen Problemlagen spätestens seit den 80er-Jahren intensiv diskutiert worden. Mit der Rezeption der Ansätze interkultureller Pädagogik aus den angelsächsischen Ländern wurde die wissenschaftliche und auch didaktische Grundlage geschaffen, der multikulturellen Realität in den deutschen Schulen pädagogisch gerecht zu werden. In Frankreich haben sich diese Denkansätze nicht einmal in der wissenschaftlichen Diskussion behaupten können. In Deutschland, jedoch gelingt hier bis vor kurzem die Übersetzung wissenschaftlich-pädagogischer Erkenntnisse in schulische Alltagspraxis nur recht ungenügend, kann sich die pädagogisch-didaktische Handlungslogik nicht gegen die politische der Entscheidungsträger in Ministerien und Schulbehörden durchsetzen.93 Bereits die Ausländerpädagogik der 70er-Jahre stand unter diesem Diktum. „Die sich in den 70er-Jahren entwickelnde Ausländerpädagogik vertrat die Auffassung, dass schulische Probleme ausländischer Kinder auf der Divergenz zwischen der Heimatkultur und der deutschen Kultur entstehen. Einerseits leben diese Kinder in ihrer Familie und ethnischen Gemeinde, und andererseits müssen sie mit dem deutschen Wert- und Normensystem umgehen können. Schule und Unterricht wurden unter der Perspektive von Schwierigkeiten, Konflikten und Überforderung betrachtet. Sprachschwierigkeiten der ausländischen Kinder mit der deutschen Sprache wurden als dominantes Problem wahrgenommen. Schulische Förderung in Vorbereitungsklassen und Förderkursen erfolgt weitgehend durch kompensatorischen Sprachunterricht [...], um ausländische Kinder möglichst
92 Die PISA-Studie ergab für Schüler mit Migrationshintergrund deutlich schlechtere Ergebnisse in der Lesekompetenz als in Mathematik. Bei deutschen Schülern gibt es keine signifikanten Unterschiede. Die PISA-Studie 2001 definierte eine Risikogruppe an Schülern, die nicht einmal die Kompetenzstufe I des Textverständnisses erreicht. Rund die Hälfte der Betroffenen sind deutsche Schüler (mit deutschen Eltern), 36% sind selbst wie auch die Eltern im Ausland geboren, 17% sind in Deutschland geboren, haben aber ausländische Eltern. Vgl. Baumert, J. (Hrsg.), (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich: Leske + Budrich, Opladen, S. 118 93 Nieke, W. (1986): Multikulturelle Gesellschaft und interkulturelle Erziehung, in: Die deutsche Schule 4/86, S. 462
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schnell auf den Regelunterricht hinzuführen“.94 Es handelte sich um eine reine Assimilationsstrategie. Doch nicht das war in erster Linie problematisch, sondern die immanente Inkonsequenz dieser Strategie. Einerseits sollten Schüler mit Migrationshintergrund so reibungslos in den Unterricht integriert werden, um sie nicht zu einer Belastung für die deutschen Schüler oder die Lehrer werden zu lassen; andererseits sollte ihre Rückkehrfähigkeit nicht beeinträchtigt werden.95 Obwohl also die Herkunftskultur und mangelnde Deutschkenntnisse als Integrationshemmnis erkannt wurden, sollten die Verbindung zur Herkunftskultur wie die Beherrschung der Herkunftssprache gefördert werden. Versuche der Lösung dieses Dilemmas waren recht unterschiedlich. In den meisten Bundesländern gab es sowohl Vorbereitungsklassen und zusätzlichen Sprachunterricht für Schüler mit Migrationshintergrund; gleichzeitig wurde nach dem regulären Unterricht muttersprachlicher Unterricht angeboten. Dieser diente nicht ausschließlich der Förderung der Rückkehrfähigkeit, sondern auch um den Migranten bei der Bewältigung ihrer besonderen Lebenssituation zu helfen. Er sollte ihnen in ihrer sozialen Selbstverortung, kulturellen Identitätsbildung, dem Umgang mit ihrer Bikulturalität behilflich sein. Das schließt Heranführung an die deutsche Kultur, an zivilgesellschaftliche Wertmuster mit ein. Anfang der 90er-Jahre besuchten rund 65% der Schüler mit Migrationshintergrund diesen Unterricht, der allerdings Ergänzungsunterricht und damit dem Regelunterricht nachgeordnet blieb. Erteilt wurde er von ausländischen Lehrkräften, deren pädagogische Qualifikation deutschen Standards oft nicht entsprach, so dass es auch an der Koordination zwischen beiden Unterrichtsformen mangelte.96 In Bayern wurden Migrantenschüler in homogene Klassen zusammengefasst und in ihrer Muttersprache wie in Deutsch unterrichtet.97 Dies stand in der deutschen Tradition, in homogenen Klassen einen Lernvorteil zu sehen. Während die muttersprachliche Förderung als erfolgreich anzusehen ist, blieb Deutsch oftmals reine Unterrichtssprache, da Separierung den Kontakt mit gleichaltrigen deutschen Schülern erschwerte, Deutsch nicht zur Umgangssprache werden konnte. Auch im Alltag konnte dieser Kontaktmangel angesichts weitestgehend getrennter sozialer Beziehungsnetzwerke nicht ausgeglichen werden. Die Entwicklung der Sprachfähigkeit blieb daher in hohem Maße vom familiären Umfeld abhängig. Je stärker Familienmitglieder (vor allem der Kernfamilie) in die deutsche Gesellschaft integriert waren, die deutsche Sprache beherrschten, umso stärker konnten die Kinder von Zuwanderern davon profitieren. 94 Coburn-Staege, U. (1996): Neue Entwicklungen in Interkultureller Erziehung. In: Coburn-Staege, U./ Zirkel, M. (Hrsg.): Interkulturelle Erziehung in Deutschland, Großbritannien und Italien. Schwäbisch-Gmünd 1996, S. 25 95 Glumpler, E. (1998): Interkulturelle Bildung, Interkulturelle Erziehung. Interkulturelle Pädagogik und Didaktik, in: Nyssen, E./Schön, B. (Hg.): Perspektiven für pädagogisches Handeln, Juventa Weinheim/München, S. 205 96 Allemann-Ghionda, C. (1999): S. 70 97 Ebd., S. 74
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Didaktisch wurde Deutsch zunächst als Fremdsprache unterrichtet. Den Lehrern fehlte das pädagogische Rüstzeug, um mit der kulturellen Heterogenität in der Schule und mit fehlenden Sprachkenntnissen umzugehen. Die Ergebnisse können daher auch als durchwachsen angesehen werden, zu stark sind die Bemühungen in der Schule vom außerschulischen Umfeld abhängig, welches in den pädagogisch-didaktischen Prozess überhaupt nicht miteinbezogen wurde. So überholte die soziale Realität diese Form der Ausländerpädagogik in den 80er-Jahren. Rückkehroption hatte sich als Illusion und die Konzentration auf Sprachförderung als unzureichend erwiesen. Kinder der zweiten und dritten Einwanderergeneration wachsen in ein hybrides Gemisch aus Herkunfts- und deutscher Kultur hinein, verfügen über weniger Kenntnisse in der ursprünglichen Herkunftssprache, ohne jedoch fließend Deutsch zu sprechen, sofern dies nicht alltägliche Umgangs- und Familiensprache ist. Auch aufgrund ihres etikettierenden, Fremdheit betonenden und Abgrenzung erzeugenden Ansatzes erfuhr die Ausländerpädagogik in den 80er-Jahren fundamentale Kritik.98 Mit der einseitigen Schwerpunktsetzung auf die Förderung der deutschen Sprache wurde der umfassende Kontext, in dem Migrationserfahrungen stehen, wie die Vielfalt unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen nicht berücksichtigt. Sie kann letztlich als „Alibipädagogik“ bezeichnet werden, da sie stärker gesellschaftspolitischen Interessen als den Bedürfnissen der Zuwanderer folgte. Sie war Teil eines gesellschaftlichen Abwehrprozesses der deutschen Bevölkerungsmehrheit gegen die Zuwanderer. Denn mit der Bildung von homogenen Klassen für ausländische Schüler wurden die deutschen Regelklassen entlastet, deren Leistungsniveau blieb von der Heterogenität unbeeinträchtigt – Leistungsdifferenzen zwischen deutschen und ausländischen Schülern waren damit vorprogrammiert und billigend in Kauf genommen. Weder die deutschen Politiker noch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung erkannte die Tatsache der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland an und zog daraus die Konsequenzen für ihr eigenes Handeln. Auf diese Art und Weise wurde die Verantwortung für den Umgang mit den Einwanderern auf die kaum hinreichend ausgebildeten Ausländerpädagogen abgeschoben.99
Interkulturelle Erziehung in Deutschland Die Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik als theoretischer Rahmen und praktisches Konzept reflektiert die multi-ethnische Zusammensetzung moderner Gesellschaften. In diesem Kapitel soll es ausführlich vorgestellt werden.
98 Glumpler, E. (1998): S. 207, Coburn-Staege, U. (1996): S. 25, Nieke, W. (1986): S. 463 99 Glumpler, E. (1998): S. 208
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Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik im Fokus von Wissenschaft und Gesellschaft Interkulturelle Erziehung ist seit dem Beginn der 1980er-Jahre Thema theoretisch-praktischer Diskussionen in den Erziehungswissenschaften. Seit dieser Zeit wird der Begriff „interkulturell“ im Zusammenhang mit Pädagogik, Erziehung und Bildung genannt.100 Inzwischen ist Interkulturelle Pädagogik zu einem eigenständigen wissenschaftlichen und praktischen Fachgebiet geworden – aber bis dahin war es ein langer Weg101, obwohl es die Problematik des Umgangs mit ethisch oder kulturell Fremden immer schon gegeben hat. Die mühsame Entstehung dieses Fachgebiets hat mehrere Gründe: • Sie liegt im Alter der Wissenschaft selbst – die Pädagogik ist eine vergleichsweise junge Wissenschaft. Fremdheit hat sich – trotz des Hum• Die Wahrnehmung von Fremden und boldtschen Bildungskonzepts (s.o.)102 – erst langsam entwickelt. Nur zögernd wird fremde Kultur einer interkulturellen Würdigung für wert gehalten – jenseits pittoresk-touristischem oder auch ethnographischen Interesses. • Im Nachkriegsdeutschland brachten die ersten Migrationswellen in der Regel Arbeitsmigranten ins Land, die in beiderseitigem Einverständnis nur temporär, als „Gastarbeiter“, in Deutschland leben wollten. Ihre Kinder pädagogisch aufzufangen, war zuerst als schulische Aufgabe nicht evident. Die scheinbar periodische Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik unterscheidet sich in Theorie und Praxis deutlich, da beide ein unterschiedliches Tempo haben. Zudem ist die Darstellung einer solchen Periodisierung immer von der Berücksichtigung der jeweiligen politischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Beiträge abhängig, zudem stehen Entwicklungen im Kontext der Entwicklung in benachbarten Fachdisziplinen. Die Geschichte des Diskurses der Interkulturellen Pädagogik als erziehungswissenschaftliche Fachrichtung beginnt in den 1960er-Jahren. Zuvor spielten Fragestellungen zum Umgang mit kultureller, sprachlicher und ethnischer Heterogenität in der wissenschaftlichen Disziplin keine Rolle.103 Dies hing vor allem mit der politischen Gestaltung des deutschen Schulsystems zusammen, das als Institution des Nationalstaats auf Homogenität abzielte. 100 Auernheimer, G. (2005): S. 34; Mecheril, P. (2004): Migrationspädagogik, Beltz, Weinheim 101 Auernheimer, G. (2005): S. 7 102 Das Humboldtsche Bildungskonzept unterstellte einen engen Zusammenhang von Bildung und produktiver Verarbeitung von Fremdheit. Vgl. Rang, A. (1991): “Bildungsbürger“or Citizen? S. 27-32, in: The Cultural Range Of Citizenship; edited by Rang, B./Rupp, J. C. C. 103 Gogolin, I./Krüger-Potraz, M. (2006): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hills
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Obwohl es in dieser Zeit schon einige Gastarbeiterkinder gibt, wird dieses Thema noch nicht fachpädagogisch aufgegriffen. In den 1970er-Jahren werden Migrantenkinder an deutschen Schulen sichtbarer und „lauter“ – es entwickelt sich aufgrund erster Probleme, die man nun „ausländerspezifisch“ wahrnimmt, ein Defizitdiskurs. Im Rahmen der Ausländerpädagogik gilt die kulturelle Fremdheit als primäre Ursache der Probleme.104 Die in den 60er- und 70er- Jahren stattfindende Debatte der Bildungsreform ignorierte die Ausländerpädagogik und deren Auswirkungen. Die Folgen der Migration wurden in der Debatte nicht berücksichtigt, obwohl die Themen der Bildungsreform (Mittelschichtorientierung der Schulen, Zugangsbarrieren für Arbeiterkinder, soziale Integration) auffällige Parallelen zu der Problematik der Migrantenfamilien hatten.105 In dieser Zeit befasste sich die erziehungswissenschaftliche Disziplin immer stärker mit der Thematik kultureller, ethnischer und nationaler Heterogenität. Dies kann mit einer steigenden Anzahl von Forschungsaktivitäten, Qualifikationsarbeiten und Publikationen und zunehmenden Anzahl von Lehrveranstaltungen, der Einrichtung von Zusatzstudiengängen sowie der Gründung spezifischer Arbeitsstellen und Institute belegt werden. Der Defizitdiskurs, der auch mit den Begriffen Zielgruppenpädagogik oder Ausländerpädagogik verbunden wird, definiert die Anwesenheit von Ausländern bzw. das Andersein selbst als Defizit, das es zu behandeln gilt. Ziel der neuen pädagogischen Disziplin ist es, die vermeintlichen Defizite, die durch soziale und kulturelle Herkunft verursacht wurden, mithilfe verschiedener pädagogischer Mittel zu bearbeiten und sie an die geltenden gesellschaftlichen Standards anzupassen. Hiermit sind insbesondere die Defizite der deutschen Sprache sowie die Erziehungsvorstellungen gemeint. In den 1980er-Jahren änderte sich der Fokus der Argumentation. Versucht wurde, interkulturelle Erfahrungen zunehmend als Bereicherung zu verstehen und zu einer möglichst wertfreien oder vorurteilsfreien Betrachtung von Differenzen zu gelangen. Damit begann die Wandlung von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik.106 Der Differenzdiskurs erklärt das Anderssein von ausländischen Personen nicht mehr als Defizit, sondern wertet es auf, indem auf andere Fähigkeiten hingewiesen wird, die Respekt und Berücksichtigung erfordern.107 Im Rahmen des Differenzdiskurses wurde die Auseinandersetzung um die Definition und Bewertung von Kulturen intensiv geführt, wie eines der nachfolgenden Kapitel zeigen wird. An die Stelle der Herkunftskulturen trat nun die Orientierung an Migrantenkulturen. Weitere wichtige Termini des wissenschaftlichen Diskurses in dieser Zeit sind zudem Kulturalismus versus Universalismus.108 Kritiker der Differenzthese geben zu bedenken, dass mit dieser Sichtwei-
104 105 106 107 108
Ebd., S. 104 Auernheimer, G. (2005): S. 35ff. Auernheimer, G. (2005): S. 34 Gogolin, I./Krüger-Potratz, M. (2006): S. 105 Auernheimer, G. (2005): S. 40
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se nach wie vor Ausgrenzung praktiziert werde: „Mit der Vorstellung, dass ,ihre Kultur‘ zu erhalten sei, werde Kultur weiterhin statisch gesehen, als ein letztlich festgefügtes Ensemble von Sitten, Gebräuchen, Einstellungen usw. Damit spreche man den Zugewanderten Entwicklungsmöglichkeiten ab, man sperre sie sozusagen in ‚ihre Kultur‘ ein und – angesichts der gesellschaftlichen Machtverhältnisse – man halte sie in ihrem Minderheitenstatus fest.“109 Im Hinblick auf diese Kritik wird die Interkulturelle Pädagogik zum Teil noch immer als Zielgruppenpädagogik verstanden. Die wissenschaftliche Abkehr von der Ausländerpädagogik rief zwei kontroverse Positionen hervor: Auf der einen Seite wird die Benachteiligung und Diskriminierung der Ausländer als das grundlegende Problem angesehen, das primär durch strukturelle und soziale Integration gelöst werden könne. Dadurch treten kulturelle Aspekte in den Hintergrund. Auf der anderen Seite steht die Erziehung zum interkulturellen Verständnis im Mittelpunkt mit dem Ziel, deutlich zum Abbau von Benachteiligung und Diskriminierung beizutragen.110 In gesellschaftlicher Hinsicht häuften sich in den 80er-Jahren die Probleme insbesondere der zweiten Migrantengeneration bei der Suche nach einer Arbeitsstelle oder einem Ausbildungsplatz. Dadurch gewannen die pädagogischen Praxisfelder außerhalb der Schule erheblich an Bedeutung, so dass Fragestellungen der außerschulischen Jugend- und Sozialarbeit auch in wissenschaftlicher Hinsicht in dieser Zeit sehr gefragt waren.111 Auch Forschungen aus der Migrationssoziologie gaben den wissenschaftlichen Diskussionen neue Anregungen und Denkanstöße. Dies führte zu einer neuen Würdigung der Migrantenkulturen und zu einer Perspektive, die die individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen zur Integration berücksichtigte.112 In den 1990er-Jahren entwickelte sich ein selbstreflektierter Dominanzdiskurs, in dem endlich auch die Rolle der „Leitkultur“ und der mit ihr verbundenen pädagogischen Institutionen problematisiert wurde. Wichtige Begriffe in dieser Entwicklungsphase sind ‚Pädagogik für alle‘ sowie ‚Pädagogik der Anerkennung‘. Grundlage aller Überlegungen waren in diesem Zusammenhang die gesellschaftlichen, institutionellen und politischen Rahmenbedingungen, mit denen alle Mitglieder der Einwanderungsgesellschaft sich konfrontiert sehen. Dazu gehörten Themen wie z.B. biographisch-umweltliche Aspekte, Umgang mit Mehrsprachigkeit, diskriminierende Wirkungen des Bildungswesens und Normalitätsverständnisse in Schule und Pädagogik.113 Die in den 90er-Jahren vorherrschende pädagogische Diskussion über jugendlichen Extremismus wird zum Teil bis heute getrennt von der Interkulturellen Pädagogik geführt, obwohl sich Zusammen-
109 110 111 112 113
Gogolin, I./Krüger-Potratz, M. (2006): S. 105 Auernheimer, G. (2005): S. 40 Ebd., S. 39 Ebd. Gogolin, I./Krüger-Potratz, M. (2006): S. 106
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hänge nicht von der Hand weisen lassen.114 Entsprechende Fragestellungen in der Forschung führten zu einer Konzentration auf den Blickwinkel der antirassistischen Erziehung. Die Trennung der beiden Diskurse hängt vermutlich mit den unterschiedlichen Praxisfeldern zusammen. Praxiskonzepte der Interkulturellen Erziehung waren meist auf den schulischen Bereich ausgerichtet, während sich die antirassistische Erziehung eher auf die Jugendarbeit bezog.115 Die neue pädagogische Perspektive der Anerkennung wirkte sich auch auf das Verhältnis von Allgemeiner Pädagogik und Interkultureller Pädagogik sowie auf die Schulforschung und andere akademische Disziplinen aus, so dass insgesamt die Interkulturelle Pädagogik nun als Querschnittsaufgabe und Schlüsselqualifikation verstanden wird.116 Es werden praktische Konzepte interkulturellen Lernens für unterschiedliche Praxisfelder und Institutionen erarbeitet. Insgesamt wendet sich der Blick vermehrt weg von den Migranten und deren vermeintlichen Defiziten hin zu den pädagogischen Institutionen und deren Besonderheiten und Defiziten mit dem Fokus auf die interkulturelle Öffnung der Institutionen.117 Zudem wird die interkulturelle Kompetenz vom pädagogischen Personal immer mehr in den Vordergrund gerückt.118 Vor dem Hintergrund der noch heute aktuellen Debatte der interkulturellen Kompetenz kann die Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik wie folgt zusammengefasst werden: Zunächst waren die Orientierungen und Verhaltensweisen der Migranten im Mittelpunkt der Betrachtung. In ethnologischer Sichtweise wurde Fremdheit eindeutig definiert. Probleme wurden als Kulturkonflikte der Migranten identifiziert. Mit der Abkehr von der Ausländerpädagogik rückten die deutschen Kinder und Jugendlichen und deren Einstellungen und Verhaltensweisen ins Blickfeld. Durch die Beschäftigung mit dem zunehmenden Rechtsextremismus unter deutschen Jugendlichen erschwerte sich die Fokussierung auf den eigenen Umgang mit Fremdheit sowie auf die strukturelle Benachteiligung der Migranten. Erst mit Beginn der Debatte über institutionelle Diskriminierung begannen Fragen zur interkulturellen Kompetenz gestellt zu werden, wobei nun vorrangig eine starke Selbstreflexion des pädagogischen Personals gefördert wurde. 119
114 115 116 117 118 119
Auernheimer, G. (2005): S. 41 Ebd. Gogolin, I./Krüger-Potratz, M. (2006): S. 106 Auernheimer, G. (2005): S. 42 Gogolin, I./Krüger-Potratz, M. (2006): S. 106 Auernheimer, G. (2005): S. 42
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Fremdheit als theoretischer Bezugsrahmen für Interkulturelle Pädagogik Fremdheit kann zum einen in normativer Perspektive, zum anderen in konstruktivistischer Perspektive konzipiert werden.120 Das tatsächliche Erleben von Fremdheit kann mit Verunsicherung, Unbehagen und Vertrauensverlust in das eigene Wissen verbunden sein. In diesem Fall wird Fremdheit somit nicht als Kennzeichen eines anderen definiert, sondern als Beziehungsmodus, der wiederum vom individuellen Ordnungskonzept abhängt.121 In dieser konstruktivistischen Definition spielen vor allem die sozialen Bezüge und Prozesse eine entscheidende Rolle.122 So „erlernen“ wir im Laufe unserer Sozialisation, was wir als fremd und was als vertraut erleben.123 Im Falle einer normativen Deutung wird Fremdheit als ein Merkmal von einzelnen Menschen oder Gruppen betrachtet und wird nach Yildiz insbesondere im Zusammenhang mit Migranten verwendet: „In aller Regel geht es dabei um Konflikte und Probleme, die auf eine kulturelle Fremdheit der Einwanderungsbevölkerung zurückgeführt werden.“124 Fremdheit kann somit als Konstrukt bezeichnet werden, das die Innen- und Außenwahrnehmung von Individuen und Gruppen tangiert125 – in ambivalenter Weise: „Einerseits wird Fremdheit als Horizonterweiterung und Lernanlass betrachtet [...]. Andererseits erfährt Fremdheit eine ethnische Fokussierung, die schließlich ihre eigene Realität erzeugt.“126 Auch wenn seit dem Jahr 2000 in Deutschland geborene Personen unter bestimmten Umständen sofort die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, obwohl ihre Eltern keine deutsche Abstammung nachweisen können, tut sich Deutschland gerade mit der sichtbaren Fremdheit schwer: Selbst wenn eine junge Frau die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, in Deutschland geboren ist und die deutsche Sprache perfekt beherrscht, wird sie z.B. aufgrund ihrer Dunkelhäutigkeit und ihrer schwarzen Haare meist automatisch als Ausländerin wahrgenommen
120 Auernheimer, G. (2005): S. 105 121 Schäffter, O. (1991): Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: Schäffter, O. (Hrsg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen, S. 11-42; genannt bei Auernheimer (2005): 105 122 Yildiz, E.: Konstruktion des Anderen als Ethnisch Fremder: Zur Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels in der interkulturellen Bildung, in: Karakasoglu, Y./Lüddecke, J. (Hg.) (2004): Migrationsforschung und Interkulturelle Pädagogik, Waxmann, Münster, S. 145-157 123 Boos-Nünning, U. (1993): Interkulturelle Erziehung als Hilfe zur Überwindung von Fremdheit, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Das Ende der Gemütlichkeit. Theoretische und praktische Ansätze zum Umgang mit Fremdheit, Vorurteilen und Feindbildern, Bd. 316, Bonn, S. 81-96 124 Yildiz, E. (2004): S. 145 125 Auernheimer, G. (2005): S. 105, Yildiz, E. (2004): S. 145 126 Yildiz, E. (2004): S. 145
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und teilweise stereotyp behandelt.127 Ausländer werden als Ausländer attribuiert je nach gezeigter Sprachkompetenz, nach Kleidung, Aussehen oder auch nach Sozialstatus. Erklärungsansätze und Theorien zum Erleben und Umgang mit Fremdheit finden sich auch in der Sozialpsychologie sowie in der Soziologie, die wiederum Konsequenzen für Erziehungsfragen haben.128 In sozialpsychologischer Hinsicht bestimmt vorrangig Angstabwehr den Umgang mit Fremden, was – so eine der gängigen Theorien – dieses Konzept im Alltag so attraktiv und funktional macht.129 In diesen Kontext können einige Probleme abgeschoben und befriedet werden, die in der Gesellschaft Schwierigkeiten bereiten. Der Fremde darf Probleme machen, bzw. die Probleme, die mit ihm assoziiert werden, lassen sich an seiner Fremdheit recht gut abarbeiten.130 Fremdbilder in der Bevölkerung sind sehr häufig durch Gruppenerfahrungen und gesellschaftliche, öffentliche Diskussionen geprägt; fachwissenschaftlich lässt sich ein interkulturelles Feld auch als Struktur- oder Machtfeld beschreiben.131 Im wissenschaftlichen Diskurs über die Interkulturelle Pädagogik besteht mittlerweile Übereinstimmung darin, dass nicht mehr der Fremde selbst im Mittelpunkt der Betrachtung stehen sollte, sondern vielmehr die Interaktionen von Fremden mit Institutionen und gesellschaftlichen Bedingungen. In praktischer und bildungspolitischer Hinsicht wurde diese Perspektive noch nicht erreicht, hier konzentriert man sich noch immer überwiegend auf „den Fremden“ als Zielgruppe der Interkulturellen Pädagogik.132 Auernheimer fordert in diesem Sinne für die Theorie und vor allem für die pädagogische Praxis: „[...] Pädagogik muss also das Phänomen der Fremdheit in menschlichen Beziehungen anerkennen, was als Erstes die Forderung an die Pädagog(inn)en zur Konsequenz hat, sich Befremden einzugestehen, Differenzen zu akzeptieren, um sich auf sie einlassen zu können, anstatt sich des Anderen verstehend zu bemächtigen.“133
Der Kulturbegriff als theoretischer Bezugsrahmen für Interkulturelle Pädagogik Der Terminus Kultur findet in der Interkulturellen Pädagogik auf vielfältige Weise Anwendung und erhält – je nach Zusammenhang – unterschiedliche Bedeutungen. Der Kulturbegriff wird in den Sozial- und Kulturwissenschaften von Beginn an häufig gebraucht und ist intensiv diskutiert und vielfältig bestimmt worden. Hier wird eine an den Zweck des Themas gebundene Bestimmung des Kul127 128 129 130 131 132 133
Mecheril, P. (2004): S. 50f. Diehm, I/Radtke, F.-O. (1999): S. 86 Ebd., S. 90 Auernheimer (2005): S. 112 Auernheimer (2005): S. 109ff. Diehm/Radtke (1999): S. 155 Gogolin, I./Krüger-Potraz, M. (2006): S. 134 Auernheimer, G. (2005): S. 107
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turbegriffs verwandt und auf eine Diskussion im Horizont anderer Definitionen verzichtet. Kultur kann als komplexe Einheit von Wissen, Glaubensvorstellungen, Kunst, Moral, Gesetzen und Bräuchen begriffen werden.134 Diese Sichtweise versteht sich als Abgrenzung gegenüber der evolutionistischen Perspektive, nach der sich Kultur als zivilisatorische Leistung linear in mehreren Stufen entwickelt.135 Das Kulturverständnis der komplexen Einheit zielte nicht auf ein hierarchisches Verständnis ab, es ging eben nicht mehr um zivilisatorischen Fortschritt, sondern um die Erhaltung von Werten und Tradition.136 In der Folge dieser Sichtweise konzentrierten sich die sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf die Suche nach Gesetzmäßigkeiten, um die überindividuelle Ganzheit zu beschreiben. Eine Vertreterin dieser Richtung ging beispielsweise von der Annahme aus, dass die Mitglieder einer Gesellschaft jeweils über einen abgrenzbaren „Nationalcharakter“ verfügen.137 Diese Auffassung kann dem Kulturrelativismus zugeordnet werden, der in der Interkulturellen Pädagogik hohe Bedeutung hat. Kulturrelativistische Ansätze gehen davon aus, dass „jedes Individuum als Träger einer spezifischen Einzelkultur, die seine Einstellungen und Handlungsstrategien maßgeblich bestimmt, verstanden werden muss.“138 Das Konzept der kulturellen Einheit ist bis heute aktuell, wie dies sich z.B. in den Bestrebungen der kanadischen Regierung nach Anerkennung kultureller Diversität und Identität zeigt oder in den Forderungen, kulturellen oder religiösen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft Eigenständigkeit zuzugestehen.139 Der sozialwissenschaftliche Diskurs bezeichnet den bewussten Einsatz von kulturellen Unterschieden als Ethnizität. Ethnische Differenzen werden sozial organisiert und setzen sich aus kognitiven Kategorien zusammen. Ethnizität kann nur aufrechterhalten werden, wenn eine Gruppe sich nach außen hin ständig als solche bestätigt und legitimiert, wobei Abgrenzungen sowohl über äußere Merkmale (Kleidung, Verhalten etc.) als auch über subjektive Identifikationen (z.B. Wertvorstellungen) geschehen.140 Ethnizität wird im neueren Diskurs als Ressource begriffen, auf die situativ und kontextgebunden zurückgegriffen wer-
134 Tylor, E. B. (1993): Primitive culture: researches into the development of mythology, philosophy, religion, language, art and custom. John Murray, London 135 Wicker , H.-R. (1996): Der Fremde in der Gesellschaft. Migration, Ethnizität und Staat. Seismo Verlag, Zürich 136 Ebd., S. 375 137 Benedict, R. (1989): Patterns of culture. Houghton Mifflin, Boston 138 Kiesel, D. (1996): Das Dilemma der Differenz. Zur Kritik des Kulturalismus in der Interkulturellen Pädagogik. Cooperative Verlag, Frankfurt am Main 139 Wicker, H.-R. (1996): S. 357ff. 140 Barth, F. (1969): Ethnic groups and boundaries. The Social Organization of Cultural Difference, Oslo
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den kann, um Interessen zu formulieren und zusammenzufassen und um Ziele zu erreichen.141 Das Ethnizitätskonzept wurde in der Wissenschaft vielfach kritisiert. Bukow und Llaryora vertreten zu Recht die Auffassung, dass ethnische Merkmale und Unterschiede durch soziale Zuschreibungen entstehen, was zu einer „Ethnitisierung“ von Minderheiten führt, die von der Politik bewusst gesteuert wird und im alltäglichen Denken verankert ist.142 Aus den sozialen Zuschreibungen können sich Ausgrenzung, Abwertung, Diskriminierung und Integrationsverweigerung, aber auch Bewunderung entwickeln.143 Im Rahmen der Ausländerpädagogik in den 60er-Jahren wurde der Kulturbegriff primär verwendet, um die vermeintlichen Defizite von Migrantenkindern (sprachliche Schwierigkeiten und Sozialisationsdefizite) zu erklären. Der kulturelle Hintergrund der Migrantenkinder wurde als Ursache für Konflikte gesehen.144 Kultur galt als einzige Erklärung für Lebensformen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen von Migranten, andere beeinflussende Faktoren wurden außer Acht gelassen.145 In diesem Sinne wurde Kultur zunächst als „Nationalkultur“ begriffen, wo Personen über bestimmte Merkmale verfügen, die sich durch ihre Zugehörigkeit zu einer Nation ergeben und auch in der Migration stabil bleiben. Die daraus resultierenden zwei unterschiedlichen kulturellen Systeme waren der Schwerpunkt der Ausländerpädagogik: „Besondere Sozialisationsprobleme der ausländischen Kinder und Jugendlichen entstehen dadurch, dass der Entwicklungsprozess im soziokulturellen System des Herkunftslandes unterbrochen und im Aufnahmeland unter dem Einfluss zweier unterschiedlicher soziokultureller Systeme fortgesetzt wird [...].“146 Viele Erscheinungen – z.B. auch abweichendes Verhalten – wurden mit diesem soziokulturellen Einflussfaktor erklärt.147 Eine analytisch ausgewiesene Kategorie von Kultur wurde in der Ausländerpädagogik nicht entwickelt. Insgesamt lässt sich die Kulturdefinition der Ausländerpädagogik einem essentialistischen Kulturverständnis zuordnen, in welchem Kultur als eine Ansammlung von konkreten Merkmalen begriffen wird, die zu den Bedingungen der menschlichen Existenz gehören. Die Sichtweise des Kulturbegriffs in der Ausländerpädagogik wirkte sich stark auf die inhaltliche und methodisch-didaktische Konzeption von Curricula und Unterrichtsmaterialien aus. Der Defizitansatz, das Begreifen der Aufnahme141 Wicker, H.-R. (1999): Ethnizität und Ethnizitätstheorien. In: Textsammlung zur Geschichte der ethnologischen Theorien. Manuskript, Bern: Institut für Ethnologie der Universität Bern 142 Bukow, W.-D./Llaryora, R. (1998): Mitbürger aus der Fremde. Westdeutscher Verlag, Opladen, Wiesbaden 143 Bukow, W.-D./Llaryora, R. (1998): 14; Diehm, I./Radtke, F.-O. (1999): S. 84 144 Kiesel, D. (1996): S. 3 145 Gogolin, I./Krüger-Potratz, M. (2006) 146 Boos-Nünning, U./Hohmann, M. (1977): Ausländische Kinder, Pädagogischer Verlag Schwann, Düsseldorf 147 Ebd., S. 12ff.
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gesellschaft als Referenzkultur und die entsprechenden assimilatorischen Bemühungen führten in der pädagogischen Praxis zu spezifischen Formen des Umgangs mit Fremden. Ziel der pädagogischen Praxis und Forschung war es, den kulturellen Hintergrund von Zugewanderten mit den „Nationalkulturen“ der Herkunftsländer in Einklang zu bringen.148 Kultur wird dabei als statisches Merkmal begriffen und andere Faktoren wie lokale kulturelle Unterschiede, Schichtzugehörigkeit oder Bildungshintergrund werden nicht berücksichtigt. Ebenso wird den Migranten die Möglichkeit von Veränderung und Entwicklung aus sich selbst heraus abgesprochen. Das Konzept der Ausländerpädagogik und ihr Verständnis von Kultur wurde Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre stark kritisiert. Die kritische Auseinandersetzung machte offensichtlich, dass die Ausländerpädagogik nicht als linearer Diskurs abgrenzt werden kann. Eine systematische Beschreibung und inhaltliche Konstruktion erfolgten erst durch die kritische Auseinandersetzung.149 Eine Kritik der Ausländerpädagogik richtet sich auf die Pädagogisierung eines gesellschaftlichen Problems: Die zunehmende kulturelle Heterogenität der Gesellschaft wurde problematisiert, um entsprechenden Handlungs- und Forschungsbedarf zu legitimieren.150 Soziale Konflikte ermöglichten die Konstruktion von Zuschreibungen von Differenz und Andersartigkeit, ohne dass diese vor der Auseinandersetzung bestanden hätte: „Der soziale Konflikt bringt die Wahrnehmung der Andersartigkeit der Außenseiter hervor und findet in dieser Wahrnehmung seine Legimitation.“151 Zudem muss deutlich auf die politische Verantwortung verwiesen werden, wenn es darum geht, gesellschaftliche Probleme zu bearbeiten, denn pädagogische Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme erscheinen nicht geeignet, um politische Schwächen auszugleichen.152 Die Auffassung, Migrationsfragen müssten in der pädagogischen Arbeit bewältigt werden, wurde als pragmatische Erkenntnis angesehen, die eine bürokratische Bewältigung der Probleme ermöglichen würde.153 Überdies muss die implizite Hierarchisierung von Kulturen in der Ausländerpädagogik kritisiert werden. Andere gesellschaftliche Wertmaßstäbe wurden einseitig aus dem Standpunkt der eigenen kulturellen Orientierungen beurteilt.154 Ziel war es demnach, die innergesellschaftliche Problemgruppe „auf das kulturel-
148 149 150 151
Ebd., S. 12ff. Diehm, I./Radtke, F.-O. (1999): S. 127f. Ebd., S. 67 Scherr, A. (1998): Die Konstruktion von Fremdheit in sozialen Prozessen. Überlegungen zur Kritik und Weiterentwicklung Interkultureller Pädagogik, in: Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, Bd. 1/98, S. 49–58 152 Radtke, F.-O. (1995): Interkulturelle Erziehung. Über die Gefahr eines pädagogisch halbierten Anti-Rassismus, in: Zeitschrift für Pädagogik , Bd. 41/1995, S. 853-864 153 Kiesel, D. (1996) 154 Mecheril, P. (2004): S. 100ff.
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le Niveau der bürgerlichen Gesellschaft zu heben“155, was bezogen auf das Schulsystem zur Forderung nach hohen Anpassungsleistungen der Migrantenkinder führte.156 Bei der Fokussierung auf Kulturkonflikte und entsprechende Assimilationsbemühungen wurde vernachlässigt, dass Migranten durchaus über soziale Handlungs- und Überlebensstrategien verfügen. Durch Migration entstehen neue kulturelle Referenzsysteme, was auch die Veränderung von kulturellen Symbolen beinhaltet wie auch die Entfremdung von der Herkunftskultur durch Aneignung eines neuen kulturellen Bezugssystems möglich ist. Zudem sind kulturelle Systeme dynamisch und unterliegen einem Wandel und es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Migranten an diesem Wandel vollständig teilhaben.157 Hamburger sieht den Kulturkonflikt als Referenzrahmen für pädagogische Konzepte als unbrauchbar an, da keine Zusammenhänge mit Sozialstruktur, Religion, Wirtschaftsform oder Sprache hergestellt werden. Kulturkonflikte eignen sich daher nicht zur Erklärung unterschiedlicher sozialer Erscheinungen, da der Nachweis über Zusammenhänge zu Kultur bisher nicht erfolgt ist.158 Beim Übergang von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik kann von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden, der sich vor allem an den zwei unterschiedlichen Herangehensweisen festmachen lässt. Während die Ausländerpädagogik ihren Fokus auf den Migranten selbst und seine Defizite (fehlende Fähigkeiten und Fertigkeiten) legte, richtete die Interkulturelle Pädagogik ihr Augenmerk vornehmlich auf die kulturellen Hintergründe der Migranten. Im Rahmen dessen wurde der Kulturbegriff differenziert. Die Ethnologie und andere sozialwissenschaftliche Disziplinen lieferten neue Definitionen und Bedeutungszusammenhänge, welche zum Teil widersprüchlich waren. Insbesondere die Sozialanthropologie verwendet den Kulturbegriff grundsätzlich eher kritisch. Die statisch essentialistischen Definitionen fassen Kultur im Sinne einer greifbaren Konstante als Gemeinsamkeit aller Mitglieder einer Gesellschaft auf. Die Möglichkeit einer Veränderung kultureller Systeme wird hier außer Acht gelassen. Im Gegensatz dazu gehen dynamisch situationale Auffassungen von Kultur davon aus, dass entsprechende Veränderungen grundsätzlich möglich sind. Die Änderung des Blickwinkels der Interkulturellen Pädagogik führte einerseits zu breiter Anerkennung, was sich durch die rasche Etablierung an den Bildungsinstitutionen belegen lässt. Andererseits wurde das Konzept von verschiedenen Autoren (Hamburger, Radtke u. a.) stark kritisiert. Kultur wird nach wie vor als Unterscheidungskategorie verwendet, denn obwohl eine Anerkennung des 155 Scherr, A. (1998): S. 52f. 156 Prengel, A. (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. Auch: Kiesel (1996): S. 84 157 Kiesel, D. (1996):S. 86 158 Hamburger, F. (1994): Pädagogik der Einwanderungsgesellschaft, Cooperative Verlag, Frankfurt am Main.
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Kulturwandels stattgefunden hat, werden Migranten noch immer als Träger von Kultur wahrgenommen: „Aus Sicht der Interkulturellen Pädagogik soll die Kategorie Kultur zwar vom Defizit entkoppelt und stattdessen positiv konnotiert, als anerkennenswerte Differenz behandelt werden, aber sie bleibt die dominante Unterscheidung. Nun geht es darum, die Anderen/Fremden zu verstehen und mit ihnen auszukommen“159 Die Möglichkeit, Konflikte durch andere Kategorien und Ursachen zu beschreiben oder zu erklären, wird nicht weiter verfolgt. Die möglichen Ursachen sind dabei nicht in kulturellen Differenzen zu suchen, sondern vielmehr in den Strukturen der wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und sozialen Ungleichbehandlung und Benachteiligung.160 Eine Diskussion oder Analyse über Kultur als Kategorie zur Konfliktdeutung hat in der Interkulturellen Pädagogik nicht stattgefunden. Diese Erklärungs- und Deutungsmuster werden in der Wissenschaft als Kulturalisierung bezeichnet, die zum Ignorieren sozialer und systemischer Integration der Migranten als Mitglieder einer Gesellschaft führt. Der kulturalistische Blick grenzt Migranten von zeitlichen und räumlichen Entwicklungen ab.161 Die breite Anerkennung und Praktizierung der Interkulturellen Pädagogik an Bildungsinstitutionen erweist sich als problematisch, weil erst durch die Thematisierung von Kultur Differenz hergestellt wird. Die curriculare Thematisierung unterschiedlicher Kulturen zielt in pädagogischer Hinsicht auf Lernziele wie Sensibilisierung, Toleranz und gegenseitiges Verständnis ab. Übersehen wird dabei allerdings, dass viele Kinder und Jugendliche die entsprechenden Kulturen und Differenzen erst durch diese konkrete Thematisierung bewusst als solche wahrnehmen. Diese Unterrichtpraxis kann auch dazu führen, dass Kinder und Jugendliche ihren Mitschülern mit Migrationshintergrund verstärkt vermeintlich kulturelle Eigenschaften zuschreiben und sich dadurch voneinander abgrenzen. Die Konstruktion von Kultur in der pädagogischen Praxis kann somit – wenn auch unbeabsichtigt – zur Legimitation von Abgrenzung genutzt werden. Kulturelle Orientierungsmuster unterliegen aufgrund von transnationalen Begegnungen der Veränderung und dem Wandel, und neuere Konzeptionen des Kulturbegriffs beziehen diesen dynamischen Wandel mit ein. Nach ihnen löst die „fließende kulturelle Komplexität“ die Definition der komplexen Einheit ab.162 Kultur wird nun definiert als „ein Geflecht von Bedeutungen, in denen Menschen ihre Erfahrungen interpretieren und nach denen sie ihr Handeln ausrichten“.163 Dem Multikulturalismus mit der Anerkennung kultureller Pluralität als unverbundenes Nebeneinander mehrerer Kulturformen wird damit die theoretische Legimitation entzogen. Dennoch wird Kultur noch immer zur Konfliktdeutung 159 160 161 162 163
Diehm, I./Radtke, F.-O. (1999): S. 146f. Scherr, A. (1998): S. 50ff. Kiesel, D. (1996): S. 149ff. Wicker, H.-R. (1996): S. 384 Geertz, C. (1983): Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 99
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herangezogen. Die Forderung der Interkulturellen Pädagogik, unterschiedlichen Kulturen mit Anerkennung zu begegnen, folgt letztlich einem essentialistischen Kulturansatz, der kritisch hinterfragt werden sollte, denn die Auffassung von Kultur als Prozess des Aushandelns von Bedeutungen steht im deutlichen Widerspruch zum Verständnis einer „Vielfalt der Kulturen“. Die Interkulturelle Pädagogik zielte darauf ab, kulturelle Differenzen als Bereicherung zu konstituieren. Auf dem Weg zu diesem Ziel sind Abstufungen zu erkennen: Während auf der Interaktionsebene die Interkulturalität umgesetzt wurde, gilt auf der institutionellen Ebene weiterhin ein universalistischer Anspruch, der mit den Prinzipien der Gleichheit und Gleichberechtigung realisiert wird.164 Der Blick auf die pädagogische Praxis in Kanada und den USA ist hier besonders aufschlussreich, da die Interventionsebenen vertauscht sind: „Differenz wird vor allem im institutionellen Bereich hergestellt und Gleichheit auf der Interaktionsebene, d.h. im Klassenzimmer verfolgt.“165 Zukunftsweisend für den Umgang mit Diversität in Bildungsinstitutionen könnte der Themenbereich Globales Lernen sein. Globales Lernen kombiniert Themenfelder wie Friedenspädagogik, Menschenrechte, Interkulturelle Pädagogik, Umweltbildung und entwicklungspolitische Bildung und betrachtet diese unter dem Gesichtspunkt der Globalisierung.166 Hier kann die Interkulturelle Pädagogik mit ihrer speziellen Entwicklung Eingang finden, indem kulturelle Differenzen nicht abgegrenzt betrachtet, sondern unter einem multiperspektivischen Aspekt diskutiert werden. Somit kann auch der differenzkonstituierende Charakter der Interkulturellen Pädagogik abgeschwächt und durch die neue, richtungsweisende Perspektive der Globalisierung ersetzt werden.
Praxis Interkultureller Erziehung „In der Welt zu sein, stellt dem Menschen die Aufgabe, mit seiner Kreativität und der gegebenen Wirklichkeit – so wie sie jeweils in der Vielzahl von Möglichkeiten relevant erfahren wird – kognitiv und emotional in gestaltender Weise fertig zu werden.“167
164 Steiner-Khamsi, G. (1996): Universalismus vor Partikularismus? Gleichheit vor Differenz?, in: Wicker, H.-R. (et al.) (Hrsg.): Das Fremde in der Gesellschaft: Migration, Ethnizität und Staat. Zürich: Seismo 1996, S. 353-372 165 Ebd., S. 362ff. 166 Behörde Bildung und Sport (BBS) (2006): URL: www.hh.schule.de/ifl/globlern 167 Golomb, E. (2004): Zwischen Musealität und Modernität. Integration als Herausforderung religiöser Systeme, in: Karakasoglu, Y./Lüddecke, J. (Hg.) (2004): Migrationsforschung und Interkulturelle Pädagogik, Münster: Waxmann, S. 45-61
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Ziele Interkultureller Erziehung Ein Teil unserer Wirklichkeit bezieht seit längerer Zeit interkulturelle Kontakte mit ein, mit denen wir umgehen müssen. Sie besteht darin, dass in Deutschland nicht wenige Kinder mit Migrationshintergrund leben, die eine reelle Chance verdienen, bisher aber nicht die gleichen Chancen haben. „Defekte und Defizite an Integration erwachsen dabei aus notwendiger, aber nicht bewältigter Mobilität, die wiederum unterschiedlich begründet sein kann.“168 Ziele Interkultureller Pädagogik beziehen sich zum einen auf Einstellungen und Werthaltungen, zum anderen auf Wissen und Fähigkeiten. Wesentliche Prinzipien der Interkulturellen Pädagogik sind Gleichheit und Anerkennung. Dabei geht es zum einen um die Erkenntnis, dass alle Menschen gleich sind und zum anderen um die Anerkennung der jeweiligen Unterschiede.169 Kinder aus Migrantenfamilien müssen möglichst gleiche Chancen haben wie Kinder ohne Migrationshintergrund. Die Herstellung von Chancengleichheit ist dabei kein rein ethisch begründbares Projekt – auch wenn es als solches m.E. hinreichend legitimiert wäre, um Institutionen und gesellschaftliche Strukturen durchlässiger zu machen. Es könnten darüber hinaus aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht die besonderen Ressourcen der Migranten für unsere Gesellschaft nutzbar gemacht werden, soziale Konflikte entschärft und Kosten gespart werden – und sei es in dem oft schon nachgewiesenen Umstand, dass Menschen mit höherem Bildungsabschluss seltener arbeitslos werden. Interkulturelle Pädagogik zielt darüber hinaus auf die Erreichung einer respektierenden Grundhaltung gegenüber der Andersheit ab.170 Dabei ist zwischen den Begriffen Respekt und Toleranz zu unterscheiden, da der letztgenannte Begriff „zu sehr den Beigeschmack der bloßen Duldung“171 impliziert. Im außerschulischen Umfeld soll diese Argumentation der Interkulturellen Pädagogik z.B. durch sogenannte Diversity-Ansätze umgesetzt werden, in denen es um die Sensibilisierung der Teilnehmer für die Bedeutung von Differenzen geht.172 In der Sichtweise einer Erziehung über kulturelle Unterschiede will Interkulturelle Pädagogik zu einem angemessenen Umgang mit Pluralität und Differenz befähigen173. Darüber hinaus beinhaltet dieses Ziel den Abbau von Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft sowie die Entwicklung von Strategien für den Umgang mit Ausgrenzungserfahrungen. Zudem werde interethnischer Erfahrungsaustausch gefördert. 168 Ebd., S. 45 169 Lüddecke, J. (2004): Allgemeine und Interkulturelle Didaktik zwischen Universalismus und Pluralität, in: Karakasoglu, Y./Lüddecke, J. (Hg.) (2004): Migrationsforschung und Interkulturelle Pädagogik, Münster: Waxmann, S. 103-115 170 Auernheimer, G. (2005): S. 21 171 Ebd. 172 Ebd., S. 123 173 Lüddecke, J. (2004): S. 103
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Die respektvolle Haltung gegenüber der Andersartigkeit sowie das Gleichheitsprinzip sind in dieser Perspektive wichtige Voraussetzungen für das interkulturelle Verstehen, welches hier als Mittel eingesetzt werden soll, um Sensibilität gegenüber der Kultur, den Gewohnheiten und auch den Tabus des anderen zu erzeugen.174 Dabei seien neutrale Informationen zur Kultur der eingewanderten Minorität hilfreich, etwa zum Islam oder auch – dieser Aspekt kann ja auch tatsächlich helfen, einige Konflikte zu entschärfen – zu unterschiedlichen Zeitvorstellungen.175 Hier eröffnet sich die Möglichkeit, in dem Bewusstsein der „hermeneutischen Unzugänglichkeit des Anderen“176 gerade eben doch eine authentische Verständnisebene aufzubauen – in dem Bewusstsein, dass der Fremde immer ein stückweit fremd bleiben wird. Mecheril hält dabei den Fokus auf das Verstehen der fremden Kultur – wie Fremden das Verständnis der eigenen Kultur zu ermöglichen und zu erleichtern sei, thematisiert er nicht. Dabei wäre gerade dies interessant, weil auch wir ja nicht immer erklären können, warum wir welches Verhalten zeigen oder bestimmte Zu- oder Abneigungen spüren. Das bedeutet, dass wir immer wieder auch Fehler im Verständnis des anderen einkalkulieren sollten, uns also generell tolerant gegenüber den normalen Schwierigkeiten des alltäglichen Miteinanders mit Menschen anderer kultureller Herkunft zeigen.177 Auch professionelle Pädagogen kommen gelegentlich im Verstehen des Fremden an ihre Grenzen. Es erscheint auch pädagogisch sinnvoll, sich immer wieder einzugestehen, inwieweit das Verständnis einer anderen Kultur begrenzt ist178 – als Basis, für eine behutsame Erweiterung. Interkulturelles Lernen wird allgemein als stufenförmiger Prozess gesehen. In der Literatur finden sich verschiedene Stufenmodelle, die zwar den Lernprozess an sich beschreiben, aber auch durchaus als Zielsetzungen gelten können.179 Leenen und Grosch entwickelten folgendes Stufenmodell interkulturellen Lernens:180 • „Erkenntnis der generellen Kulturgebundenheit 174 175 176 177 178
Auernheimer, G. (2005): S. 21 Vgl. Levine, R. (1997): Eine Landkarte der Zeit. Piper, München, S. 48ff. Mecheril, P. (2004): S. 128f. Ebd., S. 129 Dieser gedankliche Rollentausch ist zudem eine fabelhafte, konkret einsetzbare Methode im Unterricht. 179 Z.B. Thomas, A. (1988) (Hrsg.): Interkulturelles Lernen im Schüleraustausch. Saarbrücken und Fort Lauderdale. Bennett, M. J. (1993): Towards ethnorelativism: A developmental model of intercultural sensitivity, in: Paige, R. M. (ed.): Education for the intercultural experience. Yarmouth; Nieke, W. (2000): Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage. Leske + Budrich Verlag, Opladen 180 Leenen, W. R.; Grosch, H. (1998): Bausteine zur Grundlegung interkulturellen Lernens, in: Interkulturelles Lernen. Arbeitshilfen für die politische Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 29-46
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Identifikation fremdkultureller Muster [...] Identifikation eigener Kulturstandards, Einsicht in Auswirkungen auf die Kommunikation erweitertes Deutungswissen über bestimmte Fremdkulturen Verständnis und Respekt für fremdkulturelle Muster Erweiterung der eigenen kulturellen Optionen Aufbau interkultureller Beziehungen, konstruktiver Umgang mit interkulturellen Konflikten“181
Für Experten, die sich ständig mit interkultureller Kommunikation beschäftigen, hat es etwas Selbstverständliches und Reizvolles, die generelle Kulturgebundenheit wahrzunehmen; für andere beginnt damit teilweise aber ein Prozess oft schmerzhaft erfahrener Fremdheit, da der Grad des wechselseitigen Verstehens unklar sein kann und daher Interaktion erschwert. Doch aus der Summe der Erfahrungen kann sich eine wachsende interkulturelle Kompetenz ergeben, deren Basis in der Einsicht in die eigene Kulturgebundenheit und in eigene Kulturstandards des „man macht es eben so“ zu finden ist. So wird aus dem Lernen über den Fremden auch ein Lernen über sich selbst – was viele allerdings zurückweisen, da Lernen für sie mit „Fehler machen“ verbunden ist und damit mit der Scham, nicht perfekt zu sein. Der Respekt für fremdkulturelle Muster kann in ein erhöhtes Bewusstsein eigener Freiheitsgrade münden, die eigene Identität zu gestalten – wie ich ja auch schon in dem Kapitel über Identität erläuterte. Das Verständnis, was es manchen Musliminnen bedeutet, das Kopftuch zu tragen, kann das Verständnis für eigene Schamgrenzen durchaus fördern. Es können echte, authentische, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Kulturen aufgebaut werden182, die auch – in einer weiteren Reifung – Konflikte überstehen und an ihnen wachsen können. Einige praxisorientierte pädagogische Ansätze zielen auf die Förderung einer eher unspezifischen Sozialkompetenz, andere wollen rassistische Strukturen und Haltungen bewusst machen. Beides sind, wie ich hier verdeutlichte, wertvolle Ziele. Es gibt gesellschaftliche und individuelle, kognitive und ganzheitliche Ansätze183, die sich gut ergänzen können. Im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion entwickelten sich primär folgende konkrete Zielsetzungen interkultureller Pädagogik, die jeweils zu unterschiedlichen methodischen und organisatorischen Konzeptionen führen: • „interkulturelles Lernen als soziales Lernen • Umgang mit kultureller Differenz oder mit Differenzen • Befähigung zum interkulturellen Dialog • multiperspektivische Allgemeinbildung 181 Leenen/Grosch (1998) zitiert nach Auernheimer (2005): S. 125 182 Auernheimer, G. (2005): S. 127 183 Ebd., S. 123
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• •
mehrsprachige Bildung antirassistische Erziehung“184
Der interkulturelle Dialog bzw. die Befähigung zum interkulturellen Dialog gilt als weitere Zielperspektive; und bezieht sich auf den Austausch von religiösen und gesellschaftlichen Werten und Normen oder auch von Kommunikationsregeln.185 Eine international zusammengesetzte Wissenschaftlergruppe stellte 2001 im „Manifest für den Dialog der Kulturen“ wichtige Leitgedanken für den interkulturellen Dialog zusammen. Zentral sind demnach die Anerkennung der anderen Identität, die Akzeptanz einer gemeinsamen Zugehörigkeit sowie die Anerkennung der Regel der Gegenseitigkeit.186 Das Manifest legt dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die Einhaltung von Dialogregeln, die jeden Einzelnen betreffen: „[...] unsere Bereitschaft, Urteile zurückzustellen, unsere eigenen Grundannahmen kritisch zu überprüfen, das Gesagte zu würdigen, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen, an den wichtigen Punkten weiter nachzufragen und über die Bedeutung des Gesprächs weiter nachzudenken.“187 Auernheimer baut auf den Regeln des Manifestes auf und entwickelt einige Handlungsempfehlungen für den interkulturellen Dialog, die sich insbesondere auf die pädagogische Praxis beziehen:188 • Vermeidung von missionarischen Einstellungen und Verteidigungshaltungen • Trennung von persönlichen und sachlichen Inhalten (kulturelle Zuschreibungen nicht auf die einzelne Person übertragen) • Vermeidung von wertenden kulturellen Vergleichen • Entwicklung individueller Konfliktlösungen bezogen auf die konkrete Situation anstelle von Glaubenskriegen • Anerkennung des Kampfes um kulturelle Identität, Verteidigung der Individualrechte189 Für das kommunikative Handeln im interkulturellen Raum ist der Anteil an Selbstreflexivität bedeutend. Es geht nicht nur um die Wahrnehmung der anderen Kultur, sondern auch um die Wahrnehmung der eigenen Kultur als stimulierender Faktor für den interkulturellen Dialog. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die in der Regel starke emotionale Beteiligung im interkulturellen Dialog: „[...] durch Migration werden Zugehörigkeitsverhältnisse problematisiert. Weil sich diese Problematisierung auch auf die Frage, wie „wir“ leben möchten, bezieht, also eine grundsätzliche Ebene des gesellschaftlichen Zusammenlebens 184 Ebd., S. 124 185 Ebd., S. 137 186 Manifest (2001): Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen. Eine Initiative von Kofi Annan. Frankfurt am Main, S. 45 und S. 52 187 Ebd., S. 95 188 Auernheimer, G. (2005): S. 141 189 Ebd.
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berührt, ist der Diskurs über ‚Migration‘, ‚Zuwanderung‘, ‚Ausländer‘, ‚Multikulturalität‘ usw. ein intensiv geführter, zuweilen ideologisierter und von Affekten begleiteter Diskurs.“190 Für das Gelingen des interkulturellen Dialogs gelten die Grundregeln jeder guten Kommunikation: eine Atmosphäre des Vertrauens, in dem ein gemeinsamer Austausch stattfinden kann; die Beachtung allgemein anerkannter Gesprächsregeln sowie die Trennung von Sach- und Beziehungsebene.191
Methodenportfolio Interkultureller Erziehung Die eingesetzten Methoden in der interkulturellen Erziehung sind im Wesentlichen zwei Kategorien zuzuordnen: den erlebnisorientierten und den handlungsorientierten Ansätzen. Die erlebnisorientierten Methoden zielen auf ganzheitliches Lernen ab, das auch soziale Bezüge integriert, und zeichnen sich durch sozial-interaktive, emotional-erlebnishafte und lebensweltlich-arbeitsbezogene Tendenzen aus.192 Die handlungsorientierten Methoden knüpfen an biographische Erfahrungen an und beziehen kollektive Deutungen der Lernenden ein.193 Im Rahmen dieser beiden Kategorien bietet die interkulturelle Bildungsarbeit ein breites Spektrum unterschiedlicher Techniken und Methoden an. Dazu gehören z.B.:194 • explorative Verfahren (Befragung, Sozialstudie) • aufsuchende Verfahren (Exkursion, Erkundung, Feldstudie) • analytische Verfahren (Arbeit mit Fällen, Filmen, Fotos, Belletristik) • rezeptive Verfahren (Referat, Vortrag) • kreative Verfahren (Szenario-Technik, Brainstorming) • produktionsorientierte Verfahren (Collagen, Theaterarbeit, Fotoserien, Videoproduktion) • selbstreflexive Verfahren (Biographiearbeit, Selbsteinschätzungsübungen) • Simulationsverfahren (Rollen- und Planspiele) • interaktive Verfahren (Konfliktlösungsübungen) Die institutionelle Umsetzung interkultureller Erziehung findet nicht nur durch den Einsatz der genannten Methoden statt, sondern wird auch durch die äußerli190 Mecheril, P. (2004): S. 43 191 Hartkemeyer, M./ Hartkemeyer, W./Dhority, F., (1998): Miteinander denken: Das Geheimnis des Dialogs. Klett-Cotta, Stuttgart, S. 45. Auch: Auernheimer (2005), S. 141 192 Boogart, H.; Rosenhagen, G.; Stimmer, F. (Hrsg.) (2000): Lexikon der Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Oldenbourg Verlag, München, Wien, 4. Auflage, S. 185187 193 Dovermann, U./Auernheimer, G. (2000): Interkulturelles Lernen, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 194 Auernheimer, G. (2005): S. 158f.
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che Gestaltung der Einrichtungen und Gruppenräume ausgedrückt: Mit dem Ziel, alle Kinder und ihre Eltern in der Einrichtung willkommen zu heißen, können z.B. Gruppenräume oder Klassenzimmer durch Elemente gestaltet werden, die allen Kindern und ihren Familien Akzeptanz und Gleichwertigkeit vermitteln. Dies können Willkommensgrüße in verschiedenen Sprachen sein oder Bilder aller Kinder der Einrichtung, die die Heterogenität der Gruppen verdeutlichen.195 Einige der oben aufgelisteten Methoden zählen zum Erfahrungslernen, das durch sinnliches Erleben und Rituale gekennzeichnet ist.196 Hierbei wird der Multikulturalismus gefeiert, indem z.B. Feste unterschiedlicher Religionen gefeiert und Hintergründe erklärt werden.197 Annäherungen an die Kultur anderer Länder werden auch über Lieder, Tänze oder Verkleidungen etc. erreicht. Darüber hinaus können die Besonderheiten eines Landes z.B. durch das Herstellen und Benutzen von Produkten wie Masken, Musikinstrumenten und Spielzeug – jeweils unter Bezugnahme auf die Lebenssituation und Geschichte eines Landes – sinnlich erfahren werden.198 Der Einsatz multikultureller Spielzeuge und Lernmaterialien kann ebenfalls sinnliche Erfahrungen vermitteln. Geografische Vorstellungen und Entfernungen können z.B. mithilfe bestimmter Materialien wie Länder-Kontinente-Puzzle, Globus oder Weltkarte vermittelt werden. Eine weitere Möglichkeit ist das Kennenlernen eines Landes über mitgebrachte Gegenstände, Spiele oder Simulationen mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten, Unterschiede zu erfahren, z. B. zum Leben von Kindern in anderen Ländern.199 Überdies sollte in altersgerechter Weise Information über Minoritätskulturen vermittelt werden. Das ethnologische Interesse der Kinder am „fremden Nachbarn“ kann dabei durchaus auf romantisierende Weise gestaltet werden.200 So hat sich der Einsatz von angeleiteten Fantasiereisen in ein fremdes Land mit Rollenvorgaben als sinnvoll erwiesen. Nach dem Austausch über ihre Fantasien durch Gespräche oder gemalte Bilder vergleichen die Kinder ihre Fantasien anhand von Fotos, Filmen und Erzählungen mit der Realität des jeweiligen Landes. Auch das Zubereiten von Nahrungsmitteln und Speisen aus fremden Ländern weckt das Interesse der Kinder. Dabei werden Anbau und Nutzung des Nahrungsmittels für den dortigen Familienbedarf und für den Export besprochen, um – im Falle des Exports nach Deutschland – die Verbindung zum unmittelbaren Alltag der Kinder herzustellen.201 195 Leisau, A. (o.D.): o.P. 196 Auernheimer (2005): S. 158ff. 197 Fleras, A./Elliott, J. L. (1995): Multiculturalism in Canada, Nelson Canada, Ontario, S. 200ff. 198 Prüfer, U. (2004): Noch zu klein für die globale Welt? Globales/Interkulturelles Lernen in Kindertagesstätten und Schülerclubs. URL: www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Kindertagesbetreuung/s_629.html 199 Prüfer, U. (2004): (o.P) 200 Fleras, A./Elliott, J. L. (1995): S. 200ff. 201 Prüfer, U. (2004): (o.P.)
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Neben der Information sollte auch eine Reflexion im kritischen Dialog stattfinden, in dem sich etwa mit bestimmten Vorurteilen kritisch auseinandergesetzt wird.202 Im Rahmen von Zukunftswerkstätten kann daran gearbeitet werden, wie Kinder und Jugendliche sich die Zukunft ihres Landes vorstellen, was sie jetzt für „ihr“ Land von morgen tun können. Diese Methode kann altersspezifisch durch Gespräche, Basteln oder Malen gestaltet werden.203 Hierbei können Konflikte des Zusammenlebens, spezifische Lebensbedingungen von Migranten und Umweltprobleme auf spielerische Weise über Rollenspiele und Theaterstücke thematisiert und diskutiert werden.204 Es kann immer wieder sinnvoll sein, außerunterrichtliche Aktivitäten und Zeitzeugen in den Unterricht mit einzubeziehen, denn über Asylbewerber zu hören ist etwas ganz anderes als einem Asylbewerber eine Stunde lang Fragen stellen zu dürfen.205 Im Folgenden sind hier einige Aspekte angesprochen, die als grundlegende Methoden bzw. als generelle Problematiken Interkultureller Pädagogik anzusehen sind und in großen Teilen auf den Kompetenzen der Pädagogen beruhen bzw. entscheidend davon abhängen. Schwierigkeiten, die Kinder in der Schule haben oder machen, werden oft ganz automatisch attribuiert – ob das stimmig ist oder nicht. Hier können Misserfolge aufgrund ungünstiger Attribuierungen erst entstehen. Misserfolge können dagegen vermieden oder zumindest abgeschwächt werden, indem man als Professioneller versucht, sich diese Attribuierungen bewusst zu machen.206 Hier werden teilweise „Kulturkonflikte“ etwa um „die Türkin“ erst gemacht, weil sie als solches zur Attribuierung gewisser Spannungen herangezogen werden. Kulturelle Tradition und Religion, wie in diesem Fall der Islam, werden zum Synonym für ein unterdrückerisches, patriarchalisches Herkunftsmilieu der Migranten.207 Institutionelle Selbstreflexion ist ein wesentlicher Aspekt, Benachteiligungen abzufedern, indem eigene Diskriminierungstendenzen bewusst gemacht werden, wobei es auch einer „Reflexion der Reflexion“ bedarf.208 Jeder Beobachter und jede Perspektive haben unvermeidlich blinde Flecken, die durch Formen der Supervision entschärft werden können. Gleichzeitig gelingt auf diesem Weg eine engere Zusammenarbeit und wechselseitige Befruchtung zwischen Theorie und Praxis, die für diesen Bereich als besonders wichtig anzusehen ist.209
202 Z.B. Beach/Joyce (1997): S. 139 und S. 145 203 Z.B. Beach, R./Joyce, W. (1997) Introducing Canada, National Council for the Social Studies, Washington: S. 137ff 204 Prüfer, U. (2004): (o.P.) 205 Auernheimer, G. (2005): S. 167 206 Diehm, I./Radtke, F.-O. (1999): S. 51 und S. 55 207 Ebd., S. 78ff. 208 Mecheril, P. (2004): S. 173 209 Diehm, I/Radtke, F.-O (1999): S. 47
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Diskussion Zusammenfassung des wissenschaftlichen Diskurses Der schon hervorgehobene Perspektivenwechsel in der Interkulturellen Pädagogik ist nach wie vor Bestandteil des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses, wobei insbesondere die Institutionen und die eigene Kompetenz in den Vordergrund gerückt werden. Aus der Theorie der Sozialarbeit kamen Anstöße, den Mittelpunkt der Diskussion nicht mehr bei den erwünschten Einstellungen und Haltungen der Lernenden zu belassen, sondern auf die interkulturelle Kompetenz des pädagogischen Personals zu richten.210 Im Praxisfeld Schule beschäftigen sich zunehmend auch die einzelnen Fachdidaktiken mit der interkulturellen Thematik. Im Bereich der Elementarpädagogik wird insbesondere der Situationsansatz diskutiert. Im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs sind deutlich mehr Konsens und weniger Kontroversen zu erkennen als früher. So besteht zum einen Übereinstimmung über ein „antiessentialistisches Verständnis von Kultur“211, welches insbesondere für die konstruktivistischen Ansätze der Interkulturellen Pädagogik wieder von Bedeutung ist. Diehm und Radtke nehmen hinsichtlich des Kulturbegriffs eher eine Außenseiterposition ein und definieren – wie bereits beschrieben – Kultur als „Beobachtungsweise“ und betonen die Eigenschaft der Konstruktion.212 Zum anderen ist man sich in der Wissenschaft grundsätzlich darüber einig, dass sich Interkulturelle Pädagogik inhaltlich primär mit den strukturellen Ungleichheiten und den damit verbundenen kulturellen Dominanzverhältnissen und rassistischen Diskussionen beschäftigen muss.213 Konsens besteht auch dahingehend, die Adressaten Interkultureller Erziehung nicht mehr länger auf ethnische Zugehörigkeit festzulegen, stattdessen hält man die Aushandlung von Identitäten und Zugehörigkeiten im Rahmen von Interaktionen für sinnvoll. Mehrheitlich wird Identität vor allem als Patchwork-Identität definiert. Es besteht weiterhin Übereinstimmung über eine der primären Zielperspektiven Interkultureller Erziehung: die Selbstreflexion von eigenen kulturellen Vorlieben und Wahrnehmungen.214 Bislang wurde allerdings keine Übereinstimmung in der Frage nach kultureller Differenz und Identität erreicht. Diehm und Radtke bringen hier den Vorwurf der Kulturalisierung ein, die sie als „Überbetonung der Beschreibung sozialer Wirklichkeit/Probleme mit der Unterscheidung ,Kultur‘“215 definieren. Sie lehnen den Kulturbegriff zur Beschreibung von Differenz grundsätzlich ab und werfen der Interkulturellen Pädagogik vor, dass diese nach wie vor Verhaltensmuster 210 211 212 213 214 215
Auernheimer, G. (2005): S. 119 Ebd. Diehm, I/Radtke, F.-O. (1999): S. 59f. Auernheimer, G. (2005): S. 120f. Ebd., S. 121 Diehm, I/Radtke, F.-O. (1999): S. 147
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von Migranten durch kulturelle Differenzen erklärt – wenn auch nun mit positiven Konnotationen.216 Durch die wesentliche Fokussierung auf die strukturelle Ungleichheit der Migranten „steht jede Thematisierung von Kultur in dem Verdacht, mit falscher Ideologie tatsächliche Machtverhältnisse zu verschleiern.“217 Zudem kann ein kulturalistischer Blickwinkel dazu führen, dass die Herkunftskulturen der Migranten als starr und manifestiert begriffen werden. Die entsprechenden pädagogischen Anstrengungen könnten sogar dazu beitragen, diese Strukturen zu verfestigen. Der einseitige Blick auf die Unterschiede verbirgt auch die Sicht auf mögliche Gemeinsamkeiten. Die Festschreibung ethnischer Merkmale missachtet darüber hinaus, dass Einwanderer auch in ihrer Herkunftsgesellschaft bereits mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und den Konsequenzen der Modernisierung konfrontiert wurden.218 Die Mehrheit der Migranten hat sich mit diesen Konsequenzen sowohl in der Herkunftsgesellschaft als auch in der Einwanderungsgesellschaft aktiv auseinandergesetzt. Konflikte sind dementsprechend nicht kulturalistisch zu deuten. Stattdessen ist zu bedenken, „dass die Schwierigkeiten von Statuspassagen heute quer durch die multikulturelle Gesellschaft gehen, dass sie ein Problem der Modernisierung dieser Gesellschaft sind, die die Migrantengruppen nicht etwa später, sondern früher und radikaler an sich erfahren haben als andere Gruppen der Aufnahmegesellschaft“219. Die kulturalistische Perspektive trägt zwar zur Festigung der ethnischen Gruppenkohärenz bei, führt aber gleichzeitig zu deren Marginalität. Als Folge dessen ist eine Verfestigung bestehender Konfliktlösungmuster, sind wechselseitige Wahrnehmungsformen und damit verbunden ethnische Stereotypisierung verbunden. Bis hin zu der negativen Konsequenz, dass erst diese ethnischen und kulturellen Zuschreibungen bei den Migranten zu einem Rückzug auf traditionelle Kulturmuster führen, damit also erst jene Wirkung erzeugt wird, die mit den Zuschreibungen bereits unterstellt wurden, so Kiesel.220 Diese Verhaltensweise wird wiederum von vielen Teilen der einheimischen Bevölkerung als Ausdruck der Fortsetzung der Herkunftskultur empfunden.221 Die kulturellen Zuschreibungen werden auch als eine Art Konfliktbewältigung genutzt: Probleme und Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft werden sowohl von Einheimischen als auch von Migranten durch ethnische Zuschreibungen verarbeitet.222 Eine wesentliche Kritik kultura216 Ebd. 217 Nieke, W. (2000): S. 33 218 Apitzsch, U. (1993): Migration und Ethnizität, in: Modernisierung ohne Alternative, in: Peripherie 50/1993, S. 12 219 Apitzsch, U. (1991): Lernbiographien zwischen den Kulturen., in: Gieseke, W.; Meueler, E.; Nuissl, E. (Hrsg.): Ethische Prinzipien der Erwachsenenbildung. Verantwortlich für was und vor wem?, Kassel, S. 161 220 Kiesel (1996): S. 139 221 Ebd., S. 152 222 Brumlik, M. (1991): Ratlos vor den Fremden? Zum Ethnozentrismus und Kulturrelativismus, in: Gieseke, W./Meueler, E./Nuissl, E. (Hrsg.): Ethische Prinzipien der Erwachsenenbildung. Verantwortlich für was und vor wem?, Kassel, S. 170f.
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listischer Ansätze führt auch Mecheril aus.223 Manche neigen dazu, soziale Verhältnisse und soziale Konflikte in unangemessener Weise zu „kulturalisieren“. Nicht jede Befremdung, jeder Konflikt kann damit „wegkulturalisiert“ werden, auch nicht jede Devianz. Soziale Unterschiede machen sich nicht nur an ethnischen Merkmalen fest, sondern etwa an Statusungleichheit, Bildungsungleichheit usw., die etwa durch Herkunft oder geschlechtlich begründete Benachteiligung entsteht. Auch findet Kultur ja nicht im luftleeren Raum statt, sondern ist an einem spezifischen Ort situiert. In Köln sind die Verhältnisse anders als in Frankfurt am Main, in Köln-Mülheim anders als im Frankurter Westend etc.224 In diesem Zusammenhang weist Kiesel auf die Möglichkeit hin, dass es innerhalb einer Zuwanderungsgesellschaft unterschiedliche, zum Teil sogar konträre Integrationsprozesse geben kann: „So entstehen miteinander kompatible und grenzübergreifende Strukturmerkmale sowohl in fortgeschrittenen, vom urbanen Einfluss geprägten Industriegesellschaften als auch in dörflich und agrarisch bewirtschafteten Regionen – unabhängig von der jeweilig vorherrschenden nationalen Kultur.“225 Eine solche Möglichkeit wird nach Kiesel von der Interkulturellen Pädagogik nicht wahrgenommen. Der Perspektivenwechsel vollzog sich auf verschiedenen Ebenen, wobei die wissenschaftlichen Aspekte immer Auswirkungen auf die pädagogische Praxis haben. Es veränderten sich die Problemdiagnose (vom Defizit zur Differenz), die Adressaten (nicht mehr nur Migrantenkinder, sondern alle Schüler), die Praxis (von Kompensation z.B. in Form von Fördermaßnahmen zu Mehrperspektivität bzw. Kulturrelativismus), die Ziele (von Rückkehr bzw. Assimilation zu Anerkennung und Erhalt der kulturellen Identität) sowie das Gesellschaftsmodell (von homogener Gesellschaft zu multikultureller Gesellschaft).226
Die PISA-„Katastrophe“ und Wege aus dem Dilemma unter Berücksichtigung des Beitrags Interkultureller Erziehung Trotz des Paradigmenwechsels in der Pädagogik konnte die Benachteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund nicht verhindert oder dem entgegengewirkt werden. Gleiches gilt im Übrigen für den engen Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozialer Herkunft für alle Schüler deutscher Schulen – und das trotz ausreichend wissenschaftlicher Dokumentation und Reflexion. Die Statistiken der PISA-Studie von 2001 verdeutlichen dies eindrucksvoll. Bei aller methodischen Kritik können sie als verlässliche Trendaussagen gewertet werden. Deutlich zeigt sich die Abhängigkeit des Bildungswegs vom Migrationsstatus an den Übergängen zu den jeweiligen Schultypen. Wie in Frankreich haben Kin223 224 225 226
Mecheril (2004): S. 108ff. Ebd., S. 115ff Kiesel, D. (1996): S. 138 Diehm, I/Radtke, F.-O. (1999): S. 128ff.
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der aus deutschen Familien (Gruppe 1) die besten Bildungschancen, jene aus gemischten Familien (Gruppe 2) signifikant geringere, die schlechtesten haben Kinder, deren Eltern beide im Ausland geboren wurden (Gruppe 3). Im Vergleich zur Referenzgruppe der Zuwandererkinder haben deutsche Kinder eine 4,4-fach größere Chance, ein Gymnasium zu besuchen, Kinder aus gemischten Ehen besuchen immerhin fast 3,5-mal so oft ein Gymnasium wie Kinder aus reinen Zuwandererfamilien.227 Tabelle 10 zeigt die Leistungsdifferenzen in den untersuchten Kompetenzbereichen in Abhängigkeit von der ethnischen Herkunft der Schüler. Tabelle 10: Leistungsdifferenzen nach Herkunft228 Gruppe 1
Gruppe 2
Gruppe 3
Lesen
Mathe
Naturwiss.
OECDDurchschnitt
506
504
504
467
474
462
446
456
444
Deutschland
507
510
507
432
437
423
419
423
410
Kanada
538
537
530
539
530
521
511
522
503
Frankreich
512
523
510
471
487
451
434
441
408
Kompetenzbereich
Lesen
Mathe
NaturWiss.
Lesen
Mathe
NaturWiss.
Die Leistungen der Schüler mit Migrationshintergrund liegen in Deutschland demnach nicht nur signifikant unter dem OECD-Durchschnitt, sondern zeigen wie in Frankreich einen großen Abstand zu den einheimischen Schülern. In heller Aufregung schloss sich an die Veröffentlichung dieser und anderer internationaler Vergleichsstudien eine breite in der Öffentlichkeit geführte bildungspolitische Debatte an. Die Politik stand vor der Aufgabe, beide als gravierend betrachtete Rückständigkeiten Deutschlands – die geringe Elitenförderung und die starke Abhängigkeit von der sozialen Herkunft – zu beheben. Allerdings fehlt dem Bundesbildungsministerium dafür die Entscheidungskompetenz; die Verantwortung liegt bei den Bundesländern. Das schließt eine gemeinsame Anstrengung zu einer grundlegenden Reform des deutschen Schulwesens nicht aus, insofern der politische Wille dazu vorhanden ist. Da diesem aber zumindest keine Einheitlichkeit zuzuerkennen ist, finden die von Bildungsexperten formulierten Reformvorschläge für das deutsche Bildungssystem nur partiell Umsetzung in praktische Politik. Das theoretische Wissen ist also vorhanden, sehr viel wurde dabei von den international gut dastehenden Ländern gelernt. Die folgende Aufstellung gibt einen Überblick über die wichtigsten Aspekte der aus den Vergleichsstudien gezogenen Konsequenzen. Ins Auge sticht die Stoßrichtung auf institutionelle und organisatorische Veränderungen; die Erweiterung der Grund227 Baumert, J. (2001): S. 378 228 Quelle: BMFB (2003): S. 198. die Werte bezeichnen das erreichte Punktniveau in den jeweiligen Kompetenzbereichen.
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schulzeit und die stärkere Berücksichtigung von Leistungsheterogenität und der Einbau individueller Fördermöglichkeiten. Ein expliziter Bezug auf die Problemstellung: „Schüler mit Migrationshintergrund“ fehlt, was aus Sicht der Vermeidung einer neuen Etikettierung und Defizitpädagogik angebracht ist, letztlich aber der Lage nicht angemessen ist.
Zentrale Punkte einer neuen Bildungspolitik
• • • • • • • • • • • •
Stärkung schulischer Selbständigkeit und Eigenverantwortung in pädagogischen, finanziellen und personellen Fragen – Verantwortung für Lern- und Bildungsprozesse muss in der Schule bleiben. Ausbau von Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung von Vorschulkindern Ausbau frühkindlicher Erziehungsangebote Erweiterung der Grundschule auf mind. 6 Jahre – Rückbau der institutionalisierten Selektionsmechanismen Verstärkung der Sprachförderung im vorschulischen Bereich und in den Grundschulen, gezielte Förderung der „Risikogruppe“ Professionalisierung und Höherqualifizierung der ErzieherInnen Individuelle Förderung der Schüler je nach Bedürftigkeit Gleichzeitigkeit der Förderung von Nachhilfebedürftigen und Elitenförderung Verstärkung der Kompetenzvermittlung zur Förderung der Lernfähigkeit („lebenslanges Lernen“) Anerkennung individueller Leistungen – bilden wichtige Ressource für Selbstbewusstsein, Lernmotivation und Schulklima Behebung von Defiziten frühzeitig erkennen und unabhängig von der sozialen Herkunft beheben ĺ Qualifizierung des Lehrpersonals Anpassung der Lehrerausbildung an veränderte soziale und schulische Wirklichkeit229
In mehreren Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern, Bayern, Sachsen) sind entsprechende Richtlinien zusammen mit den Grundzügen interkultureller Pädagogik in die Lehrpläne eingearbeitet worden. Aspekte interkultureller Bildung tauchen nun nicht mehr nur in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz und in Präambeln auf, sondern sind in Themenkatalogen auf Fächerebene integriert. In einigen Ländern wird dies als allgemeine Bildungsaufgabe begriffen, in anderen auf jene Schulen beschränkt, die einen höheren Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund aufweisen. Hier ist Interkulturelle Pädagogik immer noch Kompensationspädagogik230. So finden sich im Bayrischen Gesetz über das Er229 vgl. SMOLKA (2005), PISA. Konsequenzen für Bildung und Schule, in: APuZ B 12/05, S. 24 230 Ebd., S. 807
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ziehungs- und Unterrichtswesen keine Formulierungen, die über den Gehalt allgemeiner Erziehungsziele hinausgehen, bleibt die Umsetzung in den Fachlehrplänen vage und unbestimmt – weitestgehend beschränkt auf Religions- oder Ethikunterricht.231 Anders in Berlin: Kulturelle Heterogenität wird zum „Normalfall“, hier verbinden sich begegnungs- und konfliktpädagogische Ansätze, da auch die Toleranz gegen andere Weltsichten geübt wird. Interkulturelle Kompetenz ist allgemeines Lernziel, unabhängig von der tatsächlichen Anwesenheit von Migrantenkindern in der Schule. „Das didaktische Ziel ist die Kompensation von zweitsprachlichen Defiziten; die Entwicklung interkultureller Kompetenz ist Anliegen eines eigenen fächerübergreifenden Aufgabengebietes.“232 Der Grundschullehrplan wurde dahingehend reformiert, dass er die Heterogenität der Schülerschaft anerkennt und bspw. über Einübung von Konfliktregelungsmechanismen, Multiperspektivität, Einsicht in die Wertgebundenheit menschlichen Handelns produktiv verwenden kann. Darüber hinaus findet sich in den meisten Bundesländern inzwischen die Konzentration auf die Kompetenz- statt auf Wissensvermittlung, die Voraussetzung, um Mängel in Sprache und Ausdrucksfähigkeit sowie dem lesenden und schriftlichen Umgang mit der deutschen Sprache zu bekämpfen.
Bildungsstrategien Bildungserfolg ist wesentlich von intergenerationeller Transmission kulturellen Kapitals abhängig. Inkorporiertes und institutionalisiertes Bildungskapital in Form von Wissen, Kompetenzen und Bildungsabschlüssen bestimmen Quantität und Qualität familialer außerschulischer Unterstützungsleistungen für die Kinder; stehen in engem Zusammenhang mit den verfolgten Bildungsstrategien. Bekanntlich verfügen Unterschichtmilieus über die geringsten Ressourcen ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals, haben deshalb bereits bei Eintritt in den Bildungsprozess schlechtere Voraussetzungen als Angehörige der Mittelschicht. Hinzu kommt, dass Unterrichtsform, Curricula und Leistungsüberprüfungen mit ihrer Schwerpunktsetzung auf Literacy und Wissensvermittlung (zuungunsten vor allem praktischer Fähigkeiten) ebenfalls die Mittelschicht bevorteilt, da Lesekultur dort viel ausgeprägterer Bestandteil der Alltagskultur ist, entsprechendes, für die Schulleistungen relevantes Wissen auch außerhalb der Schule vermittelt und transportiert wird.233 231 Ebd., S. 810 232 Ebd., S. 811 233 Vgl. Grundmann, M./Bittlingmayer, H.-U. et. al. (2004): Bildung als Privileg und Fluch – zum Zusammenhang zwischen lebensweltlichen und institutionalisierten Bildungsprozessen, in: Becker, R./Lauterbach, W. (Hrsg.), Bildung als Privileg?, Erklärungen und Befunde zu den Ursachen von Bildungsungleichheit, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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Darüber hinaus gelingt in Deutschland die Zuweisung von Berufspositionen gemäß dem sozialen Status, also hohe intergenerationelle Statuskonsistenz. Vielfältige Mechanismen sind dafür verantwortlich, wie bspw. die gerade angesprochene mittelschichtsorientierte Unterrichtspraxis, die leistungsunabhängig bevorzugte Einschätzung von Mittelschichtskindern bei den Bildungsempfehlungen nach der Grundschule. „Nach einer Erhebung unter allen Hamburger Fünftklässlern benötigt zum Beispiel ein Kind, dessen Vater das Abitur gemacht hat, ein Drittel weniger Punkte für eine Gymnasialempfehlung als ein Kind mit einem Vater ohne Schulabschluss. Bei Versetzungsentscheidungen sind dieselben Mechanismen zu beobachten.“234 Zusätzlich wirkt das soziale Milieu einschränkend oder unterstützend auf individuelle oder familiale Bildungsaspirationen. In den Unterschichten hat sich die Distanz zu bildungsbürgerlichem Bildungsgut und darauf aufbauenden Schulunterricht über Generationen hinweg reproduziert und ist integraler Bestandteil milieutypischer Lebensführung und Orientierung. Davon abweichende Bildungsstrategien stellen daher ein individuelles wie soziales Wagnis dar, da Entfremdung gegenüber dem Herkunftsmilieu in Kauf genommen werden muss, ohne dass durch erfolgreiche Bildung der soziale Aufstieg in andere Milieus zwingend gelingt.235 Zusammengefasst lässt sich sagen: Ohne innerfamiliär akkumuliertes kulturelles Kapital ist Bildungserfolg im deutschen Schulsystem schwierig zu realisieren. Kinder mit Migrationshintergrund stehen angesichts dieses Zusammenhangs vor besonderen Schwierigkeiten. Aufgrund ihrer ausländischen Herkunft können ihre Familien nicht immer über das notwendige Bildungskapital verfügen. Im Herkunftsland akkumuliertes Bildungskapital der Eltern ist in Deutschland meist weniger wert – stellt jedoch für die Einpassung in die deutsche Gesellschaft eine bessere Voraussetzung dar als die Herkunft aus armen ländlichen Regionen der Türkei, Italiens oder Afrikas.236 Weiterhin fehlt diesen Familien der Zugang zur bildungsbürgerlichen Tradition deutscher Mittelschichten, der diesen wie selbstverständlich innewohnende Drang zu Bewährung und Aufstieg mittels Qualifizierung, die damit verbundenen Bildungsstrategien der Mittelschicht und ihr selbstverständlicher Umgang mit Kultur und Wissen im außerschulischen Alltag; es fehlt spezifisches Wissen über das Bildungssystem und seine Funktionsweisen. Unklare Lebensperspektiven, wenn bspw. die Rückkehr ins Heimatland eine Option ist, behindert ebenfalls das Ausschöpfen der Leistungsfähigkeit von Schülern mit Migrationshintergrund. Hier mündet die Schullaufbahn in einen Weg ein, dessen Abschluss in Deutschland wie im Herkunftsland verwertbar ist – und das sind meist niedrige Schulabschlüsse.
234 Hartmann, M., (2004b): Eliten in Deutschland, Rekrutierungswege und Karrierepfade, in: APuZ B 10/04, S. 19 235 Grundmann, M./Bittlingmayer, H.-U. et. al. (2004): S. 53f. 236 Steinbach, A./Nauk, B. (2004): S. 25f.
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Für die Kinder von Einwanderern erster Generation oder im Ausland geborene Kinder mag dies als Erklärung ihrer schulischen Schwierigkeiten hinreichen. Allerdings ist zu fragen, warum auch türkische oder italienische Schüler der zweiten oder dritten Einwanderergeneration, die im Wesentlichen wie deutsche Jugendliche aufwachsen, nach wie vor signifikant schlechtere Leistungen in den wichtigsten Bereichen zeigen. Denn über Generationen hinweg bestand zumindest theoretisch die Möglichkeit einer hinreichenden Akkulturation an die deutsche Gesellschaft, um so Verständnis für die Plaztierungsfunktion des Bildungssystems zu gewinnen und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen. Dass dies im Durchschnitt nicht gelungen ist, verweist auf die fehlende, ernst gemeinte Integrationspolitik der Bundesrepublik – erste Ansätze sind erst seit wenigen Jahren in der Diskussion – verweist auf die fundamentalen Sprachschwierigkeiten in Migrantenfamilien, die verbreitete Distanz zur deutschen Sprache und Schriftkultur237, zeigt aber auch an, wie wenig im Zuge latenter sozialer Prozesse sich Interaktionsnetzwerke der deutschen Mehrheitsgesellschaft und manchen Teilen der Migranten, vor allem türkischer Herkunft, miteinander verbunden haben, um (wechselseitige) Akkulturation auf alltagskultureller Ebene voranzubringen. Es wirft aber ebenso die Frage nach der Integrationsbereitschaft, den Hemmnissen auf, die sich aus dem Verhaftetsein einer bildungsfernen Herkunftskultur ergeben.
Grenzen Interkultureller Pädagogik Interkulturelle Pädagogik erhebt – analog zur Allgemeinbildung – einen Anspruch auf allgemeine Geltung und begreift sich als fachübergreifendes pädagogisches Prinzip.238 Hinsichtlich der Adressaten Interkultureller Pädagogik gibt es kein vorstellbares Persönlichkeitsprofil, das auszunehmen wäre: „Adressaten Interkultureller Pädagogik sind dabei nicht nur die Kinder der Gruppe, die im Ausland geboren und anschließend mit ihren Eltern migriert sind, sondern auch alle hier geborenen oder hier aufgewachsenen Kinder. Nationalität, Ethnie, religiöse Zugehörigkeit und kulturelle Prägung spielen dabei keine Rolle.“239 Ob Deutsche ohne Migrationshintergrund oder mit bikulturellem oder multikulturellem Hintergrund, Migranten und sonstige Minoritäten, die sich etwa aus der Zugehörigkeit zu einer Subkultur konstituieren – unsere Gesellschaft ist heterogen und jeder soll darauf vorbereitet werden, sich in ihr so gut wie möglich zurechtzufinden. So schreibt Leisau im Handbuch der Kindergartenpädagogik streitbar und völlig korrekt: „Grundgedanke der Interkulturellen Erziehung im Elementarbe237 Die Wichtigkeit der Lesekompetenz kann gar nicht überschätzt werden. Betrachtet man Schüler auf gleichem Kompetenzniveau im Lesen und der Sprachfähigkeit, finden sich keine signifikanten Differenzen zwischen deutschen Schülern und jenen mit Migrationshintergrund, sind diese auf Gymnasien auch nicht unterrepräsentiert. 238 Kiesel, D. (1996): S. 228 239 Leisau , A.(o.D.): o.P.
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reich ist der, dass alle Kinder auf ein Leben in einer heterogenen Gesellschaft vorbereitet werden müssen. Daraus folgt, dass auch deutsche Kinder Adressaten solch eines Ansatzes sind.“240 Der beschriebene Grundgedanke der Interkulturellen Pädagogik ist dabei natürlich nicht nur auf den Elementarbereich zu beziehen, sondern auf alle Erziehungs- und Bildungsbereiche. In allen Bildungsinstitutionen sind die Auswirkungen der Migrationssituation deutlich spürbar, weshalb pädagogische Konzepte und Bildungsprozesse entsprechend modifiziert werden müssen.241 Darüber hinaus zielt Interkulturelle Pädagogik im Bildungsbereich auf die Herstellung von Chancengleichheit. Hierbei ist darauf zu achten, dass die Vielfalt der Adressaten berücksichtigt wird, was sich letztlich auch in der Curricula-Gestaltung wieder finden muss. Dort muss es zur Selbstverständlichkeit werden, dass die Erfahrungen der Einheimischen und der Migranten in der Migrationsgesellschaft beachtet werden und sich aus der Verbindung von beidem ein neues kulturelles Selbstverständnis ergibt, in dem sich alle Gruppen wiederfinden können. Unter welchen Bedingungen stößt Interkulturelle Erziehung an ihre Grenzen? In diesem Zusammenhang fasst Leisau hinsichtlich der Erfolge der bereits praktisch umgesetzten Interkulturellen Erziehung zusammen: „Diskriminierungen und Ausgrenzungen sind in weiten Teilen – auch und besonders in der Ausländer- oder Migrantenpolitik – in Gesetzen verortet und damit legitimiert. Zudem sind sie im Alltagsdenken derart fest verankert, dass sie im täglichen Leben ständig reproduziert werden.“242 Auch sollte der interkulturelle Blickwinkel nicht allein Minoritäten und/oder Migranten vorbehalten bleiben – sondern auch anderen (Sub-)Kulturen, wie ich auch schon vorher im Kanada-Teil ausführte. Man kann nicht den einen die Chance des kulturalistischen Blickwinkels geben und den anderen nicht. Der kulturalistische Blickwinkel kann durchaus Konflikte entschärfen, indem Konflikte auf Missverständnisse zurückgeführt werden und nicht auf stark divergierende Interessen. Diese Aspekte haben auch Folgen für ethische und politische Fragen Interkultureller Erziehung, die alltäglich beantwortet werden müssen, aber nicht allein im schulischen Alltag gelöst werden können. Hierbei ist vor allem an Strukturen sozialer Ungleichheit zu denken, die hinter der Benachteiligung von Migranten stehen und die für eine Interkulturelle Pädagogik relevant sind, ohne dass sie von dieser verändert werden können. Interkulturelle Erziehung findet eben nicht im historisch oder kulturell luftleeren Raum statt. Sie wird von den politischen Rahmenbedingungen sowohl inspiriert als auch blockiert und referiert auf ethische Werte, die teilweise eben auch historisch differieren. Interkulturelle Erziehung kann als Grundprinzip pädagogischer Arbeit in Deutschland gelten, das sich zumindest mehr als noch vor 240 Ebd. 241 Kiesel, D. (1996): S. 229 242 Leisau, A. (o.D.): o.P
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Jahrzehnten zunehmend dazu bekennt, eine Zuwanderungsgesellschaft zu sein.243 Doch das politische wie auch gesellschaftliche Klima fordert die Menschen auch stark, stellt sie angesichts der gegenwärtigen Umbrüche im Zuge von Globalisierung, Migration, kultureller Pluralisierung und Flexibilisierung und wachsender Mobilität und Unstetigkeit in vielen Bereichen vor besondere Anforderungen bezüglich der Orientierung und Entscheidungsfindung. Dabei eröffnen diese Prozesse gleichzeitig Chancen und Risiken. Migration ist für die westlichen Gesellschaften, vor allem die Europas, ein zusätzliches Problem; ein weiterer Aspekt, der bisher Vertrautes mit noch mehr Fremden in Berührung bringt und daher Ressentiments, soziale Widerstände bis hin zu Extremismus als Abwehrstrategien auslösen kann. Entsprechendes findet sich auch in der Politik, wie bspw. die Versuche, den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union mit dem Hinweis auf die einende Klammer des Christentums um alle europäischen Staaten zu verhindern. Und natürlich werden diese Konflikte auch in den schulischen Kontext hineingetragen, wie die Debatten und rechtlichen Auseinandersetzungen um Kopftücher und Teilhabe von Muslimen an bestimmten Unterrichtsfächern zeigen. Alle Bemühungen der Pädagogen können strukturelle und politische Lösungen nicht ersetzen: „Bei allen Verdiensten hat die Interkulturelle Pädagogik ihre strukturellen Grenzen, denn nicht sie selbst, sondern die Politik trägt in erster Linie die Verantwortung für die Ausbildung sozialer und gerechter Verhältnisse in der multikulturellen Gesellschaft.“244
Die muslimische Minderheit in Deutschland Parallelgesellschaften? Die westdeutsche Gesellschaft war auf die Integration der Gastarbeiter nicht vorbereitet; bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gab es keinen gesellschaftlichen Konsens, wie die unabweisbare Tatsache der dauerhaften Anwesenheit kultureller, ethnischer und religiöser Fremder in Deutschland zu bewerten sei und welche Konsequenzen sich daraus ergeben würden. Im konfliktträchtigen und in sich gespaltenen Verhältnis der Deutschen zu sich selbst positionierte sich jedes gesellschaftlich-politische Lager unterschiedlich den Zuwanderern gegenüber: Eher ressentimentgeladen in der Tradition deutsch-nationalen Denkens die konservative Rechte; in deutlicher Opposition dazu, mit demonstrativem Internationalismus und Kosmopolitismus, die Liberalen und Linke vornehmlich jene soziale Bewegung, die in die Parteigründung der GRÜNEN mündete. Bis in die 90er-Jahre 243 Karakasoglu, Y./Kordfelder, A. (2004): Interkulturelle Erziehung als Grundprinzip elementarpädagogischer Arbeit in der Zuwanderungsgesellschaft. In: Karakasoglu, Y./Lüddecke, J. (Hrsg.): Migrationsforschung und Interkulturelle Pädagogik, Münster: Waxmann, S. 189-203 244 Kiesel, D. (1996): S. 233
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hinein konnten diese Auffassungen jedoch nicht den Zeitgeist bilden und das deutsche Selbstverständnis prägen; blieb die Republik unter Bundeskanzler Kohl eben kein Einwanderungsland. Dennoch: Unterhalb der Schwelle öffentlicher Wahrnehmung und des politischen Diskurses vollzog sich seit den 70er-Jahren eine langsame Integration der Zuwanderer in die Gesellschaft, wenn auch mehr in Form eines Nebeneinanders statt eines Miteinanders. Jenseits dessen näherte sich ihre Lebenssituation aufgrund stabiler Beschäftigungsverhältnisse denen der Deutschen an. In Großbetrieben zählten sie zur Kernbelegschaft und engagierten sich stark in den Gewerkschaften.245 Türkische Bürger sind damit ein Bestandteil deutscher Wirklichkeit geworden, auch wenn ihre Konzentration in bestimmten Stadtvierteln den Eindruck starker Segregation erweckt. So spielt in öffentlicher Wahrnehmung und Diskussion der Begriff der „Parallelgesellschaften“246, der in sich geschlossenen, zivilgesellschaftlich verfassten und ethnisch-religiös homogenen Gemeinschaftsnetzwerke von Zuwanderern eine zentrale Rolle als neues Schrekkensbild eines neuen Auslands in Deutschland. Diese räumliche Segregation ist unintendiertes Ergebnis aggregierter Einzelentscheidungen deutscher Bürger bezüglich der Wohnungswahl bzw. der Kommunen in ihrer Einflussnahme auf Mietpreisgestaltung. Nach dem Ende des Gastarbeiterstatus stand den Zuwanderern die freie Wohnungswahl offen. Über marktförmige Mietpreise, den Entscheidungen privater Vermieter, den Sanierungs- und Instandsetzungsarbeiten bzw. Wohnungsneubau der Kommunen (und der Ausschreibung privaten Baulands) wurde die Struktur erschaffen, dass Zuwanderer – entsprechend ihrer Stellung im Arbeitsleben – auch Wohnungen minderer Qualität (Ausstattung, Lage) zugewiesen bekamen, das Wohlstandsgefälle zwischen Zuwanderern und Deutschen stets zu sozialen Distinktionsbemühungen auch sozialräumlicher Art genutzt wurde.247 Vielerorts haben sich daraus Stadtteile mit deutlich türkischer Prägung entwickelt, auch wenn es nicht in jeder Stadt ein Berlin-Kreuzberg gibt. Um einschätzen zu können, wie inklusiv jene Interaktionsräume sind, muss die Kontaktdichte zwischen Türken und Deutschen in den Blick genommen werden. Es gibt Anzeichen, dass sich lebensweltliche und zivilgesellschaftliche Beziehungsnetzwerke herausgebildet haben, die bei hoher innerer Interaktionsdichte kaum regelmäßige Kontakte nach außen unterhalten. Das bedeutet, dass nicht nur 245 Böcker, A./Thränhardt, D., (2003): Erfolge und Misserfolge der Integration – Deutschland und die Niederlande im Vergleich, in: APuZ B 26/03, S. 8 246 Gemeint sind damit ethnisch homogene Interaktionsnetzwerke ohne Berührung mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Streng genommen konstituiert sich daraus noch keine Gesellschaft; diese zeichnet sich eher durch eine autonome Ökonomie und institutionelle Unabhängigkeit aus. Janßen, A./Polat, A., (2006): Soziale Netzwerke türkischer Migrantinnen und Migranten, in: APuZ B 1-2/06, S. 17 247 Meist wurden den Migranten die innerstädtischen Sanierungsgebiete zur „Restnutzung“ zugewiesen, dem aus Mangel an bezahlbaren Alternativen meist nicht zu entkommen war. Vgl. Kien Nghi Ha (1999): Ethnizität und Migration, Westfälisches Dampfboot, Darmstadt, S. 26
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persönliche Beziehungen nur innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe geknüpft sind, sondern auch das öffentliche Leben – Konsum, Ärzte, Dienstleistungen, kulturelles Leben – eigentlich ausschließlich innerhalb dieser Gruppe stattfindet. Etwa 22,5% der türkischen Bevölkerung in Deutschland können als so segregiert bezeichnet werden, da sie kaum Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft haben.248 Stark überrepräsentiert sind ältere Angehörige der ersten Generation (Gastarbeiter), die zugewanderten Ehepartner der zweiten Generation und jene Türken allen Alters ohne hinreichenden Deutschkenntnisse, die in der deutschen Mehrheitsgesellschaft kaum handlungsfähig sind. Überrepräsentiert sind auch jene mit geringer Bildung und geringem Einkommen und Berufsprestige, also die Unterschicht der Einwanderer. Weitet man die Perspektive und beschränkt sich nicht nur auf jene völlig von der Mehrheitsgesellschaft abgegrenzten Lebensweisen, gerät das tatsächlich beachtliche Ausmaß sozial-räumlicher Abschottung in den Blick. Natürlich hat sich in den türkisch dominierten Stadtvierteln ein türkischer Mittelstand von Handwerken über Kleinproduzenten bis hin zu den unterschiedlichsten Dienstleistern und freien Berufen herausgebildet, deren Klientel fast ausschließlich türkische Bürger sind. Ebenso gibt es ein türkisches Vereinswesen (meist in Verbindung mit dem Islam), verschiedene Bildungseinrichtungen (für Erwachsene bspw. Sprachkurse), inzwischen aber auch schon islamische Schulen, die formal ins deutsche Schulsystem eingebunden sind (so die Islamische Föderation e. V. in Berlin). Damit ist es nahe liegend, dass die Kontaktfrequenz zwischen Türken und Deutschen relativ gering ist, da in institutionellen Alltagsbezügen nur geringe Kontaktchancen bestehen.249 In der Migrationssituation, der Erfahrung von Fremdheit und Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft ist die Familie wichtigste Quelle ökonomischer, sozialer und vor allem emotionaler Unterstützung. Sie stiftet zumindest den Hauch von Heimatgefühl. Dahinter treten außerfamiliäre Kontakte in den Hintergrund, vor allem nach Verheiratung der jungen Familienmitglieder.250 Oft sind auch Heiratskreise bereits über Familienbande vorstrukturiert; das minimiert die Ausweitung sozialer Netzwerke. Diese sind auch sehr anfällig gegen räumliche Distanz; so gibt es kaum Kontakte zu Türken anderer Stadteile. Diese Abschottung ist natürlich der Integration in die deutsche Gesellschaft nicht förderlich. Es findet kaum Kulturtransfer in die Lebenswelt türkischer Migranten statt; teilweise wird die moderne, westliche Lebensweise bewusst abgelehnt. Dementsprechend entstehen individuelle Problemlagen, wo differente
248 Hahn, D./Sauer, M., (2006): Parallelgesellschaften und ethnische Schichtung, in: APuZ B 1-2/06, S. 23 249 Janssen/Polat (2006): S. 16 250 Zuvor gibt es vor allem unter den männlichen Jugendlichen familienübergreifende Netzwerke. Siehe Janßen/Polat (2006): S. 13
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Lebenswelt und Institutionen der deutschen Mehrheitsgesellschaft aufeinanderstoßen, wie in der Schule. Kollektiv ist der türkischen Minderheit dennoch kein mangelnder Integrationswille zu unterstellen. Zwar ist die aktive wie passive Teilnahme am politischen Geschehen in Deutschland sehr gering ausgeprägt, nur ein Bruchteil an Zuwanderern engagiert sich in deutschen politischen Gruppierungen (