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German Pages 580 Year 1982
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE
A K A D E M I E DER W I S S E N S C H A F T E N DER DDR Z E N T R A L I N S T I T U T FÜR G E S C H I C H T E
J A H R B U C H FÜR GESCHICHTE
Redaktionskollegium: Horst Bartel, Rolf Badstübner, Lothar Berthold, Ernst Engelberg, Heinz Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier, Wolfgang Schröder Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur), Gunther Hildebrandt (Stellv.), Jutta Grimann, Dietrich Eichholtz, Hans Schleier, Gerhard Keiderling, Klaus Mammach Redaktionelle Bearbeitung: Hannelore Rothenburg
JAHRBUCH 2 3 FÜR GESCHICHTE
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1981
Redaktionsschluß: 15. März 1980
Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1080 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1981 Lizenznummer: 202 • 100/95/81 GesamthersteHung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg Bestellnummer: 753 812 3 (2130/23) . LSV 0275 Printed in G D R DDR 2 5 , - M
Inhalt
7
Geleitwort Piotr
Skubiszewski
Ryszard
Kiersnowski Borawska
Danuta Henryk
Samsonowicz
Janusz Tazbir Andrzej
Wyczanski
Maria Bogucka
Polnische mittelalterliche Kunst liche Kunst in Polen?
oder
mittelalter9
Münze und Staat in Polen während der Piastenzeit .
57
Mieszko I. und Oda im Ludolflngorum
79
Kreis
consanguineorum
Stände und zwischenständische Beziehungen in Polen im 15. Jahrhundert
103
Die Stellung der polnischen Gesellschaft zur Reformation
123
Die Frau in der Gesellschaft Polens im 16. Jahrhundert. Versuch einer Sondierung 141 Das bürgerliche Mäzenat in Polen in der Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts
151 167
Jacek
Staszewski
Polen und Sachsen im 18. Jahrhundert
Józef
Chlebowczyk
Uber' einige Probleme der Nationbildungsprozesse in Ostmitteleuropa vom 18. bis 20. Jahrhundert . . . 189
Józef Ryszard Irena
Koberdowa
Hanna
Jan
Szaflik
Jqdruszczak
Tomicki
Czeslaw Czeslaw
Madajczyk Madajczyk
Hauptprobleme der Entwicklung und Tätigkeit der polnischen Volksbewegung
213
Die ersten Kontakte von Polen mit Marx und Engels . 233 Die Arbeiterklasse Warschaus in den Jahren 1918 bis 1970. Entwicklungsprozesse und Wirkungsfaktoren 251 Parteien und Parteiensysteme in Polen 1939). Ein Überblick
(1918 bis
Die internationale Bedeutung des von Polen im Jahre 1939 geführten Verteidigungskrieges
273 305
Das Warschauer Kulturleben während der Kriegsund Okkupationszeit 315
6
Inhalt
Tadeusz Jqdruszczak
Die antifaschistische Widerstandsbewegung in Polen 1939 bis 1945 331
Jan Görski
Die Wohnungspolitik während Warschaus 1944 bis 1949
des Wiederaufbaus 417
LITERATUR- UND FORSCHUNGSBERICHTE Jerzy Maternicki
Forschungen zur Geschichtsschreibung und -methodologie in Polen 437
Stefan Krzysztof Kuczyriski Die Hilfswissenschaften zur Geschichte bis ausgangs des 18. Jahrhunderts (1945 bis 1977) 471 Ireneusz Ihnatowicz
Die Hilfswissenschaften zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nach dem zweiten Weltkrieg . . . 491
Jerzy Serczyk
Das polnische geschichtswissenschaftliche Zeitschriftenwesen nach dem zweiten Weltkrieg 503
Adam, Manikowski
Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte Polens 16. bis 18. Jahrhunderts
Anna Zarnowska
des
Forschungen zur Geschichte der Arbeiterklasse Polens im 19. und 20. Jahrhundert (bis 1939)
Andrzej Skrzypek Kurzbiographien
517 531
Forschungen zur neuesten Geschichte in Polen . . . 549 der Autoren
Ubersicht der im „Kwartalnik
561 Historyczny"
1978 bis 1980 enthaltenen
Artikel
573
Geleitwort
Der vorliegende Band des „Jahrbuchs für Geschichte wird durch namhafte Historiker der Volksrepublik Polen gestaltet. Die Beiträge geben - teils als Darstellung speziellerer Forschungsprobleme, teils als resümierende Forschungsund Literaturberichte - einen repräsentativen Querschnitt der neueren polnischen Geschichtswissenschaft. Parallel dazu stellt sich die Geschichtswissenschaft der DDR in einem Band des „Kwartalnik Historyczny" den polnischsprachigen Lesern vor. Dieses Austauschprojekt wurde auf der Festsitzung der bilateralen Historikerkommission DDR - Volksrepublik Polen, die aus Anlaß ihres 20jährigen Bestehens Ende März 1976 in Warschau stattfand, angeregt und kann rechtzeitig zum 25jährigen Jubiläum dieser Kommission verwirklicht werden. Wir sind gewiß, daß die bessere gegenseitige Kenntnis der Vergangenheit unserer Völker und der Forschungsprobleme, mit denen sich die Geschichtswissenschaft beider Länder beschäftigt, zum tieferen wechselseitigen Verständnis beiträgt. Neben anderen Projekten, die von der bilateralen Historikerkommission initiiert oder in ihrem Rahmen durchgeführt werden konnten, ist auch der vorliegende Band Ausdruck der produktiven Zusammenarbeit der Historiker der DDR und der Volksrepublik Polen, die ihrerseits Bestandteil der Kooperation der beiden freundschaftlich verbundenen sozialistischen Nachbarn ist. Kommission der Historiker der DDR und der Volksrepublik Polen Prof. Dr. Heinrich Scheel Vorsitzender der Sektion der Historiker der DDR
Prof. Dr. Marian Biskup Vorsitzender der Sektion der Historiker der Volksrepublik Polen
Dr. Wolfgang Schröder Verantwortlicher Redakteur des „Jahrbuch für Geschichte"
Prof. Dr. Tadeusz J^druszczak Chefredakteur des „Kwartalnik Historyczny"
Piotr
Skubiszewski
Polnische mittelalterliche Kunst oder mittelalterliche Kunst in Polen?
1. Das Problem der Methode Die im Titel aufgeworfene Fragestellung gehört innerhalb der Kunstgeschichte in den Bereich der sog. Kunstgeographie.1 Der Begriff „Kunstgeographie" wird in der Regel bei regionalen Forschungen verwendet, doch läßt sich die Methode 1
Untersuchungen vom Standpunkt der Kunstgeographie und die Entwicklung ihrer theoretischen Grundlagen erörterten vor allem Deshoulières, Fr., La théorie d'Eugène Lefèvre-Pontalis sur les écoles romanes. Bulletin Monumental, 84, 1925, S. 197-252; 85, 1926, S. 5-65; Pieper, F., Kunstgeographie. Versuch einer Grundlegung, Berlin 1936; Crozet, R., Problèmes de méthode. Les théories françaises sur les écoles romanes. Boletin del Seminario de Estudios de Arte y Arqueología Valladolid, 21/22, 1954/55-1955/56, S. 39-45; Frey, D., Geschichte und Probleme der Kultur- und Kunstgeographie. Archeologia geographica, 4, 1955, S. 90-105; Durliat, M., L'art roman en France, Etat des questions, Anuario de estudios medievales, V, 1968, S. 617-620; Swiechowski, Z., Regiony w póznogotyckiej architekturze Polski (Regionen in der spätgotischen Architektur Polens), in: Pózny gotyk. Studia nad sztukq przelomu áredniowiecza i czasów nowych. Materialy Sesji Stowarzyszenia Historyków Sztuki, Wroclaw 1962 (Spätgotik. Studien über die Kunst der Übergangszeit vom Mittelalter zur Neuzeit. Akten der Session des Verbandes der Kunsthistoriker), Warszawa 1965, S. 113-119; Haussherr R., Überlegungen zum Stand der Kunstgeographie. Zwei Neuerscheinungen: P.Pieper, Das Westfälische in Malerei und Plastik; E. Kubach, P.Bloch, Früh- und Hochromanik, in: Rheinische Vierteljahresblätter, 30, 1965, S. 351-372; ders., Kunstgeographie und Kunstlandschaft. Zum Stand der Diskussion, in: Kunst in Hessen und am Mittelrhein, 8, 1968, Beih., S. 2-8; ders., Kunstgeographie - Aufgaben, Grenzen, Möglichkeiten, in: Rheinische Vierteljahresblätter, 34, 1970, S. 158-171; Kutzner, M., Wielkopolski región architektoniczny w koñcu áredniowiecza. Z problematyki badañ nad geografía sztuki (Der großpolnische Architekturkreis am Ende des Mittelalters. Zum Problem der Kunstgeographie), in: Acta Universitatis Nicolai Copernici, Zabytkoznawstwo i Konserwatorstwo, 6, Toruñ 1977, S. 69-76; ders., Spoleczne warunki ksztaltowania siç cech indywidualnych sakralnej architektury gotyckiej na Warmii (Die sozialen Bedingungen der Entstehung der individuellen Merkmale in der gotischen Sakralarchitektur Ermlands), in: Sztuka pobrzeza Baltyku, Materialy Sesji Stowarzyszenia Historyków Sztuki, Gdansk, listopad 1976 (Die Kunst der
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Piotr
Skubiszewski
auch auf Untersuchungen über die Kunst größerer territorialer Einheiten übertragen. 2 Methodologisch nimmt die Kunstgeographie keine besonders wichtige Stellung ein. 'Wenn die Kunstwissenschaft sich selbst analysiert, so kann sie dieser Methode nur einen untergeordneten Rang zuordnen. Fast immer scheint das Interesse an den zeitlichen und nicht an den räumlichen Beziehungen der künstlerischen Erscheinungen zu überwiegen. Zu den Schwächen der Kunstgeographie müssen wir nach wie vor die verschiedenartigen und fließenden Kriterien zählen, die man bei der Definition der zu untersuchenden Phänomene anwendet. Es handelt sich hier sowohl um die verschiedenartigen Faktoren, die für ein Gebiet 3 bezeichnend sein sollen, als auch um willkürliche künstlerische Merkmale, die mit der betreffenden Landschaft in Verbindung gebracht werden. 4 Darüber hinaus wurde die Kunstgeographie durch den Mißbrauch verdächtig, als man mit ihrer Hilfe Positionen des Rassismus 5 und der Ideologie der politischen Expansion zu stützen versuchte. 6 Ohne die Schwierigkeiten außer acht zu lassen, die eine Sicht vom Standpunkt der Kunstgeographie her nach sich zieht, muß doch betont werden, daß die hiermit verbundenen Begriffe in der Kunstgeschichte zu den grundlegenden und allgemein angewandten gehören. Das Korrelat des Raums - wie auch das eng damit verknüpfte Korrelat der Zeit 7 - ist
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Ostseeküste, Akten der Session des Verbandes der Kunsthistoriker, Danzig 1976), Warszawa 1978, S. 49-88. In diesen Arbeiten ist reichhaltiges Schrifttum enthalten. Vgl. z. B. Glück, H., Das kunstgeographische Bild Europas am Ende des Mittelalters und die Grundlagen der Renaissance, in: Monatshefte f ü r Kunstwissenschaft, 14, 1921, S. 161-173; Gerstenberg, K., Ideen zu einer Kunstgeographie Europas, Leipzig 1922; Puig i Cadafalch, J., La géographie et les origines du premier art roman, Paris 1935; Frey, D., Englisches Wesen in der bildenden Kunst, Stuttgart/Berlin 1942. Kritisch über diese Auffassungen: Haussherr, Kunstgeographie, S. 159, 163. Wie willkürlich und häufig, bar jeder soliden Untersuchung die Versuche der Anwendung der Prämissen der Kunstgeographie auf große geographische Einheiten waren, kann der oben zit. Artikel von H. Glück beweisen, der völlig eigenwillig den einzelnen Räumen des östlichen Mitteleuropas einen verschiedenen Anteil an der Gotik zuschrieb (bes. S. 164). Über das gegenseitige Verhältnis der - hinsichtlich des territorialen Bereichs - „großen" und „kleinen" künstlerischen Erscheinungen siehe Pieper, P., Probleme der Kunstgeographie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift f ü r Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 15, 1937, S. 106. Haussherr, Kunstgeographie, passim. Vgl. Swiediowski, Regiony, S. 114; Haussherr, Überlegungen, S. 360-365; ders., Kunstgeographie, S. 163. Zum Beispiel Brinkmann, A. E., Geist der Nationen. Italiener - Franzosen - Deutsche, Hamburg 1938, bes. S. 21 ff., 44 ff.; Frey, Englisches Wesen, bes. S. 12 ff.; Wilhelm-Kästner, K., Der westfälische Lebensraum in der Baukunst des Mittelalters, Münster 1943 (veränderte Versionen: Der Raum Westfalen in der Baukunst des Mittelalters, in: Der Raum Westfalen, Bd. 2, Münster 1955, T. 1, S. 371-460). Auf weitere Beispiele kann verzichtet werden. Kritisch über die rassistische Einstellung in der Kunstgeographie: Haussherr, Kunstgeographie, S. 163. Darüber ausführlicher weiter unten; siehe auch Anm. 161-163. Über die gegenseitige Abhängigkeit der Bestimmung der Koordinaten der Zeit und des Raumes für künstlerische Erscheinungen schrieb vor allem Panofsky, E., Uber die Reihenfolge der vier Meister von Reims, Anhang: Zum Problem der hi-
Polnische mittelalterliche Kunst
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für das Erkennen und das Herausschälen einer künstlerischen Erscheinung erste und fundamentale Vorbedingung. Die Arbeit des Kunsthistorikers beginnt immer mit der Feststellung der Koordinaten Zeit und Raum bezüglich des zu untersuchenden Phänomens. Alles andere kann sich dann während der Untersuchung in weiterer Reihenfolge ergeben. Stilbegriffe bewahren in der Sprache der Kunstgeschichte immer - auch wenn sie nicht ausdrücklich auf den territorialen Wirkungsbereich der künstlerischen Erscheinung hinweisen - einen geographischen Konnex. Andererseits steht die Wissenschaft ständig vor der Aufgabe, die Kunst ganzer Länder, Regionen und Städte zu erforschen und zu bearbeiten. Die Verifikation und Präzisierung der Bedeutung territorialer Begriffsbestimmungen, die gebräuchlich sind, bleibt daher eine stets aktuelle Forderung. Auch die polnische Kunstgeschichte kann sich dem nicht entziehen. Wenn wir bereits in*der Frühzeit des polnischen Staates das Auftreten eines Gefühls für die sprachliche Gemeinsamkeit und kulturelle Eigenart bei den Polen beobachten können - und dieses Gefühl erstarkte während des Mittelalters noch8 - , so erwächst daraus die Frage, was im Bereich der künstlerischen Erscheinungen dem Begriff „Polen" adäquat ist. An der Grundsätzlichkeit dieser Frage ist nicht dadurch zu rütteln, daß der Inhalt dieses Gefühls für die kulturelle Eigenart im Mittelalter häufig nur unklar ausgedrückt wurde und daß es veränderlich und gesellschaftlich begrenzt war.9 Auch dadurch wird die Grundsätzlichkeit der
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storischen Zeit, in: Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 1927,S. 77-82; ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Red. H. Oberer/E. Verheyen, Berlin 1964, S. 77-83; vgl. auch Haussherr, Kunstgeographie, S. 162. Grodecki, R., Powstanie polskiej swiadomosci narodowej (Entstehung des polnischen Nationalbewußtseins), Katowice 1946, toes. S. 14 ff.; Baszkiewicz, J., Powstanie zjednoczonego Panstwa Polskiego na przelomie XIII i XIV wieku (Enstehung des vereinigten polnischen Staates an der Wende des 13. zum 13. Jh.). Warszawa 1954, S. 452; Gieysztor, A., Wi^z narodowa i regionalna w polskim Sredniowieczu (Regionale und nationale Bindung im polnischen Mittelalter), in: Polska dzielnicowa i zjednoczona. Panstwo, spoleczenstwo, kultura, Red. A. Gieysztor, Warszawa 1972, bes. S. 301t., 589 f.; Krzyzaniakowa, J., Regnum Poloniae w XIV wieku. Perspektywy badari (Regnum Poloniae im 14. Jh., Forschungsperspektiven), in: Sztuka i ideologia XIV wieku, Warszawa 1975, bes. S. 71 ff.; dies., Poj^cie narodu w „Rocznikach" Jana Dlugosza. Z problemöw swiadomoäci narodowej w Polsce XV wieku (Der Begriff Nation in den „Jahrbüchern" von Jan Dlugosz. Zu den Problemen des Nationalbewußtseins in Polen im 15. Jh.), in: Sztuka i ideologia XV wieku, Warszawa 1978, S. 135-153. Zu diesem Thema siehe die weiterhin grundlegende Abhandlung: Balzer, O., Polonia, Poloni, gens Polonica w swietle zrödel drugiej polowy wieku XIII (Polonia, Poloni, gens Polonica im Lichte der Quellen der zweiten Hälfte des 13. Jh.), in: Ksi^ga Pamiqtkowa ku czci Boleslawa Orzechowicza, Bd. 1, Lwöw 1916, S. 71-93; vgl. auch Baszkiewicz, Powstanie zjednoczonego Panstwa Polskiego, S. 405-411; Grabski, A. F., Polska w opiniach obcych X-XIII w. (Polen im Urteil Fremder des 10.-13. Jh.), Warszawa 1964, passim; ders., Polska w opiniach Europy zachodniej XIV-XV w. (Polen im Urteil Westeuropas im 14. bis 15. Jh.), Warszawa 1968, passim.
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Piotr
Skubiszewski
Frage nicht erschüttert, daß die f ü r polnisch gehaltenen Gebiete nicht immer einen einheitlichen politischen Organismus bildeten und daß es zwischen diesen Gebieten bedeutende strukturelle und wirtschaftliche Unterschiede gab und daß schließlich einige dieser Gebiete sich aus dem Organismus lösten und andere neu hinzukamen. Die Veränderlichkeit des Inhalts des Begriffs „ethnisch-territoriale Einheit" bedeutet n u r eine Erschwernis, schadet jedoch nicht der Suche nach der Antwort auf die Frage, was dem Leben dieser Einheit im Bereich der Kunst entsprach. Die Wissenschaft muß ständig objektiv in verschiedenen Bereichen differenzieren, und die Herausschälung des künstlerischen Lebens eines Landes aus dem Umfeld ähnlicher, benachbarter Erscheinungen gehört zu diesen Aufgaben, trotz damit verbundener Gefahren. Die Geschichte der Kunstgeographie, jüngst von Reiner Haussherr analysiert 10 , lehrt, daß ihre besondere Schwäche in der Tendenz bestand, daß die aufeinanderfolgenden Auffassungen jeweils lediglich auf ein Kriterium der Eigenart einer territorialen Einheit verwiesen, - auf ein Kriterium übrigens, das meist statisch und ahistorisch aufgefaßt wurde, z. B. die natürliche physiographische Umwelt, der Siedlungsbereich eines Stammes, eine ethnische Gruppe, eine politische Provinz. Eine Schwäche war auch die Neigung dazu, Stil-Determinanten in diesen willkürlich gewählten Faktoren zu erblicken, wobei das, was dieses Bild kausaler Abhängigkeit komplizierte - Abfall vom politischen Organismus; künstlerische, von außen eindringende Einflüsse; das Hinwenden zu in dem gegebenen Gebiet unbekannten_ Lösungen - , gewöhnlich einfach verschwiegen wurde. R. Haussherr, der die bisher in der Kunstgeographie angewandten Begriffe kritisch prüfte, nennt den Begriff „Kulturraum" als eine in anderen humanistischen Wissenschaften nahe Entsprechung dessen, was die Kunstgeschichte unter dem Territorium einer künstlerischen Einheit versteht. 11 Diese von ihm n u r angedeutete terminologische Suggestion verdient es, weiter entwickelt zu werden. Im Begriff „Kulturraum" vereinen sich Inhalte harmonisch miteinander, die sich auf den geographischen Raum und den in ihm schöpferisch tätigen Menschen 10 11
Vgl. Anm. 1. Haussherr, Kunstgeographie, S. 164. An anderer Stelle hob der Autor hervor, daß die deutsche Kunstgeographie sich nicht genügend des Begriffsapparates der Geschichtsgeographie bediente. Sporadisch drückte sich bei anderen Autoren bereits der Begriff Kultureinheit im Zusammenhang mit der Fragestellung der Besonderheit künstlerischer Erscheinungen aus, z. B. Frey, D., Die Entwicklung nationaler Stile in der mittelalterlichen Kunst des Abendlandes, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 16, 1938, S. 12. Frey gebrauchte den Terminus „Kulturnation" als Gegenüberstellung zu dem Begriff „Staatsnation". Erst nach Fertigstellung dieses Artikels sind die beiden der Kunstgeographie gewidmeten Aufsätze von M. Kutzner (vgl. Anm. 1) erschienen. Der Autor hat dort versucht, ein breiteres System sozialer Beziehungen auf die Erscheinungen der Besonderheit einer Kunstlandschaft zu übertragen; damit sind seine Thesen in mancher Hinsicht den hier vertretenen Auffassungen verwandt. Allerdings stimmen wir mit den Ausführungen über „psycho-soziale Bedingungen" einer Kunstlandschaft nicht überein. Vgl. Kutzner, Wielkopolski region architektoniczny, S. 74, 79.
Polnische mittelalterliche Kunst
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beziehen. Der Begriff der territorialen Einheit erhält sofort eine bedeutungsmäßig historische Färbung; das Raum-Korrelat f ü r die künstlerischen Erscheinungen hat in diesem Fall den Charakter eines offenen Begriffs; es erlaubt, andere historische Kunst-Bezüge hieraus zu entwickeln. Der Begriff „Kulturraum" ist also eine Kategorie des historischen Raums. Es ist darunter das Territorium samt der es besiedelnden Bevölkerungsgruppe zu verstehen, die das Gefühl sprachlicher Einheit verbindet und die unter den gleichen grundlegenden technologisch-produktiven, verfassungsmäßigen und wirtschaftlichen Bedingungen lebt, deren gesellschaftliche Beziehungen von den gleichen Normen sowie rechtlichen und sittlichen Institutionen reguliert werden und die schließlich von gleichen Verhaltensmustern und Vorstellungen ethischer Handlungsweise geprägt ist. Es ist dies ein Begriff offenen Inhalts auch in dem Sinne, daß er nicht gleichbedeutend sein muß mit einer territorialen politischen Einheit, die doch immer deutlich von anderen politischen territorialen Einheiten abgegrenzt ist. Der Kulturraum besitzt nämlich Zonen der Berührung und Durchdringung mit anderen Kulturen, er kann auch in sich fremde Enklaven enthalten, und er selbst kann noch über den geschlossenen Bereich seines Auftretens hinaus in Form inselartiger Einsprengsel in anderen Gebieten existieren. Es gab übrigens im Lauf der Geschichte keine „reinen" abgeschlossenen Kulturräume. Der Forscher steht lediglich immer vor der Entscheidung, welche Charakteristika er als die vorherrschenden in der gegebenen Kultur 'anerkennen und wie er in Verbindung hiermit deren Raum benennen soll. Im Rahmen einer solchen Verfahrensweise ist die territoriale oder politische Einheit als Kriterium der Zuordnung künstlerischer Erscheinungen lediglich von zweitrangiger Bedeutung; dieses Kriterium kann selbstverständlich bei vorbereitenden Arbeiten, z. B. bei der kartographischen Erfassung bestimmter künstlerischer Typen, eine wichtige Rolle spielen. Der Begriff „Kulturraum" scheint auch ein Instrument zu sein, mit dem die Kompliziertheit eines historischen Prozesses genügend berücksichtigt werden kann. Der die Kultur schaffende Mensch unterliegt ständig neuen und ihre Stärke wechselnden Impulsen, und das Bild seiner Tätigkeit ist im Maße des Ablaufs der Zeit ein ständig anderes. Als Raumkategorie der künstlerischen Erscheinungen kann der Begriff „Kulturraum" inhaltlich diese Dynamik der Geschichte enthalten; dieser Anforderung wird dagegen die statische Kategorie „Territorium" in ihrem rein geographischen oder rein administrativen Verständnis nicht gerecht. Man kann schließlich den Begriff „Kulturraum" auf Einheiten verschiedener Größe beziehen, und zwar in Abhängigkeit davon, welche Merkmale historischterritorialer Einheit wir für die konstitutiv wichtigeren halten. Von diesem Gesichtspunkt her besitzt der Begriff „Kulturraum" den gleichen Wert als zu handhabendes Instrument wie der Begriff der politischen Einheit: er kann f ü r die verschiedenen Niveau-Ebenen der Hierarchisierung historischer Strukturen verwendet werden (z. B. Land, Fürstentum). Neben der Antwort auf die Frage, was f ü r die zu untersuchenden künstlerischen Erscheinungen Korrelat des Ortes zu sein hat, ist gleichermaßen wichtig die Festlegung der Ansicht darüber, wie das Kunstverständnis selbst ist, und zwar
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Piotr
Skubiszewski
in jenem Augenblick, da die Kunst zum Gegenstand von Erläuterungen in den Kategorien des historischen Raums wird. In unlängst erschienenen Überblicken über den Stand der Forschungen 12 wurde nicht auf die auffallende Einseitigkeit hingewiesen, mit der die Kunstgeographie an die Kunstwerke heranging. Laut Auffassung der Kunstgeographie äußert sich die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Raum allein in einer als Ensemble äußerer Merkmale verstandenen Form, der durch Augenschein wahrgenommenen Morphologie des Werkes.13 Eine solche Betrachtungsweise ist zweifellos in Teiluntersuchungen begründet, die z. B. darüber zu entscheiden haben, ob bestimmte Typen von Werken oder deren Bestandteile Merkmale besitzen, die nur einem Raum eigen sind. Die Ergiebigkeit dieser Betrachtungsweise bewahrheitete sich übrigens für zahlreiche Arbeiten auf dem Gebiet der Architekturgeographie. Sie genügt jedoch nicht, wenn man versucht, die Gesamtheit der Eigenart künstlerischer Erscheinungen auf dem gegebenen Territorium zu erfassen, und eben dies Jbleibt hauptsächliches und letztliches Ziel der Kunstgeographie, wie es in den Formulierungen ihrer Theoretiker heißt. Wenn dieses Ziel erreicht werden soll, müssen im Abriß der Kunst eines Landes, einer Region oder einer Stadt die Kunstwerke genauso behandelt werden, wie es die zeitgenössische Kunstgeschichte macht: als Kultursymptome, als Strukturen mit unerschöpflichen Bezugsebenen. Nicht die Form der künstlerischen Materie an sich, sondern diese Form als gegeben durch die festgelegte Funktion des Werkes14 auf Grund seines Ideen- oder Bildprogramms, auf Grund der ihm verliehenen Werte und anderer historischer Faktoren seines Entstehens, belehrt uns darüber, was die Eigenart der Kunst eines gegebenen Raumes ausmacht. Sehr nachdrücklich muß hier auf die Gefahren hingewiesen werden, die sich bei den Untersuchungen zur Kunst von Ländern oder Regionen aus der Berücksichtigung allein der Form oder allein einiger Elemente der Morphologie der Werke eingeben. Eine dieser Gefahren ist die bereits erwähnte, in der Kunstgeo12 13
14
Vgl. Anm. 1 Die Besonderheit der Kunst in einem Raum als „Raumstil", „Lokalstil" definierte einer der ersten und wichtigsten Theoretiker der Kunstgeographie: Pieper, Probleme der Kunstgeographie, S. 93. Die formalistische Methode der Auffassung von der Kunstgeographie hielt aufrecht Frey, Die Entwicklung nationaler Stile, S. 15, und gab ihr Ausdruck in den Analysen im Buch „Englisches Wesen" (s. Anm. 2). In einer extremen Form trat die Erscheinung auf, bestimmte Eigenschaften den einzelnen Völkern zuzuschreiben: z.B. Brinkmann, A.E., Sur les caractères nationaux dans l'histoire de l'art européen, in: Deuxième Congrès International d' Esthétique et de Science de l'Art, Paris 1937. Bd. 1, Paris 1937, S. 330-338, sowie d ers., Geist der Nationen (s. Anm. 5), passim. Die Konzeption der Betrachtung der regionalen Besonderheiten der Kunst nach dem Kriterium der Form wird auch präsentiert von Haussherr, Überlegungen (s. Anm. 1), S. 372. Kritisch dazu Kutzner, Wielkopolski région architektoniczny, passim. Uber die Funktion der Kunst siehe Bialostocki, J., O funke jach sztuki i jej historyköw (Über die Funktion der Kunst und ihrer Historiker), in: Funkcja dziela sztuki, Warszawa 1972, S. 9f£.; A Broad Humanistic Outlook, The American Art Journal, 3,1971, S. 95-100.
Polnische mittelalterliche Kunst
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graphie häufig auftretende Willkürlichkeit bei der Auswahl von Merkmalen, die für den gegebenen Raum als konstitutiv erachtet werden. Eine weitere Gefahr ist das Herauslösen des Werkes aus seinem historischen Kontext, aus dem gesamten Komplex von Faktoren, die die Ausmaße des Werkes, sein Material, sein Ideen- und Bildprogramm, seine gesellschaftliche Funktion und andere für das Verständnis seines Sinnes unerläßliche Aspekte bedingen. Die Erfassung eines Kunstwerkes allein mit den Kategorien der Form erlaubt ein weitgehendes Manipulieren mit diesem Kunstwerk in Zeit und Raum, erlaubt, dabei mit Bezügen zu arbeiten, die sich nur schwer historisch objektivieren lassen. Dem Prozeß der Definierung einer gegebenen Kunst als räumlich-historische Erscheinung muß die Festlegung des Inhaltes vorausgehen, den wir dem Begriff des gegebenen Kulturraumes zugrunde legen. Dieser Begriff ist, da er sich auf die Kultur bezieht, eine gegenüber der Kunst sui generis übergeordnete Kategorie, die in jedem Falle umfassender und im Zuge des Erkenntnisprozesses primär ist. Die hierauf bezogenen Kunstwerke lassen ihre Struktur deutlicher erkennen. Um mit Roman Ingarden zu sprechen: Die Kunstwerke „konkretisieren sich" erst dann als Symptome einer Kultur.15 Jedoch besitzt dieser Prozeß dialektischen Charakter. Indem wir die Kunstgeschichte auf solche Art und Weise betreiben, entdecken wir gleichzeitig in der untersuchten Kultur ihre bis dahin unbekannten Aspekte, und gemeinsam mit anderen historischen Wissenschaften machen wir uns an die Re-Definierung des Inhalts dieser Kultur. Man kann hier von einer ständig sich gegenseitig verifizierenden dynamischen Relation eines Gegenstandes und seines Bezugsfeldes sprechen. Wenn wir damit übereinstimmen, daß der Kunstgeographie auch eben solche weiten Horizonte abgesteckt werden können - und nicht nur die meist mit der Kunstgeographie assoziierte Aufgabe der Bestimmung des räumlichen Wirkungsbereiches von Typen der Kunstwerke bzw. die Definierung von Formen als territorial-ethnische Eigenart -, dann muß man annehmen, daß sie in ihrer grundlegenden Zielstellung sich deckt mit den Aufgaben der kunsthistorischen Synthese und eine von deren Formen annimmt.
2. Die Frage des Raumes Polen entstand in der zweiten Hälfte des 10. Jh. als Verband von fünf großen Gebieten (Hauptgebiete), die kleinere Stammesterritorien in sich einschlössen: Großpolen (mit Kujawien, dem Land von Ltjczyca und dem Land von Sieradz), Kleinpolen, Masowien, Schlesien und - vorübergehend - Pommern.16 Von diesen 15
Ingarden,
,6
Natanson-Leski, Grenzen
it., Studia z estetyki (Ästhetikstudien), Bd. 2, W a r s z a w a 1958, S. 96 ff. J., Zarys
granic i podzialöw
und ältesten Einteilungen
Podzialy plemienne
Polski w
Polens),
Polski Wroclaw
okresie powstania
Polens in der Entstehungsperiode des Staates),
najstarszej 1953;
panstwa
(Grundriß
der
Zajctczkowski,
St.,
(Stammeseinteilungen
in: Pocz^tki Panstwa
Polskiego,
Ksi^ga tysiqclecia, Bd. 1: Organizacja polityczna, Poznan 1962, S. 73-109;
Lowm-
ianski, H., Poczcjtki Polski. Z dziejöw Slowian w I tysiqcleciu n. e. (Die A n f ä n g e
16
Piotr
Skubiszewski
Gebieten bildeten nur die drei ersten ununterbrochen während des ganzen Mittelalters den polnischen Kulturraum, mit der Einschränkung jedoch, daß ihr Anteil an den kulturschaffenden Prozessen nicht einheitlich war. Bis zum Jahre 1034 etwa konnte Großpolen die Mehrzahl der künstlerischen Stiftungen für sich verbuchen.17 Später, bis zur Wende des 12. zum 13. Jh., unterschieden sich Großpolen und Kleinpolen im Gesamtrhythmus der Entwicklung nicht mehr voneinander. Vom 13. Jh. an trat Kleinpolen durch sein Niveau und seine kulturellen Leistungen in den Vordergrund und wurde zu dem, was im 15. Jh. Jan Dlugosz das „caput omnium terrarum et regionum Regni Poloniae"18 nannte. Im bedeutend dünner besiedelten Masowien war die Intensität der künstlerischen Entwicklung - auch wenn es zuweilen wichtige Kulturerscheinungen gab - während des ganzen Mittelalter um vieles geringer. Ein wichtiges Charakteristikum der Geschichte Polens - und es trat bereits im Mittelalter ausgeprägt auf - waren bedeutende Grenzveränderungen und Verschiebungen des staatlichen Territoriums.19 Das zu Beginn des 14. Jh. durch Wladyslaw Lokietek wiederhergestellte Regnum Poloniae20 umfaßte bereits zwei große Gebiete nicht mehr, die zum Bestand des ältesten staatlichen Organismus gehört hatten: Schlesien21 und Danzig-Pommern22. Dagegen wurden in den Jahren 1340 bis 1366 die Haliczer Rus und andere ruthenische Gebiete der Krone des Polnischen Königreiches einverleibt.23 In der Folgezeit gab der im
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Jahre 1385 mit Jagieflo, dem Großfürsten von Litauen, geschlossene Vertrag den Anstoß zum langdauernden Prozeß der Expansion polnischer Kultur in den litauisch-ruthenischen Gebieten.24 Schließlich kehrten in deri Jahren 1454 bis 1466 Danzig-Pommern und das Kulmer Land zu Polen zurück, und Ermland wurde angegliedert.25 Jeden die Kunst als Kategorien einer Synthese untersuchenden Forscher konfrontieren diese und andere weniger wichtige territoriale Veränderungen mit manchmal sehr schnell sich vollziehenden Umwälzungen im gesamten System der gesellschaftlich-kulturellen Faktoren, die das künstlerische Schaffen bedingen und regulieren. Infolge dieser territorialen Verschiebungen veränderte sich alles: Patronat, Funktion sowie Gebrauchswert, Ideen- und Bildprogramme der Kunstwerke und schließlich die Organisation der Arbeit (Jer Künstler und die Wege ihrer gegenseitigen Beziehungen. Jede dieser Veränderungen bedingt andere Probleme bei der Untersuchung, wobei hervorgehoben werden muß, daß sich die Auswirkungen dieser Verschiebungen nicht auf die unmittelbar davon betroffenen Territorien beschränkten. Die Länder Mitteleuropas waren im Mittelalter, unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit, durch ein Netz verschiedenartiger Verbindungen einander verbunden, und alle territorialen Veränderungen widerspiegelten sich auf diese Weise schnell in den benachbarten Regionen. Schlesien gehörte im 11. bis 13. Jh. zunächst zur Monarchie der ersten Piasten (mit Ausnahme der Zeit der vorübergehenden Unterwerfung durch Böhmen), und in der Folgezeit war es eine der Provinzen, die den Verband der polnischen Fürstentümer 26 bildeten: des Regnum Poloniae ohne König (regnum divisum).27
24
Rise of the Polish Monarchy. Piast Poland in East Central Europe, 1320-1370, Chicago/London 1972, S. 121 ff. Halecki, O., Dzieje Unii Jagielloriskiej (Geschichte der Jagiellonischen Union), Bd. 1: W srednich wiekach (Mittelalter), Kraköw 1919, S. 113ff.; ders., Zagadnienia kulturalne w dziejach Unii Jagielloriskiej (Kulturfragen in der Geschichte der Jagiellonischen Union), in: Przeglqd Historyczny, 26, 1926/27, S. 396-408; Kolankowski, L., Dzieje Wielkiego Ksi^stwa Litewskiego za Jagiellonöw (Geschichte des Großfürstentums Litauen zur Zeit der Jagiellonen), Bd. 1: 1377-1499, Warszawa 1930, S. 30ff.; Kamieniecki, W., Spoleczeftstwo litewskie w XV wieku (Die Litauische Gesellschaft im 15. Jh.), Warszawa 1947; Lowmianski, H., Z zagadnien spornych spoleczenstwa litewskiego w wiekach srednich (Zu strittigen Fragen der litauischen Gesellschaft im Mittelalter), in: Przeglqd Historyczny, 40, 1949 (1950), S. 96-127. Dieser Artikel ist von grundlegender Bedeutung für die Frage der Veränderungen der litauisch-ruthenischen Gesellschaft im 15. Jh.
25
Biskup, M., Zjednoczenie Pomorza Wschodniego z Polskq w polowie X V w. (Die . Vereinigung Danzig-Pommerns mit Polen um die Mitte des 15. Jh.), Warszawa 1959; ders., Trzynastoletnia wojna z Zakonem Krzyzackim 1454-1466 (Der Dreizehnjährige Krieg mit dem Deutschen Orden 1454-1466), Warszawa 1967. 36 Grodecki, R., Dzieje polityczne Slqska do roku 1290 (Die politische Geschichte Schlesiens bis 1290), in: Historia Slqska od najdawniejszych czasöw do roku 1400, Bd. 1, Red. S. Kutrzeba, Kraköw 1933, S. 155-326; Historia Slqska, Bd. 1, T. 1, passim. 27 Baszkiewicz, Powstanie zjednoczonego Panstwa, S. 403; Grabski, A. F., Polska w swiadomosci spoleczenstw europejskich w wiekach srednich (Polen im Bewußt2 Jahrbuch 23
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In der letzten Zeit der Zersplitterung Polens in Teilfürstentümer, im 13. Jh., spielte Schlesien sogar eine bedeutende Rolle als ein Zentrum, aus dem Versuche einer erneuten Einigung Polens hervorgingen. Zwar begannen sich in der zweiten Hälfte des 13. Jh. deutlichere wirtschaftliche, gesellschaftliche, strukturell-politische und ethnische Unterschiede (eine starke Einwanderung deutscher Bevölkerung) zwischen den schlesischen Herzogtümern und anderen Gebieten Polens abzuzeichnen, aber doch war bis zum Beginn des folgenden Jahrhunderts, das heißt bis zur Zeit der Wiederherstellung des Königreiches, das sich auf Kleinpolen und Großpolen stützte, die allgemeine Richtung und der Rhythmus der Entwicklung der Kultur Schlesiens ähnlich w i e in den übrigen Provinzen. 28
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sein europäischer Gesellschaften im Mittelalter), in: Polska dzielnicowa i zjednoczona, Panstwo, spoleczenstwo, kultura, Red. A. Gieysztor, Warszawa 1972, S. 416 f.; Krzyzaniakowa, J., Regnum Poloniae w XIV wieku. Perspektywy badan (Regnum Poloniae im 14. Jh., Perspektiven der Forschungen), in: Sztuka i ideologia XIV wieku, Red. P. Skubiszewski, Warszawa 1975, S. 68 f.; Grabski, Polska w opiniacb obcych X - X I I I wieku, S. 245. Von einem bedeutenden Teil der BRD-Historiographie wird weiterhin die Ansicht vertreten, als ob Schlesien im 13. Jh. unter den polnischen Fürstentümern ein völlig separates Gebiet gewesen sei, das irgendeine besondere Position innegehabt hätte; vgl. dazu z. B. die Empfehlungen der UNESCO-Kommission der VR Polen und der Bundesrepublik Deutschland f ü r Schulbücher auf dem Gebiet der Geschichte und Geographie, in: Kwartalnik Historyczny, 84, 1977, S. 131. Kürzlich schrieb kritisch über diese Haltung u. a. Zientara, B., Henryk Brodaty i jego czasy (Heinrich der Bärtige und seine Zeit), Warszawa 1975, S. 332. Diese Haltung schlug sich auch mehrfach in der historischen Kartographie nieder. Vgl. z. B. Palucki, W., Polska w niemieckiej powojennej kartografii historycznej (Polen in der deutschen historischen Nachkriegskartographie), in: Kwartalnik Historyczny, 84, 1977, S. 420 bis 422. Es verharrten bei dieser Einstellung neulich u. a. die Organisatoren einer großen Ausstellung „Die Zeit der Staufer. Geschichte - Kunst - Kultur" (Stuttgart, 26. März-5. Juni 1977), wo in den Kartenwerken Mitteleuropas bis 1250 - also bis zu einer Zeit, da die Migration der deutschen Bevölkerung aus Deutschland nach Polen erst begann - Schlesien als eine besondere Provinz von allen polnischen Gebieten herausgelöst wurde; diese vermeintliche Sonderstellung Schlesiens unterstrichen auch die Kommentare zu den Kartenwerken; vgl. Württembergisches Landesmuseum Stuttgart, Die Zeit der Stauf er. Geschichte - Kunst - Kultur. Katalog der Ausstellung, Stuttgart 1977, Bd. 4: Karten und Stammtafeln, Karte 14, und Zernack, K., Landesausbau und Ostsiedlung, in: Ebenda, Bd. 3: Aufsätze, S. 52. Die deutschen Forscher, die diese Ansicht vertreten, wissen genau, daß bis zu der Zeit, als gegen Ende des 13. Jh. die Vereinigungsinitiativen zum ersten Mal reale Gestalt angenommen und in einzelnen Fürstentümern eine unterschiedliche Einstellung zur Erneuerung der Krone hervorgerufen hatten, alle polnischen Gebiete - trotz Unterschiede - weiterhin die Idee der Zugehörigkeit zu einem Regnum Poloniae verband (s. Anm. 26 u. 27). Von den Piastenfürsten waren die Herrscher Schlesiens zweimal der Realisierung einer Erneuerung des Königreiches am nächsten. Der hier zitierte Standpunkt der deutschen Geschichtsschreibung ist jedoch ein Ausdruck der Anwendung der Projektion der staatlichen und ethnischen Verhältnisse des 19. und 20. Jh. auf die mittelalterliche Wirklichkeit; es ist auch der Versuch, die historischen Prozesse, die später vor sich gingen, auf eine frühere Zeit zu übertragen.
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Eine Wendung trat im ersten Viertel des 14. Jh. ein, als Schlesien sich außerhalb des Wirkungsbereichs des Prozesses der Vereinigung Polens befand29 und den Ländern der Krone des Hl. Wenzel einverleibt wurde. Jedoch war trotz fortschreitender Germanisierung besonders der Städte und trotz der Zugehörigkeit zu Böhmen und damit zum Kaiserreich das Gefühl der Zugehörigkeit dieses Gebietes zum polnischen Kulturraum noch im Laufe des 14. Jh. sehr stark30, und es existierte auch noch im folgenden Jahrhundert und später.31 Der Kunsthistoriker steht vor der nicht leichten Entscheidung, im historisch-künstlerischen Prozeß eine Zäsur zu ziehen. Dieser Prozeß begann genauso wie in den anderen polnischen Gebieten auch hier mit der Stiftung eines Bistums, das dem Erzbistum Gniezno untergeordnet war, war jedoch seit dem Beginn des 14. Jh. in immer stärkerem Grade durch andere Faktoren bedingt als jene, die in den übrigen Provinzen wirksam wurden.32 Ganz andere Probleme wirft die Geschichte der künstlerischen Entwicklung Pommerns auf. Die politischen Bindungen Westpommerns an die übrigen polnischen Gebiete in der Zeit der ersten Piasten waren nicht dauerhaft. Sie zerrissen in der zweiten Hälfte des 12. Jh., als die pommemschen Herzöge die Macht ihrer eigenen Dynastie festigten und die Lehnsobrigkeit des Kaisers und später des dänischen Königs und des Markgrafen von Brandenburg anerkannten.33 Die hier übermächtigen brandenburgischen und norddeutschen Einflüsse entschieden darüber, daß - beginnend mit dem 13. Jh. - diese Gebiete sich im Wirkungsbereich intensiver deutscher Expansion befanden.34 Obwohl die künst29
Baszkiewicz, Powstanie zjednoczonego Panstwa, S. 246 f., 260 f. Schulte, W., Die politische Tendenz der Cronica principum Poloniae, Breslau 1906, passim; Karlowska-Kamzowa, A., Fundacje artystyczne kiejcia Ludwika I brzeskiego. Studia nad rozwojem swiadomosci historycznej na Sl^sku XIV-XVIII w. (Kunststiftungen des Fürsten Ludwig I. von Brieg. Studien über die Entwicklung des historischen Bewußtseins in Schlesien, 14.-18. Jh.), Opole/Wroclaw 1970, S. 99 ff.; Maleczynski, K., Trwanie IqcznoÄci Slqska z Polsk% od polowy XIV do poczqtku XVI wieku (Bindungen zwischen Schlesien und Polen von der Mitte des 14. bis zum Beginn des 16. Jh.), in: Poczqtki PaAstwa Polskiego. Ksi^ga tysiqclecia. Bd. 2: Spoleczenstwo i kultura, Poznan 1962, S. 281-293; Heck, R., O piastowskich tradycjach Äredniowiecznego Slqska. Problemy swiadomoici historycznej i narodowej (Über die Piastentraditionen des mittelalterlichen Schlesiens. Probleme des historischen und nationalen Bewußtseins), in: Kwartalnik Historyczny, 84, 1977, S. 3-22. 31 Siehe z. B. Zlat, M., Brama Zamkowa w Brzegu (Schloßtor in Brieg), in: Biuletyn Historii Sztuki, 24, 1962, S. 300-302; Maleczynska, E., Na targowisku dynastöw (Jahrmarkt der Dynasten), in: Dolny Slqsk, praca zbiorowa, Red. K. Sosnowski/M. Suchocki, T. 1, Poznan 1950, S. 126ff.; Historia Slqska, Bd. 1, T. 2, Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1961, S. 20-31. 32 Kqblowski, J., Polska sztuka gotycka (Polnische Kunst der Gotik), Warszawa 1976, erörtert im Rahmen der mit dem Adjektiv „polnisch" erfaßten Erscheinungen die Architektur in Schlesien im wesentlichen bis zur zweiten Hälfte des 14. Jh. (S. 52-55), bezieht aber auch einige Beispiele aus dem 15. Jh. ein (S. 85). Ähnlich wurde das schlesische Material aus anderen Bereichen der Kunst behandelt. 33 Historia Pomorza, Bd. 1, T. 2, Poznan 1969, passim. 34 Labvda, G., Historyczne podstawy rozwoju sztuki Pomorza Zachodniego w okresie feudalizmu (Historische Grundlagen f ü r die Entwicklung der Kunst Westpommerns
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lerische Kultur Westpommerns im Mittelalter schnell Merkmale ihrer Eigenart herausbildete, war ihr Gesamtcharakter doch am ähnlichsten dem, was gleichzeitig in den von den Deutschen eingenommenen Gebieten der nördlichen polabischen Slawen (in Brandenburg und Mecklenburg35) entstand. Danzig-Pommern war in der Zeit der Zersplitterung Polens in Teilfürstentümer mit den übrigen polnischen Gebieten bedeutend stärker verbunden als Westpommern36, der Bruch wurde später vollzogen - im Laufe der ersten Hälfte des 13. Jh.37 Für kurze Zeit wurde dieses Gebiet nochmals den übrigen polnischen Gebieten vor seiner ständigen Inbesitznahme durch den Deutschordensstaat angegliedert (1282-1309).38 Hier besaßen die Kulturprozesse, die übrigens von geringerer Intensität als auf dem übrigen Territorium Polens waren, ihre eigene Dynamik der Entwicklung und ihre eigenen vom übrigen Polen verschiedenen kulturellen Verbindungen. Danzig-Pommern befand sich im Bereich einer großen Zone entlang der Ostsee, deren hauptsächliche kunstproduzierende Zentren in Norddeutschland und in Skandinavien lagen.39 Die kurze Zeit der Herrschaft des Königs von Polen Przemyslaw I. und seiner Nachfolger änderte an dieser Orientierung nichts. Wenn man bedenkt, daß Danzig-Pommern zum Erzbistum Gniezno und zu einigen polnischen Klosterprovinzen gehörte40, darf man annehmen, daß die Bindungen an den Ostseeraum - jedenfalls was die älteste Zeit noch vor der Inbesitznahme durch den Orden betrifft - nicht die ausschließlichen waren. Jedoch erlaubt die bisher nur sehr fragmentarische Kenntnis der Kunst dieses Landes - und besonders von Gdansk - im 13. Jh.41 vorläufig nicht,
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im Feudalismus), in: Sztuka Pomorza Zachodniego, Red. Z. Swiechowski, Warszawa 1973, S. 7-19. Chmarzynski, G., Od romanizmu do schytku baroku (Vom Romanismus bis zum Ende des Barocks), in: Pomorze Zachodnie, praca zbiorowa, Red. J. Deresiewicz, T. 1, Poznan 1949, S. 173 ff. Tyc, T., Polska a Pomorze za Krzywoustego (Polen und Pommern zur Zeit des Boleslaw Sdiiefmund), in: Roczniki Historyczne, 2, 1926, S. 12. Historia Pomorza, Bd. 1, T. 1, S. 403-408. Jasiiiski, K., Zapis Pomorza Gdanskiego przez Mszczuja w roku 1282 (Verleihung Danzig-Pommerns durch Mestwin im Jahre 1282), in: Przeglqd Zachodni, 8, Bd. 2, 1952, 5-6, S. 176-189; ders., Zaj^cie Pomorza Gdanskiego przez Krzyzaköw w latach 1300-1309 (Die Einnahme Danzig-Pommerns durch den Deutschen Orden 1308/09), in: Zapiski Historyczne, 31, 1966, S. 299-353. So z. B. die neuesten Artikel in der Sammlung Sztuka pobrzeza Baltyku (Die Kunst der Ostseeküste), Materialy Sesji Stowarzyszenia Historyköw Sztuki, Gdansk 1976, Warszawa 1978. Kloczowski, J-, Dominikanie polscy nad Battykiem w XIII w. (Die polnischen Dominikaner an der Ostsee im 13. Jh.), in: Nasza Przeszlosc, 6, 1957, S. 83-126, bes. S. 109ff.; Kumor, B., Granice metropolii gnieznienskiej i jej sufraganii w okresie przedrozbiorowym (Die Grenzen der Gnesener Metropolie und ihrer Bistümer vor der Teilung Polens), in: Roczniki teologiczno-kanoniczne, Historia KoSciola, 13, 1966, 4, S. 64-67. Siehe z. B. Stankiewicz, J., Romanskie bazy w Gdansku (Romanische Basen in Danzig), in: Z otchlani wieköw, 21, 1952, S. 98-100; Ciemnolonski, J.lMassalski,R./ Stankiewcz, J-, Notatki o odkryciach architektonicznych na terenie Gdariska
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verbindliche Schlüsse .zu ziehen. A l s i n d e n Jahren 1454 b i s 1466 D a n z i g - P o m m e r n u n d das K u l m e r Land zu P o l e n zurückkehrten 4 2 , h a t t e n sie e i n e i n h a l b Jahrhunderte z u m Deutschordensstaat m i t der d i e s e m e i g e n e n k r ä f t i g e n K u l t u r gehört, d i e sich auf deutscher Grundlage herausgebildet hatte u n d v o n polnischer Kultur verschieden war. 4 3 Z w a r hatte sich in diesen Gebieten e i n polnisches ethnisches Substrat gehalten (Ritterschaft, Bauernschaft u n d t e i l w e i s e das B ü r g e r t u m der Städte) 44 , doch eine wichtigere kulturbildende Rolle sollte es erst später spielen. B i s z u m Ende des Mittelalters setzten die Zentren k ü n s t l e rischer Produktion besonders in den großen S t ä d t e n ihre Tätigkeit auf der Grundlage des bisherigen tief in der lokalen Tradition v e r w u r z e l t e n gesellschaftlich-wirtschaftlichen und strukturellen S y s t e m s fort u n d b e w a h r t e n ihre B i n d u n g e n an die Kultur des Ostseeraums und besonders an das norddeutsche Gebiet. 4 5 Im Ergebnis der Eroberung Rutheniens u n d in der Folgezeit der U n i o n mit d e m Großfürstentum Litauen w i e auch in V e r b i n d u n g mit der Einrichtung einer n e u e n politischen und kirchlichen Administration dort s o w i e mit der E i n w a n d e rung neuer Bevölkerungsteile begann die lateinische Kultur P o l e n s in bisher
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(Notizen über architektonische Entdeckungen auf dem Territorium Danzigs), in: Rocznik Gdanski, 14, 1955 (1958), S. 429 f.; Zbierski, A., Dotychczasowe wyniki badan archeologicznych w kosciolach sw. Mikolaja i sw. Katarzyny w G d a n s k u (Bisherige Ergebnisse der archäologischen Forschungen in den Kirchen St. Nikolaus und der hl. K a t h a r i n a zu Danzig), in: Ebenda, 15/16, 1956/57 (1958), S. 53-77. Z u m Stand der Forschung siehe zuletzt Historie, Gdanska, tom I : do roku 1454 (Geschichte der Stadt Danzig, Bd. 1: bis zum J a h r e 1454), Red. E. Cieälak, Gdansk 1978, bes. S. 119-124, 159-162, 248-250. Hejnosz, W., T r a k t a t torunski z 1466 roku i jego prawno-polityczne znaezenie (Das Thorner Traktat von 1466 u n d seine rechtlich-politische Bedeutung), i n : Zapiski Historyczne, 31, 1966, S. 383-400. Gorski, K., Zakon Krzyzacki a powstanie paristwa pruskiego (Der Deutsche Orden und die Entstehung des preußischen Staates), Wroclaw/Warszawa/Kraköw/Gdansk 1977; ders., The Teutonic Order in Prussia, i n : Communitas, Princeps, Corona Regni. Studia Selecta, Warszawa/Poznan/Torun 1976, S. 13-31. Clopocka, H., Tradycja o Pomorzu Gdanskim w zeznaniach swiadköw n a procesach polsko-krzyzackich w XIV i X V wieku (Die Tradition Danzig-Pommerns in Zeugenaussagen bei Prozessen zwischen Polen u n d dem Deutschen Orden im 14. u n d 15. Jh.), in: Roczniki Historyczne, 25, 1959, bes. S. 134ff.; Pelczar, M., Nauka i k u l t u r a w Gdansku (Wissenschaft u n d K u l t u r in Danzig), in: Gdansk, jego dzieje i kultura, Warszawa 1969, S. 508-510; Historia Pomorza, Bd. 1, T. 1, S. 669; Powierski, J., S t r u k t u r a etniczna spoleczertstwa P r u s krzyzackich w X I I I do XVI w. (Die ethnische S t r u k t u r der Gesellschaft in Ordenspreußen im 13. bis 16. Jh.), in: Rola Zakonu Krzyzackiego w podr^cznikach szkolnych Republiki F e d e r a l n e j Niemiec i Polskiej Rzeczypospolitej L u d o w e j (Die Rolle des Deutschen Ordens in Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland u n d der VR Polen), Materialy konfereneji historyköw RFN i P R L - Torun, 1974, Red. M. Biskup, Wroclaw/ Warszawa/Kraköw/Gdafisk 1976, S. 29-45. Dieses Lokalethos zeigte a m Beispiel der Danziger spätgotischen Malerei Lobuda, A., Malarstwo tablicowe w Gdansku w 2 pol. XV w. (Danziger Tafelmalerei in der 2. H ä l f t e des 15. Jh.), Warszawa 1979.
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rein ruthenische Gebiete einzudringen. Diese Gebiete hatten ihre eigene Kultur, die sich im Ergebnis der Verbindung der Tradition ostslawischer Stämme mit dem Einfluß der orthodoxen Kirche46 und sporadischen anderen Einflüssen, z.B. ungarischen47, herausgebildet hatte. Der Prozeß der polnischen Expansion in diese Gebiete vollzog sich langsam48, dennoch fand in die alten südwestrussischen Fürstentümer Halicz, Chelm, Beiz und Wladimir Wolynski die vordem dort unbekannte gotische Kunst Eingang.49 Wenn man den Versuch unternimmt, mit einem Blick dieses ungewöhnlich bewegte Bild zu erfassen, in dessen Zentrum jedoch ständig die sprachliche und kulturelle polnische Einheit steht, drängt sich am meisten die Notwendigkeit auf, sich auf die Sicht der Kultur durch Georg Kubler zu berufen, der sie als ein Faserbündel betrachtet. Jede dieser Fasern hat eine andere Stärke, jede einen anderen Anfang und jede verflicht sich anders mit den übrigen Fäden.60 3. Das Problem des Beginns Die Situation der Kunst in Polen an der Wende des 10. zum 11. Jh. scheinen am besten die Modelle und Zeichnungen von Burgen und Suburbien zu illustrieren, die auf der Grundlage von Ergebnissen exakter Ausgrabungen gefertigt wurden. Solche Ausgrabungen hat man nach dem zweiten Weltkrieg in den politischwirtschaftlichen Hauptzentren der frühen Piastenzeit, z. B. in Gniezno, Poznan und Wroclaw61, durchgeführt. Diese Modelle sowie die Rekonstruktionszeich48
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Voronin, N. NJLazarev, V. H., Iskustvo zapadnorusskich knjaäestv (Die Kunst der westrussischen Fürstentümer), in: Istorija russkogo iskustva, Red. I. E. Grabar, Bd. 1, Moskva 1952, S. 303-316; Mistectvo najdavniSich casiv ta epochi kiivs'koi Rusi, in: Istorija ukrainskogo mistectva, Bd. 1, Kiev 1966; Szymanski, W., Slowianszczyzna wschodnia (Ostslawentum), WroclawAVarszawa/Kraköw/Gdaiisk 1973, mit umfangreicher Literatur. Zu den auf diesem Gebiet unter ungarischem Einfluß entstandenen Werken muß die Kirche in Halicz geredinet werden. Janeczek, Ä., Ekspansja polska w ziemi Lwowskiej w XIV-XVI w. (Polnische Expansion im Lemberger Gebiet im 14. bis 16. Jh.), Magisterarbeit, verfaßt im Institut f ü r Geschichte der Warschauer Universität im Seminar von Prof. B. Zientara, 1977 (mit umfangreicher Bibliographie). Ich danke dem Autor und Prof. Zientara f ü r die Genehmigung, die Arbeit auszuwerten. Milobqdzki, A., Pöznogotyckie typy sakralne w architekturze zierti polskich (Spätgotische sakrale Typen in der Architektur polnischer Gebiete), in: Pözny gotyk, Studia nad sztukq przelomu sredniowiecza i czasöw nowych. Materialy sesji Stowarzyszenia Historyköw Sztuki, Wroclaw 1962, Warszawa 1965, S. 10&-110; Mistectvo XIV - pershoi poloviny XVII stolitja, Red. M. P. Bazhan, in: Istorija ukrainskogo mistectva, Bd. 2, Kiew 1967, S. 27. Zum Thema der gotischen Schnitzund Malkunst in einem Teil dieser Gebiete siehe Chrzanowski, T./Kornecki, M., Zabytki plastyki gotyckiej w diecezji przemyskiej (Denkmäler der gotischen Plastik in der Diözese von PrzemySl), in: Nasza Przesziofic, 46, 1976, S. 101-140. Kubler, G., The Shape of Time. Remarks on the History of Things, New Häven/ London 1962, S. 33 ff., 121 f.; dass. in polnischer Sprache: Ksztait czasu. Uwagi o historii rzeczy (Gestalt der Zeit. Bemerkungen über die Geschichte der Sachen), Warszawa 1970, S. 54 ff., 185 ff.
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n u n g e n w u r d e n auf verschiedenen historischen u n d archäologischen Ausstellungen gezeigt, u n d einige sind w e i t e r h i n in den Museen d e r Öffentlichkeit zugänglich. Mit Hilfe dieser Modelle w u r d e n die hölzerne W o h n b e b a u u n g d e r B u r g u n d des S u b u r b i u m s sowie der die ganze Siedlungseinheit u m g e b e n d e Holz-Erde-Wall, d e r gewöhnlich eine G i t t e r w e r k k o n s t r u k t i o n besaß, deutlich gemacht. I n m i t t e n des S u b u r b i u m s stand - w e n n d e r O r t ein Bischofssitz w a r eine steinerne K a t h e d r a l e ; auf der B u r g b e f a n d sich eine ebenfalls steinerne F ü r s t e n k a p e l l e mit d a r a n anschließendem W o h n b a u . Dieses h e u t e n u r noch als R e k o n s t r u k t i o n dem Betrachter zugängliche Bild v e r g e g e n w ä r t i g t die G r ö ß e des Kontrastes, der sich zwischen Maßstab, Technologie, F u n k t i o n e n , ideeller A u s sage u n d schließlich auch sicher d e r rein ästhetischen W i r k u n g z w e i e r jetzt einander gegenüberstehenden Welten d e r K u n s t e r g a b : d e r alten, einheimischen u n d d e r neuen, von a u ß e n übernommenen. 5 2 Das lokale Kunstschaffen w a r in gesellschaftlich-organisatorischer Hinsicht gewiß in erster Linie m i t d e m System d e r Dienstleistungen f ü r den Fürsten 6 3 v e r k n ü p f t u n d w i r d deshalb als K u n s t d e r B u r g e n u n d S u b u r b i e n bezeichnet. 6 4 Sie w u r d e bisher v o m S t a n d p u n k t d e r Kunstgeschichte aus noch nicht 51
Hensel, W., Slowianszczyzna wczesnoSredniowieczna, Zarys kultury materialnej (Das frühmittelalterliche Slawentum. Abriß der materiellen Kultur), 3'. Aufl., Warszawa 1965, S. 407 ff., Illustr. 387; Abramowicz, A., Studia nad genezq polskiej kultury artystycznej (Studien über die Genese der polnischen künstlerischen Kultur), Lödz/Warszawa 1962, S. 35 ff.; Zurowski, K., Gniezno - stoleczny gröd pierwszych Piastöw w swietle zrödel archeologicznych (Gniezno - Hauptsitz der ersten Piasten im Lichte archäologischer Quellen), in: Poczqtki Panstwa Polskiego. Ksi^ga tysi^clecia, Bd. 2: Spoleczenstwo i Kultura, Poznan 1962, S. 65 Ii., Illustr. 16 u. 17; Mikolajczyk, G., Poczqtki Gniezna. Studia nad zrödlami archeologicznymi (Die Anfänge von Gniezno. Studien über archäologische Quellen), Warszawa/Poznan 1972, S. 162 ff.; Herrmann, J., Zwischen Hradschin und Vineta. Frühe Kulturen der Westslawen, Leipzig/Jena/Berlin 1971, S. 147, Illustr. 50. Zu diesen Problemen siehe zuletzt Leciejewicz, L., Gröd i podgrodzie u Slowian zachodnich - problemy funkcji i rozwiqzan przestrzennych (Die Burg und das Suburbium bei den Westslawen. Probleme der Funktion und der Anlage), in: Poczqtki zamköw w Polsce, Prace Naukowe Instytutu Historii Architektury, Sztuki i Techniki Politechniki Wroclawskiej, 12, Wroclaw 1978, S. 51-57.
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Zu dieser Erscheinung siehe z.B. Kalinowski, L., Sztuka (Kunst), in: Maly slownik kultury dawnych Slowian, Red. L. Leciejewicz, Warszawa 1972, S. 606, und Dobrowolski, T., Sztuka polska od czasöw najdawniejszych do ostatnich (Die polnische Kunst von der ältesten Zeit bis zur neuesten), Kraköw 1974, S. 31. Modzelewski, K., Organizacja gospodarcza panstwa piastowskiego X - X I I I w. (Die wirtschaftliche Organisation des Piastenstaates 10.-13. Jh.), Wroclaw/Warszawa/ Kraköw/Gdansk 1975, bes. S. 241 ff. Gieysztor, A., Podstawy rodzimej kultury artystycznej w Polsce wczesnoSredniowiecznej (Grundlage der bodenständigen künstlerischen Kultur im frühmittelalterlichen Polen), in: Kwartalnik Historyczny, 70, 1963, S. 583-597; ders., Kultura artystyczna przed powstaniem Panstwa Polskiego i jej rozwöj w osiedlach wczesnomiejskich (Künstlerische Kultur vor der Entstehung des polnischen Staates und ihre Entwicklung in frühen städtischen Siedlungen), in: Sztuka polska przedromariska i romanska do schylku XIII wieku, Red. M. Walicki, Bd. 1, Warszawa
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gebührend erforscht. Das gesammelte Material 55 erlaubt jedoch die Feststellung, daß, als die polnischen Stämme das Christentum annahmen, ihnen in ihrem Bauwesen, in der Geräteherstellung und bei der Fertigung von Kleidung, Schmuck und Kulturgegenständen ein festes Ensemble von überlieferten Kunstformen, von Dekorationssystemen und Ornamenten zur Verfügung stand. Diese Formen und Ornamente banden die Kunst der polnischen Stämme ein in den Kreis der restlichen westslawischen Welt: am engsten waren die Verbindungen zu den polabischen Stämmen, ein wenig schwächer vielleicht zu denen der Böhmen und Mähren. Diese Verbindungen werden bei den Wehr- und bei den Wohnbauten sowie in der Goldschmiedekunst 56 am deutlichsten. Wie bei den anderen westslawischen Stämmen gab es auch im polnischen Raum neben sehr einfachen Lösungen, die im Ergebnis der jeweiligen eigenständigen Bemühungen der Künstler entstanden, Formen und Dekorationsmotive, die darauf hinweisen, daß dieses Kunstschaffen bereits gewisse Zeit existierte und eng mit einer Kunst von ähnlichen Funktionen in anderen Gebieten des frühmittelalterlichen Europa verbunden war. 67
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1971, S. 37ft.; ders., Arts mineurs en Pologne aux X e -XII e siècles: Problèmes artistiques et culturels, Studi medievali, Terza Serie, 5, 1964, Sonderabdr., S. 1-15. Zusammengest, und auf monographische Bearbeitungen bezogen von Hemel, W., Polska przed tysiqcem lat (Polen vor tausend Jahren), 2. Aufl., Wroclaw/Warszawa/ Kraköw 1964, passim; ders., Slowianszczyzna wczesnoéredniowieczna, S. 153 iï., Abramowicz, Studia nad genezq polskiej kultury artystycznej, passim; Gieysztor, Podstawy rodzimej kultury artystycznej, passim; ders., Kultura artystyczna przed powstaniem Panstwa Polskiego, S. 37-65; Kalinowski, L., Tresci ideowe sztuki przedromanskiej i romanskiej w Polsce (Ideengehalt der vorromanischen und romanischen Kunst in Polen), in: Studia zrödloznawcze, 10, 1965, bes. S. 18ff.; Pietrusiüska, M., Katalog i bibliografia zabytköw (Katalog und Bibliographie der Denkmäler), in: Sztuka polska przedromanska i romafiska do schylku XIII wieku, Red. M. Walicki, Warszawa 1971, S. 805-807 und passim; Zaki, A., Archeologia Malopolski wczesnoéredniowiecznej (Die Archäologie des frühmittelalterlichen Klpinpolens), Wroclaw/Warszawa/Kraköw/Gdarisk 1974, passim; Gqssowski, J., Sztuka pradziejowa w Polsce (Die prähistorische Kunst in Polen), Warszawa 1975, S. 163 ff. Hensel, SlowiaAszczyzna wczesnoéredniowieczna, S. 433 ff. ; ders., Types de fortifications slaves du haut moyen âge, Archeologia Polona II, 1959, S. 71-84; ders., Budownictwo obronne za czasôw pierwszych Piastöw (Wehrbauten zur Zeit der ersten Piasten), in: Poczqtki Panstwa Polskiego, Ksiçga tysi^clecia, Bd. 1: Organizacja polityczna, Poznan 1962, S. 163-185; Solle, M., Tor und Turm bei den Westslawen in frühgeschichtlicher Zeit, in: Siedlung, Burg und Stadt. Studien zu ihren Anfängen, Red. K.-H. Otto/J. Herrmann, Berlin 1969, S. 219-231; Herrmann, J., Siedlung, Wirtschaft und gesellschaftliche Verhältnisse der slawischen Stämme zwischen Oder/Neiße und Elbe. Studien auf der Grundlage archäologischen Materials, Berlin 1966, S. 146 fï. ; Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert. Ein Handbuch, Red. J. Herrmann, 2. Aufl., Berlin 1972, bes. S. 138 ff.; Jakimowicz, R., O pochodzeniu ozdöb srebrnych znajdowanych w skarbach wczesnohistorycznych (Über die Herkunft des Silberschmucks in frühgeschichtlichen Schätzen), in: Wiadomoéci Archeologiczne, 12, 1933, S. 103-1381 Skubiszewski, P., Le problème des courants stylistiques dans l'art en Pologne des
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Als Beispiel kann auf zwei Bereiche hingewiesen werden. Der Silberschmuck, auf dessen künstlerische Eigenart im Gebiet der polnischen und der polabischen Slawen R. Jakimowicz 58 hinwies, gehört zum allen Slawen gemeinsamen oströmischen und byzantinischen Erbe69, und bei seiner Entstehung spielte die Goldschmiedekunst des großmährischen Reiches 60 , deren Tradition in Böhmen 6 1 fortgesetzt wurde und bis in das Gebiet von Krakau vordrang (das vor der Eroberung der Polaben sich in der Einflußsphäre des Großmährischen Reiches und Böhmens befand 62 ), eine bedeutende Rolle. Weiterhin kann bei der Ornamentik von Holz- und Bein- bzw. Horngegenständen auf sehr deutliche Verbindungen zu zwei großen Kunstkreisen hingewiesen werden: auf die fränkische Kleinkunst und ihre Fortsetzung in karolingischer Zeit 63 und auf den 3. skandinavischen Stil 64 . Merkmale dieses letztgenannten Stils traten in Pommern auf. X e et XI e siècles-(Art mineurs), in: I Miçdzynarodowy kongres archeologii stowianskiej, Warszawa 14.-18. 9. 1965 (1. Internationaler Kongreß der slawischen Archäologie), Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1970, S. 319-322. 58 Jakimowicz, O pochodzeniu ozdöb srebrnych, passim; vgl. auch Abramowicz, Studia nad genezg, S. 76 ff., 102. 59 Skubiszewski, P., Problemy i perspektywy badan nad zlotnictwem w Polsce X - X I I w. (Probleme und Perspektiven der Untersuchungen zur Goldschmiedekunst in Polen 10.-12. Jh.), in: O rzemioéle artystycznym w Polsce, Warszawa 1976, S. 12-14; vgl. auch analog über den Einfluß der byzantinischen Tradition auf die frühe böhmische Goldschmiedekunst Eisner, J., K dejinâm naseho hradnistniho Sperku (Zur Geschichte unseres Burgschmuckes), in: Casopis Nârodniho musea, 116, 1947, S. 149, 155 ff. 60 Benda, K., Mittelalterlicher Schmuck. Slawische Funde aus tschechoslowakischen Sammlungen und der Leningrader Eremitage, Praha 1966; Dostâl, B., Das Vordringen der großmährischen Kultur in die Nachbarländer, in: Magna Moravia. Sbornik k 1100. vyroäi prichodu byzantské mise na Moravu (Magna Moravia. Sammelband zur 1100. Wiederkehr der Ankunft der byzantinischen Mission in Mähren), Praha 1965, S. 376 ff.; Dekan, J., Vel'ka Morava. Doba a umëni (Großmähren. Zeit und Kunst), Bratislava 1976, passim. 61 Eisner, J., Pocatky ceskeho äperku (Anfänge des böhmischen Schmuckes), in: Pamätky Archeologické, 46, 1955, S. 215-226. 62 Dostâl, Das Vordringen der großmährischen Kultur, S. 396 ff. 63 Hilczer6wna,Z., Rogownictwo gdanske w X-XIV wieku (Danziger Beinschnitzerei 10.-14. Jh.), in: Gdansk wczesnoéredniowieczny, 4, 1961, bes. S. 113 f.; Cnotliwy, E., Stan i problematyka badan nad rogownictwem wczesnosredniowiecznym w Polsce (Stand und Problematik zu den Untersuchungen über frühmittelalterliche Beinschnitzerei in Polen), in: Materialy Zachodnio-Pomorskie, 10, 1964, (Ausg. 1965), bes. S. 231-233, mit weiterer Literatur; vgl. mit polnischem Material die Beispiele bei Elbern, V. H, Ein neuer Beitrag zur Ikonographie des Unfigürlichen. Über die bildliche Aussage beinerner Reliquienkästchen des frühen Mittelalters, in : Das Münster, 25, 1972, S. 313-324; ders., Das Beinkästchen im Essener Münsterschatz, in: Aachener Kunstblätter, 44, 1973, S. 87-100. 64 Abramowicz, A., Sztuka rybaköw i rzemieélnikôw gdaftskich XI-XIII wieku (Die Kunst der Danziger Fischer und Handwerker des 11. bis 13. Jh.), in: Polska sztuka ludowa, 8, 1954, S. 326 ff.; ders., Studia nad genezq (s. Anm. 51), S. 86 ff. Im Zu-
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Obwohl bei Betrachtung der Kunst der polnischen Burgen und Suburbien des 10. und 11. Jh. mühelos auf die Existenz von in genetischer Hinsicht verschiedenen Stilrichtungen hingewiesen werden kann®, weisen doch ihr gesamtes formales Aussehen und ihre Funktionen eine gewisse Einheitlichkeit hinsichtlich ihres Charakters und ihrer Übereinstimmung mit ähnlichen Erscheinungen bei anderen Westslawen auf. Die Ausbreitung des Christentums sowie einiger Formen feudalen Brauchtums des Westens war entscheidend dafür, daß der Bereich dieser Kunst ständig weiter zusammenschrumpfte. Verschiedenartige Symptome dieser Kunst äußern sich noch im Laufe des 12. Jh. und sogar noch später®6; und ein Zeugnis dafür, daß sie als besondere künstlerische Eigenart empfunden wurde, sind die Worte des Chronisten Berthold von Zwiefalten, als er einen Mantel beschrieb, der als Geschenk für sein Kloster im zweiten Viertel des 12. Jh. von der Prinzessin Salomea aus Polen übersandt wurde.67 Diese Kunst erlosch wohl endgültig erst im Laufe des 13. Jh., als die reorganisierten Städte eine breite handwerkliche Produktion für die Bedürfnisse des lokalen Marktes aufnahmen, wobei sie sich bereits auf völlig andere Muster stützten. Die funktionell und typologisch begrenzte Sprache der Kunst der Burgen und Suburbien konnte nicht den komplizierten und verfeinerten liturgischen bzw. ikonographischen Bedürfnissen des frühmittelalterlichen Christentums genügen.68 Die Kirche mußte, um ihre Aufgaben zu erfüllen, sich die hauptsächlichen Kräfte, die imstande waren, für ihre Wirksamkeit die räumlichen und funktionellen Voraussetzungen zu schaffen, von außerhalb herbeiholen. Die Erbauer der ersten Kirchen waren - mit Ausnahme der Hilfskräfte - fremder Herkunft. Die ökonomischen Mittel lieferte der Fürst und später der König, der - genauso wie im benachbarten Kaiserreich - neben dem Bischof die zweite Säule des damaligen Systems der Staatskirche war. Die ersten in Polen tätigen Geistlichen stammten hauptsächlich aus Italien, Lothringen, Bayern, Sachsen und Böhmen, lernten aber - entsprechend der immerwährenden Praxis der Kirche - sofort die am Ort ihres Wirkens gebräuchliche Sprache, paßten sich den örtlichen Bedürfnissen und Bräuchen an und begannen, einheimische Nachfolger ihres Wirkens heranzubilden.69 In der ersten Zeit des Bestehens des
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sammenhang mit dem Danziger Material siehe vor allem Holmquist, W,. Germanie Art during the first Millenium A. D., Stockholm 1955 ; Sveagold und Wikingerschmuck aus Statens Historiska Museum Stockholm, Mainz 1968. Skubiszewski, Le problème des courants stylistiques (S. Anm. 57), passim. Abramowicz, Sztuka rybaków i rzemieslników, S. 350. Bertholdi Liber de constructione Monasterii Zwivildensis, in: Monumenta Poloniae Histórica, Red. A. Bielowski, Bd. 2, Lwow 1872, S. 6. Zu diesem Thema siehe Abramowicz, Studia nad genezq (s. Anm. 51), S. 64. Dieses Problem wird von L. Kalinowski besprochen, Tresci ideowe sztuki (Geistesinhalt der Kunst) (s. Anm'. 55), S. 4 ff. Der Autor unterscheidet in der vorromanischen und romanischen Kunst in Polen, mit Rücksicht auf ihren Inhalt, drei Strömungen: die christliche, die antik-heidnische (im Sinne der griechisch-römischen) und die heidnisch-nichtantike. Sulowski, Z., Poczettki Koáciola polskiego (Die Anfänge der polnischen Kirche), in: Kosciol w Polsce, Bd. 1: Sredniowiecze, Red. J. Kloczowski, Krakow 1966, S. 70-90; Historia Koáciola w Polsce (Die Geschichte der Kirche in Polen), Bd. 1:
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Staates der frühen Piasten, in den Jahren u m 950 bis 1034, entstanden Bauten aller drei Hauptarten, deren die damalige Kirche bedurfte, u m ihre Aufgaben zur Gänze erfüllen zu können: Kathedralen (vier, möglicherweise fünf), Klöster (wenigstens zwei) und herzogliche Eigenkirchen (wenigstens vier). 70 Es w a r dies das Resultat umfangreicher organisatorischer Bemühungen von seiten des Herrschers und seiner engen Zusammenarbeit mit der Kirche. Sicher bedingten politische Gründe wie auch die Unmöglichkeit, die entsprechenden Fachleute nur in einem Kulturzentrum anzuwerben, daß man nach solchen Kräften zur Errichtung und Ausstattung von Kirchen in verschiedenen Teilen Europas suchte. Wenn wir das Feld unserer Untersuchungen bis auf die Zeit gegen Ende des 11. Jh. ausdehnen, in welcher Zeit sich das kirchliche Leben in den polnischen Gebieten noch weiterhin organisierte, so bemerken wir eine verblüffende Vielfalt künstlerischer Inspirationen. Vorbilder und Bauhütten kamen unter anderem aus den Westgebieten des Kaiserreichs, sicher aus Lothringen (Poznan, Kathedrale) 71 , aus der Lombardei (Gniezno, Kathedrale 72 ; Krakow, sogenannte do roku 1764, T. 1 : do roku 1506, Red. B. Kumor/Z.Obertynski, Poznan/Warszawa 1974, S. 24-29 und Schrifttum auf Seite 15; vgl. dazu Brunonis Vita quinque Jratrum, ed. W. Kçtrzyriski, in: Monumenta Poloniae Historica, Bd. 6, Krakow 18931, S. 413. 70 Eine historische, beschreibende, bildliche und bibliographische Dokumentation zu diesen ältesten Bauwerken geben Swiechowski, Z., Budownictwo romanskie w Polsce. Katalog zabytkôw (Romanische Baukunst in Polen. Katalog der Werke), Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1963, und Pietrusinska, Katalog i bibliografia (s. Anm. 55); neuere Materialien und Interpretationen f ü r Großpolen gibt Jôzefowicz&wna, K., Sztuka w okresie wczesnoromanskim (Die Kunst in der frühromanischen Zeit), in: Dzieje Wielkopolski, Bd. 1: do roku 1793, Red. J. Topolski, Poznan 1969, S. 114ff.; f ü r Kleinpolen Zaki,A., Archeologia Malopolslfi (s. Anm. 55), S. 136 ff.; auch Oswald, F./Schaefer, L./Sennhauser, H. R., Vorromanische Kirchenbauten. Katalog der Denkmäler bis zum Ausgang der Ottonen, München 1966-1971, geben eine Dokumentation zur vor- und frühromanischen Architektur, doch ist sie nicht vollständig. Von den synthetischen Abrissen sind die wichtigsten Zachwatowicz, J., Polska architektura monumentalna w X i XI wieku (Die polnische Monumentalarchitektur 10./11. Jh.), in: Kwartalnik Architektury i Urbanistyki, 6, 1961, S. 101 bis 131; Swiechowski, Z., Wczesna architekura piastowska okolo roku 1000 (Die frühe Piastenarchitektur um das Jahr 1000), in: Poczqtki Panstwa Polskiego, Ksiçga Tysiqclecia, Bd. 2: Spoleczenstwo i Kultura, Poznan 1962, S. 245-267. Vgl. Jahn, 3., u. a., Wörterbuch der Kunst, Berlin 1957, S. 525 : „Eine mittelalterliche Kunst wird in Polen erst deutlicher sichtbar nach dem Mongoleneinfall von 1241." 71
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Jôzefowicz, K., Recherches sur l'architecture de la cathédrale de Poznan d'après les récentes fouilles, Cahiers de Civilisation médiévale, X e -XII e siècles, 4, 1961, S. 323-342; dies., Z badan nad architekturq przedromanskg i romanskq w Poznaniu (Aus Untersuchungen der vorromanischen und romanischen Architektur in Poznan), Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1963, S. 68 ff.; dies., Katedra pierwszego polskiego biskupstwa w swietle wykopalisk (Die Kathedrale des ersten polnischen Bistums im Lichte der Ausgrabungen), in: W sluzbie koéciola poznanskiego. Ksiçga pamiqtkowa na 70-lecie urodzin arcybiskupa A. Baraniaka, Poznan 1974, S. 128. Siehe dazu auch Swiechowski, Z., Romanische Baukunst Polens und ihre Beziehungen zu Deutschland, in: Westfalen, 43, 1975, S. 164-167. Jôzefowiczôwna, Sztuka w okresie wczesnoromanskim, S. 147-150.
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I. Kathedrale: Steinmetzarbeiten 73 ), aus Sachsen (Krakow, sogenannte I. Kathedrale: Architektur 74 ; St Andeaskirche 75 ), vom Mittelrhein (Krakow, sogenannte II. Kathedrale 76 ), aus Köln 77 und aus dem burgundisch-lombardischen Kreis der Frühromanik (Tyniec, Abtei 78 ), wobei man in einigen Fällen mit dem Anteil vermittelnder Kulturzentren rechnen muß (wahrscheinlich Böhmens und Ungarns79). Nicht weniger differenziert war die Herkunft der Kirchenausstattungen. Quellen und erhaltene Kunstwerke sprechen von der Herkunft der Werke aus Italien 80 und aus verschiedenen Ländern des ottonischen Kaiserreichs 81 , möglicherweise stammen einige auch aus dem Raum des alten karolingischen Reichs.82 Diese Vielfalt der Inspiration (eine ähnliche Erscheinung sollte noch einmal im 12. und 13. Jh. auftreten) bedingt, daß nur mit allergrößter Vorsicht 73
Nogiec-Czepielowa, E., Pozostalosci dekoracji rzezbiarskiej katedry wawelskiej (Reste des Baudekors der Kathedrale auf dem Wawel), in: Folia Historiae Artium, 10, 1974, S. 5-34. 74 Zurowska, K., Zagadnienie transeptu pierwszej katedry wawelskiej (Zur Frage des Querschiffs der ersten Wawel-Kathedrale), in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellonskiego, 86, (Prace z historii sztuki), 1965, 2, S. 62 ff. 75 Ekielski, J., W sprawie genezy architektonicznej Kosciola sw. Andrzeja (Zur Architekturgenese der St. Andreas-Kirche), in: Prace Komisji Historii Sztuki PAU, 7, 1937-1938, S. 44; Grygorowicz, A., Kosciol äw. Andrzeja w Krakowie we wczesnym sredniowieczu (Die St. Andreas-Kirche in Krakau im frühen Mittelalter), in: Rocznik Krakowski, 39, 1968, S. 27. 76 Zurowska, K., Geneza zachodniej cz^sci tak zwanej drugiej katedry wawelskiej (Genese des westlichen Teils der sog. zweiten Wawelkathedrale), in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellonskiego, 302, (Prace z historii sztuki), 1972, 10, S. 64 ff. 77 Die Einflüsse Kölns "und die Vermittlung der Königin Richeza in den kulturellen Kontakten stellte Swiechowski, Z.. dar, Königin Richeza von Polen und die Beziehungen polnischer Kunst zu Köln im 11. Jh., in: Kölner Domblatt, 40, 1975, S. 27-48. Von den durch den Autor angeführten zahlreichen Werken zeigen lediglich nur einige die Kölner Genese, und noch weniger können mit dem künstlerischen Patronat der Königin Richeza in Zusammenhang gebracht werden. 78 Zurowska, K., Romanski koäciöl opactwa benedyktynöw w Tyncu (Die romanische Kirche der Benediktinerabtei in Tyniec), in: Folia Historiae Artium, 6/7, 1971, S. 89 ff. 79 Hawrot, J., Problematyka przedromanskich i romanskich rotund balkanskich, czeskich i polskich (Problematik der vorromanischen und romanischen balkanischen, böhmischen und polnischen Rundkirchen), in: Biuletyn Historii Sztuki, 24, 1962, S. 277 ff.; Zurowska, Romanski kosciöl opactwa benedyktynöw, S. 97, 122; Merhautovä-Livorova, A., Einfache mitteleuropäische Rundkirchen, Praha 1970, S. 51; dies., Romanische Kunst in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Wien/München 1974', S. 14. 80 Brunonis Vita quinque fratrum (s. Anm. 69), S. 414. 81 Skubiszewski, P., Czara wloclawska. Studia nad spu&cizng Wschodu w sztuce wczesnego sredniowiecza (Die Schale aus Wioclawek. Studien zum Erbe des Ostens in der Kunst des frühen Mittelalters), Poznan 1965; ders., Der sog. Kelch des hl. Adalbert - Ein Geschenk Ottos III. an die Kathedrale in Gniezno?, in: Byzantinischer Kunstexport, Hrsg. H. Nickel, Halle/Wittenberg 1978, S. 199-217. 82 Zum Beispiel Sammlung von Predigten und Kommentaren zum Evangelium, Handschrift 43 der Kapitularbibliothek in Kraköw, und Capitulare evangeliorum,
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Schlüsse über die kulturelle Orientierung der polnischen Stifter der vorromanischen und frühromanischen Kunst gezogen werden dürfen. In jedem Falle aber fanden die beiden wichtigsten Kunstkreise des 10. und 11. Jh., der karolingischottonische und der mittelmeerische der Frühromanik83, in Polen ihren anteilmäßigen Ausdruck. Die ins Land gekommenen Werkstätten arbeiteten jetzt in sehr großer Entfernung von ihren Heimatzentren und unter für sie neuen gesellschaftlich-organisatorischen und technologischen Bedingungen. Auf die Frage, inwieweit diese Situation Einfluß auf ihr Schaffen nahm, ist es ungewöhnlich schwer, eine Antwort zu finden. Es scheint, daß allein schon die gesellschaftlichen Bedürfnisse die geringe Bevölkerungsdichte (höchstens vier Personen pro Quadratkilometer84) und der anfangs nur kleine Wirkungsbereich - diesen ersten Kirchen eine geringere Größe vorschrieb als ihren Entsprechungen im Westen. Möglicherweise nahmen die gleichen Faktoren auch Einfluß auf den in einigen Fällen sichtbaren Prozeß der Reduzierung von Architektur-Vorbildern, welchen Prozeß Z. Swiechowski einer Analyse unterzog.85 Die in der sogenannten I. Kathedrale auf dem Wawel in Krakow auftretende ungewöhnliche Verbindung der Strukturen einer ottomanisch-sächsischen Basilika mit den Formen vorromanischer lombardischer Steinplastik scheint darauf hinzuweisen, daß einige Werkstätten entweder mangelhaft vorbereitet oder aber allzu klein waren, um ein solches reiches künstlerisches Programm realisieren zu können. Es erwächst daraus die Frage, ob einem solchen Programm nicht die Inspiration durch den Stifter zugrunde lag. Eine sicher eigenständige polnische Lösung dieser frühen Zeit waren die Zentralbauten von Kirchen auf Burgen, die mit Wohngebäuden (Palatia) verbunden waren.86 Man kann diese Bauten mit Inspirationen durch die karolingische höfisch-sakrale Architektur in Verbindung bringen, sogar auf gewisse
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Handschrift 1 der Kathedralsbibliothek in Gniezno, allein es kann nicht festgestellt werden, wann diese Handschriften nach Polen gelangten. Siehe Sobieraj, M., Dekoracja malarska karoliriskiego rçkopisu w Bibliotece Kapitulnej na Wawelu (Die Dekoration der karolingischen Handschrift in der Kapitularbibliothek auf dem Wawel), in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellonskiego, 412 Prace z historii sztuki, 12, 1975, S. 11; Bolz, B., Najstarszy kalendarz w rçkopisach gnieznienskich MS 1 z roku okolo 800 (Der älteste Kalender in den Handschriften in Gniezno, MS 1, etwa vom Jahre 800), in : Studia Zrödloznawcze, 12, 1967, S. 37. Vgl. Kubach, E./Bloch, P., Früh- und Hochromanik, Baden-Baden 1964, S. 7. Gieystor, A., Uksztaltowanie siç Panstwa Polskiego od polowy I X w. do konca X w. (Die Herausbildung des polnischen Staates von der Mitte des 9. bis Ende des 10. Jh.), in: Historia Polski, Bd. 1: do roku 1764, T. 1: do polowy X V w., Red. H. Lowmianski, Warszawa 1958, S. 142. Swiechowski, Z., La formation de l'œuvre architecturale au cours du haut moyen âge, Cahiers de Civilisation Médiévale, Xe-XII kündeten die Krise des liberalen Systems in Polen und Europa sowie das Herannahen der Periode der nationalen Revolutionen. Die Funktionäre mit Dmowski an der Spitze gründeten im Dezember 1926 mit d e r Bezeichnung Lager Großpolens (Oböz Wielkiej Polski) eine nach dem hierarchischen Führerprinzip organisierte neue Partei. Ihre Führung versuchte, möglichst viele Anhänger des Nationalen Volksverbandes zu gewinnen und auf dieser Grundlage die gesamte nationale Rechte nach neuen Grundsätzen zu konsolidieren. Ihre Konzeption w a r die Errichtung eines totalitären Systems in Polen. In diesem Konzept kam sowohl die Opposition zu den Regierungen der Sanacja zum Ausdruck als auch das Bestreben, den Befreiungskampf der sozialen Linken, einschließlich der Kommunisten und der Sozialisten, zunichte zu machen. Trotz dieser Bestrebungen, die besonders die Jugend des Lagers Großpolens prägten, wurde im Oktober 1928 der Nationale Volksverband in die Nationale Partei (Stronnictwo Narodowe) umgestaltet, die den Charakter einer parlamentarischen Partei beibehielt. Das zeugte von den Widersprüchen und dem Kampf verschiedener Strömungen im Lager der Endecja. Die Staatsorgane der Sanacja lösten an der Jahreswende 1932/33 die Organisation Lager Großpolens, die eine Zeitlang beträchtliche Aktivität entfaltet hatte, auf. Das war eine erneute Niederlage der Partei R. Dmowskis. Ihre früheren Mitglieder traten hauptsächlich der Jugendsektion der Nationalen Partei bei und versuchten von hier aus, ihre außerparlamentarische Tätigkeit fortzusetzen. Auf diesem Hintergrund ergaben sich jedoch in der Nationalen Partei personelle Konflikte und taktisch-politische Meinungsverschiedenheiten. In ihrem Ergebnis kam es 1934 zur Spaltung und zum inneren Umbau der Bewegung der Endecja. Seit der Jahreswende 1934/35 befand sich die Führung der Nationalen Partei faktisch in den Händen der sogenannten „Jungen", die unter Berücksichtigung der damaligen Situation im Lande zur Reorganisation der Partei schritten. Sie strebten danach, die Nationale Partei in eine nationalistische Organisation mit einheitlicher Ideologie, mit hierarchischer Organisationsstruktur und entsprechendem Massenanhang zu verwandeln. Trotzdem blieb die Nationale Partei auch weiterhin eine Organisation mit vielschichtigen Strömungen, und deshalb fällt es schwer, sie als klassische Partei faschistischen Typs zu kennzeichnen. In etwas anderer Richtung verlief die Entwicklung der Jugendgruppen der
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Endecja.15 Unter Ausnutzung der schwierigen gesellschaftlichen Situation, wie sie sich infolge der großen Weltwirtschaftskrise entwickelte, zeigten sich diese Gruppen gegenüber den faschistischen Impulsen aus Deutschland, Italien und Portugal besonders anfällig. Im Jahre 1934 gründeten sie eine Partei mit der Bezeichnung National-Radikales Lager (Oboz Narodowo-Radykalny). Das war eine zahlenmäßig kleine, aber sehr viel Lärm verbreitende Partei. Sie wirkte hauptsächlich in den Zentren der studentischen Jugend, provozierte antisemitische Ausschreitungen und propagierte die Vision eines totalitären Staates. Die Staatsorgane verboten diese Partei, was ihre Anhänger nicht hinderte, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Sie gruppierten sich vorrangig um die Zeitschriften „Falanga" und „ABC". Von allen zum Lager der Endecja gehörenden Parteien war die National-Radikale Bewegung der „Falanga" programmatisch und organisatorisch dem Typ einer faschistischen Partei am ähnlichsten. Unter den damaligen Bedingungen in Polen, besonders gegen Ende der 30er Jahre, als die Gefahr eines Überfalls seitens des faschistischen Deutschlands auf Polen besonders deutlich wurde, konnte die „Falanga" keinen größeren Masseneinfluß gewinnen. Sie war im damaligen politischen Kräfteverhältnis nur eine Randerscheinung. Die Nationale Partei dagegen, die in gewissem Sinne die traditionelle Strömung der Endecja fortsetzte, repräsentierte bis zum Ende der II. Republik die am meisten rechts gerichtete gesellschaftlich-politische legale Opposition gegen die Sanacja. Die Endecja brachte die nationalistische Richtung der polnischen Rechten am deutlichsten zum Ausdruck. Das politische Bild der II. Republik wäre jedoch ohne den Hinweis unvollständig, daß auch innerhalb der nationalen Minderheiten nationalistische Parteien existierten, gegen die die Endecja einen kompromißlosen Kampf führte. Innerhalb der ukrainischen Minderheit gehörten zu den nationalistischen Parteien die Ukrainische National-Demokratische Vereinigung (UNDO) und die Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN). Innerhalb der deutschen Minderheit wirkten mit deutlich nationalistisch-faschistischen Tendenzen u. a. die Deutsche Vereinigung, die Deutsche Partei und die Jungdeutsche Partei. Die nationalistische jüdische Bewegung wurde durch die Organisationen der Zionistischen Rechten wie Mizrachi, Hisdadrut, die Neue Zionistische Organisation und die Jüdische Jugendfront repräsentiert. Das gemeinsame Merkmal aller genannten Parteien, die sowohl das nationaldemokratische Lager als auch die gesellschaftlichen Zentren der nationalen Minderheiten repräsentierten, war die Verabsolutierung der nationalen Frage und das Hervorheben nationalistischer Losungen, die die Triebkraft ihrer Tätigkeit bildeten. 15
Terej, L., Rzeczywistosc i polityka. Ze studiöw nad dziejami najnowszymi Narodowej Demokracji (Wirklichkeit und Politik. Aus den Studien zur neuesten Geschichte der Nationalen Demokratie), Warszawa 1971; Wapinski,R., Z dziejöw tendencji nacjonalistycznych. O stanowisku Narodowej Demokracji wobec kwestii narodowej w latach 1893-1939 (Aus der Geschichte der nationalistischen Tendenzen. Vom Standpunkt der Nationalen Demokratie zur nationalen Frage in den Jahren 1693-1939), in: Kwartalnik Historyczny, 80, 1973, 4.
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Das Lager Pilsudskis und der Sanacja Eine Formation besonderer Art im politischen Leben Polens w a r zweifellos das Lager Pilsudskis und der Sanacja. Es vereinigte in seinen Reihen soziale Gruppen von der äußersten Rechten bis zu gemäßigten Linken sowie bestimmte Teile der nationalen Minderheiten. Dieses Lager bildete sich zwar erst nach dem Staatsstreich vom Mai 1926, aber von seinen Vorläufern kann man bereits wesentlich f r ü h e r sprechen, teilweise sogar vor dem ersten Weltkrieg. 16 Es formierte sich unter dem Einfluß der Persönlichkeit Jözef Pilsudskis (1867 bis 1935), der sich in seiner Tätigkeit immer auf breite und in der Zusammensetzung unterschiedliche Kräfte stützte, deren Potential er f ü r die Realisierung seiner nie präzise ausgedrückten Konzeptionen ausnutzte. Im Unterschied zu anderen Politikern trat er niemals als Führer einer organisierten und auf eine bestimmte Ideologie festgelegten Bewegung auf. Das Fundament f ü r die Gestaltung der Strömung und später des Lagers Pilsudskis bildeten verschiedene Gruppen von Funktionären, die aus den Reihen der PPS-Revolutionären Fraktion, aus der paramilitärischen Organisation des Schützenverbandes, aus den Legionen, aus anderen Militärkreisen und aus verschiedenen liberal-demokratischen Organisationen kamen. In der Mehrheit waren das keine straff formierten Gruppierungen bzw. nach 1918 formierte Organisationen der Kombattanten wie der Verband der Legionäre (Zwiqzek Legionistöw), der Schützenverband (Zwi^zek Strzelecki), die National-Staatliche Union (Unia Narodowo-Panstwowa), die Partei der Arbeit (Partia Pracy), die Polnische Heeresorganisation (Polska Organizacja Wojskowa) sowie die Gesellschaft der Grenzwacht (Towarzystwo Strazy Kresowej). Außerdem waren in den ersten Jahren der Unabhängigkeit mit der näheren Umgebung Pilsudskis führende Funktionäre solcher Parteien verbunden wie der PPS, der PSL - Befreiung und nationalistischer Gruppierungen, was den Einfluß Pilsudskis auf die Politik dieser Parteien sicherte. Es scheint, daß die nebelhaften politisch-ideologischen Ziele des Lagers Pilsudskis vor 1926 verursachten, daß die Parteien des linken Flügels im Sejm sowie die Funktionäre der schwachen liberalen Strömung im Lager Pilsudskis entweder eine Stütze oder einen Verbündeten f ü r den Kampf gegen die Endecja sahen. Die Furcht vor dem Übergewicht des national-demokratischen Lagers im politischen Leben der II. Republik hinderte die genannten Parteien daran, auch im Lager Pilsudskis die antiparlamentarischen und antiliberalen Tendenzen zu erkennen. Deshalb f ü h r t e die vom Beginn der Unabhängigkeit bis 1926 fehlende politische Stabilisierung im Staate zu der Auffassung, daß die Exekutive gestärkt werden müsse. Die Anhänger Pilsudskis behaupteten, d a ß dieses Ziel n u r durch die Ubergabe der Macht in die Hände einer starken Partei oder einer nicht straff formierten politischen Gruppierung erreicht werden könne, die sich um eine starke Persönlichkeit vereinigt. 16
Vgl. Garlicki, U zrödel obozu belwederskiego.
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Vom Gesichtspunkt der Entwicklung des hier dargestellten Lagers bedeuteten die Maiereignisse 1926 zweifellos einen Umbruch, als die Anhänger Pilsudskis durch einen bewaffneten Staatsstreich die Macht an sich rissen.17 Indem sie auf die von ihnen begriffene Weise an die „Sanacja" (Sanierung) der moralischen, sozialökonomischen und politischen Situation im Lande herangingen, trafen sie Maßnahmen zur Entmachtung des Parlaments und begannen gleichzeitig, die legalen Operationsmöglichkeiten der dem Regime gegenüber oppositionellen Parteien zu unterlaufen. Bei dem heutigen Stand der Forschungen ist es jedoch schwierig, präzise zu sagen, seit wann das Lager Pilsudskis, das bis 1926 als liberal-demokratisch galt, sich in das Lager der Sanacja verwandelte, das ein autoritäres Regime anstrebte. Es scheint jedoch, daß dieser Prozeß einige Jahre dauerte. Er führte zur Veränderung der politisch-ideologischen Richtung des Lagers Pilsudskis. Es ist nämlich eine Tatsache, daß das Lager Pilsudskis nach Eroberung der Macht noch eine gewisse Zeit seine verschwommene Struktur und die unpräzisen Konzeptionen beibehielt, unter Verkündung der allgemeinen Losungen, daß die innere Geschlossenheit des Staates zum Wohle seiner Bürger vorangetrieben werden müsse. Das Lager der Sanacja machte verschiedene Phasen der Entwicklung durch. Unmittelbar nach dem Staatsstreich stützte sich Pilsudski auf die Organisationen vom Typ der Kombattanten. Außerdem erhielt er volle Unterstützung seitens der Partei der Arbeit mit Kazimierz Bartel an der Spitze, der Chef der ersten und einiger folgenden Regierungen der Sanacja wurde. Kurz nach dem Staatsstreich entstand auch eine neue Partei als Stütze der Regierung, der Verband der Erneuerung der Republik (Zwiqzek Naprawy Rzeczpospolitej). Es erfolgte auch eine Spaltung in der Nationalen Partei der Arbeit (Narodowa Partia Robotnicza), deren linker Flügel sich dem Regierungslager anschloß. Als mit Pilsudski verbunden muß man auch die Konservativen von Wilna bezeichnen, die um die Tageszeitung „Slowo" (Das Wort) vereinigt waren, den Staatsstreich begrüßten und sich sofort für das neue Regime aussprachen. Man könnte auch noch einige Splittergruppen als Anhänger Pilsudskis benennen, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß unmittelbar nach dem Staatsstreich das neue Regime keine Massenbasis hatte. Gegen das Lager Pilsudskis waren die PPS, die PSL - Befreiung und die Bauernpartei (Stronnictwo Chlopskie), weil sie den negativen Standpunkt des neuen Regimes zum demokratischparlamentarischen System verurteilten. Diese Tendenz trat mit zunehmender Stabilisierung der neuen Regierung immer deutlicher in Erscheinung. Pilsudski konnte jedoch mit der Unterstützung der besitzenden Klassen, besonders der Konservativen, rechnen. Diese waren nämlich bereit, mit jedem Regierungslager zusammenzuarbeiten, das den Kampf der revolutionären Kräfte für den Sturz der Ausbeuterordnung einzudämmen versprach. Dennoch war der Übergang der Kreise aus den Reihen der Großgrundbesitzer und Großkapitalisten zur Sanacja ziemlich kompliziert.18 Relativ einfach für die 17
Ders., Przewröt majowy (Der Maiumsturz), Warszawa 1978. 13 Wladyka, W., DzialalnoSd polityczna polskich stronnictw konserwatywnych w latach 1925-1936 (Die Tätigkeit der polnischen konservativen politischen Parteien in den Jahren 1925-1936), Wroclaw 1977.
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Regierung w a r die Gewinnung der Konservativen aus Wilno, zu denen Pilsudski bereits seit 1919 gute Kontakte hatte. Als nächstes errang das Regierungslager die Unterstützung d e r Nationalen Partei der Arbeit (Stronnictwo Pracy Narodowej), die in die Rolle einer allgemeinpolnischen konservativen Partei hineinwachsen wollte. Schließlich gewann Pilsudski die Unterstützung eines Teils der Konservativen aus dem ehemals preußischen Teilungsgebiet, die in d e r ChristlichNationalen Partei (Stronnictwo Chrzescijansko-Narodowe) vereinigt waren. Diese Konservativen bildeten n u n m e h r als Regierungsstütze die Christliche Bauernpartei (Stronnictwo Chrzescijarisko-Rolnicze). Ein Ausdruck der Veränderungen in den Kreisen der Großindustrie w a r die Verbindung der Spitzenfunktionäre des Zentralverbandes d e r Polnischen Industrie, des Handels, des Bergbaus u n d der Finanzen (Lewiatan) mit dem Regime der Sanacja, wo sie einflußreiche Positionen erhielten. Charakteristisch w a r dennoch, daß trotz zahlreicher Parteien und Gruppen, die die n e u e Regierung stützten, das Lager d e r Sanacja bis Ende 1927 keine Organisation besaß, die eine einheitliche F ü h r u n g gewährleistete. Jedoch auch zum Zeitpunkt der Entstehung des Blocks d e r Parteilosen zur Zusammenarbeit mit der Regierung (Bezpartyjny Blok Wspölpracy z Rzqdem - BBWR), dem alle die Regierung stützenden Parteien und G r u p p e n angehörten, w a r die i n n e r e Geschlossenheit des Lagers d e r Sanacja problematisch. Der BBWR, d e r durch den nächsten Mitarbeiter Pilsudskis, Walery Slawek, geleitet wurde, w a r bis z u r A u f lösung im J a h r e 1935 keine Vereinigung mit k l a r e r Ideologie und Organisationsstruktur. Seine Funktion w a r es, d e r regierenden Elite die Mehrheit in d e r Legislative, d e r Exekutive und in den Selbstverwaltungsorganen zu gewährleisten. Im BBWR erfolgte auch oft die Vertretung der P a r t e i f ü h r e r durch die Staatsverwaltung. Das alles zeigt, daß d e r BBWR einen besonderen, mit anderen politischen Parteien in Polen oder anderswo schwer vergleichbaren Typ d e r Partei repräsentierte; er w a r sicherlich eine spezifisch polnische Organisation. Ein weiterer Versuch der Integration d e r herrschenden Sanacja nach der u. a. durch den Tod Pilsudskis ausgelösten Krise erfolgte im J a h r e 1937 durch die Bildung des Lagers der Nationalen Vereinigung (Oböz Zjednoczenia Narodowego - OZN). 19 Angesichts d e r fehlenden Einheit in den eigenen Reihen, d e r drohenden Konkurrenz seitens der Endecja und besonders der Offensive d e r revolutionären K r ä f t e , die die Bildung einer Volksfront anstrebten, versuchten die G r ü n d e r des OZN, i h r e r Partei m e h r politisch-organisatorische Geschlossenheit zu verleihen. Sie w a r e n d e r Auffassung, daß eine zentralisierte Partei ihnen bei der Totalisierung des politischen Lebens besser helfen würde. Gleichzeitig berief sich das Lager Pilsudskis auf manche Losungen der Endecja, u m in der Ära der Offensive des Faschismus aus den Reihen ihrer traditionellen Gegner von rechts neue K r ä f t e zu gewinnen bzw. sie zu neutralisieren. Dennoch hat sich weder d e r BBWR noch das OZN in eine faschistische Partei nach deutschem oder italienischem Muster verwandelt, wenngleich zahlreiche polnische F u n k t i o n ä r e 19
Zum Thema der Entwicklung der OZN und seiner Rolle schrieb Jqdruszczak, T., Pilsudczycy bez Pilsudskiego (Die Pilsudski-Anhänger ohne Pilsudski), Warszawa 1963.
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der genannten Parteien diktatorischen und totalitären Tendenzen huldigten. Das Lager Pilsudskis stützte sich zwar wie die klassischen faschistischen Parteien in hohem Maße auf halbmilitärische Organisationen, führte jedoch als Repräsentant der politischen Rechten den Kampf sowohl gegen die Kräfte der Linken als auch gegen das traditionell nationalistische Lager, das sich zunehmend faschistisch orientierte. Ähnliche Erscheinungen waren in fast allen Ländern Zentral- und Osteuropas festzustellen, wo es zur Spaltung im Lager der Rechten kam und sich der Konflikt zwischen dem Regierungslager und den faschistischen Gruppierungen vertiefte. 20
Die christlich-soziale und solidaristische Bewegung Es ist bemerkenswert, daß in einem Lande mit so großen katholischen Traditionen wie Polen die christlich-soziale Bewegung in der II. Republik keine größere Rolle spielte. Zum Zeitpunkt der Bildung des polnischen Staates war diese Bewegung sehr zersplittert. Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 vereinigten sich christlich-soziale Gruppen aus dem früheren russischen und österreichischen Teilungsgebiet zur Polnischen Partei der Christlichen Demokratie (Polskie Stronnictwo Chrzescijanskiej Demokracji). Die im früheren preußischen Teilungsgebiet wirkende katholische Gruppierung befand sich 1918 in der Nationalen Arbeiterpartei (Narodowe Stronnictwo Robotniköw) und schuf Anfang 1920 die Christlich-Nationale Arbeiterpartei (Chrzescijansko-Narodowe Stronnictwo Robotnicze). Erst im Mai 1920 vereinigten sich diese beiden Parteien auf dem allpolnischen Kongreß zur Christlich-Nationalen Partei der Arbeit (Chrzescijansko-Narodowe Stronnictwo Pracy), die 1925 den Namen Polnische Partei der Christlichen Demokratie (Polskie Stronnictwo Chrzescijanskiej Demokracji - PSChD) annahm. Wenn von den Integrationsprozessen in der christlich-sozialen Bewegung die Rede ist, muß auch die sehr einflußreiche christliche Gruppe in Oberschlesien erwähnt wenden, deren Führer Wojciech Korfanty (1873-1939) war. Dieser Sohn eines Bergmanns, der Verbindungen zum national-demokratischen Lager hatte, spielte als polnischer Plebiszitkommissar und als einer der Führer der oberschlesischen Aufstände eine große Rolle.21 Die erwähnte Gruppe Korfantys, die anfangs - ähnlich wie andere christliche Gruppen - ziemlich eng mit der Endecja verbunden war, machte sich später selbständig. In den Jahren 1921/22 wirkte sie unter dem Namen Christliche Volksvereinigung (Chrzescijanskie Zjednoczenie Ludowe) und trat später der PSChD bei. Die christliche Demokratie formulierte ihr Parteiprogramm auf der Grundlage 20
21
Vgl. Dyktatury w Europie; Lossowski, P., Kraje baltyckie na drodze od demokracji parlamentarnej do dyktatury, 1918-1934 (Die baltischen Länder auf dem Wege von der parlamentarischen Demokratie zur Diktatur, 1918-1934), Wroclaw 1972. Orzechowski, M., Wojciech Korfanty. Biografla polityczna (Wojciech Korfanty eine politische Biographie), Wroclaw 1975.
19 J a h r b u c h 23
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der Enzykliken Rerum Novarum (1891) und Quadragesimo Anno (1913). Sie bekämpfte die Idee vom Klassenkampf und verkündete die Forderungen nach der gesellschaftlichen Harmonie und der gesellschaftlichen Solidarität. In bezug auf die Innenpolitik propagierte sie die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit des Staates mit der Kirche. Dennoch entwickelte sie sich nicht zu der Partei, die den Standpunkt der katholischen Kirchenhierarchie offiziell zum Ausdruck brachte. Es scheint, daß über diese Tatsache nicht nur die spezifischen Beziehungen zwischen Korfanty und der Kirche entschieden, sondern vielmehr die traditionell starke politische Position des katholischen Klerus in Polen sowie seine früheren Bindungen zum Lager der Endecja und der Konservativen.22 Gerade diese Bindungen sicherten der Kirche eine entsprechend starke politische Position im Staat, ohne daß sie sich nur auf eine Partei zu stützen brauchte. Die christliche Demokratie besaß ihren Einfluß hauptsächlich in Oberschlesien, im Gebiet von Poznan und in Pomorze sowie in einigen Gebieten Zentralpolens. Sie vereinigte in ihren Reihen das Kleinbürgertum, die Intelligenz sowie auch Arbeiter und Bauern. Eines ihrer Ziele war zweifellos die Bekämpfung des Einflusses der Sozialisten. Die christliche Demokratie hatte bestimmte Merkmale einer sozialen Partei mit losem Charakter ihrer Organisation. Im ehemals preußischen Teilungsgebiet konnte sie relativ zahlreiche Arbeiter in den christlichen Gewerkschaften für sich gewinnen, die jedoch in den 30er Jahren meistens eine selbständige Politik durchsetzten. Innerhalb der Arbeiterklasse stieß die christliche Demokratie auf die Gegnerschaft der sozialistischen und kommunistischen Bewegung, die auf dem Boden des Klassenkampfes stand. Sie fand jedoch auch Verbündete in der sogenannten solidaristischen Richtung, die manche Grundsätze der katholischen Kirche anerkannte. Als ein solcher Verbündeter erwies sich die Nationale Arbeiterpartei (Narodowa Partia Robotnicza - NPR). Sie entstand im Jahre 1920 aus der Vereinigung des Nationalen Arbeiterverbandes, der im ehemaligen russischen Teilungsgebiet tätig gewesen war, und der Nationalen Partei der Arbeit aus dem ehemals preußischen Teilungsgebiet. Die NPR verkündete das Primat der nationalen vor den sozialen Interessen und besaß ein starkes Hinterland in der Gewerkschaftsvereinigung Polens, einer der größten Zentralen der Gewerkschaftsbewegung im Zwischenkriegspolen. Diese Gewerkschaftsvereinigung Polens führte jedoch ähnlich wie die bereits genannten christlichen Gewerkschaften in den 30er Jahren eine selbständige Politik durch und nahm gemeinsam mit den auf dem Boden des Klassenkampfes stehenden Gewerkschaftsverbänden (KCZZ) an den Streikkämpfen und am politischen Kampf teil. In den ersten Jahren der II. Republik war die christliche Demokratie vor allem eine parlamentarische Partei. Außer ihrem großen Einfluß im Oberschlesischen Landtag stellte sie jedoch in keinem zentralen Sejm von 1919 bis 1935 eine ernsthafte selbständige Kraft dar. Deshalb vereinigte sich die christliche Demokratie 92
Myslek, W., KoSciöI katolicki w Polsce - 1918-1939 (Die katholische Kirche in Polen 1918-1939), Warszawa 1966.
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bei den Wahlen zum Gesetzgebenden Sejm mit dem Nationalen Volksverband (Zwi^zek Ludowo-Narodowy). Danach (im Frühjahr 1919) bildete die christliche Demokratie als rechter Flügel des Zentrums im Sejm einen eigenen Klub. Sie arbeitete jedoch auch weiterhin mit den Abgeordneten der Endecja eng zusammen, um ein Kabinett der parlamentarischen Mehrheit des Zentrums und der Rechten zustande zu bringen. Nach dem Staatsstreich vom Mai 1926 befand sich die christliche Demokratie als Angehörige der besiegten Koalition in Opposition zum Regime Pilsudskis.23 Unmittelbar danach versuchte die christliche Demokratie, im Sejm ihre Zusammenarbeit mit dem Verband der Nationalen Liga, mit der Nationalen Partei, mit der Polnischen Bauernpartei „Piast" und mit der Nationalen Arbeiterpartei fortzusetzen. Da jedoch auf die Rückgewinnung der früheren Positionen durch die Kräfte des Zentrums und der Rechten wenig Aussicht bestand, schloß sie sich (ohne die oberschlesische Gruppe Korfantys) dem Linksblock Centrolew an, verließ ihn jedoch wieder vor den Wahlen im Jahre 1930. In den 30er Jahren repräsentierte die christliche Demokratie, an deren Spitze erneut Korfanty stand, eine gegen das Lager der Sanacja gerichtete Politik. Gleichzeitig begann sie sich zu den totalitären Konzeptionen rechter Gruppierungen reserviert zu verhalten. Im Ergebnis einer immer engeren Verbindung mit der Nationalen Arbeiterpartei versuchte sie einen großen Teil der Opposition gegen die Regierung auf der Grundlage des Programms der Gruppe Morges zusammenzuschließen. Das richtete sich sowohl gegen die totalitären Konzeptionen der Endecja als auch gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung. Ein konkretes Ergebnis dieser Versuche war der Zusammenschluß der Polnischen Partei der Christlichen Demokratie mit der Nationalen Arbeiterpartei und die Bildung der Partei der Arbeit (Partia Pracy) im Oktober 1937 als Zentrum der Opposition gegen das Sanacja-Regime. Die christliche Bewegung in Polen besaß viele gemeinsame Merkmale mit den christlich-sozialen Parteien anderer Länder, z. B. in Deutschland mit dem Zentrum, in Italien mit der Christlichen Demokratie und in Belgien mit der Christlich-Sozialen Partei. Schwierig wäre es jedoch, die polnische christliche Demokratie mit der österreichischen Christlich-Sozialen Partei zu vergleichen, die besonders unter Engelbert Dollfuß eine klerikal-faschistische Richtung repräsentierte. Die spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen in Polen bewirkten offenbar, daß die christliche Demokratie ihren Platz nicht bei der politischen Rechten, sondern nur beim Zentrum finden konnte. Wenngleich sie in der katholischen Bevölkerung ein starkes Hinterland besaß, konnte sie in Polen nicht die bedeutende Rolle spielen wie die analogen Parteien in anderen Ländern. Dieser Zustand änderte sich auch nicht, nachdem sie sich mit der Nationalen Arbeiterpartei vereinigt und die Partei der Arbeit gebildet hatte, und auch dann nicht, als die christlichsoziale Bewegung in Polen Ende der 30er Jahre in gewisser Weise zum Liberalismus tendierte. All das deutet auf ernsthafte Unterschiede in der Entwicklung der christlichen 23
19*
Krzywoblocka, B., Chadecja 1918-1937 Warszawa 1974.
(Die
Christliche Demokratie
1918-1937),
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Demokratie in Polen und in anderen Ländern hin, obwohl sie sich als gesellschaftlich-politische Richtung in Polen auf dieselben katholischen Doktrinen stützte.
Die Bauernparteien Eine Besonderheit des politischen Lebens der II. Republik wie auch einer Reihe anderer Länder Zentral- und Osteuropas war in den 20 Zwischenkriegsjahren eine entwickelte und sehr aktive Bauernbewegung. In diesem Ausmaß war sie weder in Frankreich nach in anderen Ländern Westeuropas vorhanden. Es scheint, daß diese Aktivität aus der Spezifik der sozialökonomischen Entwicklung dieser Region Europas erwuchs, aus dem langsamen Prozeß der Industrialisierung und der geringen Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte. Im Unterschied zu den entwickelten Ländern existierten in Polen und in den neugegründeten Staaten Zentral- und Osteuropas feudale Uberreste neben der rückständigen kapitalistischen Struktur. Neben den typischen sozialen Formationen des Kapitalismus, der Klasse der Bourgeoisie und des Proletariats, blieben weiterhin der Großgrundbesitz erhalten und die in der gesellschaftlichen Struktur der Mehrheit dieser Länder dominierende Klassenschichtung der Großgrundbesitzer und der Bauernschaft. Der politische Ausdruck der Existenz einer in gewisser Weise zweifachen gesellschaftlichen Struktur war das Wirken der konservativen Parteien des Großgrundbesitzes, von spezifischen Bauernparteien sowie denen der Bourgeoisie und des Proletariats. Das allgemeine Streben der Bauernschaft nach voller gesellschaftlicher und politischer Befreiung, die ihr eine geachtete Stellung im Staat sichern sollte, wurde zur Triebkraft der Aktivität der zahlreichen Bauernmassen. Trotz der genannten Aktivität war die politische Bauernbewegung im Polen der Jahre 1918 bis 1930 relativ stark zersplittert. 24 Im Ergebnis wurde diese Bewegung von zahlreichen, sich gegenseitig bekämpfenden Parteien und Gruppen repräsentiert. In den 20er Jahren gehörten zu den wichtigsten Bauernparteien die Polnische Bauernpartei „Piast" (PSL „Piast"), die Polnische Bauernpartei „Befreiung" (PSL „Wyzwolenie"), die Bauernpartei (Stronnictwo Chlopskie) und die Unabhängige Bauernpartei (NPCh). Mit Ausnahme der NPCh, die mit der Kommunistischen Partei Polens (KPP) verbunden war und nach anderen Grundsätzen wirkte, kam es im Rahmen dieser Bauernparteien öfter zu Umgruppierungen, Spaltungen und Vereinigungen. Eine typische Erscheinung war auch das grupperiweise Hinüberwechseln von einer Partei zur anderen. Die Ursachen für diesen Zustand waren unterschiedlich. Eine wesentliche Rolle spielte dabei sicherlich die Zersplitterung des Dorfes und die Versuche der Großgrundbesitzer und der Bourgeoisie sowie teilweise auch der Sozialisten und der 2i
Vgl. Programy stronnictw ludowych (Programme der Bauernparteien), Dokumentensammlung, bearb. von St. Lato und W. Stankiewicz, Warszawa 1969; Zarys historii ruch ludowego (Abriß der Geschichte der polnischen Bauernbewegung), Bd. 2: 1918-1930, Warszawa 1970.
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Kommunisten, die Bauern für sich zu gewinnen. Außerdem wirkten die unterschiedlichen Bedingungen und Traditionen ein, unter denen die Bauernbewegung in den früheren drei Teilungsgebieten entstanden war. Trotz der Spaltung der Bauernbewegung in mehrere Parteien wurde in allen ihren Programmen und in der praktischen Tätigkeit während des ersten Nachkriegsjahrzehnts großer Wert auf eine eigene Staatlichkeit gelegt. Mit Ausnahme der NPCh und der revolutionären Bauernparteien sowie einiger nationaler Minderheiten forderten alle Bauernvertreter ein entwickeltes parlamentarisch-demokratisches System im kapitalistischen Staat. Auf dem Boden des Privateigentums stehend, forderten die Bauernparteien die Durchführung einer Bodenreform und unterstützten die Bildung von Dorfgenossenschaften. Ihre Massenbasis stellten fast ausschließlich die Dorfbewohner. Es gab auch gewisse traditionelle Gebiete des Wirkens der Bauernparteien. So besaß z. B. die PSL „Befreiung" ihr Einflußgebiet in Zentralpolen und die PSL „Piast" in Westgalizien. Alle polnischen Bauernparteien hatten öffentlich-rechtlichen Charakter. Dennoch besaßen sie im Vergleich zu den Arbeiterparteien eine relativ wenig ausgebaute und nicht sehr exakt arbeitende Organisationsstruktur. Sie entwickelten auch keine eigenen Organisationssysteme, wenngleich gewisse Elemente solcher Systeme bei einigen Jugendverbänden und in der dörflichen Genossenschaftsbewegung sowie im Zentralverband der landwirtschaftlichen Zirkel existierten. Im Zentralverband kreuzten sich die Einflüsse der Bauernparteien und anderer politischer Gruppierungen. In den 20er Jahren war eine der grundsätzlichen Formen der politischen Tätigkeit der Bauernparteien die parlamentarische Arbeit. Daher übten auch in der Struktur der Leitungsgremien dieser Parteien die parlamentarischen Klubs einen großen Einfluß aus. In Wirklichkeit spielte sich innerhalb der Parteisekretariate, der Abgeordnetenklubs und der Redaktionen das politisch-organisatorische Leben der Bauernparteien ab. In den Jahren 1919 bis 1930 waren sie in den damaligen Sejms durch eine relativ große Anzahl von Abgeordneten vertreten. Das war zweifellos ein Ausdruck des ernsthaften politischen Aufstiegs der Landbevölkerung. Die Bauern vermochten jedoch damals nicht, im Parlament eine starke Einheitsfront zu schaffen. Das erleichterte es den Kräften der Großgrundbesitzer und der Bourgeoisie, fortschrittliche Reformen zu torpedieren, darunter vor allem die Bodenreform. Die schärfste Trennungslinie innerhalb der Bauernbewegung verlief zwischen der PSL „Rast" und anderen Bauernparteien, die vor allem den linken Flügel der Bauernschaft repräsentierten. Die PSL „Piast" war 1926 politisch im Zentrum angesiedelt und arbeitete z. B. 1923 und vor den Maiereignissen 1926 verschiedentlich mit dem Lager der Endecja und der christlichen Demokratie zusammen. Die PSL „Befreiung" und die Bauernpartei, die zu den Parteien des linken Flügels im Sejm gehörten, ließen sich vielfach durch die Anhänger Pilsudskis ködern und nahmen bei politischen Auseinandersetzungen auf ihrer Seite teil. Die Bauernbewegung brachte viele bekannte Funktionäre und Politiker hervor, die im ganzen Land Ansehen genossen. Zu ihnen gehörten Maciej Rataj, Stanislaw Thugutt, Jan D^bski, Tomasz Nocznicki und Wladyslaw Kiernik. Der bekann-
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teste unter ihnen war zweifellos Wincenty Witos (1874—1945), Sohn eines Kleinbauern aus Galizien, der um so größere Aufmerksamkeit verdient, als er einen großen Einfluß auf die Bauernbewegung ausübte und ihr Massencharakter und Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem Volk und dem eigenen Staat verlieh.25 Das wurde besonders in den 30er Jahren sichtbar. Auf seine Initiative hin vereinigten sich 1931 die PSL „Piast" und die PSL „Befreiung" sowie andere Bauernparteien zur einheitlichen Bauernpartei (SL) mit Witos an der Spitze. Nach Überwindung einiger Tendenzen zu Kompromissen mit dem Lager der Sanacja (1934/ 35) konsolidierte sich die SL zur führenden Oppositionspartei gegen das Regime Pilsudskis und verteidigte die republikanischen und parlamentarisch-demokratischen Grundsätze der Märzverfassung von 1921.26 Nach dem Boykott der Sejmwahlen von 1935 fanden im Organisationssystem der SL einige Veränderungen statt. Sie verzichteten zunächst auf ihre parlamentarischen Funktionen und bauten gleichzeitig ihr Organisationsnetz von oben bis in die einzelnen Dörfer nach unten aus. Die weitere Zentralisierung der Organisationsstruktur der SL hatte große Ähnlichkeit mit der PPS und den sozialistischen Parteien anderer Länder. Sie ergab sich aus den damaligen Bedingungen des politischen Kampfes. Nachdem die SL die Möglichkeit des parlamentarischen Kampfes verloren hatte, organisierte sie - ähnlich wie die Arbeiterparteien - Massenaktionen der Bauern. Zu den wichtigsten gehörten die Manifestationen vom 29. Juni 1936 in Nowosielce, vom April 1937 in Raclawice sowie der durch Polizei und Militär brutal unterdrückte Auguststreik der Bauern von 1937, der viele Kreise in Westgalizien und Zentralpolen erfaßte. Am aktivsten beteiligten sich an diesen auf den Sturz der Sanacja-Diktatur gerichteten und hauptsächlich von Witos organisierten politischen Manifestationen die Jugendverbände der Bauern. Ein Teil ihrer Funktionäre arbeitete mit den Arbeiterorganisationen zusammen und half bei der Organisierung der Volksfront. Die Linke der Bauern bewegung sah nämlich in der Zusammenarbeit der Bauern mit den Arbeitern eine Möglichkeit, die Klassenherrschaft der Großgrundbesitzer und Kapitalisten zu stürzen und ein demokratisches Polen aufzubauen. Die Bauernbewegung in Polen hatte ihre Spezifik. Sie machte seit ihrer Gründung in den 20 Jahren der II. Republik eine bemerkenswerte Entwicklung durch. Ein charakteristisches Merkmal waren das Streben nach Zusammenführung der verschiedenen Strömungen und die Bildung einer einheitlichen Bauernpartei im wiedergeborenen Polen. Sie sollte die gesellschaftlichen Interessen und Bürgerrechte der Landbevölkerung vertreten. Die Entstellung der SL war eine große politische Errungenschaft der Bauernbewegung. Ihr Kampf gegen die Diktatur der Sanacja, für die Erlangung demokratischer Rechte in Polen brachte - wenn auch damals nicht von Erfolg gekrönt -
25
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Zakrzewski, A., Wincenty Witos - chlopski polityk i m%z stanu (Wincent Witos Bauernpolitiker und Staatsmann), Warszawa 1977. Vgl. Zarys historii ruchu tudowego.
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einen großen politischen Aufschwung der Bauern, die gleichberechtigte Bürger der II. Republik sein wollten. Dieser Prozeß des Befreiungskampfes und der Aktivierung der Landbevölkerung im politischen Leben war übrigens nicht nur eine polnische Erscheinung. Nach dem ersten Weltkrieg errang die politische Bauernbewegung in fast allen Ländern Zentral- und Osteuropas eine starke Position. Sie war jedoch, ähnlich wie in Polen, ziemlich stark gespalten, was ebenfalls aus der großen Differenzierung des Dorfes resultierte. Im Laufe der Jahre, als sich die diktatorischen und faschistischen Tendenzen der herrschenden Klassen verstärkten, erfolgte eine Polarisierung. Ein Teil der Bauern unterstützte die Diktatur, der andere konsolidierte seine Reihen im Kampf für die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie. Wenn man die Bauernbewegung in Polen mit den in den europäischen Ländern tätig gewesenen Bauernparteien vergleicht, etwa dem Tschechischen Agrarverband unter Antonin Swehl, dem Bulgarischen Bauembund unter Aleksander Stambolijski, der Rumänischen Nationalen Bauernpartei, der Chorvatischen Bauernpartei unter Vlatko Macek oder auch den zahlreichen Bauernparteien in den baltischen Ländern, kann man bestimmte Analogien, aber auch Unterschiede feststellen. Es scheint, daß z. B. der Radikalismus der PSL „Befreiung" vergleichbar war mit dem des Bulgarischen Bauernbundes während der Regierungszeit Stambolijskis. Die PSL „Piast" besaß dagegen gemeinsame Züge mit den tschechischen Agrariern. Nicht zufällig emigrierte nämlich Witos in die Tschechoslowakei und fand Unterstützung bei den Agrariern, die im dortigen gesellschaftlich-politischen Leben eine sehr wichtige Rolle spielten und zeitweilig an der Spitze der Regierung standen. Schwierig wäre es dagegen, eine Analogie zwischen der polnischen Bauernbewegung und z. B. dem Lettischen Bauernverband unter Karlis Ulmanis zu suchen. Er repräsentierte die Interessen der reichen Bauern, vollzog im Jahre 1934 einen Staatsstreich und errichtete - gestützt auf den Bauernverband - ein diktatorisches Regime. Gegen die Opposition seitens der Partei der Neuen Landwirte (Partii Nowych Gospodarzy) bzw. der Sozialdemokratischen Partei organisierte er harte Repressionen, ähnlich wie Pilsudski im Zeitraum des Centrolew. Auf weitere Versuche, Analogien bzw. Unterschiede zwischen der polnischen Bauernbewegung der Zwischenkriegsjahre und den Bauernparteien der Nachbarländer darzulegen, wollen wir verzichten. Es scheint jedoch, daß dieses von den Historikern bisher unterschätzte Thema, sehr interessant und für bestimmte Vergleiche unerläßlich, die Aufmerksamkeit der Forscher zur Geschichte der politischen Bauernbewegung verdient.
Die wichtigsten Arbeiterparteien Gehen wir schließlich zur Untersuchung der letzten der großen politischen Bewegungen, zur Arbeiterbewegung über, dem Repräsentanten der gesellschaftlichpolitischen Interessen der Arbeiterklasse. Die Tatsache der Entstehung eines unabhängigen polnischen Staates im Jahre
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1918 verursachte tiefgehende Veränderungen im Bewußtsein derjenigen Klasse, auf die sich die marxistischen politischen Parteien stützten.27 Charakteristisch war, daß innerhalb der polnischen wie auch der Arbeiterbewegung anderer Länder unter den Bedingungen der Unabhängigkeit die Prozesse der Einigung zum Durchbruch gelangten. Das zeigte sich sowohl innerhalb der Arbeiterparteien als auch in der Gewerkschaftsbewegung, bei gleichzeitig deutlich werdender Spaltung zwischen der revolutionären und der reformistischen Richtung. Es erfolgte jetzt eine Abgrenzung zwischen der Sozialdemokratie und den Kommunisten, die nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution die konsequent revolutionäre Richtung in der Arbeiterbewegung repräsentierten. Die PPS war zur Zeit der Geburt der II. Republik noch in drei Organisationen gespalten, die in den früheren Teilungsgebieten gearbeitet hatten. Auf dem 16. Parteitag im April 1919 wurde jedoch die Vereinigung dieser drei Organisationen zur einheitlichen PPS vollzogen. Nach dem Vorbild der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie gestaltet, war die PPS das Zentrum der sozialistischen Bewegung Polens im Zeitraum der II. Republik. Auf ihre Tätigkeit übten viele Funktionäre aus dem ehemaligen Königreich wie Feliks Perl, Mieczyslaw Niedzialkowski, Norbert Barlicki, Kazimierz Puzak sowie die aus Galizien stammenden Zygmunt Zulawski, Herman Lieberman, Herman Diamand, J^drzej Moraczewski und Ignacy Daszynski (1866-1936) einen großen Einfluß aus. Besonders Daszyäski war im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit Polens der repräsentativste Vertreter der vereinigten PPS. Die PPS nahm innerhalb der polnischen Arbeiterbewegung und im politischen Leben der II. Republik eine besondere Stellung ein.28 Sie ergab sich aus der Tatsache, daß die PPS vor 1918, im Unterschied zu anderen politischen Organisationen, den Kampf um die Erringung der nationalen Unabhängigkeit als zentrales Anliegen der Arbeiterbewegung proklamierte. Die Führung der PPS war der Auffassung, daß unter den neuzeitlichen Bedingungen gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh. f ü r die Entwicklung des Proletariats und die Entwicklung des Volkes ein eigener, unabhängiger Staat notwendig war, und sei es auch ein kapitalistischer Staat. Beim Aufbau des neuen Staates wurde der Aspekt der nationalen Befreiung besonders hervorgehoben, und dabei spielten die polnischen Sozialisten eine hervorragende Rolle. Gleichzeitig betonte die PPS, die durch manche Funktionäre mit dem Lager Pilsudskis verbunden war, besonders die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit zu verteidigen, und forderte die Sicherung der internationalen Position des bürgerlich-demokratischen Staates. Die Forschungen zur Geschichte der PPS (mit Ausnahme vielleicht der sozialistischen Parteien der nationalen Minderheiten) sind bereits relativ weit fortge27
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Vgl. Jablonski, H., Narodziny Drugiej Rzeczpospolitej - 1918/19 (Geburtstag der II. Republik - 1918/19), Warszawa 1962; Rok 1918. Znaczenie powstania niepodleglego panstwa dla klasy robotnieczej w Polsce, problemy i dyskusje (Das Jahr 1918. Die Bedeutung der Entstehung des unabhängigen Staates für die polnische Arbeiterklasse - Probleme und Diskussionen), in: Z pola walki, 1968', 3. Vgl. u. a. Hölzer, J., PPS. Szkic dziejöw (PPS - eine Skizze ihrer Entwicklung), Warszawa 1977; Wiqch,K., Polska Partia Socjalistyczna 1918-1921 (Die Polnische Sozialistische Partei 1918-1921), Warszawa 1978.
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schritten. Dennoch fehlt bisher eine Gesamteinschätzung der Rolle dieser Partei. In zahlreichen Monographien, die bestimmte Abschnitte der Tätigkeit der PPS sowie der revolutionären Arbeiterbewegung Polens behandeln, kann man manchmal auf extreme Einschätzungen in bezug auf die Ideologie und Politik der PPS vor und nach der Erringung der Unabhängigkeit stoßen. Die Kontroversen hinsichtlich der PPS gehen weiter. Es scheint, daß diese Problematik um so größere Aufmerksamkeit verlangt, als es hier um eine Partei geht, die bei der Gestaltung des nationalen und des gesellschaftlichen Bewußtseins breiter Arbeitermassen eine große Rolle spielte. Sie verankerte im Volk die Ideale der Demokratie und auch die sozialistische Ideologie. Die PPS war politisch vielschichtig, was ihr erlaubte, zusätzlich im gesellschaftlich-politischen Leben der II. Republik sehr stark in Erscheinung zu treten. Innerhalb der PPS gab es die liberal-demokratische Strömung, die in gewisser Weise an die revolutionären Traditionen des niederen Adels anknüpfte, die reformistische Strömung, die sie den sozialdemokratischen Parteien Westeuropas sehr ähnliche machte, und schließlich auch eine linke, revolutionäre Strömung, die zur kommunistischen Ideologie hinneigte. Die dominierende Auffassung in der PPS, die ihr politisch-ideologisches Antlitz prägte, war jedoch die reformistische Richtung, repräsentiert durch die Führung dieser Partei. Entgegen dem Standpunkt von Oppositionsgruppen (Tadeusz Zarski, Jerzy Czeszejko-Sochacki u. a.) lehnte die PPS die Forderung nach der Diktatur des Proletariats ab und stand auf dem Boden der bürgerlich-parlamentarischen Republik. Die politische Ideologie der PPS, gestaltet durch Perl, Niedzialkowski u. a., hatte in bezug auf den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus viel Ähnlichkeit mit den Konzeptionen der Ideologen der internationalen Sozialdemokratie Karl Kautsky und Otto Bauer, die vor dem Machtantritt Hitlers die These vertraten, daß man die Mehrheit der Bevölkerung für die sozialistischen Ideen gewinnen könne und deshalb die Erringung der Macht auf parlamentarischem Wege möglich sei.29 Es ist jedoch bemerkenswert, daß trotz der weitgehenden Übereinstimmung der PPS mit den politisch-ideologischen Auffassungen der europäischen Sozialdemokratie deren Beziehungen zur PPS in den ersten Nachkriegsjahren nicht die besten waren. Deshalb nahm die PPS auch keinen Anteil an den Versuchen, die II. Internationale Wiederaufleben zu lassen. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die grundsätzlichen Kontroversen im Zusammenhang mit dem polnischsowjetischen Krieg 1920 sowie andere unterschiedliche Auffassungen zwischen der PPS und anderen sozialdemokratischen Parteien, vor allem der SPD und der USPD, zur Thematik des Versailler Vertrages. Die deutsche Sozialdemokratie forderte nämlich die Revision des Versailler Vertrages und hatte in bezug auf die Festlegung der Grenzen zu Polen große Vor29
Vgl. Tomicki, J., Mieczyslaw Niedzialkowski. Wspölczesne zyciorysy Polaköw (Zeitgenössische Lebensläufe bekannter Polen), Warszawa 1978; Sliwa, M., Poglqdy Mieczyslawa Niedzialkowskiego na spoleczefistwo i panstwo socjalistyczne (Die A u f fassungen von Mieszyslaw Niedzialkowski über die Gesellschaft und den sozialistischen Staat), in: Z pola walki, 1978, 3.
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behalte. Die PPS unterstützte dagegen den Aufstand in Großpolen und die drei oberschlesischen Aufstände unmittelbar nach dem Kriege, ohne auf die kritischen Einwände zu achten. Sie unterstützte den polnischen Nationalismus und Imperialismus.30 Diese Probleme hatten die anderen sozialistischen Parteien, wie die Unabhängige Sozialistische Partei der Arbeit (Niezalezna Socjalistyczna Partia Pracy) mit Boleslaw Drobner, der Alljüdische Arbeiterverband „Bund" (Ogölnozydowski Zwi^zek Robotniczy „Bund") mit Wiktor Alter und Henryk Erlich oder die Deutsche Sozialistische Partei der Arbeit, in Polen nicht. Sie repräsentierten in der Hauptsache die nationalen Minderheiten und machten in den ersten Nachkriegsjahren den schwierigen Prozeß der Anpassung an die neuen Bedingungen im unabhängigen polnischen Staat durch. Sie verhielten sich allgemein sehr kritisch zum kapitalistischen polnischen Staat und traten in ihrer Tätigkeit für den Klassenkampf ein. Das brachte ihnen die Unterstützung der Linken in der internationalen Sozialdemokratie, während die PPS zu dieser Zeit auf dem internationalen Forum fast isoliert blieb. Diese Situation veränderte sich jedoch in gewisser Weise, als im Jahre 1923 aus der Vereinigung der II. Internationale und der Internationale Zweieinhalb die Sozialistische Arbeiterintemationale entstand, deren Mitglied auch die PPS wunde.31 Diese Internationale, in der bis 1933 hauptsächlich die deutschen und österreichischen sowie die englischen Sozialdemokraten und die der skandinavischen Länder dominierend waren, konzentrierte ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Probleme der Länder Zentral- und Westeuropas. Die Fragen der neu entstandenen Staaten im Osten des Kontinents waren für sie von geringerem Interesse. Daher konnte auch die PPS in der Sozialistischen Arbeiterinternationale nur eine untergeordnete Rolle spielen, wenngleich sie durch so bekannte sozialistische Funktionäre wie Herman Diamand, Mieczyslaw Niedzialkowski und in den 30er Jahren durch Herman Lieberman dort vertreten war.32 Im Unterschied zur PPS, die in der II. Republik im Lager der demokratischen Linken eine große Rolle spielte, repräsentierte die KPP einen anderen Parteientyp. Sie stellte sich andere Aufgaben und Ziele und hatte auch andere internationale Verbindungen. Entstanden im Dezember 1918 aus der Vereinigung der SDKPiL und der PPS-Linken als Kommunistische Arbeiterpartei Polens, nannte sie sich seit 1925 Kommunistische Partei Polens (KPP). Ihr politisches Antlitz im ersten Jahrzehnt des unabhängigen polnischen Staates wurde durch solche Funktionäre geprägt wie Adolf Warski, Maria Koszutska, Henryk Walecki und danach 30
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Vgl. Leinwand, A., PPS wobec wojny polsko-radzieckiej 1919-1920 (Die PPS und der polnisch-sowjetische Krieg 1919-1920), Warszawa 1963; Czubinski, A., Wybrane problemy polskiego i mi^dzynarodowego ruch robotniczego (Ausgewählte Probleme der polnischen und internationalen Arbeiterbewegung), Warszawa 1977. Tomicki, J., Dzieje II Mi^dzynarodöwki 1914-1923 (Geschichte der II. Internationale 1914-1923), Warszawa 1975; ders., Die Sozialistische Arbeiterinternationale und die Grundprobleme der sozialistischen Bewegung in Polen, in: Hallesche Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie, Bd. 2, Halle 1978, S. 48 ff. Vgl. Ziaja, L., PPS a polska polityka zagraniczna 1926-1939 (Die PPS und die polnische Außenpolitik 1926-1939), Warszawa 1974.
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durch Julian Lenski, Julian Brun, Samuel Amsterdam-Henrykowski, Alfred Lampe u. a. Besondere Aufmerksamkeit unter den Genannten verdienen Adolf Warski (1868 bis 1937) und Maria Koszutska (1876-1939) als denkwürdige Persönlichkeiten der polnischen kommunistischen Bewegung. Beide bekämpften die sektiererischen Tendenzen in der Partei und suchten nach solchen Lösungen, die der KPP die führende Rolle innerhalb der revolutionären Linken sichern sollte, die zum Aufbau eines sozialistischen Polens strebte. Die KPP als eine nach leninistischen Grundsätzen des demokratischen Zentralismus aufgebaute Partei besaß zahlreiche legal und illegal wirkende Schwesterorganisationen und entwickelte sich im Prozeß der Formierung der kommunistischen Weltbewegung. Das war der Zeitraum, als sich die konsequent revolutionären Kräfte von den Reformisten und Opportunisten ideologisch und organisatorisch trennten. Die KPP gehörte als Sektion der Kommunistischen Internationale an.33 Im Unterschied zur Mehrheit der kommunistischen Parteien, z. B. der Tschechoslowakei, Ungarns, Österreichs, Frankreichs und Italiens, die in den Jahren 1918 bis 1921 aus revolutionären Gruppen innerhalb der sozialdemokratischen Parteien entstanden waren, verlief der Entstehungsprozeß der KPP anders. Die polnischen Revolutionäre befanden sich bereits vor dem ersten Weltkrieg in zwei internationalistischen Parteien (der SDKPiL und der PPS-Linken) und hatten bereits eine lange Tradition des revolutionären Wirkens hinter sich. Viele von ihnen nahmen an den Kämpfen von drei russischen Revolutionen teil, im Jahre 1905 sowie im Februar und Oktober 1917. Diese Spezifik der polnischen kommunistischen Bewegung wurde bisher in der historischen Literatur, insbesondere im Ausland, ungenügend berücksichtigt.34 Es existiert auch noch ein zweites Problem hinsichtlich der Formierung der KPP als Partei des ganzen Landes. Dieser Prozeß war deshalb nicht einfach, weil ihre Vorgängerinnen nicht auf dem gesamten polnischen Territorium, sondern nur im russischen Teilungsgebiet gewirkt hatten. In Galizien sowie im früheren preußischen Teilungsgebiet fand die KPP zunächst keine entsprechende Stütze innerhalb der Arbeiterklasse und anderen sozialen Schichten. Die KPP erwuchs also gewissermaßen auf den Traditionen des ehemaligen Königreichs Polen, und im Anfang ihrer Existenz, trotz der im Lande schnell vor sich gehenden Integrationsprozesse, begrenzte sich ihre Tätigkeit auf Zentralpolen. In den ersten Nachkriegsjahren war sie in den ehemals österreichischen und preußischen Teilungsgebieten so gut wie nicht vorhanden. Erst nach 1920 begann die KPP sich als Partei des ganzen Landes zu formieren. Ihren Kern bildeten zwar nach wie vor die ehemaligen Mitglieder der SDKPiL und der PPS-Linken, aber nunmehr traten der KPP auch andere linke Gruppen 33 34
Die Kommunistische Internationale. Kurzer historischer Abriß, Berlin 1970, S. 61 ff. Vgl Koberdowa, I./Tomicki, J,. Die sozialen und politischen Veränderungen in der Welt am Ende des ersten Weltkrieges und die Arbeiterbewegung. Referat, gehalten auf der 15. Internationalen Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung in Linz, 11.-15. 9.1979, in: Dzieje Najnowsze, 1979, 4.
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der PPS bei (die Gruppen von Zarski, Sochacki, Lancucki unid Porarikiewicz). Das ermöglichte den Ausbau des Organisationsnetzes der KPP über das Territorium des ehemaligen Königreichs hinaus. Es muß auch hinzugefügt werden, daß innerhalb der ukrainischen und belorussischen Minderheit die entsprechenden kommunistischen Parteien autonom wirkten, jedoch mit der KPP eng verbunden waren. Mit dem Problem der territorialen Reichweite der KPP hängt auch die Frage ihrer Illegalität zusammen.35 Faktisch existierte die KKP in den Zwischenkriegsjahren nicht legal. Ihre aktiven Mitglieder wurden verfolgt, ö f t e r mußten sie lange Gefängnisstrafen absitzen. In Wirklichkeit hatte die Partei also keine normale Entwicklungsmöglichkeiten wie die kommunistischen Parteien der Tschechoslowakei, Frankreichs oder die KPD in der Weimarer Republik. Gleichzeitig waren jedoch die Abgeordneten der KPP im Sejm, in der Selbstverwaltung und in der Krankenkasse vertreten. Diese Möglichkeiten wiederum hatten weder die Kommunisten noch die Sozialisten in den typischen Ländern des Faschismus und anderer diktatorischer Regimes, wie z. B. Ungarn, Rumänien oder Bulgarien nach 1923. Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen muß man feststellen, daß das in der II. Republik herrschende politische Regime vor 1926 und während der Regierungen der Sanacja (mindestens bis 1935) den polnischen Kommunisten eine gewisse Chance der halblegalen Arbeit gab. Die KPP machte in den 20 Jahren der II. Republik eine bedeutende Entwicklung in ihren Auffassungen zur Frage des Staates, der Nation und der Rolle der Arbeiterklasse durch.36 Anfangs verkündete sie sektiererische Losungen, womit sie übrigens nicht allein stand. Solche Losungen wie der unmittelbare Kampf um die Diktatur des Proletariats, um die proletarische Weltrepublik u. a. herrschten damals in der internationalen kommunistischen Bewegung vor. In der konkreten Situation, wie sie Ende 1918 existierte, als gewisse Voraussetzungen für den Ausbruch der Revolution in Zentraleuropa vorhanden waren, sahen die Kommunisten Polens und anderer Länder in der Tatsache der Entstehung von Nationalstaaten eine große Gefahr f ü r die Perspektive der Entwicklung der Revolution in dieser Region. Sie befürchteten, daß die entfesselte nationale Befreiungsbewegung von den herrschenden Klassen ausgenutzt, sich in eine nationalistische Bewegung verwandeln und den Volksmassen das Ziel der proletarischen Revolution vernebeln würde. Es scheint, daß solche Auffassungen hauptsächlich zum damaligen negativen Standpunkt der Kommunisten zur Entstehung von Nationalstaaten beigetragen haben. In ihnen sahen sie den Ausdruck 35
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Diese Frage untersuchte zuletzt Lawnik, J., Represje policyjne wobec ruchu robotniczego 1918-1939 (Polizeiliche Repressionen gegen die Arbeiterbewegung 1918 bis 1939), Warszawa 1979. Vgl. Kowalski, J., Komunistyczna Partia Polski 1935-1938 (Die Kommunistische Partei Polens 1935-1938), Warszawa 1975; Tomicki, J., Naröd i niepodlegle panstwo w mysli politycznej polskiego ruchu robotniczego, 1918-1939 (Das Volk und der unabhängige Staat im politischen Gedankengut der polnischen Arbeiterbewegung, 1918^-1939), in: Pami^tnik XII Powszechnego Zjazdu Historyköw Polskich 17-20 wrzesnia 1979 roku, T. 1, Katowice 1979, S. 124 ff.
Parteien und Parteiensysteme
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der Konsolidierung der ihnen feindlichen Gruppierung kapitalistischer Staaten, gerichtet gegen Sowjetrußland sowie gegen die revolutionären und fortschrittlichen Kräfte in Polen sowie in Zentral- und Osteuropa. Dennoch muß auch weiterhin das Problem untersucht werden, inwieweit dieses Verhältnis der Kommunistischen Arbeiterpartei Polens zur neuen Wirklichkeit der Unabhängigkeit des polnischen Staates Ausdruck der bisherigen Konzeptionen der unter Bedingungen der nationalen Unterdrückung entstandenen SDKPiL war bzw. inwieweit es durch die damaligen Einschätzungen der in der Entstehung begriffenen kommunistischen Weltbewegung bedingt wurde. Sie rang damals um die richtige Relation zwischen ihren Universalzielen und der nationalen Rolle der einzelnen kommunistischen Parteien. In den folgenden Jahren begann die KPP schrittweise die Möglichkeiten zu nutzen, die ihr im polnischen Staat im Interesse der Arbeiterklasse und der Volksmassen gegeben waren. Ein Hauptergebnis war zweifellos die Erkenntnis, daß unter der Hegemonie der Arbeiterklasse die bürgerlich-demokratische Revolution im Lande zu Ende geführt werden mußte und danach erst die sozialistischen Forderungen verwirklicht werden konnten. Mit dieser Konzeption traten Warski und Koszutska auf dem II. Parteitag der KPRP im Jahre 1923 auf. Es gelang ihnen damals noch nicht, sie durchzusetzen, weil u. a. die Gruppe Leriski dagegen war und zum unmittelbaren Kampf um die Diktatur des Proletariats aufrief. Eine weitere wichtige Frage war die Mobilisierung der Massen zum Kampf für allgemein-demokratische Forderungen und f ü r die Verteidigung der Unabhängigkeit des Landes. Hiermit verband sich die Strategie des Kampfes um die Einheitsfront der Arbeiterklasse und die Volksfront, wie sie vom 7. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im Jahre 1935 beschlossen worden war. Die Kraft der KPP bestand vor allem darin, daß sie als Partei mit einem revolutionären Programm zum Zentrum des Zusammenschlusses der linken, revolutionären Kräfte in der II. Republik wurde, besonders angesichts der Gefahr der bevorstehenden Aggression durch das faschistische Deutschland. Außerdem verstand sie es als Sektion der Kommunistischen Internationale, ihre wichtigsten politischen Aktionen mit der europäischen kommunistischen Bewegung zu koordinieren. Gleichzeitig verbreitete die KPP in den Reihen der Arbeiterklasse den Internationalismus und sah die Interessen Polens in der Annäherung und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Es ist erwähnenswert, daß in diesen Jahren auch in der sozialistischen Bewegung eine bedeutende Entwicklung der Auffassungen in der Staatsfrage und der nationalen Frage vor sich ging. Das fand seinen Ausdruck im programmatischen Dokument der PPS von 1937, angenommen auf dem Parteikongreß in Radom, sowie vor allem in den Dokumenten der damals sehr aktiven linkssozialistischen Richtung. Ihre Repräsentanten waren u. a. Norbert Barlicki, Stanislaw Dubois, Adam Pröchnik, Oskar Lange, Boleslaw Drobner und Wanda Wasilewska. Sie erarbeiteten eine Konzeption des Kampfes um ein sozialistisches Polen, die in linkssozialistischen Zeitschriften und als Sonderdruck publiziert wurde. 37 Bestimmte 37
Gospodarka, polityka, taktyka, organizacja socjalizmu (Die Wirtschaft, Politik, Taktik und Organisation des Sozialismus), Warszawa 1934; W walce o socjalizm.
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Vorstellungen über ein sozialistisches Polen formulierten auch die Angehörigen des „Bundes".38 Es wäre sicherlich sehr interessant, die damaligen politisch-ideologischen Erkenntnisse der kommunistischen und sozialistischen Linken in Polen mit denen anderer Länder zu vergleichen, u. a. derjenigen, die auf dem Boden des Austromarxismus oder ähnlicher Richtungen standen. Der Versuch, den Entwicklungsweg der kommunistischen und sozialistischen Bewegung darzustellen, führt zu der Schlußfolgerung, daß im zweiten Jahrzehnt des unabhängigen Polen in beiden Richtungen wesentliche Veränderungen vor sich gingen. So verzichteten die KPP und die mit ihr verbundenen Organisationen, die durch einen Beschluß des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale im Jahre 1938 aufgelöst worden waren39, im Zeitraum der internationalen Offensive des Faschismus und der Gefahr der Entfesselung eines neuen Weltkrieges auf die Strategie der unmittelbaren Durchführung der proletarischen Revolution. Sie bezogen den Standpunkt der Verteidigung der Unabhängigkeit und Souveränität Polens sowie der demokratischen Errungenschaften des Volkes vor den Angriffen der politischen Rechten in Gestalt der Sanacja und Endecja. Auch in der sozialistischen Bewegung entstand im Zusammenhang mit der Krise der parlamentarischen Demokratie und der Niederlage des Linksblocks Centrolew sowie dem Sieg des Faschismus in Deutschland eine gewisse Wiedergeburt des marxistischen Denkens. Das wurde am deutlichsten auf ihrem linken Flügel sichtbar, der mit dem Reformismus brach und nach gemeinsamen neuen Wegen mit den Kommunisten suchte. Diese Lösungen sollten zur Schaffung der organischen Einheit der Arbeiterbewegung und zu dauerhaften Grundlagen für die Entwicklung der sozialistischen Demokratie führen. Doch die Tragödie der KPP und danach die Septemberkatastrophe von 1939 und das Ende der II. Republik bedingten, daß die im zweiten Jahrzehnt des unabhängigen Polen geborenen Ideen erst unter anderen historischen Voraussetzungen verwirklicht werden konnten, nachdem die Arbeiterbewegung neue Erfahrungen gesammelt hatte. Schlußbemerkungen Abschließend ist es zweckmäßig, zur bereits in der Einleitung aufgestellten These zurückzukehren, daß die Parteien zu den grundlegenden Elementen der politischen Struktur jedes neuzeitlichen Staates gehören. Nach dem gegebenen histori-
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Projekt programu Polskiej Partii Socjalistycznej (Im Kampf um den Sozialismus. Entwurf des Programms der Polnischen Sozialistischen Partei), Warszawa 1935. Deklaracja ideowa Bundu (Die ideologisdie Deklaration des „Bundes"), Warszawa 1935. Die Rehabilitierung erfolgte im März 1956 durch die Zentralkomitees der kommunistischen Parteien der Sowjetunion, Italiens, Bulgariens und Finnlands, deren Vertreter 1938 beim Beschluß des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale über die Auflösung der Kommunistischen Partei Polens anwesend waren. Sie gaben eine Erklärung ab, daß die Auflösung der KPP damals unbegründet war.
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sehen Uberblick über die Entwicklung der politischen Parteien Polens und gewisser Zusammenhänge im Verhältnis zu ähnlichen Parteien in den benachbarten Ländern können wir nicht bei diesen Feststellungen stehenbleiben. Sie beziehen sich nämlich auf Parteien und Parteiensysteme, die in unabhängigen Staaten wirkten. Gleichzeitig entstanden auch in Ländern ohne eigene Staatlichkeit, wie in Polen vor 1918, gewisse Elemente eines eigenen parteipolitischen Systems, oft gegen den Willen der fremden Staatsmacht. Dieses System entwickelte sich danach und wirkte unter den Bedingungen der Unabhängigkeit. Es entsteht der Eindruck, daß die Theoretiker zum Thema der politischen Parteien, die bestimmte Verallgemeinerungen treffen und Modelle charakterisieren, die spezifischen Bedingungen nicht voll berücksichtigen, unter denen die neuzeitlichen politischen Parteien in den verschiedenen Teilen Europas entstanden sind. Zusammenfassend ausgedrückt brachten die zwei Jahrzehnte zwischen beiden Weltkriegen auf dem Gebiet der Entwicklung politischer Parteien neue Veränderungen. In diesen Jahren erfolgte im Vergleich zum Zeitraum vor 1914 eine bedeutende Ausbreitung der Parteien verschiedenen Typs und politischer Orientierung. Es begannen jedoch Parteien mit entwickelter Organisationsstruktur und hoher Mitgliederzahl zu überwiegen. Mit ähnlichen Erscheinungen hatten wir es auch in Polen zu tun. Seit der Entstehung der II. Republik existierten neue Bedingungen für die Tätigkeit der Parteien und politischen Richtungen, die in ihrer grundsätzlichen Gestaltung gegen Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jh. entstanden waren. Am stärksten ins Blickfeld trat die nach dem November 1918 erfolgte organisatorische Vereinigung verwandter politischer Richtungen, die vorher in den drei verschiedenen Teilungsgebieten Polens tätig gewesen waren. Später fand eine weitere Polarisierung im Rahmen der Parteien und politischen Lager statt. Im Zeitraum des Wirkens der Regierungen der Sanacja erfolgte ebenfalls eine bedeutende Einschränkung der Tätigkeit derjenigen Parteien, die ihre Arbeit dem System der parlamentarischen Demokratie angepaßt hatten. Die 20 Zwischenkriegsjahre waren eine wichtige Etappe in der Geschichte des polnischen Volkes sowie der Völker Europas und der Welt. Politisch war dies ein Zeitraum großer ideologischer Konfrontationen, revolutionärer Erschütterungen und gleichzeitig einer tiefgehenden Krise der bürgerlichen Demokratie. Sie vermochte die anwachsenden Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht zu lösen. Gleichzeitig fand in einigen europäischen Ländern eine Polarisierung der Klassenkräfte um zwei Lager statt: um die äußerste Linke, repräsentiert durch die kommunistische Bewegung, und um die äußerste Rechte, repräsentiert durch die faschistischen Parteien. Die Spezifik der polnischen Entwicklung bestand darin, daß keine dieser Richtungen eine stärkere Position im Lande erreichte. Neben den zwei großen politischen Lagern der Rechten - der Sanacja und Endecja neben der christlichsozialen Bewegung, organisiert im Zentrum, spielten im Lager der polnischen Demokratie die Sozialisten und der Bauernparteien eine große Rolle sowie die sich gegen Ende der II. Republik belebende liberale Strömung. Abschließend muß man hinzufügen, daß das während der II. Republik in Polen
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und in anderen Ländern Zentral- und Osteuropas entstandene Parteiensystem nach dem zweiten Weltkrieg einer weitgehenden Modifizierung unterlag. Das erfolgte im Ergebnis der sozialökonomischen und politischen Veränderungen in diesem Teil des Kontinents. Unter neuen historischen Bedingungen fiel jetzt die führende Rolle den revolutionären und linken Parteien zu. Diese nach marxistisch-leninistischen Grundsätzen des demokratischen Zentralismus aufgebauten oder diese Grundsätze anerkennenden Parteien wurden nach dem zweiten Weltkrieg zu Vollstreckern des Volkswillens, während die die Interessen der besitzenden Klassen ausdrückenden Parteien von der politischen Bühne abtreten mußten. (übersetzt von Dr. Bruno Buchta, Potsdam)
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Die internationale Bedeutung des von Polen im Jahre 1 9 3 9 geführten Verteidigungskrieges
In den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 begann das faschistische Deutsche Reich seinen Angriff auf Polen. Das Ziel dieser Aggression bestand nicht nur darin, irgendwelche Gebiete zu erobern, sondern Polen als Staat zu zerschlagen. Während der Hitlerfaschismus die Aggression vorbereitete und dabei die antisowjetische Strategie der Westmächte auszunutzen suchte, bemühte er sich darum, Polen zu isolieren, ja kalkulierte dies unmittelbar in seine Pläne ein. Polen erhielt freilich Garantien von Seiten Großbritanniens, denen sich Frankreich anschloß, indem es die Verpflichtungen bestätigte, die es in einem bereits vordem abgeschlossenen Bündnisvertrag übernommen hatte. Die Machthaber des „Dritten Reiches" rechneten jedoch nicht damit, daß England und Frankreich diesen ihren Verpflichtungen nachkommen würden. Sieht man sich das diplomatische Spiel näher an, das Deutschland in den Monaten und Wochen vor Kriegsbeginn betrieb, so erkennt man unschwer, daß es ihm darum ging, einen Keil zwischen Polen und seine westlichen Verbündeten zu treiben, d. h. den Westmächten einen Vorwand zu liefern, unter dem sie Polen ihren Beistand verweigern würden. Für den Angriff auf Polen wurde eine mehr als IV2 Millionen Mann zählende Armee eingesetzt, die mit 10 000 Geschützen verschiedener Art, 2 000 Panzern und 2 100 Flugzeugen ausgerüstet war. Dem hatte Polen nur rund 1 Million Soldaten, knapp 3 000 Geschütze, 380 Panzer und etwas mehr als 400 Kampfflugzeuge entgegenzusetzen. Trotz dieses zahlenmäßigen Mißverhältnisses war Polens Armee stark genug, um die Absichten des deutschen Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) zu durchkreuzen. Die Faschisten konnten ihren Plan, das polnische Heer westlich der Weichsel einzuschließen, nicht in die Tat umsetzen. Anstelle der beabsichtigten einzigen strategischen Operation sah sich die deutsche militärische Führung gezwungen, deren zwei durchzuführen, und zwar im westlichen und im nördlichen Teil Polens. Die Kampfhandlungen dauerten bis zum 4. Oktober. Für die Verteidigung ihrer Heimat ließen 66 000 polnische Soldaten auf dem Schlachtfeld ihr Leben, 133 000 wurden verwundet. Auch die Verluste unter der Zivilbevölkerung waren groß. Auf deutscher Seite fielen (bzw. erlagen ihren Verletzungen) 16 000 Soldaten, während 30 000 verwundet wurden; außerdem erlitt die deutsche Wehrmacht 20 J a h r b u c h 23
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beträchtliche Materialverluste: 700 bis 800 Panzer und ungefähr 500 Flugzeuge.1 Polen wurde zwar im September 1939 militärisch besiegt, es hatte jedoch bewiesen, daß es gegen Hitlers Wehrmacht zu kämpfen vermochte. Was Großbritannien und Frankreich betrifft, so mußten sie wenigstens der Form nach ihre Bündnisverpflichtungen erfüllen; dies taten sie, indem sie Deutschland am 3. September den Krieg erklärten. Jedoch trat die französische Armee, die im Westen im Verhältnis zu den dort eingesetzten deutschen Truppen ein sehr starkes Übergewicht besaß, nicht zu einer Offensive an, die die polnische Armee hätte entlasten können. Vielmehr wurde am 12. September auf einer Sitzung des englisch-französischen Obersten Konsultativausschusses der Beschluß gefaßt, sich jeglicher offensiver militärischer Aktivitäten an der Westfront zu enthalten. 2 In der ersten Zeit nach der faschistischen Machtergreifung war es der Hitlerdiktatur noch gelungen, ihre Expansionspläne ohne Waffengewalt zu verwirklichen. Sie brauchte nur mit ihrer Anwendung zu drohen. Die Unentschlossenheit und der Opportunismus, den die westlichen Staaten an den Tag legten, sowie ihre faktisch fehlende Bereitschaft, gemeinsam mit der UdSSR eine einheitliche Front gegen den Aggressor aufzubauen, verhalfen dem „Dritten Reich" zu spektakulären Erfolgen. Eine Kette von Annexionen und erzwungenen Gebietsabtretungen ließ die Bevölkerung des Reiches in der Zeit vom Frühjahr 1938 bis zum Frühjahr 1939 von 66 auf 86 Millionen anwachsen. So wurde Polen eingekreist und das ohnehin schon starke Militär- und Wirtschaftspotential des deutschen Imperialismus erheblich erweitert. Diese Erfolge konsolidierten einerseits die faschistische Herrschaft und stärkten die Popularität Hitlers in Deutschland, andererseits vergrößerten sie die Befürchtungen seiner europäischen Gegner und lähmten zugleich ihren Widerstandswillen. Durch die Kapitulation von München wurden derartige Stimmungen noch verstärkt. Nachdem der „Anschluß" Österreichs vollzogen und die Tschechoslowakei besetzt worden war (ohne daß die deutsche Militärmacht dabei auf Widerstand gestoßen wäre), gehörte beträchtlicher Mut dazu, ein von Berlin gestelltes Ultimatum zurückzuweisen, wie dies Warschau tat, als es Hitler ein klares Nein zur Antwort gab. Hitlers Triumphe hatten viele seiner Gegner verunsichert, und einige wahre bzw. angebliche Freunde oder auch Leute, die sich als Neutrale verstanden, suchten Polen davon abzubringen, Widerstand zu leisten, und bedrängten es, „Danzigs wegen" doch ja nicht etwa das Risiko eines Krieges einzugehen. Die allerletzte Chance der Gegner Hitlerdeutschlands, den Kampf auf der Basis eines optimalen Kräfteverhältnisses aufzunehmen, bot die Lage, wie sie vor dem Münchener Diktat (durch das der Tschechoslowakei die Sudetengebiete entrissen 1
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Wojna obr'onna Polski 1939 (Polens Verteidigungskrieg 1939), bearb. von Mieczyslaw Gieplewicz, Tadeusz Jurga, Eugeniusz Kozlowski u. a., wiss. Red. Eugeniusz Kozlowski, Warszawa 1979, S. 850-949; Deutschland im zweiten Weltkrieg, Bd. 1, Berlin 1974, S. 183. Cialowicz, J., Polsko-francuski sojusz wojskowy 1921-1939 (Das polnisch-französische Militärbündnis 1921-1930), Warszawa 1970, S. 388-390 (Bericht über die Sitzung mit Kommentar); vgl. auch Gamelin, Maurice, Servir, T. 3, Paris 1947, S. 66-68.
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wurden) bestand. Hätten die Staaten, die sich später unter Hitlers Aggressionsschlägen zu einem Bündnis zusammenschließen sollten, ihre K r ä f t e bereits zu dem genannten Zeitpunkt vereinigt, und wären in der Außenpolitik Polens neue Wege - und zwar in Richtung auf eine Verständigung mit der Tschechoslowakei beschritten worden, so hätte Hitlers Expansion gestoppt werden können. Als die deutsche Führung den „Fall Weiß" vorbereitete, kam ihr der f ü r sie vorteilhafte Verlauf der deutsch-polnischen Grenze zustatten. Wiederholt wurde an dem Verteidigungsplan, den Polen entwickelt hatte, Kritik geübt, da nach diesem das Gros der polnischen Armee in den an Deutschland angrenzenden Gebieten zusammengezogen werden sollte, in Gebieten nämlich, die sich in keinem Falle hätten verteidigen lassen. Nach Meinung zahlreicher Historiker w ä r e eine im Landesinneren aufgebaute Verteidigungslinie - oder eine solche längs der Flüsse - effektiver gewesen. Dabei wird jedoch übersehen, daß ein Rückzug polnischer Divisionen aus dem Gebiet Pomorze der Region Wielkopolska oder aus Görny Slqsk - also den wirtschaftlich am weitesten entwickelten Landesteilen auf eine im Landesinneren eventuell günstiger verlaufende Verteidigungslinie es Hitler erlaubt hätte, seine fürs erste angemeldeten territorialen Ansprüche zu realisieren, was die öffentliche Meinung Polens sicherlich nicht gutgeheißen hätte. Wäre eine derartige Situation eingetreten, so hätten Polens Verbündete dies als Anzeichen einer bevorstehenden Kapitulation Polens gewertet und sich von jeglicher moralischen Verpflichtung entbunden gefühlt, in einen Krieg mit Deutschland einzutreten bzw. den bereits begonnenen fortzusetzen. Außerdem wird nicht ohne Berechtigung geltend gemacht, daß es vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges angesichts des Übergewichts der europäischen Hitlergegner oder zümindest des Kräftegleichgewichts zwischen dem faschistischen Deutschland und seinen potentiellen militärischen Widersachern um vieles leichter gewesen wäre, eine Offensivstrategie auszuarbeiten und dementsprechend einen Präventivkrieg vorzubereiten, daß es hingegen f ü r die - durch geopolitische Gegebenheiten in die Defensive gedrängte - kriegführende Seite unvergleichlich schwieriger war, eine Verteidigungslinie aufzubauen, zumal die Politik Tendenzen der potentiellen Verbündeten divergierte und politische Bündnisverträge mehr den Charakter taktischer Mittel hatten. Dagegen muß den Kritikern recht gegeben werden, wenn sie feststellen, daß die Art, wie der Krieg im September 1939 verlorenging, der Stärke und dem Heldentum des polnischen Soldaten nicht gerecht wurde, der sich mit dem Mut der Verzweiflung geschlagen hatte. Auf der einen Seite ließ der - nach Meinung der damaligen Weltöffentlichkeit - schnelle deutsche Sieg (der sog. Blitzkrieg) das polnische Militärpotential als untauglich erscheinen, während auf der anderen Seite die Verfechter eines appeasement bzw. die Bundesgenossen Hitlers Polen wegen seiner fehlenden Bereitschaft zum Nachgeben tadelten, da sie nicht begriffen oder nicht begreifen wollten, daß gerade das polnische Volk als erstes das Banner des nationalen Befreiungskampfes erhoben hatte. Die beiden Fragen, ob nicht vielleicht der deutsch-polnische Krieg des Jahres 1939 hätte vermieden werden können und ob es überhaupt zum neuerlichen Ausbruch eines Weltkrieges hat kommen müssen, beschäftigen die Geschichtsforschung nach wie vor. Die letztgenannte Frage wird von der Mehrheit der Histo20»
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riker entschieden bejaht. Hitler wollte zwar einen weltweit um sich greifenden Mehrfrontenkrieg vermeiden, aber alle Aktivitäten des deutschen Faschismus zusammengenommen - die geradezu wahnwitzig vorangetriebene Rüstung, die „Herrenmenschen"ideologie, die Politik der kontinentalen Expansion und der Stellenwert, den der Krieg in der Naziideologie einnahm - bargen die Gefahr eines bewaffneten Konflikts in sich. V o r dieser Gefahr hatte die Linke mit ihrem Ruf gewarnt: Hitler - das ist der K r i e g ! Die deutsch-polnische Problematik ließ sich im Jahre 1939, nachdem München mit seinen Folgen das europäische Kräfteverhältnis zugunsten des faschistischen Deutschland geändert hatte, nur auf zweierlei Weise lösen: entweder durch einen Krieg zwischen den Bündnissystemen oder durch die Vermeidung eines Krieges um den Preis der bedingungslosen Erfüllung der Hitlerschen Forderungen. In der Zeit von 1934 bis 1938 kooperierte die polnische mit der deutschen Regierung und ging auf so manche ihrer Forderungen ein. Auf polnischer Seite überschritt man bei dieser Zusammenarbeit nie die Grenze, die durch das Bewußtsein der eigenen Unabhängigkeit abgesteckt war. Deshalb wurde das A n sinnen zurückgewiesen, dem Antikominternpakt beizutreten. Für die polnische Öffentlichkeit war eine entschlossene Haltung charakteristisch, die Hitler zunächst in Erstaunen und dann in Wut versetzte, eine Haltung, die sich beispielsweise in der Bereitschaft zu Spendenbeiträgen f ü r den Nationalen Verteidigungsfond äußerte oder auch in der Reaktion der öffentlichen Meinung auf die im Mai 1939 gehaltene Rede des polnischen Außenministers Jözef Beck, der die anmaßenden Forderungen Berlins zurückwies. Im September 1939 wurde der Krieg unter ungünstigen Bedingungen zur Realität. Für den Historiker sollte es aber nicht ohne Belang sein, eine Beschreibung der Situation zu versuchen, die eingetreten wäre, wenn Polen vor dem Berliner Ultimatum kapituliert hätte. Dies hätte nämlich unter außergewöhnlichen U m ständen und dann der Fall sein können, wenn der deutschen Taktik mehr Erfolg beschieden gewesen wäre. Hitler, die Waffe schon in der Hand und damit im Begriff, zum Schlag auszuholen, erklärte, er sei zu Verhandlungen mit Polen bereit, und zimmerte - im Bestreben, Polen auf die Knie zu zwingen - schon die Anklageschrift zusammen, in der es hieß, Polen torpediere die friedlichen Bemühungen des Dritten Reiches. Sein nächster Schritt war dann die Mobilisation der schwankenden öffentlichen Meinung Frankreichs und Englands gegen Polen, um im Falle seines Angriffs deren H i l f e in Frage zu stellen. Hätten sich die Regierung und die öffentliche Meinung Polens in bezug auf die damaligen Zielsetzungen Nazideutschlands täuschen lassen und angenommen, dessen Ansprüche würden nicht weiter eskalieren, hätte zudem unter dem Eindruck der Unentschlossenheit der Verbündeten Apathie Platz gegriffen, so würden Stimmen dafür plädiert haben, einen Ausgleich anzustreben. Die tschechoslowakische Tragödie hätte sich durchaus wiederholen können; immerhin bemühte sich Benito Mussolini um ein neues München, also um ein neues Diktat der imperialistischen Mächte, und scheinbar nahmen sich die Forderungen, die Berlin seinerzeit stellte, um vieles bescheidener aus als der 1938 erfolgte Griff nach den Sudetengebieten. Hätte die polnische Regierung, statt kategorisch nein zu sagen, die deutschen Forderungen akzeptiert, die sich auf die Eingliederung der Freien Stadt Danzig
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ins Reich sowie auf den Bau einer exterritorialen Transitautobahn durch das zu Polen gehörende Gebiet an der unteren Weichsel (Pomorze) bezogen, so wäre dies zu einer schwerwiegenden Veränderung des Kräfteverhältnisses in Mitteleuropa ausgewachsen. Diese Forderungen waren nur ein Vorwand, Polen sukzessive unter die Botmäßigkeit des Dritten Reiches zu bringen und in einen Satellitenstaat umzuwandeln. In Warschau vermochte man bereits zu Anfang des Jahres 1939 Hitlers Absichten zu durchschauen. Davon zeugt ein vom 8. Januar 1939 datiertes amtliches Schriftstück der polnischen Regierung3, in dem es u. a. heißt: ,,a) Falls die Deutschen nach wie vor auf Dingen beharren, die für sie von sekundärer Bedeutung sind (wie z. B. Danzig und die Autobahn), so sollte man sich nicht der Illusion hingeben, daß man einem Konflikt großen Stils ausweichen könnte, und auch nüchtern erkennen, daß die obengenannten Objekte nur als Vorwand fungieren, b) Angesichts dessen würde uns ein wankelmütiger Standpunkt unvermeidlich in eine Lage versetzen, in der wir unsere Unabhängigkeit einbüßen und unversehens zum Vasallen Deutschlands werden würden." Zweifelsohne sollte die Befriedigung relativ begrenzter Ansprüche den Boden für weitere Zugeständnisse von seiten Warschaus bereiten. Als eine der möglichen Konsequenzen wäre die Position der polnischen Regierung weitgehend unterminiert worden, bis Polen schließlich in Berlin um Hilfe oder selbst um Konzessionen hätte betteln müssen, also gezwungen gewesen wäre, immer unverkennbarer die Rolle eines Satelliten Nazideutschlands zu spielen. Was Hitler betrifft, so wäre er höchstwahrscheinlich damit einverstanden gewesen, wenn Polen seine Ansprüche um den Preis der genannten Vorteile etappenweise befriedigt hätte. Der deutsche Generalstabschef Halder notierte am 12. September, Hitler sei bereit, seine Gebietsansprüche auf den sog. Korridor (Pomorze) und Ostoberschlesien (Görny Sl^sk) zu beschränken, falls Frankreich und England den Kriegszustand mit Deutschland beenden würden und über Polen weiterhin eine politische Kontrolle ausgeübt werden könnte. 4 Um auf die Frage einer einvernehmlichen polnisch-deutschen Lösung, die ja bekanntlich nicht erfolgte, zurückzukommen: Es bleibt festzustellen, daß Berlin in einem solchen Falle seine politische Hegemonie über einen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion befindlichen Pufferstaat erreicht und damit ein territorial erheblich ausgedehnteres politisches Manövrierfeld gewonnen hätte als in Gestalt des am 26. Oktober 1939 errichteten sog. Generalgouvernements. Erforderlichenfalls wäre in das bereits politisch kontrollierte Terrain die Wehrmacht eingerückt (wie dies im Sommer 1940 in Rumänien geschah), wobei es sich um ein Gebiet bis zu der vor Kriegsausbruch bestehenden polnischen Ostgrenze gehandelt haben würde. Ein solcher Machtbereich hätte eine verstärkte Einfluß3
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Krasucki, 3., Stosunki polsko-niemieckie 1918-1938 (Die deutsch-polnischen Beziehungen 1918-1939), in: Przyjaznie i antagonizmy (Freundschaften und Gegensätze), Warszawa 1977, S. 208 f.; vgl. auch Beck, J., Dernier Raport, Bruxelles 1951, S. 185. Halder, F., Dziennik wojenny (Kriegstagebuch), T. 1, Warszawa 1971, S. 108 f.; ders., Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939-1942, Bd. 1, Stuttgart 1962.
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nähme auf das Baltikum ermöglicht und auch eine intensivierte Diversion begünstigt, die von den einzelnen nationalistischen Gruppen in das Territorium der UdSSR hineingetragen worden wäre. Ernste Konsequenzen ließen sich absehen, wenn sich Warschau auch auf militärischer Ebene dem Diktat Berlins unterworfen hätte. Das „Dritte Reich" würde dann seine mit erpresserischen Mitteln und durch Androhung militärischer Gewalt realisierten Eroberungen fortsetzen bzw. sich notfalls das als nächstes ausersehene Opfer mittels eines Blitzkrieges gefügig machen können - unter Schonung des Rüstungspotentials, dessen Verluste im Krieg mit Polen in militärischen Kreisen ein Gefühl des Unbehagens auslösten und Zweifel nährten, ob Deutschland für einen längerdauernden Krieg gerüstet sei und ob nicht eine eventuelle Niederlage ähnlich der im vorangegangenen Weltkrieg befürchtet werden müsse. Bis zum Beginn der Offensive an der Westfront (im Mai 1940) wurde der Flugzeugbestand von Anfang September 1939 nicht wieder erreicht (Sept. 1939: 3374; Mai 1940: 3242); nur die Zahl der Panzer erhöhte sich, und zwar um etwa 10 Prozent.5 Auf Grund des vorhandenen Wirtschaftspotentials ließ sich die Rüstungsproduktion schnell steigern, doch wollte man die einmal - für Blitzkriege - konzipierte Wirtschaftsstrategie nicht ändern und es vermeiden, die Rüstungsindustrie auf vollen Touren laufen zu lassen, was Erinnerungen an die schwierige wirtschaftliche Lage während des ersten Weltkrieges hätte heraufbeschwören können. Menschenverluste schufen dagegen keine Probleme. Außerdem hätte man ohne die militärischen Ereignisse in Polen und ohne deren Konsequenzen nicht gewußt, ob nicht vielleicht britische Expeditionstruppen im gefährdeten Westen des europäischen Kontinents stationiert worden wären und ob die Mobilisierung in Frankreich ohne Behinderungen von deutscher Seite hätte vonstatten gehen können, wie dies im September 1939 der Fall war. Es wäre noch mit einer weiteren Eventualität zu rechnen gewesen: So wie im Falle der Slowakei, Ungarns oder Rumäniens hätte ein Teil des polnischen Heeres in den Militärblocks der faschistischen Achsenmächte eingegliedert werden können. Sicherlich läßt sich über diese Analyse einer alternativen, im September 1939 nicht eingetretenen Konstellation diskutieren. Sie erhellt jedoch, welch grundsätzliche Bedeutung die Entscheidung Polens hatte, Widerstand zu leisten - eine Entscheidung, für die das ganze Land einen außerordentlich hohen Preis zahlen mußte. Sie läßt aber auch erkennen, daß sich die Staaten der späteren Antihitlerkoalition bzw. der übrigen Welt im Kampf gegen den Faschismus in einer weitaus schwierigeren Lage befunden hätten. Die Tragweite dieser Entscheidung und die Opfer, die Polen dafür hat bringen müssen - ein Land, das im September 1939 auf sich allein gestellt war und späterhin mit besonders fanatischer Wut in Fesseln geschlagen wurde -, sind bislang unter diesem Aspekt noch nicht bewertet worden. 1939 gab es in Westeuropa keinen Politiker, der hätte voraussagen können, zu welchem Gefahrenherd die Taktik Hitlers noch werden würde. Nach dem Krieg wiederum räumten die Militärhistoriker der Entscheidung Polens und dem Mut, der dazu gehörte, sie zu fällen, nicht den gebührenden Stellenwert ein. Es muß einmal mehr darauf verwiesen werden, daß es die Haltung der polni-
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Weltkrieg,
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sehen Bevölkerung war, die f ü r eine derartige Entscheidung den Ausschlag gab. Zu dieser Feststellung gelangte jedenfalls der britische Botschafter Howard Kennard, als er am 30. August 1939 an seine Regierung kabelte: „Die Polen werden - so viel ist gewiß - kämpfen und lieber in den Tod gehen, als sich einer solchen Erniedrigung aussetzen, besonders nach den Präzedenzfällen Tschechoslowakei, Litauen und Österreich." 6 Während des Krieges verfolgte der deutsche Faschismus eine besonders feindliche Haltung gegenüber Juden, Polen, Serben und Russen. Den über jedes Maß hinausgehenden Haß auf diese Nationalitäten motivierte er nicht nur mit seiner „Rassen"theorie. Dieses Verhalten erklärte sich im Falle der Polen daraus, daß sie nicht gewillt waren, die ihnen zugedachte Satellitenrolle zu spielen, und daß der Wille zur Verteidigung ihrer Unabhängigkeit gegen die Naziaggression eine Kettenreaktion auslöste, die in den weltweiten Krieg zur Befreiung von der faschistischen Gewaltherrschaft mündete. Eine Alternative dazu gab es nicht, obschon man in Berlin eine Zeitlang danach Ausschau gehalten hatte und Bereitschaft bekundete, so etwas wie einen polnischen „Rumpfstaat" schaffen zu wollen, an dessen Spitze eine Marionettenregierung stehen sollte. Dazu wollte sich Hitlerdeutschland jedoch nur für den Fall verstehen, daß die Westmächte den Krieg beendeten. 7 Unterschied sich der Verteidigungskrieg, den Polen 1939 führte, von früheren Kriegen? Von seiten des Aggressors wurde eine neue Art des Krieges erprobt, die er später - 1941 - an der Ostfront gegen die Sowjetunion in erheblich größerem Maßstab praktizierte. Es galt nicht nur, die Armee des Gegners zu zerschlagen, seine Kampfmoral zu untergraben - insbesondere durch Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung und durch eine Diversionstätigkeit, die von der in Polen ansässigen deutschstämmigen ethnischen Minderheiten (den sog. Volksdeutschen) im Hinterland der Front betrieben wurde - es ging auch um die Schwächung des Polentums in jenen Gebieten Polens, die - da sie bis 1918 preußisches Teilungsgebiet waren - als deutsches Territorium deklariert wurden, und zwar durch Liquidierung der Führungsschicht des polnischen Volkes, den Ruin des geschlagenen Landes. Um die Bevölkerung zu terrorisieren und sie zu kriegerischen Handlungen zu provozieren, wurden erbarmungslos Dörfer und Städte zerstört. Es fanden über 700 Exekutionen statt, denen mehr als 16 000 Menschen (sowohl Zivilpersonen als auch Kriegsgefangene) zum Opfer fielen.8 Zwei Phänomene waren es, die mir charakteristisch f ü r die Seite der Verteidiger zu sein scheinen. Erstens der hohe Anteil der Zivilbevölkerung an der Verteidigung Polens, der sich besonders deutlich im belagerten Warschau und in Oberschlesien manifestierte. Auch die polnischen Kommunisten nahmen den Kampf auf, darunter auch diejenigen, denen es gelungen war, aus den Gefängnissen zu entfliehen, dabei fiel u. a. der bekannte kommunistische Funktionär Marian Buczek im Kampf vor den Toren Warschaus. Wohl empfanden die arbeitenden 6 7
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Batowski, H., Ostatni tydzien pokoju (Die letzte Friedenswoche), Poznan 1964. Madajczyk, Cz., Polityka III Rzeszy w okupowanej Polsce (Die Politik des Dritten Reiches im besetzten Polen), T. 1, Warszawa 1970, S. 90-97. Wojna obronna Polski, S. 843.
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Menschen und besonders die Bauernschaft - wie übrigens auch einige nationale Minderheiten - ihr Regierungssystem, dessen demokratischer Charakter seit 1926 durch das Sanäcja-Regime ausgehöhlt worden war, eher als böse S t i e f m u t t e r denn als M u t t e r : Dessenungeachtet haben alle Bürger der Republik Polen ihre Heimat bis zum letzten verteidigt, gleichgültig aus welchem der drei Teilungsgebiete Polens sie stammten und ohne Rücksicht auf ihre „Schadensrechnung" (wie es der Dichter Wladyslaw Broniewski ausgedrückt haben würde), deren Begleichung sie auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Wie sehr unterschied sich doch diese Situation in Polen von derjenigen beispielsweise in Frankreich, wo ganz offenbar Defätismus u m sich griff, oder im Königreich Jugoslawien, wo viele Kroaten desertierten und zu Separatisten w u r d e n u n d so das Auseinanderbrechen der Armee verursachten und die Verteidigungskraft lähmten. Erst die jugoslawischen Kommunisten verhalfen ihrem Land wieder zu staatlicher, neu f u n d a m e n tierter Einheit. Als zweites f ü r Polen typisches Phänomen sei hier die Verteidigung der polnischen Metropole genannt. Polen entschloß sich dazu und setzte - in der Hoffnung auf Hilfe von außen - den Entschluß in die Tat um. In jedem Land ist eine solche Entscheidung ein Akt höchster Verantwortung, können doch Verteidigungsanstrengungen umfangreiche Zerstörungen des Mittelpunktes nationalen Lebens, wie ihn eine Landeshauptstadt darstellt, zur Folge haben. N u r ein Volk, das f ü r die von ihm errungene nationale Unabhängigkeit so leidenschaftlich eintritt wie das polnische, k o n n t e ü b e r h a u p t eine solche Entscheidung treffen. Gemeinsam mit den S t r e i t k r ä f t e n leistete die Warschauer Zivilbevölkerung - d a r u n t e r speziell die Arbeiter - einem skrupellosen Gegner Widerstand. Warschau w u r d e - w i e es der Plan vorsah - bis zum 13. September verteidigt; d a n n wartete m a n fünf Tage lang auf das Heranrücken des Feindes und widerstand dann weitere neun dem gegnerischen Angriff, der von i m m e r heftigerem Beschuß und immer rücksichtsloseren Bombardements begleitet war. Die deutsche Heeresführung setzte u n g e f ä h r 1 000 Geschütze und H u n d e r t e von Flugzeugen ein; Hitler persönlich beobachtete den S t u r m auf die Stadt. Die Verteidiger Warschaus - die namentlich durch den Stadtpräsidenten Stefan Starzynski 9 mobilisiert w u r d e n kapitulierten, als i m m e r deutlicher wurde, daß es keinen Sinn m e h r hatte, noch mehr Menschen und Material f ü r die Schlacht zu opfern. Doch w i r k t e die Verteidigung der Stadt insofern nach, als i h r e Bedeutung als Metropole im besetzten Land gerade dann zunahm, da sie dieser Funktion formal verlustig gegangen war. Warschaus Verteidigung h a t t e den Anstoß zur Bildung einer Heldenlegende gegeben. Im Volksempfinden h a t t e die Stadt damit gleichsam ihre Identität g e f u n d e n und geschichtliche Größe erreicht. Ihr gebührte Ehre, ja es gab sogar Tendenzen, sie zum Gegenstand eines Messianismus zu machen. Außerdem ließ die militärische wie auch die zivile Verteidigung Warschau f ü r die Partisanentätigkeit geeignet erscheinen. In dieser Hinsicht n a h m sie u n t e r den Städten Polens die erste Stelle ein. Der 1939 vom Zaun gebrochene Krieg w u r d e zur einzigen Möglichkeit, den Hitler9
Drozdowski, M,. Stefan Starzynski - prezydent Warszawy (Stefan Starzynski, Warschaus Oberbürgermeister), Warszawa 1976, S. 172-321.
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faschismus in seine Schranken zu weisen und schließlich zu vernichten. Daher war der polnisch-deutsche Feldzug des Jahres 1939 so, wie er auf polnischer Seite geführt wurde, ein gerechter Krieg. Die Entschlossenheit und Opferbereitschaft des polnischen Volkes, f ü r die beispielhaft die Namen Westerplatte und Warschau stehen, erwiesen sich nicht als vergeblich. Wenn sie auch die Einleitung eines tragischen Zeitabschnittes der polnischen Geschichte bezeichnen, einer Periode, die in unserer erzählenden Literatur als „Zeit der Schmach" gilt, so legen sie doch Zeugnis davon ab, daß ein unüberwindlicher Widerstandswille vorhanden war, bei welchem es um den Kampf f ü r Menschenwürde schlechthin ging, einen Kampf, der - gestützt auf Bündnisse, die sich bewährten - in dem schließlich errungenen Sieg triumphierte. Sie leiteten den Kampf der Staaten der Antihitlerkoalition ein, der - nachdem diesem Bündnissystem zwei weitere Mächte beitraten, die selbst Opfer eines Überfalls von seiten der Achsenmächte geworden waren - zur totalen Niederlage des Hitlerreiches führte, eine militärische Auseinandersetzung, in der die Sowjetunion die entscheidende Rolle spielen sollte. (übersetzt von Siegward Wulf, Berlin)
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Das Warschauer Kulturleben während der Kriegs- und Okkupationszeit
Als der zweite Weltkrieg begann, stellte Warschau das wichtigste kulturelle Ballungsgebiet in Polen dar. Es strahlte mit großer Intensität auf das gesamte Land aus. Hier befand sich der Mittelpunkt der integrierenden Kräfte (zu denen auch die Kultur zu zählen ist), und in diese Stadt hatte sich das Zentrum der polnischen Wissenschaft verlagert. Warschau war zugleich die bedeutendste Einflußsphäre der Massenkultur. Die vielfältigen Erscheinungen des Warschauer Kulturlebens jener Zeit sind u. a. von Marian Marek Drozdawski untersucht worden. Als am 1. September der Krieg ausbrach, gab es in der Hauptstadt des Überfallenen Landes - sieht man von der Aktion ab, in deren Verlauf die wertvollsten Kunstschätze gerettet wurden - keine Organisation, die die Kulturschaffenden f ü r die Sache der Verteidigung Polens hätte mobilisieren und sie in die Verteidigungsanstrengungen hätte einbeziehen können. Erst am 5. September wurde ein Ministerium f ü r Propaganda gebildet, zu dessen Leiter man den bisherigen Wojewoden von Sl^sk (Schlesien), Michal Grazyftski, berief. Hingegen wurden keine Künstlerensembles zusammengestellt, wie sie auf der gegnerischen Seite und später auch in einigen alliierten Ländern ins Leben gerufen wurden. Auch befaßte man sich viel zu spät mit Plänen, Stäbe von Kriegsfilmberichterstattern für eine entsprechende Wochenschau zu schaffen. In dieser Richtung wurde eigentlich nichts unternommen, bis es durch eine Initiative von Filmschaffenden, deren Bemühen vom Warschauer Stadtpräsidenten Stefan Starzynski unterstützt wurde, zur Gründung eines Drehstabes kam, der Szenen der Verteidigung Warschaus festhielt. Dieses Filmmaterial konnte später ins Ausland gebracht werden, wo es Julian Bryan - über die eigentliche Dokumentation hinaus - in Spielfilmen verwertete. Mitglieder der Polnischen Literaturakademie sollten am 6. September im zweiten Warschauer Rundfunkprogramm zu Gehör kommen, jedoch machte das durch die Evakuierungsaktion verursachte Chaos einen Strich durch die Rechnung. Theater und Kinos spielten bis zum Ende der ersten Kriegswoche; später wurden es immer weniger, da sie z. T. zerstört und die Schauspieler evakuiert wurden; andere Hinderungsgründe kamen hinzu. Da man sich darüber im klaren war, welche psychologische Wirkung von der Filmleinwand auf die Bewohner einer belagerten Stadt auszugehen vermochte, weihte die Stadtverwaltung das modernste Lichtspieltheater der Metropole - das Kino „Napoleon" -
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ein. Auch h a t t e eine politisch-satirische Revue Premiere. Dagegen schafften es die Feuilletonisten der K u l t u r - und Unterhaltungsblätter nicht mehr, das Thema Krieg in ihre bereits im August redaktionell abgeschlossenen, jedoch erst A n f a n g September erschienenen N u m m e r n einzubauen. Beredtes Zeugnis von jenen Tagen legte der Besuch ab, den Starzynski den durch Bombardement zerstörten historischen P r o f a n - u n d Sakralbauten abstattete. Mit dem Tag, an dem Polens Hauptstadt kapitulierte, begann die Okkupation. Im L a u f e der Zeit sollte sich zeigen, w i e sehr sich die Periode von 1939 bis 1945 von dem Besatzungsregime während des ersten Weltkrieges unterschied. Gleichwohl erhofften sich einige Repräsentanten des kulturellen Milieus von i h r eine gewisse Affinität zu der Zeit des Krieges 1914 bis 1918 (u. a. e r w ä h n t Zofia Nalkowska diese E r w a r t u n g e n in ihrem Tagebuch). Das Bild, das ein Symposium „Warschau im J a h r e 1917" zeichnete, gleicht im Verhältnis z u r Zeit des zweiten Weltkrieges geradezu einer Idylle. F ü r die ältere Generation w a r die Katastrophe, die sich im September 1939 ereignete, einfach eine militärische Niederlage; f ü r viele der J ü n g e r e n dagegen wurden die bis dahin gültig gewesenen moralischen und politischen Prinzipien außer K r a f t gesetzt, w ä h r e n d andere wiederum in den Geschehnissen einen Beweis d a f ü r erblickten, daß die Inhalte und Vorbilder der polnischen K u l t u r diese Zeit zu überleben vermocht hatten. Obschon es das erklärte Ziel der O k k u p a n t e n war, die polnische K u l t u r als Lebenselement der Nation zu liquidieren, m u ß t e n die Besatzungsbehörden angesichts eines langwierigen Krieges, der i m m e r größere Dimensionen annahm, doch bestimmte F o r m e n des kulturellen Lebens tolerieren. So ließ m a n einen primitiven Kulturbetrieb zu, der einem Volk, das zu den sogenannten „Untermenschen" gehörte, angemessen w a r u n d der d a n n aus ausländischen Journalisten vorgef ü h r t wurde, u n d zwar solchen, die von der Idee einer „neuen Welt" nach faschistischer Vorstellung eingenommen w a r e n ; d a h e r handelte es sich hierbei u m Kultur gleichsam f ü r ein Reservat, das von ungelernten Arbeitskräften bevölkert w a r (worüber m a n bereits in Berlin entschieden hatte), ja es sollte eine K u l t u r ohne jede Beziehung zum Leben des Volkes sein. Mit der faschistischen Okkupation und der Bildung des „Generalgouvernements" w u r d e Warschau seiner zentralen Stellung beraubt. Die Vernichtung seines Kulturlebens ging auf zentraler und lokaler Ebene vor sich. Sie erfolgte in rapidem Tempo (um nicht zu sagen: schon in den ersten Tagen der Okkupation), wobei dem Besatzer der Umstand zupaß kam, daß jegliche polnische kulturelle Aktivität darniederlag. J e d w e d e r kulturellen Autonomie sollte ein Riegel vorgeschoben werden. So w u r d e eine Lage geschaffen, in der die O k k u p a n t e n die Toleranzgrenze, die sie einer „rudimentären" K u l t u r noch gelassen hatten, selbstherrlich und nach ihrem Belieben verändern, ja kulturelle Aktivitäten jeden Augenblick völlig unterbinden k o n n t e n ; so verboten sie z. B. 1942 den polnischen Komponisten, neue Werke zu schreiben. Sie schlössen die meisten kulturellen Einrichtungen, d a r u n t e r auch solche künstlerischer u n d wissenschaftlicher Vereinigungen. Die Folge davon war, daß viele Kulturschaffende keine normale Basis m e h r besaßen, auf der sie miteinander Kontakte h ä t t e pflegen können. So jedenfalls e m p f a n d es J a n Parandowski, der in seinen u n t e r den Titel „Wrzes-
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niowa Noc" (Septembernacht) erschienenen Memoiren eine zufällige Begegnung mit dem Kritiker Karol Irzykowski mit den Worten charakterisiert: „So sieht also nun unser literarisches Leben aus, dachte ich bei mir: da sind zwei Schriftsteller, die sich wie Straßenpassanten oder wie Leute, die sich flüchtig aus irgendeinem Laden kennen, über den Weg laufen." Polnischer Kultur wurde auch insofern der Garaus gemacht, als durch die vollständige Übernahme der Massenmedien und damit der Liquidierung der soziokulturellen, literarischen und wissenschaftlichen Publizistik und des polnischen Rundfunks jegliche berufliche Tätigkeit innerhalb des kulturellen Bereichs überwacht wurde. Von den Besatzern sollte die Verbreitung kultureller Werte und deren jeweiliger polnischer oder fremder Inhalt wie auch der Zustand historischer Kulturdenkmäler und von Kunstwerken abhängen. Ein erstes böses Omen hierfür waren das Schicksal des Warschauer Königsschlosses und der Diebstahl von Kunstwerken, deren man sich unter der Parole ihrer „Sicherstellung" bemächtigte. Das Blatt „Polska zyje" (Polen lebt) warnte in seiner Ausgabe vom 10. August 1940 die Okkupanten vor ihrem kulturfeindlichen Vandalismus. Noch viel eher jedoch, bereits im Spätherbst 1939, begann eine im Warschauer Untergrund wirkende Gruppe, die Verluste an polnischen Kulturgütern zu registrieren. Polen und seiner Hauptstadt wurden eigene Massenmedien versagt. Auch wurden die Hochschulen und Universitäten geschlossen, die ja in jedem Lande eine eminent wichtige kulturelle Bedeutung besitzen. Es gab in Warschau keine Möglichkeiten mehr, Künstler materiell zu fördern. Im Gefolge dieser Maßnahmen war das Bemühen der Okkupanten darauf gerichtet, überlieferte Vorbilder in Gestalt hervorragender Persönlichkeiten zu tilgen und elementare Kulturwerte in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Maßnahmen der deutschen Okkupanten richteten sich auch gegen die proletarische Kultur, was in einer gewaltsamen Degradierung der Kultur des Alltags zum Ausdruck kam. Da sich der Lebensunterhalt kaum bestreiten ließ und der Terror ständig zunahm, erstarben kulturelle Bedürfnisse fast völlig. Gegen die Arbeiterkultur richteten sich auch die Auflösung des „Verbandes der Arbeiteruniversitäten" und das Verbot, Sport zu treiben. Die Besatzer untersagten jegliche sportliche Betätigung, da sie körperliche Ertüchtigung als Privileg der „Herrenrasse" betrachteten. Eine Form des Generalangriffs auf die polnische Kultur bestand in der Ausrottung der polnischen Intelligenz als der Führungsschicht der Nation. Ist von der Warschauer Kultur die Rede, so darf man dabei nicht außer acht lassen, daß sich der Kampf der Eroberer, den sie gegen die Kultur dieser Stadt führten, auch gegen die Kultur der 400 000 im Ghetto eingeschlossenen jüdischen Einwohner Warschaus richtete. Kulturelle Aktivitäten wurden hier nicht nur durch die verschiedensten Verbote behindert, sondern auch durch die Schwierigkeiten, die sich einer kulturellen Wiederbelebung innerhalb des neugebildeten Ghettos entgegenstellten, nämlich Hungersnot und Verfolgung. Angesichts der drohenden Ausrottung bildeten sich im Ghetto zwei kontroverse Verhaltensmuster heraus, über die man bis zum heutigen Tage diskutiert: Soll man sich der Macht des Schicksals fügen und mit Würde sterben oder den Kampf gegen dieses Schicksal aufnehmen? Das heroische Aufbegehren korrespondierte nicht mit den religiösen Vorstellungen frommer Juden und kontrastierte schroff mit dem Siech-
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tum, zu dem das Ghettodasein führte. Zu den interessantesten Vertretern der Ghettokultur gehörten der Publizist, Kritiker und Romancier Leo Belmont, der das Ghetto bis zum Herbst 1941 durchstand, und der Vorsitzende des Verbandes Jüdischer Bildender Künstler, F. Fryman. Die Quintessenz des kulturellen Widerstandes war der geheim abgehaltene Unterricht. Während auf der einen Seite die besonders wertvolle - die überlieferte - Kultur vernichtet wurde, duldeten die Besatzungsbehörden bestimmte Formen, die ihren Intentionen nicht zuwiderliefen. Primitive und anspruchslose Unterhaltung lieferten Revuen auf kleinen Bühnen, der Zirkus, Vorführungen von Propagandafilmen (die sommers auch unter freiem Himmel stattfanden, jedoch angesichts der feindseligen Reaktionen der Zuschauer eingestellt wurden), Zeitschriften mit beinahe schon pornographischem Inhalt und schließlich Glücksspiele (in Spielkasinos), Lotterien, Rummelplätze. Speziell f ü r Polen wurde auch eine Wochenschau unter dem Titel „Wiadomosci Filmowe GG" (Filmnachrichten des Generalgouvernements) produziert. Es sollte sich jedoch erweisen, daß die Hoffnung der Besatzer, Religion und Kirche würden das Ihre zu einem loyalen Verhalten ihnen gegenüber beitragen, nicht in Erfüllung ging; vielmehr trat das genaue Gegenteil ein. Die Okkupanten etablierten - bereits mit Blick auf ein zukünftiges deutsches Warschau - in der Stadt einen neuen Kulturbetrieb, und zwar f ü r die zahlenmäßig nicht sehr stark vertretene Minderheit, die 20 000-30 000 Deutschen. So wurden deutsche Filme in deutschen Kinos gezeigt, es gab ein deutsches Theater, eine deutsche Philharmonie, deutsche Schulen, deutsche Rundfunkprogramme und eine deutschsprachige Presse. Teilweise wurden auf diese Art Ideen einer neuen Kulturarbeit propagiert, oftmals mißbrauchte man aber auch das reiche Erbe an deutscher und österreichischer Kultur u m faschistisches Gedankengut beizumischen und zu verbreiten. An deutscher Kultur durften freilich die Polen nicht partizipieren (sie durften also deutsche Kulturveranstaltungen nicht besuchen), und auf die Respektierung der sanktionierten Kluft zwischen beiden Kulturen wurde streng geachtet. Nachdem man die polnische Kultur und ihre essentiellen Werte gründlich getilgt, einen seichten Unterhaltungsrummel in Szene gesetzt und Warschau seines ihm gebührenden kulturellen Ranges beraubt hatte, wollte m a n die Stadt als Zentrum deutscher Kultur präsentieren. Zu den kulturellen Traditionen, die man Polen streitig machte, gehörten zahlreiche große, u m die polnische Kultur verdiente Persönlichkeiten. In Warschau entbrannte eine Auseinandersetzung besonders um die Person von Mikolaj Kopemik (Nicolaus Copernicus), den die Okkupanten aus Anlaß seines 400. Todestages vollkommen f ü r die deutsche Kulturtradition annektierten. Die Widerstandsbewegung reagierte darauf unmißverständlich. Die hitlerfaschistische Barbarei, die jeder humanistischen Kultur Hohn sprach, wurde auch zum Gegenstand populärer Lieder. In einem „Das Hackbeil" betitelten Lied hieß es: Kultur allein kann ihnen solche Hätz nicht verwehren. Axt, Hacke, Fusel, Gas möge sie der Blitz treffen!
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Da bestimmte Formen des kulturellen Lebens fortbestehen durften, kam es zu einem kulturellen Dualismus, d. h. dazu, daß nebeneinander eine offizielle und eine illegale Kultur existierten. Diese Zweigleisigkeit gab ständig Anlaß zu Konflikten. Neben der zugelassenen Hetzpresse gab es eine Presse im Untergrund. Es gab unbedeutende Kleinkunstbühnen und Revuen, aber auch kleine konspirative Privattheater. Zwar waren die Hochschulen geschlossen, doch wurden akademische Vorlesungen im geheimen abgehalten. Jede unabhängige kulturelle Betätigung war bei Strafe verboten; trotzdem wurde sie auf konspirativer Basis betrieben. Unerwünschte Literatur wurde aus dem Verkehr gezogen; jedoch fanden ebendiese Bücher durch andere Kanäle den Weg zu ihren Lesern. Offiziell war der Druck wertvoller Buchtitel unterbunden worden, während zur gleichen Zeit etwa 1 500 Titel illegal publiziert wurden (von denen das Gros in Warschau herauskam). Die Selbstverteidigung, die Polen auf kulturellem Gebiet praktizierte, erwuchs teils spontan, teils erfolgte sie konspirativ und halb und halb sogar im Rahmen der kulturellen Legalität. Gegen den Willen der Okkupanten entwickelte sich eine Untergrundkultur. In der festen Zuversicht, daß Okkupation und Knechtschaft nur eine vorübergehende Erscheinung seien, die es zu bekämpfen gelte, suchte man die Basis f ü r das Aufblühen der Nationalkultur nach dem Kriege zu sichern. Bis zum Jahre 1940 war man mehrheitlich davon überzeugt, daß der Krieg nur eine kurze Episode sein werde, so daß es nur wenig systematische Bemühungen mit dem Ziel gab, im Rahmen der Konspiration kulturelle Aktivitäten zu organisieren. Die größten Dimensionen nahm der geheim erteilte, dem Niveau der Volksschule entsprechende Unterricht f ü r das Schuljahr 1939/40 in der Region Warschau an: Entsprechenden Berechnungen zufolge führten ihn 1 400 Lehrer durch, die insgesamt über 25 000 Schüler unterwiesen. Hier bildeten sich auch innerhalb kürzester Zeit - zwischen November 1939 und Januar 1940 die umfangreichsten geheimen Oberschülergruppen. Ungefähr 1 000 Lehrer unterrichteten rund 8 000 Jugendliche; rechnet man noch die Berufsschulen hinzu, so belief sich die Zahl der Lehrer auf 1 260 und die der Schüler auf mehr als 12 000. In den Schülergruppen waren vorwiegend Jugendliche aus Lyzeen und den letzten Gymnasialklassen vertreten, während die unteren Klassen der höheren Schule als 7. und 8. Volksschulklassen geführt wurden, die in Warschau bis zum Juni 1940 bestanden. Noch 1939 wurden in Warschau zwei konspirative pädagogische Vereinigungen ins Leben gerufen, und zwar im Oktober die „Tajnej Organizacji Nauczycielskiej" (Geheimer Lehrerbund - TON) und im Dezember als Dachorganisation eine die einzelnen Organisationen und Verbände zusammenfassende Koordinierungskommission mit der Bezeichnung „Mi^dzystowarzyszeniowa Komis ja Porozumiewawcza Organizacji i Stowarzyszen Nauczycielskich." Beide Körperschaften begannen ihre Tätigkeit etwas später, Hochschulvorlesungen - und zwar ausschließlich in Warschau - erst im Oktober 1940. Warschau ergriff nicht nur die Initiative beim Aufbau eines geheimen Unterrichtswesens, sondern hatte auch die höchste Teilnehmerzahl. So wurden während der ganzen Okkupationsszeit auf dem Niveau der allgemeinbildenden Schule (Volks- und Oberschule) mehr Schüler als im gesamten übrigen Generalgouvernement unterrichtet. Noch augenfälliger war der Vorsprung innerhalb
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des Hochschulbereichs, der noch dadurch erweitert wurde, daß hier die „Uniwersytet Ziem Zachodnich" (Universität der Westgebiete) wirkte, deren Lehrkörper sich aus den aus Poznañ ausgesiedelten Professoren rekrutierte. Das eben Gesagte bezieht sich übrigens gleichermaßen auf die im geheimen betriebene Forschung. Spontan nahmen auch Vertreter einer Kultur ihre Arbeit auf, die man in der Literatur gemeinhin als Volks- und „Rustikal"kultur oder auch als plebejische Kultur bezeichnet bzw. zur Folklore zählt. Volkskultur oder Folklore in der Okkupationszeit - das waren die Straßensänger und Hinterhofkapellen, das sprachliche Idiom der Okkupationszeit, die Maueraufschriften - teils spontan angebracht, meist jedoch im Zuge von Aktionen der sog. Kleinsabotage. Das waren die auf ähnliche Weise entstandenen Witze, die Prophezeiungen von Nostradamus, die auf ihre Art die Goebbelspropaganda karikierten; das waren die kleinen Altäre die vom Jahre 1943 an immer häufiger zu sehen waren. Das war mündliche Weitergabe von Informationen und schließlich auch sportliche Betätigung. Vieles deutet darauf hin, daß die Widerstandsorgane einige dieser kulturellen Manifestationen erst nach dem 24. Juni 1942 richtig einzuschätzen wußten, als nämlich das Singen und Spielen von Instrumenten auf öffentlichen Straßen und Plätzen durch Polizeierlaß verboten wurde. Reichlich spät wurden die Okkupanten der Tatsache gewahr, daß diese Lieder einen für sie gefährlichen Einfluß auf die öffentliche Stimmung ausübten. Die Warnung des Polizeichefs besagte, daß „für das öffentliche Ärgernis, das darin besteht, daß singenderund musizierenderweise von Haus zu Haus gezogen wird und daß dies auf Straßen und Plätzen sowie in öffentlichen Verkehrsmitteln geschieht, jeder einzelne Beteiligte oder eine ganze Gruppe, die bei solch verbotenem Tun angetroffen wird, nach Beschlagnahme der Musikinstrumente einer nützlichen Beschäftigung zugeführt wird". Von diesem Zeitpunkt an waren es Widerstandskämpfer, von denen dieses Volksschaffen deutlich inspiriert wurde und die auch die Texte beisteuerten, die teilweise in volkstümlichem Ton gehalten waren. Bis dahin hatte man Lieder gesungen, die die Straßensänger zumeist selbst - mitunter im Stil von Bettelliedern - gedichtet und komponiert hatten; von 1943 an handelte es sich immer häufiger um Soldaten- und Partisanenlieder, die oft spontan entstanden, aber auch Auftragswerke der Konspiration sein konnten, anonym verbreitet wurden und in Liederbüchern erschienen. Das erste Lied dieses Genres, das den Titel „,,Posluchajcie ludzie" (Leute, hört!) trug, tauchte im Februar 1943 auf; es war so etwas wie eine Chronik der Kriegszeit in Versen, eine Kriegsberichterstattung. 1943 wurde sogar ein Wettbewerb um den besten Text für ein Lied des polnischen Untergrundes ausgeschrieben. Im selben J a h r entstanden Text und Musik für mehr als ein Dutzend Lieder, die ausschließlich für die außerhalb Warschaus operierenden Partisanenabteilungen bestimmt waren, so z. B. der „Marsch der Volksgarde". Das Warschauer Volkslied gilt als Ursprung des „reinen Waldliedes", d. h. des PartLsanenliedes. Viele Straßensänger waren vordem Zeitungsjungen gewesen. Einen unentbehrlichen Teil ihrer Kleidung bildete ein kleiner Stoffetzen von einer zerschlissenen Soldatenuniform. Mit solchen Kennzeichen waren auch die Musiker
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der Hinterhofkapellen versehen. Jan Parandowski erblickt in der Gestalt des Warschauer Straßensängers gleichsam einen polnischen Gavroche, der im übrigen nur zu oft an vorderster Front stand. Manchmal wurden „illegale" Lieder auch in Cafehäusern von den dort gewerbsmäßig tätigen Sängern vorgetragen, die sich wegen dieser Auftritte nicht gerade beliebt machten, aber doch ihr Prestige etwas heben wollten. Abgesehen von den Liedern über den September 1939 waren folgende Titel am populärsten: „Grünt to rodzinka" (Der Boden ist die Verwandtschaft), „Wale szmugleröw" (Schmugglerwalzer), „Nie masz ewaniaka nad warszawiaka" (Es gibt keinen größeren Schlauberger als die Warschauer) und „Serce w plecaku" (Herz im Tornister). T. Szewera verweist auf die interessante Herkunft der „Ballade von den beiden Soldaten", deren Text eine freie, inhaltlich auf die polnische Realität zugeschnittene Ubersetzung des Gedichtes „Die beiden Grenadiere" von Heinrich Heine ist und deren Musik der Melodie einer Bettlergeschichte aus dem 19. Jh. folgt. Es war bereits als plebejisches Lied aus der Zeit nach dem Novemberaufstand 1830 bekannt und in den Augen des russischen Zaren aufrührerisch. Einer überaus großen Popularität erfeuten sich auch die Partisanenlieder. Eine große Rolle spielte im besetzten Warschau die Satire. Anekdoten und Witze waren - zumal in der Hauptstadt - nach den Worten des Dichters Stanislaw Ryszard Dobrowolski „die Heiterkeit inmitten einer blutgetränkten Staubwolke, ein Lachen, das den Feind zur Strecke brachte und die eigenen Landsleute über ihr Zagen erhob". Die Proportionen waren hier andere als bei den Liedern, da es sich mehr um ausgelöste als um spontane Satire handelte. Der Witz, den man der Untergrundpresse entnahm, die Anekdote oder der satirische Spottvers, die dort abgedruckt waren, machten schnell die Runde und fanden Verbreitung. Zu Beginn der Okkupationszeit erschienen spezielle satirische Zeitschriften, die später verschwanden, jedoch gegen Ende dieser Zeit wieder auftauchten. Da es auch Blätter mit einem satirischen Teil gab, konnte mit dieser Art geistiger Nahrung kontinuierlich dafür gesorgt werden, daß die Warschauer den Mut nicht sinken ließen. Die Hälfte der insgesamt 16 illegalen satirischen Blätter erschien in Warschau. Es zirkulierten auch zahlreiche satirische Flugschriften, so die Ende 1943 vom „Bund der Wandermusikanten" publizierten „Vier aktuellen Weihnachtslieder auf das letzte Jahr des Krieges". Diese Verse, die der hervorragende Satiriker Tadeusz Hollender unter dem Pseudonym T. Wiatraczny verfaßte, zeichnen ein Bild der ungebrochenen Stadt Warschau: Tag um Tag fordert dieser Witz seinen Blutzoll; nichtsdestoweniger vergehen nicht Tag noch Nacht, da der Witz in der Sprache der deutschen Herren nicht gleich einem Plakat aufleuchtet und davon kündet, daß Warschau lebt, kämpft und überleben wird. Uberall an Mauerwänden zeigt es den Deutschen, dem „Führer" und dem ganzen Pack, was eine Harke ist. An Laternenmaste und Friedhofstore wird wieder einmal jemand etwas „nur für Deutsche" anschreiben. 21 J a h r b u c h 23
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Ein kleines Licht scheint durch die Wolke, irgendwie tritt der Stiefel eines Rüpels nicht mehr so hart zu, liest jemand an einer Mauer das kurze, aber nicht zu übersehende Wort „KAPUT". Klebezettel, Plakate, Zeichnungen und Aufschriften an Mauerwänden und Zäunen erfuhren späterhin eine poetische Würdigung. Ein solches literarisches Denkmal setzte ihnen der bereits erwähnte Dobrowolski mit dem Gedicht „An die Warschauer Zäune", in welchem er über den Ruf im Orkan der Kriegsjahre „Weg mit Hitler!" schreibt. Unter den Bedingungen der Okkupation bildete sich ein lokal begrenzter Wortschatz heraus, ein Idiom, dessen Eigenarten bisher nicht näher definiert wurden. Es entstand eine Sprache mit einer Fülle neuer Begriffe. In dem zweibändigen Werk „Walka o dobra kultury polskiej w Warszawie, 1939 bis 1945" (Der Kampf um die Schätze der polnischen Kultur in Warschau, 1939-1945) wird ein weiterer Aspekt dieses Ringens in Polens Hauptstadt dargestellt. Es wurden Bücher, historiische Kunstschätze und andere Kunstwerke geborgen, und man verwahrte sie sicher vom Beginn der Okkupation bis zu der Zeit nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes. Stanislaw Lorentz, der hervorragende Leiter dieses Abschnitts der Widerstandsfront, berichtet: „Während der Feind sein Zerstörungswerk betrieb, waren wir pausenlos damit beschäftigt, Schutzmaßnahmen zu treffen; dieweil er alles mit Füßen trat, hoben wir es auf, befreiten es sorgfältig vom Schmutz und brachten es in sichere Verstecke - zwei- und dreimal, wie es nur irgend ging." In diesem Ringen war es wichtig, klug und beharrlich vorzugehen, die Ereignisse in einer Chronik festzuhalten und das Geiwissen der Kulturwelt wachzurütteln. Dazu leisteten neben dem Nationalmuseum auch die „Towarzystwo Opieki nad Zabytkami Przeszlosci" (Gesellschaft zum Schutz historischer Denkmäler) und die Warschauer Stadtverwaltung einen wesentlichen Beitrag. Glaube und Zuversicht wurden während der Okkupation zu einem ganz wesentlichen Teil durch die Kirche und die Religion gestärkt. Der Alpdruck, der auf dem täglichen Leben lastete, und die Tatsache, daß die Menschen auf Schritt und Tritt mit dem Tode konfrontiert waren, ließen sie ihre Zuflucht zur Kirche nehmen. Gleichzeitig stellte die Teilnahme am religiösen Leben eine Form patriotischer Manifestation dar. Betrachten wir nun den musischen Bereich, der besonders schwer unter dem Krieg litt. Zur Konspiration gehörten auch Schriftsteller, bildende Künstler, Schauspieler, Musiker und Gelehrte. In den Vordergrund traten hier die Schriftsteller, allerdings nicht diejenigen, die in der Vorkriegszeit als Mitglieder der Polnischen Literaturakademie zur Prominenz zählten, auch nicht die nachfolgende Generation, sondern junge Leute. In der Emigration hingegen wußte sich nur die mittlere Generation Gehör zu verschaffen. Von den im Widerstand aktivsten jungen Autoren hatte Zofia Kossak-Szczucka bereits einen Namen, während die zur Widerstandbewegung gehörenden Jan Dobraczynski und Stanislaw Ryszard Dobrowolski weniger bekannt waren. Zu den 1920 bis 1923 geborenen Widerstandskämpfern gehörten die Schrift-
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steller Krzysztof Kamil Baczyñski, Tadeusz Gajcy, Waclaw Bojarski, Andrzej Trzebiñski, Stanislaw Marczak-Oborski, Maria Casellatti, Roman Bratny, Leslaw Bartelski, Zdzislaw Stroiñski und - last not least - Tadeusz Borowski. Sie besaßen literarische Begabung und waren Redakteure von Zeitschriften, politische Funktionäre und Soldaten. Der jähe Wechsel von sorgloser Jugend zu vorzeitiger Reife vollzog sich bei ihnen im Jahre 1939 mit einer Vehemenz, die den Rahmen ihres bisherigen Lebens sprengte. Den Kontrast zwischen der verlorenen, unbeschwert verlaufenen Kindheit und der düsteren Realität der Okkupation kleidete Stroiñski in die anschaulichen Worte: „Nachdem Jahre voller Zärtlichkeit und Frohsinn brutal amputiert worden sind, versuchen die Wunden zu eitern." Darin kam eine den Skamandriten entgegengesetzte Tendenz zum Ausdruck, die eine gewisse Affinität zum Fatalismus eines Witkacy, Norwid, Brzozowski und Mochnacki aufwies. Diese Vertreter der jungen Generation standen teilweise dem literarischen Schaffen nahe, dessen Gegenstand die Stadt Warschau war, und setzten diese literarische Tradition fort. Die Dichtung, die sich inhaltlich mit dem September 1939 befaßte, zeigte das heroische Antlitz der Stadt, die über sich selbst hinauswuchs, sich auf die ihr innewohnende Kraft besann, Ehre erwarb und Bewunderung erregte. In den folgenden Jahren figurierte Warschau jedoch als „trauernde Witwe", als „mater dolorosa". Auch fehlte es nicht an Tendenzen, Warschau messianisch zu sehen; Baczyñski, Borowski und Stroiñski wandten sich gegen eine solche Betrachtungsweise, da es ihnen um die aktuelle Menschheitsproblematik zu tun war. Auf Initiative der Jungen veranstaltete man Wettbewerbe und literarische Abende. Einige Literaturhistoriker glauben Grund zu der Annahme zu haben, daß das Schaffen dieser jungen Autoren eine gänzlich neue Etappe innerhalb der Geschichte unserer Literatur darstelle. Selbst wenn man diese Ansicht nicht teilt, so dürfte doch über jeden Zweifel erhaben sein, daß ebendiese junge Generation für die Kontinuität der literarischen Entwicklung gesorgt hat. Nicht alle der in Warschau lebenden Autoren verhielten sich so, wie es die Würde eines Polen verlangte. Das betrifft Ferdinand Goetel, der bereits vor dem Kriege eine profaschistische Einstellung an den Tag legte, ferner den Kritiker Emil Skiwski und den Musiker Dolzycki. Große Leistungen im Untergrund vollbrachten die Bühnenschauspieler, waren doch die Möglichkeiten, auf die Stimmung der Öffentlichkeit Einfluß zu nehmen, eingeschränkt. Ihre Arbeit war allerdings im wesentlichen darauf gerichtet, sich nach Kriegsende schnell wieder in das kulturelle Leben einschalten zu können. Ähnlich verhielt es sich mit der ernsten polnischen Musik, die man die ganze Okkupationszeit über in Privatwohnungen und in einigen Cafés pflegte. Viele Musiker aller Generationen standen im Dienste der Widerstandsbewegung. Den Filmschaffenden bot sich keinerei Chance, ihrer künstlerischen Arbeit weiterhin nachzugehen. Wichtige Aufgaben fielen den bildenden Künstlern in Zusammenarbeit mit der Widerstandsbewegung zu. Das Gros arbeitete für die Untergrundpresse und gestaltete Losungen und Aufschriften, einige griffen zu den Waffen, so z. B. Franciszek Bartoszek, der beim Kampf in den Reihen der Volksgarde fiel. Das eindruckvollste Plakat schuf Adam Siemiaszko; es trug die Aufschrift „Do broni" 21*
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(Zu den Waffen) u n d entstand im September 1939. Es ü b e r d a u e r t e die J a h r e , obwohl es mit dem inzwischen in Mißkredit geratenen fatalen Text versehen w a r : „Geschlossen und einig w e r d e n w i r den Feind besiegen"; schon w ä h r e n d des Warschauer Aufstandes sah m a n es wieder a n Häuserwänden. 50 Prozent der Titel d e r Widerstandspresse k a m e n in Warschau heraus; zu einem wesentlichen Teil gelangte sie bis in die entlegensten Winkel Polens. Es w a r eine große Leistung d e r Konspiration, daß sie 23 politisch-kulturelle und literarische Blätter herausbrachte, von denen 16 in Warschau erschienen, die meisten - und z w a r gleichzeitig - in den J a h r e n 1942 bis 1944. Am bekanntesten w u r d e „Sztuka i Naröd" (Kunst und Nation), setzte sich ihr Redaktionskollegium doch aus hervorragenden Vertretern der jungen Schriftsteller- und Künstlergeneration zusammen. „Przelom" (Umbruch), ein Blatt der Polnischen Arbeiterpartei, behandelte zwar vorwiegend Fragen d e r politischen Strategie u n d Taktik, aber auch literarische Probleme; diese Zeitschrift propagierte die Konzeption einer engagierten fortschrittlichen Literatur und betrachtete die kulturelle Revolution als integrierenden Bestandteil d e r sozialen Revolution. Vornehmlich in den Spalten von „Sztuka i Naröd", aber auch in einem Sonderdruck von Jadzwing (d. i. Bogdan Suchodolski) „Sk^d i dok^d idziemy" (Woher wir k o m m e n und wohin w i r gehen) w u r d e n Thesen ü b e r eine zukünftige K u l t u r formuliert, die eine Diskussion und eine Kritik des Inhalts auslösten, daß ein demokratischeres K u l t u r modell entwickelt werden müsse. Nach der Auffassung des Blattes sollte es A u f gabe des Künstlers sein, ein nationales Modell auszuarbeiten, in dessen Mittelpunkt die katholisch geprägte K u l t u r Westeuropas stehen müsse. Die Diskussionen w u r d e n m i t u n t e r sehr polemisch g e f ü h r t . So bezeichnete Bo~ rowski die gesamte überlieferte K u l t u r als Überbau f ü r den „Dreck und das Blut der Konzentrationslager". Mit aller Schärfe verlief auch d e r Streit, d e r u m ein künftiges Volksbildungsmodell f ü r die Nachkriegszeit zwischen dem Geheimen Lehrerbund TON und der nationaldemokratischen Richtung e n t b r a n n t w a r . Die Widerstandsagitation griff im allgemeinen nicht auf Persönlichkeitsvorbilder zurück. Davon ausgenommen w a r einzig die Gestalt von Tadeusz Kosciuszko, der den verschiedenen politischen Lagern gleichermaßen als Prototyp eines Helden galt. Der Versuch des nationaldemokratischen Lagers, Jözef Pilsudski zu einem solchen Vorbild zu machen, eine Persönlichkeit, die sich - da der Marschall Verschwörer, F ü h r e r u n d Politiker zugleich w a r - formell geradezu ideal in die Okkupationszeit h ä t t e einfügen lassen, scheiterte an dem entschiedenen Widerstand der politischen Gegner Pilsudskis. So standen also weiter keine persönlichen Vorbilder aus Polens Vergangenheit z u r Verfügung. Was solche aus der Gegenwart betraf, so w a r e n es die konspirativen „Grauen Kolonnen" der P f a d finder, die das Modell von P a r t i s a n e n f ü h r e r n abgaben und zeigten, daß Menschen zu großen Taten befähigt sein können. Ein unmittelbar persönliches Vorbild w u r d e als allzu weitgehende Herodsierung bezeichnet, die - nach Meinung der Kritiker eines solchen Kultes - zu stark in der Tradition der polnischen Legionen verwurzelt war. A n Anziehungskraft gewann die Gestalt des Verschwörers p a r excellence, der allerdings sehr nuanciert gesehen wurde. Daneben w a r derjenige überaus populär, der Pfiffigkeit und Kombinationsgabe bewies und dazu noch Schmuggler war, jedoch k ä m p f t e und wie ein Held in den Tod zu gehen wußte.
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Die Okkupation machte das bislang bestehende Künstlermäzenat unmöglich; dafür bildete sich in den Kriegsjahren ein Mäzenat spontaner Natur heraus. Zu Förderern von Künstlern und Literaten wurden der konsumgenossenschaftliche Verband „Spolem", die Architekturgenossenschaft „Lad", der Zentrale Vormundschaftsrat und die Landesvertretung des Staatsrates, während die bildende Kunst von der römisch-katholischen Kirche und auch von einigen privaten Unternehmern wie Haberbusch und Schiele gefördert wurde; ferner sind in diesem Zusammenhang zu nennen W. T. Rynca als Untergrundspediteur, in dessen Auftrag Czeslaw Milosz Manuskripte von Schriftstellern und Wissenschaftlern aufkaufte; der Feuerzeugfabrikant F. Michalak, der u. a. den Autoren f ü r die Gestaltung literarischer Abende Honorare zahlte; der Verleger Zbigniew Metzner, der 213 Manuskripte vertraglich übernahm. Im Kampf um die Bewahrung kultureller Werte spielten die Lehrer und die Leiter des Widerstands eine wichtige Rolle, da sie großen Einfluß auf die Jugend ausübten. Es darf nicht vergessen werden, daß rund sechs Prozent der Einwohner Warschaus im Dienste des Widerstandes wirkten. Doch reichte dies nicht aus, um auf die gesamte Öffentlichkeit Einfluß zu nehmen; und so wurde schnell ein Moral- und Verhaltenskodex für die Bürger geschaffen. Im Juni 1940 entstanden in Warschau die zehn Gebote f ü r Patrioten und Staatsbürger. Kurz danach erschienen die „Gebote der Stunde". Vom August 1941 datierten detaillierten Instruktionen für die einzelnen Berufsgruppen und sozialen Schichten, und anschließend kam ein „Moralkodex für den Staatsbürger" heraus, der sich über etwa 15 bis 20 Seiten erstreckte und die Einhaltung bestimmter rechtlicher und ethischer Normen forderte. Er war inhaltlich so abgefaßt, daß er von der Notwendigkeit einer Autorität überzeugte, die nicht nur bestimmte Werte repräsentierte, sondern auch zur Gegenwehr fähig war. Es wurden da hohe ethische Anforderungen gestellt; die Frage war nur, wie diese Postulate in einer Welt, in der Recht Unrecht war und die Lüge als Verdienst galt, erfüllt werden sollten. Es sei an dieser Stelle betont, daß die kommunistische Widerstandsbewegung als Kriterium ihrer Operationen bzw. des Verhaltens gegenüber den Okkupanten die Einstellung zum Kampf bzw. alles, was der Stärkung des Widerstandes diente, bewertete. Verriet jemand diese rechtlichen und ethischen Normen, so wurde er zur Verantwortung gezogen. Die härteste Strafe traf den Schauspieler Igo Syma, der sich als Verräter erwiesen hatte. Eine Verhaltensregel stellte auch das Verbot dar, an Kulturveranstaltungen teilzunehmen, die hart an der Grenze faschistischer Propaganda lagen. Nicht alle Boykottaktionen verliefen erfolgreich; mitunter rangierte die Notwendigkeit, am Unterhaltungsbetrieb teilzunehmen, vor der politischen Einschätzung. Warschaus Intellektuelle führten nicht nur Aktionen zu ihrer Selbstverteidigung durch, sondern bekämpften den Gegner auch offensiv. Die größte Leistung auf diesem Gebiet war - und zwar in der deutschen Reichshauptstadt - eine Propagandaaktion mit dem Ziel der psychologischen Diversion, die unter der Bezeichnung „Aktion N" bekannt wurde. Sie ließ zahlreiche Publikationen, f ü r deren Herausgabe fingierte Körperschaften und Vereine verantwortlich zeichneten, unter den Deutschen verbreiten. Diese Veröffentlichungen waren defätistischen Inhalts und darauf gerichtet, den Glauben an den „Endsieg" ad absurdum zu
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führen, indem sie die Sinnlosigkeit des von Hitler g e f ü h r t e n Krieges aufzeigten. Daß gerade diese Aktion in Berlin durchgeführt wurde, machte sie - wie m a n einschätzte - besonders riskant. Diversion im eigentlichen Sinne und zersetzende Satire w a r e n hier k a u m voneinander zu unterscheiden. Maßgeblich an dieser Aktion beteiligten sich Kazimierz Kumaniecki, ein hervorragender K e n n e r der Kultur der Antike, u n d der Grafiker Stanislaw Miedza-Tomaszewski. In d e n Warschauer Aufstand w a r die Kulturwelt der Stadt in unvergleichlich höherem Maße und auf andere Weise integriert, als dies in den ersten Kriegstagen im September 1939 der Fall gewesen war, weil m a n innerhalb der Konspiration auf das Startzeichen zum Beginn des Aufstandes vorbereitet war. Ein Teil der Intellektuellen zog mit der Waffe in den Kampf, wobei einige von ihnen, wie K. Baczynski, T. Gajcy, Z. Stroinski und W. Pietrzak, während des Aufstandes ihr Leben hingaben. A n d e r e arbeiteten f ü r die aufständische Presse, e n t w a r f e n Plakate, filmten, gaben Informationen weiter und riefen mit Hilfe von Megaphonen zum Kampf auf. U n t e r den aufständischen Soldaten befanden sich Mieczyslaw Fogg, Witold Frieman, Witold Lutoslawski, J a n Maklakiewicz und J a n Ekiert. Seit 1942 entstanden ein Estradentheater und Lieder f ü r den A u g e n blick des Entscheidungskampfes. Im August 1944 w u r d e der Gassenhauer durch Märsche u n d Kampflieder verdrängt. Großen Erfolg verbuchten „Das S t u r m banner" von St. R. Dobrowolski und das von K. Krahelska geschaffene „He, Jungs, pflanzt das Bajonett auf die Gewehre". Das letztgenannte w u r d e gewissermaßen zur U n t e r g r u n d h y m n e der Pfadfinder. Es entstanden auch Lieder f ü r die vorderste Front, so z. B. „Das Michelschlößchen", eine Hymne, die eine Kombination des Liedes „Der Regenschirm" und des „Marsches von Mokotöw" d a r stellt und d e r „Marsch der Arbeiter des Elektrizitätswerks": F ü r dich, Warschau, f ü r Deine Wunden und Tränen entfacht dieses Signal in unseren Herzen Glut. F ü r dich, Warschau, halten wir bis zum Ende durch. Unsere Front - das ist die Festung Elektrizitätswerk. Die gleiche Energie dringt durch „den roten Widerschein des Blutdunstes" in d e m Marsch des Warschauer Innenbezirks, der d e n Titel „Kämpfendes Warschau" trägt. Den Aufstand, der die Kulturschaffenden zum Kampf mobilisierte, m u ß t e n sehr viele Intellektuelle - Künstler wie Literaten - mit dem Leben bezahlen. Um diese Lücke zu schließen, b e d u r f t e es eines ganzen Jahrzehnts. Noch spürbarer w a r e n die materiellen Einbußen. Eine Stadt, die in T r ü m m e r n liegt, bedeutet vernichtete Baudenkmäler und Kulturschätze, verschollene wissenschaftliche und literarische Manuskripte - den Untergang von allem, w a s den kulturellen Alltag prägt. Neben Warschau wissen w i r n u r wenige Schauplätze der Vernichtung, die nach einem solchen Inferno eine Wiedergeburt zu erleben vermochten u n d damit den Beweis ihrer Unvergänglichkeit lieferten. Es fällt nicht leicht, auf die eingangs gestellte Frage, welche Folgen die O k k u pationszeit f ü r die Nachkriegskultur hatte, eine Antwort zu geben. Dessenungeachtet darf m a n vor diesen Folgewirkungen nicht die Augen verschließen. Dabei
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gilt es erstens zu berücksichtigen, daß Warschaus Position als kultureller Mittelpunkt während des zweiten Weltkrieges eine weltweite Aufwertung erfuhr, solange die Stadt noch nicht durch den faschistischen Aggressor vernichtet worden war. Diese Ausstrahlungskraft ist darauf zurückzuführen, daß die Warschauer Intelligenz den Anstoß zur Durchführung bestimmter Aktionen gab und sich weitgehend auch selbst aktiv in den Widerstand einschaltete; dies war jedoch nicht der einzige Grund. Repräsentanten der Kultur und Wissenschaft setzten sich mit ganz besonderer Tatkraft für die Planung der Zukunft und den Wiederaufbau der zerstörten Hauptstadt und des übrigen in Mitleidenschaft gezogenen Landes ein. Zweitens wirkten gerade die einfachen, technisch unzureichenden Mittel, mit denen die Kulturarbeit innerhalb der Konspiration betrieben wurde, in einer Großstadt wie Warschau höchst effektiv. Freilich war es unmöglich, das hohe kulturelle Niveau der Vorkriegszeit auch nur annähernd zu erreichen. Drittens wuchs während des Krieges und der anschließenden Okkupation die „pokolenie Kolumböw" heran und fand ihre Identität; dabei handelte es sich um ein Persönlichkeitsideal, das in der Tat auch noch nach der Befreiung seine Gültigkeit behielt. Viertens waren in Warschau - nach dem Untergang der dort beheimateten jüdischen Folklore - jene Verhaltensmuster, die von der zahlenmäßig starken jüdischen Einwohnerschaft ausgegangen waren, und auch der deutsche Einfluß geschwunden, der das kulturelle Antlitz Warschaus im 19. und zu Beginn des 20. Jh. mitgeprägt hatte. Fünftens rankte sich in der Kriegs- und Okkupationszeit um Warschau ein Kranz symbolträchtiger und allegorischer Legenden. Wenn über das Warschau jener Zeit gesagt wird, es habe Heroismus mit leichtfertiger Tollkühnheit vereinigt, so war dies doch nicht typisch f ü r seine kulturelle Atmosphäre, wenngleich die am • Kopernikusdenkmal unternommene Aktion dafür ein Beispiel lieferte. Einige Persönlichkeiten - sowohl bereits Verstorbene als auch Zeitgenossen - wurden zu Symbolen; von denen, die nicht mehr leben, sind hier Kamil Baczynski und Janusz Korczak zu nennen. Sechstens trug Warschau in erheblichem Maße dazu bei, daß sich eine Werthierarchie herauskristallisierte, innerhalb welcher regelmäßiges Tagewerk einen sehr geringen Stellenwert einnahm. Ob in einer Stadt wie Warschau, die so argen Verfolgungen ausgesetzt war und einen so ausgeprägten Willen zum Überleben bewies, eine solche Verschiebung der Maßstäbe überhaupt registriert werden konnte und ob es da um so eher möglich war, einem Herabsinken auf dieses Arbeitsniveau (wie es ja tatsächlich der Fall war), einer Entwöhnung von geregelter fester Arbeit zu steuern - das läßt sich an dieser Stelle nicht schlüssig beantworten. Ich kann mich hier nur darauf beschränken, das Problem aufzuwerfen. Angemerkt sei noch, daß sich sogar im Bereich der Volkskultur keine Gegenwehr gegen die erwähnte Senkung der Wertmaßstäbe feststellen läßt, obwohl sich gerade diese Kultur an die Bedingungen der Okkupation relativ leicht anzupassen wußte. Leider ist bisher nicht untersucht worden, wie sich das, was die Intellektuellen in Polens Hauptstadt durchlebt haben - die Exekutionen, die Liquidierung des Ghettos und die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes - , auf das Schaffen und die Wertskala derer, die dieses Grauen überlebten, in der Nachkriegszeit auswirkte.
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War die Kultur, wie sie sich innerhalb des Widerstandes entwickelte, nicht vielleicht ein Luxus, und band sie nicht vielleicht Kräfte für etwas Zweitrangiges? Was Warschau angeht, so hat die kulturelle Betätigung ganz offenkundig dazu beigetragen, daß eine kulturvolle, lebenserhaltende und -fördernde Atmosphäre der Metropole verblieb, so daß diese Frage ganz entschieden verneint werden muß. Die Polnische Arbeiterpartei und die Volksgarde (Volksarmee) - obwohl beide zu spät entstanden waren, als daß sie sich noch allenthalten in das kulturelle Leben der Konspiration hätten einschalten können, und sich im übrigen in erster Linie um die Zielsetzung einer gesellschaftlichen Umwälzung und deren Propagierung einsetzten - widmeten von Anbeginn ihrer Gründung gerade kulturellen Aktivitäten ihre besondere Aufmerksamkeit.
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Czeslaw Madajczyk
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Tadeusz
Jqdruszczak
Die antifaschistische Widerstandsbewegung in Polen
1939-1945
I. Allgemeine Charakterisierung der Widerstandsbewegung 1. Die wichtigsten
Voraussetzungen
Die antifaschistische Widerstandsbewegung, die sich in Polen besonders umfangreich entwickelte, manifestierte sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und führte ihre Aktionen, wenngleich in unterschiedlicher Intensität, so doch kontinuierlich, während der gesamten Okkupationszeit 1939 bis 1945 durch. Sie war nicht durchweg organisiert, sondern verlief teilweise auch spontan. Die Widerstandsbewegung trat sowohl aktiv als auch in passiver Form in Erscheinung. Bei der aktiven Form handelte es sich um die Durchführung von Aktionen gegen die Okkupanten, die diesen - wo es nur irgend ging - Schaden zufügen sollten sowie die eigene Bevölkerung und die Alliierten, die gegen die Okkupanten Krieg führten, wirksam unterstützen sollten. Dabei waren Initiative und Offensivität von entscheidender Bedeutung. Der passive Widerstand, der zwangsläufig von der Bevölkerung ausging, äußerte sich dergestalt, daß alles unterblieb, was den Besatzern zum Vorteil hätte gereichen können und was ihren Wünschen entsprochen hätte. Die Beteiligten hatten in der Regel nicht mit unmittelbar erfolgenden Repressalien zu rechnen, wenn man von Fällen absieht, in denen die Besatzer bei ihren Repressivmaßnahmen vom Prinzip der kollektiven Verantwortlichkeit ausgingen oder ihr Vorgehen einen Teil jener Generalplanung bildete, die auf die Liquidierung des polnischen Volkes abzielte. Was den aktiven Widerstand anbelangt, so lassen sich hierbei vier verschiedene Arten unterscheiden: der politische, der militärische, der wirtschaftliche und der gesellschaftlich-kulturelle Widerstand. Der politische Widerstand kam darin zum Ausdruck, daß im Untergrund tätige konspirative Zentren der Staatsmacht gebildet wurden, die in ihrer Gesamtheit ein illegales Staatswesen darstellten, ferner darin, daß die politischen Parteien ihre Tätigkeit fortsetzten und daß auf internationaler Ebene in unterschiedlichen Formen gegen den Hitlerfaschismus gerichtete Aktionen unternommen wurden. Er äußerte sich weiterhin in der Herausgabe politischer Zeitungen, der Sammlung von Belastungsmaterial gegen die Okkupanten, das außer Landes gebracht wurde, sowie in der Hilfe für die jüdische Bevölkerung, die von den Deutschen
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Tadeusz JqdruszczaJc
besonders grausam verfolgt und physisch vernichtet wurde, und f ü r die in Gefängnissen oder Konzentrationslagern eingekerkerten politischen Häftlinge u. a. m. Die militärische Seite des Widerstandes reichte von der Sammlung und Produktion von Waffen, Sprengstoff und anderem Kriegsmaterial ü b e r Sabotage, Liquidierung besonders unmenschlicher Besatzungsfunktionäre, Diversion u n d Militärspionage bis zum Partisanenkampf und schließlich zum bewaffneten Aufstand. Der militärische Widerstand w u r d e vorwiegend - mithin nicht ausschließlich unter A n w e n d u n g von Waffengewalt durchgeführt. Der Widerstand im wirtschaftlichen Bereich umschloß die entgegen dem Verbot durch die Besatzungsbehörden betriebene Produktion und den gleichfalls u n t e r sagten Handel; den Schmuggel von Nahrungsmitteln u n d den illegalen Umlauf von V a l u t a ; die Verweigerung der in Deutschland zu verrichtenden Zwangsarbeit ; Aneignung von Waren aus deutschen Magazinen, Waggons usw. oder die Vernichtung von Wirtschaftsgütem, die andernfalls die Besatzer f ü r sich mit Beschlag belegt h ä t t e n ; die materielle Unterstützung der Bevölkerung u. a. m. Widerstand im kulturellen u n d gesellschaftlichen Bereich ä u ß e r t e sich im geheimen Schul- bzw. Unterrichtswesen f ü r Jugendliche u n d Erwachsene, in der Bewahrung von Kulturschätzen vor R a u b u n d P l ü n d e r u n g ; im A u f b a u eines konspirativen Wissenschafts- und Kulturbetriebes (Konzerte, Lesungen usw); im Wirken von Dichtern, Schriftstellern und wissenschaftlichen Autoren sowie im Schutz d e r Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung (insbesondere der O p f e r des Naziterrors). Der aktive Widerstand w a r h a r t e n Unterdrückungs- u n d Vergeltungsmaßnahmen der Faschisten ausgesetzt: meist stand darauf die Todesstrafe oder es drohte die Verschleppung in ein Konzentrationslager. Mit ganz besonderer Brutalität w u r d e d e r bewaffnete Widerstandskampf verfolgt, der ja zweifellos f ü r das Dritte Reich die größte G e f a h r darstellte. Passiver Widerstand k o n n t e die verschiedensten Formen annehmen, von denen hier n u r die folgenden genannt seien: Wachhaltung des Nationalbewußtseins; Einschätzung d e r Okkupation als zeitweilige, zu ü b e r w i n d e n d e Erscheinung; Haß gegen die Besatzer; Obstruktion gegenüber Weisungen u n d Anordnungen der Besatzungsbehöriden (z. B. der Aufforderung, die Polizei ü b e r Erscheinungen des Widerstandes u n d insbesondere ü b e r Widerstandskämpfer zu informieren); Unterlassung von Steuerzahlungen; Boykott von Kinos und Unterhaltungslokalen; gesellschaftlicher Boykott der Deutschen; kritische Beurteilung von I n f o r mationen aus Besatzerquellen; Presseboykott u. a. m. Die Geschichte des polnischen Widerstandskampfes u m f a ß t , w a s die militärischen Formen dieses Widerstandes (Sabotage, Diversion, Partisanenkrieg) betrifft, folgende drei chronologische Entwicklungsetappen: In der ersten Etappe (Oktober 1939 bis Mai 1940) w u r d e n die organisatorischen Grundlagen geschaffen und erste - noch isolierte - P a r t i s a n e n k ä m p f e u n d Diversionsaktionen (Major Hubal; die J^drus-Leute) durchgeführt. In der zweiten Etappe (Juni 1940 bis Mai 1942) ließ nach d e r Kapitulation Frankreichs der Kampfeswille nach. Die Hoffnung auf einen schnellen Sieg schwand, w a s sich ungünstig auf die Widerstandsbewegung auswirkte. Im Zuge
Die antifaschistische Widerstandsbewegung
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der Hitlerschen Angriffsvorbereitungen gegen die UdSSR wurde Polen von großen Truppenmengen überflutet; Polens geheimdienstliche Aktivität entfaltete sich (Aufdeckung der deutschen Vorbereitungen auf einen Krieg gegen die UdSSR); nach dem faschistischen Uberfall am 22. Juni 1941 eröffnete der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion neue Perspektiven für den Befreiungskampf, obschon sich die in der Anfangsphase des Krieges erzielten deutschen Erfolge auf den Widerstand hemmend auswirkten. Die dritte Etappe (Mai 1942 bis Juni 1944) ist charakterisiert durch die Verstärkung des bewaffneten Kampfes, die bereits für das zweite Halbjahr 1942, in noch größerem Maße aber seit der Jahreswende 1942/43 festzustellen ist. Seitdem nahm die Intensität des Kampfes mehr und mehr zu, bis im Frühjahr, Sommer und Herbst 1944 der Kulminationspunkt erreicht wurde. Obwohl die Widerstandskraft der regulären polnischen Armee Anfang Oktober 1939 gebrochen wurde, war damit der Kampf gegen den faschistischen Eindringling keineswegs beendet. Dieser Kampf wurde im besetzten Land von der gesamten Nation weitergeführt. Für den auf allen Ebenen beharrlich ausgetragenen Kampf gegen die Okkupanten gab es verschiedene Gründe; das Hauptmotiv war die unbezwingbare Liebe aller Polen zur Freiheit. Die Tatsache, daß zwischen den beiden Weltkriegen zwanzig Jahre lang ein unabhängiges polnisches Staatswesen bestanden hatte, führte zu einem tieferen Verständnis und Wertschätzung der Bedeutung einer selbständigen staatlichen Existenz. Trotz aller Schwierigkeiten, Konflikte und Restriktionen, die während der zweiten Republik zu verzeichnen waren, hatte das gesellschaftliche, kulturelle und politische Leben in dieser Zeit doch ein reichhaltiges und vielschichtiges Gepräge. Die Okkupation setzte all dem unerwartet ein jähes Ende. Unabhängig von der generellen Zielsetzung, die die Okkupanten verfolgten und die ja die skrupellose Ausbeutung und schließlich die Ausrottung des polnischen Volkes vorsah, erlegten die Besatzungsbehörden der Bevölkerung sofort rücksichtslos viele demütigende Beschränkungen auf, die sich nicht in erster Linie aus den Erfordernissen des Kriegszustandes ergaben (wie Lebensmittelkarten, Verdunklung von Ortschaften, Versorgungslücken), was ja noch einzusehen gewesen wäre, sondern Restriktionen, die die Polen erniedrigen und diskriminieren sollten, um ihnen den Status sogenannter „Untermenschen" aufzuzwingen. Gleichzeitig wurden die deutsche Okkupationsverwaltung sowie die Reichs^ und sog. Volksdeutschen mit Privilegien ausgestattet. Das Ergebnis der Anordnungen und terroristischen Aktivitäten war, daß das riesige Potential an gesellschaftlicher, kultureller und politischer Initiative in die Illegalität gedrängt wurde und daß es für dieses Energiereservoir keine Möglichkeit gab, sich wieder innerhalb der legalen Sphäre zu etablieren. Schnell verbreiterte sich so der Graben, den die Septemberaggression zwischen den deutschen Besatzern und dem polnischen Volk aufgerissen hatte. Einem Polen war es schlechterdings unmöglich, sich die ihm gänzlich fremde preußisch-deutsche und hitlerfaschistische Mentalität sowie die daraus entspringenden Verhaltens- und Begriffsmuster zu eigen zu machen. Polen lag zwar militärisch am Boden; nicht kapituliert hatte es jedoch in geistig-intellektueller Hinsicht: vielmehr empfand sich das polnische Volk als der deutschen Fremdherrschaft überlegen und glaubte
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Tadeusz
Jqdruszczak
in intuitiver Voraussicht fest daran, daß das faschistische Okkupationssystem als vorübergehende Erscheinung sui generis n u r von begrenzter Dauer sein werde. Der Umstand, daß Polen O p f e r einer von ihm nicht ausgelösten Provokation geworden w a r u n d danach Verfolgungen zu erleiden hatte, die nicht auf sein Verschulden zurückzuführen waren, ließ es zu der Uberzeugung gelangen, daß es hier u m einen gerechten Kampf wider das Unrecht gehe, veranlaßte es aber auch zu mystisch-defensiven Verhaltensweisen angesichts der Sintflut des Bösen schlechthin. Ins Gewicht fielen in diesem Zusammenhang auch die nach wie vor lebendigen und gepflegten Traditionen aus der Zeit der polnischen Befreiungskämpfe des 18., 19. und 20. J h . Polens Bevölkerung w a r sich w ä h r e n d der Zeit der staatlichen Souveränität zwischen den beiden Weltkriegen rasch ihrer eigenen Werte u n d Potenzen bewußt geworden, eines Reservoirs, das traditionsgemäß an d e m o k r a tische Ideale a n k n ü p f t e ; sie mußte n u n m e h r durch die Haltung d e r Okkupanten, die anderen Völkern gegenüber n u r Verachtung zeigten u n d Grausamkeit u n d Unmenschlichkeit an den Tag legten, besonders schwer verletzt werden. Dies wiederum machte im G r u n d e jede Verständigungsmöglichkeit zunichte u n d verlieh dem polnisch-deutschen Problem den C h a r a k t e r einer gewaltsamen Auseinandersetzung, die u n t e r den von den deutschen Faschisten geschaffenen Bedingungen zwangsläufig die einzige Alternative f ü r die Lösung dieses Problems darstellte. Auslösende Momente der Widerstandsbewegung w a r e n der Naziterror, die Tatsache der Zerschlagung des polnischen Staatswesens, die erneute A u f teilung Polens und das Okkupationsregime. Durch den faschistischen Terror verschärfte sich der Kampf und dehnte sich überallhin aus. Auf Grund eigener E r f a h r u n g e n w i e auch angesichts der jüdischen Tragödie gewann die polnische Öffentlichkeit recht schnell die Überzeugung, daß im Blick auf das Ziel, das sich die deutschen Faschisten in bezug auf Polen und seine Bewohner gesetzt hatten, n u r ein mit allen Mitteln g e f ü h r t e r Kampf übrigbleibe, u m ü b e r h a u p t überleben und wenigstens partiell den Terror- u n d Vernichtungspraktiken den Weg verlegen zu können. Einmal m e h r haben die Polen den Beweis d a f ü r geliefert, daß sie nicht gewillt waren, das Schicksal, das m a n ihnen zwangsweise zudachte, l a m m f r o m m und demütig hinzunehmen. Während der zwanzig J a h r e zwischen den beiden Weltkriegen w u r d e eine Nachwuchsgeneration von Menschen herangebildet, die befähigt waren, unverzüglich den aktiven Kampf a u f z u n e h m e n : das w a r e n j u n g e Leute, Intellektuelle, Offiziere und Exekutivausschüsse d e r politischen Parteien (was die Offiziere der polnischen Vorkriegsarmee betrifft, so ordneten die Besatzungsbehörden die Registrierung d e r jenigen an, die sich, der Kriegsgefangenschaft entgangen, im Lande b e f a n d e n ; freilich ließen sich die meisten nicht erfassen und gerieten so gewissermaßen automatisch in die Illegalität). Eine besonders wichtige Rolle spielte die Arbeiterklasse, die d e m Kampf eine umfassende Dimension verlieh und durch Sabotageakte im Bereich d e r Industrie und des Verkehrswesens die O k k u p a n t e n an i h r e r empfindlichsten Stelle traf. Das polnische Dorf, die Bauernschaft, stellte Soldaten f ü r die Partisanenabteilungen u n d bot den in den Wäldern operierenden G r u p pen sichere Zuflucht. D a r ü b e r w u r d e sich auch die deutsche Generalgouvernementsregierung klar. Ein hoher Polizeifunktionär, der S S - O b e r f ü h r e r Dr. Schön-
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garth, erklärte auf einer Gouvemementssitzung am 20. Mai 1941: „Es wäre ein sehr gefährlicher und folgenschwerer Irrtum, glauben zu wollen, daß in der Widerstandsbewegung ausschließlich ehemalige Offiziere, höhere Beamte oder Menschen mit einem gewissen Bildungsgrad aktiv tätig seien. Wahr ist natürlich, daß sie den Kern der Bewegung darstellen, doch die Elemente, die Anschläge ausführen, rekrutieren sich fast nur aus Bauern und Arbeitern... Man darf auch nicht nur Organisierte zur Widerstandsbewegung rechnen; die Sicherheitspolizei zählt dazu im weitesten Sinne des Wortes sämtliche Polen. Es gibt keinen einzigen Polen, der fähig wäre, seine Einstellung zu ändern und tatsächlich f ü r die Regierung des Generalgouvernements zu arbeiten." 1 Wenn wir uns hier allgemeiner Kategorien wie Gesellschaft (Öffentlichkeit), Volk (Nation) und Klasse bedienen, so tun wir das deshalb, um die Grundzüge so umfassend wie möglich zu verdeutlichen. Unter den Bedingungen der Okkupation ließ sich der einzelne bei seinem Entschluß, den aktiven Kampf mit dem Besatzungsregime aufzunehmen (wobei es sich um eine ganz persönliche Entscheidung handelte), von sehr unterschiedlichen Motiven leiten: das konnten ideelle - patriotische - Beweggründe sein, auch soldatisches Pflichtgefühl, Flucht vor Repressionen, Rache f ü r erlittene Unbill u. a. „Uns war es ganz einerlei", erinnert sich der polnische Soziologe Jan Strzelecki, „ob der Widerstand, den jemand gegen Versuche leistete, ihn zu manipulieren, nun seiner Natur oder kulturellen Antrieben entsprang, ob er biologisch oder durch das Milieu bedingt war, und unter welchen ideologischen Vorzeichen dieser erfolgte. Die Teilnahme am Widerstand stärkte in jedem Falle die Würde des Betreffenden und trug dazu bei, daß er weiterhin über Abwehrkräfte gegen Bemühungen verfügte, ihn seiner Menschenwürde zu berauben." 2 Wenn wir von der Universalität des Widerstandskampfes sprechen, so verstehen wir darunter nicht nur das tätige Engagement, sondern auch die Sympathien, die selbst diejenigen, die passiv blieben, der Widerstandsbewegung entgegenbrachten. Natürlich konnte sich nur ein Teil der Bevölkerung aktiv am Widerstand beteiligen, während viele ihr Hauptaugenmerk darauf richteten, wie man die Okkupationszeit überstehen könne. Ohne Sympathie und Unterstützung von Seiten breitester Bevölkerungskreise, ohne ein entsprechendes psychologisches Klima hätte die Widerstandsbewegung keine Entwicklungschancen gehabt. Die Situation an den einzelnen Kriegsschauplätzen übte auf die Intensität des Partisanenkampfes in Polen einen entsprechenden Einfluß aus. Der Verlauf des Krieges und die militärischen Operationen der Alliierten spornten die Polen zum Widerstand an, boten sie ihnen doch eine reale Chance, den Kampf, den sie führten, mit Erfolgen krönen zu können. 1
2
Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka 1939-1945 (Die Okkupation und die Widerstandsbewegung im Tagebuch von Hans Franck), T. 1, Warszawa 1970, S. 366; vgl. auch Obozy hitlerowskie na ziemiach pölskich 1939-1945. Informator encyklopedyczny (Die Lager der deutschen Faschisten in den polnischen Gebieten 1939-1945 Enzyklopädische Information), Warszawa 1979; Turzynski, W., Podziemny front w Polsce 1939-1945 (Die konspirative Front in Polen 1939-1945), Warszawa 1976; Korbonski, S., Polskie Panstwo Podziemne (Der konspirative polnische Staat), Paris 1976. Strzelecki, J., Pröby swiadectwa (Versuche von Bezeugungen), Warszawa 1971, S. 31.
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Die Okkupanten versuchten dahinterzukommen, weshalb die Widerstandsbewegung einen solchen Aufschwung nahm. Im folgenden seien zwei von hohen faschistischen Funktionären geäußerte Meinungen wiedergegeben: „Die Polen sind die geborenen Organisatoren illegaler Tätigkeit und Wühlarbeit" (Meisinger). „Hierbei profitieren die Polen einerseits von ihren geschichtlichen Erfahrungen und andererseits von ihrem spezifisch slawischen Talent zu konspirativer Tätigkeit" (Streckenbach). Demnach waren es nicht Okkupation und Gewaltherrschaft, sondern es war - ihre biologische Veranlagung, die sie aufbegehren ließ; f ü r w a h r eine absonderliche Logik. Ebenso wie am Vorabend der Aggression und im September 1939 bot ganz Polen auch in der Okkupationszeit dem Besatzungsregime die Stirn. Kollaboration, die mit aller Entschiedenheit gebrandmarkt und bekämpft wurde, w a r eine ausgesprochene Randerscheinung und ohne jedes politische Gewicht. Die von den deutschen Behörden in gesellschaftlicher Hinsicht verfolgte Politik, die darin bestand, die jüdische Bourgeoisie physisch zu vernichten, das polnische Großbürgertum seiner ökonomischen Grundlagen zu berauben und den polnischen Grundbesitz ganz erheblich einzuschränken (und polnische Landbesitzer in den in das faschistische Großdeutsche Reich direkt eingegliederten Gebieten zu enteignen), lief auf einen eigenartigen gesellschaftlichen Egalitarismus, eine allgemeine Proletarisierung und gleichmäßig verteilte Not hinaus, die sich besonders eklatant in der Gefahr der Vernichtung und in Repressionen manifestierte, deren die Polen auf Grund ihrer Nationalität stets gewärtig sein mußten. Unter diesen Umständen traten Klassengegensätze zunächst in den Hintergrund, und die entstandene Schicksalsgemeinschaft f ü h r t e zur Bildung einer speziellen Antihitlerfront. Das ist jedoch keineswegs in dem Sinne zu verstehen, daß nun etwa alle politischen Unterschiede, die es innerhalb der polnischen Gesellschaft gab, auf einmal verschwunden gewesen wären; sie blieben vielmehr bestehen, und je näher das Kriegsende - und mit ihm die Befreiung - rückte, desto ausgeprägter wurden sie, bis sie schließlich in einen erbitterten Kampf um die Macht übergingen. Die interne politische Differenzierung beeinflußte auch die Einstellung zum Widerstandskampf (was Methoden, Umfang und zeitliche Disposition anbetraf), freilich nicht das Verhältnis zur deutschen Besatzung, das negativ blieb. Diesem Differenzierungsprozeß entsprang die jeweilige Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Orientierung, woraus sich wiederum die verschiedenen Ansichten über die politische und gesellschaftliche Struktur eines künftigen Polen ergaben.
2. Das Londoner Lager - der
„Viererrat"
Die Anfänge der in Polen organisiert betriebenen politischen und miltärischen Konspiration reichen bis zum September 1939 zurück. Noch vor der Kapitulation - und zwar am 26. September 1939 - betraute General Römml in Form einer Anordnung den General Michal Karaszewicz-Tokarzewski mit der Aufgabe, in Polen eine geheime militärische Organisation aufzubauen, die den Kampf bis zur Befreiung Polens weiterführen sollte. Diese Organisation erhielt den Namen
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Sluzba Zwyci^stwa Polski (SZP - Dienst f ü r den Sieg Polens). Die Gründung des SZP erfolgte im Zeichen scharfer Kritik an der vor dem Kriege in Polen an der Macht gewesenen politischen Gruppierung der Anhänger Marschall Józef Pilsudskis, die unter der Bezeichnung „Sanacja" bekannt geworden war. Die polnische Öffentlichkeit lastete in ihrer Verbitterung über den unerwartet schnell verlorenen Krieg den Gang der Ereignisse in erster Linie denjenigen an, die zu dieser Zeit in Polen die Regierungsverantwortung trugen. Es waren dies der Marschall Rydz-Smigly, ferner der Präsident der Republik Polen, Moscicki, und Außenminister Beck als Spitzenfunktionäre des Sanacja-Blocks. Man kritisierte ihre Außen- und Innenpolitik und machte sie f ü r die wirtschaftliche Misere Polens und f ü r die unzureichenden Vorbereitungen auf den Krieg verantwortlich. Um ostentativ die von der Sanacja abweichende politische Linie des SZP zu unterstreichen, nahm General Tokarzewski Verbindung mit den Repräsentanten der wichtigsten, zu den Anhängern Pilsudskis in Opposition stehenden Parteien auf, nämlich mit der Polska Partia Socjalistyczna (Polnische Sozialistische Partei - PPS), der Stronnictwo Ludowe (Volkspartei - SL) und der Stronnictwo Narodowe (Nationale Partei - SN). Jede dieser drei Parteien stellte in der zweiten Republik eine relevante politische K r a f t dar. Die Nationale Partei zählte ungefähr 200 000, die Volkspartei ca. 150 000 und die P P S rund 50 000 Mitglieder. Zu Beginn des Krieges spaltete sich die PPS in einen rechten (PPS-WRN) und einen linken Flügel (die polnischen Sozialisten, die spätere RPPS). Die letztgenannte Fraktion arbeitete von 1941 bis 1943 mit dem Londoner Lager zusammen. Aus den Vertretern der erwähnten Parteien setzte sich das ins Leben gerufene Politische Zentralkomitee des SZP zusammen. In diesem Rahmen nominierte man als Zivilkommissar f ü r die Zusammenarbeit mit General Tokarzewski den hervorragenden sozialistischen Politiker Mieczyslaw Niedzialkowski. General Tokarzewski vertrat die Ansicht, daß dem Militärbefehlshaber der Vorrang gebühre. Der SZP schloß sich der in F r a n k reich tätigen, von General Wladyslaw Sikorski geführten polnischen Exilregierung an. Da die SZP-Führung nicht das Vertrauen der Sikorski-Regierung genoß, gründete letztere durch eine Verfügung vom 13. September 1939 ein „Minister^ komitee f ü r Landesfragen" sowie eine konspirative Organisation, die in Polen selbst als Zwi^zek Walki Zbrojnej (Verband des bewaffneten Kampfes - ZWZ) tätig werden sollte. Die zentrale Leitung des ZWZ übernahm der in Frankreich weilende General Kazimierz Sosnkowski. Die neugebildete Organisation schloß sich dem bereits bestehenden SZP an. Die ZWZ-Leitung mit Sitz in Polen w u r d e mit Wirkung vom 8. J a n u a r 1940 dem bisherigen Chef des SZP-Stabes, Oberst Stefan Rowecki-Grot, übertragen. Bald darauf schickte man General Tokarzewski in die durch die Rote Armee besetzten Gebiete mit dem Auftrag, dort eine konspirative ZWZ-Organisation aufzubauen. Als der General die Grenze in der Nacht vom 6. zum 7. März 1940 passieren wollte, wurde er von sowjetischen Organen verhaftet. Nachdem man ihn 1941 aus der Haft entlassen hatte, trat er in die Anders-Armee ein. Dem Kommandanten des - mehrheitlich noch immer aus Militärs bestehenden - ZWZ wurde ein sog. Politischer Verbindungsausschuß zur Seite gestellt, der sich aus Vertretern der drei obengenannten Parteien sowie aus einem Vertreter der Partei der Arbeit zusammensetzte. Dieser Ausschuß 22 J a h r b u c h 23
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wurde als die „Dicke Vier" bzw. als „Viererrat" bezeichnet. Ende 1940 ernannte die Sikorski-Regierung Cyryl Ratajski zu ihrem in Polen tätigen Sonderbeauftragten. Dieser Regierungsdelegierte operierte unabhängig vom ZWZ-Befehlsstab, so daß sich innerhalb der Führungsorgane im Lande selbst ein Dualismus herauskristallisierte, an dem General Sikorski sehr gelegen w a r : Dieser w a r nämlich nicht dafür, den ZWZ-Militärs zuviel - speziell politische - Machtbefugnisse einzuräumen, da er nicht ohne Grund den Verdacht hegte, daß sich das Offizierskorps aus Pilsudski-Anhängern rekrutiere. Bevor sich ein solches Modell herausgebildet hatte, ging das ganze J a h r 1940 über der Streit darum, wie die Kompetenzen und Querverbindungen innerhalb des hierarchischen Gefüges Exilregierung - Repräsentanz dieser Regierung in Polen - politische F ü h r u n g in Polen - militärische Führung in Polen auszusehen hätten. Die Schaffung des Postens eines Regierungsbeauftragten vermochte diese Kontroverse einigermaßen einzudämmen. In der Zeit von 1940 bis 1944 erfolgte in Polen der Ausbau einer illegalen Zivilund Militäradministration, die der Sikorski-Regierung unterstand. Diese Administration war ständig den Verfolgungen der Okkupationsbehörden ausgesetzt, die einzelne ihrer Stützpunkte liquidierten und sich bemühten, die ganze Organisation zu zerschlagen. Diese Administration, die mitunter als geheimer polnischer Staat apostrophiert wurde, waltete ihres Amtes im Bewußtsein des kontinuierlichen Fortbestehens polnischer Staatlichkeit; sie zeugt davon, welche Bedeutung man der Wahrung eines eignen Nationalstaates beimaß. Unter den Bedingungen der Okkupation mußte die faktische Amtsgewalt dieses illegalen Staates notwendig starken Beschränkungen unterworfen werden, weshalb diesem Staatswesen eher eine symbolische Funktion zukam, obschon beispielsweise durch die Rechtsprechung mit aller Entschiedenheit Kollaborateure bekämpft wurden, auf die auch das höchste Strafmaß Anwendung f a n d ; auch das geheime Schulwesen florierte. Praktische Bedeutung sollte die Untergrundregierung im Hinblick auf die Vorbereitungen haben, die f ü r den Fall der Übernahme der Regierungsverantwortung nach der Befreiung getroffen wurden. Es war das erklärte Ziel des gemeinhin als „Londoner Regierung" bezeichneten Kabinetts (das nach der Niederlage Frankreichs 1940 nach London übergesiedelt war), zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs Deutschlands in Polen unverzüglich als eine bereits gebildete Regierung die Macht zu übernehmen. Die Nachfolge von Cyryl Ratajski trat als Regierungsbeauftragter im Herbst 1942 Prof. J a n Piekalkiewicz (Volkspartei) an; nachdem ihn die Gestapo am 19. Februar 1943 verhaftet hatte, übernahm im April 1943 Stanislaw Jankowski (Partei der Arbeit) diese Funktion. In der Endptiase des Krieges sank die Autorität des Geheimstaates, und zwar hauptsächlich deswegen, weil die Richtung, in der sich die allgemeine Entwicklung in Polen vollzog, nicht mit der von der Exilregierung betriebenen Politik und der nach Polen delegierten Regierungsmannschaft (der sog. Delegatur) übereinstimmte, was auch auf die Führung der Armia Krajowa (AK - Landesarmee) zutraf. Zu diesen Differenzierungen und dieser Krise trug auch die um die Jahreswende 1943/44 erfolgte Gründung des Landesnationalrates und seiner territorialen Organe bei.
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Die in der Delegatar und im vereinigten ZWZ-AK-Führungsstab vertretenen politischen Parteien wandelten das Politische Verbindungskomitee um in die Krajowa Reprezentacja Polityczna Narodu Polskiego (Politische Landesvertretung der Polnischen Nation). Die zu diesem Gremium gehörenden Parteien waren von wirklicher Einmütigkeit weit entfernt, da ihre Strategie vornehmlich darauf gerichtet war, nach der Befreiung in Polen an die Macht zu gelangen. Zudem trauten sie der AK nicht über den Weg, da sie der Meinung waren, in Gestalt der Landesarmee lebte das von ihnen bereits in der Vorkriegszeit bekämpfte Pilsudski-Lager fort. Solche Erwägungen führten dann dazu, daß die Volkspartei 1941 einen eigenen bewaffneten Verband ins Leben rief, nämlich die sog. Bataliony Chlopskie (Bauernbataillone - BCh), zu denen gegen Ende der Okkupationszeit rund 150 000 Mann zählten, während die Nationale Partei eine Narodowa Organizacja Wojskowa (Nationale Militärorganisation - NOW) mit ungefähr 70 000 Mann auf die Beine stellte. Die AK-Hauptkommandantur erfüllte diese organisatorische Zersplitterung mit Sorge, und sie bemühte sich darum unter Hinweis auf einen in London gefaßten entsprechenden Regierungsbeschluß, diese Verbände im Rahmen einer sog. Integrationsaktion in die AK einzugliedern. Die Nationale Militärorganisation trat im November 1942 in die Reihen der AK ein, womit der Landesarmee ca. 50 000 Mann zugeführt wurden. Während die Volkspartei die Führungsrolle in einem künftigen Polen den Bauern zugewiesen wissen wollte, schrieb die Nationale Partei ein nationales klassenloses Polen auf ihre Fahnen, und die WRN-Sozialisten wiederum forderten einen polnischen Volksstaat. In der ersten Phase der Okkupation - 1940/41 - hatten im Viererrat die Sozialisten und die Volksparteiler das Übergewicht, die zusammen mit der Partei der Arbeit einen Mitte-Links-Block bildeten, der die militärischen Aktivitäten der AK mit Argwohn beobachtete. Späterhin - 1943/44 - gewann die Nationale Partei bestimmenden Einfluß, und die Position der AK-Hauptkommandantur festigte sich. J e näher nun das Ende des Krieges rückte und je deutlicher sich die Perspektive abzeichnete, daß die kommunistische Bewegung und ihre Verbündeten zu Trägern der Staatsmacht werden würden, um so mehr verstärkten die Parteien des zunöhmend nach „rechts" tendierenden Viererrates ihre Zusammenarbeit, w ä h rend als eigentliches Zentrum der Konsolidierung die Führung der Armia K r a jowa fungierte. Einige Autoren sprechen von der Herausbildung eines politischen Orientierungsrahmens auf der Linie der Sanacja und der Nationaldemokratie. Die Exilregierung des Generals Sikorski und die ihr unterstehenden in Polen befindlichen politischen und militärischen Instanzen betrachteten es als ihr Hauptanliegen, f ü r die Wiedererrichtung eines polnischen Staates zu kämpfen, dessen Territorium und gesellschaftliche Ordnung der Zweiten Republik, wie sie vor dem Krieg bestand, entsprechen sollte. Mit allem Nachdruck forderten sie einen Wechsel der Regierungspraktiken, wobei sie kritisch auf den unkontrollierten Totalitarismus der Vorkriegsregierungen Bezug nahmen. Durch ein vom 9. Dezember 1939 datiertes Dekret des Präsidenten der Republik Polen wurde als ein ersatzweise f ü r ein reguläres Parlament fungierendes Gremium der Rada Narodowa (Nationalrat der Republik Polen - RP) gebildet, der dem Präsidenten in beratender Funktion zur Seite stehen sollte. Dieser Körper22«
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schaft gehörten 16 Persönlichkeiten an, so - entsprechend dem im Lande tätigen Viererrat - als Vertreter der Polnischen Sozialistischen Partei Herman Lieberman, von der Volkspartei (Bauernpartei) Stanislaw Mikolajczyk, von der Partei der Arbeit Jan Brandys und von der Nationalen Partei Tadeusz Bielecki; außerdem waren andere Gruppen, darunter auch auslandspolnische, vertreten. General Sikorski erklärte auf der Eröffnungssitzung des Rates am 23. Januar 1940, daß es sein persönliches und auch das Ziel seiner Regierung sei, wieder ein unabhängiges demokratisch regiertes und rechtsstaatliches Polen aufzubauen. Eingedenk dessen, daß „sich der Umstand, daß man die Nation von der Mitarbeit und der Verantwortung ausgeschlossen hatte, in dem Augenblick, als uns der Krieg aufgezwungen wurde, auf die Existenz des Staates geradezu verheerend auswirkte", wünsche er sich einen ständigen engen Kontakt mit der Gesellschaft. Sikorski würdigte die Tatsache, daß „Polen sich mutig einem destruktiven Machtverbund entgegenstellte", wobei er betonte, daß der Kampf zu ungleich gewesen sei, „als daß er sich hätte gewinnen lassen". Daß „der Krieg so schnell verloren wurde", sei Schuld des Systems, das „weiter in Disharmonie mit der Nation gelebt" habe. Er hob hervor, daß die Exilregierung mit den Methoden der Pilsudski-Anhänger Schluß gemacht habe und daran interessiert sei, daß mein die Arbeit der Regierung kontrolliere, „obschon der Krieg schnelles und elastisches Handeln erfordere". Er erinnerte an die im Rat vertretene jüdische Minderheit und gab zu verstehen, man werde dafür Sorge tragen, daß in den Rat auch je ein Repräsentant der anderen vor dem Kriege in Polen ansässigen nationalen Minderheiten aufgenommen würde. Er rief dazu auf, in Einigkeit den Wiederaufbau Polens anzustreben, und erklärte, daß der Nationalrat, die Regierung und die Armee eine „gemeinsame historische Verantwortimg" für die Sache Polens zu übernehmen hätten. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dabei der Armee, die einen unpolitischen Charakter trüge; er kündigte den Wiederaufbau der polnischen Luftwaffe und des Heeres an und bezeichnete die Kriegsmarine als den „Stolz Polens". Mehrmals erwähnte er England und Frankreich als Bundesgenossen Polens.3 In dieser Rede und in anderen Erklärungen proklamierte die Sikorski-Regierung folgende grundlegende Programmpunkte: Den kompromißlosen Kampf um die Wiedererrichtung des polnischen Staates in den geographischen Grenzen, wie sie vor dem Kriege mit den beiden großen Nachbarn bestanden; Bündnispartnerschaft mit England und Frankreich; Kritik an den Methoden der Machtausübung, wie sie von den polnischen Vorkriegsregierungen praktiziert wurden; Ankündigung einer Demokratisierung des Leitungsstils der neuen Regierung; Appell an die Einigkeit unter den Viererratsparteien (der Polnischen Sozialistischen Partei, der Volkspartei, der Partei der Arbeit und der Demokratischen Partei). Auf polnischem Boden erließ die Regierungsdelegatur im Zusammenwirken mit dem Oberkommandierenden des ZWZ am 26. Juli 1940 die sog. Nakazy chwili (Gebote der Stunde). In ihnen wurde der Zweifrontenkrieg um die Freiheit Polens gefordert, ferner jeglicher Kompromiß mit den großen Nachbarn sowie 3
AAN, Akta J. Paderewskiego (Die Akten von J. Paderewski), des Nationalrates der Republik Polen, Sitzung vom 23.1.1940.
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ein Kampf auf Seiten des einen Nachbarlandes gegen das andere verworfen und zum Unabhängigkeitskampf „für ein großes Polen" 4 aufgerufen. In der Zeit zwischen Oktober 1939 und Juni 1941 - besonders aber 1940 nach der Niederlage Frankreichs - war die Lage Polens äußerst prekär und seine Position keineswegs eindeutig. Der Zusammenbruch Frankreichs hatte dazu geführt, daß die polnische Widerstandsbewegung ihre Aktivitäten einschränkte und in der polnischen Öffentlichkeit Apathie, Zweifel und Furcht hinsichtlich der f ü r Polen bestehenden Zukunftsaussichten aufkamen. Problematisch war auch die Lage, in der sich die Exilregierung befand, die kaum außenpolitische Alternativen besaß. In innenpolitischer Hinsicht offenbarten die Regierung und ihre in Polen tätigen Organe eine unverkennbar könservative Haltung. Sie legten nämlich kein Reformprogramm vor, das Polen so bitter not getan hätte. Indem sie in dieser Beziehung keinerlei Initiative ergriffen, gerieten sie mit Forderungen der Allgemeinheit in Konflikt. Letztere erkannte - nach dem September 1939 - in unterschiedlicher Intensität und Art die Notwendigkeit, mehr oder weniger tiefgreifende Umgestaltungen in Polen durchzuführen. Die Zurückhaltung der Exilregierung in dieser Frage resultierte aus mehreren Ursachen, nicht zuletzt aus dem Umstand, daß jeder Versuch, ein Programm f ü r politische, gesellschaftliche und ökonomische Umgestaltungen festzulegen, die Existenz des Viererrates in Frage stellen mußte. Die Parteien, die dieses Gremium bildeten, unterschieden sich nicht nur in ihren politisch-ideologischen Konzeptionen; vielmehr waren diese Konzeptionen so gegensätzlich, daß sie einander ausschlössen. Erst der Druck, den die Ereignisse in den folgenden Jahren ausübten, zeitigte zum Teil eine Änderung dieses Sachverhalts. Der faschistische Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 wirkte stimulierend auf die antifaschistische Widerstandsbewegung. Die deutsch-sowjetischen Abmachungen vom 23. August und vom 28. September 1939 verloren damit ihre Gültigkeit. Die polnische Politik stand nun vor folgender Alternative: Zusammengehen mit den Deutschen (eine rein theoretische Möglichkeit, die praktisch nicht in Frage kam) oder - als neue große Chance - ein Zusammenwirken mit der Sowjetunion. Um eine solche Chance wahrnehmen zu können, mußten zumindest zwei Bedingungen erfüllt sein: Einmal bedurfte es Führungspersönlichkeiten, die imstande wären, sich dieser Aufgabe im Interesse Polens anzunehmen; zum anderen galt es die Frage der polnisch-sowjetischen Staatsgrenze zu regeln. Die UdSSR sprach sich f ü r eine Modifizierung der am 28. September 1939 gezogenen Grenzlinie aus. Teils aus eigener Uberzeugung, teils auch unter dem Einfluß der britischen Regierung unternahm General Sikorski den Versuch einer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, was sich in Gestalt des am 30. Juli 1941 geschlossenen Bündnisvertrages niederschlug. Gleichwohl blieb die Grenzfrage weiterhin Gegenstand von Kontroversen, ja selbst gegen den Vertrag von 1941 wurde innerhalb der Londoner Exilregierung und der ihr in Polen unterstehenden Organe heftig opponiert. Bestandteil der offiziellen polnischen Propaganda wurde die These von der Existenz zweier Gegner, die sich in einer gegeneinander 4
Polskie sily zbrojne w drugiej wojnie swiatowej (Die polnischen Streitkräfte im zweiten Weltkrieg), T. 3: Die Landesarmee, London 1950, S. 54.
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g e f ü h r t e n kriegerischen Auseinandersetzung n u r selbst den Garaus machen sollten. Nach dem Kriege sollte die UdSSR d a n n n u r eine untergeordnete Rolle spielen, wohingegen die Befreiung Polens das Werk der Armeen der westlichen Alliierten sein solle. Das w a r in der Tat eine der wirklichkeitsfremdesten Theorien, die in der neuesten polnischen Geschichte j e aufgestellt worden waren. Sie wurzelte in E r f a h rungen aus d e r letzten Phase des ersten Weltkrieges u n d bildete u n t e r den neuen - andersgearteten - Bedingungen des Kriegsverlaufs eine Fortsetzung d e r Beckschen These, daß m a n „zwischen Berlin u n d Moskau balancieren" müsse. Sie läßt sich als eine total abstrakte vorgefaßte Idee kennzeichnen, die mit d e r Realität nicht das geringste zu t u n hatte u n d n u r Ausdruck einer Wunschvorstellung derer war, die sie hervorgebracht hatten, sich zu ihr bekannten u n d sie propagierten. Diese Theorie w u r d e in den sich nach London richtenden polnischen Untergrundkreisen geradezu populär, da m a n dort n u r mit ausgesprochenem Widerwillen den Vertrag vom 30. Juli 1941 gelten ließ, u n d blieb auch nicht ohne Einfluß auf das Verhältnis der Landesarmee zu dem gegen die deutschen O k k u p a n t e n g e f ü h r t e n aktiven Widerstandskampf. Von diesem Zeitpunkt an rückte die F r a g e des Verhältnisses zur UdSSR i m m e r m e h r in den Mittelpunkt, eine Frage, die einerseits mit der Forderung nach einer konstruktiven Regelung der polnisch-sowjetischen Beziehungen beantwortet wurde, andererseits aber auch eine fortschreitende Konsolidierung d e r Gegner einer solchen Regelung bewirkte. J e n ä h e r der Zeitpunkt der Befreiung Polens von der deutschen Okkupation durch die Rote Armee rückte, desto m e h r gewann diese Problematik an Bedeutung, und desto m e h r spitzte sich die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der beiden gegensätzlichen Orientierungen zu. Das Problem n a h m i m m e r schärfere Konturen an und w u r d e zunehmend brisanter, zumal seit der G r ü n d u n g der Polska Partia Robotnicza (Polnische Arbeiterpartei - PPR) im J a n u a r 1942. Die PPR bezog gegenüber der Londoner Regierung eine kritische Position, indem sie grundlegende Reformen forderte, die nach der Befreiung durchzuführen seien, und zum aktiven Kampf u m die Befreiung im Verein mit der Sowjetunion aufrief (wovon im folgenden noch die Rede sein wird). Als K a m p f i n s t r u m e n t gegen die kommunistische Bewegung entstand u n t e r den Auspizien f ü h r e n d e r Kreise des Londoner Lagers die Agencja Antykomunistyczna (Antikommunistische A g e n t u r - Antyk). Sie publizierte a n t i k o m m u nistische Schriften und sammelte geheimdienstliche Informationen ü b e r die A r beiterbewegung. Die Viererratsparteien legten ihren S t a n d p u n k t zu der veränderten Situation und zu den Problemen, mit denen Polen konfrontiert war, in der „Deklaracja Porozumienia Politycznego Czterech Stronnictw" (Deklaration ü b e r die politische Absprache d e r vier Parteien) vom 15. August 1943 dar. Darin erklärten sie, d a ß sie nach d e r Befreiung die politische Macht in Polen zu ü b e r n e h m e n gedächten, die sie - bis zum Zeitpunkt der Wahl eines neuen Parlaments - ungeteilt ausüben w ü r d e n . Das hieß, daß sie zu keinerlei Ü b e r e i n k ü n f t e n mit der durch die Polnische Arbeiterpartei repräsentierten Arbeiterbewegung bereit waren. W o r t gewaltig prangerten sie das Vorkriegsregime der Pilsudski-Leute an. F ü r ein Nachkriegspolen kündigten sie eine republikanische Staatsverfassung an, und als
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oberstes Gremium des Staates wollte man sofort nach der Befreiung einen Rzqd Jednosci Narodowej (Rat der nationalen Einheit - RJN) berufen. Die von Deutschen geleiteten Industriebetriebe sollten verstaatlicht werden; außerdem war eine Bodenreform vorgesehen. Der erwähnte „Rat der nationalen Einheit" sollte noch vor Kriegsende gebildet werden, und zwar aus den Unterzeichnern der obenerwähnten Deklaration und den in Polen befindlichen Regierungsmitgliedem; die Regierung selbst sollte sich aus den Ministern des in London gebildeten Kabinetts rekrutieren. Spezielle Unterstützung ließ die Deklaration der Armia Krajowa angedeihen; sie sprach sich gegen jegliche Korrektur der polnischen Ostgrenze aus und wandte sich in scharfen Worten gegen die UdSSR und die kommunistische Bewegung.6 Viele polnische Autoren haben diese Deklaration kritisch beleuchtet und ihr dabei Oberflächlichkeit vorgeworfen. Dieser Vorwurf ist insofern nicht stichhaltig, als derartige Erklärungen zwangsläufig aus allgemeinen Formulierungen bestehen. Ihr entscheidender Fehler besteht vielmehr in ihrer Frontstellung gegenüber der Polnischen Arbeiterpartei, die bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1943 eine bedeutende politische Kraft darstellte, und ganz besonders in ihrer Feindseligkeit gegenüber der Sowjetunion, die unabsehbare gefährliche Konsequenzen heraufbeschwor. Diese Politik, in die sich die Londoner Exilkreise samt ihren bewaffneten Verbänden und einem Teil der polnischen Gesellschaft hineinmanövrierte, war faktisch gegen die Einheit der Antihitlerkoalition gerichtet. Gemäß der in der Deklaration enthaltenen Ankündigung wurde am 9. Januar 1944 der aus 17 Mitgliedern bestehende „Rat der nationalen Einheit" ins Leben gerufen. Dieser veröffentlichte am 15. März 1944 eine umfangreiche Erklärung „O co walczy narod polski" (Wofür die polnische Nation kämpft). Hierin wurde eine auf Kosten Deutschlands gehende Verschiebung der polnischen Westgrenze gefordert; außerdem kündigte man an, daß man im befreiten Polen eine Reihe wichtiger Reformen durchführen werde. Erneut sprach man sich gegen eine Änderung der Ortsgrenze aus und machte massiv gegen die UdSSR Front. Als Bestandteil der Londoner Exilregierung wurde am 3. Mai 1944 in Polen ein Landesministerrat berufen. Zweifellos versuchte man mit der Gründung des Rates für nationale Einheit und mit der von ihm publizierten Erklärung eine Antwort auf die inzwischen eingetretene Entwicklung zu geben, die dadurch gekennzeichnet war, daß die polnische Bevölkerung voller Ungeduld der Befreiung ihres Landes durch die Rote Armee harrte, daß radikale Stimmungen und Tendenzen zunahmen, daß sich die Aktivitäten der Polnischen Arbeiterpartei und der im Bunde mit ihr operierenden bewaffneten Formationen der Volksgarde (und später der Volksarmee) verstärkten, vor allem aber dadurch, daß in der Nacht vom 31. Dezember 1943 zum 1. Januar 1944 der Krajowej Rady Narodowej (Landesnationalrat) gegründet wurde. 5
Ebenda, S. 56 f.; Duraczynski, E., Stosunki w kierownictwie podziemia londynskiego 1939-1943 (Die Proportionen innerhalb der Führung des Londoner Untergrundes), Warszawa 1966, S. 274-276.
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All das zeugte davon, daß die politische Konfrontation im Kampf um die Macht in Polen sich immer mehr zuspitzte. Der Gang der Ereignisse in diesem Teil Europas und insbesondere die durch die UdSSR erzielten militärischen Erfolge brachten den Londoner Untergrund mehr und mehr in eine ausweglose Situation (zumal dieser einer Regierung unterstand, die keine diplomatischen Beziehungen zur UdSSR unterhielt) und festigten auf der anderen Seite die von der Polnischen Arbeiterbewegung vertretene Richtung. Diese Konfrontation spiegelte im Grunde den unversöhnlichen Charakter zweier antagonistischer Klassenpositionen - nämlich der kapitalistischen und der sozialistischen - wider. Das Londoner Lager zerfiel in derart unterschiedliche Bestandteile, daß seine Geschlossenheit stets nur von söhr kurzer Dauer war. Von häufigen Kontroversen zerriss'en, war es nahezu ständig am Auseinanderbrechen. Die Viererratsparteien befehdeten sich unablässig; auch gab es Mißhelligkeiten zwischen der Regierungsdelegatur und dem ZWZ-Oberbefehlsstab der Landesarmee. Dieser Zwist war nicht so sehr ein Konflikt zwischen den illegalen Zivilorganen einerseits und den entsprechenden militärischen Instanzen andererseits als vielmehr ein Kampf gegen den Einfluß, über den die pilsudskitreuen Offiziere in der AK verfügten. Die Armia Krajowa wurde hauptsächlich von Berufsoffizieren aufgebaut und geführt, die dem Heer der Zweiten Republik entstammten. Auf diese Kategorie griffen die Oppositionsparteien nur höchst ungern zurück, zumal sie in den Augen der Öffentlichkeit für das militärische Debakel, das Polen im September 1939 erlitten hatte, die Verantwortung trugen. 3. Der Verband des bewaffneten Kampfes - die spätere
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Die Anfänge der militärischen Konspiration, die der Exilregierung unterstand, reichen bis in den September 1939 zurück, ja die f ü r diese Konspiration getroffenen Vorbereitungen - die Ausbildung von Kadern - fielen sogar noch in die Zeit vor Kriegsausbruch. Den ersten Anstoß zur Formierung illegaler bewaffneter Truppen gaben die Generäle Römml und Kutrzeba, die Obersten Praglowski und Stefan Starzynski, Marschall Rydz-Smigly, General Kleeberg u. a. Abgesehen von Starzynski handelte es sich dabei um die führenden Köpfe der Vorkriegsarmee, und obwohl sie hernach innerhalb des Widerstandes eigentlich überhaupt keine Rolle mehr spielten, rief bereits die bloße Tatsache, daß die Initialzündung von diesen Militärs ausgegangen war, mit der Zeit beträchtlichen Argwohn gegen den militärischen Untergrund hervor. Zur gleichen Zeit bildeten sich jm Herbst 1939 in ganz Polen zahlreiche konspirative Gruppierungen. Unmöglich, sie zahlenmäßig alle zu erfassen; es waren schätzungsweise ein paar hundert. Sie entstanden spontan und legten Zeugnis davon ab, daß die neue, durch Übermacht aufgezwungene Situation nicht einfach hingenommen wurde und die polnische Gesellschaft willens war, gegen die Okkupation zu kämpfen. Zugleich ergaben sich jedoch dadurch auch Schwierigkeiten. Es war kompliziert, derart zahlreiche Einzelinitiativen zusammenzufassen, und es entstanden Probleme infolge des anfangs niedrigen Niveaus, auf dem die Arbeit vor dem Gegner abgesichert wurde, was unweigerlich Verhaftungen und
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Menschenverluste zur Folge hatte. In der Anfangsphase der Besatzungszeit arbeiteten die verschiedenen geheimen militärischen Gruppen in den einzelnen Landesteilen voneinander isoliert, und da größte Vorsicht geboten war, konnten nur schwer Kontakte aufgenommen werden. Oft wurden durch politische Gegensätze, persönliche Rivalitäten, unterschiedliche ideelle Einflüsse und Geldquellen Barrieren errichtet. Das Band aber, das sie alle einte, war der Haß auf die Okkupanten. Die Organisation Sluzba Zwyci^stwa Polski (Dienst f ü r den Sieg Polens - SZP) und später der Zwi^zek Walki Zbrojnej (Verband des bewaffneten Kampfes - ZWZ) sowie Armia Krajowa (Landesarmee - AK) wandten viele Mühe auf, um eine Zentralisierung zu erreichen. Nach dem Buchstaben seines Statuts sollte der ZWZ die einzige bewaffnete Organisation im Landesmaßstab und zudem unpolitisch insoweit sein, als er von keiner politischen Partei abhängen sollte. Von seiten General Sikorskis als des Ministerpräsidenten und Oberbefehlshabers und des Generals Rowecki als des Chefs des ZWZ (der späteren AK) erging daher auf Grund der obengenannten Konzeption die Aufforderung an alle bewaffneten polnischen Guerillaorganisationen, sich der Befehlsgewalt der AK zu unterwerfen. Dies geschah auch deshalb, weil der polnische Staat ja - wenn auch außerhalb der Landesgrenzen - fortbestand, die polnische Armee nicht demobilisiert und auf polnischem Territorium der Kriegszustand nicht beendet worden war und die polnische Gesetzgebung f ü r die Einwohner Polens weiterhin ihre Gültigkeit behielt. Obwohl die in Richtung auf die angestrebte Konzentration durchgeführten Zwangsmaßnahmen überwiegend von Erfolgen gekrönt waren, gelang es der AK angesichts der Okkupation und in der polnischen Illegalität weiterbestehenden politischen Unterschiede nicht, das unumschränkte Monopol zu erreichen, und die über die Vereinigungsproblematik geführten Verhandlungen zogen sich in manchen Fällen Monate, ja Jahre hin, ohne daß sie ein positives Ergebnis zeitigten. Den ZWZ-AK-Organen gelang es, ihrem Kommando u. a. folgende Verbände zu unterstellen: Komenda Obroncow Polski (Kommando der Verteidiger Polens - KOP), jedoch nur zum Teil; die Konsolidacja Obroncow Polski (Konsolidierung der Verteidiger Polens - KION); die Abteilung „Brochwicz" des Majors Remigusz Grochulski (der seine Truppe auf Grund einer von Marschall RydzSmigly persönlich erteilten Vollmacht aufgestellt hatte); die Kadra Bezpieczenstwa (Sicherheitskader); die Militärorganisationen Wilki (Wölfe), Muszkieterzy (Musketiere), Narodowa Organizacja Wojskowa (Nationale Militärorganisation) und Szare Szeregi (Graue Kolonnen) sowie Oböz Polski Walcz^cej (Lager des kämpfenden Polen) - eine Organisation, die von Marschall Rydzy-Smigly geleitet wurde, der 1941 nach Warschau zurückkehrte, wo er dann kurz darauf (am 2. Dezember) einem Herzleiden erlag und unter dem Namen Adam Zawisza 6 bestattet wurde. Die Zahl der listenmäßig erfaßten Organisationen, die sich von 1939 bis 1944 dem SZP bzw. ZWZ bzw. der AK anschlössen, beläuft sich ungefähr auf 50. Trotz langwieriger Bemühungen und eines diesbezüglich getroffenen Überein6
Maxymowicz-Raczynska, J., Edward Rydz-Smigly w Warszawie (E. Rydz-Smigly in Warschau), in: Dzieje Najnowsze, 1970, 1, S. 185-194.
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kommens gelang es nicht, die Bauerbataillone vollständig in die AK einzugliedern; vielmehr wurde die erwähnte Abmachung inhaltlich nur teilweise realisiert, Von insgesamt 150 000 Mann, die dieser Formation angehörten, traten nur rund 50 000 in die Landesarmee ein. Die Vereinigung der „Nationalen Militärorganisation" mit der AK führte zur Spaltung der Nationalen Partei und 1942 zur Bildung der gegen die AK gerichteten Narodowe Sily Zbrojne (Nationale Bewaffnete Kräfte - NSZ). Im Frühjahr 1944 führte der seinerzeitige AK-Oberbefehlshaber Bör-Komorowski Gespräche mit dem Ziel, die Nationale Militärorganisation in die AK anzugliedern. Er erreichte jedoch nur, daß ein Teil dieser Kräfte der AK beitrat. Diese Kontaktaufnahme kündigte übrigens einen Rechtsruck der AK an. Allerdings gehörte die extrem nationalistische Organisation Miecz i Piug (Schwert und Pflug) nicht zur AK. Zu einer Verständigung zwischen der AK und der mit der sozialistischen Bewegung (RPPS) verbundenen Polska Armia Ludowa (Polnische Volksarmee) kam es nicht.7 Eine von der AK völlig abweichende Position nahm die bewaffnete Organisation der PPR, die Gwardia Ludowa (Volksgarde) ein, die am 1. Januar in Armia Ludowa (Volksarmee - AL) umbenannt wurde. Von der revolutionären Widerstandsbewegung wird noch im weiteren Verlauf dieser Darstellung die Rede sein. Die vom Führungsstab der Armia Krajowa unternommenen Zentralisierungsbestrebungen kamen nur langsam voran; was ihre quantitativen Ergebnisse betrifft, so lassen sie sich mit hinreichender Genauigkeit nicht beziffern. Nach Schätzungen vereinigte die Landesarmee im Sommer 1944 250 000-350 000 Mann; nach den Angaben einiger Autoren waren es sogar 380 000.8 Diese Zahlen entstammen Aushebungslisten. Die Armia Krajowa war die zahlenmäßig stärkste polnische Widerstandsorganisation. Jedoch war nur ein Bruchteil der Armeeangehörigen aktiv am unmittelbaren Kampf gegen die Okkupanten beteiligt. Ihre wichtigste Zielstellung erblickte die AK in einem landesweiten nationalen Aufstand, der im Moment des deutschen Zusammenbruchs beginnen sollte. Im Ergebnis des Aufstandes sollten die von der Landesarmee getragenen, in Polen befindlichen Organe der Londoner Exilregierung die Macht übernehmen. Die Armia Krajowa sollte als Basis für den Wiederaufbau der Divisionen und Regimenter der polnischen Vorkriegsarmee dienen. Diese Aufgaben waren im Statut der AK im einzelnen festgelegt; an den Plänen zu ihrer Realisierung arbeiteten die Stäbe dieser Organisation. Im Sinne einer solchen Konzeption erfolgte der Ausbau der Landesarmee. Die zahlenmäßige Stärke dieser Armee war die Frucht der organisatorischen Arbeit ihrer Schöpfer und Anführer, zugleich ein Beleg f ü r die patriotische Haltung der großen Schar derer, die ihr angehörten. Im wesentlichen waren es patriotische und gegen die Besatzer gehegte Haßgefühle, die diese Organisation 7
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Sanocja,A. (Pseud.: Kortum), Struktura aparatu scalania organizacji wojskowych w ZWZ-AK w latach 1940-1944 (Die Struktur des Apparates zur Zusammenfassung der militärischen Organisationen im ZWZ-AK in den Jahren 1940-1944), Maschinenschr. Ms. Bör-Komorowski, T., Armia podziemna (Die Untergrundarmee), London 1950, S. 29.
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zusammenhielten; darüber hinaus verstand es insbesondere die Jugend, eine Atmosphäre zu schaffen, die von militanter Romantik und einer geradezu fanatischen Begierde auf Konfrontation mit den Okkupanten erfüllt war. Aus solchen Voraussetzungen erwuchs der AK ein großes Kräftepotential, das f ü r den Kampf um die Befreiung Polens tatsächlich nur partiell genutzt wurde und zum Teil infolge der Politik der Londoner Regierung und ihrer mit dem AKFührungsstab zusammenwirkenden Organe im Lande brachlag. Davon zeugten die Losungen vom „begrenzten Krieg" und die Parole, daß man „Gewehr bei Fuß" stehen müsse (Informationsbulletin vom 11. Februar und 1. April 1943).9 Eine derartige Politik brachte die AK in Gegensatz zum Hauptmerkmal des gegen Hilterdeutschland geführten Krieges, nämlich der Einheit der Antihitlerkoalition, und machte aus dieser Armee ein Instrument des Kampfes um die Macht, das nicht nur gegen das faschistische Deutschland, sondern auch - gegen den Willen vieler Armeeangehöriger - (natürlich nur politisch und nicht etwa auch militärisch) gegen die UdSSR gerichtet war, gegen ein Land, zu welchem sich die Londoner Regierung in den Jahren 1943 bis 1945 in einem sehr gespannten Verhältnis befand. Der Tatsache, daß sie in eine derartige Lage hineinmanövriert wurde, hatte die Armia Krajowa in den Jahren 1944 bis 1945 eine ganze Reihe spektakulärer Mißerfolge zuzuschreiben. Das gravierendste Fiasko, das sie erlitt, war der im August und September 1944 in Warschau durchgeführte bewaffnete Aufstand. Mit solchen Niederlagen wurde die Kampferfahrung, die die AK unter außergewöhnlich schwierigen Bedingungen in mehreren Jahren hatte sammeln können, sinnlos vergeudet. Und wieviel Leid und bitteres persönliches Erleben waren damit verknüpft, wobei sich die AK-Soldaten in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit über die politische Situation, in der sich ihre Armee infolge der Politik der Regierung befand, nicht im klaren waren. Es war dies auch eine Folge des laut proklamierten unpolitischen Charakters der Landesarmee, was in der Praxis darauf hinauslief, daß die politischen Aufgabenstellungen auf den Bereich der politischen Führung beschränkt blieben und daß man die Masse der Soldaten von der Politik fernzuhalten suchte. Dies zog viele Konsequenzen nach sich. Hätte es sich um eine reguläre kasernierte Armee mit einheitlicher Disziplin gehandelt, so könnte man sich eine erfolgversprechende Verwirklichung einer solchen Konzeption notfalls vorstellen. Das war jedoch f ü r ein 300 000 Mann starkes räumlich verteiltes Partisanenheer völlig unangebracht, zumal unzählige Bande die Soldaten mit der Gesellschaft und ihren Problemen verknüpften. Wiewohl der einfache Soldat in die komplizierten internationalen Probleme und in die Außenpolitik der polnischen Exilregierung kaum Einbilck haben kannte, so wurde er doch von den einzelnen politischen Gruppierungen des Untergrundes und von den dort miteinander zerstrittenen Parteien beeinflußt, was sich auf die Geschlossenheit der Armee destruktiv auswirken mußte. Dieses Erscheinungsbild nahm infolge der in früheren Jahren im Rahmen der Zentralisierungsaktion vorgenommenen Integration verschiedenartiger Gruppen in die AK besonders krasse Züge an. Als 9
Vgl. Sztumberk-Rychter, Warszawa 1966, S. 137 f.
T., Artylerzysta
piechurem
(Der
Infanteriekanonier),
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weitere Faktoren beeinträchtigten den inneren Zusammenhalt der Landesarmee ihre heterogene soziale Zusammensetzung, das unterschiedlich stark ausgeprägte politische Bewußtsein und das unterschiedliche Bildungsniveau sowie die V e r teilung auf größere geographische R ä u m e (aus letzterem Umstand resultierte ein allzu s t a r k e r Einfluß lokaler Gegebenheiten, ein ü b e r G e b ü h r ausgeprägtes „Lokalkolorit"). Das f ü h r t e angesichts des durch den Besatzungsterror erschwerten Nachrichtenwesens, der nicht i m m e r richtigen Übermittlung von Befehlen und Meldungen und auf G r u n d der Tatsache, d a ß durch V e r h a f t u n g e n Lücken in die Kontinuität der F ü h r u n g gerissen wurden, zu einer abstrusen Autonomie u n d zur Lockerung der organisatorischen Disziplin. In diesem Zusammenhang erhielten übrigens auch die persönlichen Ambitionen örtlicher K o m m a n d e u r e eine nicht unerhebliche Bedeutung. Ein hervorragende Rolle spielte in der Armia K r a j o w a die polnische Intelligenz; ihre Mitwirkung verlieh der Arbeit verschiedener S t ä b e und Zellen hohes Niveau. Mit Hilfe des Fachwissens polnischer Spezialisten w u r d e so manche komplizierte Aufgabe erfolgreich gelöst, w a s z. B. den Erhalt von Informationen ü b e r die deutschen „Vergeltungs"waffen V 1 u n d V 2 betrifft (wovon noch die Rede sein wird). Die F ü h r u n g der AK lag in den Händen von Offizieren der polnischen Vorkriegsarmee. Diese Offiziere w a r e n n a t u r g e m ä ß Träger bestimmter Formen militärischen u n d politischen Handelns; hinzu k a m noch, d a ß sie i h r e in der regulären Armee entwickelten Anschauungen und Gewohnheiten während d e r Okkupationszeit allzu mechanisch auf die U n t e r g r u n d a r m e e übertrugen. Sie k n ü p f t e n an die Pilsudski-Tradition an u n d forderten damit die Vertreter d e r AntiPilsudski-Opposition zur Kritik heraus, was nicht selten zu Konfliktsituationen f ü h r t e . Ins Gewicht fiel hierbei auch die Schuld, die militärische Kreise aus der Vorkriegszeit der Pilsudski-Partei a n d e m 1939 verlorenen Krieg anlasteten. Probleme w i e die Abneigung gegen die beiden großen Nachbarn Polens, die Vorstellung, die A r m e e h a b e unpolitisch zu sein, die Tendenz, den Militärs den entscheidenen Einfluß auf diePolitik zu verschaffen, die angestrebte Wiederherstellung d e r S t r u k t u r der Vorkriegsstreitkräfte, mangelnde politische Elastizität u n d das Unvermögen, sich auf die Realitäten einzustellen, der aus Unfähigkeit geborene Versuch, allen Schlußfolgerungen, die es aus dem Septemberdebakel zu ziehen galt, auszuweichen, das apologetische Verhältnis zur Vergangenheit - all dies w a r auf den Umstand zurückzuführen, daß es die Repräsentanten der Vorkriegsarmee waren, die die A K befehligten. D a r a n k o n n t e auch die Anti-Pilsudski-Haltung Sikorskis u n d seiner Regierung nichts ändern. Durch eine solche Einschätzung werden die Verdienste, die sich die A K im Kampf gegen die O k k u p a n t e n erwarb, keineswegs geschmälert, u n d es soll damit nicht etwa die Lauterkeit der patriotischen Absichten, die viele A K - F ü h r e r verschiedener Befehlsebenen verfolgten, in A b r e d e gestellt werden. An der Spitze der Landesarmee stand der Chef des Oberkommandos. Von Beginn des J a h r e s 1940 an f u n g i e r t e als solcher der Oberst und spätere General Stefan Rowecki (Pseudonyme: Grot, Grabica, Rakoti, Kaiina; geb. 1895), d e r vor dem Krieg und im September 1939 die Warschauer Panzer- und Motschützenbrigade befehligte und im Oktober 1939 seine Tätigkeit im U n t e r g r u n d f o r t -
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setzte. Jan Rzepecki, Mitglied des AK-Führungsstabes, charakterisiert ihn wie folgt: „In seiner exponierten Stellung, die ihn zu einer mit scheelen Blicken überwachten unpolitischen Haltung verpflichtete, befand sich Rowecki unter der politischen Kuratel nicht nur seitens des Beauftragten (der Londoner Regierung - T. J.), sondern zumindest auch unter der Aufsicht der vier wichtigsten, miteinander rivalisierenden Parteien (der sog. starken Vier: der Nationalen Partei, der Partei der Arbeit, der PPS und der Volkspartei) und war im Grunde von ihnen abhängig. Jeder Konflikt mit einer dieser Parteien barg die Gefahr in sich, daß er Sikorski hinterbracht werden, es zu inoffiziellen Intrigen in Polen und in der Emigration kommen konnte. So erschwerte man ihm - Rowecki außerordentlich die Durchführung der Aufgaben, die ihm Sikorski übertragen hatte, speziell auch den Auftrag, sämtliche in Polen existierenden militärischen Verbände der AK zu unterstellen. Zahlreiche Verhandlungen mußte er führen, Zugeständnisse machen und Kompromisse schließen und vielen Menschen mit dem gebotenen Takt Absagen erteilen - und all das in einer Atmosphäre heimtückischer Verdächtigungen. Welch einer Charakterfestigkeit bedurfte es da doch, reinen Gewissens durch dieses Dickicht von Intrigen hindurchzukommen und Vertrauen zu erwerben. Und alles mußte er zuwege bringen, während er von seinen Vorgesetzten, vom obersten Befehlshaber und vom Hinterland halb isoliert war. . . . Auf der anderen Seite war General Rowecki - Heerführer, der er immerhin war - niemals in die Lage versetzt, seine Soldaten und die untersten Anführer zu Gesicht zu bekommen oder die Durchführung seiner Befehle kontrollieren und sich unmittelbar vor Ort vom Stand der Dinge überzeugen zu können. Freilich geschah es ein- oder zweimal im Jahr, daß er Regionalkommandeure zum Rapport zu sich rief, aber selbst dieser flüchtige Kontakt kam nur unter großen Schwierigkeiten zustande. So gelang es dem Kommandanten des Heeresbezirks Bialystok nicht ein einziges Mal, sich nach Warschau durchzuschlagen. . . . General Rowecki figurierte innerhalb der polnischen Widerstandsbewegung natürlich nicht als eine Art Jungfrau von Orleans, der man Denkmäler hätte bauen müssen, noch auch ebnete er bewußt der Reaktion den Weg; dafür aber entwickelte er diktatorische Ambitionen (wenigstens wurde ihm dies vorgeworfen). Er war ein Heerführer von echtem Schrot und Korn, ein Mensch, wie er leibt und lebt, er war je nach der Art der Ereignisse und unter dem Einfluß häufigerer Kontakte mit einigen Führern des Untergrundes in Hochform oder auch Krisen ausgesetzt. Aber man kann ihn nicht an Hand willkürlich herausgegriffener Passagen in Depeschen oder mit Hilfe von Buchzitaten oder auf Grund einzelner Aussagen, die nicht immer ganz wahrheitsgemäß wiedergegeben werden, beurteilen. Zum Maßstab muß man da vor allen Dingen seine Taten nehmen, und diese belegen nun freilich seine über jeden Zweifel erhabene Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit im Umgang mit anderen Menschen, ferner seine Charakterstärke und seine kompromißlose Haltung, die er den Invasoren gegenüber bewies und mit seinem Leben bezahlte."10 Am 30. Juni 1943 wurde General Rowecki von den Deutschen verhaftet, an10
Rzepecki, J., Wspomnienia i przyczynki historyczne (Erinnerungen und historische Beiträge), Warszawa 1956, S. 1 8 0 - 1 8 2 .
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schließend in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, wo er w a h r scheinlich 1944 hingerichtet wurde. Roweckis Nachfolger als oberster Befehlshaber der Landesarmee w a r von Juli 1943 bis Oktober 1944 General Tadeusz Bör-Komorowski (Pseudonyme: Bor, Korczak, Zawisza, Znicz; 1895-1966). Nachdem er nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im Oktober 1944 in deutsche Gefangenschaft geraten war, ü b e r n a h m f ü r kurze Zeit General Leopold Okulicki (Pseudonyme: Kobra, Niedzwiadek, K u l a ; 1898-1946) den AK-Oberbefehl. Das Oberkommando der Armia K r a j o w a w a r ein umfassend ausgebautes F ü h rungsorgan mit m e h r als 30 Zellen, von denen ein Teil wiederum in Unterabteilungen zerfiel. Entsprechend der f ü r die A r m e e festgelegten vorrangigen A u f gabenstellung beschäftigte sich das Oberkommando mit der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes. Außerdem w u r d e in der Oberkommandozentrale f ü r den laufenden Kampf der (Komenda Glöwna) Kierownictwo Walki Podziemnej (Führungsstab f ü r den Partisanenkrieg - KWP) gebildet. Dem K W P w u r d e das bis dahin selbständige, im Bereich d e r Delegatur befindliche Kierownictwo Walki Cywilnej (Leitungsorgan f ü r den Zivilkampf - KWC) unterstellt, zu dessen Kompetenzbereich w i e d e r u m das Biuro Informacji i Propagandy und Kierownictwo Dywersji (Information»- u n d Propagandabüro und die Diversionsleitung - Kedyw) gehörten. Kedyw b e f a ß t e sich mit der Diversion und der Liquidierung von Gestapofunktionären und f ü h r t e die Aktion „Wachlarz" (Palette) 1941 bis 1943 durch; dabei handelte es sich u m Diversionstätigkeit, die östlich d e r 1939 gezogenen polnischen Ostgrenze zur Unterstützung der S o w j e t a r m e e betrieben wurde. Dem K e d y w unterstanden die AK-Abteilungen „Baszta", „Zoska" u n d „Parasol". Dem AK-Oberkommando unterstanden unmittelbar drei geographische Regionen: Bialystok/Lwöw im Osten, Poznari/Pomorze im Westen sowie die acht Distrikte Warschau-Stadt, Wojewodschaft Warschau sowie die Wojewodschaften Kielce, Lodz, Krakow, Sl^sk (Schlesien), Lublin u n d Wilno (Vilnius). Die Regionen und Distrikte w u r d e n von Führungsstäben geleitet, die in i h r e r S t r u k t u r etwa d e m AK-Oberkommando entsprachen. Das organisatorische Gefüge blieb nicht immer unverändert, so daß die oben gemachten Angaben n u r Orientierungscharakter haben u n d eher auf die Endphase der Okkupationszeit zutreffen. Das oberste F ü h r u n g s g r e m i u m als auch die untergeordneten Befehlszentralen und -abteilungen der AK leisteten eine sehr breit angelegte Arbeit. Sie kooperierten mit den politischen Zentralen und den Verwaltungsorganen der Londoner Regierung, f ü h r t e n die Vereinigungsaktion durch, sammelten u n d produzierten Sprengstoff, betrieben gegen die O k k u p a n t e n gerichtete Diversionsaktionen, liquidierten Gestapoleute, Polizeispitzel u n d V e r r ä t e r am polnischen Volk, organisierten in den J a h r e n 1943 und 1944 eine Partisanenaktion, leisteten J u d e n auf breiter Basis Hilfe, arbeiteten mit dem Jüdischen K a m p f v e r b a n d da zusammen, wo er einen aktiven Kampf f ü h r t e , entfalteten eine antideutsche Kundschafter^ tätigkeit (die den Alliierten wertvolle Dienste leistete), unterhielten F u n k - und Kurierverbindungen mit der Exilregierung, schufen Landeplätze f ü r alliierte Flugzeuge, die Menschen und Material f ü r den Partisanenkampf an Bord hatten. Großes Gewicht w u r d e der Propagandatätigkeit in d e r polnischen Öffentlichkeit
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und bei den Deutschen (der sog. Aktion N) beigemessen, und man hielt Kontakt mit den in den Konzentrationslagern und in den Lagern für polnische Kriegsgefangene bestehenden Konspirationsstellen sowie mit den nach Deutschland deportierten Zwangsarbeitern. Man stellte gefälschte Personaldokumente her, wodurch es vielen Menschen möglich wurde, sich innerhalb Polens frei zu bewegen bzw. zu überleben. Uber die Situation in Polen und über die Aktivitäten der Besatzer wurde die Exilregierung genau informiert. Die Mittel, deren die AK für ihre Tätigkeit bedurfte, erhielt sie in erster Linie von der Regierung; zum Teil verschaffte sie sich diese Mittel auch im Kampf von den Okkupanten. In der Mehrzahl wurden Aufgaben dieser Art während des sog. laufenden Kampfes erledigt, während man sich vor allem auf die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes konzentrierte. Für den Aufstand arbeiteten Stäbe verschiedener Ebenen, und für denselben Zweck wurden auch Leute ausgebildet. Mit der Arbeit an der Planung und Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes begann das AK-Oberkommando Anfang 1940. Ausgelöst werden sollte der Aufstand in dem Moment, in dem die deutsche Armee zerbrechen würde. Geplant waren in der Hauptsache der Angriff auf städtische Ballungsgebiete und die Besetzung der wichtigsten militärischen, Verwaltungs-, Verkehrs- und Wirtschaftsobjekte, wobei man von der Unterstützung durch alliierte Luftlandetruppen und Seestreitkräfte ausging. Nach der siegreichen Beendigung des Aufstandes und nach erfolgter militärischer Besetzung des Landes sollten die polnischen Streitkräfte wieder in der Weise formiert werden, wie sie am Vorabend des zweiten Weltkrieges bestanden hatten. Die 1943 von der Roten Armee gegen die faschistische Wehrmacht erzielten Erfolge ließen das AK-Oberkomando die Möglichkeit einkalkulieren, daß Polen durch die Rote Armee und nicht - wie man es zu Beginn des Krieges erwartete durch die Westalliierten befreit werden würde. Angesichts dieser Lage wurde die Aufstandsplanung abgeändert. Zu dem bereits ausgearbeiteten Plan A trat die neue Variante B. Beide zusammen erhielten die Tarnbezeichnung „Burza" (Gewittersturm). Der Plan sali anstelle eines allgemeinen bewaffneten Aufstandes eine intensive Diversionstätigkeit im Hinterland der im Rückzug begriffenen deutschen Armee vor. Damit wollte man mögliche Zerstörungen seitens der Hitlerarmeen verhindern und die Rechte Polens auf seine Ostgebiete ad oculos demonstrieren: in diesen Gebieten nämlich sollte die Diversionstätigkeit der AK besonders aktiv betrieben werden. Die örtlichen AK-Kommandeure und die Vertreter der illegalen polnischen Zivilverteidigung sollten gegenüber den einmarschierenden sowjetischen Truppen als Hausherren dieser Gebiete auftreten. So verfolgte man mit dem „Burza"-Projekt vorrangig politische Ziele: der Londoner Regierung sollte damit die Machtergreifung auf dem Terrain des durch die Sowjetarmee befreiten Polen ermöglicht werden. 11 Anfang 1944 schickten sich einige Abteilungen der Landesarmee an, den Plan „Burza" in die Tat umzusetzen. Was die Bauernbataillone angeht, so operierten 11
Vgl. Sprawa polska w czasie drugiej wojny swiatowej na arenie miqdzynarodowej. Zbiör dokumentöw (Polen während des zweiten Weltkrieges aus weltpolitischer Sicht. Dokumentensammlung), Warszawa 1965, S. 411-413.
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sie - trotz partieller Verbindung mit der AK - doch weiterhin ziemlich auf eigene Faust. 1940 u n t e r dem Namen „Chlosta" (Bauernwehr) gegründet, änderten sie ihn in „Bauernbataillone" ab. Sie w a r e n der Volkspartei angeschlossen; in ihren Reihen f a n d e n sich in besonders großer Zahl die Mitglieder des Landjugendverbandes „Wici" (Die Heerscharen). C h e f k o m m a n d e u r der Bataillone w a r Franciszek Kaminski; als Stabschef fungierte Kazimierz Banach und als dessen Nachfolger S. Koter. Organisatorisch gliederten sie sich in 10 Distrikte: I - Warschau-Stadt; II - Wojewodschaft Warschau; III - Kielce; IV - Lublin; V - Lodz; VI - Krakow/Rzeszöw/Sl^sk; VII - Bialystok; VIII - Wolhynien; IX - Lwöw, Stanislawöw, Tarnopol; X - Poznan. Hauptkampfgebiet der Bauernbataillone w a r das Dorf. Sie verteidigten Dörfer, deren Bewohner ausgesiedelt worden waren, und stellten Lebensmittelkontingente sicher, die von d e n deutschen O k k u p a n t e n beschlagnahmt worden waren. Im Sommer 1944 u m f a ß t e n sie 70 Partisanenabteilungen; insgesamt r e k r u t i e r t e sich der Verband aus etwa 150 000 Mann. Davon ging ein Drittel im Zuge d e r Vereinigungsaktion zur Landesarmee über, ein Teil (speziell in der Gegend u m Lublin) schloß sich der Volksarmee an, der Rest blieb selbständig. Die Bauernbataillone f ü h r t e n zahlreiche gelungene Partisanenaktionen durch. Wenn m a n bedenkt, daß die ländliche Bevölkerung in den f r ü h e r e n polnischen Gebieten zahlenmäßig überwog, und sich auch die reichen Traditionen der radikalen Bauernbewegung vergegenwärtigt, d a n n gelangt m a n zu dem Schluß, daß die Bauernbataillone eine ganz eminente, oft nicht gebührend gewürdigte Rolle spielten.
4. Die revolutionäre
Linke - die Polnische
Arbeiterpartei
Die beiden wichtigsten Probleme, die es in d e r nächsten Z u k u n f t f ü r Polen zu lösen galt und die der Londoner Block nicht zu lösen imstande w a r - nämlich die ökonomische u n d gesellschaftliche Umwälzung Polens und die Anpassung der Außenpolitik des Landes an die Situation, die sich in Mitteleuropa neu herauszubilden begann - , n a h m die am 5. J a n u a r 1942 in Warschau gegründete Polska Partia Robotnicza (Polnische Arbeiterpartei - PPR) in Angriff. Ihre Vorgängerin, die Kommunistische Partei Polens, w a r auf Beschluß des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale 1938 aufgelöst worden. Diese Entscheidung w a r - wie sich später herausstellen sollte - völlig ungerechtfertigt, da sie sich auf falsche Bezichtigungen stützte; sie w u r d e 1956 f ü r null und nichtig erklärt. So gab es in den J a h r e n 1938 bis 1941 in Polen keine K o m m u nistische P a r t e i ; es arbeiteten zu dieser Zeit dort n u r ca. 100 kleine G r u p p e n und Organisationen mit insgesamt einigen tausend Mitgliedern. Die wichtigsten seien im folgenden g e n a n n t : In Warschau w a r e n es Sierp i Mlot (Hammer und Sichel); Stowarzyszenie Przyjaciöl ZSRR (Gesellschaft der Freunde der UdSSR); der Zwi^zek Walki Wyzwolenczej (Bund f ü r den Befreiungskampf); in Lodz Front Walki za Naszq i Waszq WolnoSc ( K a m p f f r o n t f ü r unsere und eure Freiheit); in Poznan das KPP-Bezirkskomitee; in Rzeszöw und Umgebung Czyn Chlopsko-Robotniczy (Arbeiter- und Bauerntat); in Lublin und Umgebung der
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Robotniczo-Chlopska Organizacja Bojowa ( K a m p f b u n d der A r b e i t e r u n d B a u e r n ) ; in K r a k a u u n d U m g e b u n g Polska Ludowa (Volkspolen). Einige z u r K P P gehörige Organisationen lösten sich - entgegen d e r K o m i n t e r n - W e i s u n g - nicht auf u n d setzten ihre Tätigkeit fort. Nahezu all diese G r u p p e n f a n d e n sich s p ä t e r in den Reihen der P P R w i e d e r zusammen, obwohl diese Integration u n t e r d e n Beding u n g e n der Konspiration n u r schrittweise erfolgen konnte. Die Gründling der P P R im J a h r e 1942 erfolgte nach d e r Billigung des E x e k u t i v komitees der K o m i n t e r n . E n d e Dezember 1941 u n d A n f a n g J a n u a r 1942 k e h r t e n aus der UdSSR zwei G r u p p e n kommunistische? F u n k t i o n ä r e nach Polen zurück, die in d e r N ä h e von Warschau aus sowjetischen Flugzeugen m i t Fallschirmen a b gesetzt w u r d e n . Auf diese Weise gelangten nach P o l e n : Marceli Nowotko, P a w e l Finder, J a k u b Aleksandrowicz, Anastazy Kowalczyk, A u g u s t y n Mical, Boleslaw Molojec, L u c j a n P a r t y n s k i , Czeslaw Skoniecki, R o m a n Sliwa u. a. Die F ü h r u n g s spitze bildeten drei Genossen: Nowotko, F i n d e r u n d Molojec. A m 5. J a n u a r 1942 f a n d in Warschau die G r ü n d u n g s v e r s a m m l u n g d e r P P R statt. Sie beschloß einen programmatischen A u f r u f „An die Arbeiter, die B a u e r n u n d die Intelligenz! A n alle polnischen Patrioten!", d e r k u r z darauf b e k a n n t g e m a c h t w u r d e . Dieser A u f ruf enthielt eine Kritik d e r Regierungen Polens zwischen den b e i d e n Weltkriegen u n d m a c h t e sie f ü r die S e p t e m b e r t r a g ö d i e u n d deren Konsequenzen v e r a n t w o r t lich. Das polnische Volk w u r d e darin a u f g e f o r d e r t , z u s a m m e n m i t d e r R o t e n A r m e e aktiv gegen die O k k u p a n t e n zu k ä m p f e n ; w e i t e r w u r d e n die faschistischen Verbrechen a m polnischen Volk u n d a n den J u d e n g e b r a n d m a r k t . D e r A u f r u f p r o k l a m i e r t e den Zusammenschluß aller K r ä f t e f ü r den K a m p f gegen die Besatzer bis zu einem gesamtnationalen b e w a f f n e t e n A u f s t a n d u n d die Bild u n g einer nationalen Front, d i e alle P a t r i o t e n u m f a s s e n w ü r d e . In dieser F r o n t gäbe es keinen Platz f ü r V e r r ä t e r u n d K a p i t u l a n t e n . Als programmatisches Ziel v e r k ü n d e t e die P P R , d a ß sie die Bildung eines polnischen Staates anstrebe, „in dem das Volk selbst ü b e r sein Schicksal entscheiden" u n d in d e m „der Boden dem polnischen B a u e r n gehören" werde. Dieser S t a a t w e r d e „dem V o l k e Brot, Freiheit u n d F r i e d e n sichern". 12 Die neugebildete Polnische A r b e i t e r p a r t e i ü b e r n a h m einen beträchtlichen Teil d e r f r ü h e r e n K P P - K a d e r ; sie propagierte die I d e e d e r gesellschaftlich-ökonomischen U m w ä l z u n g in antibourgeoiser u n d a n t i f e u d a l e r Stoßrichtung u n d v e r k ü n d e t e i h r e Solidarität mit d e r Sowjetunion. In diesem S i n n e setzte sie die politische u n d ideologische Linie d e r K P P insbesondere in d e r Zeit nach d e m VII. K o n g r e ß der Kommunistischen Internationale 1935 fort, als die K P P offiziell dogmatische Anschauungen zurückgewiesen u n d namentlich die sog. M e h r h e i t l e r (Maria Koszutska-Kostrzewa, Adolf Warszawski-Warski, Maksymilian HorwitzWalecki u. a.) den v o r dem 2. K P P - P a r t e i t a g (1923) konzipierten I d e e n u n d Thesen w i e d e r G e l t u n g verschafft h a t t e n . Zugleich b r a c h t e die P P R in die k o m munistische Bewegung viele n e u e Aspekte ein, v o r allem ein neues, eindeutig positives Verhältnis z u r staatlichen U n a b h ä n g i g k e i t Polens. Von d e r f r ü h e r e n K P P unterschied sie sich dadurch, d a ß sie d e n patriotischen G e f ü h l e n d e r polu
Czeszko, B., Trzydzieäci lat temu (Dreißig Jahre ist es her), in: Nowe Drogi, 1972, 1, S. 226 f.
23 Jahrbuch 23
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nischen Gesellschaft Verständnis entgegenbrachte und nicht durch Sektierertum belastet war, ferner durch einen neuen Standpunkt in der Frage der politischen Bündnispartner. Die von der PPR konzipierte nationale Front w a r die f ü r das seinerzeitige Polen breiteste Plattform. Auch durch die konziliantere Sprache, in der sich die PPR an die Öffentlichkeit wandte, unterschied sich der Aufruf von einigen früheren Dokumenten der KPP. Die Partei unterstützte die Politik der Londoner Exilregierung, die am 30. Juli 1941 zum Abschluß eines Vertrages mit der UdSSR geführt hatte. Im Gegensatz zu den „Londonern" und zu dem Standpunkt, den die führenden Kreise des auf London fixierten polnischen Untergrundes einnahmen, plädierte sie f ü r einen aktiv zu führenden bewaffneten Kampf gegen die faschistischen Eindringlinge, um die Rote Armee zu unterstützen. Im Gegensatz zu den Viererratsparteien, der Delegatur und der Landesarmee forderte die PPR, daß sich Polen in gesellschaftlich-politischer Hinsicht grundlegend vom polnischen Staat der Zwischenkriegszeit unterscheiden müsse. Die Formulierung dieser Leitlinien w a r im J a n u a r Aufruf noch nicht polemisch gegen den Londoner Block gerichtet und schlug auch die Tür zu Gesprächen und Ubereinkünften nicht zu. In vieler Beziehung wich die PPR jedoch von London ab, und diese Unterschiede prägten sich mit der Zeit immer stärker aus. Die Gründung der PPR signalisierte das allmähliche Ende der Monopolstellung, die der Londoner Block innerhalb des Widerstandes innehatte. Es zeichnete sich - in Gestalt einer organisierten politischen K r a f t eine neue Richtung ab, die in den Jahren 1939 bis 1941 erst im Keim vorhanden gewesen war, jedoch nunmehr, in einer gewandelten Situation, sprunghaft an Bedeutung gewann. Sekretär der Zentralkomitees der PPR wurde Marceli Nowotko (Pseudonyme: Marian, Stary; 1893-1942), ein langjähriger Funktionär der revolutionären Arbeiterbewegung, Mitglied der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens und später der Kommunistischen Partei Polens. Als Mitglied des Landessekretariats der K P P wurde er 1935 verhaftet und zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt (da die K P P im Vorkriegspolen illegal war). 1939 entrann er dem Gefängnis und schlug sich bis in die UdSSR durch, von wo er im Dezember 1941 zurückkehrte, u m die Leitung der Polnischen Arbeiterpartei zu übernehmen. Jadwiga Sabina Ludwinska entwarf von Marceli Nowotko folgendes Bild: „In Erstaunen setzte er uns durch seine vielseitigen Interessen, seinen weiten Horizont, innerhalb dessen sich seine Gedanken bewegten, seine überragende Kenntnis von der Geschichte des polnischen Volkes und seiner Bestrebungen. Mit den einfachen polnischen Menschen w a r er organisch verbunden, was ihm bei der richtigen Wahl der Kampftaktik und der entsprechenden Losungen und Programmpunkte zustatten k a m . . . Zuzeiten versetzten ihn unsere theoretischen Spekulationen in Unwillen. Er warf uns in solchen Augenblicken vor, daß wir vergessen hätten, die aktuelle Situation in Polen dabei einzukalkulieren... In ihm steckte ein schier unerschöpflicher Reichtum an Gefühlen und ein Gespür f ü r das künstlerische Wort, f ü r Poesie und Musik." 13 Die PPR konnte sich auf bereits vorhandene, erfahrene kommunistische Kader 13
Ludwinska, J. S., Drogi i ludzie (Wege und Menschen), 1969.
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stützen, und die Ausdehnung der Partei auf ganz Polen schritt zügig voran. Bereits vom 1. Februar 1942 an erschien jeweils vierzehntägig das Presseorgan des ZK der PPR „Trybuna Wolnosci" (Tribüne der Freiheit). Die Auflage der Zeitung erhöhte sich mittlerweile und erreichte schließlich 5 000 Exemplare. Während der Okkupation kamen insgesamt 61 Nummern heraus. Die PPR-Führung machte sich ohne Verzug an den Aufbau der bewaffneten Formation Gwardia Ludowa (Volksgarde). Dieser Aufgabe widmete sich im Rahmen des Zentralkomitees Boleslaw Molojec. Am 10. Mai 1942 war die erste Partisanenabteilung der Volksgarde kampfbereit. Marceli Nowotko, Sekretär des ZK der PPR, blieb bis zu der im Jahre 1943 erfolgten Auflösung der Komintern mit dem Exekutivkomitee der Internationale und dem Komintern-Sekretär Georgi Dimitroff in Moskau in Verbindung. In Depeschen berichtete er im Juni 1942, daß die PPR inzwischen 4 000 Mitglieder zähle und ihre Tätigkeit erweitere. Auch informierte er über die Aufnahme des aktiven Partisanenkampfes.14 Die Gründung der PPR wurde vom Londoner Block heftig kritisiert. Dessen Untergrundpresse bemühte sich, die kommunistische Bewegung zu verunglimpfen, indem sie ihr vorwarf, sie vertrete fremde Interessen. Die PPR ihrerseits betrieb - obschon sie der Polemik nicht auswich eine Politik, die eine Verständigung mit den Londonern nicht von vornherein ausschloß, zumal da ja der polnisch-sowjetische Vertrag vom 30. Juli 1941 sowie die Deklaration vom 14. Dezember 1941 in Kraft getreten waren und in der UdSSR ein polnisches Armeekorps unter der Leitung von General Anders aufgestellt wurde. Alle diese Schritte, die die Sikorski-Regierung im Einklang mit der UdSSR unternommen hatte, fanden seitens der PPR ungeteilte Zustimmung. Am 28. November 1942 wurde Marceli Nowotko ermordet. Die genaueren Umstände sind bis zum heutigen Tage noch nicht völlig aufgeklärt. So viel ist sicher, daß Nowotko von der Hand Zygmunt Molojecs starb, der dazu wiederum von seinem Bruder Boleslaw angestiftet wurde (Boleslaw Molojec gehörte zu den drei PPR-Führern und war de facto Oberkommandierender der Volksgarde). Von den verschiedenen Hypothesen, die in dieser Angelegenheit aufgestellt wurden (Desinformation, persönliche Rivalität), scheint die Vermutung, daß die Ursache dieses Vorfalles in einem Mißverständnis mit tragischer Folgewirkung zu suchen sei, noch am ehesten zuzutreffen.16 Zygmunt und Boleslaw Molojec wurden übrigens durch ein Parteigericht zum Tode verurteilt. Nowotkos Nachfolger wurde der Chemieingenieur Pawel Finder (1904-1944). Vor dem Kriege gehörte er dem ZK der KPP an; wegen kommunistischer Betätigung wurde er 1934 zu Gefängnishaft verurteilt, in der er sich bis 1939 befand. In ,4
15
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Korespondencja miqdzy sekretarzami PPR a sekretarzem generalnym Miqdzynarodöwki Komunistycznej. Wydanie Wojskowej Akademii Politycznej (Die zwischen den Sekretären der Polnischen Arbeiterpartei und dem Generalsekretär der Kommunistischen Internationale geführte Korrespondenz. Veröffentlichung der Politischen Militärakademie), Warszawa 1967, Maschinenschr. vervielf. Madajczyk, Cz., Powstanie PPR w swiadomosci wspöltwörcöw (Die Gründung der Polnischen Arbeiterpartei aus der Sicht ihrer Mitschöpfer), in: Nowe Drogi, 1972, 1, S. 241.
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einem an Dimitrofi gerichteten Telegramm teilte Finder am 12. Januar 1943 mit, daß die PPR bereits im ersten Jahr ihres Bestehens auf 8 000 Mitglieder angewachsen sei.16 Am 18., 22. und 25. Februar 1943 fanden Gespräche zwischen Vertretern der PPR und Vertretern der Delegatur und der AK statt. Während dieser Kontaktaufnahme schlug die PPR vor, den Kampf gegen die Deutschen gemeinsam zu führen und zu aktivieren, die Volksgarde unter Vorbehalt ihrer Autonomie in die AK zu integrieren, sich gemeinsam um die Bildung einer aus den im besetzten Lande illegal tätigen Parteien bestehenden Untergrundregierung in Polen zu bemühen (allerdings unter Ausschluß der Pilsudski-Leute und der extremen Rechten [ONR]). Die Gespräche blieben jedoch ergebnislos, eine Ubereinkunft wurde nicht erzielt. Am 1. März 1943 veröffentlichte das ZK der PPR die Deklaration „Wofür wir kämpfen". Ausgehend von dem Sieg der Roten Armee bei Stalingrad wurde darin die baldige Befreiung Polens vorausgesagt. Das ZK stellte fest, daß sich der Kampf gegen die Okkupanten in Polen verstärkt habe, und forderte, nach der Befreiung unverzüglich die Anordnungen der deutschen Besatzungsbehörden außer Kraft zu setzen und allen, die in Gefängnisse, Lager und Ghettos gesperrt worden waren, die Freiheit zurückzugeben, eine neue provisorische Regierung zu bilden und eine aus Wahlen hervorgegangene gesetzgebende Versammlung einzuberufen. Es verlangte ferner diejenigen, die die Niederlage im September 1939 verschuldet hatten, gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen, Banken und Betriebe der Großindustrie zu verstaatlichen, den über 50 ha hinausgehenden Großgrundbesitz entschädigungslos zugunsten der Kleinbauern und Landarbeiter zu enteignen sowie einen Plan für den Wiederaufbau und Ausbau der Wirtschaft und speziell für die Industrialisierung Polens auszuarbeiten.17 Diese Deklaration richtete sich gegen den im Untergrund tätigen zivilen und militärischen Verwaltungsapparat der Londoner Regierung und gegen deren Bestrebungen, nach der Befreiung die Macht in Polen zu übernehmen. Ihr Inhalt konnte daher nicht als Verständigungsbasis dienen. Offenbar erfolgte diese Erklärung unter dem Eindruck des Sieges, den die Rote Armee bei Stalingrad errungen hatte, und in der Hoffnung auf eine baldige Befreiung Polens. Das war jedoch, wie sich erwies, eine zu optimistische Erwartung; das Ende des Krieges war noch lange nicht erreicht. Die Deklaration stieß übrigens auf Kritik seitens Georgi Dimitroffs. Drei seiner kritischen Hinweise scheinen mir besonders relevant zu sein: Die Erklärung lasse eine unmißverständliche Aussage des Inhalts vermissen, daß die PPR ein freies und unabhängiges Polen auf ihre Fahnen geschrieben habe; daß Polen nach seiner Befreiung im Verhältnis zur UdSSR eine aufrichtige Bündnispolitik betreiben werde, und daß sich in ihr kein Wort zum Problem der polnischen Ostgrenze (einer Grenze, die so verlaufen werde, daß jeweils der westliche Teil 16 17
Siehe Anm. 14, S. 14. Ksztaltowanie siq podstaw programowych PPR „O co walczymy". Deklaracja PPR z 1 III 1943 r. (Die Formulierung der programmatischen Grundlagen der Polnischen Arbeiterpartei. Erklärung der PPR vom l.März 1943 u. d. T.: Wofür wir kämpfen).
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der Ukraine und Belorußlands an die UdSSR falle) und der künftigen Grenze im Westen sowie an der Ostseeküste finde (wo Polen Gebiete auf Kosten Deutschlands erhalten werde). Die PFR-Führung erkannte diese Hinweise als berechtigt an. Die Gespräche, die die PPR im Februar mit der Delegatur führte, und die am 1. März 1943 veröffentlichte Deklaration waren von der rapiden Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Sikorski-Regierung und der Sowjetregierung überschattet (Grenzproblem; Evakuierung der Anders-Armee aus der UdSSR). Diese Spannungen nahmen vor dem Hintergrund der Katyn-Frage (April 1943) schlagartig zu; es kam sogar zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Unter diesen Umständen war an ein Übereinkommen zwischen der PPR und den in Polen befindlichen Organen der Londoner Regierung natürlich nicht mehr zu denken. Am 28. April 1943 wurden die Gespräche endgültig abgebrochen. Auf dem Territorium der UdSSR entfaltete vom März 1943 an der Zwi^zek Patriotöw Polskich (Bund Polnischer Patrioten) eine lebhafte Aktivität. Dies geschah, kurz bevor in der UdSSR die 1. Polnische Division - die sog. KosciuszkoDivision - aufgestellt wurde. Das revolutionäre Lager festigte sich, nahm an Gewicht zu und wurde in Polen zur Alternative zum Londoner Block. Anfang 1943 gründete die PPR ihre Jugendorganisation Zwi^zek Walki Mlodych (Kampfbund der Jugend - ZWM). Der ZWM verkündete im September 1943 eine programmatische Erklärung: „Uns gebar die Tat. Unseren Kampfeswillen prägten der Haß auf das Joch der faschistischen Sklaverei und die heiße Liebe zur Freiheit. Es stählt uns der erbitterte Kampf gegen den Okkupanten, Festigkeit verleiht uns das Blut unserer heroischen Kämpfer, die ihr junges Leben f ü r die Freiheit des Vaterlandes geopfert haben. Wir warten nicht Gewehr bei Fuß. Wir sind uns dessen bewußt, daß wir uns selbst - aus eigenem Antrieb und aus eigener Kraft - befreien müssen. Die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes werden wir durch eigene Energie und durch die durch das Volk selbst zu erbringende bewaffnete Tat erringen. Wir kämpfen nicht isoliert. In den blutigen Kämpfen, die wir dem faschistischen Aggressor liefern, stehen wir Schulter an Schulter mit den jungen sowjetischen Partisanen sowie mit den Widerstandskämpfern Griechenlands, Jugoslawiens, Frankreichs und Norwegens. Beispielhaft sind für uns die kämpferische Kraft der Jugend der Völker der Sowjetunion und der Kampf der englischen und amerikanischen Jugend." 18 Die erste Vorsitzende des Kampfbundes der Jugend war Hanka Szapiro-Sawicka; sie wurde am 10. März 1943 von den Okkupanten ermordet. Danach übernahm diese Funktion Jan Krasicki, den die Gestapo am 2. September 1943 erschoß. An seine Stelle trat Helena Jaworska. Durch den Jugendverband erweiterte die PPR ihren Einflußbereich beträchtlich. Aus Mitgliedern des ZWM rekrutierten sich auch die Formationen der Volksgarde, die viele militärische Aktionen durchführten. Am 14. September 1943 wurde Pawel Finder, Sekretär des ZK der PPR, in Warschau von der Gestapo verhaftet. Zu seinem Nachfolger wurde am 23. September 1943 Wladyslaw Gomulka-Wieslaw gewählt. 18
Ebenda, Erklärung des „Kampfbundes der Jugend" vom September 1943.
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Im November 1943 gab die P P R i h r e nächste - mit der Märzdeklaration gleichnamige - programmatische Erklärung „Wofür w i r k ä m p f e n " heraus. Dieses umfangreiche Dokument legte den S t a n d p u n k t d e r P P R zum Londoner Block ausführlich dar. Durch seinen polemischen C h a r a k t e r und den resoluten Ton unterscheidet sich dieses Schriftstück von dem vorangegangenen und belegt, daß im Herbst 1943 schon keinerlei Chancen m e h r f ü r einen eventuellen Kompromiß zwischen den beiden politischen Hauptrichtungen des polnischen Untergrundes bestanden. Die PPR unterstrich in dieser Deklaration, daß es das werktätige Volk sei, das die entscheidende K r a f t des K a m p f e s gegen Hitler und f ü r die Z u k u n f t Polens darstelle. Das n e u e Polen „wird und k a n n nicht das Polen der Zeit vor dem September 1939 sein". In einem künftigen, unabhängigen Polen gebühre das entscheidende Votum den „breitesten arbeitenden Massen". Wie bereits in der Märzdeklaration w u r d e die Bildung einer provisorischen Regierung gefordert, deren Aufgabe es sein werde, das deutsche Vermögen zu konfiszieren, die Industrie zu nationalisieren u n d eine Bodenreform durchzuführen sowie die Voraussetzungen f ü r d e n A u f b a u einer Planwirtschaft und die Industrialisierung zu schaffen. Dem Londoner Lager hielt die Erklärung entgegen, daß es sich sowohl im Exil als auch in Polen selbst von Pilsudskileuten beherrschen lasse, was d a r i n zum Ausdruck komme, daß es nach rechts tendiere, also i m m e r reaktionärer werde. (Nachdem General Sikorski durch eine Flugzeugkatastrophe am 4. Juli 1943 auf tragische Weise u m s Leben gekommen war, h a t t e General Sosnkowski - ein Mann, der mit den Pilsudskileuten liiert w a r - den Oberbefehl ü b e r die A r m e e übernommen, und nach der V e r h a f t u n g des Generals Rowecki durch die Gestapo w a r der durch seine Sympathien f ü r die Rechte bekannt gewordene General Komorowski Chef des AK-Führungsstabes geworden.) Hinsichtlich d e r polnischen Grenzen f o r d e r t e die Deklaration, die in d e r Mehrheit von Ukrainern u n d Belorussen bewohnten Ostgebiete der UdSSR zuzusprechen u n d die deutsch-polnische Grenze nach Westen zu verschieben. Als Sicherheitsgarantie gegen eine potentielle neuerliche deutsche Aggression w u r d e der Abschluß eines Bündnisvertrages zwischen Polen und der UdSSR verlangt. Die Deklaration orientierte - viel aussagekräftiger als f r ü h e r e programmatische PPR-Erklärungen - vor allem auf die Klasseninteressen der werktätigen Massen. Dies prägte insbesondere die f ü r das Polen von morgen aufgezeigte Perspektive. Zugleich w u r d e n mit besonderem Nachdruck die nationalen Interessen hervorgehoben. Davon zeugen die Akzentuierung des Problems der Unabhängigkeit Polens, die Ächtung nationaler Unterdrückung und das positive Verhältnis zu den fortschrittlichen nationalen polnischen Traditionen. Ein solcher S t a n d p u n k t zur nationalen F r a g e (zu d e r erstmals in der Geschichte der polnischen k o m m u nistischen Bewegung in dieser Weise Stellung genommen wurde) w a r Ausgangsp u n k t f ü r eine umfassende, gegen die O k k u p a n t e n gerichtete nationale Integration, von der einzig „Verräter und Kapitulanten" u n d politische Feinde d e r PPR auszunehmen waren. 1 9 Die Polnische Arbeiterpartei wollte einen polnischen Staat d e r Werktätigen a u f 19
Ebenda, Wofür wir kämpfen. Erklärung der PPR vom November 1943.
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bauen. Mit der Konzeption eines unabhängigen Staates hing die F r a g e der Grenzen zusammen. Die K P P h a t t e sich seinerzeit auf die Kritik am Status q u o beschränkt u n d es unterlassen, realistische und konstruktive Vorschläge zu u n t e r breiten. Dadurch blieben elementare Bedürfnisse der Polen unberücksichtigt. Das nutzten in der Vorkriegszeit die politischen Gegner als bevorzugten Ansatzpunkt f ü r die B e k ä m p f u n g der kommunistischen Bewegung. Prinzipiell a n d e r e r A r t w a r das PPR-Programm, das zwar die Politik der K P P in der F r a g e der Ostgrenze übernahm, sich jedoch gleichzeitig f ü r die territoriale Erweiterung Polens nach Westen und Norden einsetzte. Wenn auch andere Parteien f ü r eine Änderung der West- und Nordgrenze plädierten, so w a r es jedoch allein die PPR, die den Anstoß zu einer Außenpolitik gab, die dieses Postulat verwirklichen und mit den neuen Grenzen einen d a u e r h a f t e n Besitzstand v e r b ü r g e n sollte. Die P P R w a n d t e sich gegen die Ansicht, daß die im Westen u n d Norden zugunsten Polens vorgesehenen Grenzverschiebungen als Kompensation f ü r die im Osten erlittenen Gebietsverluste anzusehen seien. Eine solche Interpretation, die damals laut w u r d e u n d bis heute von vielen Autoren vorgebracht wird, degradiert Polen zu einem etwas kuriosen „Land auf Rollen", das sich beliebig mal in eine und d a n n wieder in die andere Richtung verschieben läßt, u n d ignoriert - w a s noch schwerer wiegt - die tatsächlichen Beweggründe, aus denen heraus Polen die West- und Nordgebiete zugesprochen w u r d e n . Diese sind nämlich darin zu suchen, daß m a n den Aktionsradius des deutschen Imperialismus territorial einschränken u n d - u m mit Karl Marx zu sprechen - dem reaktionären Preußentum, dessen Expansionismus Europa so schwer zu schaffen machte, einen empfindlichen Schlag versetzen wollte. Der preußische Eroberungsdrang traf gerade Polen im L a u f e der J a h r h u n d e r t e besonders h a r t : So ging der Anstoß zu den Teilungen Polens im 18. J h . von Preußen aus, und der faschistische deutsche Imperialismus, der in sorgfältig gehegter u n d gepflegter preußischer Tradition wurzelte, trachtete danach, das polnische Volk w ä h r e n d des zweiten Weltkrieges zu vernichten. Preußen erstarkte in der Hauptsache auf Kosten Polens u n d w u r d e zum Kernland der Wiedererrichtung des deutschen Kaiserreiches, was sich - nachdem die Vereinigung der deutschen Länder im J a h r e 1871 vollzogen worden w a r - auf ganz Deutschland negativ auswirkte. Eine der Voraussetzungen, unter denen der europäische Friede gesichert u n d Polen die Möglichkeit zu nationaler Existenz und Entfaltung verbürgt w e r d e n konnte, bestand eben in der Befreiung Europas von der preußischen Hegemonie. F ü r Polen bedeutete dies die Rückkehr in historisch angestammte Gebiete, und zwar d i e Rückgewinnung der Masuren, der Region Warmia, der Region Powisle, des westlichen Pomorze, der Ziemia Lubuska und von Sl^sk. Die Polnische Arbeiterpartei stellte fest, daß die Interessen Polens u n d d e r UdSSR angesichts der vom deutschen Imperialismus ausgehenden Bedrohung übereinstimmten. Sie wies darauf hin, daß sich Polen - allen aus der Vergangenheit stammenden Vorurteilen und Komplikationen zum Trotz - unbedingt mit der Sowjetunion v e r b ü n d e n müsse, um seine Existenz innerhalb n e u e r geographischer Grenzen vor der G e f a h r einer deutschen Revanche abzusichern, w ä h r e n d die UdSSR ihrerseit daran interessiert sei, d a ß sich der deutsche Imperialismus Polens nicht als Bundesgenossen gegen die Sowjetunion bediene.
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Zu einem definitiven Standpunkt in der deutschen Frage gelangte die PPR im Laufe des Krieges und unter dem Einfluß der militärischen Ereignisse. Der Krieg bewies eindringlich die große Gefahr, die der deutsche Imperialismus für Europa darstellte. Die KPP hatte die Größe dieser Gefahr nicht immer richtig eingeschätzt, vielmehr vorrangig ihre Erwartungen auf eine proletarische Revolution in Deutschland gesetzt und selbst noch in der Anfangsphase der Herrschaft Hitlers diese Hoffnung beibehalten. Die Konsolidierung des Hitlerregimes zerstörte diese Erwartungen. Der VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1935 orientierte auf eine breitangelegte Politik der proletarischen Einheitsfront und der antifaschistischen Volksfront gegen den Faschismus. Die Taktik erfuhr jedoch im Herbst 1939 eine gewisse Modifikation, die der bekannte Aufsatz Dimitroffs „Der Krieg und die Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder" reflektierte und die 1941 korrigiert wurde. Allerdings zeitigte das zeitweilige Abweichen von einigen Festlegungen des VII. Weltkongresses eine Reihe von Komplikationen.20 Die PPR vertrat eine Orientierung, die sich nicht nur auf momentane, aus dem jeweiligen Ablauf der militärischen Ereignisse resultierende Erfahrungen gründete, sondern auch von der langjährigen Geschichte Europas seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. ausging. Und über diese Geschichte war der Schatten des deutschen Expansionismus gebreitet. Gegen Ende des Jahres 1943 bemühte sich die PPR - da die Rote Armee zügig in Richtung auf die ethnisch-polnischen Gebiete vorrückte -, die verschiedenen linken politischen Gruppierungen zusammenzufassen, um so ein konspiratives Zentrum zu schaffen, das die politische Macht in Polen würde übernehmen können. Um die PPR und die Volksgarde scharten sich etliche politische und militärische Gruppierungen. Gemeinsam erließen sie im Dezember 1943 ein von Wladyslaw Gomulka verfaßtes Manifest, in dem diese demokratischen gesellschaftlich-politischen und militärischen Organisationen die Gründung des Krajowa Rada Narodowa (Landesnationalrat - KRN) proklamierten, der als faktische politische Vertretung des polnischen Volkes bis zum Zeitpunkt der Befreiung von der Okkupation Handlungsvollmachten besitzen sollte.21 Die erste Sitzung des geheimen Landesnationalrates fand in der Nacht vom 31. Dezember 1943 zum 1. Januar 1944 in Warschau statt. Daran nahmen u. a. Boleslaw Bierut, Wladyslaw Bienkowski, Helena Jaworska, Antoni Korzycki, Wladyslaw Kowalski, Kazimierz Mijal, Edward Osöbka-Morawski, Marian Spychalski, Stefan Zölkiewski und Michal Rola-Zymierski teil. Zum Ratsvorsitzenden wurde Boleslaw Bierut ernannt. Der Rat verabschiedete eine politische Erklärung und eine Reihe von Dekreten und gründete am 1. Januar 1944 die Armia 20
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Malinowski, M., Kszaltowanie s^ zalozen programowych polskiego ruchu komunistycznego w latach 1930-1942 (Die Formulierung der Programmpunkte der polnischen kommunistischen Bewegung in den Jahren 1939-1942), in: Z Pola Walki, 4, 1961. Ksztaltowanie si§ podstaw programowych PPR. Manifest demokratycznych organizacji spoleczno-politycznych i wojskowydi XII 1943 r. (Die Formulierung der programmatischen Grundlagen der PPR. Manifest demokratischer gesellschaftspolitischer und militärischer Organisationen vom Dezember 1943).
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Ludowa (Volksarmee - AL), deren Führungsspitze sich aus jenen illegalen politischen Gruppen zusammensetzte, die im Landesnationalrat mitarbeiteten. Die AL basierte vor allem auf der 1942 durch die PPR ins Leben gerufenen Volksgarde. Außerdem beschloß der Rat ein vorläufiges Statut für die Nationalausschüsse.22 An verschiedenen Orten Polens bildeten sich illegale Nationalausschüsse, die dem Landesnationalrat unterstanden. Mit der auf Anregung der PPR erfolgten Gründung des Landesnationalrates und der Aufnahme seiner Tätigkeit war in Polen - neben der bereits bestehenden Delegatur der Londoner Regierung - eine zweite politische Zentrale entstanden, die den Anspruch erhob, nach der Befreiung Polens von der deutschen Okkupation die Macht im Lande zu übernehmen. Die Gründung des Landesnationalrates löste eine Verschärfung der internen Auseinandersetzungen innerhalb der Robotnicza Partia Polskich Socjalistöw (Arbeiterpartei der Polnischen Sozialisten - RPPS) und der Volkspartei aus, die beide bislang zum Londoner Lager gehörten. So spaltete sich sowohl von der RPPS als auch von der Volkspartei jeweils der Flügel ab, der mit der PPR und dem Landesnationalrat zusammenarbeitete. Am 21. Februar 1944 wurde die linksgerichtete Stronnictwo Ludowe „Wola Ludu" (Volkspartei „Volkswille") gegründet. Am 7. April 1944 fand in Warschau ein Parteitag der RPPS statt, auf dem ein provisorisches Zentralkomitee der Partei mit Edward Osöbka-Morawski an der Spitze gewählt wurde; Vorsitzender des Obersten Rates der RPPS wurde Stanislaw Szwalbe. Das trug dazu bei, die politische Plattform des Landesnationalrates zu verbreitern. Mit der Gründung des Landesnationalrates unternahmen die PPR und die mit ihr verbündeten politischen Gruppierungen einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Übernahme der Macht in Polen. Obschon zahlenmäßig dem Londoner Block unterlegen, war das Bündnis der revolutionären Linken unter Führung der PPR, die 1944 ungefähr 20 000 Mitglieder umfaßte, gegenüber dem Londoner Lager insofern im Vorteil, als es - auch in ideologischer Beziehung und im Hinblick auf die angestrebten politischen Ziele - einheitlicher und geschlossener war. Die PPR konnte in Rechnimg stellen, daß die Befreiung Polens durch die Rote Armee günstigere Bedingungen für ihren Kampf schaffen werde, wobei die ihr von Seiten der UdSSR bekundete Sympathie und Unterstützung von großem Gewicht waren. Im Laufe der 2V2 Jahre, in denen sie während der Okkupationszeit tätig war, bemühte sich die PPR durch ihre patriotische Haltung und ihren aktiven bewaffneten Kampf darum, diese für die polnische Gesellschaft so dringend benötigte Hilfe zu erhalten. In mehr als 50 verschiedenen Zeitungen entfaltete die PPR eine rege Propagandatätigkeit und war um eine allgemeinverständliche und möglichst überzeugende, der jeweiligen Lage und der Mentalität der Bevölkerung entsprechende Argumentation bemüht. Ihre politische Taktik zeichnete sich durch große Elastizität aus. Als die Londoner Exilregierung eine Politik der Zusammenarbeit mit der UdSSR betrieb, war die PPR zur Unterstützung bereit, ohne sich jedoch kritiklos zu verhalten. Dadurch gelang ihr 1943 nach dem Scheitern der mit der Delegatur geführten Verhandlungen ein nahtloser Übergang zu 22
Ebenda, Beschlüsse des Landesnationalrates.
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kompromißlosem Kampf. Das Vorgehen der PPR war frei von Schwankungen und Unklarheiten, die f ü r die Parteien des Londoner Blocks so charakteristisch waren. Die Polnische Arbeiterpartei strebte konsequent nach der Macht, und auf diesem Wege verstand sie es, ihre programmatischen Forderungen und politischen Losungen geschickt abzustufen. Auf diese Weise vermochte die Partei auf Stimmungen und Denkweisen innerhalb der Bevölkerung Einfluß zu nehmen und zugleich Wünschen der Öffentlichkeit entgegenzukommen, insbesondere denjenigen, die den Kampf gegen die Okkupanten betrafen sowie - nach der Befreiung - die gesellschaftlichen Umwälzungen und Verbesserungen der Lebensbedingungen. Große Verdienste um die Partei erwarben sich die in der politischen Arbeit versierten älteren kommunistischen Kader, die bereits über Erfahrungen verfügten, die sie auf Grund langjähriger konspirativer Praxis im Vorkriegspolen, während der Illegalität der Partei gewonnen hatten. Im März 1944 begab sich eine Delegation des Landesnationalrates nach Moskau, um unmittelbar mit der Sowjetregierung und der in der UdSSR lebenden politischen Emigration, die sich um den Bund Polnischer Patrioten und die an der Seite der Roten Armee kämpfende 1 Armia Wojska Polskiego (1. Armee des Polnischen Heeres) gruppierte, Kontakt aufzunehmen. Dieser Delegation gehörten Marian Spychalski und Kazimierz Sidor sowie die Sozialisten Edward OsobkaMorawski und Jan Haneman an. Die Delegation traf im Mai 1944 in Moskau ein. Im Ergebnis der Gespräche kam man überedn, den Bund Polnischer Patrioten dem Landesnationalrat zu unterstellen. Über den Moskauer Aufenthalt der Ratsdelegation gab die Sowjetregierung ein offizielles Kommunique heraus, das auch über Rundfunksender verbreitet und von der britischen und amerikanischen Presse veröffentlicht wurde. 5. Die Volksgarde - die spätere Armia Ludowa
(Volksarmee)
Der bewaffnete Kampfverband der Polnischen Arbeiterpartei war die Gwardia Ludowa (Volksgarde), mit deren Aufbau im Januar 1942 begonnen wurde. Die Volksgarde hing eng mit der PPR zusammen: Für die Parteimitglieder war die Zugehörigkeit zur Volksgarde obligatorisch, und im Regelfall wurde die Garde von denselben Leuten geleitet, die sich in der Parteiführung befanden. Diesem Prinzip lag die Uberzeugung zugrunde, daß dem Kampf gegen die Okkupanten der Vorrang gebühre und daß alle Kräfte und Mittel auf diesen Kampf zu konzentrieren seien. Die Volksgarde legte großen Wert nicht nur auf die militärische Ausbildung, sondern auch auf die Herausbildung eines politisch-ideologischen Bewußtseins im Sinne der PPR-Konzeption. Dieser Teil der Parteiarbeit war entscheidend für die kontinuierliche Geschlossenheit der Reihen der Garde, wodurch sich ihre Schlagkraft reproduzierte - namentlich auch im Vergleich mit anderen bewaffneten Untergrundonganisationen, die, selbst wenn sie zahlenmäßig um vieles stärker sein mochten, in ideologischer und politischer Beziehung heterogen waren. Die Volksgarde übte auch auf die politische Stimmung in der Bevölkerung einen gewissen Einfluß aus. In den f ü r die Partisanenabteilungen der Volksgarde verbindlichen Frontdienst-
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Vorschriften hieß es: „Die Aufgabe einer Partisanenabteilung besteht vorrangig darin, in die Bereiche des Fernmeldewesens sowie des Güter- und Personenverkehrs zerstörend und desorganisierend einzugreifen sowie kleinere Formationen zusammenzufassen. Ihre Aufgabe besteht des weiteren darin, Gendarmerie- und Polizeiposten zu liquidieren, Unrecht, das polnischen Bürgern angetan wurde, durch Liquidierung von Verrätern, Denunzianten und Volksdeutschen zu rächen sowie unter der Bevölkerung eine revolutionäre Atmosphäre zu schaffen, die zugleich vom Streben nach nationaler Unabhängigkeit gekennzeichnet ist."23 Die Volksgarde unterstand unmittelbar der PPR-Leitung. Stabschef der Garde war von Januar bis August 1942 Marian Spychalski (alias Marek) und von September 1942 bis Dezember 1943 Franciszek Jözwiak (alias Witold). Polen bildete sieben Garde-Distrikte: I - Warschau; II - Lublin; III - Radom/Kielce; IV Krakow; V - Lödz; VI - Poznan; VII - Slqsk-D^browa. Die Distrikte wiederum gliederten sich in Unterbezirke. Als zentrales Presseorgan der Volksgarde erschien „Gwardzista" (Der Gardist). Da die Volksgarde unter einem erheblichen Mangel militärisch genügend qualifizierter Kader litt, wurde bereits im April 1942 in Chylice bei Warschau eine entsprechende Ausbildungsstätte geschaffen, die von Janusz Zarzycki geleitet wurde. Die Gardesoldaten wurden außerdem innerhalb der einzelnen Abteilungen und Garnisonen militärisch geschult. Zu diesem Zweck erließ das GardeOberkommando Instruktionen und Direktiven zu Methoden des Partisanenkampfes und anderer gegen die Okkupanten gerichteten Aktionen. Die PPR hatte nicht die Absicht, eine Organisation militärischer Elitekader zu schaffen; vielmehr sollte die Volksgarde ein zahlenmäßig möglichst starker, aus breiten Bevölkerungsschichten zusammengesetzter Verband werden. Es handelte sich darum, die ganze Nation zum aktiven Kampf gegen die Besatzer zu mobilisieren, um ihnen einen möglichst großen Schaden auf allen Gebieten, in Wirtschaft und Verkehr sowie an Menschen und Material zufügen zu können. Das Hauptaugenmerk galt dabei dem Eisenbahn- und Straßenverkehr, und zwar deshalb, weil die wichtigsten Nachschubverbindungen für die im Osten kämpfende deutsche Wehrmacht gerade durch Polen verliefen. So zerstörte die Volksgarde Eisenbahngleise, Brücken, Umladebahnhöfe sowie technische Einrichtungen und sprengte Eisenbahnzüge (besonders solche, deren Fracht aus Kriegsmaterial bestand) oder steckte sie in Brand. Der PPR gelang es, den bewaffneten Kampf so weit wie möglich auszudehnen und so die militärischen Operationen der Roten Armee zu unterstützen und die Befreiung Polens zu beschleunigen. Die Volksgarde war sowohl in Städten als auch in ländlichen Gegenden aktiv. Die Dörfer stellten wertvolle Operationsbasen für die in den Wäldern verborgenen Partisanenabteilungen dar. Das erklärt auch, daß sich die Volksgarde (und später die Volksarmee) zu einem wesentlichen Teil aus Bauern rekrutierte. Die PPR bemühte sich intensiv darum, in die Partisanenbewegung sowjetische Kriegsgefangene einzugliedern, die - meist mit Hilfe der 2J
Dowödztwo Glöwne GL i AK. Zbiör dokumentöw z iat 1942-1944 (Das Oberkommando der Volksgarde und die Landesarmee. Sammlung von Dokumenten aus den Jahren 1942-1944), Warszawa 1967, S. 34.
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polnischen Bevölkerung - den deutschen Lagern hatten entrinnen können und entweder eigene Trupps bildeten oder sich polnischen Abteilungen anschlössen. Darüber hinaus unternahm die Volksgarde, sobald sie sowjetischer Partisanenverbände auf polnischem Territorium gewahr wurde, zusammen mit ihnen gemeinsame Kampfaktionen. Der von der Volksgarde ausgegebenen Losung von der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes stimmten die aktiven und bewußten Kreise der polnischen Gesellschaft zu, da sie eine abwartende Haltung mißbilligten und entschlossen waren, den Okkupanten Widerstand zu leisten. Zudem konnte Passivität zu Konformismus führen, der der Ausbeutung des polnischen Wirtschaftspotentials und auch der Ausrottung der Bevölkerung im Sinne der Generalkonzeption der Politik der Hitlerfaschisten praktisch Vorschub leistete. Es war der aktive Kampf, der im Grunde die Voraussetzung schuf, die Okkupation zu überstehen, dem faschistischen Deutschland Schläge zu versetzen und der eigenen Nation Standfestigkeit zu verleihen sowie ihr Selbstbewußtsein zu stärken. Unter den damaligen Bedingungen mußte ein passives Verhalten ins Verderben führen und größere Verluste heraufbeschwören, als sie durch aktiven Widerstand gegen das Besatzungsregime verursacht wurden. Am 10. Mai 1942 begab sich die erste, von Franciszek Zubrzycki befehligte Partisanenabteilung von Warschau aus in den Raum Piotrköw, um dort den Kampf aufzunehmen. Bis Ende 1942 stellte die Volksgarde 52 Partisanenabteilungen zusammen, von denen 13 aufgerieben wurden; 1943 entstanden 83 Partisanenabteilungen, von denen 54 vernichtet wurden, und 1944 formierten sich 55 Partisanenabteilungen der Volksarmee. Außerdem existierten 16 Volksarmee-Brigaden. Insgesamt befanden sich in der Volksgarde und in der Volksarmee 55 00060 000 Mann unter Waffen. 24 Man kann also konstatieren, daß es der PPR gelungen war, den bewaffneten Kampf auf eine breite Basis zu stellen. Großes Gewicht maß die Volksgarde der Hilfe bei, die sie den kämpfenden Juden zuteil werden ließ. So existierten in mehreren Ghettos - besonders in Warschau Gardeorganisationen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1943 führte die Volksgarde eine umfangreiche Werbeaktion mit dem Ziel durch, die Organisation zahlenmäßig zu verstärken: Sie forderte alle Patrioten zum Eintritt auf, die gewillt waren, mit der Waffe in der Hand gegen die Besatzer zu kämpfen. Dieser Appell richtete sich speziell an die Sozialisten und die Mitglieder der Volkspartei, die es innerhalb der Bauernbataillone gab. Er bereitete die Bildung einer Volksarmee vor, in deren Rahmen eine „allgemeine Mobilmachung des Volkes und eine siegreiche Abrechnung mit dem Okkupanten" 25 erfolgen sollte. Ein Teil der Bauernbataillone trat daraufhin in die Volksarmee ein. Unterdessen konzentrierte sich die Volksgarde auf den laufenden Kampf und bereitete sich auf Aktionen für den Fall der Niederlage des deutschen Heeres vor. Der Befehl Nr. 19 des Oberkommandos der Volksgarde vom November 1943 sah vor, zu dem Zeitpunkt, an dem die Rote Armee ihre 24
25
Garas, J. B., Oddzialy GL i AL 1942-1945 (Die Volksgarde- und Volksarmeeabteilungen 1942-1945), Warszawa 1971, S. 512-516. Siehe Anm. 23, S. 115.
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Kampfhandlungen auf polnischem Territorium fortsetzen würde, die Aktionen der Garde gegen die deutsche Wehrmacht zu verstärken sowie eine Mobilmachung und gemeinsame Operationen mit der in der UdSSR formierten 1. Polnischen Armee durchzuführen. 26 Am 1. Januar 1944 erließ der Landesnationalrat das Dekret über die Gründung der Armia Ludowa (Volksarmee), deren Kern die Volksgarde darstellte. Die bisherige Zuständigkeit wurde dahin gehend geändert, daß die Volksarmee nicht Teil der PPR sein sollte. Sie wurde vielmehr dem Landesnationalrat unterstellt. Befehl Nr. 25 des Volksgarde-Oberkommandos unterstellte die Garde der Volkse armee, deren Ausbau er vorsah. „Aus unseren wenigen Abteilungen - aus den Fünfergruppen - sind heute die Gardistenbataillone geworden, und morgen wird es die Armee mit Regimentern und Divisionen geben."27 Die Volksarmee entwickelte sich rasch. In dieser Zeit wurden die Partisanenbrigaden der Volksarmee formiert, die im Frühling und Sommer 1944 große Partisanenschlachten schlugen. An der Spitze der Armee stand Michal RolaZymierski, der spätere Marschall Polens. Er war bereits in der Zwischenkriegsrepublik Armeegeneral gewesen, trat aber - nachdem im Jahre 1926 Pilsudski zur Macht gekommen war - aus dem Heeresdienst aus und gehörte dann zu denen, die politisch gegen das Pilsudski-Regime opponierten. In Volkspolen war er Oberbefehlshaber der Polnischen Armee von 1944 bis 1949. Neben den oben skizzierten politischen Richtungen des von London aus geleiteten Untergrundes und des Widerstandes der revolutionären Linken hatten sich noch zwei andere, weniger einflußreiche Strömungen herausgebildet. Im Februar 1944 entstand das Centralny Komitet Ludowy (Zentrales Volkskomitee - CKL), das von kleineren sozialistischen und syndikalistischen Gruppen getragen wurde. (Der vollständige Name dieser Organisation lautete: Zentrales Volkskomitee der Vereinigung demokratischer, sozialistischer und syndikalistischer Parteien.) Das CKL verfügte über eine bewaffnete Truppe, die sich Polska Armia Ludowa (Polnische Volksarmee - PAL) nannte. Das CKL kämpfte gegen rechte Tendenzen, die sich innerhalb des Londoner Lagers bemerkbar machten. Ende 1944 erkannte das CKL den Landesnationalrat an. Innerhalb der PPR diskutierte man über eine eventuelle Zusammenarbeit mit dem CKL, wie ein Artikel „Unser Standpunkt" in der Zeitung „Trybuna Wolnosci" vom 1. Juli 1944 erkennen läßt. Die extreme Rechte war innerhalb des polnischen Untergrundes durch das Oböz Narodowo-Radykalny (National-Radikales Lager - ONR) vertreten. Auf Veranlassung dieser Organisation wurde 1944 der Tymczasowa Rada Narodowa Polityczna (Provisorischer Nationaler Politischer Rat) berufen. Diese Gruppe wollte vom Warschauer Aufstand und von dem Plan „Burza" (Gewittersturm) nichts wissen. Ihr unterstand die militärische Formation Narodowe Sily Zbrojne (Nationale Streitkräfte - NSZ). Die NSZ kämpften aktiv gegen die Armia Ludowa und gegen die Bauernbataillone. In der letzten Phase des Krieges begannen sie mit 26 27
Ebenda, S. 136 f. Ebenda, S. 183.
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den Deutschen zu kollaborieren. Im August 1944 entstand in der Gegend um Kielce die Kielecka Brygada SwiQtokrzyska (Heiligenkreuzbrigade der NSZ) mit ungefähr 2 000 Mann, benannt nach dem bewaldeten Höhenzug Göry Swi§tokrzyskie (das Heiligenkreuzgebirge) bei Kielce. Diese Truppe wurde von A. Szacki-Dqbrowski (alias Bohun) befehligt. Auf das Schuldkonto der Brigade kommen zahlreiche Morde, die sie an Landsleuten beging, die zur politischen Linken gehörten. Die „Heiligenkreuzbrigade" setzte sich zusammen mit der deutschen Wehrmacht aus Polen ab. II. Die Aktivitäten der Widerstandsbewegung 1. Die erste Periode des Partisanenkampfes
(1939-1940)
Im Verlauf der ersten Phase des organisierten und spontanen aktiven Widerstandes überwogen Propaganda, Sabotage, Diversion und Kundschaftertätigkeit. Die Operationen, die der Major Hubal (d. i. Henryk Dobrzanski) mit seiner Partisanenabteilung unternahm, stellten noch eine Ausnahme dar. Diese Einheit wurde auf Initiative Hubais Ende September 1939 aus Freiwilligen der Kavallerie-Reservisten-Brigade im Nordosten Polens zusammengestellt. Diese berittene Abteilung durchstreifte Gebiete, die die deutsche Wehrmacht bereits besetzt hatte, wobei sie den Okkupanten in kleineren Gefechten Verluste zufügte. Sie machte dann in den Göry Swi^tokrzyskie bei Kielce, und zwar im Kreis Konskie, Station. In der Schlußphase des von ihr sieben Monate lang geführten Kampfes verfügte sie über ungefähr 100 Mann. Die Truppe bezeichnete sich als „Sonderkommando des Polnischen Heeres unter Führung von Major Hubal". Der strenge Winter 1939/40 erschwerte den Besatzern die Verfolgung der HubalPartisanen. Diese verbrachten den Winter nacheinander in mehreren Dörfern, vorzugsweise jedoch in dem Dorf Galki, das sie in eine Art befestigtes Lager verwandelten. Die Wintermonate wurden zur Ausbildung genutzt; auch füllte man die Truppe mit neuen Freiwilligen auf und erbeutete Waffen. Selbstredend befand sich die Abteilung diese ganze Zeit über in voller Kampfbereitschaft; so zogen Spähtrupps aus, und es kam auch zu kleineren Scharmützeln mit Okkupanten. Die Kunde davon, daß es einen uniformierten Verband der polnischen Armee gab, verbreitete sich in den umliegenden Ortschaften wie ein Lauffeuer, wobei Hubal geradezu eine legendäre Gestalt annahm als „Major auf einem Grauschimmel", der unverzagt durch Polen jage und den Deutschen schwer zu schaffen mache. In der Niedergeschlagenheit nach dem September 1939 versuchte man sich an dieser Botschaft wieder aufzurichten. Die Führungsorgane des polnischen Untergrundes - des ZWZ - widerstrebten jedoch den Aktivitäten des Majors Hubal, da sie, keineswegs unberechtigt, befürchteten, daß die Faschisten diese als Vorwand für Repressalien gegen die polnische Bevölkerung benutzen würden. Die ZWZ-Kommandozentrale in Kielce forderte von Hubal sogar die Demobilisierung seiner Truppe. Diesem Verlangen widersetzte sich jedoch der Major kategorisch. Er erklärte, daß ihn der Soldateneid nach wie vor binde und er sich nicht seiner Offiziersuniform entledigen werde. Im Frühjahr 1940 unter-
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nahm die Waffen-SS gegen die Einheit Hubais einen Gegenschlag, für den 3 Regimenter, 3 Bataillone und 4 Panzerwagen eingesetzt wurden. Am 30. März kam es in der Nähe des Dorfes Hucisko zum Kampf, bei dem Hubais Abteilung im Verlauf von zwei Stunden ein feindliches Bataillon zerschlug; man schätzt, daß auf deutscher Seite über 100 Mann fielen. Zwei Hubal-Partisanen wurden verwundet und sechs getötet.28 Nach der mißglückten Märzexpedition leiteten die Okkupanten Ende April eine neue Aktion ein. Im Morgengrauen des 30. April überrumpelten Regimenter der 327. Division die Partisanen im Dorf Anielin. Major Hubal fiel im Gefecht. Kurze Zeit später löste sich die Truppe auf; danach leisteten die meisten Hubalsoldaten im Untergrund konspirative Arbeit.29 Da Hubais Operationen isoliert blieben, vermochten sie den Okkupanten keinen größeren Schaden zuzufügen. Dessenungeachtet blieben die persönliche Tapferkeit und die Opferbereitschaft seiner Soldaten in der polnischen Öffentlichkeit nicht ohne Resonanz, und man zollte ihnen gebührenden Respekt. Für die Deutschen wurde Hubal zu einem deutlichen Menetekel. So maß Hans Franck den Aktionen Hubais ziemliches Gewicht bei, wie aus dem Protokoll einer Konferenz vom 16. Mai 1940 hervorgeht: „Der Generalgouverneur traf folgende Feststellung: Aus der allgemeinen militärischen Lage ergibt sich die Notwendigkeit, den Fragen der inneren Sicherheit im Generalgouvernement sorgfältige Beachtung zuteil werden zu lassen. Etliche Symptome und Tatsachen zeugen davon, daß sich der von den Polen in großem Maßstab durchgeführte Widerstand ausweitet. Bereits in allernächster Zeit ist mit dem Ausbruch größerer massiver Unruhen zu rechnen. In Geheimbünden sind bereits Tausende bewaffneter Polen zusammengeschlossen, wo man diese mit Hilfe entschieden aufrührerischer Mittel dazu anstiftet, Gewaltakte jeglicher Art zu verüben. Dann ging der Generalgouvemeur auf einige Vorfälle ein, zu denen es letztens gekommen war, und zwar auf eine Revolte, die fast den Charakter eines Bürgerkrieges angenommen und die ein gewisser Major Hubal in mehreren Dörfern des Distrikts Radom angezettelt hatte.. ."30 Sicherlich schoß diese Einschätzung Francks über das Ziel hinaus; sie vermittelt aber eine Vorstellung davon, welche Nervosität Hubal bei den Besatzern auslöste. Wenn sich die Hitlerfaschisten auch mit unzähligen Vergeltungsmaßnahmen rächten, trug doch der bewaffnete Kampf Hubais in der besonders schwierigen und deprimierenden Zeit nach dem September 1939, in der es noch keine realen Erfolgschancen und keine günstigen Perspektiven gab, dazu bei, daß die Empörung gegen die fremde Besatzung nicht nachließ. Dieser Kampf wies denjenigen den Weg, die sich um keinen Preis demütigen lassen wollten; er ermutigte zugleich auch viele, die zu Resignation neigten (oder sogar dazu, sich gefügig machen zu lassen), und mahnte, daran zu denken, daß der Krieg weiterging und sein Ausgang noch lange nicht entschieden war. Bereits im März 1940 Eine literarische Schilderung dieser Schlacht bietet Waükowicz, M., Hubalczycy (Die Männer um Hubal), Warszawa 1959, S. 108 f. 29 Szymafiski, M., Oddzial majora Hubala (Die Abteilung des Majors Hubal), Warszawa 1972, S. 118. 30 Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franko, T. 1, S. 185. 28
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äußerte ein maßgeblicher deutscher Besatzungsfunktionär: „Zu den größten Gefahren gehört der fanatische Glaube der Polen daran, daß ihr Land seine Unabhängigkeit wiedererlangen wird." 31 Hubais Aktivitäten wurden in Polen unterschiedlich beurteilt. Während der ehemalige Chef des AK-Oberkommandos, J a n Rzepecki, in seinen 1956 erschienenen Memoiren „Wspomnienia i przyczynki historyczne" (Erinnerungen und historische Beiträge) Hubais Aktionen verurteilte und auch Marek Szymanski 1972 sich in seiner Studie „Oddzial majora Hubala" (Die Abteilung des Majors Hubal) mit ihm kritisch auseinandersetzte, bekannten sich einige der von der Wochenschrift „Perspektywy" in mehreren Nummern veröffentlichten Leserbriefe zu seinen Aktionen. Von den ersten Tagen der Okkupation an entfaltete sich in Polen eine intensive antideutsche Propaganda. In seiner ausgezeichneten Chronik der Kriegs- und Okkupationsjahre konstatierte der polnische Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler Ludwik Landau: „Vornehmlich hörte man die polnischsprachigen Informationen, die der Londoner Rundfunk jeweils am Abend um 21 Uhr sendete. Natürlich war das für die Besatzer auf die Dauer untragbar. So versuchte man erst gar nicht, das Abhören ausländischer Sendungen unter Strafe zu stellen, sondern nahm uns die Radioapparate einfach weg. Anfänglich geschah das so, daß man diese im Zuge von Haussuchungen auf Waffen hin sofort beschlagnahmte. Erst Ende Oktober kam eine Bekanntmachung heraus, die besagte, daß sämtliche Rundfunkempfänger - mit Ausnähme der Geräte deutscher Einwohner und derjenigen im Besitz von Personen deutscher Nationalität - konfisziert würden und daß diese spätestens bis zum 5. November auf den Polizeirevieren abzuliefern seien." 32 Nur ein Teil der Polen befolgte diese Anordnung. Deutscherseits wurde dieses Problem so gesehen, wie es Meisinger beschreibt: Die Gefahr, die für die Okkupanten von der Widerstandsbewegung ausging, wurde noch durch die ausländische Rundfunkpropaganda vergrößert. „Allein in Warschau gab es vor Kriegsausbruch 140 000 Radiogeräte; abgegeben wurden knapp 87 000. Vermutlich wurde ein beträchtlicher Teil der Apparate während der Kampfhandlungen vernichtet; trotzdem fand man in zerstörten Wohnungen und in Kellern usw. noch eine Menge Radios." 33 Bereits am 5. November erschien die erste Nummer des vom SZP veröffentlichten „Informationsbulletin", das dann der ZWZ und die Armia Krajowa herausbrachten. Darauf folgten Hunderte von konspirativen Blättern verschiedener politischer Richtungen, wozu sich noch Flugschriften, Broschüren und Bücher gesellten. Geradezu gigantische Ausmaße nahm die sog. Flüsterpropaganda an. Natürlich waren viele dieser kolportierten Informationen entstellt, unrichtig und zuweilen direkt phantastisch. Dank dieser Propaganda und den im Rahmen der sog. Kleinsabotage durchgeführten Massenaktionen gelang es, den Glauben an 31 32
33
Ebenda, S. 160. Landau, L., Kronika lat wojny i okupacji (Chronik der Kriegs- und Okkupationsjahre), Warszawa 1962, S. 42. Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka, T. 1, S. 160.
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die Befreiung Polens wachzuhalten und die Okkupanten zu isolieren und sie mit einer psychologischen Mauer der Gegnerschaft zu umgeben. 34 Bereits zu Beginn der Okkupationszeit kam es in Polen zu umfangreicher spontaner Sabotage. So wurden Waffen versteckt (in der Hoffnung, sie f ü r den Kampf verwenden zu können), der Besitz von Radioapparaten verheimlicht, Plakate der deutschen Behörden abgerissen, in Stadt und Land an Häuserwände und Mauern patriotische Losungen wie „Polen wird siegen" und „Das Land steht zu Sikorski" geschrieben, an gut Sichtbaren Stellen Anker als Symbol des „kämpfenden Polenlandes" oder das Hakenkreuz am Galgen gemalt u. a. m. Diese Formen wurden unter dem Sammelbegriff Kleinsabotage subsumiert, f ü r deren Durchführung der ZWZ (hauptsächlich aus jungen Leuten bestehende) Spezialtrupps zusammenstellte. Einer dieser Trupps war der im Dezember 1940 gegründete Kleinsabotageverband „Wawer", der in Warschau und Umgebung fast die ganze Okkupationszeit über tätig war. Im Laufe der Zeit wurde die Kleinsabotage ausgedehnt. So befestigte man an den Drähten der elektrischen Oberleitung der Straßenbahn polnische Nationalflaggen; an Briefkästen klebte man das polnische Staatswappen, den weißen Adler; es wurden antideutsche Flugblätter verbreitet; ein deutsches Propagandaplakat zum Thema Krieg gegen die UdSSR wurde mit dem menetekelhaften Zusatz „1812" versehen; man agitierte gegen Einkäufe in deutschen Läden; Besitzern von Fotoateliers, die Fotos uniformierter faschistischer Funktionäre ausstellten, wurden die Schaufensterscheiben übermalt oder eingeschlagen; Polinnen, die auf der Straße in Begleitung Deutscher angetroffen wurden, übergoß man die Kleidung mit ätzender Flüssigkeit; man warf Stinkbomben in Kinos, um die Polen vom Besuch deutscher Filme abzuhalten. 35 Das Copernicus-Denkmal, das in Warschau in der Straße Krakowskie Przedmiescie steht, trägt die Aufschrift „Dem Mikolaj Kopernik - von seinen Landsleuten". Die Stelle, an der sich die Aufschrift befindet, überdeckten die Okkupanten durch eine Tafel mit dem deutschsprachigen Text „Dem großen Astronomen". Der 22jährige Pfadfinder Aleksy Dawidowski, der der Kleinsabotagegruppe „Wawer" angehörte, entfernte diese Tafel in der Nacht vom 11. zum 12. Februar 1942 und legte so die polnische Aufschrift wieder frei. Am 17. Februar 1942 klebten in der Stadt Plakate mit einer amtlichen Verlautbarung des Nazi-Gouverneurs von Warschau: „An die Bevölkenung von Warschau! In der Nacht vom 11. zum 12. Februar d. J. wurde von frevelhafter Hand aus politischen Beweggründen eine Tafel mit deutscher Aufschrift vom Kopernikusdenkmal entfernt. Als Vergeltungsmaßnahme habe ich die Entfernung des Kilinski-Denkmals angeordnet. Ich fordere hiermit die Warschauer Bevölkerung auf, in ihrem eigenen Interesse absolute Ruhe zu bewahren. Fischer." Bald darauf waren diese Plakate mit kleinen Zetteln beklebt, auf denen zu lesen stand: „Als Vergeltung f ü r die Beseitigung des Kilinski-Denkmals ordne ich an, daß der Winter um sechs Wochen verlängert wird. Mikolaj Kopernik, Astronom." Damit wurde auf den strengen 34 35
Vgl. dazu auch Grochowiak, S., Trismus, Warszawa 1965, S. 821. Michalski, C., Wojna warszawsko-niemiecka (Der Krieg zwischen Warschau und den Deutschen), Warszawa 1971.
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Winter 1941/42 angespielt, der der Hitlerwehrmacht an der Ostfront schwer zu schaffen machte. Und am Gebäude des Nationalmuseums, in das die Okkupanten das Kilinski-Denkmal verfrachtet hatten, tauchte folgende große, mit schwarzer Farbe gemalte Aufschrift auf: „Hier stecke ich, Volk von Warschau! Jan Kilinski." Zweimal - am 2. Mai und am 31. August 1940 - gelang es, durch die auf den Straßen montierten Lautsprecher polnische patriotische Sendungen durchzugehen. Gleichzeitig nahm die Diversionstätigkeit zu. Im Laufe der ersten acht Okkupationsmonate brachten Soldaten der polnischen Untergrundarmee mehrere Züge mit Militär, Benzin und Munition zum Entgleisen (in L6d£ und Krakow). Am 28. und 29. März 1940 kam es in Warschau zu einer bewaffneten Auseinandersetzung der Gestapo mit einer Gruppe von Mitgliedern der Organisation „Wölfe", als die Nazis in die Räumlichkeiten dieses Verbandes eindrangen. Warschau wurde schnell zum eigentlichen Zentrum der auf dem Terrain Polens tätigen antifaschistischen Widerstandsbewegung. Die polnische Widerstandsbewegung betrieb eine intensive Erkundungstätigkeit. Die erlangten Informationen wurden der polnischen Regierung in Paris bzw. in London übermittelt; die Exilregierung wiederum leitete sie an die Alliierten weiter. Unschätzbare Dienste leisteten diejenigen Polen, die in deutschen Verwaltungsdienststellen und bei der Eisenbahn arbeiteten, wobei es sich um insgesamt rund 130 000 Beschäftigte handelte.' 6 Am Vorabend des deutschen Überfalls auf die UdSSR übermittelte der polnische Untergrund London eine Landkarte, auf der die zunehmende Konzentration deutscher Truppen dargestellt war. Auf Grund dieser Information warnte Winston Churchill Stalin vor der Gefahr, die der UdSSR drohte. Im Mai 1940 genehmigte die Sikorski-Regierung das Statut f ü r die Femegerichte, die der ZWZ im besetzten Polen geschaffen hatte. Für Verrat, Provokation, Denunziation, Spionage f ü r die Besatzer und auch für die Verfolgung und Schädigung der polnischen Bevölkerung wurde auf Todesstrafe erkannt. Zahlreiche Gestapofunktionäre und Gestapospitzel ereilte so ihr verdientes Schicksal. Die Niederlage Frankreichs im Juni 1940 hatte zur Folge, daß der antideutsche Kampf in Polen abebbte. Auch die Sikorski-Regierung ordnete die Einstellung des aktiven Widerstandes an, was unter den damaligen Umständen gerechtfertigt war.37 Das Stimmungsbarometer der Öffentlichkeit Polens fiel vorübergehend stark. Zygmunt Klukowski, ein polnischer Arzt aus Szczebrzeszyn bei Zamosc, vermerkt in seinem aufschlußreichen Tagebuch unter dem 14. Juni 1940: „Am Nachmittag verbreitet sich die Kunde, daß die Deutschen Paris eingenommen hätten. Die Kaserne ist beflaggt. Im Städten überall fürchterliche Niedergeschlagenheit." Und in der Eintragung vom 16. Juni heißt es: „Die Nachrichten aus Frankreich werden immer beängstigender. Alle sind äußerst deprimiert, und der Glaube an einen alliierten Sieg ist ernstlich ins Wanken geraten. Wie wird es 36 37
Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka, T. 1, S. 45. Vgl. Sprawa polska w czasie drugiej wojny swiatowej na arenie S. 168 f.
miqdzynarodowej,
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nun weitergehen? Was wird aus Polen werden?" 38 Der oben zitierte L. Landau schreibt am 13. Juni 1940: „Die Einnahme von Rouen, Reims und Compiegne wirkte geradezu niederschmetternd, und es gibt so gut wie niemanden mehr, der auf einen Sieg der Alliierten hofft."39 Unter dem 14. Juni notiert er: „Die bei uns herrschende Gefühlslage läßt sich nur als völlig hoffnungslos bezeichnen."40 Es handelte sich um eine spürbare Krise, die schwerste seit dem September 1939. Andererseits veranlaßte die schnelle und katastrophale Niederlage der französischen Armee vom Mai/Juni 1940 die polnische Öffentlichkeit, den September 1939 mit etwas anderen Augen zu sehen. Die französische Armee hatte nicht viel länger und auch nicht erfolgreicher Widerstand leisten können als die polnischen Truppen. Das schlug für Frankreich um so negativer zu Buche, als die Methoden der deutschen Kriegführung, insbesondere der gezielte Vorstoß konzentrierter Panzertruppen, auf Grund der in Polen gemachten Erfahrungen bereits bekannt waren. Trotz aller für Polen negativ ins Gewicht fallenden Gesichtspunkte befreite die Niederlage, die Frankreich 1940 erlitten hatte, einige Kreise der polnischen Gesellschaft von dem Schuldkomplex, der sie bis dahin mit Blick auf den September 1939 belastet hatte.41
2. Die zeitweilige Einschränkung der Aktivitäten Nach den schweren Junitagen des Jahres 1940 gelangte die polnische Bevölkerung mehr und mehr zu der Uberzeugung, daß mit einem langwierigen Krieg zu rechnen sei. Unter den verschiedensten Gerüchten, die in Polen kursierten, gab es nicht wenige, die einen sowjetisch-deutschen Konflikt prophezeiten. Heute weiß man, daß Hitler und seine nächste Umgebung diese Frage in strikter Geheimhaltung erörtert hatten. Am 30. Juni 1940 notiert Halder in seinem Tagebuch: „Der Blick richtet sich unverwandt nach Osten."42 In den folgenden Monaten sollte diese Überzeugung, die in der polnischen Öffentlichkeit herrschte, noch durch die Tatsache erhärtet werden, daß längs der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie deutsche Truppen züsammengezogen wurden.43 Die Zeit von Juni 1940 bis Juni 1941 gehört wohl zu den für Polen besonders kritischen Perioden. Hitler befand sich damals auf dem Gipfel seiner Macht. Einzig und allein England leistete noch Widerstand. Jedoch konnte man sich auch vorstellen, daß die Kraft der faschistischen Aggressoren nicht mehr lange reichen würde, denn es war auch die Zeit, in der man die Hoffnung darauf setzte, daß die Entscheidung im Osten fallen würde. Obwohl die Vorbereitungen auf den Krieg 38
39 4(1 41 42 43
24*
Klukowski, Z., Dziennik z lat okupacji Zamojszczyzny 1939-1944 (Tagebuch aus der Region Zamo& während der Okkupationsjahre 1939-44), Vorwort und Red. Z. Mankowski, Lublin 19592, S. 119. Landau, Kronika, S. 525. Ebenda, S. 527. Vgl. Sztumberk-Rychter, Artylerzysta piechurem, S. 96. Halder, Dziennik wojenny (Kriegstagebuch), T. 1, Warszawa 1971, S. 473. Vgl. Klukowski, Dziennik z lat okupacji, S. 137.
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gegen die UdSSR der höchsten Geheimhaltungsstufe unterlagen, vermochte doch Polens Bevölkerung, die den Verlauf der deutschen Truppenkonzentration beobachtete und mit außerordentlich feinem Gespür jegliche Änderung im Verhalten der Besatzer registrierte (besonders, je näher der Juni 1941 rückte), nicht daran zu zweifeln, daß ein Krieg Deutschlands gegen die UdSSR vor der Tür stand. Die Zahl der in Polen während der Zeit von April 1940 bis Juni 1941 stationierten deutschen Truppen stieg von 500 000 auf fast 700 000 Mann (Polizei und paramilitärische Formationen nicht mitgerechnet). Angesichts einer so starken militärischen Präsenz und des damit verbundenen Polzei- und SS-Terrors war ein in größerem Rahmen betriebener und vor allem aktiver Widerstand nicht möglich. Fortgesetzt wurde jedoch die Propaganda-, Kundschafter- und Sabotagetätigkeit. Im Ergebnis von Sabotage waren im Generalgouvernement im Februar 1941 über 40 Prozent der Lokomotiven nicht betriebsfähig. Hunderte von Werkzeugmaschinen, die polnische Arbeiter f ü r das deutsche Heer produziert hatten, wiesen absichtlich herbeigeführte technische Fehler und Defekte auf. Das traf auch auf etliche Funkstationen und Tausende von Artilleriegeschossen zu, die in Polen hergestellt worden waren. 180 Flugzeugmotoren wurden mit korrosionsfördernden Substanzen versehen. Zerstört wurden mehrere hundert Zisternen, Magazine und Militärbaracken. Von besonders großer Bedeutung waren Sabotageakte im oberschlesischen Industriegebiet, wo - entgegen den Erwartungen und Auflagen der Nazibehörden - die Bevölkerung gar nicht daran dachte, nicht mehr polnisch zu sprechen. Ein Bericht der Polizei in Oberschlesien stellte fest: „Jeder neu errungene Erfolg Deutschlands mindert freilich die im stillen genährte Hoffnung auf die Wiedererrichtung eines territorial vergrößerten polnischen Staates, verstärkt aber andererseits auch wieder die Feindschaft gegenüber Deutschland. Diese Hoffnung muß als gemeinsamer moralischer Fundus der polnischen nationalen Minderheit betrachtet werden." 44 Da im Jahre 1940 die Deportationen polnischer Arbeiter zur Zwangsarbeit im sog. Altreich einsetzten, wurde es möglich, den Aktionsradius der Sabotage dorthin auszudehnen, wobei Sabotage dort natürlich nicht in so großem Umfang wie in Polen selbst betrieben werden konnte. Trotz großer Schwierigkeiten wurde 1942 in Berlin eine ZWZ-Zelle gebildet. Eine zunehmend lebhaftere - hauptsächlich organisatorische und propagandistische - Aktivität entfalteten kommunistische Gruppen. Bereits im April 1940 konstatierten deutsche Polizeiorgane: „Unter der polnischen Bevölkerung gibt es zwar schwache, aber doch fühlbare kommunistische Tendenzen."45 Hilary Chelchowski sieht diese Zeitspanne so: „Weitverbreitet ist die Ansicht, daß sich die Kommunisten vom September 1939 an bis zum Jahre 1941 jeglicher Aktivität enthalten hätten ; aber das stimmt nicht. Die polnischen Kommunisten haben zu keiner Zeit auf Aktivitäten verzichtet. Ich erinnere mich, daß - als ich am zweiten Tag nach der Kapitulation der polnischen Hauptstadt mit meiner Frau in den bei Warschau gelegenen Ort Slomin zurückgekehrt war - mein erster Gedanke 44
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Popiolek, K.., Górnego Slqska droga do wolnosci (Oberschlesiens Weg in die Freiheit), Katowice 1967, S. 134 f. Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka, T. 1, S. 177.
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war, wieder Verbindung mit den Genossen aufzunehmen, die ich aus der Zeit vor dem Kriege kannte. Wir reisten sogar in andere Städte, so nach Lodz, Siedice, Radom und ins Schlesische, selbst nach Bialystok... Anfangs waren das nur lockere Kontakte. Wir kamen zu Diskussionen und zum Zwecke des Gedankenaustausches zusammen. Aber im Laufe der Zeit nahmen diese lockeren Kontakte feste, organisierte Formen an. Schon 1940 wurde für den Warschauer Raum die Organisation .Gesellschaft der Freunde der UdSSR' gegründet."46 Zygmunt Duszynski berichtet, daß im Juli 1940 der „Bund des Befreiungskampfes" entstand.47 Teodor Kufel teilt mit: „Schon in den ersten Okkupationstagen begann man an den bewaffneten Kampf gegen die Faschisten zu denken. Schrittweise wurde diese Idee zur Tat. Bereits 1940 bildete sich auf Initiative der Kommunisten mit Unterstützung von Funktionären der Arbeiterbewegung und linker Vertreter der Bauernpartei in der näheren und weiteren Umgebung von Warschau eine Gruppe des Verbandes ,Hammer und Sichel'."48 Mieczyslaw Moczar erinnerte sich: „Wir Kommunisten waren uns darüber klar, daß es mit zwingender Folgerichtigkeit zu einem Krieg zwischen Hitlers Drittem Reich und der Sowjetunion kommen würde. Daran haben wir auch nicht einen Moment gezweifelt. Im übrigen kann ich hier nur sagen, daß wir über dieses Thema so manches Gespräch mit den verantwortlichen Funktionären der KPdSU geführt haben. Alle waren dieser Auffassung."49 Zu Beginn des Jahres 1941 verstärkten sich diese Anzeichen. Jan Trzaska, Mitglied des ZWZ und späterer Kommandeur einer Partisanenabteilung der Volksgarde und Volksarmee in der Umgebung von Krakau, vermerkt: „Auch unser Dorf bekam - wie alle anderen Landgemeinden - immer stärker die durch die Naziokkupation verursachten Belastungen zu spüren, und das Leben wurde immer schwieriger. Als wir miteinander über internationale Probleme sprachen, konnte uns eigentlich nur noch folgende These beruhigen: Der Gegner schlingt mehr in sich hinein, als er verdauen kann, er verzettelt sich . . . Allmählich dämmerte es uns, daß es eigentlich nur eine Macht gibt, die Deutschland in die Schranken zu weisen vermöchte: die Sowjetunion. Obwohl diese Macht nicht am Krieg beteiligt war, stand für uns fest, daß eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und dem Faschismus nicht zu vermeiden sein würde."50 Diese Erwartungen, die viele Polen in der Zeit vom Sommer 1940 bis Mitte 1941 hegten, bildeten eine solide Voraussetzung für den Wiederaufbau einer kommunistischen Partei. Der am 22. Juni 1941 erfolgte deutsche Angriff auf die UdSSR veränderte die Situation, in der sich Polen befand, vor allem insofern, als sich das Hitlerreich mit dem Gros seines Potentials im Osten band und - nach militärischen Anfangserfolgen - um die Jahreswende 1941/42 Schlappen folgten, die die Perspektive 46
47 48 49 50
Ludzie, 1961. Ebenda, Ebenda, Ebenda, Trzaska, S. 40 f.
fakty,
refleksje
(Menschen, Begebenheiten und Betrachtungen), Warszawa
S. 72. S. 201. S. 10. J., Partyzanckie sciezki (Auf den Spuren der Partisanen), Warszawa 1967,
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des Hitlerfaschismus in Frage stellten. Basii Liddell Hart schreibt, daß der bewaffnete deutsch-sowjetische Konflikt „den Krieg revolutioniert" („the whole outlook of the war was revolutionised") und dies für England die Rettung bedeutet habe.51 „Als mit Hitlers Überfall der deutsch-sowjetische Krieg begann", erinnert sich der Journalist Henryk Korotynski, „bin ich auf keinen einzigen Menschen gestoßen, dessen bereits im Schwinden begriffene Hoffnung auf eine Änderung des tragischen polnischen Schicksals nicht wieder kräftigen Auftrieb erhalten hätte, denn nicht nur das Schicksal, das Polen erlitt, war ja seinerzeit tragisch zu nennen, sondern gleichermaßen auch die düsteren und deprimierenden Zukunftsperspektiven. Vor Jahresfrist hatte Frankreich kapituliert, vor knapp einem Monat waren Jugoslawien und Griechenland niedergeworfen worden, und die Vereinigten Staaten waren noch nicht in den Krieg eingetreten (zudem waren sie geographisch weit entfernt). Der 22. Juni war mithin ein Tag, an dem ein Fenster unseres Besatzungskerkers weit aufgestoßen wurde: dieses Datum war seinerzeit das einzige Gesprächsthema der Warschauer. Als die deutsche Propagandapresse Triumphmeldungen über die im Osten errungenen Siege veröffentlichte, vom Eilmarsch auf Moskau, von zahlreichen Kesselschlachten und unzähligen Gefangenen, die man gemacht habe, berichtete - da wurde der Optimismus wieder von einer förmlichen Todesangst abgelöst, die in die bange Frage mündete: Ist dieser Hitler tatsächlich unbesiegbar? Als die deutsche Wehrmacht in der Schlacht vor Moskau zum erstenmal eine Niederlage hinnehmen mußte und das seit Menschengedenken erbittertste Ringen mit wechselndem Erfolg verlief, da begriff auch derjenige polnische Landsmann, dessen Sympathien wie ehedem weiterhin dem Westen gehörten, daß im Falle eines Hitlerschen Sieges uns kein Westen vor dem unausweichlichen Inferno würde retten können." 52 Es begann nunmehr die Etappe, in der der polnische Widerstand sukzessive an Intensität zunahm. Strategisch gesehen war Polen als Hinterland der deutschen Ostfront von immenser Wichtigkeit, führten doch durch dieses Land die Hauptnachschub- und Fernmeldeverbindungen zwischen dem „Dritten Reich" und seiner auf dem Territorium der UdSSR operierenden Armeen. In der Zeit vom 22. Juni bis Ende Oktober 1941 passierten Polen 7 933 komplette Transportzüge und 19 532 einzelne Waggons zur Versorgung der im südlichen Frontabschnitt befindlichen Truppen. 53 Am 4. Juli 1941 stellte Hans Franck fest: „Zwei Drittel des gesamten Transports zwischen Rußland und dem Reich werden durch das Gebiet des Generalgouvernèments abgewickelt werden." 54 Legt man diese Zahlenangaben zugrunde, so läßt sich sagen, daß durch Polen in Richtung Osten pro Jahr schätzungsweise 30 000 bis 40 000 Eisenbahnzüge oder täglich 100 Züge führten. Teilt man diese Zahlen durch die drei oder vier Transitstrecken, so ergibt 51 52
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Hart, L., History of the second World War, London 1970, S. 141. Korotynski, H., Róznie bywalo . . . (Es war ganz verschieden . . . ), Warszawa 1972, S. 42 f. Polskie sily zbrojne, T. 3, S. 446. Olcupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka, T. 1, S. 370.
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sich eine sehr große Verkehrsdichte. Daraus erhellt auch die Bedeutung der Bahnknotenpunkte, vor allem Warschaus. Einen wichtigen Stellenwert besaß auch der Straßenverkehr (insbesondere auf den Fernstraßen Berlin - PoznaA Warschau - Brest - Smolensk sowie Breslau - Katowice - Krakau - Przemysl Lwöw - Kiew). Unter solchen Umständen gewann die Situation auf polnischem Boden erstrangige strategische Bedeutung. Geht man davon aus, daß sich der Ausgang des zweiten Weltkrieges an der sowjetisch-deutschen Front entschied, dann muß man gleichzeitig einräumen, daß die Entwicklung der Ereignisse in Polen - und insbesondere die polnische Widerstandsbewegung - direkten Einfluß auf das Kampfgeschehen an der deutsch-sowjetischen Front ausübte. Über polnisches Territorium transportierte man auf Schiene und Straße Militär, Waffen, Munition, Treibstoff, Proviant und militärische Ausrüstungen nach Osten. Ins Reich fuhren Züge mit Urlaubern und Verwundeten. Jede Störung des Nachschubs, besonders von Treibstoff, Ersatzteilen für Kampffahrzeuge und Munition, mußte sich auf die Kampfkraft der Wehrmacht nachteilig auswirken. Darüber hinaus waren die Aggressoren, indem sie gegen die Widerstandstätigkeit angehen mußten, gezwungen, ihr Potential aufzuteilen und Kräfte von regulären Frontabschnitten abzuziehen. Dadurch wurde den Armeen der Antihitlerkoalition die Erfüllung ihrer Aufgaben erleichtert. Im Februar 1942 unterhielten die Okkupanten im Generalgouvernement und in den annektierten polnischen Gebieten 500 000 Soldaten; im November 1943 waren es 800 000 Mann, wozu noch 150 000 Polizeiangehörige kamen. Aus diesen Gründen wurde die Widerstandsbewegung von Juni 1941 an allmählich zur entscheidenden Front, an der das polnische Volk auf seiten der Antihitlerkoalition am Krieg teilnahm. Von diesen Voraussetzungen ausgehend, rief die PPR dazu auf, das deutsche Verkehrsnetz zu desorganisieren. „Gwardzista", das Organ der Volksgarde, schrieb: „Was sich an der Front nur unter Einsatz vieler Geschütze, Flugzeuge und Soldaten bewerkstelligen läßt, kann hier einfach dadurch erreicht werden, daß die Verschraubung der Schienen gelockert wird. Deswegen besteht die wichtigste Aufgabe des Partisanenkampfes zur Zeit darin, die Verkehrswege unbrauchbar zu machen und Militärlieferungen zu vernichten. Bedenkt man dabei noch, daß die Eisenbahnlinien und Chausseen nicht gerade dicht gesät und daher bis zum äußersten ausgelastet sind, so überzeugt uns allein schon dies vom Erfolg unserer Aktion. Der gesamte Eisenbahnstransport wird praktisch über 4 Strecken abgewickelt, und zwar über die Relationen Warschau - Poznan, Warschau - Lodz, Kielce - Skarzysko und Krakau - Lwöw. . . . Die erwähnten Abschnitte sind zusammengenommen etwa 1 700 km lang. Besetzt man sie jeweils nur mit 2 Doppelposten, und zwar immer in Abständen von je 1 Kilometer, so brauchte man dafür mindestens 2 Heeresdivisionen. Da die frühere polnische Staatsbahn ein Streckennetz von mehr als 20 000 km umfaßte, wären zu ihrem einigermaßen ausreichenden Schutz ungefähr 200 000 Kontrollposten vonnöten. Hinzu kämen Verkehrsstraßen, Brücken und Objekte, auf denen die Kontrolle zeitweilig verstärkt werden müßte; ferner Expeditionstruppen, deren Aufgabe es ist, Wälder, Dörfer und das offene Land auf Partisanen hin durchzukämmen, und gut und gerne noch eine halbe Million Mann, die eine zusätzliche - wenn auch sehr fragwürdige -
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Sicherheitsgarantie bieten würden. Aber es müßten schon mindestens 10 Feldgendarmen mächtig ins Schwitzen kommen, wenn sie auch nur einen einzigen Partisanen aufspüren wollten. Ein paar tausend Partisanen, die jeweils aus Gruppen zu 10-20 Mann bestehen und dauernd ihren Standort verändern, die entschlossen handeln und ohne Pardon vorgehen, müssen den Okkupanten schier zur Verzweiflung treiben." 55 Die zweite Hälfte des Jahres 1941 ist dadurch gekennzeichnet, daß die polnische Widerstandsbewegung ihre Industrie- und die Verkehrssabotage verstärkte. Nach den Angaben der ZWZ-Organe wurden damals 1 935 Lokomotiven beschädigt und 91 in Ausbesserungswerken zurückgehalten, 237 Transporte in Brand gesetzt und 91 zum Entgleisen gebracht, 2 851 Eisenbahnwaggons beschädigt sowie drei Eisenbahnbrücken gesprengt.86 In den darauffolgenden Jahren wuchs die Zahl derartiger Aktionen hauptsächlich infolge der durch die Volksgarde und später durch die Volksarmee betriebenen Verkehrssabotage. 3. Eine neue Welle bewaffneter Auseinandersetzungen 1942 bis 1943
in der Zeit von
Im Mai 1942 begann die zur Volksgarde gehörende 1. Partisanenabteilung - die Stefan-Czarnecki-Abteilung - mit ihren Operationen. Diese Formation war in Warschau vom zentralen Führungsstab der Volksgarde zusammengestellt worden ; sie unterstand Marian Spychalski persönlich. An ihrer Spitze stand Franciszek Zubrzycki, Student der Warschauer Technischen Hochschule, der auch „Maly Franek" (Kleiner Franek) genannt wurde. Dieser Abteilung gehörten anfänglich 15 bewaffnete Gardisten an, die über ca. 20 Pistolen, 5 Hand-Maschinengewehre und 10 Karabiner verfügten. Die Abteilung beorderte man in den Raum Piotrköw, wo sie die Aufgabe hatte, Eisenbahntransporte und Polizeiposten anzugreifen. Sie operierte - mit zeitlichen Unterbrechungen - von Mitte Mai bis zum 6. August 1942. Die größte Kampfhandlung führte sie am 10. Juni 1942 in der Nähe der Ortschaft Polichno durch. Als Franciszek Zubrzycki seine Abteilung Anfang August 1942 wieder aufzubauen versuchte, fiel er in die Hände der Gestapo. Man vermutet, daß er bei einem Fluchtversuch erschossen wurde. 57 Ende 1942 verfügte die Volk'sgarde über 39 kämpfende Partisanengruppen, die hauptsächlich im Raum Lublin, aber auch in den Regionen Kielce, Warschau und Krakau operierten. Sie unterschieden sich voneinander durch ihre zahlenmäßige Stärke sowie durch Bewaffnung und Ausbildung. Auch das Ausmaß ihrer kämpferischen Aktivität war nicht gleich. Bedenkt man jedoch dabei, daß sich die Volksgarde erst im Anfangsstadium befand, so muß die Mobilisierung dieser Gruppen als ein Erfolg verbucht werden. Die Bilanz der Volksgarde weist f ü r die 55 66 57
Gwardzista, Nr. 2, 10. 6.1942. Vgl. Polskie sily zbrojne, T. 3, S. 447. Tuszynski, W., Za wami pöjdq inni. Z dziejöw oddzialu „Malego Franka" (Nach euch kommen andere. Aus der Geschichte der Abteilung „Kleiner Franek"), Warszawa 1969, S. 106.
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Zeit von Mai bis Dezember 1942 300 Kampfaktionen aus. In dieser Zahl sind enthalten: 20 entgleiste Militärzüge; 50 zerstörte Gendarmerie- und Polizeiwachen; Hunderte von Polen, die aus aufgebrochenen Gefängnissen befreit wurden; mehrere Dutzend liquidierte Gestapofunktionäre und Gestapoagenten. Die antifaschistische Widerstandsbewegung entfaltete sich unter der Ägide der Volksgarde nicht nur im Generalgouvernement, sonders auch in Lodz sowie in Oberschlesien und im Bergbaurevier von Dqbrowa Görnicza, wo Diversionen sowie Industrie- und Transportsabotage in immer größerem Stil betrieben wurden. Im Juli 1942 depeschierte der Chefkommandeur der Landesarmee an General Sikorski: „Dadurch, daß die Deutschen als Präventivmaßnahme das Prinzip der kollektiven Verantwortlichkeit und Massenterror praktizieren, hat die Nation trotz ihres passiven Verhaltens und der Tatsache, daß sie es vermeidet, Repressionen zu provozieren, bereits erhebliche Verluste erlitten. Eine solche schon 3 Jahre lang eingenommene Haltung verstärkt in der Gesellschaft eine Lethargie, die sich negativ auf die Standfestigkeit auswirken kann. Diejenigen, die aktiver sind, also nicht in Passivität verharren, werden in den sowjetischen Partisanenkampf hineingezogen und geraten unter kommunistischen Einfluß. Die Einstellung, sich in erster Linie darauf zu orientieren, daß man durchhält, kann sich auch schädlich auf die Moral innerhalb der bewaffneten Streitkräfte in Polen auswirken. Ich meine, daß, bevor geeignete Maßnahmen ergriffen werden, in der Armee und in der Gesellschaft die Kampfmoral und die bewußte, zielgerichtete Einsatzbereitschaft erhöht werden müssen. Daher beabsichtige ich, sofern mir dies nicht verwehrt wird, von September 1942 an eine noch intensivere Diversionsaktion einzuleiten und im Osten auch den Partisanenkampf zu eröffnen. Dadurch gelange ich (abgesehen von den bereits genannten damit erzielbaren Nutzeffekten) a) zu einer Kontrolle des Militärapparates und zur Erhöhung seiner Leistungsfähigkeit; b) dadurch, daß eine Reaktion der Besatzer ausgelöst wird, zur Überprüfung seiner geistig-moralischen Verfassung und seiner Kampfkraft." 58 Im Herbst 1942 kam es im Stadtgebiet von Warschau zu einem Zusammenstoß von Abteilungen des polnischen Untergrundes mit den Okkupanten. In der Nacht vom 7. zum 8. Oktober 1942 sprengten sieben AK-Kampfgruppen unter Führung des Hauptmanns Ing. Zbigniew Lewandowski an mehreren Stellen die Bahngleise auf Fernstrecken, die vom Bahnknotenpunkt Warschau aus in verschiedene Richtungen führen. Auf diese Weise wurde der Zugverkehr in Richtung deutschsowjetischer Front für mindestens 48 Stunden unterbrochen, und das in der Zeit, als bei Stalingrad erbitterte Kämpfe tobten. Diese Aktion mit der Tarnbezeichnung „Kranz" fand als einer der Erfolge des polnischen Untergrundes in Warschau und im Umkreis der Stadt ein überaus lebhaftes Echo. Als Antwort darauf erhängten die Okkupanten an verschiedenen Stellen der Stadt 50 Insassen des Pawiak-Gefängnisses, darunter 37 Kommunisten. Das Zentralkomitee der PPR beschloß auf diese Verbrechen hin eine Gegen53
Caban, L/Mankowski, Z., Zwiqzek Walki Zbrojnej i Armia Krajowa w Okr^gu Lubelskim 1939-1944 (Der „Bund des bewaffneten Kampfes" und die Landesarmee im Bezirk Lublin 1939-1944), T. 2: Dokumente, Lublin 1971, S. 498 f.
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aktion. Am Abend des 24. Oktober bewarfen gegen 19 Uhr drei Stoßtrupps das deutsche Restaurant „Café Club", die deutsche Bahnhofsgaststätte der Mitropa und die Druckerei der von den Besatzungsbehörden in polnischer Sprache herausgegebenen Zeitung „Nowy Kurier Warszawski" mit Handgranaten. Deutschen Angaben zufolge wurden 34 Offiziere verletzt, ein Teil von ihnen tödlich. An diesen Aktionen nahmen u. a. folgende Gardisten teil: Roman Bogucki, Tadeusz Findziñski, Jerzy Duracz, Jan Strzeszewski und Mieczyslaw Ferszt. AK-Formationen führten eine Reihe von Uberfällen auf deutsche Transporte durch. 1942 beschädigte die AK fast 2 000 Züge, steckte ca. 7 000 Waggons in Brand und verursachte ungefähr 130 Betriebsstörungen im Zugverkehr. Der Gouverneur von Warschau, Fischer, berichtete der Administration des Generalgouvernements : „Seit einigen Tagen wird die öffentliche Sicherheit auf den Straßen Warschaus in besonderem Maße durch Anschläge polnischer Fanatiker gefährdet, die diese unter Verwendung von Salzsäure auf deutsche Wehrmachtsangehörige und deutsche Zivilpersonen verüben. Bei Anbruch der Dunkelheit bespritzen sie deutsche Straßenpassanten mit Salzsäure, unter deren Einwirkung die damit benetzten Teile der Kleidung weitgehend zerfressen werden. Von Seiten der Wehrmacht wurden über 100 solcher Vorfälle gemeldet. Auch zahlreiche Mitarbeiter der Distriktsbehörde erlitten auf diese Art und Weise unersetzliche Verluste, da es völlig ausgeschlossen ist, neue Wintermäntel u. ä. in gleicher Ausführung zu beschaffen."59 Am 26. Oktober 1942 verfügten die Okkupanten die Polizeistunde auf 20 Uhr und erlegten der polnischen Bevölkerung eine Kontribution in Höhe von einer Million Zloty auf. Das ZK der PPR beschloß, diesen Betrag zu konfiszieren. Unter dem Oberbefehl des Ingenieurs Jan Strzeszewski drangen vier Kampfgruppen der Volksgarde, die - angeführt von Franciszek Bartoszek, August Lange, Boleslaw Kowalski und Janusz Zarzycki - insgesamt 20 Mann umfaßten, am 30. November 1942 um 8.10 Uhr in die Stadtsparkasse ein, wo der von der Bevölkerung der Hauptstadt eingetriebene Betrag in Höhe von 1 052 433 Zloty lagerte. Für das konfiszierte Geld hinterließen sie eine Quittung, auf der ziu lesen stand, daß das Geld f ü r den Kampf gegen die Besatzer verwendet werde. „Dieses phantastische Unternehmen war in Warschau in aller Munde", erinnert sich Stanislawa Sowiñska. „Ganz Warschau freute sich und lachte über die Deutschen, die sich 1 Million Zloty unter den Nagel gerissen zu haben glaubten und dann das Geld einer Untergrundorganisation überlassen mußten. Durch die Stadt schwirrten schier unglaubliche Geschichten über den Verlauf des Handstreichs."60 Kampfaktionen unter Einsatz von Bomben und Granaten führte die Volksgarde in Radom, Krakau und anderen Städten durch, wobei zahlreiche Deutsche getötet und verwundet wurden. Daraufhin verstärkten die Okkupanten den Terror. In Warschau fanden Straßenrazzien statt, bei denen ungefähr 20 000 Menschen (im 1. Halbjahr 1943 15 000 bis 17 000) festgenommen wurden. Am 15. Januar 1943 unternahm die Volksgarde ihre nächste „Enteignungs59
m
Bartoszewski, W., Warszawa pierácieñ smierci (Der tödliche Ring um Warschau), Warszawa 1970. Sowiñska, S., Lata walki (Jahre des Kampfes), Warszawa 1957.
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aktion", bei der sie eine halbe Million Zloty der Versicherungsanstalt beschlagnahmte. Zwei Tage später legten Volksgardegruppen Bomben in Warschauer Kinos, zu denen nur Deutsche Zutritt hatten. Die Gestapo war gezwungen, die Massenrazzien einzustellen. Deutsche Polizei umstellte am 13. Januar 1943 in Minsk Mazowiecki das Haus der Familie Nalazek, in welchem Funktionärsversammlungen der PPR stattfanden und das außerdem als Lager von Waffen und Propagandamaterial diente. Die achtköpfige Familie führte mit den Polizisten einen ungleichen Kampf, die aus Rache das Haus in Brand steckten. Der Vater Stanislaw, die Mutter Stefania, und die Tochter Stanislawa kamen in den Flammen um. Von den übrigen Kindern gelang es Jan, Waclaw und Zofia, die Blockade zu durchbrechen, während sich Helena und Wladyslaw im Keller versteckten und auf diese Weise ihr Leben retteten. Sie alle setzten danach ihren bewaffneten Widerstandskampf fort und starben in verschiedenen Situationen von Besatzerhand. So verkörpert die Familie Nalazek als dramatisches Beispiel das Schicksal, das vielen polnischen Familien zuteil wurde. Der f ü r Sicherheitsfragen im Generalgouvernement zuständige Krüger erklärte: „Der bei uns momentan spürbare und auch tatsächlich vorhandene Spannungszustand ist eine logische Reaktion auf die allgemeine militärische Lage: in ihr ist die Ursache dafür zu sehen, daß die Reaktion der Polen derartige Formen angenommen hat. Die Polen sind brillante Verschwörer, die jede Gelegenheit dazu ausnutzen, um mit ihren illegalen Bestrebungen voranzukommen. Man spricht davon, daß sich bei uns schwere innere Unruhen abzeichnen, ja es ist sogar von einem möglichen Aufstand die Rede. Man darf sich da nicht täuschen lassen: im Notfall werden die Polen alles auf eine Karte setzen. Auf der anderen Seite merken sie, wie ich meine, auch wohl, daß der richtige Augenblick dafür noch nicht gekommen ist. Kurz vor den Weihnachtsfeiertagen waren wir Zeugen - speziell in Krakau verübter - Uberfälle und Attentatsversuche bzw. - wie ich fortan dergleichen nennen werde - Sabotageversuche."61 In der zweiten Hälfte des Jahres 1941 hatte das AK-Oberkommando eine Aktion mit der Tarnbezeichnung „Paletta" eingeleitet. Dieses Unternehmen bestand darin, daß in den Gebieten östlich der 1939 gezogenen Grenze Polens Dutzende je fünf- bis sechsköpfige Patrouillen mit insgesamt 500 Mann gebildet wurden, die bei Ausbruch eines Aufstandes diesem von Osten her Flankenschutz geben sollten, indem sie die Nachschubverbindungen im Hinterland der deutschen Wehrmacht abschnitten. Außerdem wurden im Rahmen der „Palette"-Aktion laufend kleinere Diversions- und Sabotageakte durchgeführt. Der spektakulärste Handstreich der „Palette"-Kommandos war der Überfall auf das Gefängnis in Pinsk am 18. Januar 1943, bei dem drei von den Deutschen eingekerkerte AKOffiziere und andere Häftlinge - meist sowjetische Partisanen - befreit wurden.62 Auf Grund der im „Generalplan Ost" getroffenen Festlegungen begannen die Faschisten Ende 1942 mit der Aussiedlung der polnischen Bevölkerung aus dem 61 62
Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka, T. 2, S. 18 f. Vgl. Polskie sily zbrojne, T. 3, S. 496.
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Gebiet von Zamosc, dem südlichen Teil der Wojewodschaft Lublin, an deren Stelle deutsche Kolonisten angesiedelt wurden. SS und Polizei führten diese Aussiedlungen in barbarischer Weise durch: Zehntausende von Polen wurden deportiert, zahlreiche polnische Dörfer völlig zerstört; viele Menschen kamen ums Leben. Die Aussiedlung erfolgte in drei Etappen: im November/Dezember 1942, von Januar bis März 1943 sowie im Juni/Juli 1943. Besonders tragisch war das Martyrium von 30 000 polnischen Kindern, die gewaltsam von ihren Eltern getrennt und teils germanisiert, teils aber auch ermordet wurden. Das, was in und um Zamosc geschah, alarmierte die gesamte polnische Öffentlichkeit. Man befürchtete, daß die Okkupanten nach der Ausrottung der Juden dazu übergehen würden, die polnische Bevölkerung in Massenaktionen physisch zu vernichten. In den von der Aussiedlung betroffenen Kreisgebieten flüchteten polnische Bauern in die umliegenden Wälder, vernichteten ihr Hab und Gut, um es nicht in die Hände der Deutschen fallen zu lassen, und nahmen aus eigenem Antrieb den Kampf mit den Besatzern auf. Allgemein wurde die Forderung erhoben, der bewaffnete polnische Untergrund solle zum Schutz der polnischen Bevölkerung gegen die Deutschen vorgehen. Die Leitung der Volkspartei und das Oberkommando der Bauernbataillone entsandten den Oberbefehlshaber der Bauernbataillone, Oberst Franciszek Kaminski, in das Aussiedlungsgebiet. Er stellte Diversionsgruppen zusammen, die die Dörfer, in denen deutsche Kolonisten anstelle der vertriebenen Polen angesiedelt worden waren, zerstören und in Flammen aufgehen lassen sollten. Zugleich formierte er Abteilungen, deren Aufgabe es war, die Ermordung der von den Okkupanten ausgesiedelten polnischen Bevölkerung zu verhindern. Am 23. Dezember 1942 berichtete der AK-Chefkommandant dem militärischen Oberbefehlshaber in London über den Beginn der Aussiedlung in den südlichen Kreisen der Wojewodschaft Lublin und teilte mit: „Ich habe für die Lubliner Region die Durchführung einer Aktion des aktiven Widerstandes und eine ausgedehnte Diversionsaktion angeordnet. Von Ihrer Seite benötige ich Hilfe. Ich warte auf Nachricht, zu welchem Zeitpunkt wir damit rechnen können, daß sich wenigstens einige Bomber an unserer Verteidigungsaktion beteiligen. Die Ziele werde ich angeben."63 Am 30. Dezember 1942 erließ der oberste Führungsstab der Volksgarde einen Befehl, in dem es u. a. heißt: „Im Gebiet von Lublin hat der Feind mit der Massenvernichtung des polnischen Volkes begonnen. Ohne eigenes Verschulden führungslos, unbewaffnet und ohne Ausrüstung, leisten die Bauern verzweifelten Widerstand, örtliche Volksgardeabteilungen kämpfen zusammen mit ihnen Sichulter an Schulter und verleihen so dem Kampf einen organisierten und planmäßigen Charakter. Dem neuerlichen Versuch, das polnische Volk niederzuwerfen und zu zerbrechen, müssen wir siegreich Paroli bieten. . . . Das Oberkommando der Volksgarde hat eine Reihe von Gardeabteilungen zu Hilfe geschickt und entsendet weitere Formationen."64 Seitens der Volksgarde operierte hier die Kosciuszko-Partisanenabteilung, die von Grzegorz Korczynski befehligt wurde. 63 64
Caban/Mankowski, Zwi^zek Walki Zbrojnej, S. 506. Dowödztwo Glöwne GL i AL, S. 21.
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Diese Formation entwickelte sich im März 1943 zu einer Garde-Operativgruppe mit insgesamt 300 Mann. Der Kampf zur Verteidigung der Bevölkerung des Gebietes von Zamosc wurde gemeinsam von den Bauernbataillonen, der Landesarmee und der Volksarmee getragen. An ihm beteiligten sich auch sowjetische Partisanenabteilungen. In der Zeit von November 1942 bis Juni 1943 fanden in den südlichen Kreisen der Lubliner Region intensive Partisanenkämpfe statt. Am 6. und 7. Dezember 1942 kam es im Waldgebiet von Parczew zu einem Gefecht zwischen der Volksgardeabteilung von Teodor Albrecht und Okkupanten, die diese Abteilung einzukreisen und aufzureiben suchten. Das gelang jedoch nicht. Vielmehr gab es auf deutscher Seite 13 Tote und 10 Verwundete. Am 27. November 1942 überfiel die AK-Abteilung „Norbert" das von Deutschen kolonisierte Dorf Udycze. Wesentlich größer angelegt waren die Operationen der Bauernbataillonsabteilungen „Visa" (Oberleutnant Jerzy Miller) und „Azja" (Oberleutnant Czeslaw Aborowicz), in deren Verlauf am 27. und 28. Dezember acht deutsche kolonisierte Dörfer in Brand gesteckt wurden. In ihrem am 30. Dezember 1942 unweit des Dorfes Wojda geführten Kampf, in dessen Verlauf sie den Besatzern beträchtliche Verluste beibrachte, wurde die Bauernbataillonsgruppe „Visa" durch die sowjetische Partisanenabteilung des Hauptmanns Wolodin unterstützt. In der Silvesternacht führten die Partisanen zahlreiche diversionsartige Operationen durch. Die Faschisten unternahmen gegen die Partisanen immer ausgedehntere Abwehraktionen und gingen mit Repressionen gegen die polnische Bevölkerung vor: Sie steckten Dörfer in Brand und ermordeten deren Einwohner. Am 1. Februar 1943 entbrannte ein Kampf zwischen Bauernbataillonen und Deutschen bei Zaboreczne und am 2. Februar bei Roza. Am 4. Februar begannen zehn Tage dauernde Kämpfe einer 800 Mann starken Abteilung der Landesarmee gegen die Okkupanten in der Nähe des Dorfes Lasöwka, die über ungefähr 400 Mann verfügten und durch Panzerwagen und Flugzeuge unterstützt wurden. Diese Kampfhandlungen bezeichneten die Okkupanten als bewaffneten Aufstand. In der Zeit von März bis Mai herrschte in der Lubliner Gegend eine relative Ruhe. Die Deutschen stellten ihre Aussiedlungsaktionen ein. Im Juni und Juli 1943 starteten sie unter dem Decknamen „Werwolf" eine neue Aktion, mit der die Partisanenabteilungen aufgerieben werden sollten. Sie begann damit, daß die Okkupanten das polnische Dorf Sochy in Schutt und Asche legten und alle 300 Einwohner ermordeten. In einer Vergeltungsaktion zerstörte die AK in der Nacht vom 5. zum 6. Juni das von Deutschen kolonisierte Dorf Siedliska und tötete 60 ihrer Einwohner. Auf Grund der Tatsache, daß in diesem Gebiet sehr viel Militär und Polizei stationiert war, schränkten die Partisanen ihre Kampfhandlungen ein. Nachdem jedoch die Okkupanten ihren Kräfteeinsatz verringert hatten, nahmen sie ihre Aktivität im Herbst 1943 wieder auf.65 Der entschlossene Widerstand war einer der Gründe, die die Faschisten dazu zwangen, keine weiteren Polen aus der Region von Zamosc auszusiedeln. In 65
Zamojszczyzna vo okresie olcupacji hitlerowskiej. Relacje wysiedlonych i partyzantöw (Die Region Zamo££ während der Zeit der hitlerdeutschen Okkupation. Berichte von Ausgesiedelten und Partisanen), Warszawa 1968, S. 16 ff., 121 ff.
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diesem Gebiet fanden die ersten derartig großangelegten Partisanenaktionen auf polnischem Boden statt. Sie bildeten den Auftakt zu verstärktem Partisanenkampf auch im Umkreis von Lublin, von wo aus die Partisanenbewegung auf andere Regionen übergriff. In dieser Schrittmacherfunktion bestand gerade die Bedeutung dieser Geschehnisse, die sich u m die Jahreswende 1942/43 in der Gegend von Zamosc zutrugen und den Okkupanten im Endeffekt n u r Schwierigkeiten, jedoch keinerlei Erfolge einbrachten. Deshalb äußerte selbst Hans Franck Kritik an denen, die diese Aussiedlung in die Wege geleitet und durchgeführt hatten, nämlich an Himmler und der SS. Während der K ä m p f e erlitten die Faschisten nicht unerhebliche Verluste. Aber auch zahlreiche polnische Bauern starben infolge der gegen sie ergriffenen Vergeltungsmaßnahmen. Jedoch waren die Verluste trotz allem geringer, als wenn man sich widerstandslos in die Lager hätte deportieren lassen und die mit der Aussiedlung verbundenen Repressionen hingenommen hätte. Die polnischen Partisanenabteilungen sammelten wertvolle Erfahrungen. Ihre Taktik bestand darin, größere Auseinandersetzungen möglichst zu vermeiden und sie n u r in Notsituationen zu riskieren. Sie kämpften in kleinen Gruppen, die den Okkupanten Überraschungsschläge versetzten und sich entsprechend den Erfordernissen der „Zupfkrieg"taktik zurückzogen (der polnische Ausdruck „Zupfkrieg" geht auf Partisanenkriege des 17. Jh. zurück). Ein unbestreitbares Manko w a r auf polnischer Seite die fehlende Koordinierung des Widerstandskampfes zwischen Bauernbataillonen, Landesarmee und Volksgarde einerseits ünd dem Kampf der sowjetischen Partisanen andererseits. Im Verlauf des Jahres 1943 erfaßte der Partisanenkampf hauptsächlich die Umgebung von Kielce und auch die Gegend um die kleine Stadt Miechöw sowie die Region Podhale 66 , in geringerem Umfang auch andere Gebiete. Gegen Ende des Jahres 1943 kämpften in Polen 68 Volksgardeabteilungen. In den genannten Regionen operierten auch Formationen der Landesarmee. Im ganzen gab es zu jener Zeit 40 AK-Abteilungen, von denen die meisten um Wilno (Vilnius), in der Polesie-Region und Wolhynien stationiert waren. Die Bauernbataillone verfügten über ca. 50 Kampfabteilungen. Insgesamt hatte der polnische Untergrund also im J a h r e 1943 rd. 160 Partisanenabteilungen aufgestellt, wobei die Diversionsgruppen nicht mitgerechnet sind. Im November 1943 wuchs das deutsche Potential auf 800 000 Mann Militär und 150 000 Polizisten an. Der polnische Partisanenkrieg konzentrierte sich in erster Linie auf den großen Weichselbogen und das Gebiet zwischen Weichsel und Bug. Eine Verfügung Himmlers vom 21. Juni 1943 erklärte das Generalgouvernement zum Partisanenkriegsgebiet. Beunruhigung unter den Okkupanten und ein Wiederaufleben des polnischen Widerstandes löste die Expedition der sowjetischen Partisanenformation unter General Kowpak aus. Diese rd. 1 500 Mann starke Einheit hatte zu Beginn des Jahres 1943 die anhaltenden K ä m p f e bei Kiew mitgemacht und w a r dann durch die Region Polesie und über Rowne, Lwöw, Tarnopol und Stanislawöw in die Karpaten gelangt. Eine besonders starke Resonanz hatte ihr Kampf in der Gegend um Zamosc gefunden. Schließlich vermochten es die Okkupanten, die K a m p f k r a f t dieser Formation zu schwächen, woraufhin sie in kleinere Verbände m
Vgl. Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka, T. 2, S. 364.
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aufgeteilt wurde, die sich in den Raum Shitomir in der Ukraine durchschlugen. Die deutschen Verluste waren beträchtlich; noch größer aber war der moralische und politische Effekt dieser Aktion. Eine kühne Aktion vollbrachte ein Kampfverband der AK in der Nacht vom 5. zum 6. August 1943 in Jaslo. Diese Abteilung überfiel das fast genau im Zentrum der Stadt befindliche Gestapogefängnis und befreite sowohl Soldaten der Landesarmee als auch Kommunisten aus der Hand der Faschisten. In der zweiten Hälfte des Jahres 1943 griffen AK-Abteilungen die deutschen Grenzwachen in den Kreisen Jaslo, Sanok und Krosno an. In der Zeit vom 19. April bis zum 16. Mai 1943 kämpften innerhalb des Warschauer Ghettos jüdische Aufständische gegen die Faschisten. Dieser Kampf begann zu einer Zeit, da von dem 360 000 Einwohner zählenden jüdischen Warschauer Bevölkerungsteil nur noch ein Sechstel am Leben war, während das Gros - 300 000 Menschen - von den Faschisten in der Zeit vom 22. Juli bis zum 13. September 1942 hauptsächlich im Vernichtungslager Treblinka ermordet worden war. Im Oktober 1942 wurde im Warschauer Ghetto der Jüdische Kampfbund (Zydowska Organizacja Bojowa - ZOB) gegründet, an dessen Spitze Mordechaj Anielewicz stand. Dieser Verband, zwar völlig autonom, war, um überhaupt existieren und kämpfen zu können, auf Unterstützung der Volksgarde und der Landesarmee angewiesen. Beide waren seine wichtigsten Waffenlieferanten. Eine hervorragende Rolle spielte das Unterstützungskomitee f ü r die Juden „2egota", das dem Ghetto und dem ZOB Hilfe erwies. Diesem Komitee gehörten zahlreiche prominente Persönlichkeiten des polnischen öffentlichen Lebens an. Zur ersten ernsteren Auseinandersetzung im Warschauer Ghetto kam es in der Zeit vom 18. bis 21. Januar 1943, als die Faschisten den Versuch unternahmen, wieder einen Transport in das Vernichtungslager zusammenzustellen. Dabei erlitten die Okkupanten Verluste, aber es fielen auch zahlreiche Mitglieder des 2 0 B . An die Ghettobewohner richtete der ZOB-Stab den Aufruf: „Juden! Der Okkupant setzt nunmehr den zweiten Akt Eures Verderbens in Szene. Geht nicht willfährig in den Tod! Wehrt Euch! Greift zur Axt, . . . verbarrikadiert Euer Haus! Sollen sie so Euer habhaft werden . . . Im Kampf gibt es f ü r Euch eine Chance, Euch zu retten. Kämpft!" 67 Das Warschauer Ghetto wehrte sich. Zeigten sich SS-Leute und ihre Lakaien, so schössen die ZOB-Männer und töteten auch viele von ihnen. Als Vergeltungsmaßnahme befahl Himmler die Liquidierung des Ghettos. Nach dem Willen der Okkupanten sollte diese Aktion am 19. April 1943 beginnen. Der ZOB beschloß, den Faschisten Widerstand zu leisten, obwohl er sich darüber im klaren war, daß das ein ungleicher Kampf sein würde. Der Chronist des Ghettos, Emanuel Ringelblum, der von den Faschisten getötet wurde, schrieb in seinen so unschätzbar wertvollen Aufzeichnungen, die man nach dem Krieg auffand : „Es war von vornherein klar, daß hier eine Mücke gegen einen Elefanten kämpfen würde, doch ihre nationale Ehre gebot den Juden, Widerstand zu leisten und sich nicht einfach zur Schlachtbank führen zu lassen."68 Als die SS mit 67
68
Mark, B., Walka i zaglada warszawskiego getta (Kampf und Untergang des Warschauer Ghettos), Warszawa 1959, S. 187. Ebenda, S. 254.
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Panzerschutz in das Ghetto eindrang, w u r d e sie mit Schüssen empfangen. Zunächst leitete die faschistische Aktion Oberst S a m m e r n ; später ü b e r n a h m SSGeneral J ü r g e n Stroop das Kommando. In den ersten K ä m p f e n errangen die Aufständischen Erfolge, w ä h r e n d es auf Seiten der O k k u p a n t e n Tote u n d Verletzte gab. Bald vermochte Stroop jedoch H e r r der Lage zu werden. U n t e r Ausnutzung ihrer Übermacht zerstörten die Faschisten das Ghetto u n d ermordeten den noch vorhandenen spärlichen Rest seiner Bevölkerung. Die K ä m p f e w a r e n erbittert und dauerten bis zum 16. Mai 1943. Auf eine Bitte des ZK der P P R u n t e r n a h m die sowjetische L u f t w a f f e in der Nacht vom 13. zum 14. Mai 1943 einen größeren Luftangriff auf Warschau, in dessen Verlauf sie zahlreiche deutsche Objekte bombardierte. Das kämpfende, ausgeblutete und brennende Ghetto reagierte mit einem Gefühl der Erleichterung, als die Flugzeuge am Nachthimmel auftauchten. Die K a m p f g r u p p e n der Volksgarde und der Landesarmee w a r e n bemüht, dem Ghetto in seinem Kampf auf verschiedene Art u n d Weise Hilfe zu leisten. Viele der faschistischen Angreifer fielen dem polnischen Untergrund in die Hände. Während der K ä m p f e k a m e n über 75 500 Ghetto-Aufständische u m s Leben. Die Verluste d e r Deutschen beliefen sich nach Schätzungen auf 120-140 Tote und u n g e f ä h r 1 000 Verwundete. Nach Beendigung des Aufstandes w u r d e das Ghetto von d e n Nazis total zerstört, so d a ß dort n u r noch Ruinen übrigblieben. Der Warschauer Ghettoaufstand w a r Teil des gesamtpolnischen Befreiungskampfes u n d einer seiner blutigsten Abschnitte. Die polnischen U n t e r g r u n d organisationen taten viel, u m das Ghetto zu unterstützen: So lieferten sie Waffen, u n t e r n a h m e n bewaffnete Aktionen gegen die Okkupanten, u m den ZOB zu entlasten, u n d retteten schließlich J u d e n auch dadurch, d a ß sie sie versteckten. Man k a n n den Gedanken nicht ganz von sich weisen, d a ß das entsetzliche M a r t y r i u m der jüdischen Bevölkerung einen anderen Verlauf genommen haben würde, wenn sie sich rechtzeitig mit Waffen versehen hätte. Natürlich w ä r e n auch d a n n viele Opfer zu beklagen gewesen, aber es h ä t t e n mit Sicherheit nicht so viele gebracht werden müssen wie angesichts der tatsächlich eingetretenen Situation, die sich daraus ergab, daß m a n sich fast durchweg apathisch in Hitlers Todesfabriken abtransportieren ließ. Das Beispiel des Warschauer Ghettos veranlaßte J u d e n anderenorts zu aktivem Kampf. Am 2. August 1943 töteten Aufständische in Treblinka viele SS-Leute und 60 ukrainische KZ-Aufseher; u n g e f ä h r 600 J u d e n konnten aus dem Lager fliehen. Am 16. August 1943 begann ein Aufstand im Ghetto von Bialystok, der einige Wochen dauerte. Die O k k u p a n t e n sahen sich gezwungen, Artillerie und Flugzeuge einzusetzen. A m 14. September 1943 folgte ein Aufstand im KZ Sobibor. Da sich 1943/44 auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen die Situation f ü r Hitlerdeutschland verschlechtert hatte, begannen die Faschisten ihr Heil in geheimnisvollen „Vergeltungswaffen" (V 1 und V 2) zu suchen, die in P e e n e m ü n d e hergestellt und erprobt w u r d e n . Diesen Ort machte der Geheimdienst der Landesa r m e e ausfindig und übermittelte der britischen Regierung viele wertvolle detaillierte Angaben. So konnte die britische L u f t w a f f e in der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 einen Großangriff auf Peenemünde unternehmen, bei dem sie
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Produktionsstätten und Versuchslabors zerstörte, so daß die neue Waffe erst mit halbjähriger Verspätung zum Einsatz kam. Im Herbst 1943 wurde das deutsche Raketenwaffenzentrum nach Südpolen (in die Gegend von Blizno) verlegt, wo man versuchsweise V 1 - und V 2-Geschosse abfeuerte. Die Organe des polnischen Untergrundes beobachteten diese Versuche sorgfältig. Eines der V 2-Geschosse fiel in der Nähe des Dorfes Sarnaki in einen Fluß und explodierte nicht. Eine AK-Abteilung barg dieses Geschoß, noch bevor deutsche Suchtrupps erschienen waren. Man zerlegte es in seine Einzelteile und brachte sie nach Warschau, wo polnische Spezialisten sie eingehend untersuchten, Beschreibungen anfertigten und eine Dokumentation nach London schickten. In der Nacht vom 25. zum 26. Juli 1944 landete auf polnischem Boden (auf einem geheimen Landeplatz in der Gegend von Tarnöw) ein britisches Flugzeug, das den AK-Offizier Jerzy Chmielewski an Bord nahm, der die wichtigsten Montageteile der V 2 nach London brachte. Damit hatte die polnische Widerstandsbewegung einen großen Erfolg errungen: Sie hatte das größte technische Geheimnis, das Hitlerdeutschland bis dahin im zweiten Weltkrieg hatte hüten können, gelüftet, und zwar noch vor dem militärischen Einsatz dieser neuen Waffe. Dwight Eisenhower schrieb in seinen Erinnerungen: „Wäre es den Deutschen gelungen, diese neuartigen Waffen ein halbes Jahr früher produktionsreif zu machen und einzusetzen, so wäre uns die Invasion aller Wahrscheinlichkeit nach unerhört erschwert, ja unter Umständen sogar unmöglich gemacht worden. Ich bin sicher, daß, wenn sie diese Waffe sechs Monate eher hätten einsetzen können und das Hauptziel der Raketen der Raum Portsmouth - Southampton gewesen wäre, wir die Operation ,Overlord' hätten abblasen müssen." 69 Der Bombenangriff auf Peenemünde, der auf Grund der Informationen des polnischen Geheimdienstes möglich geworden war, machte die deutschen Chancen zunichte. Mit der V 1 wurde London zum erstenmal im Juni 1944 und mit V 2Raketen im September desselben Jahres bombardiert. Noch ehe die ersten V 2Geschosse auf London gefallen waren, hatten die Briten - dank den aus Polen erhaltenen Angaben - bereits genaue Kenntnis über ihre technischen und strategischen Kriterien, was ihnen die Bekämpfung dieser Waffe erleichterte. Leider tendiert die britische Literatur dahin, die Rolle, die die Polen hierbei spielten, zu schmälern; Jerzy Chmielewski, einer der Helden dieser Aktion, hatte durch britische Organe viel Verdruß zu erleiden.70 Um die Auskundschaftung des Peenemünder Raketenzentrums und die Erforschung des Materials und der Bestandteile der V 2 machten sich u. a. folgende polnische Spezialisten und Wissenschaftler verdient: Prof. Janusz Groszkowski (der nachmalige Präsident der Polnischen Akademie der Wissenschaften), Ing. Antoni Kocjan, Ing. Tadeusz Kordzik, Prof. Marceli Struszynski, Dr. Boguslaw Niepoköj und Prof. Jözef Zawadzki. Mit dieser Aktion wurde Hitlerdeutschland zweifellos ein überaus empfindlicher Schlag versetzt. Ergänzend sei noch bemerkt, daß polnische Piloten, die an der
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70
Eisenhower, 1959, S. 354. Wojewodzki,
25 Jahrbuch 23
E. Dwight,
Krucjata w Europie (Der Feldzug in Europa), Warszawa
M., Akcja V - l / V - 2 (Die V 1/V 2-Aktion), Warszawa 1970, S. 350-352.
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britischen Luftabwehr teilnahmen, ungefähr ein Drittel der V 1-Raketen abschössen. Zu den kompliziertesten Problemen, die der polnische Untergrund lösen mußte, gehörte die Beschaffung von Waffen, Sprengstoff und Ausrüstungsgegenständen. Man verwendete Waffen der polnischen Vorkriegsarmee, die im September 1939 sichergestellt worden waren, ferner erbeutete sowie Deutschen abgekaufte Waffen. Von großer Bedeutung waren auch die Abwürfe von Waffen aus Flugzeugen, die die Londoner Exilregierung für die Landesarmee schickte. Für die Volksgarde und die Volksarmee kamen Waffenlieferungen - besonders im Jahre 1944 - aus der UdSSR. Großen Wert legten die Organe der Widerstandsbewegung darauf, in Polen selbst Waffen und Sprengstoff herzustellen. Illegale Waffenproduktion betrieb z. B. die AK in einer Fabrik in Suchedniöw (Region Kielce), in der offiziell landwirtschaftliche Maschinen hergestellt wurden. Organisator der Waffenfertigung war Ing. Kazimierz Czerniewski. In Suchedniöw konnten auch Dutzende von Maschinenpistolen des Typs „Sten" produziert werden. Nach einigen Monaten spürten die Okkupanten allerdings das ganze Unternehmen auf: es erfolgten Verhaftungen, und die Waffenproduktion mußte eingestellt werden. 71 So wie die Regionen Lublin und Kielce wurden 1943 auch die Gegend um Miechöw und das Tatravorland (das Podhale-Gebiet) zu Zentren der Partisanentätigkeit; allerdings blieb Warschau vor allen anderen Orten Polens Schauplatz des stärksten Widerstandes. Im Dezember 1943 äußerte Hans Franck unter dem Eindruck der Lage in Polens Hauptstadt gegenüber seinen Mitarbeitern: „Warschau ist und bleibt für uns die schwerste Belastung im Generalgouvernement. Es vergeht so gut wie kein Tag, an dem mir nicht gemeldet wird, daß in Warschau oder in dessen Umkreis ein Eisenbahntransport überfallen oder ein Mord verübt wurde." 72 Zu den größten Aktionen der Landesarmee gehörte die vom 26. März 1943 in Warschau, in deren Verlauf man 25 Gefangene befreite, die vom Sitz der Gestapo in der Szuch-Allee in das Pawiak-Gefängnis transportiert werden sollten. Hauptziel der Aktion war es, Jan Bytnar („Rudy"), der an vielen „Wawer"Kleinsabotageunternehmen beteiligt gewesen war und den man einige Tage zuvor verhaftet hatte, der deutschen Polizei zu entreißen. An der Aktion am Arsenal nahmen unter Leitung von Stanislaw Broniewski („Orsza") 28 Mann teil. „Rudy" konnte befreit werden. Infolge der Torturen, denen er in der Zeit seiner Verfolgung ausgesetzt war, befand er sich jedoch in einem solchen Zustand, daß er bereits nach vier Tagen - am 30. März 1943 - starb.73 Als Antwort auf die anwachsende Zahl von Exekutionen, die die Faschisten an 71
7J 73
Czerniewski, K., Konspiracyjna produkcja broni w Suchedniowie (Die konspirative Waffenproduktion in Suchedniöw), in: Wojskowy Przeglqd Historyczny, 1966, 1; Czerniewski, K., O prawd^ historycznq w publikacjadi o konspiracyjnej produkcji broni w okresie okupacji (Um die Durchsetzung der historischen Wahrheit in den Veröffentlichungen über die konspirative Waffenproduktion während der Okkupation), in: Kwartalnik Historyczny, 86, 1979, 2, S. 385-404. Vgl. Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka, T. 2, S. 328. Vgl. Broniewski, S., Akcja pod arsenalem (Die Aktion vor dem Arsenal), Warszawa 1972, S. 68-70.
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Häftlingen des Pawiak-Gefängnisses vornahmen, führte die polnische Widerstandsbewegung zahlreiche Aktionen durch, für welche die Losungen wie „Wir nehmen Rache für Pawiak" ausgegeben wurden. Im Juli 1943 unternahmen Kämpfer der Volksgarde ein Attentat auf eine Kolonne von SS-Leuten. Im Verlauf jenes Jahres töteten AK-Abteilungen in Warschau viele Peiniger der Bevölkerung: hohe Gestapoleute, Mitarbeiter des Arbeitsamtes und Spitzel. Am 19. April 1943 wurde der Leiter des Warschauer Arbeitsamtes, Kurt Hoff mann, in seinem Dienstzimmer erschossen, und das, obwohl das Gebäude scharf bewacht war. Vier Tage später ereilte Hugo Dietz, einen für seinen Polenhaß berüchtigten Arbeitsamtsfunktionär, dieselbe Strafe. Andere wie Fritz Geist (am 10. Mai 1943) oder Willy Lübert (1. Februar 1944) folgten. Am 12. August 1943 führte die Landesarmee auf dem Warschauer Schloßplatz eine „Enteignungsaktion" durch, in deren Ergebnis den Okkupanten 109 Millionen Zloty abgenommen wurden (das war die „Goralenaktion"). Die Polizei appellierte an die Bevölkerung, ihr bei der Ergreifung der Täter zu helfen, wofür sie eine Belohnung in Höhe von fünf Millionen Zloty aussetzte. Daraufhin gingen bei der Polizei zahlreiche Briefe ein, deren Verfasser Organe des polnischen Untergrundes waren und die den Zweck hatten, die Fahndung durcheinanderzubringen. Uber einen dieser Briefe sprach ganz Warschau. Der Verfasser berichtete nämlich, daß er den Verlauf des Uberfalls beobachtet und auch diejenigen, die ihn verübt hätten, gesehen habe. Als Absender gab er an: Zygmunt Waza, Warschau, Schloßplatz 1. Gestapoleute begaben sich daraufhin tatsächlich an diesen Ort. Dort angekommen, mußten sie sich davon überzeugen, daß man sie an der Nase herumgeführt hatte. Der polnische König Zygmunt Waza, dessen Denkmal auf dem Warschauer Schloßplatz steht, war freilich in der Tat ein stummer Zeuge der „Goralenaktion" gewesen.74 Viele derartige Aktionen führten Kampfgruppen durch, die zur Abteilung für Diversion des AK-Oberkommandos gehörten. Diese Abteilung - „Kosa" (Sense) genannt - wurde am 5. Juni 1943 von der Gestapo liquidiert. An diesem Tage fand in der am Warschauer Dreikreuzplatz (Plac Trzech Krzyzy) gelegenen Alexander-Kirche die Trauung Mieczyslaw Uniejowskis, eines Oberleutnants dieser Abteilung, statt, zu der viele seiner Kameraden erschienen waren. Die Gestapo, von einem in die „Kosa" eingeschleusten Agenten informiert, umstellte die Kirche und nahm sämtliche Hochzeitsgäste fest. Derselbe Agent lieferte bald darauf den Chef des Kosa-Stabes, Oberleutnant Mieczyslaw Kudelski, aus. Man kam dahinter, daß es sich bei diesem Spitzel um Stanislaw Jaster handelte. Ein Gericht der Landesarmee verurteilte ihn dafür zum Tode.75 Das Urteil wurde vollstreckt. 74
75
25*
Vgl. Kumor, E., Wycinek historii jednego zycia (Ausschnitt aus der Geschichte eines Lebens), Warszawa 1967, S. 149 ff. Es gibt auch Stimmen, die die Behauptungen, Stanislaw Jaster („Hei") habe mit der Gestapo kolaboriert, in Zweifel ziehen. Ausführlicher nimmt dazu Tomasz Strzembosz in Bd. 10 der Zeitschrift „Rocznik Warszawski" (Warschauer Jahrbuch) Stellung, wobei er sich kritisch mit Aleksander Kunicki auseinandersetzt. Auch nach Ansicht Oberst Antoni Sanojca entbehren die gegen Stanislaw Jaster erho-
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Die „Kosa"-Abteilung existierte nur ein halbes Jahr. Ihre Arbeit wurde von der Abteilung „Parasol" (Regenschirm) fortgesetzt. Deren Befehlshaber, Major Ing. Adam Borys, war in England ausgebildet worden und dann - gleich Hunderten anderen ZWZ-AK-^Soldaten - im Oktober 1942 heimlich nach Polen gekommen. Die Abteilung „Parasol" ist in die Geschichte des antifaschistischen Kampfes als ein besonders beispielhaftes militärisches Kollektiv eingegangen. Die aufsehenerregendste Aktion dieser Abteilung war das am 1. Februar 1944 verübte Attentat auf den Chef der Warschauer Gestapo, den SS-General Franz Kutschera. Dieser war auf Befehl Himmlers nach Warschau versetzt worden, da er zu den versiertesten und zugleich brutalsten Leuten seines Apparates gehörte. Erst dreißig Jahre alt, hatte er bereits durch Massenvernichtungsaktionen in mehreren besetzten Ländern traurige Berühmtheit erlangt. Himmler hegte einen besonders leidenschaftlichen Haß auf Warschau, über dessen Widerstandsbewegung er außer sich geriet und die ihn zugleich beunruhigte, und so betraute er einen seiner fähigsten Offiziere mit der Aufgabe, in Polens Hauptstadt Friedhofsruhe zu schaffen. Kutschera leistete sozusagen ganze Arbeit. Von Mitte Oktober 1943 bis Januar 1944 erschossen die Okkupanten im Verlauf von 34 öffentlichen Exekutionen über 1 300 Menschen; mehr als 7 000 wurden verhaftet. 76 Das trug ihm den Namen „Henker von Warschau" ein. Das Attentat auf Kutschera wurde mit großer Akribie vorbereitet. Die unter Leitung von Aleksander Kunicki-Rayski durchgeführten Erkundungen gingen bis ins kleinste Detail. Mit Kunicki wirkten zusammen Hanna SzarzyriskaRawska („Hanka") und Ludwik Zurek („Zak" - der Studiosus) sowie Maria Stypulkowska-Chojnacka („Kama") und Elzbieta Dziembowska („Dewajtis"). Die Gruppe, die die Operationen unmittelbar ausführte, bestand aus Bronislaw Pietraszkiewicz („Lot"), dem Leiter; Stanislaw Huskowski („Ali"); Zdzislaw Poradzki („Kruszyna" - Krümel); Michal Isajewicz („Mis" - Teddybär bzw. Hüne); Zbigniew G^sicki („Juno"); Henryk Humi^cki („Olbrzym" - der Riese); Marian Senger („Cichy" - der Stille); Bronislaw Helwig („Bruno") und Kazimierz Szot („Soköl" - der Falke). Die ganze Aktion dauerte 1 Minute und 40 Sekunden. Allen Beteiligten gelang es, mit einem Auto zu entkommen. Zwei von ihnen „Lot" und „Cichy" - erlagen bald darauf im Krankenhaus ihren Verletzungen, während „Juno" und „Soköl", als sie das Auto zur Garage fahren wollten, auf der Warschauer Kierbedz-Brücke auf Nazisoldaten stießen; nachdem ihnen im Verlauf des Schußwechsels die Munition ausging, sprangen sie in die Weichsel, wo sie von deutschen Kugeln tödlich getroffen wurden. Die Opfer, die die Widerstandsbewegung bringen mußte, waren schwer, um so mehr, als sich unter ihnen sehr fähige und zudem junge, aufopferungsvolle und intelligente Leute befanden. Die Soldaten des polnischen Untergrundes waren sich völlig bewußt, daß Opfer nicht zu vermeiden waren. So schrieb das „Informationsbulletin" der Landesarmee am 10. Juni 1943: „Wir, die wir zur polnischen Illegalität gehören, sind nicht zartbesaitet. Wir wissen, was Krieg heißt. Für uns
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benen Anschuldigungen jeglicher Grundlage (Oberst Sanojca äußerte diese Meinung in einem Gespräch, das er am 6. 6.1972 mit dem Vf. führte). Kunicki, A., Cichy front (Die lautlose Front), Warszawa 1969, S. 118.
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sieht die Sache so aus: Der Gegner, der uns bekämpft, hat das gleiche Recht auf unser Blut, wie wir es auf das seinige haben." In der von den deutschen Faschisten geschaffenen Lage bot der bewaffnete Kampf die einzige Chance, das Inferno zu überstehen und das Machtpotential von Verbrechern, die danach trachteten, die polnische Nation als solche auszutilgen, einzudämmen. Der Arm der polnischen Widerstandsbewegung reichte bis nach Berlin. Am 13. Februar 1943 wurde auf einem der beiden unterirdisch gelegenen Bahnsteige des Bahnhofs Friedrichstraße ein Bombenanschlag verübt, der vier Personen tötete und 60 verwundete. Unter den Opfern befanden sich zahlreiche Wehrmachtangehörige. Anfang April 1943 explodierte - abermals im Bereich des Bahnhofs Friedrichsstraße - eine weitere polnische Bombe. In diesem Falle gab es 14 Tote und Dutzende von Verletzten. Ein zahlenmäßig kleiner Trupp unter der Leitung des Hauptmanns Drzyzga hatte diese Aktion durchgeführt.
4. Die Partisanenschlachten der Volksarmee im Jahre 1944 Das Jahr 1944 war die Zeit, in der die polnische Widerstandsbewegung ihre Kämpfe massenweise zum Entscheidungskampf gegen die faschistischen Okkupanten mobilisierte, die Zeit der Konfrontation im Kampf um die Macht und um revolutionäre Veränderungen in Polen, der Erfolge der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) und der Volksarmee und zugleich die Zeit, in der die Zielsetzungen der polnischen Rechten vereitelt wurden. Schließlich fällt in das J a h r 1944 auch das dramatische Ende der Armia Krajowa. Immer mehr Anzeichen deuteten auf die bevorstehende Niederlage Hitlerdeutschlands hin. Die Sowjetarmee errang eine ganze Reihe entscheidender Siege und gelangte schnell auf ethnisch-polnisches Territorium. Seite an Seite marschierte mit ihr in Richtung Polen die in der UdSSR aufgestellte 1. Polnische Armee unter dem Kommando des Generals Zygmunt Berling. An der Südfront nahmen alliierte Truppen am 4. Juni 1944 Rom ein. An den Kämpfeh um Monte Cassino beteiligte sich das von General Wladyslaw Anders geführte 2. Polnische Korps. Am 6. Juni 1944 begann die Landung amerikanischer und britischer Truppen in Frankreich. Auch auf diesem Kriegsschauplatz agierten polnische Soldaten, und zwar die 1. Polnische Panzerdivision des Generals Stanislaw Maczek und die 1. Unabhängige Polnische Fallschirmbrigade des Generals Stanislaw Sosabowski. Das durch die Okkupation gemarterte Polen wartete auf die Befreiung und die Rückkehr zu einem normalen Leben und auf die Wiedererrichtung des polnischen Staates. Das immer näher rückende Kriegsende setzte Fragen der Struktur des Nachkriegseuropas (und nicht nur Europas) auf die Tagesordnung. Die Regierungen der Hauptmächte der Antihitlerkoalition waren auf die schnellstmögliche Regelung der Nachkriegsordnung bedacht. Vor diesem Hintergrund zeichneten sich mit zunehmender Deutlichkeit Unterschiede zwischen den Auffassungen der UdSSR einerseits und der USA und Großbritannien andererseits ab. Das traf auch auf die Polenfrage zu. In Anbetracht der zentralen geographischen Lage Polens, der Vitalität des polnischen Volkes, seiner Verdienste während des
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Krieges u n d der Leistungsfähigkeit seiner Soldaten, der l e b h a f t e n Aktivitäten polnischer politischer Kreise innerhalb u n d außerhalb des Landes k o n n t e keiner der Koalitionspartner indifferent gegenüber solchen anstehenden Fragen bleiben wie z. B. der Gestaltung der territorialen Grenzen Polens, seiner k ü n f t i g e n Gesellschaftsordnung und politischen F ü h r u n g . Wegen der unmittelbaren Nachbarschaft mit Polen w a r die UdSSR in besonderem M a ß e an der Regelung dieser Fragen interessiert. Die UdSSR t r a t f ü r ein Polen ein, das mit seinen geographischen Grenzen, seiner inneren S t r u k t u r und seiner Außenpolitik k ü n f t i g h i n die Garantie d a f ü r bieten würde, daß nicht n u r ein polnisch-sowjetischer Konflikt unmöglich gemacht, sondern auch die Grundlagen f ü r ein Freundschaftsbündnis zwischen beiden Ländern geschaffen werden könne, womit auch die Erweiterung der politischen Einflußzone in Europa zusammenhing. Auf Grund der Rolle, die die UdSSR innerhalb der Antihitlerkoalition spielte, und des Beitrages, den sie zur Befreiung polnischen Territoriums leistete, v e r f ü g t e sie ü b e r einen großen Spielraum, innerhalb dessen sie auf die Entwicklung der polnischen Problematik Einfluß n e h m e n k o n n t e (Beschlüsse der Teheraner Konferenz im November/ Dezember 1943). Damit w u r d e n f ü r die Bestrebungen der revolutionären polnischen Linken (mit der P P R an der Spitze), die Macht in Polen zu übernehmen, optimale Voraussetzungen geschaffen. Daher bemühte sich die Volksarmee, vereint mit sowjetischen Partisanen, in Polen durch ihre militärischen Operationen die an der Front k ä m p f e n d e Rote Armee, soweit es ihr n u r irgend möglich war, zu unterstützen, u m auf diese Weise im Rahmen des i h r Möglichen die Befreiung Polens zu beschleunigen. Alle diese Gegebenheiten übten auf den in Polen gegen die faschistischen O k k u panten g e f ü h r t e n illegalen Kampf und auch auf das Verhältnis zwischen den politischen Hauptgruppierungen des bewaffneten Widerstandes unmittelbaren Einfluß aus. Auf der einen Seite spitzte sich dieses Verhältnis vor dem Hintergrund des K a m p f e s u m die politische Macht bis zu einer erbitterten Konfrontation zu und f ü h r t e zu einer Polarisierung, mündete jedoch andererseits angesichts der dramatischen Auseinandersetzungen mit den Deutschen in einigen Gegenden Polens in ein Zusammengehen von Einheiten der Volksarmee, der Landesarmee und d e r Bauernbataillone. Das Oberkommando der Volksarmee erließ in E r w a r t u n g des Einrückens sowjetischer Truppen in Polen den Befehl, schnell Partisanenbrigaden aufzustellen, den Kampf im Rücken d e r deutschen Wehrmacht zu verstärken, in den bereits befreiten Gebieten engen Kontakt mit sowjetischen K o m m a n d e u r e n herzustellen sowie d i e Ü b e r n a h m e u n d Ausübung der politischen Macht durch die dem Landesnationalrat unterstehenden Nationalräte zu unterstützen. Die Funktionen des Sicherheitsdienstes sollten in den befreiten Gebieten von den Abteilungen der Volksarmee wahrgenommen werden. 7 7 Besonderes Augenmerk galt dem organisatorischen A u f b a u u n d dem Kampf der Volksarmee in den beiden Distrikten, die der Front am nächsten lagen: Lublin und Radom/Kielce. Im Distrikt Lublin, an dessen Spitze Mieczyslaw Moczar („Mietek") und von J u n i 1944 an 77
Klukowski, Dziennik z lat okupacji, S. 261 f; vgl. auch Wieczorek, M., Armia Ludowa 1944-1945 (Die Volksarmee 1944-1945), Warszawa 1979.
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Grzegorz Korczyriski („Grzegorz") stand, bildete man acht Partisanenbrigaden, während in dem von Andrzej Adrian („Felek") und später von Mieczyslaw Moczar geleiteten Distrikt Radom/Kielce sechs derartige Brigaden formiert wurden. Ein Teil dieser Brigaden (drei Lubliner und eine aus Radom/Kielce) gehörten zu dem von General Aleksander Zawadzki befehligten „Polnischen Partisanenstab", der im April 1944 geschaffen und an die 1. Polnische Armee in der UdSSR angeschlossen wurde. Dieser Stab spielte eine wichtige Rolle bei der Sicherung des Luftweges, von dem aus Waffen f ü r die einzelnen Partisanenabteilungen in Polen abgeworfen wurden. Da es jedoch bei der linken Widerstandsbewegung zwei Verteilerstellen gab, das Oberkommando der Volksarmee und der Polnische Partisanenstab, führte dies mitunter zu Störungen und Überschneidungen, und die Waffen wurden nicht immer bedarfsgerecht verteilt. 78 Außer den erwähnten Brigaden gab es noch Volksarmeebrigaden in den Distrikten Krakau und Lodz. Die zahlenmäßige Gesamtstärke aller zur Volksarmee und zum Polnischen Partisanenstab gehörenden Brigaden belief sich auf annähernd 10 000 Mann. Neben den Brigaden existierte noch eine Anzahl kleinerer Volksarmeeabteilungen (1944 waren es insgesamt 55). Diese Angaben beziehen sich nur auf die Feldeinheiten und nicht auch auf die Garnisonen. In den Distrikten Warszawa und Sl^sk wurden keine Brigaden gebildet. Dort bestanden ortsfeste Abteilungen. Im Kreis Chrzanöw, dem 5. schlesischen Volksarmee-Distrikt, operierte von 1943 bis 1945 die Jaroslaw-D^browski-Abteilung. 79 Besonders erwähnenswert sind die Aktivitäten der Widerstandsbewegung in Schlesien, in der Region Poznan und in Pomorze, wo der Druck, den die autochthone sowie zugewanderte deutsche Bevölkerung - von den deutschen Behörden, Organisationen und der Polizei ganz zu schweigen - auf die Polen ausübte, außerordentlich stark war. In Oberschlesien und im Gebiet von Cieszyn (Teschen) lebte die bewaffnete Partisanenbewegung, die sich aus Vertretern verschiedener politischer Richtungen zusammensetzte, im Herbst 1943 wieder auf und dehnte sich 1944 noch aus. Die „Abteilung Martin" führte u. a. kurz nacheinander zwei Aktionen in Miedzna im Kreis Pszczyna (Pleß) durch und sie entwendete Schreibmaschinen, Schreibutensilien und Lebensmittelkarten. Am 16. März 1944 kam es in Buszkowice (Kreis Bielsko) zu einem Geplänkel zwischen einer Gendarmeriepatrouille und drei Widerstandskämpfern. Für den 7. April 1944 war ein Überfall auf das Gefängnis in Myslowice (Myslowitz) geplant, um die dort eingekerkerten Widerstandskämpfer aus der Haft zu befreien. Der Plan wurde jedoch durch einen Lockspitzel der Gestapo verraten, so daß die Abteilung bei Gieszowiec in eine Falle geriet und vollständig aufgerieben wurde. Am 20. April 1944 wurde in Wapiennica (Kreis Cieszyn) eine Polizeipatrouille beschossen. Am 2. August 1944 drang eine Abteilung in das Waffenlager der Infanteriekaseme in Bielsko-Biala (Bielitz) ein und nahm von dort 28 Maschinenpistolen, zwei Maschinengewehre, drei Pistolen und ein paar hundert Patronen mit. Anfang September 1944 drangen drei Mann in die Gendarmeriewache in Ogrodzona bei 78 79
Moczar, M., Barwa walki (Die Farbe des Kampfes), Warszawa 1961, S. 143. Kobuszewski, B., Mi^dzy Wislq a Przemszq (Zwischen Weichsel und Przemsza), Warszawa 1966.
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Cieszyn ein und ließen Waffen mitgehen. In der Nacht vom 22. zum 23. September 1944 kam es während eine Polizeirazzia in Tarnowskie Göry zu einer Schießerei mit einer fünfköpfigen Gruppe. Am 8. November 1944 erbeutete eine Gruppe von 15 bis 20 Personen in Jejkowice (Kreis Rybnik) Lebensmittelkarten und Gemeindestempel. Am 12. Dezember 1944 fand gegen Abend in Chwatkowice (Kreis Rybnik) ein Schußwechsel mit einer fünfköpfigen Gendarmeriepatrouille statt, von der vier Mann verwundet wurden. Die Partisanenabteilungen desorganisierten die Okkupationsverwaltung durch Überfälle auf Gemeinde- und Postämter, auf verschiedene andere Einrichtungen und auch auf Zeitungsredaktionen. Dabei wurden Unterlagen und Stempel vernichtet und wiederholt Lebensmittelkarten erbeutet. Im Juli 1944 besetzte und verwüstete eine Abteilung der Volksarmee in Cz^stochowa eine Versorgungsanlage der Eisenbahn, während im November 1944 eine zahlenmäßig starke Gruppe in eine Molkerei in Skoczöw eindrang und die dort installierte Fernsprechanlage unbrauchbar machte. Im Oktober 1944 überfiel eine von „Janusz" geführte Gruppe der Volksarmee das Gemeindeamt in Szopienice und nahm eine große Anzahl von Lebensmittelkarten mit.80 In schlesischen Betrieben kam es immer häufiger zu Sabotageakten. Bis zum Frühjahr 1944 wirkte in Pomorze die militärische Geheimorganisation „Gryf Pomorski" (Pommerscher Greif), die im Juli 1941 gegründet worden war. Man schätzt, daß die Kampfgruppen und Partisanenabteilungen des „Gryf" mehr als 100 bewaffnete Aktionen durchgeführt haben. Einige dieser Einheiten arbeiteten mit polnischen und sowjetischen Luftlandeabteilungen zusammen, die 1944 und 1945 in der Tucheier Heide abgesetzt wurden. 1943 brach der „Gryf" auseinander. Ein Teil seiner Mitglieder ging zur Landesarmee, während ein anderer in den rechtsradikalen Verband „Schwert und Pflug" eintrat. Im Frühjahr 1944 wurden „Gryf"-Angehörige in großer Zahl verhaftet. Die Gestapo verfügte über Listen, in denen rd. 5 000 Kontaktpersonen erfaßt waren. 81 In der Region Wielkopolska kam es weniger zu bewaffneten Aktionen des Widerstands, der sich hier mehr auf politische Auseinandersetzungen und auf die Erhaltung der biologischen Substanz der Nation konzentrierte. 82 Die Formierung zahlenmäßig starker Partisaneneinheiten der Volksarmee, ihre Konzentrierung auf den Raum Lublin-Kielce, ihre häufigen und von Erfolg gekrönten Aktionen gegen die zur deutsch-sowjetischen Front verlaufenden Nachsichubverbindungen auf Schiene und Straße, die gezielten Schläge, die gegen die Okkupationsverwaltung und die deutsche Polizei geführt wurden, die Tatsache, daß auf diese Weise weite Teile des Landes der Besatzerkontrolle entzogen wurden - all das machte die Faschisten äußerst nervös, zumal sich dies im unmittelbaren Hinterland der Front abspielte. Besonders beunruhigte sie die Situation in der Lubliner Gegend, über die sich u. a. auf einer von Hans Franck geleiteten 80
81 82
Vgl. Popiolek, Görnego Slqska droga, S. 143f.; Prasil, R., Czynna walka narodowowyzwolenczna na Sl^sku Cieszynskim w latach 1939-1945 (Der aktive nationale Befreiungskampf im Teschener Schlesien in der Zeit von 1939 bis 1945), Kosice 1969. Ciechanowski, K., TOW Gryf Pomorski (Der „Pommersche Greif"), Gdarisk 1972. Serwanski, E., Wielkopolska w cieniu swastyki (Die Region Wielkopolska im Schatten des Hakenkreuzes), Warszawa 1970, S. 447, 453.
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Konferenz, die am 8. Mai 1944 in Krakau stattfand, der militärische Befehlshaber General Haenicke und der Verantwortliche f ü r Sicherheitsfragen, Koppe, mit emster Besorgnis äußerten. 83 Im Laufe der Monate April und Mai unternahmen Abteilungen der Volksarmee im Lubliner Gebiet 227 Anschläge auf Eisenbahntransporte. Das bekam die Heeresgruppe „Nordukraine", in deren Rücken die Region Lublin lag, ohne Zweifel empfindlich zu spüren. Am 14. Mai 1944 lieferten eine Formation der Volksarmee unter der Führung von Mieczyslaw Moczar und eine von Wladimir Tschepiga geleitete sowjetische Partisanenabteilung einer 2 000 Mann starken, zur SS-Division „Wiking" gehörenden Einheit eine Schlacht. Die Okkupanten verfügten über Panzer und Flugzeuge. Dieser Kampf endete mit einem vollen Erfolg der Partisanen, die sich nicht nur aus der feindlichen Umklammerung zu lösen vermochten, sondern dem Gegner auch beträchtliche Verluste zufügten: Auf deutscher Seite gab es 300 Tote; 26 Partisanen fielen, und etwa 30 wurden verwundet. Gegen die im Süden der Wojewodschaft Lublin operierenden Partisanenabteilungen setzten die Okkupanten Anfang Juni 1944 25 000 Soldaten der 154., 174. und 213. Division sowie verschiedener weiterer Abteilungen im Zusammenwirken mit Aufklärungsflugzeugen und Bombern ein. Die in den Wäldern von Lipsko und im Waldgebiet Puszcza Solska stattfindende Operation „Sturmwind" richtete sich gegen folgende Partisaneneinheiten: Die 1. Brigade der Volksarmee (die Brigade „Lubliner Land") unter Hauptmann Ignacy Borkowski mit ungefähr 450 Mann; die Wanda-Wasilewska-Brigade unter Hauptmann Stanislaw Szelest mit rd. 300 Mann; die Abteilung unter dem Kommando von Oberleutnant Andrzej Pajdo (ca. 100 Mann); eine Abteilung der Landesarmee unter Leutnant Boleslaw Usöw (ebenfalls ca. 100 Mann); eine polnisch-sowjetische Abteilung unter Hauptmann Mikolaj Kunicki mit 20 Mann sowie sieben sowjetische Formationen in einer Stärke von jeweils 70 bis 540 Mann. Das Partisanenheer, das im ganzen 3 000 Mann (1 200 in den polnischen und 1 800 in den sowjetischen Abteilungen) umfaßte, wurde von Oberstleutnant Prokopiuk und Major Karassow befehligt. Die Verbände der Wehrmacht begannen am 9. Juni mit einem Umzingelungsversüch. Die Kämpfe zogen sich länger als 14 Tage hin und endeten am 25. Juni. Die erbittertste Schlacht tobte am 14. Juni auf der Anhöhe von Porytöw, wo die Okkupanten sechs Flugzeuge vom Typ Ju 87 einsetzten. Den Partisanenabi eilungen gelang es, den Kessel zu durchbrechen und die Puszcza Solska zu erreichen. Die Verluste, die die Partisanen in dieser Phase der Kampfhandlungen erlitten, hielten sich einigermaßen in Grenzen: 105 Mann waren gefallen, 104 verwundet und 22 ihren Verletzungen erlegen, während es auf deutscher Seite insgesamt 495 Gefallene und Verwundete gab. Die Okkupanten nahmen die Verfolgung auf. Vom 21. bis 24. Juni gelang es ihnen, erneut die Partisanenabteilungen einzuschließen. Wieder kam es zu heftigen Kämpfen, und dieses Mal waren die Verluste auf beiden Seiten weitaus höher. Nachdem sich die Partisanen in kleinere Gruppen aufgeteilt hatten, konnten sie sich wiederum aus der Um83
Vgl. Okupacja
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zingelung befreien. Nunmehr verzichteten die Faschisten auf eine weitere Verfolgung, da die Rote Armee mittlerweile an d e r regulären Front Operationen eingeleitet hatte, in deren Ergebnis sie dann wenig später auch den Raum Lublin befreite. Diese Partisanenschlacht w a r auf polnischem Boden die größte ihrer Art während des zweiten Weltkrieges. Trotz mehrfacher zahlenmäßiger und technischer Überlegenheit erzielten die Okkupanten keinen durchschlagenden Erfolg, d. h. sie vermochten die eingekreisten Abteilungen nicht völlig aufzureiben, obschon sie sie aufsplitterten und ihnen große Verluste beibrachten. Auf einer am 24. Juli 1944 durchgeführten Sonderberatung, die sich mit der Einschätzung der Aktion „Sturmwind" beschäftigte, stellten Franck und andere Teilnehmer fest, daß die Partisanen „einfach nicht bekämpfbar" seien und man in solchen Kämpfen „ständig Mißerfolge" erleide. 84 Der weitere Weg d e r Brigaden der Volksarmee und d e r zum Polnischen Partisanenstab gehörenden Brigaden w a r folgender: Die 1. Brigade (Brigade „Lubliner Land") erreichte nach einigen Kämpfen am 28. August 1944 das bereits von der Sowjetarmee befreite Gebiet. Die 2. Brigade der Volksarmee, die in den Wäldern bei Parczew operierte, hatte dort vom 18. bis 22. Juli 1944 noch Gefechte zu bestehen, an denen auch die 27. AK-Division und sowjetische Partisanen teilnahmen. Diese Kämpfe endeten damit, daß sich die Partisanen bis zu dem von der Sowjetarmee befreiten Gebiet durchschlugen. Die Wanda-Wasilewska-Brigade, die Tadeusz-Kosciuszko-Brigade und die Brigade „Noch ist Polen nicht verloren" beendeten ihre Kampfhandlungen im Juli/August 1944, als die Sowjetarmee in ihre Operationsgebiete eingerückt war. Einige dieser Einheiten mußten noch gegen ukrainische nationalistische -UPA-Abteilungen kämpfen, um die polnische Bevölkerung vor ihnen zu schützen. Die von den Hitlerfaschisten unterstützte UPA operierte hauptsächlich in der Westukraine, wo sie die polnische Bevölkerung massenhaft ermordete. UPA-Formationen drangen sogar in den östlichen Teil der Wojewodschaft Lublin ein. Am 21. Juli 1944 konstituierte sich in Lublin das Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego (Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung - PKWN), das die Gründung Volkspolens in dem bereits von der deutschen Okkupation freien östlichen Teil des Landes proklamierte. Das Programm des Komitees fand seinen Niederschlag in dem am 22. Juli 1944 veröffentlichten Manifest. Die Volksarmee aktivierte nun ihre Kampftätigkeit in den noch besetzten Gebieten. Den Schwerpunkt bildete dabei der Distrikt Radom/Kielce, wo folgende Brigaden kämpften: Die 1. Brigade (Brigade Kielcer Land); die 2. Brigade („Morgengrauen") ; die 3. Brigade (die Brigade „General Bern"); die 10. Brigade („Sieg"); die 11. Brigade („Freiheit") sowie die Brigade „Grunwald". Insgesamt umfaßten diese Brigaden 3 500 Mann. Distriktkommandant w a r zu dieser Zeit Mieczyslaw Moczar. Als die deutsch-sowjetische Front im Herbst vorübergehend an der Weichsellinie zum Stehen kam, die Sowjetarmee im Raum Sandomierz jedoch über einen Brückenkopf verfügte, befand sich das Gebiet um Kielce bereits im Frontbereich. Die Partisanenaktionen, die gegen die deutschen Zufahrtsstrecken 84
Ebenda, S. 515.
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zur Front gerichtet waren, behinderten den Nachschub für die Wehrmacht und stellten ein ernstes Problem für deren Hinterland dar. Am 7. Juli 1944 beschrieb der Gouverneur des Distrikts Radom die Lage in seinem Amtsbereich folgendermaßen: „Während der letzten Wochen verübten terroristische Gruppen immer mehr Anschläge auf Deutsche, und auch die Zahl der Verkehrsstörungen - insbesondere auf den Strecken der Ostbahn - nahm zu, wobei auf der Bahnstrecke in Richtung Ostrowiece immer noch Explosionen zu verzeichnen sind. Diese Gruppen lassen es jedoch nicht mit Sprengungen bewenden; vielmehr versuchen sie, auch der Munition - des Frachtgutes der betreffenden Züge - habhaft zu werden, die sie dann für eigene Zwecke benutzen. . . . Im Distrikt Radom deutet die Entwicklung der Ereignisse darauf hin, daß hier eine Lage geschaffen wird, wie sie zur Zeit bereits im Distrikt Lublin existiert."85 Außer den Einheiten der Volksarmee operierten im Gebiet von Kielce noch Bauernbataillone und Partisanenformationen der Landesarmee, u. a. vier Infanterieregimenter unter dem Kommando des Majors „Wyrwa" (Dammbruch) und die Brigade der Nationalen Streitkräfte, die „Heiligkreuzbrigade", unter Führung von „Bohun". Zwischen der Volksarmee und den Nationalen Streitkräften, die von den Okkupanten unterstützt wurden, kam es zu heftigen Kollisionen und blutigen Zwischenfällen. 86 Gegen die Partisanen der Volksarmee, die im Raum Kielce operierten, setzten die Faschisten im September 1944 rd. 15 000 Soldaten in Marsch. Vom 16. bis 19. und am 29./30. September 1944 gab es heftige Kämpfe. Zu erbitterten militärischen Auseinandersetzungen kam es am 12. September 1944 bei Ewina (3. Brigade der Volksarmee) und am 29. September 1944 bei Gruszka (1. Brigade). Marian Janic, Mitglied des Führungsstabes für den Distrikt Radom/Kielce, schätzte kritisch ein: „Durch Ausdauer, Disziplin und Mut fanden die Brigaden der Volksarmee einen Ausweg aus der prekären Lage, in die sie bei Gruszka geraten waren. Natürlich war das ein großer Erfolg, aber man darf dabei nicht vergessen, daß . . . die Hitlerfaschisten infolge der Tatsache, daß unsere militärischen Anführer die wichtigsten Grundsätze des Partisanenkampfes - nämlich Wachsamkeit und Beweglichkeit - nicht beachteten, derart starke Kräfte, und noch dazu an einer so ungünstigen Stelle wie im Gebiet von Gruszka zu umzingeln vermochten. Es ist einfach ein Unding, daß sich eine einzige Partisanenabteilung - selbst wenn sie nur aus relativ wenig Leuten besteht - fünf Tage lang in ein und derselben Gegend aufhält. . . . Auch bei Ewina verletzte man das Reglement, welches das Oberkommando der Volksarmee im Befehl Nr. 22 vom Dezember 1943 für den Partisanenkampf ausgegeben hatte. Der Partisanenkampf wird nicht in der Weise geführt, daß man an einem Punkt eine große Zahl - in der Regel militärisch nur unzureichend ausgebildeter und mangelhaft bewaffneter - Partisanen konzentriert und dann mit ihnen große Schlachten schlägt, in denen man es mit einem Gegner zu tun hat, der über eine weitaus bessere militärische Ausrüstung verfügt und auf den Kampf in offenen
85 86
Ebenda, S. 518. Vgl. Moczar, Barwa walki, S. 197 ff.
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Feldschlachten sehr viel besser vorbereitet ist. Partisanenkrieg besteht vielmehr darin, daß er jeweils von kleinen Gruppen geführt wird, die dem Feind unablässig hart zusetzen, ihm die Ausrüstung und die Soldaten vernichten, ihm auch nicht die geringste Atempause gönnen, ihn ständig nervös machen, bei ihm eine permanente Spannung erzeugen und ihn ständig angst und bange um seinen Kopf machen - selbst jedoch unangreifbar bleiben."87 Ein Teil der Einheiten der Volksarmee verblieb im Raum Kielce, bis diese Region im Januar 1945 befreit wurde. Die 1., 2. und 10. Brigade passierten unter Führung von Tadeusz L^cki („Orkan") in der Nacht vom 27. zum 28. Dezember 1944 die Front bei Chotcza am Brückenkopf von Sandomierz, wobei sie große Verluste erlitten. Von insgesamt 765 kamen 170 Partisanen ums Leben; viele wurden verwundet. Die Kielcer Region war nach der Lubliner der zweite Landesteil, in dem es intensive Partisanenkämpfe gab. Im Jahre 1943 operierten hier ungefähr 570 Volksgardisten, ca. 600 Mann der Landesarmee und ca. 200 Mann der Bauernbataillone; 1944 waren es 2 300 Volksgardisten, 5 500 Angehörige der Landesarmee und 1100 Mitglieder der Bauernbataillone. 88 „Die Tatsache, daß die Okkupanten mit den Kielcer Partisanen einfach nicht fertig wurden, daß sowohl die militärischen als auch die ökonomisch-administrativen Konzeptionen der Besatzer durch die Partisanen zunichte gemacht wurden, ist ein Verdienst . . . der obengenannten Verbände."89 Die in bezug auf die Aktivitäten der Volksgarde drittgrößte Region war die Gegend nördlich von Krakau (Miechow und Umgebung). Hier wurde im Juli 1944 die Bartosz-Glowacki-Volksgardistenbrigade „Krakauer Land" mit 440 Mann aufgestellt. Partisanen der Volksgarde, der Landesarmee und der Bauembataillone hielten hier vier Tage lang - vom 24. bis 27. Juli 1944 - das Gebiet um die Stadt Pinczöw besetzt und riefen die „Republika Pinczow" aus. Im Zentrum dieser Republik lag das Städtchen Skalbmierz, dessen Rückeroberung die Okkupanten beschlossen hatten. Am 5. August 1944 begann der Kampf zwischen ihnen und Abteilungen der Volksgarde, der Landesarmee und der Bauernbataillone. Die Besatzer hatten etwa 1 000 Mann und Flugzeuge eingesetzt. Der erste Tag endete f ü r die deutsche Seite mit einem Fehlschlag: 120 ihrer Leute fielen bzw. wurden verwundet, während es auf seiten der Partisanen 104 Mann waren. In den nächsten Tagen jedoch wiederholten die Faschisten ihren AngrifE und vertrieben die Partisanen. Kurz nach dem Gefecht bei Skalbmierz passierte die 1. Volksgardebrigade die Frontlinie und erreichte den von der Sowjetarmee errichteten Brückenkopf bei Sandomierz.90 Außer in den Regionen Lublin und Kielce und der Gegend nördlich von Krakau unternahm die Volksarmee im Jahre 1944 Aktionen auch in anderen polnischen 87 88
89 90
Janic, M., Idq partyzanci (Es ziehen die Partisanen), Warszawa 1967, S. 190 f. Hillebrant, B., Partyzantka na Kielecczyznie 1939-1945 (Der Partisanenkampf in der Region Kielce 1939-1945), Warszawa 1967, S. 506. Ebenda, S. 508. Wazniewski, W., Walki partyzanckie nad Nidq (Die Partisanenkämpfe an der Nida), Warszawa 1969, S. 243 ff.
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Landesteilen, vor allem im Podhale-Vorland des Tatragebirges, im Raum Rzeszöw, in Warschau und Umgebung sowie in Masowien, besonders in dessen nördlichem Teil. Partisanen- und Diversionstätigkeit betrieben nicht nur Brigaden der Volksarmee, sondern auch andere Formationen, deren Zahl sich - ohne die Brigaden - auf 55 belief.
5. Die Aktion „Gewittersturm" Jahres 1944
und der Warschauer
Aufstand
des
Die Landesarmee suchte von Januar bis Oktober 1944 ihren mit der Bezeichnung „Burza" („Gewittersturm") versehenen Plan in die Tat umzusetzen. Ihm lag folgende Strategie zugrunde: 1. Die sowjetischen Streitkräfte rücken in Polen als Verbündete ein; die AK brauche sie daher nicht zu bekämpfen; 2. die AK führt Krieg gegen die sich aus Polen zurückziehende deutsche Wehrmacht, Polizei und Verwaltung, um auf diese Weise ihre Präsenz und ihre Rolle als „Hausherr" des polnischen Territoriums - insbesondere in bezug auf die Ostgebiete ad oculos zu demonstrieren, zu denen die Londoner Exilregierung und die Sowjetregierung eine unterschiedliche Stellung einnahmen; 3. die einzige polnische Regierung, die die Landesarmee als legal anerkennt und die sie selbst auch repräsentiert, ist die zur Zeit in London amtierende polnische Regierung; demgemäß erfolgt keine Anerkennung des am 21. Juli 1944 verkündeten Lubliner Manifests der Nationalen Befreiung, also der sog. Lubliner Regierung; 4. gegenüber den einmarschierenden Sowjettruppen legalisiert die AK ihr Organisationsnetz und auch das administrative Gefüge der Delegatur und macht ihre Besitzrechte auf das Territorium Polens geltend. Es war vorgesehen, diese Maßnahmen sukzessive durchzuführen, und zwar proportional zum Vorrücken der Sowjetarmee in das Landesinnere. Zu diesem Zweck teilte man das Gebiet Vorkriegspolens in verschiedene Zonen ein: Die erste Zone bildeten die Ostgebiete der Zweiten Republik mit Lwow und Wilno (Vilnius), die zweite Bialystok, Brzesc (Brest) und das Einzugsgebiet des Flusses San usw. Die aus dem „Burza"-Plan resultierenden Aufgaben sollten in dem Augenblick erfüllt sein, da die Sowjetarmee in das betreffende Gebiet einrücken würde. Der Plan richtete sich gegen das Dritte Reich; jedoch fungierte er zugleich auch als eine Art Speerspitze gegen die UdSSR. Seine Verwirklichung mußte - speziell im westlichen Belorußland und in der Westukraine - unweigerlich zu Konflikten mit den sowjetischen Staatsorganen führen, da die sowjetische Regierung die Zugehörigkeit dieser Gebiete zur UdSSR als eine Tatsache bewertete, über die es keine Diskussion geben konnte. Daß nun dort Einheiten der Landesarmee auftauchten, betrachtete sie als einen gegen sie gerichteten unfreundlichen Akt mit allen denkbaren Konsequenzen. Zudem traf die UdSSR mit dem Lubliner Komitee am 26. Juli 1944 eine Vereinbarung des Inhalts, daß „im Gebiet der Kampfhandlungen auf dem Territorium Polens nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen die höchste Gewalt und die Verantwortlichkeit für alle mit der Kriegführung zusammenhängenden Fragen während des Zeitraums, der zur Durch-
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f ü h r u n g militärischer Operationen erforderlich ist, in d e r Hand des obersten Befehlshabers der sowjetischen Truppen liegen". 91 Als die Sowjetarmee die östliche Vorkriegsgrenze überschritten hatte, w u r d e - entsprechend dem „Burza"-Plan - die u n g e f ä h r 6 000 M a n n starke 27. - die Wolhynische - Division der Landesarmee in Marsch gesetzt. Sie u n t e r n a h m gegen die Hitlerfaschisten, aber auch zum Schutz der polnischen Bevölkerung gegen die UPA Kampfaktionen. In der Zeit vom 9. bis 20. April 1944 k ä m p f t e die Division gemeinsam mit Einheiten d e r S o w j e t a r m e e u m die Stadt Kowel. Im Verlauf weiterer K ä m p f e f ü g t e ihr die deutsche Wehrmacht schwere Verluste zu. Einige Abteilungen erreichten den R a u m Lublin u n d setzten dort den Partisanenkampf fort, w ä h r e n d ein Teil d e r Soldaten nach dem 22. Juli 1944 in die Volksarmee eintrat. Auf Weisung sowjetischer O r g a n e legte die Wolhynische Division am 25. Juli 1944 in der Umgebung von Lubartöw die Waffen nieder. 92 Der größte Erfolg im Kampf mit UPA-Abteilungen w a r die Verteidigung des wolhynischen Dorfes Przebraze. Man hatte es in ein befestigtes Lager verwandelt, in dem rd. 25 000 Polen - Einwohner von Przebraze und umliegender polnischer D ö r f e r - vor dem UPA-Terror Schutz fanden. Die in Przebraze stationierten Selbstschutzabteilungen f ü h r t e Henryk Cybulski an. Von F r ü h j a h r 1943 bis J a n u a r 1944, als die S o w j e t a r m e e in Wolhynien einrückte, verteidigte sich das Dorf gegen die von den deutschen Faschisten ausgehaltenen UPA-Banden. Derartige polnische Wehrlager, n u r etwas geringeren Ausmaßes, entstanden seinerzeit in zahlreichen Orten Wolhyniens. Im R a h m e n des „Gewittersturms" stellte man im R a u m Wilno (Vilnius) 12 Landesarmeebrigaden mit insgesamt 5 500 Mann auf. Die von d e r AK gegen die Besatzer durchgeführten K a m p f h a n d l u n g e n h a t t e n die Eroberung dieses Terrains zum Ziel. Die Deutschen, die ü b e r die vom AK-Kommando gegenüber der UdSSR verfolgte Politik sehr genau informiert waren, schlugen d e r Landesarmee vor, gemeinsam gegen die sowjetischen Truppen vorzugehen. Dieser Vorschlag wurde jedoch zurückgewiesen. Als die S o w j e t a r m e e auf Wilno vorrückte, nahmen die vereinigten AK-Abteilungen aus dem R a u m Wilno und aus Nowogrödek (Nowogrudok) gemeinsam mit ihr den Kampf u m die Befreiung Wilnos auf. Diese K a m p f h a n d l u n g e n dauerten vom 6./7. bis zum 13. Juli 1944. Die sowjetischen Behörden schlugen den Soldaten der Landesarmee vor, in die polnische Volksarmee einzutreten. Bei Ablehnung erfolgte Internierung. Ähnlich w u r d e in Lwow v e r f a h r e n . Im R a h m e n des „Burza"-Plans wurden auch in anderen Gegenden A K - P a r t i sanendivisionen und -regimenter aufgestellt, so im Raum Warschau und in den Bezirken Radom u n d K r a k a u . Fast alle diese Einheiten - insgesamt 15 Divisionen zu etwa je 4 000 Mann, 5 selbständige Regimenter und 12 Brigaden zu etwa je 500 M a n n sowie 16 selbständige Bataillone zu j e 200 Mann - fochten 1944 viele schwere K ä m p f e gegen die O k k u p a n t e n aus. O f t wirkten AK-Abteilungen auch 91
92
Polski Komitet
Wyzwolenia
Narodowego w swietle
dokumentöw
(Das Polnische
Komitee der Nationalen Befreiung im Lichte von Dokumenten), Lublin S. 12-14. Vgl. Sziumberk-Rychter, Artylerzysta piechurem, S. 296 f.
1944',
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mit der Sowjetarmee oder mit sowjetischen Partisanen zusammen, so im Raum Lublin und Kielce sowie an den beiden Weichselbrückenköpfen bei Warka und Magnuszew sowie bei Sandomierz. Gleichzeitig beharrten jedoch führende Kreise der Landesarmee auf ihrer politischen Gegnerschaft zur UdSSR und betrachteten die Sowjetunion nicht als Bundesgenossen. Das führte dazu, daß sich viele Soldaten der AK unter dramatischen Umständen von ihren Truppen entfernten und überliefen. Trotz Erfahrungen der ersten Jahreshälfte 1944 beschloß der Chefkommandeur der Landesarmee, General Tadeusz Bör-Komorowski, den Plan „Gewittersturm" in Warschau in die Tat umzusetzen und hier am 1. August 1944 den bewaffneten Aufstand auszurufen. Die Entscheidung entsprang, wie generell der „Burza"Plan, politischen Motiven. Denen, die die Idee eines solchen Vorhabens entwikkelt hatten, ging es daraum, wenigstens 12 Stunden vor dem Einzug der Sowjetarmee in Warschau die Macht zu übernehmen. Dieses Problem erschien der Londoner Exilregierung um so dringlicher, als ja am 21. Juli 1944 in Lublin das Komitee für Nationale Befreiung gegründet worden war, das im befreiten Teil Polens die politische Macht ausübte. Noch im März 1944 hatte man Warschau aus dem „Gewittersturm" ausgeklammert, um der Hauptstadt weitere Zerstörungen zu ersparen. Am 21. Juli jedoch faßten General Komorowski, sein Stellvertreter General Okulicki sowie Stabschef General Tadeusz Pelczynski den Beschluß, Warschau wieder in den Plan einzubeziehen. Das kam praktisch einer Vorentscheidung über den Ort des bewaffneten Aufstandes gleich. Dieser Beschluß war auch eine Reaktion auf die Nachrichten vom Scheitern des „Gewittersturms" in den Ostgebieten. Statt die Konsequenzen aus dem Mißerfolg und den hohen Opfern derartiger Aktionen zu ziehen, entschloß man sich, das gleiche in bedeutend größerem Maßstab noch einmal zu versuchen. Am 26. Juli stellte es die Londoner Exilregierung ihren Beauftragten und der Führung der Landesarmee anheim, den Aufstand auszurufen, obgleich es viele Gründe für die Annahme gab, daß mit einer Hilfe der westlichen Alliierten für die Aufständischen nicht gerechnet werden konnte. Ende Juli begab sich der Ministerpräsident der Londoner Exilregierung, Stanislaw Mikoiajczyk, nach Moskau, um dort mit der Sowjetregierung und den Delegierten des Lubliner Komitees über die polnisch-sowjetische Grenze und das Problem der Bildung einer polnischen Regierung zu verhandeln. Mikolajczyks Spekulation, ihm werde, indem die Organe der Londoner Exilregierung die Macht in Warschau übernehmen würden, bei diesen Gesprächen der Rücken gestärkt werden, scheiterte jedoch. Statt von der Position des siegreichen Aufstandes aus verhandeln zu können, mußte er als Bittsteller Hilfe für das kämpfende Warschau erflehen. Den Ausschlag für die Entscheidung, den Aufstand zu riskieren, gaben letztlich die Meldungen, daß sich die Sowjetarmee Warschau nähere. Zu diesem Zeitpunkt spielte Oberst Antoni Chrusciel („Monter"), der Warschauer AK-Bezirkskommandeur, eine entscheidende Rolle: Er setzte nämlich die Leitung der Landesarmee davon in Kenntnis, daß sich sowjetische Panzer dem Vernehmen nach bereits am Stadtrand befänden. Das war nun allerdings keine authentische Information, da die Offensive der Warschau zustrebenden 2. sowjetischen Panzer-
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gardearmee infolge örtlicher Mißerfolge im Vorfeld der polnischen Hauptstadt in den f r ü h e n Morgenstunden des 1. August (fast genau 12 Stunden vor Beginn des Aufstandes) zum Stehen gekommen war. Trotzdem w u r d e am 31. Juli 1944 übereilt und ohne Überprüfung der eingegangenen Nachrichten, vor allem ohne Absprache mit der Sowjetarmee über Koordinierungsmaßnahmen und ohne eine Garantie f ü r westalliierte Hilfe das Signal zum Beginn des Aufstandes gegeben. Diese Entscheidung fiel auf Weisung der Militärs, aber auch der Regierungsbeauftragte Ingenieur Stanislaw Jankowski erteilte seine Zustimmung. Den unmittelbaren Kampfbefehl erließ General Bör-Komorowski. Eine wesentliche Triebkraft f ü r den Aufstand w a r die Haltung der Warschauer Bevölkerung, die angesichts der heraufziehenden Niederlage Hitlerdeutschlands als Vergeltung f ü r die an polnischen Bürgern begangenen Verbrechen und f ü r die erlittene Schmach die militärische Bekämpfung der Okkupanten forderte. Die Lage spitzte sich zu, als die Okkupanten am 27. Juli 1944 den Befehl erließen, daß sich 100 000 Warschauer zu Schanzarbeiten zu melden hätten. Gegen den Aufstand sprach der Umstand, daß die diesbezüglichen Aktivitäten, vor allem das Zusammenwirken mit den außerhalb der Stadt befindlichen AKEinheiten, nicht mit der erforderlichen Sorgfalt geplant worden waren. Auch wurden nicht genügend Waffen nach Warschau gebracht. Vollends jeder Grundlage entbehrte schließlich die Hoffnung auf Unterstützung durch die alliierte Luftwaffe und auf die Landung einer polnischen Fallschirmbrigade unter Führung des Generals Sosabowski. Für den Warschauer Aufstand kommandierte die Landesarmee ungefähr 23 000 Mann ab; später erhöhte sich die Zahl auf 40 000. Dazu kamen noch Abteilungen, die direkt der Hauptkommandantur unterstanden, so das Regiment „Baszta" und die Bataillone „Zoska" und „Parasol". Insgesamt waren die Aufständischen n u r unzureichend bewaffnet. Der Munitionsvorrat reichte n u r f ü r zwei bis drei Tage. Unmittelbar nach Beginn des Aufstandes wurde die deutsche Garnison in Warschau verstärkt. Sie zählte rd. 50 000 gut bewaffnete Soldaten, die von Panzern und Flugzeugen unterstützt wurden. Es handelte sich dabei u. a. um Truppeneinheiten unter Leitung vom Heinz Reinefarth und Oskar Dirlewanger. Die militärische Gesamtleitung lag in den Händen des SS-Obergruppenführers Erich von dem Bach-Zelewski. Der Aufstand begann am 1. August 1944 um 17 Uhr. Er erfaßte sämtliche westlich der Weichsel gelegenen Stadtteile: die Stadtmitte, die Altstadt, Wola, Ochota, Mokotöw, Czerniaköw und Zolibörz sowie einige am Stadtrand gelegene Viertel und einen Teil der Vororte. Vom 1. bis 4. August befanden sich die Aufständischen in der Offensive. Als sich nach dem 4. August herausstellte, daß die Befreiung noch nicht unmittelbar bevorstand, ordnete General Bör-Komorowski den Übergang zur Defensive an. Von diesem Zeitpunkt an w u r d e deutlich, daß dem Aufstand kein Erfolg beschieden sein werde und eine Rettung n u r von außen her w ü r d e kommen können. In der ersten Phase des Kampfes richteten die Faschisten ihre Anstrengungen hauptsächlich darauf, die von West nach Ost durchgehenden Verkehrsadern unter Kontrolle zu behalten. Nach hartnäckigen Kämpfen am 5. und 6. August eroberten sie einen Teil des Stadtviertels Wola, wobei sie brutal ungefähr 40 000 seiner Einwohner ermordeten. Nach Kämpfen,
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die vom 4. bis 11. August dauerten, gelang es ihnen, Ochota einzunehmen. Auch hier verübten sie Massenmorde an der Zivilbevölkerung. Danach galt ihr Hauptstoß der Eroberung der Altstadt. Diese Kämpfe waren besonders langwierig und erbittert. 9 000 AK-Soldaten verteidigten Warschaus Altstadt. Hier kämpfte auch eine 850 Mann starke Gruppe der Volksarmee, die sich dem Aufstand angeschlossen hatte, obschon ihn niemand in der Volksarmee billigte. Am 26. August fielen dort die Mitglieder des Aufstandsbefehlsstabes dieser Armee, Boleslaw Kowalski, Edward Lanota, Stanislaw Kurland, Anastazy Matywiecki und Stanislaw Nowicki. Insgesamt beteiligten sich ungefähr 1 800 Angehörige der Volksarmee am Aufstand. Von ihnen fanden 500 den Tod. Am 2. September fiel die Altstadt. Ein Teil der Aufständischen konnte durch die Kanalisation zur Stadtmitte und nach Zolibörz gelangen, wo der Kampf weitergeführt wurde. Ende August/Anfang September befanden sich die Stadtviertel Zolibörz, Powisle, Srödmiescie (Stadtmitte), Czerniaköw und Mokotöw weiterhin in der Hand der Aufständischen. Besonders wichtig war es, das Terrain am Weichselufer zu behaupten, da Hilfe nur vom rechten Ufer (Stadtteil Praga) kommen konnte. Unter dem Druck der Deutschen, die die Aufständischen vom Weichselufer zu verdrängen suchten, mußte am 6. September Powisle aufgegeben werden. In der Zeit vom 10. bis 14. September befreiten die Sowjetarmee und die 1. Armee des Polnischen Heeres den rechts der Weichsel gelegenen Stadtteil Praga, der nicht zum Aufstandsgebiet gehörte. Die Aufständischen waren von den sowjetischen und polnischen Divisionen nur noch durch die Weichsel getrennt. Uber Warschau tauchten sowjetische Flugzeuge auf, die deutsche Ziele bombardierten und den Aufständischen Waffen, Verbandszeug und Arzneimittel abwarfen. Das hatten zuvor auch westalliierte Flugzeuge getan. In der Zeit vom 17. bis 21. September versuchten Einheiten des Polnischen Heeres an drei verschiedenen Stellen die Weichsel zu überqueren. Auf das linke, von den Aufständischen besetzte Ufer gelangten fünf Infanteriebataillone. Sie wurden jedoch von den Deutschen aufgerieben, die auch einen der Brückenköpfe, von dem aus Soldaten der 1. Armee an Land gegangen waren (der Brückenkopf bei Czerniaköw), einnehmen konnten. Am 24. September griffen die Faschisten Mokotöw an und eroberten es. Ein Teil der Aufständischen entkam durch die Kanalisation zur Stadtmitte, während der Rest am 27. September kapitulierte. Die Aufständischen hielten sich nur noch in der Stadtmitte und in 2olibörz. Inzwischen waren zwei Monate seit Beginn des Kampfes vergangen. Die Lage war hoffnungslos. AK-Abteilungen aus anderen Teilen des Landes, die den Aufständischen zu Hilfe eilen sollten, speziell ca. 5 000 Mann aus dem Raum Kielce, kamen nicht nach Warschau durch. Die erwarteten Operationen der Sowjetarmee blieben wegen der militärischen Situation und auch wegen politischer Unstimmigkeiten aus. So kam der Warschauer Aufstand zum Erliegen. Am 30. September wurden mit den Deutschen Kapitulationsverhandlungen aufgenommen. Die Aufständischen sollten den Status regulärer Kriegsgefangener erhalten. Am 2. Oktober 1944 erfolgte um 21 Uhr die Kapitulation. Am 4. und 5. Oktober legten die Aufständischen ihre Waffen nieder. Im Verlauf der 62 Tage, die der Kampf dauerte, fielen bzw. starben 18 000 Aufständische ; 25 000 wurden verwundet. Die Verluste unter der Zivilbevölkerung 26 J a h r b u c h 23
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beliefen sich auf ungefähr 180 000 Menschen. Auf deutscher Seite betrugen die Verluste 10 000 Gefallene, 7 000 Tote, 9 000 Verwundete. 93 Nach Beendigung des Aufstandes machten die Nazis den links der Weichsel gelegenen Teil Warschaus dem Erdboden gleich, siedelten die noch verbliebenen Einwohner aus oder töteten sie. Das Gros der Ausgesiedelten brachten sie in ein im Warschauer Vorort Pruszköw eingerichtetes Lager, das 600 000 Menschen passierten. Im Grunde spiegelt ein sachlicher Bericht über die Ereignisse des Warschauer Aufstandes nicht die Problematik wider, da er die unerhörte Dramatik, die hier für Polen eine historische Dimension annahm, nicht sichtbar zu machen vermag. Da nimmt eine Millionenstadt in gespannter Erwartung ihrer Befreiung den Kampf gegen die verhaßten Okkupanten auf. Gegen die moderne Kriegstechnik, mit der die Faschisten operierten, konnten die so gut wie waffenlosen Männer und Frauen, Jungen und Mädchen Warschaus nur kämpferischen Elan, Intelligenz, Willensstärke, den Ruf nach Vergeltung und die Hoffnung auf alliierte Hilfe in die Waagschale werfen. Dieser mit einem tragischen Irrtum belastete Kampf währte länger als zwei Monate, obwohl schon nach Ablauf der ersten Tage absehbar war, daß der Aufstand scheitern mußte. Die Faschisten gingen mit der von ihnen wie eh und je geübten brutalen Praxis vor: Sie ermordeten die wehrlose Bevölkerung, brandschatzten und waren bestrebt, Warschau „auszuradieren". Die Aufständischen führten einen unnachgiebigen Kampf und kannten dem Feind gegenüber keinen Pardon, schonten weder das eigene noch das Leben des Gegners und vollbrachten schier unglaubliche Taten: man denke hierbei nur daran, daß Tausende die Kanalisation von der Altstadt aus in Richtung Stadtmitte und Zolibörz durchquerten. 95 Und welches Leid der Zivil93
Nachstehend die wichtigsten Veröffentlichungen über den Warschauer Aufstand: Bartelski, L. M., Powstanie warszawskie (Der Warschauer Aufstand), Warszawa 1965; Borkiewicz, A., Powstanie warszawskie 1944 (Der Warschauer Aufstand von 1944), Warszawa 1957; Ciechanowski, J., Powstanie warszawskie. Zarys podloza politycznego i dyplomatycznego (Der Warschauer Aufstand. Abriß seines politischen und diplomatischen Hintergrundes), London 1971; Kirchmayer, J., Powstanie warszawskie (Der Warschauer Aufstand), Warszawa 1959; Kliszko, Z., Powstanie warszawskie (Der Warschauer Aufstand), Warszawa 1967; Krzyczkowski, J., Konspiracja i powstanie w Kampinosie (Die Konspiration und der Aufstand im KampinosWald), Warszawa 1961; Podlewski, S., Przemarsz przez pieklo (Der Weg durch die Hölle), Warszawa 1971; Przygonski, A., Udzial PPR i AL w powstaniu warszawskim (Der Anteil der Polnischen Arbeiterpartei und der Volksarmee am Warschauer Aufstand), Warszawa 1970; Skarzynski, A., Polityczne przyczyny powstanie warszawskiego (Die politischen Beweggründe des Warschauer Aufstandes), Warszawa 1964; L,udnos6 cywilna w Powstaniu Warszawskim. Pamiqtniki. Relacje. Zeznania (Die Zivilbevölkerung im Warschauer Aufstand. Erinnerungen, Relationen, Aussagen), hrsg. von C. Madajczyk, Bd. 1, Warszawa 1974; Przygonski, A., Powstanie warszawskie w sierpniu 1944 (Der Warschauer Aufstand im August 1944), Bd. 1-2, Warszawa 1979; vgl. auch Strzembosz,T., Akcje zbrojne podziemnej Warszawy 1939-1944 (Die bewaffneten Aktionen des konspirativen Warschaus 1939-1944), Warszawa 1979.
94
Vgl. Bialoszewski, M., Pami^tnik z powstania warszawskiego (Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit des Warschauer Aufstandes), Warszawa 1971.
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bevölkerung widerfuhr, vermag vielleicht die Zahl von 180 000 Ermordeten anzudeuten. Unsagbar, was die Überlebenden auszustehen hatten. Die während des Warschauer Aufstandes begangenen Verbrechen, die Massenmorde, die kriminell zu nennende Zerstörung Warschaus, die Vernichtung seiner herrlichen Baudenkmäler, so z. B. des Königsschlosses (eine Vernichtung, die auf Grund vorheriger kalter Berechnung nicht etwa während der Kampfhandlungen, sondern danach erfolgte) - all dies geht zu Lasten der deutschen Faschisten. Hier ging es nicht in erster Linie um einen harten und blutigen Kampf zwischen Bewaffneten, sondern um die kaltblütige Niedermetzelung der Zivilbevölkerung und die nach Beendigung des Aufstandes bewußt angerichteten systematischen Zerstörungen. Die Verantwortung f ü r den Aufstand wiederum trifft auch diejenigen, die ihn als separate Aktion auslösten und damit Tausende junger Menschen in den Kampf schickten sowie große Opfer unter der Zivilbevölkerung und eine Totalzerstörung der polnischen Hauptstadt heraufbeschworen. Sowohl der Plan „Gewitterstrum" als auch der Warschauer Aufstand wurden auf Grund politischer Erwägungen realisiert. Sie führten zur Vergeudung des Kampfeswillens und der Anstrengungen Zehntausender von AK-Soldaten, deren Vertrauen die Londoner Exilregierung und ihre in Polen befindlichen Vertreter mißbrauchten. Angesichts des Warschauer Aufstandes und der Sackgasse, in die die von Mikolajczyk geführten Verhandlungen der Londoner Exilregierung mit der UdSSR und dem Lubliner Komitee im Juli/August und Oktober 1944 in Moskau geraten waren, kam es innerhalb des Londoner Exils zu einer Krise. Ministerpräsident Mikolajczyk trat zurück. Zu seinem vorläufigen Nachfolger wurde Tomasz Arciszewski ernannt. Als Mikolajczyk demissionierte, schied auch die Volkspartei, die er repräsentierte, aus der Londoner Koalition aus. Die Folge davon war auch eine Krise der dieser Regierung folgenden Widerstandsbewegung in Polen. Nach General Bör-Komorowski, der nach dem Warschauer Aufstand in deutsche Gefangenschaft geriet, übernahm General Leopold Okulicki das Oberkommando der Landesarmee. Am 19. Januar 1945 verfügte er die Auflösung der Armia Krajowa. Einige Kommandostellen und Gruppen der AK dachten jedoch nicht daran, sich aufzulösen, und gingen zu einer vertieften, zweiten Konspiration über. Zu diesem Zweck gründeten sie den Verband „Nie" (Nein). Daraus erwuchsen neue Spannungen und Konflikte. Am 28. März 1945 verhafteten sowjetische Organe 16 führende Funktionäre des Londoner Untergrundes mit Jankowski und Okulicki an der Spitze. Kurze Zeit danach hatten sie sich in Moskau vor einem sowjetischen Gericht wegen ihrer gegen die Sowjetarmee gerichteten feindseligen Tätigkeit zu verantworten. Das war das Ende einer Politik, die auf der Theorie von der Existenz „zweier Gegner" basierte. Diese Doktrin gewann nach dem Tode Sikorskis die Oberhand. Er hatte noch die Überzeugung geäußert, daß Polen nur einen einzigen Feind, nämlich Deutschland habe, auf der anderen Seite jedoch über einen starken Nachbarn, die Sowjetunion, verfüge. Sosnkowski und Bör-Komorowski jedoch beharrten auf der Theorie von den „beiden Widersachern". 26*
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6. Der zivile
Widerstand
Neben dem bewaffneten Widerstand entwickelte sich in Polen eine nichtmilitärische, zivile Konspiration, die sich im politischen Leben manifestierte und sich u. a. im Aufbau eines geheimen Schulwesens, in illegaler kultureller Betätigung, in der Rettung von Kulturschätzen vor dem räuberischen Zugriff der Besatzer oder im Widerstand auf ökonomischem Gebiet äußerte. Besondere Beachtung verdient dabei das geheime Schulwesen, das in allen drei Bildungsstufen - Grundschule, Oberschule und Hochschule - praktiziert wurde. Es gelang damit, viele Kinder und Jugendliche während der fünf J a h r e dauernden Okkupationszeit hindurch weiter zu unterrichten. Außerdem bewahrte es die Jugend vor Demoralisierung, deren sich die Besatzer gezielt bedienten, und verhalf mit dazu, bei der jungen Generation ein Bewußtsein der nationalen Identität herauszubilden. Diejenigen, die während des Krieges geheime Schulen besucht hatten, konnten sofort nach dem Kriege im befreiten Polen ein Arbeitsverhältnis aufnehmen. Das geheime Schulwesen unterstand der Delegatur der Londoner Exilregierung und wurde von dort auch finanziert. Im Schuljahr 1942/43 unterrichteten an geheimen Grundschulen 5 332 Lehrer 88 244 Schüler; im Schuljahr 1943/44 waren es 5 461 Lehrer und 90 805 Schüler. In den geheimen Oberschulen bildeten 1942/43 5 625 Lehrer 48 608 Schüler, 1943/44 7 168 Lehrer 60 660 Schüler aus. Lehrer und Schüler setzten sich ständig der Gefahr schwerster Besatzerrepressionen aus und arbeiteten unter außerordentlich schwierigen Bedingungen. Meist versammelten sie sich in Privatwohnungen. Sehr empfindlich machte sich der Mangel an Lehrbüchern (man griff auf solche zurück, die vor dem Kriege erschienen waren) und das völlige Fehlen von Lehrmitteln (Landkarten, Experimentiergeräte f ü r den Physik- und Chemieunterricht u. a.) bemerkbar. Oft gelang es, einen regulären polnischen Grundund Oberschulunterricht mit dem Etikett verschiedener Kurse zu tarnen, die die Besatzer genehmigten. Vorwiegend waren das offizielle Kurse f ü r den Erwerb handwerklicher oder hauswirtschaftlicher Fähigkeiten, ferner Handelsund Genossenschaftskurse u. ä.95 Auch die polnischen Universitäten und einige Fachhochschulen - in der Hauptsache die Universität Warschau, die Jagiellonen-Universität in Krakau und die „Universität der Westgebiete" mit Sitz in Warschau - setzten ihre Arbeit in der Okkupationszeit konspirativ fort. 98 Während dieser Zeit erwarben 2 013 Studenten ihren Hochschulabschluß, darunter 660 Ingenieure, 378 Ärzte, 52 Mathematiker und Physiker u n d 307 Geisteswissenschaftler. Die polnischen Akademiker, die unter Einsatz ihres 95
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Krasuski, J., Tajne szkolnictwo w okresie okupacji hitlerowskiej 1939-1945 (Das geheime Schulwesen während der Zeit der nazideutschen Okkupation), Warszawa 1971. Manteuffel, T., Formy tajnego nauczania akademickiego w Warszawie 1939-1944 (Die Formen der geheimen Hochschulbildung in Warschau 1939-1944), in: Kwartalnik Historyczny, 77, 1970, 3, S. 748-753; Charkiewicz, M., Kadry wykwalifikowane w Polsce (Die ausgebildeten Führungskräfte in Polen),Warszawa 1961, S. 30 f.
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Lebens die Arbeit der Universitäten im geheimen weiterführten, haben sich damit in ruhmvoller Weise um die polnische Kultur verdient gemacht. Schriftsteller, Wissenschaftler, Mitarbeiter von Museen, Bibliotheken, Archiven usw. unternahmen während der Okkupationszeit vielfältige Anstrengungen, Kulturgüter vor den Okkupanten zu schützen. „In der Okkupationszeit bemühten wir uns um möglichst viele und möglichst detaillierte Informaionen über das, was vernichtet, geraubt und verschleppt wurde. Die von mir geleitete konspirative Dokumentationsstelle war dem Nationalmuseum zugeordnet und registrierte Informationen, die von zahlreichen Mitarbeitern zusammengetragen wurden. Unsere Karteien verzeichneten Baudenkmäler, transportable Kunstwerke aller Art, Bibliotheken, Archive, urkundliches Material und historische Erinnerungsstücke. In den Monaten nach dem Warschauer Aufstand sammelten wir in Podkowa Lesna Informationen über private Sammlungen, die vernichtet oder in Kellern aufgefunden und uns von den Eigentümern bzw. Kuratoren gemeldet worden waren, und solche über das Schicksal, das öffentliche Sammlungen in der Zeit des Aufstandes und späterhin erlitten, als Warschau systematisch in Brand gesteckt und zerstört wurde."97 Außerdem gab es konspirative wissenschaftliche und kulturelle Aktivitäten. Wissenschaft im Untergrund war einmal Forschungsgebiet von Gelehrten, und zum anderen waren es wissenschaftliche Diskussionsforen und Vorlesungen, die oft die künftigen, nach dem Kriege aktuellen Erfordernisse Polens zum Gegenstand hatten. In diese Richtung wies das sog. Weststudium unter Leitung von Prof. Zygmunt Wojciechowski, in dessen Rahmen man Probleme der an der Oder und Lausitzer Neiße gelegenen polnischen Westgebiete behandelte, die nach Kriegsende zu Polen gehören sollten. Warschauer Architekten entwarfen einen Plan für den Wiederaufbau und die bauliche Erweiterung der Hauptstadt. Das kulturelle Leben manifestierte sich in Gestalt geheimer, in Privatwohnungen veranstalteter Intrumental- und Vokalkonzerte. Innerhalb eines Vierteljahres - in der Zeit von 1. April bis zum 30. Juni 1942 - fanden in Warschau ungefähr 150 solcher Veranstaltungen statt. Ferner traten Schauspieler polnischer Bühnen auf, und man lud zu literarischen Abenden ein. Die konspirative Presse umfaßte 1 500 verschiedene Publikationen. 98 Es erschienen illegal über 1 000 Broschüren, Bücher und Zeitschriften über Kultur und Kunst. Auch gab es literarische Neuerscheinungen. Der begabteste literarische Vertreter der jungen Generation, dessen Schaffen sich gerade während der Okkupationsjahre voll entfaltete, war Krzysztof Kamil Baczynski (1921-1944). Sein Werk ist von der Thematik jener finsteren, zugleich aber auch heroischen Jahre durchdrungen.99 Baczynski war 1)7
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Walka o dorba kultury. Warszawa 1939-1945 (Der Kampf um die Kulturschätze in Warschau 1939-1945), Warszawa 1970, S. 8. Dobroszycki, L., Centralny katalog prasy konspiracyjnej 1939-1945 (Zentralkatalog der Konspirationspresse 1939-1945), Warszawa 1962; Chojnacki,W., Bibliografia zwartych druköw konspiracyjnych pod okupacj^ hitlerowskq w latach 1939-1945 (Bibliographie der in den Okkupationsjahren 1939-1945 illegal erschienenen Monographien), Warszawa 1970. Baczynski, K. K., Utwory zebrane (Gesammelte Werke), Warszawa 1970, Bd. 2, S. 57.
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Soldat der Landesarmee. E r fiel a m vierten Tage des Aufstandes, als e r mit seiner Abteilung auf d e n Barrikaden u m das Gebäude des Warschauer Opernhauses k ä m p f t e . Der Tod des jungen Dichters veranlaßte den b e k a n n t e n Literaturhistoriker Stanislaw Pigoli zu d e r Ä u ß e r u n g : „Wir gehören einem Volk an, dessen Schicksal es ist, Brillanten auf den Gegner zu schießen." 100 Nicht n u r in ihrer Heimat k ä m p f t e n die Polen ihren Kampf gegen den deutschen Faschismus. Überall, wo es in den von den Machhabern des Dritten Reiches okkupierten Ländern eine größere Konzentration von Polen gab, oder dort, wohin Polen durch die Kriegswirren verschlagen w u r d e n , standen sie in aktivem Kampf. So b e f a n d e n sich Polen u n t e r den Partisanen auf d e m Territorium der UdSSR (6 000-8 000 in d e r Ukraine, 2 500 in Belorußland u n d mindestens 15 000 in Litauen und in den anderen baltischen Republiken), f e m e r in den Reihen d e r Widerstandsbewegungen in Deutschland, Frankreich, Jugoslawien, Griechenland und Ungarn. 101 Im griechischen Widerstand machte sich der polnische Staatsbürger Jerzy IwanowSzajnowicz, Sohn einer Polin und eines Russen, verdient, der 1941, nach seinem Eintritt in britische Dienste, an d e r A u f k l ä r u n g s - und Diversionstätigkeit teilnahm. Zusammen mit einer griechischen Sabotagegruppe vernichtete er ungef ä h r 400 deutsche Flugzeuge u n d versenkte mit Hilfe von Magnetbomben drei Kriegsschiffe: d a s U-Boot U 133, den Zerstörer „Hermes" und den Transporter „San Isidore". Aus der Haft, in die er am 18. Dezember 1941 geraten war, k o n n t e er entfliehen. Am 8. September 1942 w u r d e er erneut verhaftet. Zum Tode verurteilt, versuchte er noch k u r z vor der Exekution zu fliehen. Die Nazis f a ß t e n den Verwundeten jedoch und erschossen ihn am 4. J a n u a r 1943. An d e r auf polnischem Boden agierenden Widerstandsbewegung w a r e n auch Angehörige anderer Nationalitäten beteiligt, u n d zwar insbesondere Russen u n d Sowjetbürger nichtrussischer Nationalität (darunter viele aus deutschen Lagern geflohene Kriegsgefangene) sowie u. a. deutsche Antifaschisten und Juden, denen die Flucht aus dem Ghetto geglückt war.
7. Abschließende
Betrachtungen
Der Begriff „Widerstandsbewegung" ist außerordentlich komplex. So gab es in den J a h r e n von 1939 bis 1945 aktiven und passiven Widerstand, der - organisiert oder spontan - alle Gebiete des Lebens der polnischen Gesellschaft w i e auch Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager erfaßte. Natürlich verlief die Entwicklung des Widerstandes in der Okkupationszeit unterschiedlich, auch in territorialer Hinsicht. So h a t t e er im Generalgouvernement ein anderes G e p r ä g e als in den unmittelbar in das faschistische Reich einverleibten Gebiete Polens. Auch 100 101
Ebenda, Bd. 1, S. LXVII. Gòra, W./Juchniewicz, M./Tobiarz, J., Udzial Polaków w radzieckim rudi oporu (Der Anteil der Polen an der sowjetischen Widerstandsbewegung), Warszawa 1971; Bieganski, W./Juchniewicz, M./Okqcki, SJStachurski, F., Antyhitlerowska dzialalnosé Polaków na W^grzech i Balkanadi (Die antifaschistischen Aktivitäten der Polen in Ungarn und auf dem Balkan), Warszawa 1971.
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engagierten sich die einzelnen sozialen Schichten bzw. Berufsgruppen mit unterschiedlicher Intensität. Altersmäßig gab es ebenfalls ein Gefälle; die Jugend war der aktivste Teil. Doch bei allen Unterschieden handelte es sich um ein generelles Problem, das für die gesamte polnische Bevölkerung und für alle Lebensbereiche galt. Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung sind wir am besten über den organisierten Widerstand und die verschiedenen Formen des bewaffneten Kampfes informiert. Weniger erforscht ist der nichtmilitärische (zivile) Widerstand und seine häufigste Variante: der passive Widerstand. Andere Arten von Aktionen (z. B. Verkehrssabotage) können durch statistische Angaben belegt werden, die allerdings die Dramatik und die Differenzierung nivellieren. Wichtig sind Forschungen über die Teilnehmer am Widerstandskampf. Es geht dabei nicht um diejenigen, die leitende Funktionen innehatten - diese sind bekannt - , und auch nicht um jene, welche die spektakulärsten Aktionen durchführten, z. B. den Uberfall auf das deutsche „Café Club" oder das Attentat auf den Gestapochef Kutschera, oder um die geheimen Lehrer oder die Menschen, die Hilfe f ü r Juden in die Wege leiteten usw., sondern um die große Masse der einfachen Soldaten der Konspiration, von denen man nichts anderes als ihren Vor- und Familiennamen kennt. Viele von ihnen gaben im Kampf ihr Leben, und viele gingen gleich nach dem Krieg in alle Welt. Unter den Bedingungen der Konspiration war es oftmals nicht einmal möglich, sie im einzelnen namentlich zu erfassen. Die Bemühungen um Personalangaben ehemaliger Widerstandskämpfer, die nach dem Kriege von verschiedenen Institutionen z. B. mittels Fragebogen unternommen wurden, brachten zwar gewisse Ergebnisse, blieben insgesamt jedoch Stückwerk. Den größten Einfluß auf die polnische Widerstandsbewegung übte die jeweilige militärische Lage an den Fronten aus. Als Hitlerdeutschland die militärische Oberhand gewonnen hatte (Juni 1940-Juni 1941), ging die Aktivität des Widerstandes zurück, während deutsche Mißerfolge und alliierte Siege (so der Sieg der Sowjetarmee bei Stalingrad, die Landung der westlichen Alliierten in Frankreich und die sowjetische Offensive des Jahres 1944) diese Aktivität beflügelten. Die Zunahme des antipolnischen Terrors der Nazis zeitigte zwei unterschiedliche Auswirkungen: Auf der einen Seite versetzte sie - wie beabsichtigt - weite Kreise der Bevölkerung zeitweilig in Angst und Schrecken und zugleich in lähmende Apathie. Andererseits führte aber der wachsende Terror aktiveren polnischen Kreisen vor Augen, daß das Ziel der Faschisten darin bestand, die polnische Nation physisch zu vernichten, so daß es den Kampf fortzusetzen galt, da Passivität und ständiges Zurückweichen die Okkupanten geradezu animieren, würden. Die Einsicht in die Notwendigkeit des Kampfes wuchs. In der Regel erfolgte auf massierte faschistische Terrorakte jedesmal ein entsprechender Gegenschlag von seiten der Widerstandskämpfer. In führenden deutschen Kreisen herrschte über das Verfahren gegenüber den Polen keine Einmütigkeit. J e mehr der polnische Widerstand eskalierte und damit seine abschreckende, Wirkung auf die Okkupanten zunahm, desto größer wurden auch die methodischen Differenzen. Hinsichtlich der Ziele bestand Einvernehmen. Es wurden jedoch unterschiedliche Mittel und Wege sowie Zeitpunkte ihrer Durchsetzung in Vorschlag gebracht. Natürlich war man in bezug
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auf die zu praktizierenden Methoden n u r zeitweilig und hinsichtlich ihres Umfanges unterschiedlicher Ansicht. Daß solche Diskussionen jedoch keineswegs irrelevant waren, wird z. B. dadurch belegt, daß sich Hans Franck, der darauf Wert legte, als Verfechter nicht allzu brutaler Praktiken zu gelten, im Verlauf eines Interviews f ü r den „Völkischen Beobachter" wie folgt äußerte: „In Prag hatte man große, leuchtend rote Plakate angebracht, auf denen bekanntgegeben wurde, daß am selben Tage 7 Tschechen erschossen wurden. Ich sagte mir damals: Wollte man jedesmal, wenn 7 Polen erschossen werden, entsprechende Plakate drucken lassen, dann würden die polnischen Wälder gar nicht zur Herstellung der f ü r solche Aushänge notwendigen Menge Papier ausreichen." Die Faschisten waren f ü r die polnische Widerstandsbewegung ein gefährlicher und gut organisierter Gegner, der - technisch komplett ausgerüstet und diszipliniert - seine eigenen K r ä f t e geschickt einzusetzen wußte. Spürbar waren die Schläge, zu denen die Gestapo ausholte. Oft unternahmen die Faschisten gezielte Aktionen gegen die Partisanen, die besonders dann wirkungsvoll waren, wenn die Partisanen in massierter Form und in großen Abteilungen auftraten und sich zum offenen Gefecht herausfordern ließen. Die Okkupanten wußten sich jedoch nicht mehr zu helfen, wenn die Partisanen kleine, mobile Abteilungen bildeten, die ihnen Schläge versetzten und sich danach - unter Anwendung der bewährten „Zupfkrieg"taktik - auf andere Gegenden verteilten. Es w a r die Allgegenwart der Widerstandsbewegung, die die Faschisten paralysierte: Von allen Seiten wurden sie behelligt und in Atem gehalten. Das f ü h r t e zu einer Verzettelung ihrer K r ä f t e und folglich zu ihrer Schwächung. Ständig forderte die Administration des Generalgouvernements zusätzliche Militär- und Polizeikontingente an und f ü h r t e Klage darüber, daß die Mittel, über die sie im Kampf gegen die Widerstandsbewegung verfüge, nicht ausreichten. Sehr bezeichnend d a f ü r ist der ausführliche Bericht über die Lage im Distrikt Lublin, die der Landrat des Kreises Pulawy, Brandt, am 27. Mai 1943 Hans Franck übermittelte: „Die Macht über dieses Territorium droht Deutschland völlig zu entgleiten, falls nicht in allernächster Zeit radikale Maßnahmen zur Stärkung der fast völlig geschwundenen deutschen Autorität ergriffen werden. Wir stehen an der Schwelle zu offenem Aufruhr. Namens aller Landräte bitte ich Sie, Herr Generalgouverneur, entsprechende vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen." 102 Die polnische Widerstandsbewegung zerfiel politisch in mehrere Richtungen; die beiden wichtigsten waren einerseits die von der polnischen Exilregierung in London, andererseits die von der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) geführten Richtungen. Die extreme Rechte w a r durch die Nationalen Streitkräfte vertreten. Die einzelnen Lager unterschieden sich voneinander sowohl durch ihre Konzeptionen zur zukünftigen Entwicklung Polens als auch durch ihre Stellung zu Problemen der aktuellen Situation. Während die PPR f ü r einen möglichst umfassenden bewaffneten Kampf eintrat, suchte das „Londoner Lager" den Kampf zu begrenzen und die Kräfte f ü r jenen Augenblick zu schonen, da die Zeit f ü r einen allgemeinen bewaffneten Aufstand reif sein würde. Die politische Zersplitterung wirkte sich auf die Widerstandsbewegung und zumal auf den be105
Vgl. Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka, T. 2, S. 139.
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waffneten Kampf aus. Die Okkupanten machten sich in ihrem eigenen Interesse diese politischen Divergenzen zunutze und schürten sie. Dennoch ist zu konstatieren, daß trotz aller Differenzen die Soldaten des polnischen Untergrundes ihre Waffen in allererster Linie gegen die Deutschen richteten, wodurch die polnische Widerstandsbewegung zu einer besonderen Kraft wurde. Denn sie agierte in einem Kriegsgebiet von erstrangiger strategischer Bedeutung, und deshalb hatten die Mächte der Antihitlerkoalition ein vitales Interesse am polnischen Widerstand. Das galt besonders für die UdSSR und für Großbritannien. Nicht überall in Polen war ein gleich starker bewaffneter Widerstand zu verzeichnen. Die größte Intensität erreichte er in jenem dichtbewaldeten Gebiet, das im Osten durch den Bug, im Norden durch die Linie Brest-Plock (an der Weichsel) und im Westen durch die Linie Plock-Cz^stochowa-Krakau begrenzt wird. Bei einem so ausgedehnten Aktionsradius vermochte die Widerstandsbewegung die Verkehrswege in Richtung der deutsch-sowjetischen Front mit Erfolg zu blockieren. Aber auch die führende Rolle Warschaus, von wo aus der Widerstand zentral gesteuert wurde, fiel dabei ins Gewicht. Etwa in demselben geographischen Raum hatten achtzig Jahre zuvor, im Januar-Aufstand 1863, schon einmal polnische Partisanenabteilungen operiert. Die Art, in der die Widerstandsbewegung in größeren Städten vorging, unterschied sich von der in ländlichen Gegenden und Kleinstädten und auf unbesiedeltem Areal angewandten Strategie und Taktik. Danach mußte sich auch die Auswahl der militärischen Kader richten. Wer vom Lande kam, eignete sich schwerlich für Aktionen in einer Großstadt, in der er sich nicht auskannte und deren spezifisches Fluidum er nicht wahrnahm. Das gleiche galt für den umgekehrten Fall. In den auf Operationen in Wäldern spezialisierten Formationen bewährten sich junge Leute vom Lande meist besser als ihre Altersgenossen aus der Großstadt. Die überwältigende Mehrheit der Partisanen rekrutierte sich aus der Landbevölkerung. Die empfindlichsten Schäden erlitten die Okkupanten durch Massensabotage, Diversion und Partisanenaktionen. Besonders effektiv agierten kleine Abteilungen, die aus etwa 15 Ibis maximal 50 Mann bestanden. Vor Beginn mußten das Angriffsobjekt und das Terrain sehr genau erkundet werden, worauf eine sorgfältige Vorbereitung folgte. Eine Voraussetzung für das Gelingen waren strikte Geheimhaltung und überraschendes Vorgehen. In der Regel wurde die Aktion immer nur von einem Teil der Gruppe ausgeführt, während die übrigen die unmittelbaren Akteure absicherten. Wichtig war es ferner, sich geschickt an den Ort heranzupirschen, um nicht bemerkt zu werden und nicht zur vorzeitigen Aufnahme des Kampfes gezwungen zu sein. Der Schlag mußte treffsicher und, besonders in der Stadt, schnell erfolgen. Nach beendetem Unternehmen - und auch das mußte zuvor geplant werden - hatte sich die Gruppe schnell zu entfernen oder zu zerstreuen, um einen Kampf gegen feindliche Verfolger zu vermeiden. Das Terrain, auf dem man sich dann erneut sammelte, war im voraus zu bestimmen. Während des Ablaufs der Aktion und danach ergriff man oftmals Maßnahmen, mit deren Hilfe der Gegner in die Irre geführt wurde. So benützte man deutsche Uniformen und amtliche deutsche Schriftstücke, führte Ablenkungsmanöver durch, verwendete Kampfmittel, die möglichst wenig Lärm ver-
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ursachten, veröffentlichte in der Konspirationspresse falsche Informationen usw. Eine oft angewendete Kampfmethode bestand darin, Menschen- oder Autokolonnen und Eisenbahntransporten aufzulauern. Ein gut vorbereiteter und durchgeführter Hinterhalt führte meistens zu einem Erfolg für die Partisanen. Dabei erbeutete man Waffen, Uniformen und Dokumente und fügte dem Gegner Verluste am Menschenmaterial zu. Eine zahlenmäßig starke Partisanenkonzentration von 100 oder gar von ein paar tausend Mann war nur dann sinnvoll, wenn eine Operation starke Einsatzkräfte verlangte, die sich danach entweder schnell zu zerstreuen oder sich einer regulären Armee, z. B. 1944/45 nach Passieren der Frontlinie der Sowjetarmee anzuschließen hatten. Oberstes Gesetz speziell für umfangreichere Partisanenabteilungen, die sich (u. a. durch Luftaufklärung) leicht ausmachen, angreifen und aufreiben ließen, war das Gebot, einen Kampf aus eigenem Antrieb zu beginnen und sich diesen Kampf nicht vom Gegner aufzwingen zu lassen. Im Fall eines erzwungenen Kampfes und einer Einkreisung unternahm eine starke Abteilung in der Regel den Versuch, an verschiedenen Stellen aus dem Kessel auszubrechen und sich dann zu verteilen und den Kampf in kleineren Gruppen fortzusetzen, z. B. in der Schlacht in den Wäldern bei Lipsk und Janów 1944. Elementare Voraussetzungen für einen Erfolg der Partisanen waren Manövrierfähigkeit und Beweglichkeit, und zwar unter weitestgehender Ausnutzung der Gegebenheiten des Geländes (Wälder, Moraste, Sümpfe, Anhöhen u. dgl.) sowie eine zweckmäßige Tarnung. Ein Faktor von erstrangiger Bedeutung war es, die gegnerische Taktik, die Stärken und Schwachstellen sowie die Feindbewegungen zu recherchieren. Wollten die Partisanen erfolgreich vorgehen, so mußten in den Abteilungen Disziplin, Opferbereitschaft, Pflichtgefühl, Kameradschaft und wechselseitige Solidarität herrschen, vor allem mußten sie ein Gespür für die Absichten des Gegners haben. Im Verlauf der Kämpfe sammelten die Gruppen kollektive und individuelle Erfahrungen. Obwohl die Ausbildung keineswegs vernachlässigt wurde, war das Niveau, auf dem man sich innerhalb der einzelnen Abteilungen auf den Kampf vorbereitete, unterschiedlich. Die Partisanen der Volksgarde und der Volksarmee maßen der Agitation unter der Bevölkerung große Bedeutung bei. Jede Verletzung der geltenden Pflichten des Partisanenkampfes, z. B. nachlassende Wachsamkeit, die den Okkupanten überraschende Schläge ermöglichte, zu schnelles Auseinandergehen oder zu langer Aufenthalt an ein und derselben Stelle, führte zu Verlusten an Menschen und Material und beschwor manchmal sogar die Liquidierung ganzer Abteilungen herauf. Außerordentlich wichtig war die Position, die der Kommandeur in einer Abteilung einnahm. Von seiner physischen und psychischen Kondition, seiner Intelligenz, seiner Erfahrung, seiner Fähigkeit zu selbständigem Handeln, seiner Charakterstärke und seinem Vermögen, Krisen zu überstehen, hing nicht selten das Schicksal der gesamten Einheit ab. Oft war er auf sich selbst gestellt. Zeitweise ergaben sich Situationen, die kaum zu überblicken waren, so daß seine Findigkeit und seine persönliche Initiative den Ausschlag gaben. Außer der Fähigkeit, den Gegner wirksam zu bekämpfen, mußte es der Führer einer Partisaneneinheit auch verstehen, seine Autorität bei der eigenen Mannschaft zu
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wahren, die Abteilung zusammenzuhalten und zu festigen und einer etwaigen Demoralisierung seiner Soldaten vorzubeugen. Einerseits mußte er hohe Anforderungen stellen und Strenge, ja Rücksichtslosigkeit walten lassen, andererseits aber auch wieder den Kameraden gegenüber Verständnis zeigen und sich um ihre persönlichen Nöte kümmern. Zu den fähigsten polnischen Anführern bewaffneter Untergrundkommandos (Partisanen- und Diversionsgruppen) gehörten u. a. Adam Boryna (Pflug); Stanislaw Broniewski (Orsza); Henryk Dobrzanski (Hubal); Tadeusz Grochala (der Weiße); Emil Fildorf (Nil); Grzegorz Korczynski (Grzegorz); Aleksander Kowalski (Olek); Zbigniew Lewandowski (die Schiene); Tadeusz L^cki (Orkan); Antoni Palen (Habicht); Jan Piwnik (der Finstere); Henryk Pawlowniak (Zygmunt); Jan Straszewski (Wiktor); Stanislaw Szybisty (Stefan); der Priester Jan Wryczy; Tadeusz Zawadzki (Zoska). Die Widerstandsbewegung einschließlich ihrer bewaffneten Formationen ist nicht nur mit militärischen Kategorien zu messen, sondern in Verbindung mit gesellschaftlichen, politischen und psychologischen Aspekten zu bewerten. Sowohl die zivile als auch die bewaffnete Widerstandsbewegung ist ohne breite Unterstützung seitens der Bevölkerung gar nicht denkbar. Der bewaffnete Widerstand, den Polen vor allem in Form des Partisanenkampfes leistete, war insbesondere deshalb so erfolgreich, weil er nicht nur Kontinuität aufwies, sondern auch an Intensität und Umfang zunahm. Den Faschisten gelang es nicht, Polens bewaffneten Widerstand einzudämmen oder gar zu ersticken. Die militärische Widerstandsbewegung während des zweiten Weltkrieges wurzelte in der Tradition der polnischen Befreiungskämpfe des 19. und 20. Jh. und knüpfte in vieler Beziehung bewußt an diese Überlieferung an, wobei die polnische Militärtheorie zahlreiche Anregungen lieferte. Schon in seiner 1800 erschienenen Schrift „Können sich die Polen ihre Unabhängigkeit erkämpfen?" entwickelte Tadeusz Kosciuszko die Idee des sog. Kleinkrieges, unter dem er intensiven Partisanenkampf verstand, der dem Feind überall zu schaffen macht, den Verkehr desorganisiert und Zerstörungen anrichtet. Kosciuszko riet dazu, den Feind ruhig ins Land zu lassen, dann jedoch „dafür Sorge zutragen, daß er nicht wieder hinauskommt". Die Voraussetzung für einen Sieg liege in der Verbindung des bewaffneten Kampfes mit gesellschaftlichen Zielsetzungen, damit so die Volksmassen für den aktiven Kampf gewonnen werden könnten. Henryk Kamienski (1812-1865) schrieb in seiner Studie „Über die Lebensrechte der polnischen Nation" über den Kleinkrieg: „Er wird aus unzähligen kleinen Scharmützeln bestehen, deren Erfolg davon abhängen wird, wie geschickt sie ausgefochten werden. So wird die erste Etappe des Volkskrieges um die Unabhängigkeitkeit Polens aussehen, eines Krieges, der erst dann sein Ende gefunden haben wird, wenn Polen so weit vom Feind befreit ist, daß man eine systematische militärische Bewaffnung wird in die Wege leiten können . . . Es ist ganz unwahrscheinlich, daß sich Feinde bezwingen ließen, ohne daß man die Kräfte des Aufstandes zusammenschließt und ohne daß ein Heer gegen das andere gestellt wird."103 103 Wypisy irdlowe do historü polskiej sztuki wojennej (Quellenauszüge zur Geschichte der polnischen Kriegskunst), H. 13, Warszawa 1959, S. 284 f.
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In seiner Monographie „Der P a r t i s a n e n k a m p f " stellt Karol Bogumil Stolzman an einen Partisanen folgende Ansprüche: „Ein Mensch, dessen Liebe zu seinem Heimatland nicht zu erschüttern ist, der Besonnenheit u n d ein maßvolles Wesen an den Tag legt, d e r dem Müßiggang und dem Rasten den Kampf ansagt, der unermüdlich, rührig, behend, umsichtig u n d seinem militärischen Vorgesetzten ergeben ist und ihm gehorcht, der gegenüber dem Feind keinen P a r d o n kennt, bescheiden in seinen Ansprüchen ist, seine Bedürfnisse auf das absolut Notwendige beschränkt u n d gewissenhaft seine Pflicht erfüllt - ein mit solchen f ü r einen Partisanen notwendigen Eigenschaften ausgestatteter Mensch d ü r f t e einen vorbildlichen nationalen Partisanen abgeben." Ein vorbildlicher P a r t i s a n e n f ü h r e r habe durch seine Umsicht u n d seinen Scharfblick d e n Mangel an militärischer Ausbildung und Disziplin in seinen zahlenmäßig nicht gerade starken Einheiten wettzumachen. 1 0 4 Ludwik Mieroslawski (1814-1879) betonte: „Ein von Freischärlern g e f ü h r t e r Krieg gehört zu den treffsichersten Waffen in d e r Hand einer klugen Regierung und eines begabten Heerführers." Allerdings könne d e r K o m m a n d e u r diese Rolle n u r Hand in Hand mit Operationen regulärer Truppen spielen. 105 Eine ähnliche Ansicht vertrat Wojciech Chrzanowski (1793-1861). F ü r die Taktik des Partisanenkampfes gibt er folgende E m p f e h l u n g : „Ist die gegnerische Abteilung zahlenmäßig stark, so m u ß m a n sich darauf beschränken, dem Feind ständig zuzusetzen, weil größere Kontingente von Aufständischen einen G e f a h r e n h e r d bilden können, da sie nichts auszurichten vermögen und Partisanen sich niemals auf erbitterte Schlachten einlassen sollten . . . Der überraschende . . . Angriff und der Hinterhalt sind die f ü r Partisanen einzig möglichen Kampfarten." 1 0 6 Die zitierten Auffassungen sind n u r Beispiele, die nicht so sehr den E r f a h r u n g s schatz der polnischen Militärwissenschaft auf dem Gebiet des Guerillakrieges und des bewaffneten Aufstandes dokumentieren, als vielmehr aufzeigen, daß viele der im 19. J h . aufgestellten Thesen f ü r die bewaffnete polnische Widerstandsbewegung w ä h r e n d des zweiten Weltkrieges eine wertvolle Anleitung zum Handeln darstellten. Nicht ohne G r u n d studierten die Okkupanten W e r k e d e r polnischen Militärtheoretiker (u. a. die Arbeiten von Ludwik Mieroslawski). Grzegorz Korczynski, der während des zweiten Weltkrieges selbst Partisanenf ü h r e r w a r , spricht von vier f ü r die Partisanenbewegung charakteristischen F a k toren, die m a n wohl d a r ü b e r hinaus auf den gesamten Widerstand beziehen kann. Diese Faktoren sind 1. das Potential der Bewegung sowie i h r e zahlenmäßige S t ä r k e u n d Aktivität; 2. das Volumen des gegnerischen Potentials, das direkt u n d indirekt durch die B e k ä m p f u n g der Widerstandsbewegung gebunden wird; 3. die Größenordnung der Verluste, die durch die Widerstandsbewegung verursacht w i r d ; 4. die strategische Bedeutung des Areals, auf dem die Widerstandsbewegung operiert. 107 Die g e n a u e Zahl derer, die am polnischen Widerstand beteiligt waren, läßt sich 104
Ebenda, S. 317 f. Ebenda, S. 351. 106 Ebenda, S. 366 f.
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107
Ludzie, fakty, refleksje, S. 44.
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nur schwer angeben. Mitunter spricht man von einer Million, doch scheint diese Zahl zu hoch gegriffen zu sein. Fest steht, daß die gefechtsmäßig kämpfenden Abteilungen eine geringere Stärke besaßen. Sie wirkten jedoch mit - statistisch erfaßten - stationären Gruppen und einzelnen Personen zusammen, die die Widerstandsbewegung auch mit der Waffe in der Hand unterstützten. Die Volksarmee bestand schätzungsweise aus 55 000-60 000 Mann, die Bauernbataillone aus ungefähr 150 000, und die Landesarmee (AK) umfaßte 250 000 bis 350 000 Mann. Die heftigsten militärischen Auseinandersetzungen der Widerstandsbewegung mit den Okkupanten bildeten die Kämpfe im Raum Zamosc 1942/43; der Aufstand im Warschauer Ghetto im April 1943; die Partisanenschlachten in den Wäldern bei Lipsk und Janöw im Juni 1944, nördlich von Krakau im Juli/August 1944 und im Raum Kielce im September 1944. Die Bedeutung der polnischen Widerstandsbewegung geht nicht zuletzt aus der Konzentration eines umfangreichen deutschen Kräftepotentials auf polnischem Boden hervor, das im Oktober 1939 700 000 und im November 1940 bis 900 000 Mann Militär und Polizei betrug. Im Februar 1942 umfaßte es nahezu 600 000, im November 1943 rd. 950 000 und April 1944 rd. 1 150 000 Mann.108 Die Resultate der vielfältigen Aktionen der Widerstandsbewegung bestanden u. a. in der Lahmlegung des Verkehrswesens und in der materiellen oder personellen Schädigung der Okkupanten. Die Gegenwehr gegen Maßnahmen der Besatzungsmacht zielte auf die Beschränkung und Eindämmung der Massenvertreibung bzw. -ausrottung des polnischen Volkes sowie die Ausnutzung des ökonomischen Potentials Polens, insbesondere der Landwirtschaft, wozu auch Aktionen sowohl gegen Landgüter und andere Objekte der Agrarindustrie als auch gegen die Ablieferung von Getreide-, Fleisch- und Milchkontingenten durch die Bauern u. ä. beitrugen, und schlössen die Vereitelung vom Umsiedlungsplänen ein. Der polnische Geheimdienst deckte 1941 die gegen die UdSSR gerichteten deutschen Kriegsvorbereitungen auf und trug außerdem entscheidend zur Vernichtung der in Peenemünde gelegenen Produktionsstätten der V 1 und V 2 bei, wodurch die Kampfhandlungen im Westen zugunsten der Alliierten b.eeinflußt wurden. Die Widerstandsbewegung führte in der Zeit ihrer stärksten Aktivität (August 1942 bis Juli 1944)109 u. a. Anschläge durch auf 1 522 Fermeldeeinrichtungen, 1 508 Eisenbahntransporte, 135 Straßenbrücken, 2 445 Einheiten der deutschen Wehrmacht, 2 076 Polizeieinheiten, 85 Gefängnisse und Gefangenentransporte, 3 203 Gemeindeämter, Postämter und Bürgermeistereien, 1 638 andere behördliche Einrichtungen, 224 Banken und Kreditanstalten, 318 Produktionsbetriebe und Reparaturwerkstätten, die für militärische Zwecke arbeiteten, 3 960 Landgüter, Mühlen und Schnapsbrennereien, 2 084 Betriebe der Agrar- und Nahrungsmittelverarbeitungsindustrie, 2 267 andere landwirtschaftliche Objekte, 1176 Sägemühlen, Hegerhäuser, Förstereien und Waldbrandmeldestellen. tos F ü r diese Angaben ist der Vf. Major Kazimierz RadziwoAczyk zu Dank verpflichtet. IOI vgl. Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka, T. 1 S. 70.
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Die Landesarmee führte von Januar 1941 bis Juni 1944 nach eigenen Angaben folgende Sabotage- und Diversionsakte durch110: Beschädigte Lokomotiven in Reparatur befindliche zurückgehaltene Lokomotiven zum Entgleisen gebrachte Bahntransporte in Brand gesetzte Transporte beschädigte Eisenbahnwaggons Unterbrechung des Stromnetzes im Knotenpunktbereich Warschau beschädigte oder völlig demolierte Militärfahrzeuge gesprengte Eisenbahnbrücken beschädigte Flugzeuge zerstörte Tankwagen außerdem vernichtetes Benzin (in t) zugenagelte Erdölbohrlöcher in Brand gesetzte Holzwolle (in Waggons) in Brand gesetzte Militärmagazine in Brand gesetzte Lebensmittellager der Wehrmacht zeitweilige Stillegung der Produktion in Fabriken Herstellung fehlerhafter Teile für Flugzeugmotoren fehlerhaft gefertigte Geschützrohre fehlerhaft gefertigte Artilleriegeschosse fehlerhaft gebaute Funkstationen für den Luftverkehr fehlerhaft hergestellte Kondensatoren fehlerhaft hergestellte Werkzeugmaschinen Beschädigung wichtiger Maschinen in Fabriken diverse Sabotageakte ausgeführte Attentate auf Okkupanten im Jahre 1943 liquidierte Gestapoagenten im 1. Halbjahr 1944 liquidierte Gestapoagenten
6 930 803 732 443 19 058 638 4 326 38 28 1 167 4 674 3 150 122 8 7 4 710 203 92 000 107 57 000 1 700 2 872 25 145 5 733 1 246 769
Nach deutschen Angaben fanden im Lubliner Raum von Januar 1942 bis April 1943 folgende bewaffnete Aktionen statt: 1942: Januar: 96; Februar: 61; März: 120; April: 300; Mai: 780; Juni: 1140; Juli: 1 400; August: 1 400; September 1 600; Oktober, November und Dezember: je 1 700; 1943: Januar: 1 296; Februar: 1 600; März: 2 306; April: 2 320.111 Je deutlicher sich die Befreiung Polens abzeichnete, desto mehr verschärften sich die Gegensätze innerhalb der polnischen Widerstandsbewegung. In den Mittelpunkt rückte nunmehr die Frage des Kampfes um die Macht in Polen. Krieg und Okkupation begünstigten die Radikalisierung der in der Öffentlichkeit herrschenden Stimmung. Es entstanden Voraussetzungen für eine Revolution, und Hoffnung auf ein neues, besseres Leben keimte auf. Treffend hat der polnische 110 111
Vgl. Polskie sily zbrojne, T. 3, S. 473, 482. Vgl. Okupacja i ruch oporu w dzienniku Hansa Franka, T. 2, S. 122.
Die antifaschistische Widerstandsbewegung
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Soziologe Jan Strzelecki diesen Prozeß umrissen: „Durch den totalen Krieg und den totalen Terror wurden überkommene gesellschaftliche Strukturen getilgt; eine neue Generation reifte in der Atmosphäre gemeinsamen Kampfes, Hungers und gemeinsamer Hoffnung heran. Der Gegner, mit dem man es zu tun hatte, bewirkte, daß der Kampf um die Befreiung der Nation zugleich ein Kampf um die Bewahrung und die Entwicklung der besten Traditionen der Gattung Mensch war. Dadurch wurde eine Lage geschaffen, in der hier an der Weichsel auf die Tage einer endgültig überwundenen Vergangenheit eine Zukunft ganz neuer Qualität folgen konnte. Sozialistische Bestrebungen wurden gleichzeitig zu einer moralischen Substanz und zur Organisationsformel f ü r die Bemühungen um den Wiederaufbau einer kollektiven Existenz. Diese Bestrebungen bildeten das Anliegen von Menschen, deren Weg durch das Inferno führte. Es ist dies ein durch die Erfahrungen jener Jahre gereifter Sozialismus, dem nicht irgendein hochfliegendes Modell geschichtsphilosophischer Verheißungen zugrunde liegt, sondern der sich - mit bescheidenen Hoffnungen auf das gute Werk einer souveränen Macht ausgestattet - auf den gemeinsamen Willen und den Dialog von Menschen stützt, die die Jahre des Martyriums überlebt haben."112 (übersetzt von Siegward Wulf, Berlin) 112
Strzelecki,
Proby swiadectwa, S. 81 f.
Jan Görski
Die Wohnungspolitik während des Wiederaufbaus Warschaus 1944 bis 1949
Die dramatische Zuspitzung der Wohnungssituation in Warschau ergab sich, unabhängig von den Zerstörungen 1 , daraus, daß der Zuzug Massencharakter angenommen hatte und die Bedeutung Warschaus als Hauptstadt und Wirtschaftszentrum gewachsen war. Die neue Wohnungsbaupolitik, die diese Tatsachen zu berücksichtigen trachtete und die bisher maßgebenden ökonomischen Faktoren durch ein breit ausgebautes öffentlich-rechtliches Lenkungssystem ersetzt hatte, rief die Unzufriedenheit der einen hervor, ohne die Ansprüche der anderen befriedigen zu können. Der vom Staate, unterschiedlichen Genossenschaften und Privatpersonen durchgeführten Renovierung der Wohnungen lagen verschiedene Kriterien zugrunde, deren Rechtsgrundlage unklar und instabil war. Der Zuwachs stand in keinem Verhältnis zu den Erfordernissen, wobei als Wohnräume häufig provisorische Unterkünfte galten. 2 Zu Beginn des Jahres 1948 stellte die „Rzeczpospolita" (Die Republik) in einer Analyse der Wohnungsverhältnisse fest, daß der Wiederaufbau mit dem Einwohnerzustrom nicht Schritt halten könne. Die Überwindung der Krise war ihrer Ansicht nach entweder durch die Intensivierung des Wohnungsbaus oder durch eine Beschränkung des Zuzugs zu erreichen. 3 Erhob man zum Kriterium die für die Politik Volkspolens allgemein zutreffenden Prämissen, so konnte es anfangs erscheinen, daß die Wohnraumbewirtschaftung einen öffentlich-rechtlichen Charakter annehmen werde und der Staat durch seine Ingerenz in die Wohnungsraumangelegenheiten einen Ausgleich der sozialen Unterschiede anstreben werde. Die Praxis sah ein wenig anders aus. Der Oberbürgermeister von Warschau, Stanislaw Tolwinski, sagte am 17. Ja1
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Eine größere Zusammenhänge berücksichtigende Erörterung der damaligen Wohnungspolitik und Wohnungslage findet der Leser in der Arbeit von Cegielski, J., Stosunki mieszkaniowe w Warszawie 1864-1964 (Die Wohnungsverhältnisse in Warschau 1864-1964), Warszawa 1968, S. »33 «. Vgl. Statystyczne zestawienie roczne m. st. Warszawy za 1948 rok, Wydziat Statystyczny Zarz^du Miejskiego m. st. Warszawy (Statistische Jahreszusammenstellung der Hauptstadt Warschau für 1948), Warszawa, Juni 1949, S. 21. Wyscig mieszkan i ludzi. Kiedy poprawiq warunki mieszkaniowe w stolicy (Wettrennen Wohnungen und Menschen. Wann werden sich die Wohnverhältnisse in der Haupstadt verbessern?), in: Rzeczpospolita, 26.1.1948.
27 J a h r b u c h 23
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Jan Görski
nuar 1947: „Die größte Anzahl von Wohnungen wurde in den Häusern hergerichtet, die Institutionen und Ämter für deren Mitarbeiter zugeteilt wurden"; er hob dabei hervor, daß Kredite „vor allem zentralen Ämtern und Institutionen, d. h. für den Aufbau des Zentrums von Warschau zugeteilt Wurden".4 Im September 1944 erließ das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung ein Dekret über die Bildung von Wohnungskommissionen, Ende 1945 wurde ein Dekret über die Wohnraumbewirtschaftung veröffentlicht. Danach hatte „nur derjenige das Recht, eine eigene Wohnung bzw. einen Gewerberaum ganz oder teilweise zu beziehen, der eine Zuweisung des Wohnungsamtes" besaß.5 Das Prinzip der Zuweisung wurde jedoch nicht konsequent durchgeführt, es gab Ausnahmen. So stand in Häusern, die dem Staate, der Stadt, sozialen Institutionen und Wohnungsgenossenschaften gehörten, den Eigentümern das Recht zu, den Mieter zu bestimmen. Aus dieser Vorschrift ergab sich, daß die Wohnungsämter in diesem Falle keine Zuweisung ausstellen durften, ohne vorher den Eigentümer aufgefordert zu haben, einen Mieter zu bestimmen. Auch Räume, die erst auf Grund einer gründlichen Renovierung des beschädigten Gebäudes benutzbar 'wurden, unterlagen nicht den in den Vorschriften über die Wohnraumbewirtschaftung festgelegten Beschränkungen der Miethöhe.6 Das Wohnungsamt der Stadtverwaltung nahm seine Tätigkeit in der „Prager" Periode auf. Es wies aus der Frontzone ausgesiedelten Personen Ersatzräume zu und beteiligte sich an der Sicherung leerstehender Lokalitäten. Der Wirkungskreis dieses Amtes erweiterte sich gewaltig nach der Befreiung der westlich der Weichsel gelegenen Stadtteile. In einem Arbeitsprogramm, das wahrscheinlich vom April 1945 stammt, lesen wir u. a.: „Die Hauptaufgabe des Wohnungsamtes der Stadtverwaltung im Jahre 1945 besteht darin, den vorhandenen Wohnraum in Warschau so zu verteilen, daß die Verwirklichung der zwei wichtigsten Ziele im Wohnungswesen ermöglicht und erleichtert werde: der Wiederaufbau Warschaus und die Schaffung von Voraussetzungen, daß die Stadt ihre Funktion als Hauptstadt erfülle." 7 Das Wohnungsressort beabsichtigte, seine Aufgabe durch eine Wohnungs- und Versorgungspolitik, die die Entfernung der 4
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Przemöwienia sprawozdawcze prezydenta Stanislawa Tolwinskiego w latach 1946-50 (Rechenschaftsberichte des Oberbürgermeisters Stanislaw Tolwinski in den Jahren 1946-1950), in: Studia Warszawskie, 11, Warszawa 1972, 2, S. 172 f. Dekret Polskiego Komitetu Wyzwolenia Narodowego z dnia 7 wrzesnia 1944 r. o komisjach mieszkaniowych (Dekret des polnischen Komitees der Nationalen Befreiung vom 7. 9.1944 über die Wohnungskommissionen), Dziennik Ustaw, Nr. 4, 1945, Position 18. Ungeachtet dessen wurden in Warschau längere Zeit hindurch keine Kommissionen berufen. Am 21.9.1945 veröffentlichte „Zycie Warszawy" einen Artikel, der den Titel trug „Minql rok od wydania Dekretu a komisji mieszkaniowych nie ma" (Ein Jahr ist seit der Herausgabe des Dekrets vergangen, ohne daß Wohnungskommissionen gebildet wurden); vgl. auch Dekret z dnia 21 grudnia 1945 r. o publicznej gospodarce lokalami i kontroli najmu (Dekret vom 21.12.1945 über die Bewirtschaftung des Wohnraums und die Kontrolle der Mieten), Dziennik Ustaw, Nr. 4, 1946, Position 27. Publiczna gospodarka lokalami w stolicy (Die öffentlich-rechtliche Wohnraumbewirtschaftung in der Hauptstadt), in: Rzeczpospolita, 20. 9.1946. Skröt programu dzialalnosci Resortu Mieszkaniowego Zarzqdu na rok 1945 (Kurz-
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„überflüssigen Bevölkerung" erleichtert hätte, und durch eine rationelle und zielgerichtete Ausnutzung des Vorhandenen zu lösen, worunter man vor allem die Beschaffung von Wohnraum für die am Wiederaufbau Beteiligten und für die Mitarbeiter des Staatsapparates und der Stadtverwaltung verstand. Tatsächlich gehörte zu den ersten Schritten des Wohnungsamtes die Sicherung der unzerstörten Häuser in der Grenzzone zwischen Stadtmitte und Mokotdw für die Erfordernisse der Zentralbehörden. Das Argument, es sei angesichts der Wohnungsnot notwendig, die „überflüssige" Bevölkerung auszusiedeln, wurde in einigen Verlautbarungen der Stadtverwaltung und in der Presse, vor allem im ersten Halbjahr 1945, wiederholt.8 Die Tätigkeit des Wohnungsamtes wurde von Beginn an heftig und von verschiedenen Seiten kritisiert. In einem Briefe an die Zeitung „2ycie Warszawy" (Warschauer Leben) vom 4. Juni 1945 hob Rudolf Lessei die Willkür im Vorgehen des Wohnungsamtes hervor. Gegenüber der Wohnungspolitik nahmen die damalige Presse und der Nationalrat eine ausgesprochen kritische Haltung ein. „Zycie Warszawy" forderte am 5. Oktober 1945 in dem Artikel „Wohnungen nur für Arbeitende" den Erlaß eines Dekrets über die Säuberung der Stadt von Spekulanten und Arbeitsunwilligen. „Die Hälfte der Einjwohner Warschaus spekuliert, lebt vom Handel oder vom Diebstahl verlassenen Gutes. Für diese Menschen gibt es in Warschau keinen Platz", schrieb der „Dziennik Ludowy" (Volkstageblatt) am 13. September 1945. Weiterhin wies die Zeitung auf die Unordnung hin, die zur Folge hatte, daß zuweilen für dasselbe Quartier mehrere Einweisungen ausgestellt wurden. Der „Kurier Codzienny" (Täglicher Kurier), schrieb zum selben Thema in dem Artikel „Eine skandalöse Exmission" vom 20. Oktober über das mit dem Recht im Widerspruch stehende Vorgehen des Wohnungsamtes zugunsten von Institutionen und Ämtern. „Werktätige, die Einweisungen des Wohnungsamtes besitzen, werden zufweilen auf Grund einer neuen Einweisung aus der Wohnung herausgeworfen. Dies führt zur Untergrabung der Rechtsordnung." Es fehlte auch nicht an übertriebenen Verdächtigungen, daß Korruption sich breitmache. Am 3. August schrieb St. M. in der „Rzeczpospolita": „Vor zwei Wochen erklärte der Sekretär des Zentralkomitees der Gewerkschaften Wlodzimierz Sokorski in einem Artikel, daß die Wohnungsämter nach wie vor durch und durch korrumpierte Institutionen seien - jedoch kein Wohnungsamt in ganz Polen, kein Leiter eines solchen Wohnungsamtes verklagte den Bürger Sokorski wegen Verleumdung. Solch eine Klage zu erheben ist schwierig, da es ein öffentliches Geheimnis ist, daß man in Warschau, Wenn man entsprechend bezahlt, eine Wohnung mit der gewünschten Zimmerzahl erhalten kann und dazu eine entsprechend vordatierte Einweisung des Wohnungsamtes." Auch wenn man eine derartige Feststellung als übertrieben ansieht, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß rechtliche und organisatorische Unklarheiten die Korruption be-
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programm der Tätigkeit des Wohnungsressorts der Stadtverwaltung für das Jahr 1945), Schreibmaschinenabschrift, Sammlungen von Jerzy Cegielski. Vgl. z. B. Warszawie grozi przeludnienie (Warschau ist von einer Uberbevölkerung bedroht), in: Zycie Warszawy, 21. 7.1945.
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günstigten. Der Oberbürgermeister, der die Prinzipien verteidigte, von denen sich das Wohnungsamt leiten ließ, räumte ein, daß „sich auf diesem Gebiet das Fehlen entsprechender Rechtsnormen am stärksten fühlbar gemacht hat. Erst das Gesetz über die öffentlich-rechtliche Wohnraumbewirtschaftung wird es ermöglichen, allmählich dieser Frage Herr zu werden und die Zuweisung des Wohnraums zu rationalisieren." 9 Dem Wohnungsamt waren undankbare Aufgaben übertragen, die den Anlaß für heftige Kritik' lieferten. Die Tatsache, daß es bei einem unaufhaltsamen Bevölkerungszustrom die Erfordernisse der Hauptstadt und die Wiederherstellung der hauptstädtischen Funktionen rigoros zu beachten hatte, erschwerte die Situation ungemein. Der Chef des Wohnungsressorts, Jerzy Michalowski, stellte in aller Offenheit fest: „Der hauptstädtische Charakter Warschaus zwingt uns vor allem den Grundsatz auf, den zentralen Behörden des Staates und der Hauptstadt die Tätigkeit zu ermöglichen. Büroräume und Wohnungen f ü r Behördenmitarbeiter zur Verfügung zu stellen, ist eine dringende Notwendigkeit, vor der alle erworbenen Privilegien zurückzutreten haben." 10 Angesichts dieser Sachlage wandte sich die öffentliche Kritik, in der unterschiedliche Schichten und Gesellschaftskreise zu Worte kamen, sowohl gegen die Privatinitiative als auch gegen aufgeblähte Ämter, die Räume beanspruchten. 1946 Wurde auf Initiative der Gewerkschaften und auf Anregung der Polnischen Arbeiterpartei eine Sonderkommission f ü r das Wohnungswesen gebildet, deren Leiter Artur Starewicz war. Sie erhielt die Aufgabe, „die gegenwärtige Wohnraumlage genau zu untersuchen, den Schmarotzern den Wohnraum wegzunehmen und diesen den Werktätigen anzuweisen". 11 Zwischen der Sonderkommission und dem Wohnungsamt kam es jedoch zu keiner Abgrenzung der Kompetenzen, was das Durcheinander weiter steigerte. Eine Bilanz der kritischen Äußerungen zu diesem Thema ziehend, schrieb die „Rzeczpospolita" am 19. Oktober 1946 über die Kommission: „Es kam gelegentlich vor, daß ihre Mitglieder drohten, schimpften und sofort exmittieren wollten." Weiter wurde ausgeführt: „Man darf nicht erwarten, daß die Tätigkeit der Sonderkommission f ü r das Wohnungswesen zu einer gänzlichen Sanierung der Wohnverhältnisse und zu einer Beseitigung des Wohnraummangels führen könne. Diese Aufgabe kann kein Amt erfüllen, auch wenn es mit unbegrenzten Vollmachten ausgestattet wäre." In dieser Situation beeilten sich die Behörden, das Wirken der Sonderkommission f ü r das Wohnungswesen einzuschränken. Mehrere Gründe gaben den Ausschlag. Gegen die Sonderkommission wandte sich nicht n u r die Polnische Volkspartei, sondern auch die Polnische Sozialistische Partei. In der Periode vor der Wahl wollte auch die Polnische Arbeiterpartei den Konflikt mit der Privatinitiative nicht zuspitzen. Es ging jedoch auch um wichtigere Sachen. In dem damals vor9
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Przemöwienia sprawozdawcze prezydenta Stanislawa Tolwinskiego w latach 1945-1950, S. 172 f. Koniecznoic Planowej gospodarki mieszkaniowej. Pismo Szefa Resortu Mieszkaniowego Zarzqdu Miejskiego Jerzego Michalowskiego (Die Notwendigkeit eines Plans für die Bewirtschaftung des Wohnraums. Schreiben des Chefs des Wohnungsressorts der Stadtverwaltung Jerzy Hichalawski), in: Zycie Warszawy, 10.6.1945. Rzeczpospolita, 27. 8.1946.
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bereiteten Dreijahrplan für den Wiederaufbau war privaten Handwerkern und Unternehmern beim Wiederaufbau der Häuser eine breite Beteiligung zugedacht. Während des ganzen hier behandelten Zeitraums wurde auch mit unterschiedlicher Intensität die Häufung der Ämter in Warschau kritisiert. Im Dezember 1945 stellte der Vorsitzende der Wohnungskommission des Nationalrates der Hauptstadt, Rechtsanwalt Tadeusz Gut, fest: „Während eines relativ kurzen Zeitraums wurde Polen die Hauptstadt wiedergegeben. Die Kosten trug die Stadt, die Kredite wurden für die Instandsetzung der Staatsgebäude verwandt." Fast das gleiche schrieb ein Jahr später Dipl.-Ing. Tadeusz Filipczak.12 Die Hypertrophie der Ämter hatte natürlich zur Folge, daß auch den Wohnungsbedürfnissen der Beamten Prioritäten zuerkannt wurden. Bereits am 18. Oktober 1945 wandte sich der Oberbürgermeister Stanislaw Tolwinski, wie das „2ycie Warszawy" informierte, gegen die „Partisanenwirtschaft" der Ämter und Ministerien. Zu dieser Angelegenheit kehrte man auch in späteren Jahren zurück. Bei der Erörterung des Budgetentwurfs (oder zutreffender des Investitionsplans) Warschaus für das Jahr 1948 schrieb die „Rzeczpospolita": „Beachtenswert erscheint, daß für den Wohnungsbau eine verhältnismäßig geringe Summe vorgesehen ist. Beläuft sich ihre Höhe doch nur auf 3 Milliarden 255 Millionen Zloty, also nur wenig mehr als ein Sechstel aller Investitionskosten. Man muß hinzufügen, daß von diesem Betrage 2 Milliarden 400 Millionen Zloty ausschließlich für den Wohnungsbau der Banken und Ministerien bestimmt sein sollen... Der .ministerielle' Wohnungsbau wird nur in einem gringen Maße den Warschauer Wohnungsmarkt entlasten." Abschließend hob der Verfasser hervor, daß „man auf diese Weise von vornherein festlege, daß Warschau vor allem eine Beamtenstadt sein wird".13 Neben der Zuweisung von Wohnungen oblag den städtischen Behörden die Pflicht, die verlassenen Immobilien zu verwalten, deren Besitzer umgekommen oder verschollen waren. Das war ein beachtlicher Prozentsatz der unzerstörten Gebäude. Leider waren der ungeklärte Rechtstitel dieser Verwaltung und die Einfrierung der Mieten (hier traten erst Mitte 1948 gewisse Veränderungen ein) Ursache dafür, daß die Häuser sehr schlecht verwaltet wurden. Ende 1948 schrieb die Presse, „daß kein Instandsetzungsplan vorhanden sei"; am schlimmsten wäre jedoch, „daß die Mitarbeiter der Abteilung für Immobilienverwaltung gegenüber den Klagen der Mieter vollkommen gleichgültig sind".14 Am 26. März 1949 wies dieselbe Zeitung auf die dingende Notwendigkeit der 12
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Jak rozwiqzac zagadnienie mieszkaniowe w Warszawie (Wie soll das Wohnungsproblem in Warschau gelöst werden?), ebenda 12.12.1945; Filipczak, T., Urz^dy majq juz pomieszczenie (Die Behörden haben bereits Amtsräume), in: Stolica, Nr. 8, 22.-29. 12.1946. Plan odbudowy mieszkan nie jest dostateczny (Der Wohnungswiederaufbauplan ist unzureichend), in: Rzeczpospolita, 19.12.1947. To nie WAN ani ZAN, tylko wady strukturalne (Das ist weder der WAN noch der ZAN, das sind Strukturfehler), ebenda, 8.12.19418.
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Reparatur und gründlichen Überholung der Gebäude hin, die der Verwaltung der städischen Immobilien unterstanden. Die Wertminderung der Wohnhäuser erreichte ein derartiges Ausmaß, daß noch 1949 die Behörden einschreiten mußten. Zur Finanzierung gründlicher Instandsetzungsarbeiten wurde der Wohnungswirtschaftsfond gegründet. 15 Infolge des riesigen Ausmaßes der Zerstörungen und der Notwendigkeit, die begrenzten staatlichen Mittel im Transportwesen und in der Industrie zu investieren, erhielt der Wohnungsbau nur einen bescheidenen, angesichts der in Warschau bestehenden Erfordernisse unzureichenden Anteil bei der Verteilung der Staatsmittel. Die Situation in der Hauptstadt war schlechter als in den nichtzerstörten Städten, wo das Dekret über die öffentlich-rechtliche Wohnungsverwaltung die Möglichkeit schuf, die Wohnbedingungen der benachteiligten Bevölkerung fortlaufend zu verbessern, und in den wiedergewonnenen Gebieten, in denen die Städte die Ansiedler aufsogen, wenn sie ihnen Wohnungen zur Verfügung stellen konnten, die in der Regel besser waren als in ihren früheren Wohnorten. „Die Hoffnungen, daß mit Hilfe von Staatskrediten der Wohnungsbau Massencharakter annehmen werde", schätzte man Mitte 1946 ein, „erfüllten sich nicht. Der Staat hat dringendere Aufgaben zu lösen, wie die Entwicklung der Industrie, des Transportwesens und der Häfen; daher muß die Wohnraumkrise, obwohl wichtig und keineswegs unterschätzt, in der Hierarchie der zu bewältigenden Aufgaben zurücktreten." 16 So lagen der Wohnungspolitik dieses Zeitraumes einige Konzeptionen zugrunde, denen erst die Konfrontation mit der Praxis bevorstand und die, wenn auch nicht immer übereinstimmend, irgendwie vereint, zur Verbesserung der Wohnungssituation beitragen sollten. Einen Aspekt dieser Politik stellte die Heranziehung des Privatkapitals dar. Das Verbot, die Mietpreise zu erhöhen, und die Tatsache, daß der Hausbesitzer nicht mehr über die Wohnungen verfügen konnte, unterhöhlten stärker als das Dekret, das den Boden in Gemeindeeigentum überführte 17 , das Recht der Hausbesitzer sozusagen von innen und machten aus ihm einen Rechtstitel ohne reale Vorrechte. Die Vertreter der neuen Staatsmacht, die den Typ des alten Eigentümers von Mietshäusern ausschalteten, waren jedoch den Besitzern kleiner Kapitalien nicht feindlich gesonnen, die eine Wohnung zur eigenen Benutzung instand setzen wollten, selbst wenn sie nach der Wiederherstellung das Nutzungsrecht dieser Wohnung einem Dritten abtraten. Das 15
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Zakrzewski, St., Walka z dekapitalizacj^ czynszowych domöw mieszkalnych (Der Kampf gegen die Wertminderung der Mietshäuser), in: Przegl^d Budowlany, 1949, 3, S. 65 ff. Zagadnienia mieszkaniowe (Wohnungsprobleme), in: Skarpa warszawska, Nr. 22, 9. 6.1946. Ich nehme hier Bezug auf die Dekrete vom 26.10.1945: Dekret o wlasnosci i uzytkowaniu gruntöw na obszarze m. st. Warszawy (Dekret über das Bodeneigentum und die Bodennutzung in der Hauptstadt Warschau), Dziennik Ustaw, Nr. 50, Position 279 - das sog. Dekret über die Kommunialisierung; Dekret o prawie zabudowy (Dekret über das Baurecht), ebenda, Position 280; Dekret o rozbiörce i naprawie budynköw zniszczonych i uszkodzonydi wskutek wojny (Dekret über den Abriß und die Reparatur von durch Kriegseinwirkungen zerstörten und beschädigten
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sogenannte Dekret über die Ausbesserung der Wohnungen, das in jenen Jahren die Konstitution des Privatkapitals genannt wurde, und verschiedene Zusagen sollten garantieren, daß die wieder instand gesetzten Wohnungen nicht der Bewirtschaftung unterliegen würden. Zu diesem Dekret erschien im April 1947 eine Novelle, die der Privatinitiative einen Anreiz geben sollte: „Die neuen Bestimmungen sehen vor, daß Wohnungen, die dank gründlichen Reparaturen benutzbar wurden, nicht den Vorschriften über die Einweisung zusätzlicher Mieter unterliegen werden. Betroffen davon sind Wohnungen, die höchstens aus vier Räumen bestehen und deren Nutzungsfläche 90 m2 nicht übersteigt." 18 Das Privatkapital sollte auch durch die Gewährung von Krediten durch die Landeswirtschaftsbank ermuntert werden. In einem späteren Zeitraum, im Juli 1947, wurde zur weiteren Stimulierung ein Gesetz erlassen, das sozusagen dem Privatkapital Amnestie erteilte, wenn es sich in Bauinvestitionen realisierte.19 Dieses Heranziehen des Privatkapitals verfolgte, wenn man von einer Analyse der politischen Faktoren (worunter ich das Modell der sogenannten Dreisektorenwirtschaft verstehe) absieht, das Ziel, der erschreckenden Wertminderung entgegenzuwirken und den Wohnungsbau zu beleben, für den der Staat nur bescheidene Investionsmittel zuweisen konnte. Am 21. Oktober 1946 behandelte eine Konferenz beim Ministerpräsidenten Edward Osöbka-Morajwski die Beteiligung privater Unternehmer und Handwerker beim Wiederaufbau der Stadt. Dipl.-Ing. Czeslaw Klarner hob dort hervor: „Um die Wohnungssituation zu verbessern, muß man an der Bautätigkeit das private Kapital beteiligen, das gegenwärtig in den ihm gewohnten, traditionellen Formen kein Betätigungsfeld findet und daher in den illegalen Handel drängt und sich dort nicht vereinzelt zum Schaden der Staatsinteressen betätigt." 20 Das Exekutivkomitee des Nationalrats des Warschauer Bezirks empfahl am 17. Februar 1947 das Projekt Klarners über den Wiederaufbau der Wohnhäuser mit der Begründung, „daß man, weil der Wiederaufbau der zerstörten Wohnhäuser in den polnischen Städten gegenwärtig die realen Möglichkeiten des Staates übersteigt, nach geeigneten Finanzquellen suchen muß, um dieses brennende Problem in den Griff zu bekommen und dem höchst nachteiligen Einfluß der gegenwärtigen Wohnungslage auf den physischen und moralischen Zustand der Stadtbevölkerung zu begegnen". Dem erwähnten Projekt lag die Konzeption zugrunde, das Privatkapital zu aktivieren und die gemeinsame Haftung aller städtischen Immobilienbesitzer für die Kriegsschäden mit der Wiederherstellung der Rentabilität der Mietshäuser als eine Einheit zu betrachten: „Als Grundbedingung für den auf den angeführten Voraussetzungen beruhenden Wiederaufbau sieht das Projekt die Wiederherstellung der Rentabilität der Miets18
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Nawet czteroizbowe, wyremontowane mieszkania nie podlegajq zagqszczeniu Häusern), ebenda, Position 281. (Selbst eine ausgebesserte Vierraumwohnung ist von Einweisungen befreit), in: Rzeczpospolita, 19.4.1947. Vgl. den erwähnten Nachtrag zum Dekret über den Abriß und die Reparatur von Gebäuden. Der Nachtrag ist vom 11. 4.1947 datiert. Ustawa o popieraniu budownictwa (Gesetz über die Förderung des Bauwesens), Dziennik Ustaw, Nr, 52, Position 220. Rzeczpospolita, 22., 23., 24. 10.1946.
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häuser an, damit sie befähigt werden, zugunsten der zerstörten Objekte Leistungen aufzubringen. Bei der gegenwärtigen Lage der Dinge, in d e r die Mieten die Vorkriegshöhe nicht überschreiten dürfen, w e r d e n die Mietshäuser f ü r ihre Besitzer zur Last, werden nicht repariert und verfallen i m m e r mehr. Allein durch die Wiederherstellung der Rentabilität der Mietshäuser w i r d m a n von ihnen Leistungen zugunsten der zerstörten Häuser erlangen können." 2 1 Auf die Notwendigkeit einer nüchternen wirtschaftlichen Kalkulation w u r d e in einer Studiensammlung, die 1947 in der Landeswirtschaftsbank entstand, hingewiesen. U. a. w u r d e n darin die Nachkriegsprobleme des Wohnungsbaus, die Quellen f ü r die Finanzierung des Bauwesens in Polen, die Bedeutung der Genossenschaften und privater Besitzer beim Wohnungsbau, der Einfluß der wiedergewonnenen Gebiete auf die Wohnungssituation in Polen und schließlich die Abhängigkeit der Pläne des Bauwesens von der Baustoffindustrie erörtert. 2 2 Viel w u r d e Ende 1946 über die Ursachen der Zurückhaltung des privaten Kapitals gesprochen, als m a n nach neuen Wegen suchte, zu aktivieren. Aus den Forschungen des Verfassers geht hervor, d a ß sich dieser Umstand nicht n u r aus dem Ringen u m Einfluß und aus der Rivalität mit der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe) erklären läßt, deren Organ, die „Gazeta Ludowa" (Volkszeitung) im Sommer 1946 eine breite Restitution des Privatbesitzes beim Wiederaufbau der Stadt propagierte. 2 3 In dem Artikel „Warum beteiligt sich das Privatkapital in einem so geringen Ausmaß am Wiederaufbau Warschaus" w u r d e hervorgehoben, daß ein Gesamtregulierungsplan nicht vorhanden sei, w a s eine große Unsicherheit entstehen lasse u n d nicht zufällig eine riesige Menge weitläufiger bürokratischer Formalitäten hervorufe. 2 4 Ungeachtet der zahlreichen und sich h ä u f e n d e n Hindernisse ist dennoch die Beteiligung des Privatkapitals bis zu dem Zeitpunkt nicht zu unterschätzen, da im Zusammenhang mit der allgemeinen Veränderung der Politik die Befugnisse der privaten Besitzer aufgehoben und die gegebenen Zusagen annulliert wurden. Aber auch in dem Zeitraum, in dem eine breite Beteiligung des Privat21
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Klarner, Cz., Projekt dotyczqcy odbudowy domöw mieszkalnych w miastach Polski (Projekt über den Wiederaufbau von Wohnhäusern in den Städten Polens), und Zalqcznik do projektu inz. C. Klarnera odbudowy domöw mieszkalnych w kraju (Anhang zu dem Projekt des Dipl.-Ing. C. Klarer über den Wiederaufbau von Wohnhäusern in Polen). Das Projekt wurde vom Exekutivkomitee des Nationalrats des Warschauer Bezirks auf der Sitzung am 27. 2.1947 angenommen (Wojewodzkie Archiwum Paristwowe, Nr. 158/76). Archiwum PAN, Nachlaß Stanislaw Tolwinski, Mappe Nr. 69, Budowniectwo i odbudowa mieszkari. Studia i materialy (Der Bau und Wiederaufbau von Wohnungen. Studien und Materialien), Warszawa 1947, S. 129, Hektograph. Ausgabe der Landeswirtschaftl. Bank. Die „Gazeta Ludowa" veröffentlichte seit dem 10. 8.1946 eine Wohnungsumfrage. Insgesamt wurden 50 Stellungnahmen veröffentlicht. Vgl. Görski, J., Dyskusje o odbudowie Warszawy w latach 1945-46 (Diskussionen über den Wiederaufbau Warschaus in den Jahren 1945-46), in: Studia Warszawskie, 5, Warszawa 1970, 1, S. 75 ff. Rzeczpospolita, 24.10.1946.
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kapitals angestrebt wurde, sah man den Hauptweg zur Verbesserung der Wohnungslage im Genossenschaftswesen. Im Mai 1946 fand in Warschau eine Delegiertentagung der Wohnungsbaugenossenschaften statt. Hier wurden auch die Hindernisse erörtert, denen sie sich gegenübersahen. Sie wiesen auf Schwierigkeiten hin, von den Behörden entsprechende Entscheidungen zu erlangen. Hervorgehoben wurden auch die nachteiligen Folgen der ungeklärten Rechtslage. Die Resolution der Tagung lautete: „Alle für das Bauwesen bestimmten öffentlichen Mittel sollten ausschließlich dem Genossenschaftsbauwesen zufließen, denn die Finanzierung des privaten Bauwesens wird keinesfalls die Wohnungsnotlage mildern können. Die Wohnungsbaugenossenschaften müssen einer unbeschränkten Anzahl von Mitgliedern offenstehen. Man sollte die am dringensten benötigten Genossenschaftswohnungen bauen, die Zuweisung der Wohnungen sollte nach der Reihenfolge des Beitritts erfolgen und von den Wohnungsbewerbern selbst kontrolliert werden, die wirtschaftlichen Belange von den Selbstverwaltungsgremien der Bewohner geregelt werden." 2 5 Die Genossenschaften der verschiedensten Typen hatten einen wesentlichen Anteil am Wiederaufbau der Hauptstadt. Als erste nahm die Warschauer Wohnungsgenossenschaft ihre Tätigkeit auf, die sich auf das eigene soziale Bauunternehmen stützen konnte. Durch enge, persönliche Beziehungen mit der Führung des neuen Polens verbunden, schien sie auf Grund ihrer Tätigkeit in der Vorkriegszeit und in der Illegalität dafür prädestiniert zu sein, beim Wiederaufbau oder, wie zutreffender zu sagen wäre, beim Bau der neuen Stadt eine führende Rolle zu spielen. „Die Warschauer Wohnungsgenossenschaft strebt an, die Wohnungsbewirtschaftung in Warschau in ihre Hände zu nehmen", erklärte ihr Präsident Marian Nowicki.26 Die Warschauer Wohnungsgenossenschaft erreichte beim Wiederaufbau der eigenen Siedlungen in Zoliborz, in Bielany und in Rako'wiec, später beim Bau neuer Siedlungen in Kolo und Mokotöw beachtliche Resultate. Im September 1948 verwaltete sie vier Siedlungen, in denen es 3 460 Wohnungen mit 6 575 Räumen gab (vor dem Kriege 1 742 Wohnungen mit 3 247 Räumen). Die Genossenschaft trug auch zur Propagierung der Selbstverwaltungsprinzipien und der Vergesellschaftung sowie zum Erwecken kultureller Bedürfpisse bei.27 Auf diese Aspekte machten Szymon und Helena Syrkus aufmerksam in ihrer Skizze „Der Anteil des Wohnungsgenossenschaftswesens an der Verwirklichung des ersten Nationalen wirtschaftlichen Dreijahresplans", die aus heutiger Sicht über die Kontinuität und den Wandel in den Vorstellungen über das genossenschaftliche Zusammenleben reflektiert.28 1947 schrieb Szymon Syrkus: „Die Wohngegenden der Stadt stellen keine Summe der einzelnen Häuser oder einzelner Häusergruppen dar; sie setzen 25
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Vgl. Spöldzielczosö mieszkaniowa öbraduje (Das Wohnungsgenossenschaftswesen berät), in: Skarpa, Nr. 19, 1946. Nowicki, M., Uspolecznienie gospodarki mieszkaniowej (Die Vergesellschaftung der Wohnungsbewirtschaftung), ebenda, Nr. 13. 1946. Ders., WSW (Die Warschauer Wohnungsgenossenschaft), in: Stolica, Nr. 39, 1948. Syrkus, H., Ku idei osiedla spolecznego (Zur Verwirklichung der Idee einer sozialen Siedlung), Warszawa 1976, S. 391 ff.
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sich aus Siedlungen zusammen, die ein Grundelement, also eine unteilbare Einheit bilden." „Die Wohngegenden des zukünftigen Warschaus, in denen 1 200 000 Einwohner leben sollen, muß man sich als ein Ensemble von 200 Grundeinheiten, die den Siedlungen der Warschauer Wohnungsgenossenschaft in Zolibörz ähnlich sein werden, vorstellen."29 Neben diesen prophetischen Sätzen wirkt die Aussage von Marian Nowicki wie ein Kontrapunkt: „Die Warschauer Wohnungsgenossenschaft erschwerte sich das Leben dadurch, daß sie sich kategorisch weigerte, sozusagen als Treuhänder Verträge abzuschließen, auf Grund derer in den Siedlungen Häuser gebaut worden wären, die als ,Ghettos' für Mitarbeiter einzelner Ämter und Institutionen reserviert sein würden." 30 Die Warschauer Wohnungsgenossenschaft, deren Mitglieder über relativ bescheidene Einnahmen verfügten, sollte als Genossenschaft f ü r Werktätige ein realistisches Modell abgeben. Es war dies jedolch nicht die einzige Form der Wohnungsgenossenschaft. Neben Eigentumsgenossenschaften, die sich damals um ihre erneute Konstituierung bemühten, gewannen die Verwaltungswohnungsgenossenschaften eine gewisse Popularität. „Es gibt viele Menschen", schrieb Roman Piotrowski im Frühling 1947 im „Glos Ludu" (Volksstimme), „die über ein gewisses Kapital verfügen, das jedoch nicht ausreicht, um selbständig Arbeiten in Angriff zu nehmen. Derartige Personen sollten sich vereinen und organisieren, da sie als Mitglieder einer Genossenschaft leichter Kredite erhalten und ihr Kapital besser anlegen sowie ihre Rechte und Interessen besser verteidigen können." Auf Grund des Dekrets vom 26. Oktober 1945 über den Abriß und die Reparatur von zerstörten Gebäuden konnte der abwesende oder verschollene Besitzer von der Mietervereinigung ersetzt werden. Um den Wiederaufbau des Gebäudes in Angriff nehmen zu können, mußte diese Mietervereinigung sich in eine Verwaltungswohnungsgenossenschaft umwandeln und den Beweis erbringen, daß sie zumindest 50 Prozent der Ausgaben aus Staatsmitteln bestreiten könne. Trotz gesetzlicher Erleichterungen und der Entstehung einer beträchtlichen Anzahl von Verwaltungswohnungsgenossenschaften (bis zum Frühjahr 1947 wurden in Polen 70, davon in Warschau 51 gegründet), blieben sie recht uneffektiv. „Nur wenige erlangten Kredite f ü r die Ausbesserung eines herrenlosen Hauses. Worauf ist dies zurückzuführen? Darauf, daß weder die Landeswirtschaftsbank noch eine andere Kreditanstalt herrenlosen Häusern Kredite ohne hypothekarische Garantie zuerkennen." Währenddessen „verlangt die Hypothekenabteilung Beweise, daß das betreffende Gebäude der Genossenschaft zugewiesen wurde. Dazu fehlt es den Juristen an Vollmachten - da Ausführungsbestimmungen zu dem Dekret über verlassene und ehemals deutsche Besitzungen nicht erlassen wurden. Diese unglückselige Rechtslücke bedingt, daß alle bisherigen Zuweisungen von herrenlosen Gebäuden keine Rechtsgrundlage besitzen." Um die Tätigkeit der Verwaltungswohngenossenschaften effektiver zu gestalten und ihren Mitgliedern das garantierte Recht zu verleihen, ihre Ein-
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Syrkus, Sz., Warszawa przyszlosci (Das Warschau der Zukunft), in: 2ycie osiedli Warszawskiej Spöldzielni Mieszkaniowej, Nr. 2,1947. Nowicki, WSW.
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Zahlungen nicht im Lauf von zehn (wie ursprünglich beschlossen wurde), sondern von 20 Jahren abzuwohnen, „ist eine radikale Reform notwendig. Denken wir daran, daß der Staat und die städtische Selbstverwaltung, die bei der Erlangung von Unterkünften für sich selbst mit großen Schwierigkeiten zu ringen haben, den Wohnungsbau nicht voll entfalten werden, für das Privatkapital hingegen die Rentabilität von großer Bedeutun'g ist."31 Neben den Arbeiterwohnungsgenossenschaften und den Verwaltungswohngenossenschaften bildeten die Wohnbaugenossenschaften, die ihren Mitgliedern die Wohnungen übereigneten, eine dritte Kategorie. „Es sind dies Genossenschaften aus der Zeit vor dem Kriege", schrieb im April 1948 Antoni Gandecki. „Im Jahre 1945 wurde ein Teil der Häuser dieser Genossenschaften, die wenig zerstört waren, von verschiedenen Institutionen aus dringenden Anlässen besetzt. Bisher wurden diese Häuser den Genossenschaften nicht zurückgegeben. Dazu soll es erst nach der Errichtung neuer, angemessener Unterkünfte kommen. Die Mitglieder dieser Genossenschaften erleiden große Verluste, da sie in anderen Häusern wohnen müssen, was mit großen Ausgaben verbunden ist. Die übrigen Genossenschaften, deren Häuser als für den Wiederaufbau geeignet befunden wurden, bemühen sich indirekt, dies zu bewerkstelligen. Genossenschaften, die ihren Mitgliedern die Wohnungen übereignen, besitzen gegenwärtig in Warschau 18 115 Wohnräume."32 Bei der Aufzählung von Hindernissen, die die Entwicklung dieses Genossenschaftstyps erschwerten, wies der Verfasser darauf hin, daß „die Forderung, dem Wohnungsamt einen Teil der wiederaufgebauten Wohnungen zur Verfügung zu stellen, sich in der Praxis als undurchführbar erweist und in hohem Ausmaß den Wiederaufbau Warschaus erschwert". Über andere Schwierigkeiten der Eigentumsgenossenschaften schrieb Stanislaw Strumph-Wojtkiewicz, wobei er als Beispiel den „Phönix" in Zolibörz heranzog: „Man unterscheidet nicht zwischen Wohnbaugenossenschaften und dem Wohnungs,geschäft', man placierte ein Mitglied des ,Phönix' im Unterschied zu dem Mietshausbesitzer nicht deutlich auf der anderen Seite der sozialen Barrikade. Das Wohnungsamt, ja nicht nur das Wohnungsamt, sondern die Enteignungskommission beim Oberbürgermeister, nehmen nicht wahr, daß Schwierigkeiten, die den Wohnungsbaugenossenschaften bereitet werden, deren weitere Entwicklung nicht fördern." 33 Im Jahre 1948 wurde die Zentrale der Wohnungsbaugenossenschaften begründet, die alle Genossenschaftstypen vereinte. Sie sollte deren Entwicklung und Finanzgebaren kontrollieren. Noch Anfang 1949 wurde die Forderung erhoben, die
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[ W . R.], Spöldzielnie
administracyjno-mieszkaniowe
przed
probet zycia
(Die
Ver-
waltungswohnungsgenossensdiaften vor der Bewährungsprobe), in: Rzeczpospolita, 30. 4.1947. 32
Gandecki, A., Jak zdobyd mieszkanie spöldzielcze w W a r s z a w i e ( W i e erlangt man eine W o h n u n g in einer Warschauer Wohnungsgenossenschaft), in: Stolica, N r . 14/15, 1948.
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Strumph-Wojtkiewicz,
St.,
„Fenix"
powstal
z popiolöw...
stand aus der Asche . . . ) , in: Rzeczpospolita, 30. 6.1947.
(Der
„Phönix"
ent-
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Jon Görski
Zentrale solle die von der Stadt verwalteten Häuser übernehmen. 34 Die Praxis beschritt im Sechsjahrplan jedoch einen anderen Weg.® Währenddessen teilten staatliche und gesellschaftliche Institutionen, die sich in Warschau niederließen, Wohnungen ihren Mitarbeitern vor allem nach dem Kriterium zu, inwieweit der Betreffende von der jeweiligen Institution benötigt wurde. In Warschau waren diese vorwiegend zentrale, in der Provinz vorwiegend Wirtschaftsinstitutionen. „Die Verflechtung des Wohnungsbauplans mit den Bedürfnissen der sich entwickelnden Industrie wird am besten an der territorialen Verteilung der Investitionssummen sichtbar."36 Das Wohnungsproblem konnte auch noch aus einem anderen Grund nicht in erster Linie durch die Wohnungsgenossenschaften gelöst werden. Soweit sich Genossenschaften an einen Personenkreis mit bescheidensten Einnahmen - also an das schwächste, aber gleichzeitig wichtigste Kettenglied - wenden, propagieren sie systematisches Sparen und finanzielle Selbstbeteiligung. Die Mehrheit der Einwohner Warschaus war hingegen dermaßen pauperisiert, daß sie nicht Ergänzungskredite, sondern Subventionen erwartete. Es zeigte sich daher auch in diesem Falle, daß das Genossenschaftswesen eine Form ist, die einen sehr unterschiedlichen Inhalt enthalten kann. Adam Andrzejewski schrieb damals37, daß Wohnungsgenossenschaften die geeignete Form f ü r Personen seien, die über gewisse Mittel verfügen. Kritisch hob er hervor, daß ein echtes Genossenschaftswesen sich dort nicht entwickeln könne, wo fast alles auf nicht rückzahlbaren Krediten, also in Wirklichkeit auf staatlichen Subventionen beruhe. Er warnte vor Illusionen über die Wirkung der Privatinitiative; die dieser zur Verfügung gestellten Kredite würden die Lage der arbeitenden Massen nicht verbessern. Er zog auch einen Zustand in Zweifel, der als volle Vergesellschaftung des Bauwesens bezeichnet werden könnte. Im Laufe der Zeit wurde der genossenschaftliche Wohnungsbau zugunsten des Wohnungsbaus für Werktätige zurückgedrängt. Die Zuweisung dieser Wohnungen erfolgte auf zweifache Weise. Formal verfügte darüber die Stadtverwaltung (das Wohnungsamt), aber mit zahlreichen und gewichtigen Ausnahmen. Vor allem unterstanden die Bauvorhaben der einzelnen Ressorts und Institutionen nur nominell der Stadtverwaltung. Da die Ausweitung der Verwaltungsinstitutionen in dieser Zeit schneller verlief als die Entwicklung auf anderen Gebie34
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[J. P.], Rozwöj spoldzielczoici mieszkaniowej w nowydi formach organizacyjnych (Die Entwicklung des Wohnungsgenossenschaftswesens und die neuen Organisationsformen), ebenda, 21.1.1949. Vgl. Andrzejewski, A., Polityka mieszkaniowa w Polsce Ludowej (Die Wohnungspolitik in Volkspolen), Warszawa 1969; Gorynski, J., Polityka budowlana w Polsce Ludowej (Die Baupolitik in Volkspolen), Warszawa 1971; Cegielski, Stosunki mieszkaniowe w Warszawie w latach 1864i-1964. Brodzka, H., 50 tys. izb mieszkalnych dla Swiata pracy w roku 1948 (50 000 Wohnräume für die Werktätigen im Jahre 1948), in: Rzeczpospolita, 3.1.1949. Andrzejewski, A., Z zagadnien budownictwa mieszkaniowego (Zur Problematik des Wohnungsbaus), in: Skarpa warszawska, Nr. 10, 1946; ders., Polityka mieszkaniowa w okresie powojennym (Die Wohnungspolitik in der Nachkriegszeit), in: Dom, osiedle, mieszkanie, Nr. 1, 1946.
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ten, wurden bei der Zuteilung die Vertreter des zentralen Behördenapparats der Hauptstadt bevorzugt. Am Ende des behandelten Zeitraums traten Veränderungen auf, die für die neue Wiederaufbauetappe kennzeichnend waren. Im Jahre 1948 entstand der Betrieb für Arbeitersiedlungen - der zentrale Investträger und Ausführende der staatlichen Baupläne. In formaler Hinsicht machte seine Begründung private und genossenschaftliche Investitionen nicht unmöglich. Die Veränderung in der Organisation des Bauwesens brauchte keine Veränderung in der Finanzierung des Wohnungsbaus und in der Verteilung der Wohnungen zur Folge zu haben. Und doch führte StanisJaw Tolwinski am 17. Januar 1949 aus: „Der ins Leben gerufene Betrieb für Arbeitersiedlungen vereint allmählich sowohl die Planung der neuen Wohnsiedlungen als auch deren Bau und übernimmt die bisherige Verwaltung dieser Angelegenheiten von einzelnen staatlichen Ämtern, gesellschaftlichen Institutionen und vereinzelten Investträgern. Der Betrieb für Arbeitersiedlungen bringt auch Disziplin in das genossenschaftliche Bauwesen."38 Am Ende des Dreijahrplans kam es, wie Jerzy Cegielski schreibt, „zu einer Wende in der Politik, die bisher das private Bauwesen gefördert hatte; die Unterstützung wurde gestoppt, anschließend wurde sogar die früher zuerkannte Berechtigung keiner Einweisung des Wohnungsamtes zu unterliegen, annulliert".39 Dieser Wandel wurde damit begründet, daß das private Bauwesen die Wohnungsbedürfnisse der Arbeiterklasse nicht befriedige, weshalb man es auf ein Ausmaß beschränken müsse, das den Bedürfnissen des Bauenden genüge. Zudem handele es sich bei den Genossenschaften, deren Mitglieder nicht Eigentümer der Wohnungen seien, um eine Fiktion, da fast die gesamten Kosten der Investition von staatlichen Krediten bestritten werden.40 So kam am Ende des Dreijahrplans und zu Beginn des neuen Zeitraums der bisherige von vielen Investoren getragene Wohnungsbau faktisch zum Erliegen. Die Entstehung des Betriebes für Arbeitersiedlungen war Zeugnis dafür, daß der Staat sich nunmehr systematisch in organisierter und unmittelbarer Weise mit dem Bauwesen zu befassen begann. Der Wandel fiel (übrigens nicht zufällig) mit der Erschöpfung der Möglichkeiten des Wiederaufbaus und dem Ubergang zur Errichtung von Neubauten zusammen. Eine Beurteilung der Wohnungspolitik und der Wohnungslage in den ersten Nachkriegsjahren begegnet vielerlei Schwierigkeiten. Der empfindliche Wohnungsmangel gebar scharfe Konfliktsituationen. Die Art und Weise, wie man die Wohnungsfrage im Rahmen des Dreisektorenmodells lösen wollte, war durch Schwankungen, fehlende Konsequenz und rechtliche Unklarheit gekennzeichnet, 38
39 w
Przemöwienia sprawozdawcze prezydenta Stanislawa Tolwinskiego w latach 1946-1950, S. 200. Cegielski, Stosunki mieszkaniowe w Warszawie w latach 1864-1964, S. 356. Gorynski, J., Gospodarka komunalna i mieszkaniowa. Stenogram wykladu wygloszonego dnia 22 stycznia 1949 r. Na prawach r^kopisu. Szkola Partyjna przy KC PZPR. Maszynopis powielony (Kommunale Politik und Wohnungspolitik. Stenogramm eines am 22.1.1949 gehaltenen Vortrags. Als Manuskript vervielf. Maschinenabschrift, Parteischule beim ZK der PVAP). Bibliothek des Sejm C 1265, S. 4 ff.
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deren Beseitigung für die Stimulierung der Investitionen, die sich ja erst nach einem längeren Zeitraum bezahlt machen konnten, unerläßlich war. Es bestand keine Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Genossenschaftstypen; und auch die einzelnen Behörden besaßen keine einheitliche Auffassung. Während z. B. die Stadtverwaltung anfangs für eine planmäßige Umsiedlungsaktion eintrat, später die Notwendigkeit hervorhob, die Wohnungsfrage in ihren Händen zu konzentrieren, und manchmal soziale Lösungen praeter oder contra legem befürwortete, ohne ökonomische Überlegungen zu berücksichtigen, stand das Wiederaufbauministerium vor der Notwendigkeit, angesichts der beschränkten staatlichen Mittel für den Wiederaufbau der fortschreitenden Wertminderung der Häuser, in denen keine Reparaturen durchgeführt wurden, Einhalt zu gebieten. Deshalb sei es notwendig, das private Kapital zu ermuntern. Innerhalb dieses Koordinatensystems betrieben die einzelnen Ressorts und zentralen Institutionen ihre Wohnungspolitik. Sie trug Übergangscharakter. Sie war keine Fortsetzung der Vorkriegspolitik, die auf dem privaten Mietkontrakt begründet war und in der ökonomische Kategorien die Hauptrolle spielten, sondern beruhte auf der Wohnraumlenkung und einer weitgehenden Ingerenz der Behörden, die sich der Wohnungspolitik f ü r ihre sozialen, ökonomischen und politischen Ziele bedienten. 1948 begann eine neue Etappe im Warschauer Wohnungsbau, die sich in erster Linie auf die Tätigkeit des neu begründeten Betriebs für Arbeitersiedlungen stützte. Im Jahre 1949 gelangte diese Form der Bautätigkeit bereits zum Durchbruch; das war ein Beweis dafür, daß man sich von der Erbschaft des Krieges löste und die Voraussetzungen für den grundsätzlichen Wandel in den Methoden und in der Effektivität des Bauwesens in der Hauptstadt schuf. All dies war dadurch bedingt, daß sich das Reservoir an Gebäuden erschöpfte, die aus technischen, ökonomischen und städtebaulichen Gründen als für den Wiederaufbau geeignet erachtet wurden. Das machte den Ubergang vom Wiederaufbau zum Neubau notwendig.41 So kam es - unabhängig von allgemeineren Aspekten - auf dem Gebiete des Wohnungsbaus zu einer Klärung der Situation. Man muß sich daran erinnern, daß „in der ersten Nachkriegsphase, in den Jahren 1945/46, die Investitionen f ü r den Wohnungsbau nur einen minimalen Prozentsatz der allgemeinen staatlichen Investitionen ausmachten".42 In den Jahren 1948 und 1949 erhöhten sich diese Beiträge sehr beträchtlich. Das Anwachsen der Investitionen verband sich mit einer technischen und organisatorischen Entwicklung des Bauwesens und seiner Konzentration auf neue Siedlungen. Die Zahl der den Werktätigen übergebenen Wohnungen stieg an. Bei der Kennzeichnung der Wohnungslage ist darauf zu verweisen, daß die durchschnittliche Personenzahl, wie statistische Angaben belegen, pro Wohnraum im Vergleich zu 1939 nur wenig anwuchs. Betrug der Durchschnittskoeffizient damals für einen Raum 2,1 Personen, so veränderte er sich 1945 auf 2,2, 1946 auf 2,3 und 1947 auf 2,2.43 Es wurde sogar hervorgehoben, daß die Belegungsdichte 41 42 43
Cegielski, Stosunki mieszkaniowe w Warszawie w latach 1864-1964, S. 388. Brodzka, in: Rzeczpospolita, 3i 1.1949. Statystyczne zestawienie roczne m. st. Warszawy za rok 1948, S. 3, Tafel 5, Position 9.
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der kleinsten Wohnungen (ein- und zweiräumige), wenn auch in einem unerheblichen Ausmaß, geringer geworden sei, während sich die Belegungsdichte der größeren Wohnungen stark erhöht habe. Damit sollte wohl auf eine gewisse Demokratisierungstendenz hingewiesen werden, und so war es wohl auch; aber das Niveau war so schrecklich niedrig, daß die Demokratisierung auch mit der Pauperisierung gleichgesetzt werden konnte.44 Es kam übrigens vor, daß man die damaligen Berechnungen in Zweifel zog45, noch häufiger stellte man die Kennzeichnung der einzelnen Lokale als Wohnräume in Frage. Ungeachtet dessen, daß Praga unvergleichlich weniger zerstört war als die auf dem westlichen Flußufer gelegenen Stadtteile, hob Präsident Tolwiriski bereits im Herbst 1945 hervor, daß die Wohnverhältnisse dort am schlimmsten seien. „1938 besaß Warschau 605 460 Wohnräume, es entfielen etwa 2 Personen auf einen Raum. Gegenwärtig gibt es 171 845 Wohnräume, was einen Durchschnitt von 3 Personen auf einen Raum ergibt. Die Einwohnerdichte der Arbeiterviertel ist um ein vielfaches größer (5 Personen pro Raum). Diese Zahlen erhalten wir auf Grund von Erhebungen; in Praga, Targöwek und Pelcowizna gibt es jedoch Tausende Wohnräume, in denen 6 bis 8 Personen in antisanitären Verhältnissen leben."46 In dem Anfang Mai 1945 im Landesnationalrat gehaltenen Rechenschaftsbericht hob der Leiter des Wiederaufbaubüros der Hauptstadt Roman Piotrowski den prinzipiellen Unterschied im Zerstörungsgrad der Stadtteile westlich der Weichsel und in Praga hervor: Warschau Praga Gebäude, an denen Kleinreparaturen durchzuführen sind 59,3% 25,9% die einer Grundüberholung bedürfen 10,7% 18,2% die abgerissen werden müssen 55,8% 29,9% 99,9 44
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Ich vertrete diese Auffassung, obwohl mir bewußt ist, daß sie umstritten ist. Szymen war kein Einzelgänger, als er in dem Artikel „Warszawa przyszlosci" (Das Warschau der Zukunft) schrieb: „Die gegenwärtige Wohnungssituation ist sehr schwierig, in sozialer Hinsicht jedoch gesünder als vor dem Kriege. Die Bourgeoisie entscheidet nicht mehr über die Produktion, und nicht sie beherrscht den Wohnungsmarkt" (Zycie osiedli Warszawskiej Spöldzielni Mieszkaniowej, Nr. 2, 1947). In dem zit. Artikel von Pogonowska, Z., Trzyletni plan odbudowy (Der Dreijahrplan für den Wiederaufbau [Warschaus]), in: Stolica, Nr. 44, 1947, wird u.a. ausgeführt, daß „bestenfalls die 1946 theoretisch 2,4 Personen pro Wohnraum, in Wirklichkeit aber 3,2 Personen betragende Belegungsdichte bis Ende 1949 keine Verschlechterung erfahren wird". Mit dieser Auffassung, die sie für zu pessimistisch hielten, polemisierten Andrzejewski, A.I Olszewski, Eu., Jak mieszkamy dziä w Warszawie? (Wie wohnen wir heute in Warschau?), in: Gospodarka planowa, Nr. 1, 1948, S. 16. Jak rozwiqzac problem mieszkaniowy? Pi§d na izbq. Co dadzq remonty? (Wie ist
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„Die größten Zerstörungen", hieß es im Rechenschaftsbericht Piotrowskis, „sind im Stadtzentrum zu verzeichnen, wo 68,08% aller Häuser gänzlich zerstört sind und nur 15,33% der Zerstörung entgingen. An zweiter Stelle rangieren die westlichen Stadtteile: Die entsprechenden Zahlen betragen hier 65,76 und 16,86%. Es folgen die nördlichen Stadtteile, wo 44,79% der Häuser zerstört wurden und 36,92% der Zerstörung entgingen. Am besten blieben die südlichen Stadtteile erhalten, wo 37,29% der Häuser zerstört wurden und 41,03% der Zerstörung entgingen."47 Jerzy Cegielski charakterisierte 1947 die immense Qualitätsverschlechterung der Wohnverhältnisse: „Verschiedene Zufälle, die dazu führten, daß einzelne Räumlichkeiten in ausgebrannten oder zerstörten Häusern erhalten blieben, einzelne oder mehrere Löcher im Kellergeschoß, die jetzt als ,Wohnung' dienen, ein bewohnter Raum im ersten Geschoß eines Hauses, dessen Treppen zerstört sind, über ausgebrannten Geschossen einige besser erhalten gebliebene Räume festerer Bauart, die den Flammen widerstanden, ein auf einen bewohnten Raum hinweisendes Fenster, das aus einem formlosen Ziegelhaufen hervorschaut, Rauch, ein Lebenszeichen, der aus einem unzugänglichen Ruinenkomplex hervorquillt - dies alles vervollständigt den Uberblick über die Qualität der ,geretteten' Warschauer Wohnungen. Gestützt auf notwendigerweise recht unzulängliche Schätzungen, können wir im allgemeinen annehmen, daß die Zahl der Wohnräume, die diesen Namen nicht verdienen und liquidiert werden müßten, heute zwischen 10 000-20 000 beträgt - die Zahl der Wohnungen hingegen, in denen unerläßliche ökonomisch-sanitäre Einrichtungen angebracht und die gründlich überholt bzw. umgebaut werden müßten, um den menschlichen Vorstellungen von einer Wohnung zu entsprechen, weit mehr als 20 000 umfaßt." 48 In Beantwortung einer Umfrage der „Rzeczpospolita" beschrieb Jan Szczepanik, Dozent an einer Volkshochschule, die Lebensverhältnisse in einer gemeinsamen, unzerstörten Wohnung: „Ein Reihenhaus, vorschriftsmäßig belegt, d. h. 11 Räume, 35 Mieter, darunter acht Jugendliche im Alter von 2 bis 10 Jahren und ein vitaler Säugling." Weiterhin schreibt der Verfasser ironisch: „Die Lebensverhältnisse in unserem Hause tragen dadurch zur Arbeitsproduktivität bei, daß wir f ü r den Schlaf höchstens 5 bis 6 Stunden verlieren können. Die in China verbreitete Glockentortur ist ein Nichts verglichen mit diesem beständigen, differenzierten Lärm. So stirbt die Lebensfreude und die schöpferische Initiative - in einem nicht aufhörenden Getöse von 35 auf 950 Kubikmetern Lebensraum zusammengepreßten Personen." 48 In derselben Zeitung hieß es Anfang 1948: „Man
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das Wohnungsproblem zu lösen? Fünf Personen auf einen Wohnraum. Was kann man von der Instandsetzung erwarten?), in: 2ycie Warszawy, 18.10.1945. Krajowa Rada Narodowa. Sesja VII. Sprawozdanie stenograficzne z posiedzen w dniach 5 i 6 maja 1945 r. (Landesnationalrat. VII. Session. Stenographischer Bericht der Sitzungen am 5. und 6. 5.1945). Cegielski, J., Sytuacja mieszkaniowa i potrzeby mieszkaniowe w Warszawie (Die Wohnungssituation und die Wohnungsbedürfnisse in Warschau), in: Dom, osiedle, mieszkanie, Nr. 1-3,1947. Jak chcialbym mieszkac? Trzy odpowiedzi na krötkq ankietq (Wie möchte ich wohnen? Drei Antworten auf eine kurze Umfrage), in: Rzeczpospolita, 30.4.1947.
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kann in Warschau noch Tausende Personen finden, deren Wohnverhältnisse katastrophal sind, sie hausen in Kellern ausgebrannter Häuser, in den vor der Feuersbrunst bewahrten Hinterhäusern, die kein Dach, sondern nur eine Balkendecke besitzen, in Ruinen von Häusern, die teilweise durch Bomben und Geschosse zerstört wurden und f ü r die Einsturzgefahr besteht." 50 Wenngleich die Statistik eine langsame Verbesserung nachweist, blieb doch die Wohnungslage im gesamten hier geschilderten Zeitraum außerordentlich schwierig: „Wohnverhältnisse - das ist nicht nur die Zahl der Personen in einem Wohnraum, sondern auch die Eignung dieses Raumes zum Wohnen. Unter .Eignung' kann sehr viel verstanden werden, es scheint jedoch offensichtlich, daß eine unter dem Geröll ausgehobene ,Höhle', eine von diesem Geröll bedeckte feuchte Kellerwohnung und der verstaubte Dachboden eines nicht zerstörten Mietshauses nicht darunter fallen können." 51 Die Zahl der ungeeigneten Wohnungen, die bewohnt waren, kann auf 50 000-60 000 Räume geschätzt werden. 52 Das waren mehr als 25 Prozent der 232 000 Wohnräume, die im Dezember 1947 in Warschau ermittelt wurden. „6 800 Bürger bewohnen Häuser, die einstürzen können. Die gleiche Anzahl muß Räume in Häusern verlassen, die f ü r den Abriß vorgesehen sind. Fachleute nehmen an, daß sich die Zahl der Mieter, die von der Zwangsräumung bedroht sind, 1949 verdoppeln wird." 53 Diese Gruppen befanden sich in der schwierigsten Situation. Es gab aber auch Analysen, die Wechselbeziehungen zwischen der Wohnungslage und der sich herausbildenden gesellschaftlich-beruflichen Struktur aufzudecken suchten. So schrieb Irena Surmacja: „Die Veränderungen, die sich nach dem Kriege in Warschau vollzogen und in der Bevölkerungszählung von 1945 und 1946 festgehalten wurden, führen zu folgenden Ergebnissen: Der Prozentsatz der einräumigen Wohnungen blieb in den Grenzen von 1931 erhalten, der Prozentsatz der zweiräumigen Wohnungen stieg an, und zwar recht bedeutend durch die Aufteilung größerer Wohnungen; fast um eine Person pro Raum verringerte sich die Wohndichte in den einräumigen Wohnungen und in einem geringen Ausmaß in den zweiräumigen, in den größeren Wohnungen wuchs sie dagegen, und das erheblich, an. Heute ist ein Wohnraum im Durchschnitt von 2,25 Personen belegt, dies ist nicht viel mehr als im Jahre 1931. Die heutige Lage unterscheidet sich aber von der von 1931 vorteilhaft dadurch, daß infolge der Verringerung des Unterschiedes in der Belegungsdichte der Wohnungen die angeführten Durchschnittszahlen die wirkliche Wohnungslage in der Hauptstadt besser widerspiegeln. Die Wohnverhältnisse im Jahre 1931 waren das Ergebnis des freien Kräftespiels auf Grund der Zahlungsfähigkeit und der subjektiven Hierarchie der Bedürfnisse 50 51
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[Ker.,] I tak röwniez mieszkamy (Und so wohnen wir auch), ebenda, 29.1.1948. Czy lepiej mieszkamy? Statystyka i rzeczywistosc (Wohnen wir besser? Statistik und Wirklichkeit), ebenda, 29.1.1949. Stolica, Nr. 47, 7.12.1947. SOS mieszkancöw ruin. SkEid znalesö srodki na budownictwo mieszkan zast^pczych. Wywiad z dyrektorem departamentu Polityki Budolanej Ministerstwa Odbudowy, tow. Gorynskim (SOS der Ruinenbewohner. Wo soll man Mittel für den Bau von Ersatzwohnungen finden? Interview mit dem Direktor des Departements für Baupolitik im Wiederaufbauministerium, Gen. Gorynski), in: Glos Ludu, 11. 7.1948.
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der Warschauer Bevölkerung. Diese Faktoren wirken heute nicht mehr. Das Dekret über die öffentlich-rechtliche Bewirtschaftung des Wohnraums geht bei der Zu- und Verteilung der Wohnungen von der Zahl der Familienangehörigen aus. Das Privileg, einen zusätzlichen Raum zu besitzen, wird einem nur auf Grund des ausgeübten Berufs oder einer hohen Dienststellung in der Beamtenhierarchie zugesprochen. Die Miete macht einen so unerheblichen Betrag aus, daß sie auf die Größe der Wohnung keinen Einfluß ausübt." Die Verfasserin faßte die Lage der einzelnen Berufsgruppen kurz zusammen und hob die besondere Benachteiligung der freien Berufe hervor, zu denen sie die Ärzte, Rechtsanwälte und Professoren rechnete. „Diese Gesellschafts- und Berufsgruppe, die das Gehirn der Hauptstadt und des Staates bildet, verdient wegen ihrer Bedeutung, daß sich die Wohnungspolitik ihrer annimmt, denn ihrem eigenen Schicksal überlassen, wird sie sich den Bedingungen anpassen müssen, was für die Gesellschaft einen großen Verlust bedeuten würde." 54 Den umfassendsten Einblick in die Warschauer Wohnverhältnisse vermittelt eine Umfrage über die Wohnungslage der Werktätigen, die 1946 von der Polnischen Gesellschaft f ü r Wohnungsreform durchgeführt und 1948 wiederholt wurde. Die gewonnenen Ergebnisse analysierten Adam Andrzejewski und Jerzy Cegielski, auf deren Publikation wir unsere Ausführungen stützen. Die Umfrage wurde in vier Behörden bzw. Betrieben durchgeführt: Im Justizministerium, im Polnischen Roten Kreuz, im Elektrizitätswerk und in der Fabrik E. Wedel. Diese vier unterschiedlichen Institutionen boten einen repräsentativen Querschnitt einer beachtlichen Anzahl von Arbeitsstellen in Warschau. Beide Umfragen wurden von mehr als 900 Befragten beantwortet, so daß sich ein Bild von den Verhältnissen in 900 Wohnungen ergibt. Insgesamt wohnten in diesen Warschauer Wohnungen 1946 mehr als 1 200 Familien bzw. 4 411 Personen, im Jahre 1948 mehr als 1 000 Familien bzw. 3 703 Personen. Die erfaßten Personen stellten 1946 annähernd ein Prozent der Einwohnerzahl Warschaus, 1948 war ihr Anteil etwas geringer. Nur 1948 wurde festgehalten, daß von den erfaßten Personen 75 Prozent Arbeiter waren, der Rest gehörte anderen Berufsgruppen an. Es liegt jedoch kein Grund zu der Annahme vor, daß sich im Vergleich zu der vorhergegangenen Untersuchung die Proportionen entscheidend verändert hätten. In ihrer Analyse konstatierten die Verfasser eine beträchtliche Verschlechterung der Wohnverhältnisse gegenüber der Vorkriegszeit. Sie wiesen jedoch darauf hin, daß die statistischen Durchschnittszahlen nicht alle Veränderungen widerspiegelten, die auf Grund der neuen Wohnungspolitik eingetreten waren. Im Unterschied zu den häufig ungeduldigen Presseäußerungen beurteilten sie die Tätigkeit des Wohnungsamtes im Prinzip positiv: „Vor allem dank der Zwangsverwaltung der Wohnungen wurde das vor dem Kriege herrschende und die kapitalistische Gesellschaftsordnung zur Voraussetzung habende System der Befriedigung der Wohnungswünsche, eine Widerspiegelung dieses antagonistischen Systems insgesamt, beseitigt." 54
Surmacka, I., Publiczna gospodarka mieszkaniami a grupy spoleczno-zawodowe (Die öffentlich-rechtliche Wohnungsbewirtschaftung und die sozialen sowie beruflichen Gruppen), in: Opiekun spoleczny, Nr. 7 u. 8, 1947.
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„Der rasche Wiederaufbau der Stadt", fuhren die Verfasser fort, „mußte zur Verbesserung der Wohnverhältnisse beitragen. Die von der Stadtverwaltung 1947 für ganz Warschau durchgeführte Umfrage zeigte, daß verglichen mit dem Jahre 1946 der Durchschnittskoeffizient für die Wohnraumbelegung bereits ein wenig gefallen ist (1946 - 2,3; 1947 - 2,2 Personen in einem Raum). Die Umfrage der Polnischen Gesellschaft für Wohnungsreform bestätigte diese Entwicklung und erbrachte den Beweis, daß die Verbesserung der Wohnverhältnisse der Werktätigen zwischen 1946 und 1948 deutlich wahrnehmbar war, wenn sie auch nicht alle Gruppen gleichmäßig betraf. So fiel während dieser zwei Jahre bei den Beschäftigten der vier untersuchten Institutionen und Betriebe die Belegungsdichte der Wohnräume von 2,5 auf 2,3, womit sie sich dem gesamtstädtischen Durchschnitt annäherte. Der Prozentsatz der Bevölkerung, die in Wohnungen lebte, in denen auf einen Wohnraum mehr als drei Personen kamen, verringerte sich von 32,6% auf 24,4%. Entsprechend vergrößerte sich der Prozentsatz der Bevölkerung, die in Wohnungen lebte, in denen der einzelne Wohnraum mit weniger als 2 Personen belegt war (von 30,4% auf 38,3%) usw." Als negative Momente verzeichneten hingegen die Verfasser „die unterschiedlichen Wohnverhältnisse der im Justizministerium und im Polnischen Roten Kreuz Beschäftigten, in Institutionen also, in denen zahlenmäßig Beamte überwogen, und der Beschäftigten bei ,Wedel' und im Elektrizitätswerk". „Wenn das durch die Umfragen gewonnene Material nicht nach den Arbeitsstellen, sondern nach Berufsgruppen aufgegliedert worden wäre, würde der Unterschied in den Wohnverhältnissen noch deutlicher hervortreten. Dies beweist auch die Tatsache, daß 72% der Wohnungen von Angestellten und Beamten eine geringere Belegungsdichte als 2 Personen pro Wohnraum aufwiesen, während der entsprechende Prozentsatz bei Arbeitern 35% betrug." Beunruhigend sei es, daß die Disproportionen bei der Zuweisung von Wohnraum für Arbeiter und andere Berufsgruppen wuchsen. Die Verfasser nahmen an, daß diese Entwicklung bis zu einem bestimmten Grade von privatem Kapital, aber auch durch die offizielle Baupolitik beeinflußt sei. „Die Tatsache, daß das Schwergewicht auf die Ingangsetzung der hauptstädtischen Funktionen Warschaus gelegt wurde, trat im Wohnungsbau vor allem dadurch in Erscheinung, daß mit Wohnungen an erster Stelle in zentralen Behörden Beschäftigte versehen wurden, während Arbeitern erst in zweiter Linie Wohnraum zugewiesen wurden. Wohnungsbau und Zuweisung von Wohnungen waren darüber hinaus wenig koordiniert. Auf Grund dieser Tatsache bestand für einzelne Institutionen und Betriebe oder für einen Teil der darin Beschäftigten die Möglichkeit, besondere Wohnverhältnisse zu schaffen."55 (übersetzt von Dr. Heinz Lemke, Berlin) 55
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Andrzejewski, AJCegietski, J., Stosunki mieszkaniowe w Warszawie. Wyniki ankiet o sytuacji mieszkaniowej pracowniköw w latach 1946-1948 (Die Wohnungsverhältnisse in Warschau. Ergebnisse einer Umfrage über die Wohnverhältnisse der Werktätigen in den Jahren 1946-1948), Warszawa 1950, bes. S. 83 ff.
LITERATUR- UND FORSCHUNGSBERICHTE Jerzy
Maternicki
Forschungen zur Geschichtsschreibung und -methologie in Polen
Ein charakteristisches Merkmal der modernen Geschichtsschreibung ist das relativ starke Interesse der Historiker an der Vergangenheit der eigenen Disziplin sowie an ihren theoretischen und methodologischen Problemen, das in Polen vielleicht etwas stärker ausgeprägt ist als in anderen Ländern. Das ist eine relativ junge Erscheinung, obwohl sie gewisse Antezedenzien mit Sicherheit in den Traditionen der polnischen Humanistik hat. Jedoch erst in den letzten Jahrzehnten nahm dieses Interesse derartige Ausmaße an und gewann eine solche Bedeutung, daß man heute in Polen von einer Forcierung dieser Forschungsrichtungen und der Herausbildung von zwei neuen Zweigen der Geschichtswissenschaft sprechen kann: der Geschichte der Geschichtsschreibung und der Geschichtsmethodologie. Das ist ein Prozeß, der noch nicht völlig zum Abschluß gekommen ist, der im Falle der Geschichte der Geschichtsschreibung weiter, in bezug auf die theoretischen Reflexionen weniger fortgeschritten ist. Die Entwicklungsrichtung zeichnet sich jedoch deutlich ab, und die Effekte werden immer aussichtsreicher. Betrachten wir das Ganze etwas genauer unter Berücksichtigung der Hauptrichtungen der Forschung zur Geschichte der Geschichtsschreibung und -methodologie in Polen. 1. Geschichte der Geschichtsschreibung Dieses Gebiet hat in Volkspolen eine ernst zu nehmende Evolution von der traditionellen Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Errungenschaften, von sentimentalen Erinnerungen an die Meister, „Beiträgen zu Biographien" usw. zu fundamentalen Quellendiskussionen und Monographien durchgemacht, die grundlegende Aspekte der Entwicklung der Geschichtswissenschaft untersuchen: eine Evolution der methodologischen Grundlagen und der Problematik der Untersuchungen, eine Vervollkommnung des Instrumentariums, Veränderungen im Bereich der Bedingungen und der gesellschaftlichen Funktion der Geschichte.1 Die Geschichte der Geschichtsschreibung als gesonderter Zweig der Forschung 1
Vgl. Maternicki, J., Narodziny polskiej historii historiografli (1945-1956) (Geburtsstunde der polnischen Geschichte der Geschichtsschreibung), in: Przeglqd Humanistyczny, 22, 1978, 1, S. 1-18; ders., Rozwöj polskiej historii historiografli w ostatnim
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auf dem Gebiet der Geschichte hat sich in Volkspolen gestützt auf die Prinzipien der marxistischen Methodologie herausgebildet. Das wurde begleitet von einer organisatorischen Festigung des neuen Wissenschaftszweiges, die ihren Ausdruck in der Entstehung von Spezialinstituten beim Institut f ü r Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) im Jahre 1953 und an der Warschauer Universität (1957) fand. Die dynamische Entwicklung der Forschung auf diesem Gebiet war durch mehrere Faktoren bedingt. Zweifellos war einer der wichtigsten der Umbruch im gesellschaftspolitischen Leben des Landes, der sich manifestierte in der Entstehung Volkspolens und darin, daß dieses Land den sozialistischen Entwicklungsweg einschlug. Das neue Polen mußte eine gründliche Umwertung der historischen Traditionen vornehmen. Das erfordert u. a. die Abrechnung mit dem wissenschaftlichen Hinterland dieser Traditionen, also mit der früheren Geschichtsschreibung. Eine hervorragende Bedeutung hatte ebenfalls der Umbruch in der methodologischen Position der polnischen Historiker, der sich endgültig Ende der 40er Anfang der 50er Jahre vollzog. Die historiographischen Forschungen spielten dann auch eine wichtige Rolle im Kampf um die marxistische Position der polnischen Geschichtsschreibung. Die Geschichte der Geschichtsschreibung machte den Historikern bewußt, daß der Mythos vom reinen Objektivismus der bürgerlichen Wissenschaft falsch ist, überwand - wenigstens bei einem Teil der Wissenschaftler - die Abneigung gegenüber der Therorie, brachte die Tradition marxistischer Forschung in Polen (J. Marchlewski, E. Przybyszewski u. a.) in Erinnerung. In einem späteren Abschnitt, nach 1956, war die Entwicklung der polnischen Geschichtsmethodologie ein wesentlicher Faktor. Wir hatten es hier mit einer Art Rückkopplung zu tun: die Entwicklung der methodologischen Reflexionen verstärkte und vertiefte das Interesse an der historiographischen Problematik und umgekehrt: die Forschungen zur Geschichte der Geschichtsschreibung waren häufig Ausgangspunkt f ü r methodologische Untersuchungen. Nicht ohne Bedeutung war auch der Fortschritt der Forschungen auf dem Gebiet der Geschichte von Wissenschaft und Technik. Bei der Aufzählung der Faktoren, die die Entstehung und Entwicklung der polnischen Geschichte der Geschichtsschreibung bestimmten, können wir die Rolle jener schöpferischen Persönlichkeiten nicht außer acht lassen, die ihre wissenschaftlichen und didaktischen Pläne mit der neuen Disziplin verknüpften und deren Entwicklung über viele Jahre lenkten. An erster Stelle müssen hier solche Namen wie Marian Henryk Serejski (1897-1975) und Wanda Moszczenska (1896-1974) genannt werden. Diese Historiker steckten die Entwicklungsrichtung dieses Forschungsbereiches ab, schufen die dafür notwendigen organisatorischen Grundlagen und bildeten die ersten Fachleute aus. In der über 30jährigen Entwicklung der polnischen Geschichte der Geschichtsschreibung, die die Jahre 1944 bis 1977 umfaßt, kann man vier Etappen unterscheiden: 1944-1948, 1949-1956, 1957-1968, 1969-1977. Diese Zäsuren haben bedingten Charakter, sie weisen jedoch auf Umbruchsmomente in der Entwicklung dieser Disziplin hin.
Geschichtsschreibung und -méthodologie
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Etappe I (1944-1948) wird hauptsächlich charaterisiert durch Artikel über im letzten Krieg gestorbene, gemarterte und gefallene polnische Historiker, aber auch durch traditionelle Überblicke und summarische Zusammenstellungen der wissenschaftlichen Errungenschaften. Es gibt auch erste historiographische Abhandlungen, die von Fachleuten aus dem Bereich der politischen und der Kulturgeschichte, quasi als Abfallprodukt ihrer „eigentlichen" wissenschaftlichen Interessen, veröffentlicht werden. Was Polen damals auf dem Gebiet der Geschichte der Geschichtsschreibung aufzuweisen hatte, war jedoch gering und wich trotz eines gewissen Fortschritts nicht sehr von den traditionellen Auffassungen ab. Ein echter Umbruch trat erst in den Jahren 1948 bis 1956 ein. Damals wurden die methodologischen Grundlagen der Geschichte der Geschichtsschreibung formuliert und ihre Problematik umrissen. Als erster unterzog sich dem M. H. Serejski. Der Historiker aus Lodz widersetzte sich dem traditionellen Modell der historiographischen Forschung, das die Aufgaben der Geschichte der Geschichtsschreibung auf die Verfolgung gelehrter Forschungen reduzierte und an eine Biographie der großen Meister erinnert, er verlangte, daß das Hauptaugenmerk auf die „Dynamik des historischen Denkens", seine Bedingungen und gesellschaftlichen Funktionen zu legen sei.2 In weiteren Äußerungen zu diesem Thema wurde die Verbindung der Geschichtswissenschaft mit den Ideologien, den politischen Programmen und dem Klassenkampf immer stärker hervorgehoben. Das führte sogar zu einer gewissen Einengung der Aufgaben der Geschichte der Geschichtsschreibung, zur Verabsolutierung von ideologischen und politischen Momenten in ihr und zu einer nicht richtigen Einschätzung solcher Probleme wie der Vervollkommnung des wissenschaftlichen Instrumentariums, Entwicklung methodologischer Begriffe usw. Ab 1949 entwickelte sich die Geschichte der Geschichtsschreibung dynamisch, besonders in L6dz, das seinerzeit ein Zentrum der historiographischen Forschungen wurde. 3
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dwudziestoleciu (1957-1977) (Die Entwicklung der polnischen Geschichte der Geschichtsschreibung in den letzten Jahrzehnten), in: Ders., Kultura historyczna dawna i wspölczesna (Die frühe und die zeitgenössische Geschichtskultur), Warszawa 1979, S. 33»-404. Serejski, M. H., Problematyka historii historiografii (Die Problematik der Geschichte der Geschichtsschreibung), in: Pami^tnik VII Powszechnego Zjazdu Historyköw Polskich w e Wroclawiu 19.-22. wrzesnia 1948, Bd. 2, Warszawa 1948, 1, S. 41-51. Dieses Referat wurde mit einigen Änderungen vom Verfasser in dem Sammelband Przeszloic a terazniejszosd. Studia i szkice historiograflczne, (Vergangenheit und Gegenwart. Geschichtswissenschaftliche Studien und Skizzen), Wroclaw/Warszawa/ Kaköw 1965, S. 8-17, veröffentlicht. Dutkiewicz, J., Historia historiografii i metodyka historii w pracach Instytutu Historycznego UL (Geschichte der Geschichtssrcheibung und Geschichtsmethodologie in den Arbeiten des Instituts für Geschichte an der Universität Lodz), in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Lödzkiego, Seria 1, Nauki Humanistyczno-Spoleczne, H. 78, Lodz 1971, S. 57 ff.
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Das in dieser Etappe (1949-1956) Erreichte war jedoch sehr heterogen. Die Mehrzahl der historiographischen Arbeiten konzentrierte sich auf ideologische Fragen, die nicht selten sehr schematisch betrachtet wurden. Die „Barriere des Fortschritts" wurde so hoch angesetzt, daß kaum jemand von den früheren Historikern sie überwinden konnte. Trotzdem war dies eine bedeutende Etappe in der Geschichte der Disziplin. Man machte sich einen „soziologischen" Standpunkt gegenüber den historiographischen Erscheinungen zu eigen, man führte die Geschichte der Geschichtsschreibung in das Programm des Geschichtsstudiums ein, es wurden die organisatorischen Grundlagen f ü r ihre weitere Entwicklung geschaffen sowie mit der Ausbildung von Spezialisten f ü r diese Disziplin angefangen. Schon früher wurde übrigens begonnen, mit dem Schematismus bezüglich der historiographischen Probleme, mit „demaskatorischen" Tendenzen und der in der vorangegangenen Etappe sehr weit getriebenen Verbalisierung der Einschätzungen zu brechen. Zentrum der historiographischen Forschung in Polen blieb bis zur Mitte der 60er Jahre weiterhin Lödz (M. H. Serejski, J. Dutkiewicz, J. Adamus, K. Sreniowska, A. F. Grabski, Fr. Bronowski), später, nachdem M. H. Serejski nach Warschau gegangen war und sich die historiographische Forschung dort etabliert hatte, wurde Warschau Zentrum (W. Moszczenska, R. Przelaskowski, A. Gieysztor, J. Matemicki, H. Winnicka, M. Wierzbicka, B. Bravo, später M. H. Serejski). Es änderten sich die Betrachtungsweise des Gegenstandes und die Aufgaben der Geschichte der Geschichtsschreibung. Das ist deutlich zu sehen u. a. in der theoretischen Reflexion von W. Moszczeöska. Im Jahre 1960 veröffentlichte sie eine interessante, fundierte methodologische Abhandlung zur Geschichte der Geschichtsschreibung, die viele gewichtige Beobachtungen enthielt. Die Verfasserin sah dieses Gebiet als „natürliches und unveräußerliches Terrain und Instrument der theoretischen Reflexion des Historikers" an.4 In einer ähnlichen Richtung gingen die Überlegungen M. H. Serejskis. 5 Nach ihm ist das Ziel der historiographischen Forschung die „Erkenntnis und die Darstellung der Genese und des Entwicklungsprozesses der historischen Idee". Der Autor schenkte dabei dem Tatbestand Aufmerksamkeit, daß die Forschungen der modern verstandenen Geschichte der Geschichtsschreibung „verschiedenste Formen des Denkens über die Vergangenheit, auf verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungsniveaus, umfassen, sowohl die, die der wissen4
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Moszczenska, W., Zadania badawcze a warsztat naukowy historii historiografii (Aufgaben und wissenschaftliches Instrumentarium der Geschichte der Geschichtsschreibung), in: Kwartalnik Histotyczny, 67, 1960, 1, S. 58 f.; dies., Metodologii historii zarys krytyczny (Kritischer Abriß der Geschichtsmethodologie), erw., verb. u. zum Druck vorber. sowie mit einer Einleitung versehen von J. Maternicki, Warszawa 19772, S. 467 ff. Serejski, M. H., Historia historiografii a nauka historyczna (Geschichte der Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft), in: Kwartalnik Historyczny, 70, 1963, 3, S. 535-549. Nachdr. in PrzeszloS6 a terainiejszosö, S. 18-33.
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schaftlichen historischen Erkenntnis vorausedlen, als auch die, die mit ihr ,koexistieren' in Gestalt unwissenschaftlicher oder halbwissenschaftlicher Ideen, ,pseudohistorischer' Anschauungen". Die Zahl der Arbeiten auf dem Gebiet der Geschichte der Geschichtsschreibung wuchs in den Jahren 1957 bis 1968 im Vergleich zu den Jahren 1944 bis 1956 um fast das Vierfache. Ich habe dabei die Arbeiten im Auge, die der polnischen Geschichtsschreibung in der Zeit von der Aufklärung bis zum Jahre 1939 gewidmet sind. Die Geschichtsschreibung der früheren Etappen war noch hauptsächlich Gegenstand quellenkundlicher Forschungen, die neueste Zeit jedoch wurde als zu frisch angesehen, als daß man sie wissenschaftlich untersuchen könnte. Das Interesse an der fremden Historiographie war weiterhin nicht groß. Trotz der erwähnten Mängel waren die Errungenschaften der polnischen Geschichte der Geschichtsschreibung dieser Periode durchaus beträchtlich. Besondere Hervorhebung verdient die bedeutende Bereicherung der Forschungsproblematik, u. a. das Entstehen der ersten Studien, die der Evolution der methodologischen Grundlagen der Historiker, der Rezeption ihrer Arbeiten, der Herausbildung historischer Legenden usw. gewidmet waren. Das Tempo dieser Wandlungen erfährt eine merkliche Beschleunigung nach dem Jahre 1969. Infolge des natürlichen Prozesses der „Rotation der Generationen" kommt gegenwärtig die zweite Generation der polnischen Historiker der Historiographie zu Wort und beginnt teilweise zu dominieren. Die ehemaligen Schüler von M. H. Serejski und W. Moszczenska schaffen sich selbständige wissenschaftliche Standpunkte und beginnen neue Adepten der Geschichte der Geschichtsschreibung auszubilden. Gleichzeitig greifen immer mehr Historiker, die sich mit der Geschichtsmethodologie, der Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte des Rechts, der politischen Geschichte usw. beschäftigen, historiographische oder verwandte Themen auf. Zentrum der historiographischen Forschung ist weiterhin Warschau (Institut f ü r Geschichte der Geschichtsschreibung und Didaktik der Geschichte an der Universität Warschau, geleitet von J. Matemicki, sowie Institut f ü r Geschichte des gesellschaftspolitischen Denkens am Institut f ü r Geschichte der PAN, geleitet von A. F. Grabski), aber man widmëte sich dieser Forschung auch in L6dz (K. Sreniowska, F. Bronowski), in PoznaA (B. Miskiewicz, J. Topolski), in Krakow (C. Bobinska, H. Madurowicz-Urbanska), in Torun (J. Serczyk), in Gdansk (L. Mokrzecki) und in Wrociaw. Ausdruck des nach 1948 gewachsenen Interesses an der Vergangenheit der Geschichtswissenschaft in Polen sind die immer häufigeren Neuausgaben der Arbeiten der Klassiker der polnischen Historiographie, die in der Regel umfangreiche kritische Einführungen haben, in denen die Leistungen dieser Historiker, ihre methodologischen Grundsätze und ideologischen Grundlagen besprochen werden. Auf diese Weise wurden in den Jahren 1948 bis 1956 u. a. einige Arbeiten von Joachim Lelewel, Wîadysiaw Smolenski, Tadeusz Wojciechowski, Waclaw Tokarz, Hipolit Grynwaser u. a. herausgegeben. Eine große Bedeutung f ü r die historiographische Forschung hatte die fünfbändige Sammlung der Emigrationsbriefe von Joachim Lelewel, die in den Jahren 1948 bis 1956 von Helena Wiçckowska herausgegeben wurde. In der nächsten Etappe begann man die kritische Edition der Werke von
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Joachim Lelewel, die leider bis heute nicht abgeschlossen ist.6 Neuaufgelegt wurden auch die Arbeiten einer Reihe anderer polnischer Historiker, u. a. von Maksymilian Meloch, Stanislaw Smolka, Karol Potkanski, Waclaw Tokarz, Jan Ptasnik, Marceli Handelsman, Stanislaw K^trzynski, Eugeniusz Przybyszewski, Jan Rutkowski u. a., sowie die historischen Arbeiten hervorragender Theoretiker und Funktionäre der polnischen Arbeiterbewegung, von Rosa Luxemburg, Julian Marchlewski, Boleslaw Limanowski, Adam Prochnik u. a. Besondere Bedeutung kommt A. Gieysztor als Herausgeber historiographischer Arbeiten zu. Seine „Einführungen" und „Nachworte" sind bisweilen wertvolle Beiträge zur Geschichte der polnische - insbesondere der Warschauer - Mediävistik. M. H. Serejski gab eine interessante zweibändige Auswahl von Äußerungen polnischer Historiker über die Geschichtswissenschaft und die mit ihr verbundenen Probleme von der Aufklärung bis zum Untergang der II. Republik heraus. 7 Eine gesonderte Gruppe von Quellenveröffentlichungen bildet die Korrespondenz der Historiker Adam Naruszewicz, Karol Szajnocha und Henryk Schmitt. Im Jahre 1969 rief das Panstwowy Instytut Wydawniczy die Serie „Klassiker der Polnischen Historiographie" in Leben, in deren Rahmen u. a. die Arbeiten von Karol Szajnocha, Tadeusz Korzon, Wladyslaw Smolenski, Michal Bobrzynski, Wiktor Czermak, Szymon Askenazy u. a. herausgegeben wurden. In einer Auflage des Verlages Panstwowe Wydawnictwo Naukowe erschien die zweibändige Briefauswahl von Franciszek Bujak. Nützlich ist auch die Auswahl von Archivalien, die die Tätigkeit der Historischen Kommission der Akademie der Wissenschaften in Krakow betreffen. 8 Wenn es um konstruktive Arbeiten geht, so müssen hier an erster Stelle Monographien, Studien und Schriften genannt werden, die einzelnen Forschern gewidmet sind. In den Jahren 1949 bis 1956 konzentrierten sich diese Arbeiten hauptsächlich, wie bereits erwähnt, auf die ideologische Position der Historiker und der durch sie repräsentierten Richtungen, wie das bei den Arbeiten von M. H. Serejski der Fall war, die Joachim Lelewel und Karol Boromeusz Hoffman gewidmet waren. 9 Diese Einseitigkeiten spürt man am deutlichsten in 6
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Es konnten bisher 8 Bände der Werke von J. Lelewel herausgegeben werden. Sehr bedeutend ist der umfangreiche Band 2, in drei Teilen (insgesamt 1 003 Seiten) mit sämtlichen methodologischen und verwandten Schriften von J. Lelewel. Die Mehrzahl des Schriftguts, das von dem Herausgeber (N. Assorodobraj) zusammengetragen wurde, sind zum größten Teil bisher nicht bekannte oder von den Forschern wenig herangezogene Manuskripte. Serejski, M. H., Historycy o historii (Historiker über Geschichte), Bd. 1: Od Adama Naruszewicza do Stanislawa K^trzyhskiego, 1775-1918; Bd. 2: 1918-1939, Warszawa 1963 bzw. 1966, S. 665, 705 ff. Vgl. Materialy do dzialalnosci Komisji Historycznej Akademii Umiejqtnosci w Krakowie w latach 1873—1918, Wybör zrödel (Material über die Tätigkeit der Historischen Komission der Akademie der Wissenschaften in Krakau in den Jahren 1873-1918. Quellenedition), hrsg. von E. Rederowa, Wroclaw/Warszawa/Kraköw/ Gdansk 1974, S. 346 ff. Vgl. Serejski, M. H., Joachim Lelewel. Z dziejöw post^powej mysli historycznej w
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dem sonst interessanten Buch von K. Sreniowska, das dem bekannten Mediävisten Stanislaw Zakrzewski gewidmet ist und den bezeichnenden Titel „Zur Charaktertisierung der ideologischen Strömungen in der polnischen Historiographie" trägt. 10 Einen ähnlichen Charakter hatten die Abhandlungen von C. Bobinska über W. Smolenski, von J. Dutkiewicz über S. Askenazy, von Zofia Libiszowska über J. K. Plebanski, von Jerzy Danielewicz über Aleksander Rembkowski, von W. Moszczenska über M. Handelsman u. a.11 Nach dem Jahre 1956 zeichneten sich in der historiographischen Biografistik deutlich zwei Strömungen ab. Die erste repräsentieren traditionelle Arbeiten, die sich auf die Biographie einzelner Gelehrter, ihre wissenschaftliche Karriere, Wendepunkt in ihrem Leben usw. konzentrieren. Ein klassisches Beispiel dafür sind die zahlreichen Arbeiten von Henryk Barycz, die u. a. T. Wojciechowski, Ludwik Kubala, S. Smolka, Karol Potkanski, Sz. Askenazy und Wadtaw Sobieski gewidmet sind. 12 Sie bereicherten auf bedeutende Weise das bisherige Wissen
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Polsce (Zur Geschichte der fortschrittlichen Geschichtsidee in Polen), Warszawa 1953, S. 138 ff. ; ders., Studia nad historiografl^ Polski (Studien zur Geschichtsschreibung Polens), T. 1 : K. B. Hoffmann, Lödz 1953, S. 136 ff. Vgl. Sreniowska, K., Stanislaw Zakrzewski. Przyczynek do charakterystyki prqdöw ideologicznych w historiografii polskiej 1893-1936 (Stanislaw Zakrzewski. Beitrag zur Charakteristik der ideologischen Strömung in der polnischen Geschichtsschreibung 1893-1936), Lödz 1956, S. 190 ff. Vgl. Bobinska, C., Wstçp w : W. Smolenski, Wybör pism (Auswahl von Schriften), Warszawa 1954, S. 5-69 ; Dutkiewicz, J., Wymowa polityczna dzialalnosci naukowej Szymona Askenazego (Die politische Aussage der wissenschaftlichen Tätigkeit von Szymon Askenazy), in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Lödzkiego, séria 1: Nauki Humanistyczno-Spoleczne, 1956, H. 3, S. 127-154; ders., Szymon Askenazy i jego szkola (Szymon Askenazy und seine Schule), Warszawa 1958, S. 249 ff. ; Libiszowska, Z., Jözef Kazimierz Plebanski (1931-1896), in: Zesztyty Naukowe Uniwersytetu Lödzkiego, séria 1, 1956, H. 4, S. 73-106; Danielewicz, J., Spoleczno-polityczne pogl^dy Aleksandra Rembowskiego (Die gesellschaftspolitischen Ansichten von Alexander Rembowski, in: Annales Universitatis MCS, Bd. 10, 1955 (158), S. 155-194; Wlodarczyk, J., Tadeusz Korzon. Glöwne koncepcje historyczne i historiograficzne (Die hauptsächlichen historiographischen und Geschichtskonzeptionen), Lödz 1958, S. 168, 33, 29 (MS. vervielf.) ; Moszczenska, W., Soleczno-polityczna wymowa twôrczoéci M. Handeismana w latach 1905/07 i 1917/18. Z problematyki badan nad procesem przemian ideologicznych okresu imperializmu, Cz. 1: Wyjsciowe pozycje ideologiczne w latach rewolucyjnych 1905/07 (Gesellschaftspolitische Aussage des Schaffens von M. Handelsman in den Jahren 1905/07 und 1917/18. Zur Problematik der Erforschung des Prozesses der ideologischen Veränderungen in der Zeit des Imperialismus. T. 1 : Die ideologischen Ausgangspositionen in den Revolutionsjahren 1905-07), in: Kwartalnik Historyczny, 63, 1956, 3, S. 111-150. Vgl. Barycz, H., Dwa trudne zyciorysy. Na drogach rozwoju naukowego Tadeusza Wojciechowskiego i Ludwika Kubali (Zwei schwierige Biographien. Die wissenschaftliche Entwicklung von Tadeusz Wojciechowski und Ludwik Kubala), in: 2ycie i Mysl, 2, 1951, 2, S. 366-397 ; ders., Stanislaw Smolka w zyciu i nauce (Stanislaw Smolka im Leben und in der Wissenschaft), Kraköw 1975, S. 410 ff.; ders., Na przelomie dwöch stuleci. Z dziejöw polskiej humanistyki w dobie Mlodej Polski (An der Wende zweier Jahrhunderte. Aus der Geschichte der polnischen
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über das Leben und die organisatorische und Lehrtätigkeit der genannten Historiker, aber sie vertieften in nur geringer Weise das Wissen über ihre methodologischen Ansichten, ihre gesellschaftlichen Positionen und ihre wissenschaftliche Leistung. Ähnlichen „biographischen" Charakter haben auch die Bücher von Julian Dybiec über Michal Wisznowski, von Juliusz Bardach über Waclaw Aleksander Maciejowski, von Ryszard Ergetowski über August Mosbach und von Jerzy Mröwczynski über Walerian Kaiinka. 13 Strenggenommen sind das keine historiographischen Monographien, sondern Biographien von Wissenschaftlern, Schriftstellern oder (im Falle von Kaiinka) Ordensleuten usw., die ziemlich traditionell in der Idee, aber auf gewissenhaftes Quellenstudium gestützt sind. Die zweite Srömung repräsentieren Problemarbeiten, die die methodologischen Grundsätze einzelner Historiker, ihr Forschungsinstrumenarium, ihren Begriffsapparat, die Forschungsproblematik, die wissenschaftliche Leistung und deren Bedingungen und gesellschaftlichen Funktionen analysieren. Als Beispiel können hier u. a. die Abhandlungen von Nina Assorodobraj dienen, die der methodologischen Position von J. Lelewel gewidmet sind.14 Die größte Errungenschaft auf diesem Gebiet ist die fundamentale Studie von M. H. Serejski, die der Lelewelschen Konzeption der allgemeinen Geschichte gewidmet ist.15 Sie wurde in vergleichender Weise auf einem breit gezeichneten Hintergrund besprochen, der die methodologischen Veränderungen in der europäischen Historiographie im 19. und zu Beginn des 19. Jh. umfaßt. An dieser Stelle sei noch hingewiesen auf die interessante Skizze von J. Dutkiewicz über die theoretischen Ansichten von M. Handelsman sowie auf die umfangreiche Abhandlung von H. Madurowicz-Urbanska über die methodologischen Anschauungen von Franciszek Bujak. 16
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Humanistik in der Zeit des Jungen Polens), Wroclaw AVarszawa/Kraköw/Gdansk 1977, S. 68-168, 238-311. Vgl. Bardach, J., Waclaw Aleksander Maciejowski i jego wspölczesni Waclaw (Alexander Maciejowski und seine Zeitgenossen), Wroclaw/Warszawa/Kraköw/GdaAsk 1971, S. 330 ff.; Dybiec, J., Michal Wiszniewski. 2ycie i twôrczoéé (Michal Wiszniewski. Leben und Schaffen), Wroclaw 1970, S. 380 ff. ; Ergetowski, R., August Mosbach (1817-1884), WroclawAV arszawa/Kraköw 1968, S. 178 ff.; Mrôwczyûski, J., Ks. Walerian Kaiinka. 2ycie i dzialalnosé (Priester Walerian Kaiinka. Leben und Schaffen), Poznan/Warszawa/Lublin 1973, S. 694 ff. Vgl. Assorodobraj, N., Lelewela „historia fllozoficzna" (Lelewels „Philosophiegeschichte"), in: Myél Filozoficzna, 2, 1956, 22, S. 54-8®; dies., Ksztaltowanie siç zalozen teoretycznych historiografii Joachima Lelewela (Okres przedpowstaniowy) (Die Herausbildung der theoretischen Grundlagen der Historiographie von Joachim Lelewel [Zeitraum vor den Aufständen], in: Z dziejöw polskiej myili filozoflcznej i spolecznej, Bd. 3, Warszawa 1957, S. 112-194. Vgl. Serejski, M. H., Koncepcja historii powszechnej Joachima Lelewela (Konzeption der allgemeinen Geschichte Joachim Lelewels), Warszawa 1958, S. 429 ff.; vgl. auch Studia Lelewelowskie, in: Kwartalnik Historyczny, 68, 1961, 4, Sesja Naukowa w stulede smierci J. Lelewela 24 i 25 maja 1961 r. (Wissenschaftliche Tagung zum 100. Todestag von J. Lelewel [24. und 25. Mai 1961]), in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Lödzkiego, séria 1, 1962, H. 24. Vgl. Dutkiewicz, J., Teoretyczne poglady Marcelego Handeismana (Theoretische
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Das Interesse an dem Forschungsinstrumentarium des Historikers fand seinen Ausdruck u. a. in der Abhandlung von Stanislaw Grzybowski über die sogenannten Mappen von Naruszewicz.17 Zahlreicher sind die Publikationen, die sich mit dem Begriffsapparat und den historischen Ideen beschäftigen, die von den einzelnen Forschern verkündet wurden. Als Beispiel sei hier das wertvolle Buch von Franciszek Bronowski genannt, das 1969 erschien und die Herausbildung der republikanischen Geschichtskonzeption von J. Lelewel untersucht. 18 Zu dieser Gruppe von historiographischen Arbeiten muß man auch die Abhandlung von J. Maternicki zählen, die der Evolution der Auffassungen von M. Bobrzynski zur sogenannten Jagiellonen-Idee gewidmet ist.19 Es fehlt auch nicht an Arbeiten, die die gesellschaftspolitischen Bedingungen f ü r das Schaffen der einzelnen Historiker und ihre Rolle im gesellschaftlichen Leben analysieren. Eine der interessantesten ist die Abhandlung vom Stefan Kieniewicz über den „historischen Hintergrund" der bekannten Synthese von M. Bobrzynski, die den gesellschaftspolitischen Apekten der ersten Ausgabe der „Geschichte Polens im Abriß" (1879) nachging.20 Diese Problematik war sehr populär, besonders in den Jahren 1949 bis 1956. Eine größere Gruppe bilden die Arbeiten, die der Rezeption des Schaffens einzelner Historiker gewidmet sind. Eine der ersten Arbeiten war die nicht sehr umfangreiche Abhandlung von H. Winnicka: Wertungen, Auflagen, Leser der „Volkstümlichen Geschichte" von Joachim Lelewel.21 An dieser Stelle sei auch noch hingewiesen auf den Artikel von Barbara Krzemienska-Surowiecka über die Polemiken der Jahre 1879 bis 1890 zu der bereits genannten Geschichte Polens im Abriß von M. Bobrzynski. Die Diskussion zu dem Werk Die innerpolitische Geschichte zur Zeit von Stanislaw August von T. Korzon besprach Jerzy Wlodarczyk. Alle drei Arbeiten stammen aus den 50er Jahren; später ließ das Interesse an dieser Problematik deutlich nach, obwohl es eigentlich nie
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Ansichten von Marceli Handelsman), in: Historyka, Bd. 3, 1972, S. 5-22; Madurowicz-Urbanska, H., Franciszek Bujak - o nowy ksztalt historii (Franciszek Bujak über die neue Form der Geschichte), in: F. Bujak, Wybór pism (Auswahl von Schriften), Bd. 1, Warszawa 1976, S. 7-167. Vgl. Grzybowski, S., Teki Naruszewicza (Mappen von Naruszewicz), in: Acta Regnum et populi Poloni, Wroclaw 1960, S. 71 ff. Vgl. Bronowski, Fr., Idea gminowladztwa w polskiej historiografii (Geneza i formowanie sie syntezy rupublikanskiej J. Lelewela) (Die Idee der Gemeindeherrschaft in der polnischen Geschichtsschreibung [Genesis und Herausbildung der republikanischen Synthese J. Lelewels]), Lódz 1969, S. 458 fi. Vgl. Maternicki, J., Micha! Bobrzynski wobec tzw. idei jagiellonskiej. Ewolucja poglqdów i jej uwarunkowania (Michal Bobrzynski und die sog. Jagiellonen-Idee. Entwicklung der Ansichten und ihre Bedingtheit), in: Przeglqd Humanistyczny, 21, 1977, 12, S. 131-142. Vgl. Kieniewicz, S., Tio historyczne „Dziejów Polski" Bobrzynskiego („Der historische Hintergrund der Geschichte Polens" von Bobrzynski), in: Przeglqd Historyczny, Bd. 37, 1948, S. 343-356. Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Lódzkiego, seria 1, 1959, H. 12, S. 153-168.
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ganz erlosch. Davon zeugt u. a. die Abhandlung von Maria Wierzbicka über den Abriß der Sozialgeschichte des polnischen Staates von Kazimierz Gorzycki.22 Eine gesonderte Gruppe bilden die Arbeiten zur Lehrtätigkeit der Historiker. J. Dybiec beschäftigte sich mit der Tätigkeit von M. Wiszniewski als Professor für allgemeine Geschichte an der Jagiellonen-Universität, H. MadurowiczUrbanska besprach die viel späteren Vorlesungen über dieses Fach von K. Potkanski.23 Über die Lehrtätigkeit von M. Handelsman an der Warschauer Universität schrieb J. Dutkiewicz eine interessante Abhandlung. Die polnische Geschichte der Geschichtsschreibung hat jedoch noch kein voll befriedigendes Modell für die Monographie des einzelnen Historikers ausgearbeitet. Wir haben eine ganze Reihe von biographischen Materialien, verschiedenartige allgemeine „Charakteristiken"24, Beiträge sowie Problemarbeiten, die verschiedene Seiten des Schaffens der einzelnen Forscher analysieren. Es gibt jedoch wenig Arbeiten, die harmonisch unterschiedliche Gesichtspunkte verbinden und ein möglichst umfassendes Bild der Ansichten und der wissenschaftlichen Tätigkeit der besprochenen Historiker geben. Man kann diesen Tatbestand auf verschiedene Weise interpretieren. Nach Ansicht vieler ist dieser Typ der historiographischen Monographie wenig brauchbar; die Konzentration auf einzelne Historiker schafft keine guten Bedingungen für die Analyse komplizierter Probleme, die sich auf die Historiographie als Ganzes beziehen. Von diesem Standpunkt aus scheinen Problemstudien größeren Wert zu haben. Ohne diese Ansicht in Frage stellen zu wollen, sind wir doch von der Notwendigkeit von Monographien überzeugt, die sich einzelnen Historikern widmen. Es kommt jedoch darauf an, daß das Arbeiten sind, die sich auf wesentliche Fragen konzentrieren, die uns Einsichten in tiefer liegende Schichten des historischen Denkens der gegebenen Epoche vermitteln. Ein anderer Typ von historiographischen Arbeiten beschäftigt sich mit einzelnen „Schulen" bzw. Zeiträumen. Bereits im Jahre 1955 schrieb M. H. Serejski eine Abhandlung über die sogenannte Warschauer positivistische Schule und gab
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Vgl. Wierzbicka, M., Zarys spolecznej historii panstwa polskiego Kazimierza Gorzyckiego (Abriß der Sozialgeschichte der polnischen Gesellschaft von Kazimierz Gorzycki), in: Przeglqd Historyczny, 1968, S. 662-680. Vgl. Dybiec, J., Michal Wiszniewski jako profesor historii powszechnej w Uniwersytecie Jagiellonskim (Michal Wiszniewski als Professor für allgemeine Geschichte an der Jagiellonen-Universität), in: Kwartalnik Historii Nauki i Techniki, 9, 1964, S. 211-227; Madurowicz-Urbanska, H., „Historia powszechna" w wykladach Karola Potkanskiego w Uniwersytecie Jagiellonskim („Die allgemeine Geschichte" in den Vorlesungen von Karol Potkanski an der Jagiellonen-Universität), in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellonskiego. Prace Historyczne, 1969, H. 26, S. 91-101. Vgl. z. B. Serjski, M. H., Adam Naruszewicz a Oswiecenie w Polsce (Adam Naruzewicz und die Aufklärung in Polen), in: Ders., Przeszlosö a terazniejszosö, S. 50 bis 66; ders., Joachim Lelewel i jego szkola (Joachim Lelewel und seine Schule), in: Polska mysl flolozoflczna i spoleczna, Bd. 1: 1831-1863, Red. A. Walicki, Warszawa 1973, S. 30-77; Grabski, A. F., Mi^dzy slowianofllstwem a panslawizmem - Ignacy Benedykt Rakowiecki jako historyk Slowianszczyzni (Zwischen Slawophilentum
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damit die erste fundamentale Charakteristik dieser Richtung. 25 Zweimal unternahm A. F. Grabski den Versuch, diese Schule zu charakterisieren. 26 Er weicht in seiner allgemeinen Konzeption - nicht allzusehr von der „klassischen" Auffassung ab, die aus den Arbeiten von M. H. Serejski bekannt ist, er bereichert sie jedoch durch viele neue Details und Überlegungen. Den Versuch einer neuen Einordnung der Warschauer Schule und ihres Platzes innerhalb der polnischen Historiographie der zweiten Hälfte des 19. Jh. enthält die umfangreiche, zweiteilige Arbeit von Jerzy Maternicki. 27 Den 100. Jahrestag der Gründung des Lehrstuhls für polnische Geschichte an der Jagiellonen-Universität durch Jözef Szujski würdigte im Jahre 1969 eine dreitägige wissenschaftliche Konferenz, deren Ergebnisse in einem Sammelband publiziert wurden. 28 Die bisher ergiebigsten Forschungen zur Krakauer Schule repräsentieren die postum herausgegebenen Studien von Konstanty Grzybowski, die eine scharfsinnige Analyse der Auffassungen von W. Kaiinka, J. Szujski und M. Bobrzynski enthalten. 29 und Panslawismus - Ignacy Benedykt Rakowiecki als Historiker des Slawentums), in: Ders., Orientacje polskiej mysli historycznej (Orientierungen der polnischen Geschichtsidee), Warszawa 1972, S. 146-214; ders., Oswieceniowy antenat pozytywistöw - Tadeusz Czacki jako historyk (Vorfahre der Positivisten - Tadeusz Czacki als Historiker), in: Ebenda, S. 54-103; Bronowski, Fr., Wawrzyniec Surowiecki jako badacz dawniej Slowianszczyzny (Wawrzyniec Surowiecki als Erforscher des frühen Slawentums), in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Lödzkiego, seria 1, 1956, H. 3, S. 73-103; Bobinska, C., Marchlewski jako historyk (Marchlewski als Historiker), in: Julian Marchlewski. Materialy sesji naukowej z okazji 100 rocznicy urodzin (Materialien der wissenschaftlichen Tagung anläßlich des 100. Geburtstages), Warszawa 1968, S. 38-64. 25 Vgl. Serejski, M. H., Miejsce pozytywistycznej szkoly warszawskiej w historiografli polskiej XIX stulecia (Der Platz der positivistischen Warschauer Schule in der polnischen Geschichtsschreibung des 19. Jh.), in: Kwartalnik Hisoryczny, 62, 1955, 3, S. 66-98 Nachdr. mit Verbesserungen und Erweiterungen in Przeszlosc i terazniejszoää, S. 139-173. 26 Vgl. Grabski, A. F., Warszawska szkola historyczna. Problemy i kontrowersje (Die Warschauer Schule. Probleme und Kontroversen), in: Ders., Orientacje polskiej mysli historycznej, S. 272-300; ders., Warszawska szkola historyczna. Pröba charakterystyki (Die Warschauer historische Schule. Versuch einer Charakteristik), in: Polska mysl filozoficzna i spoleczna, Bd. 2: Red. B. Skarga, Warszawa 1975, S. 456-534. 27 Vgl. Maternicki, J., Zmierzch szkoly krakowskiej i opozycja historyköw warszawskich (Der Untergang der Krakauer Schule und die Opposition der Warschauer Historiker), T. 1-2, in: Przeglqd Humanistyczny, 20, 1976, 2, S. 15-28; 3, S. 17-42. 28 Vgl. Spör o historycznq szkolq krakowskq. W stulecie Katedry Historii Polski UJ 1869-1969 (Der Streit um die Krakauer historische Schule. 100. Jahrestag des Lehrstuhls für Geschichte Polens an der Jagiellonen-Universität), Sammelbd., Red. C. Bobinska und J. Wyrozumski, Kraköw 1972, S. 374 ff. 29 Vgl. Grzybowski, K., Szkola historyczna krakowska (Die Krakauer historische Schule), in: Polska mySl filozoficzna i spoleczna, Bd. 2, S. 535-592. Hilfreich für den Forscher dieses Gebietes ist das Kompendium dokumentacyjne. Historiografia polska w dobie pozytywizmu (1865-1900), Red. R. Przelaskowski, Warszawa 1968.
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An dieser Stelle sind die Arbeiten von A. F. Grabski zu nennen, der die methodologischen Grundlagen der polnischen Historiographie zur Zeit des Positivismus, die Geschichtsauffassungen der Historiker der Krakauer Schule sowie die Rezeption von Henry J. Buckle in Polen untersuchte. 30 Derselbe Autor gab ein gutes Beispiel für eine synthetische Monographie eines Zeitabschnittes. Nach einigen vorbereitenden Studien veröffentlichte er die umfangreiche „Historische Idee der polnischen Aufklärung", die den ersten Band der recht ambitiös angelegten „Geschichte der polnischen Geschichtsidee" bildet. A. F. Grabski brach mit dem traditionellen, engen Verständnis der Geschichte und untersuchte nicht nur gewichtige historische Werke der behandelten Epoche, sondern auch einige publizistische Schriften, moralistische Literatur sowie - in geringem Umfange - literarische und bildhafte Visionen der Vergangenheit. 31 Trotz gewisser Lücken und Disproportionen, trotz der Diskontinuität einiger Formulierungen ist sein Buch ein echter Fortschritt zur Ausarbeitung einer Synthese der polnischen geschichtlichen Idee in der Epoche der Aufklärung. Mit der Zeit der Aufklärung beschäftigte sich u. a. auch Helena Rzadkowska, die sich in einem längeren Artikel bemühte, die Genesis des geschichtlichen Interesses an dieser Epoche deutlich zu machen.32 Beispiel f ü r ein methodisch geführtes „Milieu"-Studium ist das Buch von J. Maternicki über die Warschauer historische Schule in den Jahren 1832-186933, die er mit einer umfangreichen Abhandlung der Jahre 1914-1918 fortsetzte. 34 Historiographische Studien zu einzelnen Schulen oder Zeitabschnitten haben nicht selten Problemcharakter und behandeln z. B. historische Synthesen oder auch bestimmte methodologische Probleme. 30
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Vgl. Grabski, A. F., Koncepcja nauki w historiografli polskiej doby pozytywizmu (Wissenschaftskonzeption in der polnischen Geschichtsschreibung in der Zeit des Positivismus), in: Kwartalnik Historii Nauki i Techniki, 14, 1969, 4, S. 629-647, Nachdr.: Ders., Orientacje polskiej mySli historycznej, S. 215-247; ders., Z zagadnien metodologicznych tzw. krakowskiej szkoly historycznej (Methodologische Probleme der sog. Krakauer historischen Schule), in: Studia Metodologiczne, 6, 1969, S. 49-86, Nachdr. ebenda, S. 301-340; ders., Polish Enthusiasts and Critics of Henry T. Buckle, in: Organon, 7, 1970, S. 259-275; ders., Ze studiöw nad recepcjq Henry T. Buckle'a w Polsce (Aus den Studien über Henry T. Buckle in Polen) 1860-1866, in: Studia i materialy z dziejöw nauki polskiej, seria E: Zagadnienia ogölne, 1973, 5, S. 159-182. Vgl. ders., Myäl historyczna polskiego Oswiecenia (Historische Idee der polnischen Aufklärung), Warszawa 1976, S. 486 ff. Vgl. Rzadkowska, H., Rozwöj mySli historycznej w dobie Oswiecenia. Przyczyny wzrostu zainteresowania przeszloscisi (Die Entwicklung der historischen Idee in der Zeit der Aufklärung. Ursachen für das wachsende Interesse an der Vergangenheit), in: Studia i materialy z dziejöw nauki polskiej, seria A: Historia nauk spolecznych, 1958, 2, S. 3-44. Vgl. Maternicki, J., Warszawskie ärodowisko histoiyczne 1832-1869 (Die Warschauer historische Schule 1832-1869), Warszawa 1970, S. 312. Vgl. ders., Warszawskie irodowisko historyczne 1914-1918 (Die Warschauer historische Schule 1914-1918), in: Warszawa XIX wieku 1795-1918, Warszawa 1970, S. 185-238.
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Eine andere Fragestellung griff J. Maternicki in einem Buch auf, das das politische Engagement der Historiker und ihrer (mehr publizistischen als wissenschaftlichen) Werke während der Umbruchsituation in Polen zur Zeit des ersten Weltkrieges untersucht. 35 H. Winnicka beschäftigte sich mit dem Schicksal der polnischen Historiker während des zweiten Weltkrieges. Den dritten Haupttyp von historiographischen Arbeiten bilden Publikationen, die die Organisation der Forschung und das wissenschaftliche Leben betreffen. Es sind nicht viele, daher seien sie wegen der Gewichtigkeit der Problematik und des relativ schwach entwickelten Forschungsstandes einzeln aufgezählt: „Studien zur Geschichte der Philosophisch-Historischen Fakultät der Jagiellonen-Universität" (1967), die u. a. die Geschichte der einzelnen Lehrstühle f ü r Geschichte enthalten; „Studien zur Geschichte der Juristischen Fakultät der JagiellonenUniversität" (1964), u. a. mit einer Reihe von Abhandlungen und Skizzen über die Geschichte der Jurisprudenz. Einige Beiträge dazu veröffentlichten auch J. Bardach, Karol Buczek und H. Madurowicz-Urbanska. Den vierten Typ stellen Problemstudien dar, die längere Zeitabschnitte behandeln. Begonnen wurden diese Arbeiten von Jan Adamus (1896-1962), der das Problem des „Monarchismus" und des „Republikanismus" in der polnischen Historiographie analysierte.36 J. Adamus vermochte es, die polnische Historiographie synthetisch zu betrachten, in ihr die versteckten, „subkutanen" Strömungen und Tendenzen aufzuspüren; nachteilig wirkte sich die teilweise Lückenhaftigkeit seiner Darlegungen aus. M. H. Serejskis Buch erörtert Ansichten, zum Niedergang Polens in der europäischen Geschichtsschreibung vom 18. bis 20. Jh. 37 Es zeigt besser, wie kompliziert und verschiedenartig die Meinungsbildung und die Auffassungen der Historiker zum Niedergang Polens waren, welch große Rolle dabei allgemeine Grundsätze gespielt haben, die gewöhnlich nicht publiziert wurden und deshalb schwer greifbar sind. Ähnlichen Charakter weist auch sein letztes Buch zu Problemen des Volkes und des Staates in der polnischen Geschichtsidee desselben Zeitraums auf.38 Problemcharakter haben ebenfalls die Studien von M. Wierzbicka, die methodologische Aspekte von früheren Darstellungen der Geschichte Polens analysieren 39 , und 35
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Vgl. ders., Idee i postawy. Historia i historycy polscy 1914-1918. Studium historiograficzne (Idee und Positionen. Die Geschichte und die polnischen Historiker 1914-1918. Historiographische Studie), Warszawa 1975, S. 545 ff. ; ders., L'histoire et les historiens en Pologne au cours de la Première Guerre mondiale. Fasciculi Historici, Bd. 3, 1970, S. 33-42. Vgl. Adamus, J., Monarchizm i republikanizm w sytezie dzniejów Polski (Monarchismus und Republikanismus in der Geschichte Polens), Lodz 1964, S. 79 ff. Vgl. Serejski, M. H., Europa a rozbiory Polski. Studium historiograficzne (Europa und die Teilungen Polens. Historiographische Studie), Warszawa 1970, S. 515 ff. Vgl. ders., Naród a panstwo w polskiej mysli historycznej (Nation und Staat in der polnischen Geschichtsidee), Warszawa 1973, S. 342 ; 2. Aufl., Warszawa 1977. Vgl. Wierzbicka, M., Dawne syntezy dziejów Polski. Rozwój i przemiany koncepcji metodologicznych (Frühere Synthesen der Geschichte Polens. Entwicklung und Veränderungen der methodologischen Konzeptionen), Wroclaw/Warszawa/Kraków/ Gdansk 1974, S. 160 ff.
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zwar von A. Naruszewicz bis zu Arbeiten aus den J a h r e n der II. Republik. Sie beziehen sich hauptsächlich auf Fragen der Periodisierung der Geschichte Polens. Im J a h r 1974 erschien ein umfangreicher Studienband z u r Entwicklung der S t a n d p u n k t e der polnischen u n d deutschen Historiographie zu den Beziehungen zwischen Polen u n d Deutschland (insbesondere Preußen) bis E n d e des 19. Jh. 40 Ein J a h r später k a m der erste Band der Studien und Skizzen z u r Entwicklung der polnischen militärischen Geschichtsschreibung heraus. 41 Eine besondere Gruppe von Problemstudien bilden die Arbeiten, die gewisse Bereiche der „lebenden Geschichte" durchdringen. Die Erforschung d e r historischen Legenden u n d Mythen, die vorwiegend außerhalb der Wissenschaft in verschiedenartigen populären, literarischen u n d didaktischen Visionen d e r Vergangenheit existieren, vermittelt u n s die Erkenntnis vom historischen Bewußtsein d e r Gesellschaft und seiner Rolle im gesellschaftlichen Leben. In Polen initiierte Krystyna Sredniowska diese Forschungen in d e r Studie zur Geschichte der Kosciuszko-Legende. Eine zweite Ausgabe dieser Arbeit, deren Materialtedl erweitert wurde, erschien 1973.42 Eine ähnliche Studie ist das Buch von Andrzej Zahorski. 43 Der Verfasser verfolgt u n d deutet hier die kontroversen Urteile französischer und polnischer Historiker des 19. u n d 20. J h . ü b e r Napoleon. Die gemeinsame Betrachtung d e r polnischen u n d französischen Historiographie erwies sich als sehr fruchtbar, d e n n sie eröffnete Möglichkeiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Charakter und Funktion d e r Historiographie beider Länder zu offenbaren. In diesem Zusammenhang soll auch a n die Arbeiten erinnert werden, die den Nationalfeiertagen u n d der Beziehung der verschiedenen politischen Gruppierungen z u r Tradition gewidmet sind. Derartige Forschungen eröffnen ebenfalls einen Weg zur Erkenntnis d e r „lebenden Geschichte". In Polen begann sie Janusz Buszko 44 ; in der jüngsten Zeit hat Haiina Winnicka diese Problematik aufgegriffen. Eine weitere Richtung repräsentieren Arbeiten aus dem Bereich d e r Geschichte 40
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Vgl. Stosunki polsko-niemieckie w historiografii (Die polnisch-deutschen Beziehungen in der Geschichtsschreibung), Teill: Studia z dziejöw historiografii polskiej i niemieckiej, Red. J. Krasuskiego, G. Labudy, A. W. Walczaka, Poznan 1974, S. 533 ff. Vgl. Studia z dziejöw polskiej historiografii wojskowej (Studien zur Geschichte der polnischen militärischen Historiographie), Bd. 1, Red. B. MiSkiewicz, Poznan 1975, S. 127 ff. Vgl. Sreniowska, K., Koäciuszko. Ksztaltowanie poglqdöw na bohatera narodowego 1794-1894 (Koäciuszko - Die Formierung von Ansichten über einen Nationalhelden 1794-1894), Warszawa 1964, S. 157 ff.; dies., Kosciuszko - bohater narodowy. Opinie wspölczesnych i potomnych 1794-1946 (Kosciuszko - ein Nationalheld. Meinungen der Zeitgenossen und der Nachfahren 1794-1946), Warszawa 1973, S. 266 ff. Vgl. Zahorski, A., Spör o Napoleona we Francji i w Polsce (Auseinandersetzungen über Napoleon in Frankreich und in Polen), Warszawa 1974, S. 338 ff. Vgl. Buszko, J., UroczystoSci kazimierzowskie na Wawelu w roku 1869 (Feiern zum Jubiläum von König Kazimierz auf dem Wawel im Jahre 1869), Kraköw 1970, S. 128.
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des Geschichtsunterrichtes in Polen. Anfangs dominierte hier der pädagogische Gesichtspunkt, später näherten sich diese Untersuchungen jedoch histori»graphischen Studien und bereicherten wesentlich unsere Kenntnis über die geschichtliche Kultur der vergangenen Epochen. Am breitesten ist das Buch von J. Maternicki angelegt, das den Geschichtsunterricht von der Entstehung der Kommission f ü r nationale Bildung bis zur Erlangung der Unabhängigkeit Polens 1918 behandelt. 45 L. Mokrzecki beschäftigte sich mit dem Geschichtsunterricht im Danziger Akademischen Gymnasium bis zum Ende des 18. Jh. T. Siowikowski ist Verfasser von drei Monographien, die den Geschichtsunterricht in Polen im 18. sowie in der ersten Hälfte des 19. Jh. untersuchen. Wir erwähnen noch die Abhandlung von Anna Kulczykowska über die Lehrprogramme für Geschichte, die in den polnischen Schulen von 1918 bis 1932 galten,46 und beschränken uns auf Buchpublikationen. Die Zahl der Artikel, die diese Problematik berühren, ist bedeutend höher. Weniger befriedigend ist der Forschungsstand zur allgemeinen Historiographie und zur geschichtlichen Kultur anderer Länder. Eine Ausnahme bildet das Buch von Benedetto Bravo über J. G. Droysen.47 Ausdruck des Interesses von Jerzy Topolski an der Geschichte der theoretischen und methodologischen Reflexion zur Geschichte ist u. a. sein umfangreiches Kapitel zu dieser Problematik in der „Methodologie der Geschichte" (1968). Vor kurzem hat der Verfasser eine kleine Abhandlung und die Ansichten Nicolas Lenglet Du Fresnoys veröffentlicht. Eine allgemeine Charakteristik der Anschauungen Voltaires zur Geschichte gab M. H. Serejski ; Maria Wawrykowa beschäftigte sich mit dem deutschen geschichtlichen Denken der ersten Hälfte des 19. Jh. und untersuchte seine Beziehungen zu Staat und Volk.48 45
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Vgl. Maternicki, J., Dydaktyka historii w Polsce (Der Geschichtsunterricht in Polen), Warszawa 1974, S. 453 ff. Vgl. Mokrzecki, L., Studium z dziejöw nauczania historii. Rozwöj dydaktyki przedmiotu w Gdanskim Gimnazjum Akademickim du schylku XVII w. (Studie zur Geschichte des Geschichtsunterrichts. Entwicklung des Geschichtsunterrichts am Danziger Akademischen Gymnasium bis zum Ende des 17. Jh.), GdaAsk 1973, S. 230 ff.; Siowikowski, J., Poglqdy na nauczanie historii w Polsce w wieku XVIII oraz dykatyczna koncepcja Joachima Lelewela (Der Geschichtsunterricht in Polen im 18. Jh. und die didaktische Konzeption Joachim Lelewels), Kraköw 1960; ders., Nauczanie historii w Wolnym Miescie Krakowie w latach 1815-1846 (Der Geschichtsunterricht in der Freistadt Krakau in den Jahren 1815-1846), Wroclaw/ Warszawa/Kraköw 1967, S. 191 ff.; ders., Joachim Lelewel - krytyk i autor podrçczniköw historii (Joachim Lelewel - Kritiker und Autor von Geschichtslehrbüchern), Warszawa 1974; Kulczykowska, A., Programy nauczania historii w Polsce 1918-1932 (Lehrprogramme für Geschichte in Polen 1918-1932), Warszawa 1972, S.227 ff. Vgl. Bravo, B., Philologie, Histoire, Philosophie de l'Histoire. Etude sur J. G. Droysen historien de l'antiquité, Wroclaw/Varsovie/Cracovie 1968, S. 409. Vgl. Topolski, J., Na drodze do nowoczesnej myéli historycznej. Nicolas Lenglet Fresnoy (1674-1755) i jego metoda badania historycznego (Auf dem Wege zu einer modernen Geschichtsidee. Nicolas Lenglet Fresnoy [1674-1755] und seine Methode
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Durchschnittlich erscheint in Polen jährlich ca. ein Dutzend gewichtiger historiographischer Arbeiten, nicht gezählt kleinere Publikationen und verschiedenartige Übersichten, Nachrufe usw. Das zeugt am besten von der großen Bedeutung, die man in Polen dieser Thematik beimißt. Wenn die Geschichte der Geschichtsschreibung jegliche Spuren des geschichtlichen Denkens - unabhängig von ihrem Charakter und ihrer äußeren Form - verfolgt, wenn sie in ihnen die Widerspiegelung der Vergangenheit und der Gegenwart und auch die Grundlage für Handlungen in der Zukunft wahrzunehmen weiß und wenn sie auf die aktive Rolle des geschichtlichen Bewußtseins im Prozeß der Veränderungen hinweist, kann sie wesentlich zur Integration der Kulturwissenschaften und des gesellschaftlichen Bewußtseins beitragen. Dieses Forschungsgebiet enthält wichtige theoretische Werte und eignet sich hervorragend zur Vertiefung des methodologischen Wissens der Historiker. Eine der Bedingungen für eine gute Ausführung all dieser Aufgaben ist die Vertiefung der marxistischen Methodologie der historiographischen Forschungen. Weiterhin ist erforderlich, daß die polnische Geschichte der Geschichtsschreibung den nationalen Rahmen verläßt und sich systematisch mit der geschichtlichen Kultur anderer Länder beschäftigt, vergleichende Untersuchungen anstellt, die eine objektivere Einschätzung der polnischen Erscheinungen gestatten. Ich habe hier eine Geschichte der Geschichtsschreibung mit einem vielseitigen Forschungsprogramm im Auge, die sich nicht nur auf die Geschichte der Geschichtswissenschaft beschränkt, sondern kühn - kühner als bisher - die weiten Räume der geschichtlichen Kultur betritt, die fähig ist, das weite Grenzfeld der Historiographie und der Literatur sowie der bildenden Kunst, der Philosophie, der Erziehung, der Politik usw. zu betreten. Die bisherigen Ergebnisse der Forschung in dieser Richtung sind vielversprechend.
2. Geschichtsmethodologie Die theoretische Reflexion über die Geschichte entwickelte sich in Polen erst nach 1956. Die Anfänge waren recht bescheiden. Die Nachkriegsjahre waren angefüllt mit mühseliger Arbeit, um die während des Krieges und der nazistischen Okkupation zerstörten wissenschaftlichen Arbeitsstätten wieder aufzubauen. Für eine tiefere und systematischere methodologische Reflexion reichte die Zeit nicht aus. Für diese Problematik interessierten sich zunächst nur einige, u. a. Kazider Geschichtsforschung), in: Wiek XVIII, Polska i swiat, Warszawa 1974, S. 51-61 (Das Buch ist Boguslaw Lesnodorski gewidmet); Serejski, M. H., Wolterianska koncepcja historii kultury (Voltaires Konzeption der Kulturgeschichte), in: Polska w swiecie. Szkice z dziejöw kultury polskiej, Warszawa 1972, S. 285-293; Wawrykowa, M., Zagadnienie roli panstwa w niemieckiej myäli historycznej pierwszej polowy X I X w. (Die Rolle des Staates in der deutschen Geschichtsidee der ersten Hälfte des 19. Jh.), in: Przeglqd Humanistyczny, 21, 1977, 5, S. 1-20. Hierher gehört noch die Abhandlung von Zywczynski, M., Narodziny i dzieje poj^cia historyzmu (Entstehung und Geschichte des Begriffs Historismus), in: Historyka, 10, 1967, S. 61-72.
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mierz Majewski, Kazimierz Tymieniecki, Witold Kamieniecki und Karol Görski.49 Die damaligen methodologischen Auffassungen wichen nicht weit von den traditionellen ab. Einen Teil der Arbeiten zeichnete ein spezifischer Eklektizismus aus, jedoch mit einem deutlichen Übergewicht in Richtung idealistischer Interpretationen und des historischen Relativismus, andere wiederum knüpften an die positivistische Konzeption der Geschichte an oder waren durch zu enge Erudition belastet. Erste, noch sehr schüchterne neue Tendenzen in der Geschichtsmethodologie waren einige Referate, besonders von Stanislaw Sreniowski, Boguslaw Lesnodorski, Ewa Maleczynska, Wanda Moszczeriska, Marian H. Serejski50, die auf dem ersten Kongreß der Polnischen Historiker nach dem Krieg (der Zählung nach war es der siebente; er fand vom 19. bis 22. September 1948 in Wroclaw statt) gehalten wurden. Diese Autoren betonten die Notwendigkeit, die polnische Geschichtsschreibung methodologisch zu verändern und dabei die Erkenntnisse des Marxismus stärker als bisher zu nutzen. Das methodologische Grundsatzreferat, das dem Kongreß von Roman Lutman eingereicht wurde, knüpfte jedoch noch an frühere, bürgerliche methodologische Konzeptionen an. Er repräsentierte den relativistischen Standpunkt und proklamierte u. a., daß es „in der Geschichtsschreibung nicht darum geht, ob und in welchem Maße sie die Wirklichkeit wiedergibt, sondern darum, daß auf der Grundlage von Quellen und festgestellten Fakten eine geschlossene, überzeugende, von inneren Widersprüchen freie Konstruktion geschaffen wird". 51 Die zweite Etappe, von 1949 bis 1956, war eine Zeit der Umgestaltung der methodologischen Grundlagen der polnischen Geschichtsschreibung, in der von ihr marxistische Prinzipien angenommen und enge Kontakte mit der sowjetischen 49
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Vgl. Majewski, K., Uwagi do metodologii historii kultury materialnej (Bemerkungen zur Methodologie der Geschichte der materiellen Kultur), Wroclaw 1948, S. 811.; Tymieniecki, K., Z metodyki badafi nad starozytnoSciami slowanskimi (Zur Methode der Erforschung der slawischen Altertümer), in: Przeglgd Historyczny, 37, 1948, S. 7-21; Kamieniecki, W,. O metodzie poröwnawczej w historii (Über die vergleichende Methode in der Geschichte), in: Kwartalnik Historyczny, 55, 1948, S. 3-23; Görski, K., O interpretacji i wartoiciowaniu w historii (Zur Interpretation und Wertung in der Geschichte), Lublin 1948, S. 30 ff. Vgl. Sreniowski, S., Zagadnienie metody historii ustroju Polski (Methodologische Probleme in der Geschichte der Gesellschaftordnung Polens), in: Pami^tnik VII Powszechnego Zjazdu Historyköw Polskich we Wroclawiu 19-22 wrzesnia 1948, 2, Warszawa 1948, 1, S. 1-9; Lesnodorski, B., Uwarunkowanie spoleczne faktöw historycznych i ich oceny (Die gesellschaftliche Bedingtheit der historischen Fakten und ihre Bewertung), in: Ebenda, S. 1-17; Maleczyfiska, E,. Rola kultury historycznej w dobie przebudowy ustroju spolecznego (Die Rolle der Geschichtskultur in der Zeit der Umgestaltung des Gesellschaftssystems), in: Ebenda, S. 29-31; Moszczenska, W., Zwiqzki mi^dzy badaniem a szerzeniem kultury historycznej (Verbindungen zwischen der Forschung und Ausbreitung der Geschichtskultur), in: Ebenda, S. 33-39; Serejski, M. H., Problematyka historii historiografli (Problematik der Geschichte der Geschichtsschreibung), in: Ebenda, S. 41-51. Lutman, R., Podstawy metodologiczne historiografli (Methodologische Grundlagen der Geschichtsschreibung), in: Ebenda, S. 28.
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Historiographie geknüpft wurden. Diese Neuorientierung vollzog sich gewissermaßen auf praktische Weise, vermittels engerer Kontakte mit der Sowjetwissenschaft und der Umgestaltung der Forschungsstätten; die Theorie hatte dabei geringen Anteil. In den Vordergrund rückte man damals ideologische Fragen, und sie dominierten auch in den methodologischen Polemiken jener Jahre. Man hat sich diese Polemik manchmal leicht gemacht, in dem man die A u f f a s s u n g e n und Positionen der Gegner ad absurdum führte. Dabei gab es vielerlei Vereinfachungen und Deklarativität. Der Anteil d e r Historiker an den methodologischen Auseinandersetzungen war nicht groß 52 ; es w a r die D o m ä n e der Philosophen, die mitunter über Probleme der Geschichte ohne genügende Sachkenntnis redeten, wie die Arbeiten v o n Zygmunt Baumann, Jerzy Wiatr 53 und A d a m Schaff zeigen 54 . Hauptereignis jener Zeit w a r zweifellos d i e 15tägige Methodologische Konferenz der polnischen Historiker, die i n Otwock zur Jahreswende 1951/52 unter Teiln a h m e zahlreicher Wissenschaftler organisiert wurde, die die Hauptforschungsstätten der polnischen Geschichtswissenschaft repräsentierten. Es w a r e n auch viele führende sowjetische Historiker sowie Vertreter der Partei- und Staatsorgane, der ideologischen Front usw. vertreten. 5 5 D i e Konferenz zeigte, w i e Ta52
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Vgl. z. B. Piwarski, K., Kryzys historiografli burzuazyjnej a materializm historyczny (Die Krise der Geschichtsschreibung und des historischen Materialismus), Kraköw 1950, S. 42 ff., Abdruck aus: Kwartalnik Historyczny, 57, 1950; Moszczenska, W., Rola zalozen teoretycznych w praktyce post^powania badawczego (Przyczynek metodologiczny do badan nad okresem wczesnodziejowym) (Die Rolle der theoretischen Grundsätze in der Praxis des Forschungsprozesses [Methodologische Anmerkungen zu den Forschungen zur Frühgeschichte]), in: Przeglqd Historyczny, 41, 1950, S. 70-101; dies., Informacja naukowa. Z zagadnien organizacji nauki historycznej (Wissenschaftliche Information. Zu Problemen der Organisation der Geschichtswissenschaft) in: Ebenda, 39, 1949, 1, S. 1-11. Vgl. Bauman, Z./Wiatr, J., O roli mas w historii (Über die Rolle der Massen in der Geschichte), in: Mysl Filozoficzna, 3, 1953, 4, S. 69-99. Dieser Artikel, der voller Vereinfachungen, schematischer Analysen und dogmatischer Urteile ist, rief eine lebhafte Diskussion hervor. Vgl. Mysl Filozoficzna, 4, 1954, 1, S. 361-370 (Beitrag von J. Bardach), sowie ebenda, 4, S. 331-385 (Besprechungen anderer Diskussionsbeiträge).
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Vgl. Schaff, A., Prezentyzm- dominujacy kierunek relatywistyczny we wspölczesnej historiografli amerykanskiej (Der Präsentismus, die dominierende relativistische Richtung in der zeitgenössischen amerikanischen Geschichtsschreibung), in: Kwartalnik Historyczny, 62, 1955, 4-5, S. 151-174; ders., Objektywny Charakter p r a w historii. Z zagadnien marksistowskiej metodologii historiografli (Der objektive Charakter der Gesetze der Geschichte. Zu Fragen der marxistischen Methodologie der Geschichtsschreibung), Warszawa 1955, S. 412 ff. Dieses Buch provozierte zahlreiche polemische Auseinandersetzungen. Vgl. Chalasinski, J., O obiektywizmie w humanistyce czyli „karly" i geniusze a nauka historyczna (Über den Objektivismus in der Humanistik oder „Zwerge" und Genies und die Geschichtswissenschaft), in: Kultura i Spoleczenstwo, 1, 1957, 1, S. 151-164; Lowmianski, H., Na marginesie zagadnienia praw historii (Am Rande des Problems der Gesetze der Geschichte), in: Mysl Filozoficzna, 6,1956, 4, S. 170-180.
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Vgl. Pierwsza Konferencja szawa 1953, S. 535, 585.
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Polskich,
Bde. 1-2, War-
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deusz Manteuffel in seinem Schlußwort erklärte, daß „man aufgehört hat, den Marxismus auf deklarative Weise zu betrachten und daß er f ü r die Mehrzahl der Teilnehmer in der Tat zu einer täglich angewandten wissenschaftlichen Methode geworden ist". Die Konferenz von Otwock spielte eine wichtige Rolle bei der Popularisierung der Prinzipien der marxistischen Methodologie, zeigte die vielfältigen Möglichkeiten und den großen Nutzen, die ihre Anwendung bei der Analyse konkreter Forschungsprobleme erbringt. Und obwohl man sich von einer gewissen Deklarativität und manchmal auch von starken Vereinfachungen und einem gewissen Schematismus bei der Analyse methodologischer Probleme nicht frei machen konnte, ist die Bilanz als insgesamt positiv anzusehen. Die Tage erbrachten zwar keine neuen Errungenschaften auf dem Gebiet der marxistischen Geschichtstheorie, regten die Historiker aber zum Nachdenken über die eigene Forschung an. Wie aus den veröffentlichten Materialien hervorgeht, fanden die mit der Periodisierung verbundenen Probleme, die Einschätzung historischer Fakten (Kriterien der Fortschrittlichkeit) und die vergleichende Geschichte der Völker das größte Interesse. Man wich auch Fragen aus dem Bereich der geschichtlichen Erkenntnistheorie nicht aus, aber diese Problematik stand, da sie mit der Forschungspraxis weniger verbunden war, bei weitem nicht im Vordergrund. Die Überlegungen der Philosophen zu dieser Thematik waren für die Historiker nicht besonders attraktiv. Eine neue Entwicklungsphase der polnischen Methodologie begann 1957. Gerard Labuda initiierte sie in seiner Studie „Versuch einer neuen Systematik und einer neuen Interpretation der historischen Quellen".86 Ein Jahr später erschienen die aufsehenerregenden Essays von Witold Kula „Überlegungen zur Geschichte", die einen Versuch der Abrechnung mit der vulgarisierten Version des Marxismus und der marxistischen Geschichtstheorie darstellen.67 Das Buch stieß auf großes Interesse und veranlaßte Stellungnahmen u. a. von K. Budzyk, J. Dutkiewicz und K. Grzybowski. Zwei Jahre später veröffentlichte Wanda Moszczenska ihre „Einführung zur geschichtlichen Forschung", die ein neues Verständnis des Forschungsprozesses in der Geschichte darlegte.68 Die Arbeit war als Skripte f ü r die Lehrer dieses Faches und die Studenten gedacht, gewann aber sofort große Bedeutung und wurde zum Ausgangspunkt f ü r viele weitere methodologische Überlegungen, besonders bei der Analyse solcher Fragen wie Verständnis des historischen Tatbestandes, Quellenkritik, Methoden zur Feststellung historischer Fakten usw. Große Wirkung hatten die „Studien zur Geschichtsmethodologie" von dem Philosophen Andrzej Malewski und dem Historiker Jerzy Topolski im Jahre i960.69 Das war die erste Arbeit zur Geschichtsmethodologie in Polen, die 56 57
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Studio, Zrödloznawcze, Bd. 1,1957, S. 3-52. Vgl. Kula, W., Rozwazania o historii (Überlegungen zur Geschichte), Warszawa 1958, S. 296 ff. Vgl. Moszczenska, W., Wst^p do badari historycznych (Einführung in die Geschichtsforschung), Warszawa 1960, S. 210 ff. (MS. vervielf.), Vgl. Malewski, A./Topolski, J., Studia z metodologii historii (Studien zur Methodologie der Geschichte), Warszawa 1960, S. 164ff. Inhalt des Buches: Der methodologische Charakter der Geschichte, Das Problem der Idiographie, Über einige Me-
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ziemlich harmonisch den historischen und den philosophischen Gesichtspunkt miteinander verband und sich auf die neuesten Erkenntnisse der allgemeinen Methodologie und der Verhaltenstheorie stützte. Und obwohl es den Autoren nicht gelang, gewisse Vereinfachungen bei der Anwendung des Begriffsapparates und bei der Analyse der methodologischen Probleme der Geschichte zu vermeiden, so waren doch die von ihnen erzielten Ergebnisse insofern anregend, als man später weitere Untersuchungen in derselben Richtung vornehmen konnte. Das Intéresse der polnischen Historiker an der methodologischen Problematik belebte auch die Übersetzung des Buches „Apologie pour l'Histoire ou Métier d'Historien" von Marc Bloteh, einem der führenden Vertreter der fortschrittlichen „Annales-Schule".60 Schließlich soll auch noch hingewiesen werden auf Publikationen derjenigen Philosophen und Logiker, die, da sie sich auf dem Boden der Geschichte nicht sicher genug fühlen, sich auf einige Probleme beschränkten, die mit der Erkenntnistheorie der Geschichte und der Logik der Geschichtsforschung verbunden sind.61 Diese Arbeiten hatten, obwohl sie von anderen, nichthistorischen Grundlagen ausgingen, einen positiven Einfluß auf die weitere Entwicklung der marxistischen Geschichtsmethodologie in Polen. Die 60er und 70er Jahre brachten eine weitere Verstärkung des Interesses an der methodologischen Problematik. Das fand seinen Ausdruck u. a. in den turnusgemäßen Beratungen der Allgemeinen Kongresse der Polnischen Historiker. Besondere Aufmerksamkeit widmete der X. Kongreß, der Jubiläumskongreß in Lublin (1969), der Geschichtsmethodologie. Auf diesem Kongreß wurden u. a. folgende Referate diskutiert: J. Topolski „Geschichte und Geschichtsmethodologie", S. Piekarczyk „Geschichte und Zeit - Bemerkungen zu Tendenzen in den Gesellschaftswissenschaften" und C. Bobinska „Zur Kontinuität und Variabilität der Geschichtswissenschaft".62 In der Sektion der Hilfswissenschaften hielt Ireneusz Ihnatowicz das Referat „Die Kybernetik und die Geschichtsforschung". Die methodologische Problematik wird auch von einigen Zeitschriften aufgegriffen, namentlich vom „Kwartalnik Historyczny". In der Nummer mit den meisten Beiträgen zu dieser Thematik erschienen fünf Artikel: S. Kieniewicz, „Zur Berufsethik des Historikers"; J. Topolski, „Moderne methodologische Probleme der Geschichtswissenschaften"; J. Zamojski, „Reflexionen über die neueste
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thoden der Faktenaufstellung, Bemerkungen zu Methoden der Geschichtsstatistik, Zur kausalen Klärung in der Geschichte. Vgl. Bloch, M., Pochwala historii czyli o zawodzie historyka (Lob der Geschichte oder der Beruf des Historikers), übertragen von W. Jedlicka, Durchsicht und Vorwort von W. Kula, Warszawa 1960. S. 235. Vgl. z. B. Malewski, A., Zagadnienie idiograficznoéci w historii (Das Problem der Idiographie in der Geschichte), in: Kwartalnik Historyczny, 65, 1958, 2, S. 464-479; Lazari-Pawlowska, 1., Idiograficzna koncepcja historii (Idiographische Geschichtskonzeption), ifl: Studia Filozoflczne, 2, 1958, 1, S. 14-41; Giedymin,J., Problemy logiczne analizy historycznej (Logische Probleme der Geschichtsanalyse), in: Studia Zrödioznawcze, Bd. 2, 1958, S. 1-39. Vgl. Pamiçtnik X Powszechnego Zjazdu Historykôw Polskich va Lublinie... Referaty, Bd. 2, Warszawa 1968, S. 159-186; Bd. 4, Referaty i dyskusja, Warszawa 1971, S. 325-361.
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Geschichte"; J. Bialostocki, „Bemerkungen über Fakten und Verallgemeinerungen aus der Kunstgeschichte", und J. Gockowski, „Soziotechnische Hauptlinien in der Geschichte der politischen Idee".63 Jährlich veröffentlicht der „Kwartalnik Historyczny" drei bis vier methodologische Arbeiten. Das ist keine hohe Kennziffer, man muß jedoch in Betracht ziehen, daß in Polen zwei Spezialzeitschriften für Probleme der Geschichtsmethodologie existieren, die „Studia Metodologiczne" und „Historyka". Forschungszentrum auf diesem Gebiet ist gegenwärtig die Universität in Poznañ und die führende Persönlichkeit Jerzy Topolski, ein hervorragender Kenner der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Polens der Neuzeit. In Poznañ erscheinen seit 1965 unter seiner Redaktion die „Studia Metodologiczne", die Problemen der Wissenschaftsintegration gewidmet sind. Bisher erschienen 16 Nummern dieser Zeitschrift. Neben Abhandlungen, Artikeln, Rezensionen und Besprechungen bringt sie auch eine nützliche Bibliographie polnischer Verlage zur Methodologie. Zweites Zentrum der Geschichtsmethodologie ist Warschau. Anfänglich lag Warschau vor Poznañ. Von 1963 bis 1969 wirkte im Rahmen des Instituts f ü r Geschichte bei der PAN die Methodologische Kommission, deren Gründerin und Vorsitzende die aus Krakow kommende Celina Bobiñska war. Die Ergebnisse der Arbeiten der Komission wurden in der Zeitschrift „Historyka", die seit 1967 erscheint, veröffentlicht. Ab Band III wird die „Historyka" von der Kommission für Geschichtswissenschaft der Abteilung der PAN in Krakow herausgegeben. Zentrum der methodologischen Studien in Warschau war der Lehrstuhl f ü r Geschichte der Geschichtsschreibung und Methodik des Geschichtsunterrichts an der Warschauer Universität, der von W. Moszczeñska geleitet wurde. Gegenwärtig sind diese Arbeiten im Institut f ü r Hilfswissenschaften und Geschichtsmethodologie unter Leitung von Aleksander Gieysztor konzentriert. Drittes methodologisches Forschungszentrum ist Kraków. Dessen Arbeitsresultate werden ebenfalls in der „Historyka" veröffentlicht (sieben Bände bis 1977). Redakteur der Zeitschrift, in der auch Historiker und Methodologen aus anderen Zentren sowie Wissenschaftler aus dem Ausland zu Worte kommen, ist C. Bobiñska. Zwei fundamentale Arbeiten der polnischen Geschichtsmethodologie, die von Wanda Moszczeñska64 und Jerzy Topolski® verfaßt wurden, sollen hier gesondert genannt werden. Beide erschienen 1968 und weckten lebhaftes Interesse bei den polnischen Wissenschaftlern. 66 Die Arbeit von W. Moszczeñska entstand bereits 1961 bis 1963; ihre 63 64
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Kwartalnik Historyczny, 81,1974, 3, S. 517-586. Vgl. Moszczeñska, W., Metodologii historii zarys krytyczny (Kritischer Abriß der Geschichsmethodologie), Warszawa 1968, S. 366 ff.; 2. verb. u. erw. Aufl., Einltg. v. J. Maternicki, Warszawa 1977, S. 560 ff. Topolski, J., Metodología historii (Geschichtsmethodologie), Warszawa 1968, S. 470 ff.; 2. verb. u. erw. Aufl., Warszawa 1973, S. 613. Die italienische Übersetzung erschien 1973, die englische 1967. Vgl. Nad metodologiq historii - polemika (Zur Geschichtsmethodologie - eine Polemik), in: Kwartalnik Historyczny, 77, 1970, 4, S. 879-905 (Beiträge von M. H. Se-
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Endredaktion - mit gewissen Kürztingen und Verbesserungen - wurde in den Jahren 1964 bis 1966 ausgeführt. In ihrem „Kritischen Abriß der „Gesdhichtsmethodologie" analysierte W. Moszczenska scharfsinnig die bisherigen Ansichten zum Forschungsprozeß in der Geschichte. Sie verbannte bewußt theoretische Probleme in den Hintergrund, die in den Bereich der historischen Erkenntnistheorie und der Theorie des Geschichtsprozesses gehören; sie beabsichtigte, sich damit in weiteren Bänden ihres Werkes zu befassen. Das Buch von W. Moszczenska zeichnet sich durch große Präzision des Begriffsapparates aus. Die Verfasserin zeigt, daß der historische Forschungsprozeß wesentlich komplizierter ist als bisher angenommen. Der originellste und wohl wertvollste Teil des Buches untersucht jene Forschungsprozeduren, denen sich der Historiker bei der Kritik der historischen Quellen unterzieht. Die subtilen, nicht leicht zu lesenden Überlegungen zur Quelleninformation, den sogenannten empirischen Daten und den Methoden der Feststellung der Fakten, eröffnen f ü r die Geschichtsmethodologie neue Möglichkeiten auf dem Gebiet der Analyse des Forschungsinstrumentariums des Historikers. W. Moszczenska bemüht sich nicht, eine Lösung für jedes der anstehenden Probleme zu finden; in vielen Fällen beschränkt sie sich auf die Kritik der bisherigen Überlegungen und auf die Formulierung des weiteren Forschungsprogramms. Bei vollem Verständnis der Rolle der theoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft akzentuiert sie doch stark deren empirischen Charakter. Unter vielen Gesichtspunkten anders ist die „Geschichtsmethodologie" von J. Topolski angelegt - eine sehr anspruchsvolle Arbeit, die die Ganzheit der Probleme der Geschichtstheorie und -methodologie umfaßt. Der Verfasser beschränkt sich nicht auf die Besprechung der Forschungsprozeduren, sondern berücksichtigt auch die geschichtliche Erkenntnistheorie sowie die Theorie des Geschichtsprozesses. J. Topolskis Überlegungen sind von der marxistischen Philosophie geprägt. Der Autor verwertet auch Erkenntnisse der allgemeinen Methodologie und der Informationstheorie sowie teilweise der Semiotik und der Kybernetik. Die Anwendung des Begriffsapparates dieser Wissenschaften ermöglicht in vielen Fällen eine Präzisierung der methodologischen Beschreibung, aber gleichzeitig verringert sie die Kommunikation der Darlegung und wurde so zu einer Quelle vieler Mißverständnisse zwischen Autor und Leser. Das Buch Topolskis enthält viele originelle Formulierungen, die man manchmal als Neuschöpfungen bezeichnen kann. Interessant ist u. a. Teil II „Modelle der Geschichtsforschung" angelegt, der eine Typologie der historisch-methodologischen Reflexion vom antiken Griechenland bis hin zu den neuesten strukturarejski, W. Moszczenska, J. Topolski, A. F. Grabski, J. Zarnowski, Z. Rogoziriski, J. Maternicki); Maternicki, J., Niektöre problemy teorii i metodologii historii. Na marginesie ksiqzki J. Topolskiego, Metodologia historii (Einige Probleme der Geschichtstheorie und -methodologie. Randbemerkungen zum Buch von J. Topolski, Geschichtsmethodologie), in: Studia Zrödloznawcze, Bd. 15, 1971, S. 151-166; ders., Metodologiczne problemy historii (Methodologische Probleme der Geschichte), in: Studia Filozoficzne, 1970, 1, S. 209-214; Piekarczyk, S., Propozycje teorii woköl „Metodologii historii". J. Topolskiego (Möglichkeiten der Theorie. Zur „Geschiditsmethodologie" von J. Topolski), in: Historyka, Bd. 4, 1974, S. 149-159.
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lislischen und dialektischen „Modellen" enthält. Beachtung verdient auch die Theorie vom Quellenwissen und vom Nichtquellenwissen sowie die Polemik des Verfassers mit unmarxistischen Konzeptionen der geschichtlichen Erkenntnis. Der Autor wehrt sich gegen die Auffassung des Erkenntnis- bzw Forschungsprozesses als mehr oder weniger einfache „Widerspiegelung" des Objekts durch das erkennende Subjekt. J. Topolski präsentiert einen „aktivistischen" Standpunkt und betont die aktive Rolle des erkennenden Geistes (des Forschers) im Erkentnisprozeß und hebt die Bedeutung des sogenannten Nichtquellenwissens hervor. In diesem Zusammenhang kritisiert er die positivistische Theorie des historischen Tatbestandes und spricht sich f ü r dessen dialektisches Begreifen aus. In bezug auf den geschichtlichen Prozeß widersetzt sich Topolski jeglichen Theorien, die einen irrationalen Charakter der menschlichen Handlungen (LéviStrauss, Freud, Fromm) annehmen, sowie allen Versuchen einer fatalistischen Auffassung der historischen Wirklichkeit (Hegelismus, Thomismus, schlecht verstandener Marxismus, Strukturalismus nach Lévi-Strauss, psychoanalytische Theorien). Topolski vertritt die These von der Rationalität der menschlichen Handlungen und unterstreicht, daß der Einfluß der Bedingungen auf die menschlichen Handlungen sich mittelbar vollzieht, vermittels des Wissens des Handelnden um diese Bedingungen. Die menschlichen Handlungen müssen als Aktivität der Individuen oder Gruppen verstanden werden, in denen der Mensch handelt. Diese Richtlinie ist eine der Voraussetzungen für die von ihm vertretene Konzeption der Geschichte, die sich auf das Modell von C. G. Hempel stützt, aber gleichzeitig viele eigene originale Gedanken enthält. J. Topolski mißt auch dem historischen Bewußtsein große Bedeutung bei und sieht in ihm einen der Hauptbestandteile f ü r das aktivierte gesellschaftliche Bewußtsein. Dieser Problematik hat er ein eigenes Buch gewidmet67, das Ausgangspunkt f ü r weitere Überlegungen zu diesem Thema wurde. Die polnische Geschichtsmethodologie zeigt auch Interesse f ü r die Leistungen der Geschichtsschreibung anderer Länder. Ausdruck dessen sind die Ubersetzungen der methodologischen Werke solcher Autoren wie Igor Kon, Philip Bagby und Fernand Braudel.68 In den polnischen wissenschaftlichen Zeitschriften der 70er Jahre wurden ca. 30 methodologische Artikel von sowjetischen, französischen, englischen, amerikanischen, deutschen, ungarischen und italienischen Historikern und Methodologen veröffentlicht. In diesem Zusammenhang sei auch auf kritische Übersichten und Abhandlungen über einige methodologische Strömungen in der modernen Geschichtsschreibung des Westens hingewiesen.69 67
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Vgl. Topolski, J., Swiat bez historii (Welt ohne Geschichte), Warszawa 1972, S. 243 ff. Diese Arbeit erschien in einer Serie von populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen des Verlages „Wiedza Powszechna", 2. Aufl. 1967. Vgl. Kon, I., Idealizm fllozoflczny a kryzys burzuazyjnej mysli historycznej (Der philosophische Idealismus und die Krise der bürgerlichen Geschichtsidee), Übersetzung aus dem Russischen von E. Grodzinski, Warszawa 1967 ; Bagby, P., Kultura i historia (Kultur und Geschichte), übersetzt von J. Jedlicki, Vorwort von J. Topolski, Warszawa 1975; Braudel, F., Historia i trwanie (Geschichte und Dauer), Warszawa 1971. Als Beispiel kann man hier folgende Publikationen anführen: Grabski, A. F.,
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Die Besprechung der Hauptrichtungen der polnischen Geschichtsmethodologie beginnen wir mit Arbeiten zur Theorie des Geschichtsprozesses. Es sind ihrer nicht viele, da diese Problematik hauptsächlich von den Philosophen behandelt wird. Zbigniew Kuderowicz stellte die Entwicklung der Geschichtsphilosophie vom 18. bis 20. Jh. vor.70 Einige Richtungen der modernen Reflexion auf diesem Gebiet wurden in dem Sammelwerk „Probleme der Geschichtsphilosophie" besprochen.71 Von den zahlreichen Arbeiten über den historischen Materialismus nennen wir hier stellvertretend nur das Buch von Stanislaw Kozyr-Kowalski und Jaroslaw Ladosz.72 Was die Historiker betrifft, so zeigt J. Topolski das größte Interesse an dieser Problematik. Er hat in einigen Arbeiten eine marxistische Konzeption des Geschichtsprozesses entwickelt. „Die aktivistische Konzeption von Marx", so stellte er fest, „steht allen fatalistischen Interpretationen der menschlichen Handlungen konträr gegenüber, in deren Licht diese Handlungen entweder bedingt sind durch in bezug auf den Menschen äußere Faktoren (wie Gott, geographische Umwelt, sich selbst realisierender Fortschritt, .objektives' Recht usw.) oder durch Faktoren, die wirklich mit dem Menschen als biologischem oder psychischem Individuum verbunden sind, aber nicht vom Willen des Menschen abhängen (z. B. Freudsche Komplexe, überzeitliche Strukturen des menschlichen Geistes nach Lévi-Strauss usw.). Für den marxistischen Aktivismus ist charakteristisch, daß er die menschlichen Handlungen einerseits als Resultate einer bewußten und auf die Realisierung eines bestimmten Zieles gerichteten Entscheidung betrachtet und andererseits als Handlungen, die be-
Prace historyków tomskich z zakresu metodologii historii i historii historiografii (Arbeiten der Historiker von Tomsk zur Geschichtsmethodologie und zur Geschichte der Geschichtsschreibung), in: Historyka, Bd. 3, 1972, S. 117-127; Moszczeüska, W., O sprzecznoäciach wewn^trznych „programowego" subiektywizmu. W. sprawie ksi^zki H. I. Marrou (Über die inneren Widersprüche des „programmierten" Subjektivismus. Zum Buch von H. I. Marrou), in: Kwartalnik Historyczny, 65, 1958, 2, S. 440-463; Madurowicz-Urbanska, H., Na marginesie rowazan o strukturze i strukturalizmie w nowszej literaturze francuskiej (Randbemerkungen an den Überlegungen zur Struktur und zum Strukturalismus in der neueren französischen Literatur), in: Historyka ,Bd. 1, 1967, S. 93-116; Topolski, J., Strukturalizm Lévi-Straussa a historia (Der Strukturalismus von C. Lévi-Strauss und die Geschichte), in: Elementy marksistowskiej metodologii humanistyki, red. J.Kmity, Poznan 1973, S. 362-382; ders., Lévi-Strauss and Marx on history, in: History and Theorie, 1973, 2, S. 192-207; ders., Co to jest psychohistoria (Was ist Psychogeschichte), in: Miesi^cznik Literacki, 1974, 2, S. 99-106. 70
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Vgl. Kuderowicz, Z., Filozofia dziejów. Rozwój problemów i staniowisk (Geschichtsphilosophie. Entwicklung der Probleme und Standpunkte), Warszawa 1973, S. 263 ff. Problemy filozofii. Praca zbiorowa pod red. J. Litwina (Probleme der Philosophie, Sammelband, Red. J. Litwin), Wroclaw/Warszawa/Kraków/Gdansk 1974, S. 232 ff. In diesem Buch werden auch einige moderne Theorien der historischen Erkenntnis besprochen (u. a. von Ch. A. Beard). Vgl. Kozyr-Kowalski, S./Ladosz, J., Dialektyka a spoleczenstwo. Wst^p do materializmu historycznego (Dialektik und Gesellschaft. Einführung in den historischen Materialismus), 3. Aufl., Warszawa 1967.
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stimmte objektive Wirkungen erzielen, die nicht immer mit den subjektiven Absichten der Individuen übereinstimmen. Außerdem kommt hier die These von dem zweiseitigen (symmetrischen) Zusammenhang zwischen Handlungsbedingungen und Handlungen sowie von der aktiven Rolle des Bewußtseins der Handelnden bei der Aufstellung des Zieles und der Art des Handelns ins Spiel."73 Im Bereich der geschichtlichen Erkenntnistheorie ist die Situation ähnlich; es beschäftigen sich damit sowohl die Philosophen wie auch die Historiker. In den 60er Jahren erschien das kontroverse Buch von Stefan Swiezawski über die Geschichte der Philosophie74, das viele Überlegungen zur geschichtlichen Erkenntnis überhaupt enthält, die jedoch von der Position des metaphysischen Thomismus aus analysiert wird. Vom Standpunkt des Marxismus unterzog diese Jan Legowicz der Kritik. 75 Großes Interesse rief ebenfalls das Buch von A. Schaff76 hervor, das viele, mitunter sehr interessante Gedanken zur geschichtlichen Erkenntnis enthält, die jedoch nicht frei sind von gewissen Vereinfachungen und Deformationen und zudem eine ziemlich eigenartige Auffassung vom Marxismus und ungenügende Kenntnis von der Art und Weise der geschichtlichen Forschung widerspiegeln. 77 Tadeusz Pawlowski, der sich u. a. mit typologischen Begriffen in den Geschichtswissenschaften befaßte, analysierte von der Position der allgemeinen Wissenschaftsmethodologie einige Probleme der Geschichtserkenntnis. 78 Wenden wir uns nun den Arbeiten der Historiker zu. C. Bobinska stellte noch in den 60er Jahren Überlegungen zum Begriff des geschichtlichen Tatbestandes sowie über den Nutzen und die Gefahr der historischen Distanz an. Auch beschäftigte sie sich mit der Leninschen Konzeption der Geschichtserkenntnis. 79 Einen echten Beitrag zur Entwicklung der marxistischen Theorie der Geschichtserkenntnis erbrachte J. Topolski, der u. a. die Aufmerksamkeit auf den integrierenden Sinn des historischen Materialismus lenkte, seine Konzeption des Nichtquellenwissens entwickelte, die Bedeutung der Verhaltenstheorie f ü r die Aufklärung der Geschichte diskutierte und sich mit dem Problem der Zeit in der
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Topolski, J., Aktywistyczna koncepcja procesu dziejowego (Aktivistische Konzeption des Geschichtsprozesses), in: Studia Filozoficzne, 1972, 2, S. 121. Vgl. Swiezawski, S., Zagadnienie historii filozofli (Das Problem der Philosophiegeschichte), Warszawa 1966, S. 896 ff. Vgl. Legowicz, J., Spör o historii filozofli i istotQ nauki historycznej (Auseinandersetzung um die Philosophiegeschichte und das Wesen der Geschichtswissenschaft), in: Historyka, Bd. 2, 1969, S. 169-173. Vgl. Schaff, A., Historia i prawda (Geschichte und Wahrheit), Warszawa 1970, S. 333. Vgl. die Polemik bei Topolski, J., O dochodzeniu do prawdy w historii (Über die Wahrheitsfindung in der Geschichte), Warszawa 1971, S. 76 ff. Vgl. Pawlowski, T., Poj^cia typologiczne w naukach historycznych (Typologische Begriffe in den Geschichtswissenschaften), in: Studia Metodologiczne, 1967, 3, S. 3-18. Vgl. Bobinska, C., Historyk - fakt - metoda (Historiker - Fakt - Methode), Warszawa 1964, S. 286 ff.
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geschichtlichen Narration beschäftigte.80 In einer seiner Arbeiten behandelte er auch die Bedeutung des leninistischen Denkens für die Geschichtsschreibung.81 Einen besonderen Platz in der polnischen Geschichtsmethodologie nimmt Stanislaw Piekarczyk ein.82 Er setzte sich zum Ziel, die Umgangssprache des Historikers mit Hilfe einer „mathematischen Modellierung" zu präzisieren. Bei der Analyse der methodologischen Probleme bedient er sich eines Apparates, der mit der Mengentheorie, der Informationstheorie, der Semiotik und der Kybernetik' verknüpft ist. Seine Arbeiten, die voller komplizierter Symbole und schwerverständlicher mathematisch-logischer Formeln sind, stießen auf die Kritik einiger Historiker.83 Es wurde der Befürchtung Ausdruck gegeben, daß die Umgestaltung der Sprache des Historikers - die Verbannung der geläufigen Ausdrücke und die Übernahme der Terminologie der Mengentheorie - nicht zu einer Bereicherung des geschichtlichen Wissens beiträgt, sondern die Kommunikativität der Arbeiten verringert. Die Diskussion dazu geht weiter, zweifellos zum Nutzen der Wissenschaft. Die Bewertung der Vorschläge von S. Piekarczyk wird dadurch erschwert, daß sie bisher noch nicht in die Praxis überführt worden sind; der Autor realisierte seine Postulate in seinen Forschungen nicht. Was Detailprobleme angeht, wurden am häufigsten solche diskutiert, die mit dem Begriff, der Systematik und der Interpretation der geschichtlichen Quellen verbunden sind. Viel Aufmerksamkeit widmete diesen Fragen der Logiker Jerzy Giedymin, der sich in seinem Buch „Zu logischen Problemen der Geschichtsanalyse" mit den „sprachlichen Mängeln" der bisherigen Klassifikation der ge80
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Vgl. Topolski, J., Integracyjny sens materializmu historycznego (Der integrierende Sinn des historischen Materialismus), in: Studia Metodologiczne, 1965, 1, S. 5-22; ders., O poj^ciu i roli wiedzy pozazrödlowej w badaniu historycznym (Uber den Begriff und die Rolle des Außerquellenwissens in der Geschichtsforschung), ebenda, 1967, 3, S. 19-32; ders., O znaczeniu teorii zachowania dla wyjasniania historycznego (Zur Bedeutung der Verhaltenstheorie für die Klärung des Geschichtsprozesses), ebenda, 1968, 5, S. 21-34; ders., Czas w narracji historycznej (Die Zeit in der geschichtlichen Narration), ebenda, 1973, 10, S. 3i-23. Im Sammelband W krqgu inspiracji Leninowskich, Wroclaw/Warszawa/Kraköw/ Gdansk 1971. Vgl. Piekarczyk, S., Historia - kultura - poznanie. Ksiqzka propozycji (Geschichte Kultur - Erkenntnis. Angebote), Warszawa 1972, S. 394 ff.; ders., Historyk i matematyka wspöiczesna (Der Historiker und die moderne Mathematik), in: Przeglqd Historyczny, 63, 1972, 1, S. 109-127; ders., Dylematy ontologicznych przeslanek nauk historycznych. Z metodologicznych rozwazan o czlowieku logicznym i racjonalnym (Dilemma der anthologischen Prämissen der Geschichtswissenschaft. Zu methodologischen Überlegungen über den logischen und rationalen Menschen), in: Cultus et cognito, Studia z dziejow sredniowiecznej kultury, Warszawa 1967, S. 427-434; ders., Rozwaznania o poznaniu historycznym (Überlegungen zur Geschichtserkenntnis), in: Studia Zrödloznawcze, 20, 1967, S. 141-162; ders., Poznanie a wartosci. Z metodologicznych deliberacji nad historiq kultury intelektualnej (Erkenntnis und Werte. Methodologische Überlegungen zur Geschichte der Geisteskultur), ebenda, 21, 1976, S. 1-17. Vgl. Przeglq,d Historyczny, 63, 1972, 1, S. 129-144 (Beiträge von B. Geremek, I. Ihnatowicz, Z. Landau, J. Topolski und B. Zientara sowie eine Replik von S. Piekarczyk).
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schichtlichen Quellen beschäftigte und die Rolle von Hypothesen bei der Analyse und der Kritik der Quellen sowie einigen logischen Aspekten der Schlußfolgerung auf der Grundlage von Quellenzeugnissen behandelte. 84 C. Bobinska betonte u. a. die Notwendigkeit der Anwendung von Klassenkriterien bei der Quellenkritik.® In Verbindung mit der erwähnten Abhandlung von G. Labuda äußerten sich u. a. Jôzef Matuszewski, Benon Miskiewicz und Jerzy Topolski zu der in dieser Darstellung gegebenen Definition und der Einteilung der geschichtlichen Quellen.86 Kiystyna Kersten wies auf die aktive Rolle des Historikers im Prozeß der Schaffung der Quellengrundlage für die eigene Forschung hin.87 J. Topolski unternahm den Versuch einer „dynamischen" Charakteristik der geschichtlichen Quellen.88 Im Grenzgebiet zwischen Methodologie und Quellenkunde muß man einige Abhandlungen und Artikel ansiedeln, die sich mit Quellen verschiedener Art befassen: mit Memoiren, Berichten, ikonographischen, statistischen Quellen usw. Einige dieser Arbeiten gehen über die Fachthematik hinaus und greifen eine breitere methodologische Problematik auf. Eine größere Gruppe von Arbeiten zur Methodologie verbindet sich mit dem Streben der polnischen Geschichtsschreibung nach Modernisierung des Forschungsinstrumentariums. Eine der ersten Untersuchungen auf diesem Gebiet war die von Tadeusz Jçdruszczak über die Möglichkeit der Anwendung von Rechnern bei der Analyse komplizierter Probleme der politischen Geschichte.89 Uber die Nutzung quantitativer Methoden in der Geschichtsforschung äußerten sich u. a. C. Bobinska, A. Gradowska, H. Kotarski, J. Rychlikowa, H. Florkowska u. a.90 Uber die Anwendung von Computern schrieben A. Wyczariski, K. Wyczan84 85 86
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Vgl. Giedymin, Z prolemôw logicznych analizy historycznej, S. 80. Siehe Bobinska, Historyk - fakt - metoda, S. 59 ff. Vgl. Matuszewski, J., O pröbie nowej systematyki zrödel historycznych (Versuch einer neuen Systematik der geschichtlichen Quellen), in: Studia Metodologiczne, 1958, 4, S. 17-50; Miékiewicz, B., W sprawie pröby wyiaäniania i klasyflkacji zrödel historycznych (Versuch einer Klärung und Klassifizierung der geschichtlichen Quellen), ebenda, S. 51-62; Topolski, J.t Metodolgiczne klasyflkacje zrödel historycznych (Methodologische Klassifikation geschichtlicher Quellen), in: Podstawy dydaktyczne nauk pomocniczych historii, Katowice 1972, S. 7-20. Vgl. Kersten, K., Historyk - twörca zrödel, in: Kwartalnik Historyczny, 78, 1971, 2, S. 313 ff. Vgl. Topolski, J., Refleksje na temat teorii zrödla historycznego (Überlegungen zur Theorie der geschichtlichen Quelle), in: Historyka, Bd. 6, 1976, S. 19-41. Vgl. Jçdruszczak, T., Zastosowanie maszyn matematycznych w badaniach historycznych (Die Anwendung mathematischer Maschinen in der Geschichtsforschung), in: Studia Metodologiczne, 1967, 3, S. 67-77. Vgl. Bobinska, C./Gradowska, AJKotarska, H., O badaniach kwantytatywno-strukturalnych nad oporem antyfeudalnym wsi (Zu den quantitativ-strukturellen Forschungen zum antifeudalen Widerstand des Dorfes), in : Historyka, Bd. 2, 1969, S. 99-110; Rychlikowa, I., Nowa séria radziecka oparta o komputery (Neue sowjetische Serie, gestützt auf Rechner), in: Ebenda, Bd. 4, 1974, S. 71-92; Florkowska, H., Przeglgd ujçc ilosciowych w Annales, Économie, Société, Civilisation w ostatnich latach (Übersicht über die quantitativen Erfassungen in Annales, Économie, Société, Civilisation in den letzten Jahren), in: Ebenda, S. 93-104.
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ska und K. Subieta. 91 Im November 1973 organisierte das Institut für Geschichte bei der P A N in Warschau eine mehrtägige internationale Konferenz, deren Hauptthema die Anwendung von quantitativen Methoden in der Geschichtsforschung war. Die Materialien dieser Konferenz erschienen im Jahre 1974.92 Sie weckten lebhaftes Interesse bei den polnischen Historikern. Es gibt jedoch auch Stimmen, die die traditionelle philologische Methode verteidigen. 93 Ein bedeutender Teil methodologischer und verwandter Arbeiten berührt Werkstattprobleme der einzelnen Geschichtsdisziplinen. A m lebhaftesten wurden Probleme der Wirtschaftsgeschichte diskutiert. Dabei ist besonders das Buch von W. Kula 94 hervorzuheben - ein grundlegendes Werk, das sich auf die Forschungserfahrung des Autors und auf gewissenhaft ausgewertete Literatur stützt, heute aber teilweise schon nicht mehr aktuell ist. W. Kula beschäftigte sich auch mit der Modellanalyse in der Wirtschaftsgeschichte. H. Madurowicz-Urbanska besprach einige Probleme, die mit der Regionalisierung historisch-wirtschaftlicher Erscheinungen verbunden sind. J. Topolski unternahm den Versuch, die Modellmethode unter einem anderen Gesichtswinkel zu betrachten. 95 In diesem Zu91
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Wyczanski, A., Wspólpraca historyka z komputerem (Arbeit des Historikers mit dem Computer), in: Kwartalnik Historyczny, 83, 1976, 1, 65-73; Wyczanska, K., System informacyjny „Wielka Emigracja" (Informationssystem „Wielka Emigracja"), in: Ebenda, S. 74-77; Subieta, Z., Zalozenia systemu informacjnego „Wielka Emigracja" (Grundlagen des Informationssystems „Wielka Emigracja), in: Ebenda, S. 78-89. Vgl. Historia i nowoczesnosc. Problemy unowoczesnienia metodologii i warsztatu badawczego historyka, Red. J. Leskiewiczowej/S. Kowalskiej-Glikman (Geschichte und Neuzeit. Probleme der Modernisierung der Methodologie und des Forschungsinstrumentariums des Historikers), Wroclaw/Warszawa/Kraków/Gdansk 1974, S. 354 ff. Einige Titel von Referaten und Beiträgen polnischer Historiker : Topolski, J., Konkretyzacja ilosciowa w metodzie modelowej w historii gospodarczej (Quantitative Konkretisierung in der Modeilmethode in der Wirtschaftsgeschichte) ; Piekarczyk, S., Metody kwantytatywne a matematyka w historii. Pròba metodologicznej penetracji (Quantitative Methoden und die Mathematik in der Geschichte. Versuch einer methodologischen Durchdringung) ; Góralski, A., Semi-deterministyczny model zmiennoéci resu i jego aplikacja historyczna (Das Semideterministische Modell der Variabilität und seine Anwendung in der Geschichte) ; Mqczak, A., Ceny, place i koszty utrzymania w Europie érodkowej. W poszukiwaniu nowych zródel do dziejów XVI w. (Preise, Löhne und Lebenshaltungskosten in Mitteleuropa. Auf der Suche nach neuen Quellen zur Geschichte des 16. Jh.) ; Czyzewski, A., Zastosowanie analizy czynnikowej w badaniach procesów urbanizacyjnych (Anwendung der Faktorenanalyse in den Forschungen zu Urbanisationsprozessen). Darüber hinaus wurden einige andere Referate und Beiträge u. a. von sowjetischen, französischen, deutschen, tschechischen, ungarischen Historikern veröffentlicht. Vgl. Szymanski, 3., O potrzebie stosowania metod filologicznych w badaniach historycznych (Über die Notwendigkeit der Anwendung von philologischen Methoden in der Geschichtsforschung), in: Historyka, Bd. 7, 1977, S. 57-68. Vgl. Kula, W., Problemy i metody historii gospodarczej (Probleme und Methoden der Wirtschaftsgeschichte), Warszawa 1963, S. 786 ff. Vgl. ders., Analiza modelowa w historii gospodarczej (Modellanalyse in der Wirtschaftsgeschichte), in: Historyka, Bd. 1, 1967, S. 41-50: Madurowicz-Urbanska, H.,
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sammenhang soll auch auf ein früheres Buch von Kazimierz Moszyñski hingewiesen werden, das eine Reihe von methodologischen Überlegungen enthält, die nicht nur für den Archäologen, sondern auch für den Historiker von Interesse sein können. 96 Methodologische Probleme der Geschichte des Staates und des Rechts sowie der Geschichte der politischen Doktrinen untersuchten u. a. Boguslaw Lesnodorski, Stanislaw Grodziski, Kazimierz Opalek und Marek Sobolewski. 97 Mit den theoretischen Grundlagen der militärgeschichtlichen Forschung befaßte sich u. a. B. Miskiewicz. 98 Bearbeitet wurden auch methodologische und damit im Zusammenhang stehende Probleme der Geschichte des Bildungswesens, der Geschichte der Wissenschaft und Technik und überhaupt der Kulturgeschichte. 99 Metodologiczne i metodyczne aspekty regionalizacjii historyczno-gospodarszej (Methodologische und methodische Aspekte der historisch-ökonomischen Regionalisierung), ebenda, Bd. 5, 1975, S. 47-67; Topolski.J., The Model Method in Economic History, in: The Journal of European Economic History, 1973, vol, 1, Nr. 3, S. 713>-726. 96 Vgl. Moszyñski, K., O sposobach badania kultury materialnej Praslowian (Über Methoden zur Erforschung der materiellen Kultur der Urslawen), Wroclaw/Kraków/Warszawa 1962, S. 293 ff. 97 Vgl. Bardach, J., Metoda porównawcza w zastosowaniu do powszechnej historii paristwa i prawa (Die vergleichende Methode angewendet auf die allgemeine Geschichte des Staates und des Rechts), in: Czasopismo Prawno-Historyczne, 14, 1962, 2, S. 9-57; Leánodorski, B., Historia prawa wsród innych nauk historycznych (Die Geschichte des Rechts im Kreise der anderen historischen Disziplinen), ebenda, 16, 1964, 1, S. 305-320; Grodziski, S., Uwagi o historii prawa, jej miejscu wáród nauk historycznych i nazwie (Bemerkungen zur Geschichte des Rechts, über ihren Platz im Kreise der historischen Wissenschaften), in: Historyka, Bd. 3, 1972, S. 3-21; Sobolewski, M., Niektóre problemy teorii i metodologii historii doktryn politycznych (Einige Probleme der Theorie und Methodologie der Geschichte der politischen Doktrinen), ebenda, Bd. 6,1976, S. 3-17. 98 Vgl. Miskiewicz, B., O metodyce badan historyczno-wojskowych (Uber die Methodik der historisch-militärischen Forschungen), Poznan 1961, S. 59ff.; ders., O kierunek dalszego rozwoju nauki historyczno-wojskowej (Die Richtung der weiteren Entwicklung der historisch-militärischen Wissenschaft), in: Studia Metodologiczne, 1965, 1, S. 73-89; ders., Z zalozeri metodologicznych studiów nad dziejami polskiej historiografli wojskowej (Methodologische Grundsätze der Studien zur Geschichte der polnischen Militärhistoriographie), in: Studia z dziejów polskiej historiografli wojskowej, S. 15-34. "Vgl. z. B. Z zagadnieñ metodologicznych historii wychowania. Sprawozdanie z symp o z j u m . . . (Zu methodologischen Fragen der Geschichte der Erziehung. Bericht vom Symposium...), bearb. von S. Truchim, Lódz 1965, S. 66 ff.; Michalski, S., Miejsce historii wychowania w systemie nauk humanistycznych (Der Platz der Geschichte der Erziehung im System der Geisteswissenschaften), in: Studia Metodologiczne, 1970, 7, S. 43-54; Suchodolski, B., O powszechnej i polskiej historii nauki (Uber die allgemeine und polnische Wissenschaftsgeschichte), in: Historia nauki polskiej, Bd. 1, Wroclaw/Warszawa/Kraków 1970, S. 9-71; Kowalewski, Z., Historia nauki a naukoznawstwo (Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftskunde), in: Kwartalnik Historii Nauki i Techniki, 15, 1970, 3, S. 471-485; Lesnodorski, B., 30 J a h r b u c h 23
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Man wandte sich ebenfalls wieder einigen Problemen der Methodologie der politischen Geschichte zu.100 Eine gesonderte Gruppe bilden die Arbeiten, die die Verbindungen der Geschichte mit anderen Gesellschaftswissenschaften untersuchen. Größte Aufmerksamkeit wurde der Soziologie und der Anwendung ihrer Methoden in der Geschichtsforschung gewidmet. In der letzten Zeit wurde diese Taktik u. a. von Konstanty Grzybowski, Jerzy Wiatr, Celina Bobinska, Franciszek Ryszka und Marek Sobolewski aufgegriffen. Den größten methodologischen Wert haben, w i e es scheint, die Überlegungen von J. Topolski zu diesem Thema. 101 Ziemlich lebhaft werden Probleme der sog. Geschichtspsychologie 102 diskutiert, es mangelt auch nicht an Arbeiten über die wechselseitigen Verbindungen zwischen Geschichte und Ökonomie und den politischen Wissenschaften. 103 Besondere Erwähnung verdienen die Arbeiten, die die gesellschaftliche Bedingtheit des geschichtlichen Wissens und seiner Rolle im gesellschaftlichen Leben untersuchen. Dieses Problem war schon wiederholt von den Historikern aufgegriffen worden, u. a. von M. H. Serejski. 104 Viele interessante Anmerkungen Historia nauki i techniki wsröd nauk o kulturze (Geschichte der Wissenschaft und Technik im Kreise der Kulturwissenschaften), ebenda, 19, 1974, 3, S. 445-461; Suchodolski, B., O nowq koncepcj? historii kultury polskiej (Eine neue Konzeption der polnischen Kulturgeschichte), ebenda, 20,1975, 3-4 S. 435-449. loa vgl z b. Sobolewski, M., Jak pisal histori^ partii politycznych (Wie schreibt man eine Geschichte der politischen Parteien?), in: Historyka, Bd. 5, 1975, S. 69-80. 101 Vgl. Grzybowski, K., Socjologia a historia (Soziologie und Geschichte), ebenda, Bd. 2, 1967, S. 3-18; Wiatr, J., Socjologia jako nauka historyczna (Die Soziologie in der Geschichtswissenschaft), ebenda, Bd. 4, 1974, S. 105-111; Bobinska, C., Generalizacja historyczna (Historische Verallgemeinerungen), ebenda, S. 113-116; Ryszka, Fr., Jeszcze raz o historii i socjologii (Noch einmal über Geschichte und Soziologie), ebenda, S. 117-124; Sobolewski, M., Socjologia jest takze naukq historyczna (Die Soziologie ist auch eine Geschichtswissenschaft), ebenda, S. 125-128; Topolski, J., Historycy wobec socjologii (Die Historiker und die Soziologie), in: Teoria i badania socjologiczne a praktyka spoleczna. Wybör materialow, Red. A. Kwilecki, Warszawa 1972. loa vgl. Geremek, Br., Umyslowosd i psychologia zbiorowa w historii (Mentalogie und Sozialpsychologie in der Geschichte), in: Przeglqd Historyczny, 53, 1962, 4, S. 629 bis 644; Banaszkiewicz, J., Nerwice poleczne jako problem badawczy dla historyka (Gesellschaftliche Neurosen als Forschungsproblem für den Historiker), in: Historyka, Bd. 3, 1972, S. 103-116; L,ewicki,P., O psydhologii historycznej (Zur Geschichtspsychologie), in: Kwartalnik Historyczny, 82, 1975, 3, S. 584-592. 103 vgl. z. B. Ryszka, Fr., Nauka o polityce a nauka historii (Die Wissenschaft von der Politik und die Geschichtswissenschaft), in: Historyka, Bd. 2, 1969, S. 31-43; Rychlikowa, J., Metody historyka i ekonomisty (Methoden des Historikers und des Ökonomen), ebenda, S. 45-70; Topolski, J., Historia gospodarcza a teoria ekonomii (Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie), in: Kwartalnik Historyczny, 71, 1964, 1, S. 79-90. 104
Vgl. Serejski, M. H., Uwagi o stosunku mi^dzy historia a ideologiq (Bemerkungen über das Verhältnis von Geschichte und Ideologie), in: Zycie Szkoly Wyzszej, 1959, 1, S. 10-17; ders., Czy i jak historia sluzy zyciu (Ob und wie die Geschichte dem Leben dient), in: Przeszlosd i terazniejszogc, S. 34-49.
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zu diesem Thema machten u. a. Tadeusz Manteuffel, Boguslaw Le^nodorski, Ewa Maleczynska und Konstanty Grzybowski.106 Von methodologischen Gesichtspunkt aus sind wohl die Aussagen von J. Topolski über den Klassencharakter der Geschichte am ergiebigsten.106 Breiten Raum nahmen Diskussionen über die Rolle der Geschichte bei der Herausbildung des modernen Nationalbewußtseins ein.107 Diskutiert werden auch Probleme, die mit den verschiedenen Gattungen des historischen Schriftentums und ihrer gesellschaftlichen Rezeption zusammenhängen.108 Relativ wenig Abhandlungen erschienen bisher zur komplizierten Problematik der Entwicklungstheorie der Geschichtswissenschaft. Wir können hier nur zwei Arbeiten anführen, die aus den Forschungen zur Geschichte der polnischen Geschichtswissenschaft hervorgegangen sind. C. Bobinska beschäftigte sich mit der Frage der Kontinuität und der Variabilität in der Historiographie, J. Maternicki analysierte hingegen die Faktoren, die die Umbrüche und „Revolutionen" in dieser Disziplin determinieren.109 Wie aus unserer Übersicht hervorgeht, hat die polnische Geschichtsmethodologie einen ziemlich breiten Interessenbereich, der fast alle Grundprobleme der gegen105 vgl Manteuffel, T., Historyk wobec historii. Rozprawy nieznane, pisma drobne, wspomnienia (Der Historiker und die Geschichte. Unbekannte Abhandlungen, kleine Schriften, Memoiren), Warszawa 1976, S. 5-48, Lesnodorski, B., Historia i spoleczenstwo. Problemy informacji i porozumienia (Geschichte und Gesellschaft. Probleme der Information und der Verständigung), in: Kwartalnik Historyczny, 72, 1965, 3, S. 2. ff.; Maleczynska, E., O spolecznej uzytecznosci historii (Über die gesellschaftliche Nützlichkeit der Geschichte), ebenda, 70, 1963, 3, S. 667-673; Grzybowski, K., OdpowiedzialnoSd spoleczna historyka (Über die gesellschaftliche Verantwortung des Historikers), ebenda, 69, 1962, 3, S. 637-653, Diskussion ebenda, S. 653-655. los vgl. Topolski, J., Uwagi o klasowym ujmowaniu historii (Bemerkungen über das klassengemäße Herangehen an die Geschichte), in: Historyka, Bd. 5, 1975, S. 3-24. Im ersten Teil der Abhandlung schreibt er über den Klassencharakter der Historiographie. 107 vgl. Historia i swiadomoii narodowa (Geschichte und Nationalbewußtsein), Red. W. Wesolowski, Warszawa 1970, S. 135 ff. An dieser Diskussion nahmen Historiker, Literaturhistoriker, Philosophen, Soziologen, Publizisten und Pädagogen teil, tos vgl. Dyskusja o röznych postaciach pisarstwa historycznego (Diskussion über verschiedene Genres des historischen Schrifttums), in: Historyka, Bd. 2, 1969, S. 11-19 (Einleitung von J. Maternicki), 19-138 (Beiträge von J. Görski, J. Skowronek, E. Borecka, R. W. Woloszynski, A. F. Grabski, C. Bobinska, W. Wierzbicka u. a.). 109 vgl Bobinska, C., Uwagi o mechanizmie rozwojowym nauki historycznej (Bemerkungen über den Entwicklungsmechanismus der Geschichtswissenschaft), ebenda, Bd. 3, S. 53-72; Maternicki, J., Kilka uwag o prqdach i przelomach w historiografli polskiej XIX i X X w., Przyczynek do teorii rozwoju nauki historycznej (Einige Bemerkungen über Störungen und Wendepunkte in der polnischen Historiographie des 19. und 20. Jh. Anmerkungen zur Theorie von der Entwicklung der Geschichtswissenschaft), ebenda, Bd. 4, 1974, S. 51-70. Beide Arbeiten erschienen auch in englischer Sprache in Dialectis and Humanism. The Polish Philosophicval Quarterly, 2, 1975, 4, S. 105-121, 123-140. 30»
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wärtigen Reflexion umfaßt. Die Geschichtsmethodologie entwickelt sich in Polen gestützt auf die Prinzipien des Marxismus und die Erkenntnisse der Logik, der allgemeinen Methodologie, der Kybernetik sowie der Soziologie, der Psychologie der Gesellschaft, der Ökonomie und anderer Wissenschaften. Wichtig ist auch die Rückkopplung zwischen der Entwicklung der Theorie und der Vervollkommnung des wissenschaftlichen Instrumentariums der polnischen Historiker sowie der Inangriffnahme immer ambitiöserer Fonschungisaufgaben. Viele methodologische Inspirationen verdankt die polnische Geschichtsschreibun der sowjetischen und französischen Wissenschaft; viel Nutzen zog sie auch aus den Erfahrungen und den Arbeiten der Historiker der DDR, der CSSR, Ungarns, Bulgariens, Großbritanniens, Italiens, der Vereinigten Staaten u. a. Die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Geschichtsmethodologie ist notwendig; ohne sie kann man von ernst zu nehmenden Ergebnissen nur träumen. Große Bedeutung hat auch die Ausnutzung aller Inspirationen des Marxismus und der marxistischen Methodologie der Gesellschaftswissenschaften. Von der Wichtigkeit dessen zeugt, u. a. das letzte Buch von Jerzy Topolski „Marxismus und Geschichte", das einen wertvollen Beitrag zur marxistischen Methodologie der Geschichtswissenschaften liefert. 110 110
Vgl. Topolski, J., Marksizm i historia (Marxismus und Geschichte), Warszawa 1977, S. 468 ff. Das Werk enthält hauptsächlich Abhandlungen und Artikel, die früher schon veröffentlicht worden sind. Sie wurden jedoch gründlich überarbeitet und auf den neusten Stand gebracht. Außerdem nahm der Autor einige bisher nicht veröffentlichte Texte auf. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der erste trägt den Titel Nowe drogi metodologii historii (Neue Wege der Geschichtsmethodologie) und befaßt sich mit folgenden Themen : Wspólczesne problemy metodologiczne nauk historycznych (Moderne methodologische Probleme der Geschichtswissenschaften), Historyk i zródia: pròba dynamicznej charakterystyki zródel historycznych (Geschichte und Quellen: Versuch einer dynamischen Charakteristik der geschichtlichen Quellen), O klasowym uwarunkowaniu badari historycznych (Zur Klassengebundenheit der Geschichtsforschung), O znaczeniu teorii zachowania dia wyjasnienia historycznego (Zur Bedeutung der Verhaltenstheorie für die Wahrheitsfindung in der Geschichte), Czas w narracji historycznej (Die Zeit in der historischen Narration), Model i jego konkretyzacje w historii gospodarczej (Das Modell und seine Konkretisierung in der Wirtschaftsgeschichte). In den zweiten Teil mit dem Titel Zagadnienia marksistowskiej teorii procesu historycznego (Probleme der marxistischen Theorie des Geschichtsprozesses) hat der Autor folgende Abhandlungen aufgenommen: O przyrodniczym i humanistycznym charakterze procesu historycznego (Über den naturwissenschaftlichen und humanistischen Charakter des Geschichtsprozesses), Inspiracje mysli Leninowskiej w historiografii (Inspirationen des Leninschen Ideenguts in der Historiographie), Uwagi o klasowym charakterze dziejów (Bemerkungen zum Klassencharakter der Geschichte). Teil III enthält: Refleksje krytyczne o koncepcjach niemarksistowskich (Kritische Überlegungen zu nichtmarxistischen Konzeptionen). Es folgen Skizzen und Abhandlungen: Marc Bloch i Fernand Braudel - zalozenia ich metodologii (Marc Bloch und Fernand Braudel Grundlagen ihrer Methodologie), Strukturalizm Lévi-Straussa a historia (Der Strukturalismus von Lévi-Strauss und die Geschichte), Mi^dzy strukturalizmen a historyzmen: Michel Foucault i jego fiolozofia historii (Zwischen Strukturalismus und Historismus: Michel Foucault und seine Geschichtsphilosophie), Co to jest
Geschichtsschreibung und -méthodologie
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Es wäre falsch, wenn wir nur die Erfolge sehen und nicht gleichzeitig auch einige Schwächen in der polnischen Geschichtsmethodologie aufzeigen würden. Das Niveau ihrer Arbeiten ist immer noch sehr unterschiedlich; ein großer Teil der methodologischen Texte ist zu eruditionär abgefaßt, andere berühren unangenehm durch ihren allgemeinen und deklarativen Charakter. Es gibt in Polen nicht viele Fachleute der Geschichtsmethodologie, die wirkliche Forschungsarbeit auf diesem Gebiet treiben; Verfasser der meisten genannten Abhandlungen sind Historiker, die sich mit methodologischen Fragen nicht ständig und systematisch, sondern nur am Rande ihrer „regulären" Forschungen beschäftigen. Eine der Bedingungen für die Weiterentwicklung der Geschichtsmethodologie in Polen ist also die Ausbildung von entsprechend qualifizierten Kadern. Wünschenswert wäre auch eine größere Planmäßigkeit in der Forschungs- und der Verlagsarbeit.111 (übersetzt von Dr. Edward Merian, Leipzig)
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psychohistoria (Was ist Psychogeschichte?), Antropologia kulturowa a historia (Kulturanthropologie und Geschichte), Teil IV des Buches enthält „Applikationen": Rewolucje w dziejach nowozytnych i najnowszych (XVII-XX w.) (Die Revolutionen in der Geschichte der Neuzeit und der neusten Zeit [17-20. Jh.j), Rozwöj gospodarczy a formowanie narodu (Die wirtschaftliche Entwicklung und die Herausbildung der Nation), Elementy syntezy w historii miast (Syntheseelemente in der Geschichte der Städte), Polska Ludowa - metodologiczne problemy jej dziejöw (Volkspolen - methodologische Probleme seiner Geschichte), Zalozenia metodologiczne badan regionalnych w zakresie historii (Methodologische Grundlagen regionaler Forschung innerhalb der Geschichte) und Historycy wobec socjologii (Die Historiker und die Soziologie). Vgl. Maternicki, J., Potrzeby badawcze w zakresie metodologii historii (Geschichtsmethodologische Forschungsaufgaben), in: Historyka, Bd. 5, 1975, S. 81-88.
Stefan Krzysztof
Kuczynski
Die Hilfswissenschaften zur Geschichte bis ausgangs des 18. Jahrhunderts (1945 bis 1977)
Die ersten Nachkriegsjähre waren in Polen f ü r die Entwicklung der Disziplinen, die traditionell als „historische Hilfswissenschaften" bezeichnet werden, nicht günstig. Große personelle Verluste unter den sich mit diesen Disziplinen befassenden hochqualifizierten Wissenschaftlern und empfindliche materielle Einbußen im Quellenmaterial; die methodologischen Veränderungen in der Geschichtswissenschaft und die Konzentration der Forschungen vorwiegend auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, schließlich die beschränkten Publikationsmöglichkeiten - das waren die wichtigsten Ursachen, die eine Entfaltung der sich bis 1939 recht gut entwickelnden historischen Hilfswissenschaften bis zu einem gewissen Grage hemmten. 1 Die im ersten Jahrzehnt nach dem Kriege veröffentlichten Arbeiten stellten vorwiegend eine Fortsetzung bzw. Krönung der vor dem Kriege begonnenen Forschungen dar. Aber auch in diesem Zeitraum war man sich bewußt, daß die historischen Hilfswissenschaften Bestandteil des vom Historiker ständig benutzten Handwerkszeuges sind und daß es notwendig sei, sie zu lehren. 1946 erschien die dritte Auflage des f ü r Studenten der Geschichtswissenschaft bestimmten Handbuchs der historischen Hilfswissenschaften von Wladyslaw Semkowicz2, und zwei Jahre später das der gleichen Thematik gewidmete Kompendium von Aleksander Gieysztor und Stanislaw Herbst (dessen erste Fassung Gieysztor noch als Dozent im konspirativen Universitätsbetrieb während des Krieges vorbereitete). 3 Der traditionelle Bestand der „historischen Hilfswissenschaften" erfuhr in der Nachkriegszeit eine recht beachtliche Erweiterung. Das Aufkommen einer neuen Problemstellung in der Geschichtswissenschaft, die Modernisierung vorhandener 1
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Den Forschungsstand jener Zeit bespricht Semkowicz, W., Rozwöj nauk pomocniczych historii w Polsce (Die Entwicklung der historischen Hilfswissenschaften in Polen), in: Historia nauki polskiej w monograflach XX, Polska Akademia Umiej^tnosci (Geschichte der polnischen Wissenschaft in Monographien XX, Polnische Akademie der Wissenschaften), Krakow 1948. Semkowicz, W., Encyklopedia nauk pomocniczych historii (Enzyklopädie der historischen Hilfswissenschaften), 3. Aufl., Kraköw 1946. Giesztor, A., (Unter Mitwirkung von Herbst, S.), Zarys nauk pomocniczych historii (Abriß der historischen Hilfswissenschaften), Teil 1-2, 3. erg. Aufl., Warszawa 1948.
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und die Herausbildung neuer Forschungsmethoden waren die Ursache dieser Ausweitung. Die sich abzeichnende methodologische Integration der historischen mit den humanistischen Wissenschaften insgesamt, das häufige Aufgreifen von Problemen, die nicht einer, sondern mehreren Disziplinen zuzuordnen sind, die Versuche der Historiker, bei ihren Forschungen neue Quellengattungen zu benutzen, führten dazu, daß die historischen Hilfswissenschaften um bisher nicht berücksichtigte spezielle Forechungseinrichtungen ausgeweitet wurden und daß sich sogar ihr deutlicher Sondercharakter zu verwischen begann. Aus diesem Grunde entwickelte sich in dein letzten Jahren eine Diskussion über die Definition der historischen Hilfswissenschaften. Während man sie einerseits als „Wissenschaften zur Quellenkunde" oder sogar als „historische Grundwissenschaften" bezeichnet hat, scheint andererseits die noch im ersten Viertel des 19. Jh. durch den großen Polyhistor Joachim Lelewel verwandte Bezeichnung „Wissenschaften, mit denen historische Quellen erforscht werden können", wieder Anhänger zu finden. Wenn diese Diskussionen im allgemeinen auf Konferenzsäle beschränkt blieben, so läßt sich die Veränderung des Umfangs der historischen Hilfswissenschaften vor allem an Hand der Universitätshandbücher verdeutlichen. Das bereits zitierte Kompendium von W. Semkowicz aus dem Jahre 1946 enthielt eine gedrängte, enzyklopädische Darlegung der sieben traditionellen Disziplinen - Paläographie, Diplomatik, Chronologie, Sphragistik, Heraldik, Genealogie und historische Geographie - innerhalb eines bis zum Ende des 18. Jh. reichenden chronologischen Rahmen, wobei jedoch die mediävistische Problematik' ein deutliches Übergewicht besaß. Die Erfordernisse der Forschung und der Lehre erbrachten jedoch bald den Bewies, daß diese Disziplinen bereits nicht mehr ausreichen und in sachlicher und chronologischer Hinsicht ausgeweitet werden müssen. Die Arbeit von Gieysztor und Herbst fügte zu den oben angeführten Bestandteilen der historischen Hilfswissenschaften noch die Archivlehre hinzu (ähnlich verfahren S. Pankow und Z. Perzanowski in ihrem Skript aus dem Jahre 1957).4 Das neueste, umfangreichste Handbuch der historischen Hilfswissenschaften von Jozef Szymanski, das 1972 veröffentlicht wurde und 1976 in einer erweiterten Fassung eine Neuauflage erlebte^, umfaßt bereits 14 verschiedene Disziplinen, deren Aufgliederung nadi drei Hauptthemen erfolgt: a) „Der Mensch - die Zeit - der Schauplatz"; b) „Sprache und Schrift"; c) „Gegenstände und Bildnisse". Es sind dies: a) Genealogie, Chronologie, Metrologie, historische Geographie; b) Sprache und literarische Kultur, Paläographie, historische Bücherkunde, Diplomatik, Archivlehre; c) Rechtsarchäologie, Numismatik, Sphragistik, Heraldik und die außerhalb dieser Gliederung stehenden Ausführungen über 4
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Panköw, SJPerzanowski, Z., Nauki pomocnicze historii wraz z archiwistykg i archiwoznawstwem (Die historischen Hilfswissenschaften, das Artäiivwesen und die Archivkunde), Krakow 1957. Szymanski, J., Nauki pomocnicze historii od schylku XIV do konca XVIII w. (Die historischen Hilfswissenschaften vom Ende des 14. bis zum Ende des 18. Jh.), Warszawa 1972; 2. Aufl. Warszawa 1976 (Diese Arbeit erwuchs aus einem Universitätsmanuskript, das der Verfasser 1968 in Lublin herausgab).
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die Veröffentlichung von Quellen. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß der Verfasser in einem weiteren Umfang als seine Vorgänger neuzeitliches Material aus dem 16. bis zum 18. Jh. anführt. Mit der Problematik des 19. und 20. Jh. befaßt sich hingegen das Universitätsmanuskript der historischen Hilfswissenschaften, das in Wroclaw herausgegeben wurde. 6 Dies trifft auch f ü r die speziell f ü r diese Zeit von Ireneusz Ihnatowicz bearbeitete praktische Anleitung zu, die die wichtigsten Maße und Münzeinheiten, die in Polen im 19. und 20. Jh. benutzt wurden, und die Zusammensetzung der zentralen staatlichen polnischen und ausländischen Behörden in diesem Zeitraum enthält; daneben finden sich praktische Hinweise über Archive, Museen und Bibliotheken mit bibliographischen Angaben. 7 Zu der hier angedeutenten erheblichen Ausweitung des Bereichs der historischen Hilfswissenschaften gesellt sich deren methodologische Erneuerung. Dies drückt sich vor allem in der Preisgabe der alten positivistischen Konzeptionen aus, die die Funktion der historischen Hilfswissenschaften auf die formale Kritik des Inf ormationswertes der Quelle beschränkten. Diese Wandlungen wären allgemein damit zu kennzeichnen, daß die historischen Hilfswissenschaften zur Zeit ihre Forschungsthematik immer deutlicher einer sehr weit gefaßten Quellenkunde unterordnen. Augenfällig ist auch ein deutliches Anwachsen der Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten in den einzelnen Disziplinen. Wenn die „Bibliografia historii Polski" (Bibliographie zur Geschichte Polens) während der ersten 15 Jahre nach dem Kriege im Jahresdurchschnitt zum Abschnitt „Historische Hilfswissenschaften" etwa 450 Titel verzeichnete (selbständige Publikationen, Aufsätze und Miszellen), so sind es im letzten Jahrzehnt mehr als doppelt so viel. Diese Arbeiten entstehen in verschiedenen Forschungszentren, wobei die Zahl der Verfasser ständig wächst. Zu Beginn der Nachkriegszeit nahm auf diesem Forschungsgebiet die Jagiellonenuniversität in Krakow die führende Stellung ein, wo seit 1898 ein gutausgestatteter Lehrstuhl für historische Hilfswissenschaften bestand, den W. Semkowicz und anschließend Z. Kozlowska-Budkowa inne hatten. Ein zweites Forschungszentrum bestand am Historischen Institut der Warschauer Universität; es wurde zuerst von S. K^trzynski und dann von A. Gieysztor geleitet. Erfordernisse des Lehrbetriebs ließen ähnliche Forschungseinrichtungen auch an anderen Hochschulen entstehen: an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan, an der Mikolaj-Kopernik-Universität in Torun (wo seit 1951/52 Archivare ausgebildet werden), an der Boleslaw-Bieriit-Universität in Wroclaw, an der Marie Sklodowska-Curie-Universität in Lublin und an der Schlesischen Universität in Katowice. Die zuletzt genannte Hochschule und seit 1976 die MarieSklodowska-Curie-Universität veranstalteten auch aus ganz Polen beschickte 6
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Bobowski, K./Burski, K./Turon, B., Encyklopedia nauk pomocniczych historii nowozytnej i najnowszej (Enzyklopädie der historischen Hilfswissenschaften zur Geschichte der Neuzeit und der neuesten Zeit), Wroclaw 1975. Ihnatowicz, 1., Vademecum do badan nad historiq XIX i XX wieku (Vademekum für Forschungen zur Geschichte des 19. und 20. Jh.), Bde. 1-2, Warszawa 1967/1971.
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Konferenzen, auf denen ausgewählte Probleme der historischen Hilfswissenschaften behandelt wurden (zuerst in Wisla, dann in Kazimierz und Pulawy). Die Konferenzen spielten bei der Stimulierung der Forschungen eine wichtige Rolle.8 1953 wurde an der Polnischen Akademie der Wissenschaften das Institut für Geschichte gebildet. Von ihm wurde auf Initiative seines Direktors, Prof. Tadeusz Manteuffel, eine Reihe von Handbüchern der einzelnen historischen Hilfswissenschaften herausgegeben. Bisher erschienen sechs Bände, die der Chronologie, der Sphragistik, der Genealogie, der mittelalterlichen Numismatik, der Diplomatik und der Schriftengeschichte gewidmet sind.9 Vorbereitet wird ein Handbuch der Heraldik. Im Zusammenhang mit der Ausweitung quellenkundlicher Forschungen und Editionsarbeiten am Institut für Geschichte - vorwiegend handelte es sich um die Veröffentlichung von Quellen zur Geschichte des polnischen Mittelalters - begann man seit 1957 das Jahrbuch „Studia 2rödloznawcze" (Quellenkundliche Studien). Commentationes" herauszugeben. Bis zum Jahre 1978 erschienen 23 Bände. Sie waren der Quellenkunde und den historischen Hilfswissenschaften des Mittelalters, der Neuzeit und der Neuesten Zeit gewidmet. Ein eigenes Zentrum bildet die Hauptdirektion der Staatsarchive, die auf dem Gebiet der Archivkunde und einiger benachbarter Disziplinen, u. a. der Diplomatik, eine Forschungs- und Herausgebertätigkeit entfaltet. Derartige Arbeiten werden häufig in der Zeitschrift „Archeion" (die seit 1927 erscheint) veröffentlicht. Forsch\ingsarbeiten zur Numismatik sind in organisatorischer Hinsicht vor allem in der Polnischen Archäologischen und Numismatischen Gesellschaft verankert, die zwei eigene Zeitschriften, die seit 1957 erscheinenden „WiadomoSci Numizmatyczne" (Numismatische Nachrichten) und das seit 1965 veröffentlichte „Biuletyn Numizmatyczny" (Numismatisches Bulletin), sowie eine Reihe von Monographien herausgibt. Audi manche Museen und Bibliotheken betreiben auf dem Gebiete der historischen Hilfswissenschaften eigene Forschungen. Die Ergebnisse dieser Arbeiten werden in den entsprechenden Fachzeitschriften veröffentlicht. Ungeachtet der relativ großen Anzahl von Forschungszentren, die sich mit den historischen Hilfswissenschaften befassen, und der sichtbaren Zunahme des Interesses der polnischen Geschichtswissenchaft für diese Disziplinen ist die Zahl der Fachleute angesichts der bestehenden Forschungslücken und der Erfordernisse des Lehrbetriebs immer noch zu klein. Dies ist u. a. durch die beschränkte Stundenzahl bedingt, die diesen Disziplinen im Studienprogramm der Universi8
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Vgl. die Materialien der Konferenzen in Wisla: Problemy dydaktyczne nauk pomocniczych historii (Didaktische Probleme der historischen Hilfswissenschaften), Katowice 1972; Problemy nauk pomocniczych historii II (Probleme der historischen Hilfswissenschaften II), Katowice 1973, und III, Katowice 1974; und der Tagung in Kazimierz Dolny: Powstanie - przeplyw - gromadzenie informacji (Entstehung Übermittlung - Sammlung von Informationen), ToruA 1978. Vgl. die Anm. 16, 22, 32, 61, 77, 90.
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täten (vor allem in dem seit 1973 geltenden) eingeräumt wird, was das Interesse der jungen Historiker f ü r diese Disziplinen nicht gefördert, mit denen sich nur wenige auch weiterhin befassen. Am empfindlichsten macht sich das Fehlen von Fachleuten f ü r die historischen Hilfswissenschaften der Neuzeit und Neuesten Zeit bemerkbar, obwohl auch f ü r die feudale Periode manche Disziplinen unzureichend besetzt sind. Ungeachtet dessen sind die vorhandenen Kader recht aktiv; sie nehmen an nationalen und internationalen Konferenzen teil und beteiligen sich an Forschungsuntemehmen und organisatorischen Arbeiten. Besonders hervorgehoben zu werden verdient die Teilnahme der Vertreter der historischen Hilfswissenschaften an den Beratungen der Allgemeinen Polnischen Historikerkongresse (des VII. in Wroclaw im Jahre 1948, des VIII. in Kraköw 1958, des X. in Lublin 1969 und - besonders umfassend - des XI. in Torun 1974).10 Die Vertreter gewisser Disziplinen, vor allem der Diplomatik, der Numismatik und neuerdings der Heraldik, unterhalten auch lebhafte Verbindungen zu ausländischen Zentren. Das spiegelt sich u. a. in der regen Beteiligung Polens an den internationalen Kongressen dieser Disziplinen wider. Der vorliegende Forschungsbericht, der sich notwendigerweise nur auf die Hervorhebung der wichtigsten Publikationen, vorwiegend von Büchern, beschränken muß, umfaßt die traditionelle Gruppe der historischen Hilfswissenschaften, welcher nach wie vor das größte Interesse der Forscher gilt. Ausführlichere Informationen und bibliographische Angaben enthalten die genannten Handbücher der einzelnen Disziplinen, Monographien und die Fachzeitschriften. Wir gehen in diesem Überblick nicht auf die Archivkunde ein, obwohl sie noch den historischen Hilfswissenschaften zugerechnet wird. Da die Archivkunde eine eigene Problematik besitzt und beträchtliche Forschungsergebnisse aufweist, könnte sie nur in einem gesonderten Bericht behandelt werden. 11 Päläographie. Bereits 1951 erschien eine umfangreiche Gesamtdarstellung der lateinischen Paläographie bis zum 17. Jh. von W. Semkowicz.12 Diese Arbeit bildete, obwohl wegen des Todes des Verfassers der der Epigraphik gewidmete Teil nicht beendet wurde, auf Grund ihres hohen wissenschaftlichen Wertes das grundlegende Wissenskompendium über diese Disziplin. Gleichzeitig erschien ein Abriß der russischen Paläographie 13 und 1955 ein Abriß der musikalischen
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Vgl. Pamiqtniki Powszechnych Zjazdöw Historyköw Polskich (Berichte der Allgemeinen Polnischen Historikerbewegungen) und die selbständigen Veröffentlichung: Nauki pomocnicze historii na XI Zjeidzie Historyköw Polskich w Toruniu (Die historischen Hilfswissenschaften auf der 11. Polnischen Historikertagung in Torun), hrsg. v. A. Tomczak, Warszawa 1976. Ein Verzeichnis dieser Arbeiten bringt die von R. Piechota herausgegebene polnische Bibliographie zur Archivkunde für die Jahre 1945-1965 (Archeion, Bd. 39, 1963; Bd. 40, 1964, Bd. 45, 1966) und Spis rzeczy zawartych w „Archeionie", Bde. 1-50 (1926-1968), Bde. 51-65 (1968-1977). (Inhaltsverzeichnis des „Archeion", hrsg. von R. Piechota, in Bd. 50, 1968, und Bd. 65, 1977.) Semkowicz, W., Paleografla lacinska (Lateinische Paläographie), Krakow 1951. Horodyski, B., Podr^cznik paleografii ruskiej (Handbuch der russischen Paläographie), Kraköw 1951.
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Paläographie.14 1960 veröffentlichte K. Görski ein Handbuch der deutschen Schrift des 16.-20. Jh., das vor allem für die sich mit der Archivkunde Befassenden von großem Wert für den Lehrbetrieb war.15 Einen Gesamtüberblick über die lateinische Schriftgeschichte in Europa und in Polen gab A. Gieysztor in einem Abriß, der in der vom Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Reihe von Handbüchern der historischen Hilfswissenschaften erschien.16 J. Szymanski befaßte sich mit der Bedeutung der lateinischen Schrift für die europäische Kultur im frühen Mittelalter (diese Arbeit wurde vom Institut für Geschichte der materiellen Kultur der Polnischen Akademie der Wissenschaften gefördert).17 Zur Problematik der äußeren Gestaltung der Inschriften, die in den meisten der angeführten Arbeiten Berücksichtigung fand, wurde eine eigene Schrift vorgelegt, in der das polnische Material bis zu den Anfängen des 14. Jh. eine teilweise umstrittene Bearbeitung fand.18 (Wir gehen hier nicht auf die Arbeiten zur antiken Epigraphik ein, da sie zu einer besonderen Fachdisziplin gehören.) In den letzten Jahren begann man, wozu J. Szymanski die Initiative ergriff, mit der Herausgabe einer monumentalen Quellenpublikation der polnischen Epigraphik bis zum Ende des 18. Jh. Von diesem „Corpus Inscriptionum Poloniae" sind die ersten beiden Hefte bereits erschienen.19 Die positiven Ergebnisse der von verschiedenen Zentren begonnenen Arbeiten zur Inventarisierung alter Inschriften werden in weiteren Heften dieser Publikation ihren Niederschlag finden. Darüber hinaus entstanden viele kleinere Arbeiten, die verschiedenen paläographischen (u. a. die in Polen bahnbrechend wirkende Studie A. Gieysztors über die karolingische Schriftreform) und epigraphischen (u. a. die Studie über die Inschrift auf der Wegsäule in Konin aus dem 12. Jh.) Problemen gewidmet waren. Diese und andere Aufsätze, die sich mit archäologischen, numismatischen und kunstgeschichtlichen Themen befaßten, erschienen in verschiedenen historischen Zeitschriften. Beachtenswert ist auch, daß zu Unterrichtszwecken die Sammlung von 31 Tafeln zum Studium der Paläographie, auf denen polnische und Polen betreffende mittelalterliche Urkunden reproduziert wurden
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Pözniak, W., Paleografla muzyczna (Musikalische Paläographie), Lödz 1955. Görski, K., Neografla gotycka. Podr^cznik pisma neogotyckiego X V I - X X ww (Handbuch der deutschen Schrift des 16.-20. Jh.), T. 1-2 (vervielf. Vorlesungsmanuskript), 2. Aufl., Torufi 1973; 3. Aufl. Warszawa 1978 (als Buch). Gieysztor, A., Zarys dziejöw pisma laciAskiego (Abriß der lateinischen Schriftgeschichte), Warszawa 1973. Szymanski, J., Pismo lacinskie i jego rola w kulturze (Die lateinische Schrift und ihre kulturelle Bedeutung), Wroclaw 1975. Ciechanowski, K., Epigrafika romariska i wczesnogotycka w Polsce (Die romanische und frühgotische Epigraphik in Polen), Wroclaw 1965. Corpus Inscriptionum Poloniae, Bd. 1: Wojewödztwo kieleckie (Die Wojewodschaft Kielce), hrsg. von J. Szymanski; H. 1: Miasto Kielce i powiat kielecki (Stadt und Kreis Kielce) hrsg. von B. Trelinska, Kielce 1975; H. 2: J^drzejöw i region j^drzejowski (J^drzejöw und die Region von J^drzejöw), hrsg. von B. Trelinska, Kielce 1978.
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und die schon mehreren Generationen von Historikern als Grundlage der Ausbildung dienten, wieder herausgegeben wurde. 20 Diplomatik. Forschungen zur mittelalterlichen Urkundenlehre und Kanzleigeschichte gehören der Disziplin der historischen Hilfswissenschaften an, die in der Nachkriegszeit die größten Errungenschaften aufzuweisen hat. Bereits 1951 wurde dieser Disziplin eine umfangreiche, die Gesamtproblematik erfassende Arbeit von K. Maleczyriski gewidmet.21 Zwanzig Jahre später erschien in der vom Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Serie von Handbüchern über die historischen Hilfswissenschaften die von mehreren Autoren verfaßte Arbeit über die allgemeine und polnische Urkundenlehre des Mittelalters.22 Unter den Handbüchern ist auch der Abriß der osmanisch-türkischen Urkundenlehre hervorzuheben 23 , der deshalb wichtig ist, weil in polnischen Sammlungen nicht wenige orientalische Urkunden aufbewahrt werden. Die neueren Forschungen zur Urkundenlehre befaßten sich vorwiegend mit der Geschichte der einzelnen mittelalterlichen und neuzeitlichen Kanzleien und den von ihnen ausgegangenen Urkunden. Diese Arbeiten trugen zu einer vertieften Kenntnis der Organisation und des Wirkens dieser Institutionen, ihrer Verbindungen mit dem Verwaltungsapparat, ihrer personellen Zusammensetzung, der Art der von ihnen herausgegebenen Urkunden und Handschriften und der Kontakte mit bestimmten kulturellen Zentren (z. B. die Ausbildung des Kanzleipersonals) bei. Die größte Aufmerksamkeit wurde den mittelalterlichen Kanzleien der Fürsten in der Epoche der feudalen Zersplitterung gewidmet, vor allem denjenigen, die in Großpolen, Kujawien und Masowien bestanden. 24 Der 20
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Album Paleographicum, ed. S. Krzyzanowski, ed. IV, pars I-II, ed. W. Semkowicz, et Z. Budkowa, Cracoviae 1959-1960. Maleczynski, K., Zarys dyplomatyki polskiej wieköw srednich (Abriß der polnischen mittelalterlichen Urkundenlehre), T. 1, Wroclaw 1951. Maleczynski, KJBielvhska, M./Gqsiorowski, A., Dyplomatyka wieköw srednich (Urkundenlehre des Mittelalters), Warszawa 1971. Zajqczkowski, A./Reych,man, J., Zarys dyplomatyki osmansko-tureckiej (Abriß der osmanisch-türkischen Urkundenlehre), Warszawa 1955. Bielinska, M., Kancelarie i dokumenty wielkopolskie XIII w. (Großpolnische Kanzleien und Urkunden des 13. Jh.), Wroclaw 1967; Sikora,F., Dokumenty i kancelaria Przemysla I oraz Boleslawa Poboznego 1239-1279 na tle wspölczesnej dyplomatyki wiekopolskiej (Der Platz der Urkunden und der Kanzlei Przemysls I. und Boleslaws des Frommen 1239-1279 innerhalb der zeitgenössischen großpolnischen Diplomatik), Krakow 1968; Mitkowski, J., Kancelaria Kazimierza Konradowica ksi^cia kuj awsko-l^czy ckiego (1233-1267) (Die Kanzlei des Herzogs von Kujawien-L^czyca Kazimierz Konradowic, 1233-1267), Wroclaw 1968; Mazur, Z., Studia nad kancelaria Leszka Czarnego (Untersuchungen zur Kanzlei Leszks des Schwarzen), Wroclaw 1975; Sudiodolska, E., Kancelaria na Mazowszu w latach 1248-1345. OSrodki zarz^dzenia i kultury (Kanzleien in Masowien in den Jahren 1248-1345. Verwaltungsund Kulturzentren), Warszawa 1977. M. Bielinska und E. Suchodolska befaßten sich in ihren Arbeiten auch mit den bischöflichen und klösterlichen Urkunden und Kanzleien in den von ihnen untersuchten Gebieten. - Darüber hinaus erschien eine beträchtliche Anzahl kleinerer Arbeiten in historischen Zeitschriften (u. a. in
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königlichen Kanzlei und ihren Urkunden aus dem 14. und 15. Jh. widmete I. Sulkowska-Kurasiowa gründliche Studien. 25 Dieses Thema behandelt auch J. Krzyzaniakowa. 26 Veröffentlicht wurde das vollständige Bestandsverzeichnis der königlichen Kanzleibücher (mit Kommentar), das nicht nur für Forschungen über die Urkunden der polnischen Könige Material liefert. 27 Andere Monographien wurden einigen anderen Gruppen der mittelalterlichen polnischen Urkunden und gewissen damit zusammenhängenden Fragen 28 sowie den Kanzleien und Urkunden kirchlicher Institutionen gewidmet. 29 Auch die Kenntnis der Kanzleien einzelner polnischer Städte hat große Fortschritte gemacht. 30 Studia Zrödloznawcze). Sie befassen sich vorwiegend mit herzoglichen Urkunden und Kanzleien des 13. und 14. Jh. und fußen zu einem großen Teil auf abgeschlossenen Staatsexamensarbeiten und vorbereiteten Dissertationen. 25 Sulkowska-Kurasiowa, I., Polska kancelaria krölewska w latach 1447-1506 (Die polnische Königliche Kanzlei in den Jahren 1447-1506), Wroclaw 1967; dies., Dokumenty krölewskie i ich funkcja w paristwie polskim za Andegawenöw i pierwszych Jagiellonöw 1370-1444 (Die königlichen Urkunden und ihre Rolle im polnischen Staate während der Regierungszeit des Hauses Anjou und der ersten Jagiellonen 1370-1444), Warszawa 1977. 26 Krzyzaniakowa, J., Kancelaria krölewska Wladyslawa Jagielly. Studium z dziejöw kultury politycznej Polski w XV wieku (Die königliche Kanzlei Wladyslaw Jagiellos. Studie zur Geschichte der politischen Kultur Polens im 15. Jh.), Teil 1, Poznan 1972, Teil 2, Poznan 1980. 27 Inwentarz Metryki Koronnej. Ksiejgi wpisöw i dekretöw polskiej kancelarii krölewskiej z lat 1447-1795 (Inventar des Registers der Krone Polens. Eintragungsbücher und Verzeichnisse der Dekrete der polnischen königlichen Kanzlei aus den Jahren 1447-1795), hrsg. von I. Sulkowska-Kurasiowa und M. Wozniakowa, Warszawa 1975. 28 Maleczynski, K., Studia nad dokumentem polskim (Untersuchungen über polnische Urkunden), Wroclaw 1971; Perzanowski, Z., Dokument i kancelaria sqdu ziemskiego krakowskiego do polowy XV wieku (Urkunden und Kanzlei des Krakauer Landesgerichts bis zur Mitte des 15. Jh.), Krakow 1968; Grzegorz, M., Analiza dyplomatyczno - sfragistyczna dokumentöw traktatu torunskiego 1466 r. (Diplomatischsphragistische Analyse der Urkunden des Vertrages von Thorn 1466), Torun 1970; Kuras, S., Przywileje prawa niemieckiego miast i wsi malopolskich XIV-XV wieku (Die deutschrechtlichen Privilegien der kleinpolnischen Städte und Dörfer im 14. und 15. Jh.), Wroclaw 1971; Mularczyk, J., Dobör i rola äwiadköw w dokumentach slqskich do konca XIII wieku (Auswahl und Rolle der Zeugen in den schlesischen Urkunden bis zum Ende des 13. Jh.), Wroclaw 1977. 29 Tomczak, A., Kancelaria biskupöw wloclawskich w okresie ksiQgi wpisow (XV bis XVIII w.) (Die Kanzlei der Bischöfe von Wloclawek im Zeitraum des Eintragungsbuches [15.-18. Jh.]), Torun 1964; Mieszkowski, K., Studia nad dokumentami katedry krakowskiej XIII wieku. Poczqtki kancelarii biskupiej (Studien über die Urkunden der Krakauer Kathedralkirche des 13. Jh. Die Anfänge der bischöflichen Kanzlei), Wroclaw 1974. 30 Piskorska, H., Organizacja wladz i kancelarii miasta Torunia do 1793 (Organisation der Behörden und der Kanzlei der Stadt Thorn bis 1793), Torufi 1956; Radtke, I., Kancelaria miasta Poznania do r. 1570 (Die Kanzlei der Stadt Posen bis zum Jahre 1570), Warszawa 1967; Stankowa,M., Kancelaria miasta Lublina XIV-XVIII w.
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Die vor allem in den letzten Jahren rege Herausgabe polnischer mittelalterlicher Urkunden und die im Zusammenhang damit in den Archiven unternommenen Nachforschungen schaffen günstige Voraussetzungen für die weitere Entfaltung der Urkundenforschung. In den Untersuchungen ist neben dem Eingehen auf die traditionelle Problematik der Diplomatik das Bestreben wahrnehmbar, die alten Urkunden als Produkt eines bestimmten Entwicklungsstandes der literarischen und juristischen Kultur und die Kanzleien als ein Glied der staatlichen Verwaltung zu erfassen. Sphragistik. Die den alten polnischen Siegeln gewidmeten systematischen Untersuchungen entstanden häufig im Zusammenhang mit Arbeiten zur Urkundenlehre, aber auch unabhängig davon. Die Zahl der Veröffentlichungen ist groß. Vorwiegend handelt es sich jedoch um kleinere Arbeiten, die in verschiedenen Zeitschriften und landesgeschichtlichen Publikationen verstreut sind. Die 1968 und 1973 zusammengestellte Bibliographie dieser Arbeiten 31 weist die in den vergangenen Jahrzehnten erreichten Errungenschaften aus und gibt Auskunft über die wichtigsten Forschungsrichtungen. Obwohl die Zahl der veröffentlichten Arbeiten nicht gering ist, können sie doch nicht allen Ansprüchen genügen, die heute an die Sphragistik zu stellen sind. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse älterer und der in den ersten Nachkriegsjahren veröffentlichten Arbeiten bieten die kollektiv erarbeitete Darstellung der allgemeinen und polnischen Sphragistik, die 1960 in der Reihe der vom Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Handbücher der historischen Hilfswissenschaften publiziert wurde32, und das 1966 in Österreich in deutscher Sprache erschienene Handbuch der Sphragistik von M. Gumowski. 33 Diese Arbeiten, und vor allem das Handbuch von Gumowski, gehen nicht auf alle Fragen ein, die heute an die Siegelkunde gestellt werden, sie erschöpfen daher nicht die gesamte Forschungsproblematik. Am regsten entwickelten sich die Forschungen zur regionalen, vor allem städtischen Sphragistik. Neben vielen kleineren, an den verschiedensten Stellen publizierten Arbeiten, die den Siegeln einzelner Ortschaften gewidmet sind und in der Regel eine kritische Veröffentlichung der Siegel darbieten, erschien eine Arbeit über die Siegel polnischer Städte im 13. und 14. Jh., die, wenn auch nicht frei von Mängeln, die Gesamtheit der ältesten städtischen Siegel Polens innerhalb seiner
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(Die Kanzlei der Stadt Lublin im 14. bis 18. Jh.), Warszawa 1968; Trojanowska, M., Dokument miejski lubelski od X I V do XVIII wieku (Staatsdokumente aus Lublin vom 14. bis 18. Jh.), Warszawa 1977. Dobijanka, M., Przeglqd publikacji z zakresu sfragistyki polskiej za lata 1945-1966 (Überblick der Veröffentlichungen zur polnischen Sphragistik in den Jahren 1945 bis 1966), in: Wiadomosci Numizmatyczne, 12, 1968, S. 45-63; Materialy do bibliografii, numizmatyki, medalografii, sfragistyki i heraldyki polskiej (1966-1970) (Materialien zur Bibliographie der polnischen Numismatik, Sphragistik und Heraldik und polnischer Medaillen 1966-1970), hrsg. von S. K. Kuczynski u. a., Warszawa 1973, S. 85-93. Gumowski, M./Haisig, M./Mikucki, S., Sfragistyka (Sphragistik), Warszawa 1960. Gumowski, M., Handbuch der polnischen Siegelkunde, Graz 1966.
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jetzigen Grenzen enthält. 34 Mehrere Arbeiten befassen sich mit den Stadtsiegeln einzelner Landschaften. 35 Eine besondere Studie zur Legende der mittelalterlichen Stadtsiegel in Europa und Polen schrieb M. Haisig36, der auch die größte polnische Sammlung von Siegelabgüssen von Boleslaw Podczaszynski (1822 bis 1876), die gegenwärtig der Universität in Lwöw gehört, besprochen und interpretiert hat.37 Aufmerksamkeit wurde auch den Siegeln der Handwerkerzünfte zugewandt, einer bisher wenig ausgewerteten Quelle zur Geschichte der materiellen Kultur und der Produktionsprozesse. 38 Einige Arbeiten wurden den Siegeln von Ämtern und Institutionen gewidmet, wobei der chronologische Rahmen der Untersuchungen auch auf die Neuzeit und die Neueste Zeit ausgedehnt wurde.39 Ebenso wurden die Siegel aus der Zeit der Nationalaufstände des 19. Jh. in die Untersuchungen einbezogen.40 Geringeres Interesse der Forschung fanden hingegen im Unterschied zur älteren Historiographie die Siegel der Herrschenden, königliche oder herzogliche, kirchliche Siegel und solche von Privatpersonen. Den königlichen Siegel widmen sich nur einige wenige kleinere Beiträge; das Thema wurde jedoch auch in Arbeiten einbezogen, die sich mit der Urkundenlehre befaßten. 41 Veröffentlicht wurde ein Inventar der Siegel der Herzöge von Pommern.42 Vor kurzem erschien die umfangreiche Arbeit von S. K. Kuczynski, die sich mit den Siegeln der Herzöge von Masowien befaßt; darin wurde das ganze Quellenmaterial veröffentlicht und einer vielseitigen, gründlichen Interpretation unterzogen. 43 Mit den herzoglichen Siegeln befaßten sich auch die Verfasser von Arbeiten über Kanzleien und Urkunden einzelner Herzöge.44 Heraldik. In den ersten Nachkriegsjähren war eine deutliche Verlangsamung der 34
Ders., Najstarsze piecz^cie miast polskich XIII i XIV wieku (Die ältesten Siegel polnischer Städte im 13. und 14. Jh.), Torun 1960. 35 Ders., Piecz^cie i herby miejscowoäci wojewödztwa lubelskiego (Siegel und Wappen von Ortschaften der Wojewodschaft Lublin), Lublin 1959; Olejnik,T., Piecz^cie i herby miast ziemi wielunskiej (Siegel und Wappen der Städte der Landschaft Wielun), Lödz 1971; Fudalej, A., Piecz^cie ksi^stw glogowskiego i zaganskiego (Siegel der Herzogtümer Glogau und Sagan), Nowa S61 1973. 36 Haisig, M., Studia nad legend^ piecz^ci miejskiej (Studien zur Legende der Stadtsiegel) ,Wroclaw 1953. 37 Ders., Boleslaw Podczaszynski, sfragistyk i archeolog (Der Sphragistiker und Archäologe Boleslaw Podczaszynski), Wroclaw 1952. 38 Tomczyk, D., Piecz^cie görnoSlqskich cechöw rzemieSlniczych z XV-XVIII wieku i ich znaczenie historyczne (Die Siegel der oberschlesischen Handwerkerzünfte aus dem 15. bis 18. Jh. und ihre historische Bedeutung), Opole 1975. 39 Zum Beispiel Sniezko, A., Dawne piecz^cie pocztowe. Wiek XVIII-XIX (Die alten Postsiegel. 18.-19. Jh.), Wroclaw 1962. 40 Der sowjetische Historiker J. I. Stakelberg bereitet eine Arbeit über die Siegel aus dem Januaraufstand 1863 vor. 41 Vgl. Anm. 25. 42 Gumowski, M., Piecz^cie ksi^zqt pomorskich (Die Siegel der Herzöge von Pommern), in: Zapiski Towarzystwa Naukowego w Toruniu, 16, 195», 1-4, S. 23-66. 4 ' Kuczynski, S. K., Piecz^cie ksiqzqt mazowieckich (Siegel der Herzöge von Masowien), Wroclaw 1978. 44 Vgl. Anm. 24.
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heraldischen Forschungen zu verzeichnen, die sich vor 1939, hauptsächlich gefördert von der Polnischen Heraldischen Gesellschaft und deren Publikationen (die nach 1945 nicht wieder ins Leben gerufen wurden), rege entwickelten. Die Neuentwicklung dieser Disziplin, mit der sich nur relativ wenige qualifizierte Forscher befassen, vollzieht sich allmählich; in der Öffentlichkeit, die den Wappen lebhaftes Interesse entgegenbringt, findet die Heraldik jedoch einen breiten Widerhall. Ungeachtet des unbefriedigenden Forschungsstandes und vieler offener Probleme, vor allem hinsichtlich der Genesis der Wappen in Polen, befindet sich ein umfangreicher, um die Erfassung der Gesamtproblematik bemühter Abriß der allgemeinen und polnischen Heraldik in Vorbereitung; er ist als ein weiterer Band in der Reihe der vom Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Handbücher der historischen Hilfswissenschaften konzipiert.45 Den Vorbereitungsarbeiten zu diesem Buch ging die in östereich in deutscher Sprache erfolgte Herausgabe des Handbuchs der polnischen Heraldik von M. Gumowski voraus46, der in traditioneller Weise die wichtigsten Informationen zusammenstellt und einen Uberblick über die älteren Forschungen vermittelt. In der Nachkriegszeit befaßten sich die gewichtigeren Untersuchungen vor allem mit der Geschichte des polnischen Staatswappens, auf dessen Entstehung und Entwicklung neues Licht fiel.47 Beträchtliche Aufmerksamkeit wurde auch den Wappen einzelner Territorien und der Städte gewidmet. Derartige Untersuchungen befaßten sich in der Regel auch mit Problemen der Sphragistik. 48 M. Gumowski verfaßte ein Wappenbuch der polnischen Städte 49 , das allerdings inhaltliche Fehler und falsch gezeichnete Wappen aufweist. Diese Irrtümer wurden teilweise in den farbigen Tafeln der zweibändigen, 1966/67 in Wroclaw erschienenen Publikation „Miasta polskie w tysi^cleciu" (Die polnischen Städte in einem Jahrtausend) korrigiert. Innerhalb der Untersuchungen über die Wappen einzelner Städte50 entstand die erste umfangreiche Monographie über das Wappen 45 40 47
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Die Arbeit bereitet S. K. Kuczynski vor. Gumowski, M., Handbuch der polnischen Heraldik, Graz 1969. Russocki,S./Kuczynski,S.K./Willaume,J., Godlo, barwy i hymn Rzeczypospolitej. Zarys dziejöw (Das Wappen, die Nationalfarben und die Hymne Polens. Ein Abriß ihrer Geschichte), Warszawa 1963; 2. Aufl. Warszawa 1970; 3. Aufl. Warszawa 1978; Andrulewicz, H., Geneza Orla Bialego jako herbu Krölestwa Polskiego (Die Genesis des Weißen Adlers als des Wappens des Königreichs Polen), in: Studia 2r6dloznawcze, Bd. 13, 1968, S. 1-26, und in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegelund Wappenkunde, Bd. 19, 1973, S. 157-210. Vgl. Anm. 34 f. sowie Bolduan, T., Gryf - godlo Pomorza (Der Greif - das Wappen Pommerns), GdaAsk 1971; Fudalej, A., Herby miast wojewodztwa zielonogörskiego (Die Wappen der Städte der Wojewodschaft Zielona Göra), Nowa Söl 1974. Hier muß man auch kleinere Arbeiten von Z. Michniewicz nennen, die der Wappensymbolik einiger schlesischer Städte gewidmet sind und in landesgeschichtlichen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Gumowski, M., Herby miast polskich (Wappen polnischer Städte), Warszawa 1970. Zum Beispiel Olejniczak, J., Herb miasta Poznania. Publikacja z okazji wystawy zorganizowanej w Starym Ratuszu (Das Wappen der Stadt Posen. Veröffentlichung
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Warschaus.61 Darüber hinaus erschien eine größere, die ganze Problematik behandelnde Arbeit über die Wappen des Thorner Patriziats im 16. bis 18. Jh. 52 Die traditionellen Richtungen der älteren Forschung, die sich vorwiegend mit der Heraldik der Rittergeschlechter und des Adels befaßten, wurden nur in geringem Ausmaß fortgesetzt. Neuerdings behandeln diese Problematik allerdings, vor allem für die frühere Periode, wieder mehrere Forscher (J. Bieniak und sein Kollektiv). Bisher erschienen zu dieser Thematik nur einige Aufsätze, vor allem in den „Studia Zrödloznawcze"53 (Quellenkundliche Studien) und in dem im Ausland herausgegebenen Periodicum „Materialy do biografii, genealogii i heraldyki polskiej" (Materialien zu polnischen Biographien, zur polnischen Genealogie und Heraldik) (Buenos Aires - Paris)54. Im Ausland erschienen auch zwei wertvolle Arbeiten S. Konarskis, in denen jedoch das genealogische Material überwiegt.55 Beachtung verdienen die Vorträge von A. Heymowski auf den internationalen Heraldik-Kongressen, die in den Kongreßberichten veröffentlicht werden. Derselbe Forscher besitzt in seinen Sammlungen in Stockholm reiche Materialien zur polnischen Wappenrolle, deren Veröffentlichung er vorbereitet. Es muß auch vermerkt werden, daß sich aus der mit der Heraldik zusammenhängenden Problematik neuerdings eine neue Forschungsrichtung, die Fahnenkunde, herauskristallisierte. Sie hat bereits mehrere, meistens populärwissenschaftliche Veröffentlichungen aufzuweisen.56 Berührungspunkte hiermit weist
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aus Anlaß der Ausstellung im alten Rathaus), Poznan 1967, und einige kleinere Arbeiten, die in Zeitschriften, periodischen Veröffentlichungen und in Sammelwerken erschienen, u. a. von M. Haisig (Wappen von Breslau, Schweidnitz, Kaiisch, Neiße und Czenstochau), M. Gumowski (Köslin, Stolp, Nowy Sacz, Graudenz), W. Budka (Jaslo), A. Gieysztor (Zakopane), D. Tomczyk (Görlitz, Olesno), Z. Michniewicz (Hirschberg), J. Szymanski (ZwoleA), S. K. Kuczynski (Puitusk und Plock). Kuczynski. S. K., Herb Warszawy (Das Wappen Warschaus), Warszawa 1977. Gumowski, M., Herbarz patrycjatu torunskiego (Das Wappenbuch des Thorner Patriziats), ToruA 1970. Unter anderem wurden hier veröffentlicht die Wappen der slawischen und polnischen Ritterschaft aus den mittelalterlichen europäischen Wappenbüchern: das Wappenbuch von Gelry (Mikucki, S., in Bd. 1, 1957) der Codex Bergshammer (Heymowski, A., in Bd. 12, 1967) und der Versuch einer Interpretation des Wappens auf dem heraldischen Fries in L^d an der Warthe aus der zweiten Hälfte des 14. Jh. (Lojka, J., in Bd. 22. 1977). Unter anderem die Veröffentlichung des Wappenbuches des Adels Polnisch Livlands aus dem 18. Jh. (Heymowski, A., in Bd. 2, 1964). Konarski, S., Armoriai de la noblesse polonaise titrée, Paris 1958 ; ders., O heraldyce i „heraldycznym" snobizmie (Uber die Heraldik und den „heraldischen" Snobismus), Paris 1967. Millezer, J., Chorqgwie i flagi polski (Polnische Fahnen und Flaggen), Warszawa 1962; ders., Flagi (Flaggen), Warszawa 1970; Godla i flagi éwiata (Wappen und Flaggen der Welt), hrsg. von A. Bonasewicz, Warszawa 1970; Bigoszewska, W./Wiewi&ra, H., Sztandary Ludowego Wojska Polskiego 1943-1974 (Die Standarten der Polnischen Volksarmee 1943-1974), Warszawa 1974.
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die Emblemkunde auf, der u. a. das wertvolle Buch von K. Satora gewidmet ist.57 Genealogie. Die genealogischen Forschungen, die früher eng mit den Untersuchungen übr die Heraldik der Rittergeschlechter und des Adels zusammenhingen, knüpften in den ersten Nachkriegsjahren vor allem an die Arbeiten über einzelne Rittergeschlechter an, die seit langem in Krakau von W. Semkowicz und seiner Schule durchgeführt wurden. 1948 erschienen in der Geschichte einzelner Geschlechter gewidmeten Reihe zwei Monographien88 und mehrere kleinere Abhandlungen und Studien.59 In der gleichen Zeit, aber bereits eine andere Forschungsrichtung repräsentierend, entstand auch die Monographie über das Danziger bürgerliche Geschlecht der Ferber.60 Das nächste Jahrzehnt war für genealogische Forschungen keine günstige Zeit. Erst 1959 erschien in der vom historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Reihe von Handbüchern der historischen Hilfswissenschaften ein zweiteiliger Abriß der Genealogie von W. Dworzaczek.61 Diese wertvolle Arbeit bietet eine kritische Zusammenfassung der bisherigen Forschungen, eine reichhaltige Bibliographie, genealogische Tafeln der Dynastien sowie der bedeutenderen Geschlechter der mittelalterlichen Feudalherren und des Adels. In den nächsten Jahren konzentrierte sich die Forschung vorwiegend auf Probleme der dynastischen Genealogie. 1968 erschien eine Arbeit über die Genealogie der Jagiellonen62 und in den Jahren 1973-1977 das dreibändige Werk von K. Jasinski über die der schlesischen Piasten63, dem mehrere kleinere Abhandlungen des Verfassers vorausgegangen waren. Diese Veröffentlichung, die den Anfang eines größeren Werkes über die Genealogie der ganzen Rastendynastie bildet, stellt eine bedeutende wissenschaftliche Errungenschaft dar, die an Hand bisher nicht ausge-
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Satora, K., Emblematy, godlo i Symbole G L i A L . Ubiör, oznaka i godlo, odznaczenie i Symbole Gwardii L u d o w e j i Armii L u d o w e j oraz emblematy ludowej partyzantki polskiej w e Francji i Jugoslawii (Embleme, Wappen und Symbole der Volksgarde und der Volksarmee. Uniform, Abzeichen und Wappen, Auszeichnungen und Symbole der Volksgarde und der Volksarmee sowie die Embleme der polnischen Volkspartisanen in Frankreich und Jugoslawien), W a r s z a w a 1973.
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Chwalibinska, J., Rod Prusow w wiekach srednich (Das Geschlecht der Preußen im Mittelalter), Torun 1940; Laszczynzska, O., Rod Herburtow w wiekach srednich (Das Geschlecht der Herburt im Mittelalter), Poznan 1948.
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Z u m Beispiel Bialkowski, L., R6d Bibersteinöw a röd Momotöw godla Jeleniego Rogu w wiekach X I V - X V I (Das Geschlecht der Biberstein und das Geschlecht Momot der Wappenbenennung Jeleni R6g), Lublin 1948. Zins, H., Röd Ferberöw i jego rola w dziejach Gdanska w X V i X V I wieku (Das G e schlecht der Ferber und seine Bedeutung in der Geschichte Danzigs im 15. und 16. Jh.), Lublin 1951. Dworzaczek, W., Genealogia (Genealogie), T. 1-2, W a r s z a w a 1959.
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Wdowiszewski, Z., Genealogia Jagiellonöw (Die Genealogie der Jagiellonen), W a r szawa 1968. Jasinski, K., Rodowöd Piastöw slgskich (Genealogie der schlesischen Piasten), Bde. 1-3, Wroclaw 1973-1977.
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werteter Quellen die Thematik durch eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse bereichert. In den letzten Jahren wurden unter Zugrundelegung neuer methodologischer Prinzipien Forschungen über die Geschichte von Rittergeschlechtern und Geschlechtern der großen Feudalherren in den einzelnen Teilen Polens im Mittelalter aufgenommen. Bereits erschienen ist eine Arbeit über die Geschlechter Masowiens64, andere sind noch nicht veröffentlicht bzw. noch im Entstehen begriffen. In all diesen Arbeiten wird die genealogische Problematik mit den sozialen, ökonomischen und politischen Fragen der Zeit in Zusammenhang gebracht. Es erschienen auch Monographien, die sich mit der Geschichte einzelner großer Feudalfamilien65 und Adelsfamilien66 befaßten, ja sogar eine Veröffentlichung, die Ahnentafeln der Insassinnen eines Stifts enthält.67 Befriedigende Fortschritte macht, sowohl für das Mittelalter als auch für die späteren Perioden, die biographische Forschung (in letzter Zeit einschließlich der Prosopographie), die viele Monographien aufzuweisen hat. Die größte Errungenschaft auf diesem Gebiete ist das regelmäßig herausgegebene „Polski Slownik Biograficzny" (Polnisches Biographisches Wörterbuch), von dem bis Mitte 1978 96 Hefte bis zum Buchstaben M erschienen sind. Der Biographie und der Genealogie wird auch viel Raum in der außerhalb Polens erscheinenden und bereits angeführten Veröffentlichung „Materialy do biografii, genealogii i heraldyki polskiej" (Materialien zu polnischen Biographien, zur polnischen Genealogie und Heraldik) eingeräumt. Numismatik. Diese Disziplin weist in Polen seit altersher glänzende Forschungsergebnisse auf. Sie bewahrte sich jedoch immer eher den Status eines autonomen Wissenszweiges als den einer historischen Hilfswissenschaft. Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelten sich die numismatischen Forschungen günstiger als je zuvor, was in einer Reihe wertvoller Arbeiten seinen Niederschlag fand. Ein Gesamtverzeichnis der zahlreichen Arbeiten zur polnischen Numismatik bis zum Jahre 1965 enthält die von M. Gumowski bearbeitete Bibliographie''8, die später durch ein Verzeichnis der Publikationen aus den Jahren 1966 bis 1970 ergänzt wurde.69 64
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Piqtka, J., Mazowiecka elita feudalna pöznego sredniowiecza (Die Feudalelite Masowien im späten Mittelalter), Warszawa 1975. Im Druck befindet sich eine umfangreiche Arbeit von M. Cetwinski über die schlesische Ritterschaft (1980). Dworzaczek, W., Leliwici Tarnowscy. Z dziejöw moznowladztwa malopolskiego. Wiek X I V - X V (Die Familie Tarnowski der Wappenbenennung Leliwa. Aus der Geschichte der kleinpolnischen Großen, 14. -15. Jh.), Warszawa 1971. Kirkor, S., Kirkorowie litewscy. Materialy do monografii rodziny kresowej (Die litauischen Kirkors. Materialien zur Geschichte einer Familie aus den östlichen Randgebieten Polens), London 1974. Konarski, S., Kanoniczki warszawskie (Warschauer Stiftsdamen), Paris 1952. Gumowski, M., Bibliografia numizmatyki polskiej (Bibliographie der polnischen Numismatik), Torun 1967. Materialy do bibliografii numizmatyki, medalografii, sfragistyki i heraldyki polskiej (Bibliographische Materialien zur polnischen Numismatik, Medaillenkunst, Sphragistik und Heraldik), hrsg. von S. K. Kuczynski, M. M^clewska, B. Patryn und J. Strzalkowski, Warszawa 1973, S. 1-83.
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In der Nachkriegszeit entstanden mehrere zusammenfassende Arbeiten, die der Geschichte des polnischen Münzwesens vom 10. bis zum 20. Jh. gewidmet waren. Es sind dies das Handbuch der Numismatik von M. Gumowski, dessen polnische Ausgabe 1952 erschien70 und das erneut in deutscher Sprache 1960 veröffentlicht wurde71, das populär-wissenschaftliche Album von T. Kalkowski 72 und die umfangreiche Arbeit von J. A. Szwagrzyk, die die Münzen und Papiergeldnoten, die in Polen im Umlauf waren, bespricht und verzeichnet.73 Die Arbeiten von M. Gumowski und J. Szwagrzyk bieten, wenn sie auch nicht frei von Fehlern sind, alles in allem einen Überblick über das ganze reichhaltige polnische numismatische Material, die erste von ihnen enthält auch wichtige methodische Hinweise f ü r die Lehre. Darüber hinaus erschienen einige Kataloge polnischer Münzen und Geldnoten, und zwar auch zum 19. und 20. Jh.74 Begonnen wurde auch mit der Herausgabe eines vielbändigen typologischen Katalogs aller polnischen Münzen vom Mittelalter bis in die neueste Zeit.® Auch der Geschichte der polnischen Medaille wurden mehrere Kataloge und ein Abriß gewidmet. 76 Die größten Fortschritte machten jedoch die Forschungen zur mittelalterlichen Münzkunde. Die wichtigsten Informationen über dieses interessante Forschungsgebiet enthält ein weiterer Band aus der Reihe der vom Historischen Institut herausgegebenen Handbücher der historischen Hilfswissenschaften, welcher von R. Kiersnowski verfaßt wurde.77 Kräftig gefördert werden diese Forschungen durch die Registrierung frühmittelalterlicher Münzfundstätten in Polen78 und Quellenveröffentlichungen größerer Münzschätze dieses Zeitraums, auch solcher, die ausländische 7(1
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Gumowski, M., Zarys numizmatyki polskiej (Abriß der polnischen Numismatik), Lodz 1952. Ders., Handbuch der polnischen Numismatik, Graz 1960. Kalkowski, T., Tysi^c lat monety polskiej (Tausend Jahre polnische Münzen), Krakow 1963; 2. Aufl. Kraköw 1974. Szwagrzyk, J. A., Pieniqdz na ziemiach polskich X - X X w. (Das Geld auf dem polnischen Territorium im 10. bis 20. Jh.), Wroclaw 1973. Jablonski, T./Terlecki, W., Katalog monet polskich: 1669-1763 i 1765-1864 (Katalog polnischer Münzen 1669-1763 und 1765-1864), Warszawa 1965, 1969; Kaminski, CJ Kopicki, E., Katalog monat polskich 1764-1864 (Katalog polnischer Münzen 1764 bis 1864), Warszawa 1976; sowie die Kataloge polnischer Münzen und Geldnoten des 19. und 20. Jh von W. Terlecki, C. Kaminski und M. Kowalski. Kopicki, E., Katalog podstawowych typöw monet i banknotöw Polski oraz ziem historycznie z Polskq zwi^zanych (Katalog der hauptsächlichsten Münz- und Geldnotentypen Polens und der geschichtlich mit Polen zusammenhängenden Länder), Bd. 1 (T. 1-2): Sredniowiecze (Mittelalter), Warszawa 1974 f.; Bd. 2: Monety ostatnich Jagiellonöw, Stefana Batorego i Zygmunta III (1506-1632) (Münzen der letzten Jagiellonen, Stephan Bathorys und Sigismunds III. [1506-1632]), Warszawa 1976. Wiqcek,A., Dzieje sztuki medalierskiej w Polsce (Geschichte der Medaillierkunst in Polen), Kraköw 1972. Kiersnowski, R., Wst^p do numizmatyki polskiej wieköw srednich (Einleitung in die polnische mittelalterliche Numismatik), Warszawa 1964. Polskie skarby wczesnosredniowieczne. Inwentarze (Polnische frühmittelalterliche Schätze. Inventare), Bd. 1-4, Warszawa/Wroclaw 1959-1966.
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Münzen (westeuropäische und arabische) enthalten. 79 Erst diese Veröffentlichungen ermöglichten es R. Kiersnowski, eine Arbeit über die Münzen in Polen im frühen Mittelalter® und eine populär-wissenschaftliche Geschichte der Anfänge des polnischen Münzwesens zu verfassen. 81 Dieser Forschungsrichtung sind auch die wertvollen Studien S. Suchodolskis über die polnischen Münzen und das polnische Münzwesen im 10. bis 12. Jh. zuzurechnen. 82 Eine eigene Bearbeitung (in deutscher Sprache) fanden die mittelalterlichen polnischen Münzen mit hebräischen Aufschriften. 83 Einige Arbeiten befaßten sich mit der Geschichte der polnischen Münzen im 14. und 15. Jh. 84 Eine ganze Serie von Monographien beschäftigt sich mit Münzstätten in polnischen Städten des Mittelalters und der neueren Zeit. 85 Mit der Geldproblematik im mittelalterlichen Europa befassen sich wichtige Arbeiten von S. Suchodolski, der die Anfänge der Münzprägung in Mitteleuropa (östlich des Rheins) sowie Ost- und Nordeuropa 86 behandelte, und
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Unter anderem Deköwna, MJSattler, WczesnoSredniowieczny skarb srebrny z Sejkowic, pow. Gostynin (Der frühmittelalterliche Silberschatz aus Sejkowice, Kreis Gostynin), Wroclaw 1961; Kmiqtowicz, A./Kubiak, W./Deköwna, M./Reyman, J./Suchodolski, S., Wczesnosredniowieczny skarb srebrny z Zalesia, pow. Slupca (Der frühmittelalterliche Silberschatz in Zalesie, Kreis Slupca), Bd. 1-2 Wroclaw 1969/74; Czapkiewicz, A./Lewicki, TJNosek, S./Opozda, M., Skarb dirhemöw arabskich z Czechowa (Der Schatz arabischer Dirhems aus Czechow), Warszawa/Wroclaw 1957; Czapkiewicz, M./Kmietowicz, F., Skarb monet arabskich z okolic Drohiczyna nad Bugiem (Ein Schatz arabischer Münzen aus der Gegend von Drohiczyn am Bug), Krakow 1960; Czapkiewicz, M./Gupieniec, A./Kmietowicz, A./Kubiak, W., Skarb monet arabskich z Klukowic, pow. Siemiatycze (Ein Schatz arabischer Münzen aus Klukowic, Kreis Siemiatycze), Wroclaw 1964. Darüber hinaus viele Veröffentlichungen kleinerer Münzschätze in archäologischen, numismatischen und der Museumskunde gewidmeten Zeitschriften. Kiersnowski, R., Pieniqdz kruszczowy w Polsce wczesnoSredniowiecznej (Die Münzen im frühmittelalterlichen Polen), Warszawa 1960. Ders., Poczqtki pieniqdza polskiego (Die Anfänge des polnischen Geldes), Warszawa 1962. Suchodolski, S., Moneta polska w X/XI wieku (Polnische Münzen im 10./11. Jh.), in: Wiadomoäci Numizmatyczne, 11, 1967, 2-3; ders., Mennictwo polskie w XI i XU wieku (Die polnische Münzprüfung im 11. und 12. Jh.), Wroclaw 1973. Gumowski, M., Hebräische Münzen im mittelalterlichen Polen, Graz 1975. Kiersnowski, R., Pradzieje grosza (Die Vorgeschichte des Groschens), Warszawa 1975; Kubiak,S., Monety pierwszych Jagiellonow 1386-1444 (Die Münzen der ersten Jagiellonen 1386-1444), Wroclaw 1970; Bialkowski, A./Szweycer, T., Monety ostatnidi Jagiellonöw (Die Münzen der letzten Jagiellonen), Warszawa 1975. Gumowski, M., Mennica bydgoska (Die Bromberger Münze), ToruA 1955; ders., Dzieje mennicy torunskiej (Geschichte der Thorner Münze), Torun 1961; Terleciki.W., Mennica warszawska 1765-1965 (Die Warschauer Münze 1765-1965), Wroclaw 1970; Opozda, T., Mennica lobzenicka (Die Münze von Lobzenica), Wroclaw 1975; Reyman, J., Mennica olkuska 1579-1601 (Die Münze von Olkusz), Wroclaw 1975. Suchodolski, S., Poczqtki mennictwa w Europie Srodkowej, Wschodniej i Pölnocnej (Die Anfänge des Münzwesens in Mittel-, Ost- und Nordeuropa), Wroclaw 1971.
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von R. Kiersnowski, der der großen Münzreform in Europa im 13. und 14. Jh. eine Darstellung gewidmet hat.87 Einige gewichtige Arbeiten erschienen auch zur antiken Numismatik, die sozusagen einen Sonderzweig dieser Fachdisziplin bildet. Sie betreffen vor allein römische Münzen, die auf polnischem Territorium gefunden wurden 88 oder überhaupt in verschiedenen Provinzen des Imperiums 89 im Umlauf waren. Hervorgehoben zu werden verdient die rege Entfaltung des wissenschaftlichen Lebens auf dem Gebiete der Numismatik. U. a. finden alle zwei Jahre gesamtpolnische nuhiismatische Sessionen in Nowa Söl statt, die vom dortigen Museum unter Mitwirkung der Numismatischen Kommission der Polnischen Archäologischen und Numismatischen Gesellschaft veranstaltet werden. Diese Gesellschaft ist der wichtigste Organisator numismatischer Forschungen. Sie gab viele der obenerwähnten Publikationen heraus, besitzt eigene Fachzeitschriften und fördert die Neuherausgabe und den photomechanischen Nachdruck klassischer Positionen der polnischen Numismatik. Die Gesellschaft schuf auch einen organisatorischen Rahmen für die in Polen rege Sammlertätigkeit auf dem Gebiete der Münzen, Banknoten und Medaillen. Chronologie. Mit der wissenschaftlichen Problematik der Zeitbestimmung in der Vergangenheit haben sich in der Nachkriegszeit nur wenige Forscher befaßt. 1957 erschien jedoch das erste Handbuch zur polnischen Chronologie, das von B. Wlodarski herausgegeben wurde.90 Diese Veröffentlichung erläutert die verschiedenen Arten der Zeitbestimmung in Polen und enthält zahlreiche chronologische Tafeln. Die Arbeit füllte eine echte Lücke und ersetzte ältere, schwer zugängliche Hilfsmittel. Die weitere Forschungsarbeit auf diesem Gebiet war weniger intensiv und beschränkte sich hauptsächlich auf einige Kalenderpro87
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Kiersnowski, R., Wielka reforma monetarna XIII-XIV w. (Die große Münzreform im 13. und 14. Jh.), T. 1, Warszawa 1969. Konik, E., Znaleziska monet rzymskich na Slasku (Fundstätten römischer Münzen in Schlesien), Wroclaw 1965; Kunisz, A., Chronologia naplywu pieni^dza rzymskiego na ziemie Malopolski (Chronologie des Zustroms römischer Münzen nach Kleinpolen), Wroclaw 1969; ders., Katalog skarböw monet rzymskich odkrytych na ziemiach polskich (Katalog der in Polen aufgefundenen römischen Münzschätze), Warszawa 1973; Krzyzanowska, A., Skarb denaröw rzymskich z Drzewicza (Der Schatz römischer Denare aus Drzewicz), Wroclaw 1976. Kunisz, A., Obieg monetarny w Cesarstwie Rzymskim w latach 214/215-238 n. e. (Der Münzumlauf im Römischen Kaiserreich in den Jahren 214/215-238 u. Z.), Katowice 1971; ders., Geneza ustroju monetarnego Casarstwa Rzymskiego (Genesis der Münzordung im Römischen Kaiserreich), Katowice 1975; ders., Recherches sur la règne d'Auguste, Wroclaw 1976; Skowronek, J., On the Probmles of the Alexandrian Mint, Warszawa 1967; Krzyzanowska, A., Monnaies coloniales d'Antioche de Pisidie, Warszawa 1970 ; Lichocka, B., Justitia sur les monnaies romaines, Warszawa 1974. Wlodarski, BJu. a., Chronologia polska (Pblnisdie Chronologie), Warszawa 1957. Es war dies das erste vom Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene Handbuch der historischen Hilfwissenschaften, dort auch die Einleitung zur ganzen Reihe von Tadeusz Manteufitel.
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bleme; auch entstanden einige kleinere Beiträge. In den letzten Jahren begann man mit Untersuchungen über den historischen Zeitbegriff und dessen soziale Bedingtheit sowie über slawische Benennungen der Wochen- und Monatsnamen, die eng mit der Kulturgeschichte und mit Fragen, die von den Ethnologen behandelt werden, zusammenhängen. Metrologie. Diesem wichtigen Zweig der historischen Hilfswissenschaften wurde bisher in der polnischen Geschichtsforschung nicht der gebührende Platz eingeräumt. Es wurde jedoch darauf hingewiesen, welchen Erkenntniszuwachs er vermitteln könnte, auch wurde ein sehr anspruchsvolles Forschungsprogramm entworfen. 91 Abgesehen von kleineren Abhandlungen, die hauptsächlich den Getreidemaßen und den Münzeinheiten gewidmet waren, besaßen vor allem in methodischer Hinsicht die Arbeiten von W . Kula große Bedeutung, der sich mit den alten Maßsystemen in Polen und ihrer Funktion befaßte und diese Fragen im Zusammenhang mit umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Prozessen behandelte. 92 Nicht weniger fühlbar macht sich das Fehlen eines das Gesamtmaterial umfassenden Handbuchs der historischen Metrologie, das die zerstreuten Angaben über die alten metrologischen Einheiten sammeln und ordnen würde. Diese Lücke schließen die vorhandenen Arbeiten 93 nicht. In dieser Übersicht wird nicht auf Disziplinen eingegangen, die eine eigene Forschungsproblematik und eine höchst spezialisierte Forschungsmethode besitzen und heute kaum mehr den traditionellen historischen Hilfswissenschaften zugerechnet werden können. Dazu gehört z. B. die historische Geographie, die bereits 1951 ein eigenes Handbuch erhielt.94 Diese Disziplin brachte zahlreiche Veröffentlichungen hervor, die sich mit den Veränderungen des natürlichen Milieus, des Klimas, vor allem aber mit der Siedlungsgeschichte, den Besitzverhältnissen, der Herausbildung der Grenzen und den verschiedenen Territorialteilungen befaßten. Die intensive Behandlung dieser Problematik begünstigte auch die Entstehung zahlreicher kartographischer Arbeiten und einer ganzen Serie von historisch-geographischen Wörterbüchern einzelner polnischer Landschaften (derartige Arbeiten sind gegenwärtig weitgefächert vom Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Angriff genommen worden). Auch Arbeiten zur historischen Demographie, Onomastik, Kodikologie und historischen Ikonographie gehören, obwohl sie dem Historiker bei Quellenforschungen wesentliche Aufschlüsse vermitteln können, anderen Fachdisziplinen an und müßten in eigenen Übersichten abgehandelt werden. Kula, W., Metrologia historyczna. Uwagi o jej zadaniach badawczych (Historische Metrologie. Bemerkungen zu den von ihr zu lösenden Forschungsaufgaben), in: PrzeglEjd Historyczny, 50, 1959, 2, S. 248-272. 92 Kula,W., Miary i ludzie (Maße und Menschen), Warszawa 1970. Vgl. auch die frühere Arbeit: Ders., Problemy i metody historii gospodarczej (Probleme und Methoden der Wirtschaftsgeschichte), Warszawa 1963, S. 538-621. 93 Arentowicz.J., Miary polskie (Polnische Maße), Warszawa 1972; Ihnatowicz, I., Vademecum do badan nad historiq XIX i XX wieku, Bd. 1. 94 Arnold, S., Geografla historyczna Polski (Historische Geographie Polens), Warszawa 1951. 91
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Zum Abschluß dieses Überblicks, der sich auf die wichtigsten Positionen der polnischen Arbeiten von 1945 bis 1977 beschränken mußte, soll nochmals die große Bedeutung dieses vielgliedrigen Wissenschaftszweiges für die polnische Geschichtswissenschaft der Gegenwart hervorgehoben werden. Die methodologischen Veränderungen in den historischen Hilfswissenschaften und die erweiterten Fragen, die wir an die Quellen zu stellen haben, erlauben es, bei dem allgemein wachsenden Interesse f ü r die Quellenkunde der Entwicklung der historischen Hilfswissenschaften in Polen eine günstige Prognose zu stellen. (übersetzt von Dr. Heinz Lemke, Berlin)
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Die Hilfswissenschaften zur Geschichte des 19. und 2 0 . Jahrhunderts nach dem zweiten Weltkrieg
1. Allgemeine Ursachen der Entwicklung von Hilfswissenschaften zur Geschichte des 19. und 20. Jh. Hilfsdisziplinen, wie sie dem Historiker gewöhnlich für vergangene Epochen zu Gebote stehen, waren noch unlängst unter dem Instrumentarium zur Erforschung der beiden letzten Jahrhunderte nicht vertreten. Noch vor zwanzig Jahren äußerten einige Geschichtsforscher auf dem in Krakow abgehaltenen VIII. Allgemeinen Polnischen Historikerkongreß, daß Forschungen zur neuesten Geschichte im allgemeinen nicht auf Hilfsdisziplinen angewiesen seien, da es sich bei den in schriftlicher Form vorliegenden Quellen um Dokumente handele, die sich mühelos lesen ließen. Außerdem seien sie in einer für den zeitgenössischen Historiker ohne weiteres verständlichen Sprache abgefaßt, so daß sich daraus keine Arbeitsprobleme ergeben würden. Zu dieser Zeit überwogen jedoch bereits diejenigen Stimmen, die die Notwendigkeit solcher Fachrichtungen begründeten, „mit deren Hilfe Geschichtsquellen aus der neuesten Zeit rekognoszierbar seien". Obzwar die Äußerungen beider Seiten noch deutlich Spuren eines tradierten Verständnisses von Methoden und Zielen historischer Forschung erkennen lassen, begann man sich doch mehr und mehr des Erfordernisses bewußt zu werden, das Werkzeug desjenigen zu bereichern, der sich mit der Geschichte des 19. und 20. Jh. befaßt. Dafür gab es mehrere Gründe. Zum gleichen Zeitpunkt, da sich Historiker in zunehmendem Maße für die neueste Zeit interessierten, kamen neue, bis dahin unbekannte Quellen - die Fotografie, späterhin der Film und Tonaufzeiehnung aller Art - hinzu, und die schon von früher her vertrauten Quellen nahmen eine neue äußere Gestalt an: So wurden Akten nunmehr maschinenschriftliche Manuskripte; die Urkunde, im Mittelalter durchweg und späterhin überwiegend pergamenten, bestand jetzt nur noch aus Papier. Materialien, die vordem sehr bescheiden und wenig anspruchsvoll waren, gewannen im 19. Jh. neue Bedeutung und nahmen einen rapiden Aufschwung. Man denke an die Presse, an Tagebücher bzw. Memoiren, Buchführungsunterlagen und zahlreiche Quellen sonstiger Art. Während der Historiker früherer Zeitläufte auf jede einzelne Quelle erpicht war, da es ja nur wenige gab, nahm ihr Umfang im 19. und 20. Jh. in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß zu, so daß die älteren Dokumente heute nur noch einen
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ganz geringen Prozentsatz des in den Archiven befindlichen Bestandes ausmachen. An die Stelle der Befürchtungen des Historikers, etwas außer acht zu lassen, trat sein Bemühen, all das auszusondern, dessen Eliminierung möglich ist, ohne einer korrekten Verfahrensweise Abbruch zu tun. Zu seiner wichtigsten Fähigkeit mußte der Historiker das Vermögen entwickeln, sich durch einen komplizierten Wust von voluminösen Materialien hindurchzuarbeiten. Es bot sich die Möglichkeit, auf Erinnerungen von Menschen zurückzugreifen, die an den zu erforschenden Ereignissen selbst beteiligt gewesen waren. Freilich hatten auch schon Chronisten in zurückliegenden Zeiten aus derartigen Quellen geschöpft; doch war der Geschichtsforscher jetzt erstmalig imstande, sich - ausgehend von diesen Quellen - eines Instrumentariums von entscheidender Bedeutung zu bedienen, das von verschiedenen Spezialdisziplinen - wie z. B. der Psychologie oder der Soziologie - entwickelt worden war. In ähnlicher Weise vermochte man auch im Falle der Erforschung von Quellen anderer Art durch die Verwertung von Fortschritten, die innerhalb der unterschiedlichsten Disziplinen erzielt worden waren, zu positiven Resultaten zu gelangen. Stimulierend wirkten sich auf diese Entwicklung der historischen Hilfswissenschaften des 19. und 20. J h . auch die Fortschritte im Bereich von Nachbardisziplinen aus, z. B. Ethnographie, Literaturgeschichte und Statistik. Auch gingen die Historiker dazu über, sich mit Gegenständen zu befassen, die bis dahin noch gar nicht thematisch behandelt worden waren. Ideologische Änderungen in der Gesellschaft und methodologische Veränderungen innerhalb der eigenen Wissenschaftsdisziplin führten dazu, daß die Forschung ihr Augenmerk primär auf Massenprozesse richtete, von der die ganze Gesellschaft erfaßt wurde. Sie fing an, sich gründlicher mit der Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte der Arbeiterklasse und der Geschichte der politischen Anschauungen und des Nationalbewußtseins zu beschäftigen. Die marxistische Methodologie schlug sich im Bereich der Historiographie in Gestalt von Forschungen zur klassenmäßigen Struktur der Gesellschaft und zum Klassencharakter geschichtlicher Phänomene nieder. Dafür boten sich objektiv vor allem die beiden letzten Jahrhunderte mit ihren auf diesem Gebiet besonders rapiden Veränderungen an. Die Erforschung von Massenerscheinungen hatte die Anwendung qantitativer Methoden zur Folge, und da sämtliche historischen Erscheinungen zu ihrem sozialen Umfeld in Beziehung gesetzt wurden, ergab sich die Notwendigkeit, die Quelle gleichermaßen als einen gesellschaftlich bedingten geschichtlichen Fakt zu betrachten. Auf Grund einer solchen Interpretation der Geschichtsquelle ließ sich einmal ihre textliche Struktur ausschöpfen, und zum anderen konnte man so auch ihre formalen Bestandteile lückenlos auswerten. Da sich also die Formen zuvor selten anzutreffender Quellen ausprägten und neue Quellenarten hinzukamen, insgesamt der Umfang der historischen Quellen immer größere Dimensionen annahm und die Methodologie sich änderte, wurde auch das Interesse des Historikers in andere Bahnen gelenkt. All das mußte denjenigen, dessen Forschungsgebiet die letzten beiden Jahrhunderte sind, unweigerlich zu einem neuen Instrumentarium führen. Die Forschungspraxis - das waren vornehmlich wiederum die Hilfswissenschaften - mußte sich diesen Erfordernissen anpassen. In ihrem Bestreben, diesen zahlreichen neuen Bedürfnissen gerecht zu werden,
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sah sich die Forschung anfangs veranlaßt, den Umfang der Hilfsdisziplinen zu erweitern und von ihnen zu fordern, ihr auf allen Gebieten und während aller Arbeitsetappen Hilfestellung zu geben. Den Hilfswissenschaften wurden einerseits traditionelle, nämlich quellenkundliche Aufgaben zugewiesen, andererseits aber sollten sie auf die Belange des Historikers zugeschnitten sowie in der Anwendung den Methoden zahlreicher anderer, f ü r die Forschung herangezogener Disziplinen angepaßt werden. So deklarierte man als Hilfswissenschaften die Statistik, Teile der Verfassungsgeschichte, der Ökonomie, der Psychologie, der Ethnographie und etlicher anderer selbständiger Fachrichtungen. Unter dem Einfluß dieser allzu weitreichenden Forderungen bestand die Gefahr, daß die Hilfswissenschaften zur Geschichte des 19. und 20. Jh. sich in eine reine Enzyklopädie verwandeln könnten, die - bar selbständiger Forschungsaufgaben - nur die Fakten fremder Wissensgebiete reflektieren würde. Nach und nach stellte sich allerdings ein etwas ausgewogeneres Verhältnis her: Man wurde sich der Gefahr und der Fehlerhaftigkeit derartiger Konzeptionen bewußt und begann nach einer Lösung Ausschau zu halten, mit deren Hilfe es möglich sein würde, einerseits den wichtigsten Forderungen, die sich aus der Entwicklungstendenz historischer Forschung ergeben, nachzukommen und dabei andererseits den Forschungscharakter dieser Disziplinen über das rein Enzyklopädische hinaus zu wahren. Man fing auch an zu unterscheiden zwischen der Gesamtheit des für den schöpferischen Historiker unverzichtbaren Wissens, das er - je nach Richtung und Umfang seiner Forschungsarbeit - häufig anderen Disziplinen entnimmt, und dem f ü r jeden Geschichtswissenschaftler ebenso unbedingt erforderlichen Werkzeug. Diese Formel könnte etwa folgendermaßen lauten: Bei den Hilfswissenschaften zur Geschichte des 19. und 20. Jh. handelt es sich um eine Reihe von Forschungsdisziplinen, die durch und für Historiker betrieben werden, wobei hier die Bezeichnung „Historiker" im weitesten Sinn des Wortes zu verstehen ist. Demzufolge können weder Statistik noch Finanzwirtschaft, Ökonomie oder Kybernetik zu den Hilfswissenschaften gezählt werden, wie auch alle diejenigen Fachrichtungen nicht, die unabhängig von historischer Forschung existieren und ihr lediglich mit ihren Resultaten und ihrer - nicht etwa eigens f ü r die Geschichtswissenschaften geschaffenen - Methode von Nutzen sind. Daß man in großen Zügen über Umfang und Aufgabenstellung der Hilfsdisziplinen zur Geschichte des 19. und 20. Jh. nachdachte, hat sich als nutzbringend erwiesen. Auch wenn dies nicht in jedem Falle in konkrete und definitive Festlegungen mündete, haben diese Überlegungen doch den Anstoß zu fruchtbaren Reflexionen über das Handwerkszeug des Historikers gegeben und insbesondere bewirkt, daß jenes nun eine nicht mehr so willkürliche und zufällige Zusammensetzung aufweist. Schließlich gewann die Methodik f ü r den Forscher an Bedeutung, und der Historiker wurde veranlaßt, an Quellen kritische Maßstäbe anzulegen. Vor diesem Hintergrund zeichneten sich die wichtigsten Entwicklungstendenzen der Hilfsdisziplinen zur Geschichte des 19. und 20. Jh. ab.
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2. Aufbereitung von Quellenmaterialien für Forschungszwecke Das zahlenmäßige Anwachsen der Quellen und ihre Differenzierung führten zur Entwicklung all jener Gebiete der Hilfswissenschaften, die sich für die Sicherung, Auswahl und Sammlung von Quellen als nützlich erweisen könnten. Das betrifft in erster Linie die Archivistik und hier wiederum deren Abteilungen für die Überwachung der anschwellenden zeitgenössischen Dokumentation und damit für den Aufbau des künftigen Archivinhalts. Unterdessen fanden einige starkbesuchte Kongresse zu dieser Thematik statt, auf denen man allgemeine theoretische Leitlinien zu formulieren versuchte, die die Grundlage einer künftigen archivalischen Praxis abgeben und dem Forschenden zu einem besseren Uberblick über die Archivalien verhelfen könnten. Die diesem Thema gewidmeten Arbeiten von M. Bielinska, Cz. Biernat, F. Ciesläk, I. Ihnatowicz und I. Radtke sind hauptsächlich in der Zeitschrift „Archeion", aber auch in periodischen Publikationen außerhalb des Archivwesens erschienen. Eine zusammenfassende Darstellung dieser Materie liegt jedoch bis jetzt nicht vor. Bisher untersuchte man zumeist einzelne Arten von Quellen und nicht das Quellenmaterial als Ganzes. Auch über eine allgemeine Methodik und über allgemeingültige Kriterien auf diesem Gebiet wurde wenig gesprochen. Die Frage der Sicherung, Auswahl und Sammlung war auch in bezug auf Quellen nichtarchivalischer Provenienz ein aktuelles Problem. Bibliotheken und Museen verfügen in dieser Hinsicht bereits seit geraumer Zeit über gewisse Errungenschaften, z. B. das sog. Pflichtexemplar. Mancherlei Veränderungen ergaben sich bei der Bearbeitung von Quellen innerhalb der Einrichtungen, in denen sie aufbewahrt werden. Mehrere Aufsätze befassen sich mit der audiovisuellen Dokumentation, die ihren Einzug in Bibliotheken und Archive gehalten hat, und mit ihrer bibliothekarischen und archivalischen Verwertung (M. Karczowa und A. WyczaÄski), mit den Methoden der Ordnung und Bearbeitung ökonomischer Archivalien (J. Jaros, A. Rynkowska, A. Majewski), mit der Bearbeitung persönlicher Nachlässe (Z. Kolankowski), mit der Projektierungs- und Kostenvoranschlagsdokumentation und mit kartographischen Quellen (O. Staroniowa, D. Kosacka, A. Tomczak), mit der Sammlung und Bearbeitung von soziologischen Quellen (K. Kersten) sowie mit Hypothekenurkunden und notariellen Akten (J. Kazimierski, J . Smialowski, H. Szymanska). Außerdem entstanden zahlreiche Aufsätze über die Dokumentationsarten, die bereits sehr viel früher Eingang in Bibliotheken und Archive gefunden haben. Eine zweite Diskussionsrichtung war die Frage nach einer verbesserten Information über die Quellen, die infolge des rapide anschwellenden Materials zunehmende Bedeutung besitzt. Obwohl sich die bereits seit langem bekannten Informationsmittel wie Bibliographien, Inventare, Kataloge, Nachschlagewerke und Kompendien hinsichtlich ihrer Effektivität und Schnelligkeit nicht wesentlich haben verbessern lassen, sind sie doch Gegenstand vieler Studien und Abhandlungen (H. Sawoniak, H. Wi^ckowska, H. Hleb-Koszanska, K. Konarski, A. Stebelski, B. Kroll, T. Mencel). Bibliothekare, Archivare und auch Historiker interessieren sich in zunehmendem
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Maße f ü r neue technische Anlagen, z. B. f ü r den Einsatz elektronischer Rechner als Hilfsmittel zur Erlangung von Quelle und Informationen. Es haben sich hierbei Möglichkeiten abgezeichnet, schnell und sicher zu Antworten auf die unterschiedlichsten Fragen des Historikers zu gelangen, wobei Auskünfte nicht nur über den Standort, sondern auch über den Inhalt der auf das jeweilige Thema bezüglichen Quelle gefragt sind. Daß sich Daten elektronisch nicht nur ermitteln, sondern auch verarbeiten lassen, wirkte auf den Geschichtsforscher geradezu verblüffend. Darüber diskutierte man auf den allgemeinen polnischen Historikertagungen, auf Konferenzen der Kommission f ü r Archivwesen und Hilfswissenschaften der Polnischen Historischen Gesellschaft, dazu erschienen Beiträge (B. Jewsiewicki, K. Wyczariska, I. Ihnatowicz, H. Barczak, S. Nawrocki, A. Sitarska) in der Zeitschrift Studia Zrödloznawcze (Quellenkundliche Studien), im Archeion und in anderen Publikationsorganen. Es waren auch warnende Stimmen zu hören. So wurde auf Schwierigkeiten, die sich aus dem nicht eindeutigen Charakter von Quellen und aus dem Wesen historischer Forschung ergeben, und auf Probleme technischer Natur verwiesen. Bei allen Versuchen, eine bessere Information über Quellen zu erzielen, berücksichtigte man stets nur eine Seite des Problems. Niemand unternahm es, etwa das Informationsvolumen zu bestimmen, das die Forschung zu bearbeiten in der Lage wäre, d. h. anzugeben, wieviel der einzelne Forscher bewältigen könnte und wie groß die Nachfrage nach Informationen insgesamt sein würde. Auch stellte man keine Überlegungen darüber an, welche Verluste der Forscher erleiden würde, wenn er, ohne die Quellen von Sich aus auswählen zu müssen, nur solche Materialien durchsehen darf, die f ü r ihn ausgewählt wurden. Auch wurde nicht darüber debattiert, ob dieser dem Anschein nach bei Aussuchen des Materials eintretende Zeitverlust tatsächlich als vergeudete Zeit anzusehen sei und nicht vielmehr der Forschende aus dieser Arbeit unerwarteten Nutzen ziehen werde. Gegenstand der Erörterungen waren nicht nur die Information über Quellen und das Problem des Zugangs zum Original, sondern auch die jeweils spezifische Art ihrer Erschließung durch Quellenpublikationen. Zu Diskussionen über Editionsverfahren historischer Quellen des 19. und 20. Jh. regte die lebhafte verlegerische Aktivität an. Diese Diskussionen schlugen sich in zahlreichen Artikeln der historischen und archivalischen Zeitschriften nieder (Z. Kolankowski, M. Friedberg, E. Kaczynska, F. Tych) und führten zur Erarbeitung mehrerer Entwürfe von Editionsinstruktionen f ü r Archivalien (M. Friedberg) bzw. f ü r historische Quellen zum 19. und 20. Jh. in jeglicher Form (S. Kalabinski, F. Tych, I. Ihnatowicz). Den gesamten Komplex der „Quellenaufbereitung für den Forscher" versuchte man in Lehrbüchern des Archivwesens (Cz. Biernat) und der Bibliothekswissenschaft (A. Lysakowski, M. Dembowska, H. Hleb-Koszanska, A. Knot, J. Grycz) darzustellen.
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3. Verwertung des für Forschungszwecke vorgesehenen Quellenmaterials Für die zweite Phase des Kontaktes mit der Geschichtsquelle - nämlich ihre Verwertung - interessierten sich aus naheliegenden Gründen nicht so sehr Archivare und Bibliothekare als vielmehr Historiker im engeren Sinne des Wortes. Sie vor allem befaßten sich mit der Geschichte der Quellen und mit der Herkunft dieser Quellen selbst, mit ihrer Struktur, ihrem Inhalt, der Interpretation und den Methoden, durch die sie für die historische Forschung nutzbar zu machen sind. Die Geschichte der von Verwaltungisdienststellen stammenden archivalischen Quellen des 19. und 20. Jh., von denen Historiker traditionsgemäß besonders intensiv Gebrauch machen, bearbeiteten S. Komarski, W. Rostocki, F. Ramotowska, T. Mencel, I. Radtke, Cz. Wlodarska, M. Motas, J . Wqsicki und S. Gierszewski. Die Geschichte von Archivgründern, von lokalen bzw. die Selbstverwaltung betreffenden Archivalien behandelten F. Ciesielska, K. Arlamowski. H. Zaj^cowa und W. Kula untersuchten Archivgut der Wirtschaft, B. Smolenska, Z. Kolankowski und J. Bielecka Haus- und Privatarchivalien, J. Smialowski Notariatsakten, K. Dunin-Wqsowicz Tagebücher und S. Treugutt literarische Quellen. Detailliertere Beachtung schenkt die das 19. und 20. Jh. betreffende Geschichtsforschung jedoch solchen Quellen, die es vor 1800 entweder noch gar nicht, in sehr geringer Zahl oder nur in einer sehr wenig entwickelten Form gab. In derartigen Fällen war man meist über die Quellen als solche informiert, wußte aber nicht viel über die Art ihres Entstehens, so daß sich die sonst üblichen Auswertungs- und Interpretationsmethoden kaum auf sie anwenden ließen. So nimmt es nicht wunder, daß die für das 19. und 20. Jh. typische Quelle besonderes Interesse hervorgerufen hat. Erwartungsgemäß wurde daher die Geschichte der Presse Gegenstand umfangreicher Forschungsarbeit. Es wurden dafür spezielle Arbeitsstellen gegründet, so die Arbeitsstelle für die Geschichte des polnischen Zeitschriftenwesens der Polnischen Akademie der Wissenschaften, das Zentrum für pressekundliche Forschung bei der Arbeiterverlagsgenossenschaft „Presse", die Fachrichtung Journalistik an der Universität Warschau u. a. Entsprechende Fachzeitschriften wurden ins Leben gerufen: Kwartalnik Prasoznawczy (Pressekundliche Vierteljahresschrift), Rocznik Historii Czasopismiennictwa (Jahrbuch für der Geschichte des Zeitschriftenwesens), Prasa Wspölczesna i Dawna (Die Presse in Gegenwart und Vergangenheit). Im Ergebnis dieser Forschungen wurden zahlreiche Monographien über Zeitungen und Zeitschriften vorgelegt (J. Lojek, A. Slomkowska, Z. Kmiecik, T. Czapczynski, B. Kocöwna, W. Zajewski, I. Homola, B. Krzywoblocka, J. Z. Jakubowski), die unter verschiedenen Aspekten insbesondere historisch-literarische, politische und ökonomische Prozesse verfolgen. Ins Blickfeld gerieten auch die verschiedenen Einrichtungen, in denen Quellen entstehen, nämlich Redaktionen und Verlagsanstalten, sowie die Grundsätze ihrer Wirkungsweise, Organisation, Ökonomik und ihr rechtlicher Rahmen (E. Tomaszewski, B. Krzywoblocka, T. Butkiewicz, J. Lojek, J. Myslinski). Detaillierte Forschungsarbeit führte hier zur Sondierung größerer Zeiträume bzw. zur Erarbeitung einer Geschichte der polnischen Regionalpresse (J. Lojek, J . MysliAski, A. Paczkowski, Z. Kmiecik,
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S. Lato, M. Tyrowicz, B. Golka, L. Dobroszycki, T. Cieslak u. a.). Diese Vorarbeiten sollten schließlich in eine Gesamtdarstellung der Geschichte der polnischen Presse einmünden, ein Geschichtswerk, das die bisher vorliegenden Darstellungen, die nur Skripte sind (T. Butkiewicz, Z. Mlynarski, B. Krzywoblocka, A. Slisz) oder Publikationen mit einem gewissen populärwissenschaftlichen Einschlag (W. Gielzynski, K. Kozniewski, D. Kobielski), zu ersetzen hätte. Wesentlich langsamer kam man im Zuge der Erarbeitung einer Pressegeschichte, mit Untersuchungen über die Brauchbarkeit der Presse als Geschichtsquelle voran. Dieses Thema wurde in seinen Grundzügen behandelt. Dabei ging man von den Kriterien einer Informationsquelle aus, von der Glaubwürdigkeit einer Information, ihrer Vollständigkeit, des weiteren vom Einfluß, von den gesellschaftlichen Verhältnissen, der allgemeinen politischen Situation, Zensur u. a. (B. Krzywoblocka, M. Szulczewski, M. Kafel, W. Sladkowski, P. Dubiel, H. Jablonski, S. Bankowski). Zudem galt es, die verschiedenen Kategorien der Presseinformation wie Anzeigen, Illustrationen, telegrafische Meldungen u. ä. für die Verwertbarkeit der Geschichtsforschung zu untersuchen (H. Kurta, E. Wasilewska, B. Krzywoblocka, S. Frybes). Wie die Presse wurden auch andere Arten gedruckter Quellen unter dem Aspekt ihrer Geschichte und Systematisierung bzw. ihrer Verwendbarkeit für Forschungszwecke betrachtet; so befaßte sich M. Koiodziejczak mit Flugschriften. Almanache nahmen sich I. Turska-Barowa und S. Fita vor, mit Plakaten beschäftigte sich J. Fijalkowska. Die Geschichte des Buches war vornehmlich für Buchkundler und Bibliothekare bedeutungsvoll. Gleichwohl entdeckten auch Historiker in deren Arbeiten viel nützliches Tatsachenmaterial und auch methodische Hinweise, wie sich Quellen dieser Art verwerten lassen. Mit der Buchgeschichte des 19. und 20. Jh. befaßten sich u. a. J. Grycz, B. Bienkowska, S. Dahl und J. Kuglin. Quellenarten wesentlich neueren Datums, des 19. oder sogar erst des 20. Jh., haben den Geschichtsforscher im Hinblick auf Umfang und Spezifik der durch diese Arten möglich gewordenen Informationsübermittlung angezogen. Über Film, Fotografie sowie Tonbandaufzeichnungen und Schallplatten schrieben H. Karczowa, J. Rulka und A. Sikorski. Ihr Hauptaugenmerk galt dabei nicht nur dem Problem der Zuverlässigkeit und des Umfang es der darin enthaltenen Informationen, sondern auch der schwer zu beantwortenden Frage, ob diese Quellenarten nur als Hilfsmittel zur Veranschaulichung anderer Uberlieferungen oder selbst als vollwertige Quellen anzusehen sind, die vermöge spezifischer Verwertungsverfahren (z. B. durch den Versuch, psychophysische Charakteristika auf Grund ihrer Bewegung zu fixieren) Informationen ergeben können, deren man vermittelst keiner anderen Quellenart habhaft wird. Es sind auch Arbeiten über die Geschichte, die Kritik und die Möglichkeiten der Verwertung solcher Quellen erschienen, die sich nicht in Archiven und Bibliotheken befinden. Ikonographische Quellen, Aufschriften öffentlichen Charakters auf Monumenten und Tafeln (Schildern), Wappen, Architektur, Gegenstände der materiellen Kultur, Arbeitsgerät, Kleidung - all das interessiert die Geschichtswissenschaftler sowohl als selbständige Forschungsobjekte wie auch als Quellen die Aufschluß über die materiellen Lebensbedingungen der Menschen geben 32 Jahrbuch 23
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können. Zwar ist man hier nöch nicht so weit wie auf anderen Gebieten vorangekommen, jedoch haben die Arbeiten von I. Turnau, B. Mellerowa, S. K. Kuczynski, M. Por^bski, A. Biemat und S. Gawlas den Grundstein gelegt. Hinsichtlich der Forschungsmethodik fanden auch weniger materielle Quellen das Interesse der Historiker. Währungen, Maße und Gewichte, dienstliche Rangfolgen und militärische Dienstgrade wurden als Spiegel sozialer Beziehungen, als Abbild der Abhängigkeiten und zugleich der Kluft zwischen den Menschen bewertet. Pionierarbeit auf dem Felde der Interpretation dieser Quellen leistete W. Kula, der auch statistische Kategorien unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit analysierte. Freilich führten alle diese Einzeluntersuchung'an nicht in eine enzyklopädische Darstellung der Hilfswissenschaften zur Geschichte des 19. und 20. Jh. Wenngleich Arbeiten entstanden sind, die als allgemeine Kompendien oder informatorische Nachschlagewerke angesehen werden können (von I. Ihnatowicz und A. Gilewicz), wollen sie doch eben n u r Informationszwecken dienen, technische Arbeiten erleichtern - z. B. durch Umrechnung von Maßen und Währungen sowie von Datierungen - , Informationen über Quellen liefern u. dgl. m. Inzwischen liegen auch Darstellungen einzelner Hilfsdisziplinen der Geschichte vor, und zwar als Einzeltitel einer vom Institut f ü r Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Serie (B. Wlodarski, M. Haisig, K. Maleczynski, M. Bieliiiska, W. Dworzaczek). Sie erfassen jedoch nicht alle Hilfswissenschaften, handeln die jeweilige Fachrichtung ab und konzentrieren sich natürlich auf f r ü h e r e Epochen, so beispielsweise auf die Sphragistik und die Chronologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit, nicht jedoch des 19. und 20. J h . Eine systematische Übersicht streben Darstellungen zu Lehrzwecken an, wobei es sich um Skripte (Bobrowski, Burski, Turon) handelt, deren Fertigstellung leider nicht zu ersprießlichen Resultaten führte. In der Regel nahmen Vertreter von Hilfswissenschaften - speziell der Hilfsdisziplinen zur Geschichte des 19. und 20. Jh. - an verschiedenen Veranstaltungen zur allgemeinen Geschichte teil, auf denen ein Fazit der Leistungen und Mängel der polnischen Historiographie gezogen werden sollte. Der 8. Allgemeine Polnische Historikerkongreß im J a h r e 1958 befand es f ü r zweckmäßig, diese Problematik auch in Zukunft im Rahmen einer gesonderten Sektion behandeln zu lassen. Diese - ob schon nicht immer konsequent respektierte - Auffassung fand ihren Ausdruck in der Tätigkeit separater Sektionen bzw. Symposien im Verlauf späterer Kongresse, so des 10. Historikerkongresses 1969 und des 11. im J a h r e 1974. In den veröffentlichten Kongreßmatertalien sind die Hilfswissenschaften zur Geschichte in gesonderten Kapiteln zu finden. Eine Übersicht über diese Publikationen und ihre Themen legte anläßlich des 11. Kongresses Andrzej Tomczak vor. Außer auf den allgemeinen Historikerkongressen w u r d e die Thematik Hilfswissenschaften auf Zusammenkünften der Kommission f ü r Archivistik und Hilfswissenschaften beim Zentralvorstand der Polnischen Historischen Gesellschaft erörtert. Dabei ging es um das Archiv als Arbeitsstätte des Historikers, um das gesellschaftliche Bewußtsein als Geschichtsquelle u. a. m. Es fanden auch verschiedene Symposien an Universitäten statt, auf denen komplexere Probleme
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der Hilfsdisziplinen zur Debatte standen wie z. B. didaktische Fragen bei Hilfswissenschaften zur Geschichte, Raum und Zeit in der Geschichte u. dgl. m. In gewissem Sinne stellen auch die Zeitschriften, soweit sie sich mit den Hilfswissenschaften zur Geschichte des 19. und 20. Jh. befassen, eine entprechende Diskussionsebene dar. In diesem Zusammenhange verdienen Periodika ganz besondere Erwähnung: Studia Zrödloznawcze (Quellenkundliche Studien); Archeion; Archiwa, Biblioteki i Muzea Koscielne (Kirchliche Archive, Bibliotheken und Museen); Kwartalnik Historii Kultury Materialnej (Vierteljahresschrift zur Geschichte der materiellen Kultur); Kwartalnik Muzealny (Vierteljahresschrift für Museen); Rocznik Muzeum Narodowego w Warszawie (Jahrbuch des Nationalmuseums in Warschau); Rocznik Biblioteki Narodowej (Jahrbuch der Nationalbibliothek) und auch die Zeitschriften zur allgemeinen Geschichte, die sich u. a. auch Problemen der Hilfswissenschaften widmen, nämlich Kwartalnik Historyczny (Historische Vierteljahresschrift) und Przegl^d Historyczny (Historische Rundschau). Im Rahmen des Hochschullehrplans hatten sich die Studierenden mit den Hilfsdisziplinen zur Geschichte des 19. und 20. Jh. im dritten Studienjahr zwei Semester lang in Pflichtseminaren mit zwei Wochenstunden zu beschäftigen. Infolge der Verkürzung des Geschichtsstudiums von fünf Jahren auf vier Jahre entfiel auch ein Teil der für diese Fachrichtung vorgesehenen Zeit. Mit Hilfe verschiedener didaktischer Maßnahmen versucht man jedoch zu sichern, daß die Studenten in gebührendem Maße Kenntnisse in puncto Arbeitstechnik und Arbeitsmethoden erwerben, auf einem Gebiet also, das für die Qualität der Arbeit entscheidende Bedeutung besitzt. Dabei sind die breitesten Möglichkeiten dort gegeben, wo an den Universitäten - in Torun, Warszawa, Wroclaw und Gdansk - eine Spezialisierung auf die Archivistik vorhanden ist und diese sich organisch mit dem Geschichtsstudium verbinden läßt.
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Die wichtigsten Zeitschriften und Monographien zu Problemen der Hilfswissenschaften der Geschichte des 19. u n d 20. Jh.
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Hilfswissenschaften zum 19. und 20. Jahrhundert
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Das polnische geschichtswissenschaftliche Zeitschriftenwesen nach dem zweiten Weltkrieg
Während der Besetzung Polens durch das Deutsche Reich Hitlers wurden alle polnischen wissenschaftlichen Institutionen von den Okkupationsbehörden aufgelöst, den Gelehrten und Wissenschaftlern die Ausübung ihres Berufes untersagt. Viele von ihnen starben in Konzentrations- und Vernichtungslagern. Die Universitäten und Hochschulen Polens wurden geschlossen, ihre Sammlungen und Arbeitsstätten nach Deutschland gebracht bzw. der lokalen Naziverwaltung unterstellt, jede wissenschaftliche Verlagstätigkeit untersagt. Auf diese Weise wollte der faschistische Staat die polnische Nation zu einem Sklavenvolk degradieren. Alle vor dem Kriege in Polen bestehenden geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften, an erster Stelle die traditionelle „Kwartalnik Historyczny" (Historische Viertel]ahresschrift), gegründet 1887, und die „Przegl^d Histoiyczny" (Historische Rundschau), gegründet 1906, wurden verboten. Damit begann die düstere Periode des „großen Schweigens" der polnischen Geschichtswissenschaft, die sechs Jahre währen sollte. Einige Forschungen konnten - soweit es möglich war - illegal betrieben werden, und zwar in Warschau und in Krakau. Davon zeugen einige Bücher, deren Manuskripte während des Krieges entstanden und danach veröffentlicht wurden. Mit der Befreiung der östlichen Gebiete Polens zwischen Bug und Weichsel durch die Rote Armee im Sommer 1944 war es noch nicht möglich, geschichtswissenschaftliche Einrichtungen zu schaffen, da es in den befreiten Städten Lublin und Rzeszow vor dem Kriege keine Hochschulen mit der Studienrichtung Geschichte gab und somit eine praktische Wiederaufnahme der historischen Forschung irrelevant war. Erst nach der großen Winteroffensive des Jahres 1945, die die übrigen polnischen Territorien befreite, konnte die geschichtswissenschaftliche Forschung in Polen in vollem Umfange wieder aufge^ nommen werden. Das aber war keine leichte Aufgabe. Von den fünf staatlichen Universitäten vor dem Kriege mit ihren Sammlungen und Bibliotheken befanden sich nur noch drei innerhalb der neuen Nachkriegsgrenzen: Warschau, Krakau und Poznian. Die katholische Universität in Lublin funktionierte zwar schon, hatte aber bis zu diesem Zeitpunkt keine nennenswerten Forschungsergebnisse im Bereich der allgemeinen Geschichtsforschung zu verzeichnen. Die Warschauer Universität wurde bereits im August 1944 während
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des Aufstandes schwer und nach seiner blutigen Niederschlagung von den Nazis völlig zerstört. Nachdem die vertriebene Bevölkerung im Januar 1945 zurückgekehrt war und es unter großen Mühen und Anstrengungen gelang, Teile der Universität wieder aufzubauen, konnte erst 1946 der Lehrbetrieb in einigen Fächern aufgenommen werden. Die Universität Poznan war von den Nazis geplündert und darüber hinaus während der langen Straßenkämpfe 1945 stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Nur die Jagiellonische Universität in Krakau war verschont geblieben und konnte gleich nach der Befreiung ihren Betrieb aufnehmen. Damit war einige Monate Krakau Mittelpunkt der polnischen Wissenschaft; hier befand sich auch der Sitz der 1873 gegründeten Akademie der Wissenschaften (Polska Akademia Umiej^tnosci), die dann 1952 durch die Neugründung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Polska Akademia Nauk) ersetzt wurde. Nach Krakau strömten zunächst die repatriierten polnischen Gelehrten aus Litauen und der Westukraine sowie einige Professoren und Dozenten aus der Hauptstadt nach der Niederlage des Warschauer Aufstandes. Seit Sommer 1945 begann der neue Staat der Arbeiter, Bauern und der schaffenden Intelligenz - so lautete die damals übliche Bezeichnung der Staatsform - energisch damit, das Netz der Hochschulen und Forschungszentren den neuen geographischen, sozialen und demographischen Gegebenheiten anzupassen, womit die erste Periode des intensiven Wiederaufbaus in Angriff genommen wurde. Dabei war man meistens bestrebt, die herkömmlichen Formen und bekannten Strukturen wieder ins Leben zu rufen. Diese Periode dauerte bis etwa 1948, dem Jahr, in dem auch der Siebente Allgemeine Polnische Historikerkongreß (der erste nach dem zweiten Weltkrieg) in Wroclaw stattfand. Während dieser Zeit erschienen ebenfalls wieder viele polnische geschichtswissenschaftliche Zeitschriften. Die erste war aber keine von den bekannten traditionsreichen, sondern eine Neugründung, symptomatisch für diese erste Nachkriegsperiode. Im Juli 1945 wurde die „Przeglqd Zachodni" (Westliche Rundschau) von dem ebenfalls neugegründeten Westinstitut in Poznaö herausgegeben, das die Geschichte und Gegenwart Deutschlands und die deutsch-polnischen Beziehungen erforschen sollte. Man könnte darin auch einen spezifischen Fall der damaligen allgemeinen ideologischen Situation innerhalb der polnischen Intelligenz erblicken, die - um es kurz, beinahe schablonenhaft auszudrücken bereits anifaschistisch, aber noch kaum marxistisch geworden war „Przegl^d Zachodni" war übrigens die einzige Zeitschrift mit geschichtswissenschaftlichem Inhalt überregionalen Charakters. Sonst war nur f ü r kurze Zeit die bereits seit 1907 unregelmäßig erschienene „Zaranie Slqskie" (Schlesische Morgenröte) herausgegeben, die dann erst wieder seit 1956 einigermaßen regelmäßig erschien. 1946, im ersten Friedensjahr des Wiederaufbaus, wurden die beiden wichtigsten zentralen Zeitschriften der polnischen Geschichtswissenschaft reaktiviert - die „Kwartalnik Historyczny" (Historische Vierteljahresschrift), die bereits 1887 im damals zum östereichischen Galizien gehörenden Lviv (Lwöw, Lemberg) erschien und nunmehr ihren Redaktionssitz nach Krakow verlegte, und die „Przeglqd Historyczny" (Historische Rundschau), gegründet kurz nach den revolutionären Ereignissen des Jahres 1905 in Warschau, dem damals russischen
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Teilgebiet Polens. Beide Zeitschriften waren Organe der Polnischen Historischen Gesellschaft (Polskie Towarzystwo Historyczne), wobei die „Przegl^d Historyczny" ein Organ der Warschauer Gesellschaft der .Geschichtsliebhaber (Warszawskie Towarzystwo Milosniköw Historii) ist, die eine lokale Warschauer Zweigstelle der Polnischen Historischen Gesellschaft darstellt und aus Traditionsgründen ihren alten Namen aus der Teilungszeit beibehalten hat. Die erste Nummer von „Kwartalnik Historyczny" erschien als Fortsetzung des Jahrgangs 1939 unter derselben Redaktion von Roman Grodecki, Kazimierz Lepszy und Kazimierz Tyszkowski. Sie brachte traurige Informationen: Erinnerungen an die während des Krieges hingerichteten, gefallenen, erschossenen und verstorbenen polnischen Historiker von Rang: Akademiemitglieder, Universitätsprofessoren und Dozenten. Erst der Jahrgang 1947 war im Aussehen einigermaßen zufriedenstellend und wies auch den üblichen Inhalt einer geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift auf. Im Redaktionskollegium war jetzt anstelle von Tyszkowski Jan Dqbrowski tätig. Alle drei Redakteure erforschten die feudale Epoche - Grodecki und Dqbrowski waren Mediävisten, Lepszy arbeitete auf dem Gebiet der Frühneuzeit. Auch diese personelle Zusammensetzung der Redaktion ist ein Charakteristikum der ersten Nachkriegsjahre, insbesondere in dem damals größten Zentrum der polnischen Geschichtswissenschaft, Krakow. 1946 erschienen noch weitere Zeitschriften, die es bereits vor dem zweiten Weltkrieg gab. Dazu gehörten vor allem die periodischen Publikationen der alten Akademie der Wissenschaften in Krakau mit ihren „Sprawozdania" (Berichten) sowie die ähnlich betitelte Serie der Warszawskie Towarzystwo Naukowe (Warschauer Wissenschaftlichen Gesellschaft) bis 1951. Auch die 1908 gegründete Zeitschrift für die Geschichte Pomereilens „Zapiski Towarzystwa Naukowego w Toruniu" (Mitteilungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft zu Torun) wurde wieder herausgegeben. Bald zählte zu ihr ein bedeutender Kreis von Mitarbeitern der in Torun 1945 gegründeten Copernicus-Universität als Autoren. Zunächst aber wurden mit siebenjähriger kriegsbedingter Verspätung noch Materialien aus der Vorkriegszeit gedruckt. Außer diesen Reaktivierungen alter Zeitschriften, die methodologisch und inhaltlich meistens an die unterbrochenen Forschungsvorhaben anknüpften, gab es 1946 bereits mehrere Neugründungen, die sich bis heute als durchaus lebensfähig erwiesen haben. Dazu gehörte vor allen Dingen die in Wroclaw gegründete Zeitschrift „Sobötka" (Zobtenberg), die mit ihrem Titel symbolisch an die alte Zeit der slawischen Besiedlung Schlesiens anknüpfte und seit 1957 den Untertitel „Slqski Kwartalnik Historyczny" (Schlesische Historische Vierteljahresschrift) führt. Bei ihrer Gründung und bei der Fortführung hat sich maßgeblich das Ehepaar Ewa und Karol Maleczyriski verdient gemacht. Beide gehörten später zu den frühesten und aktivsten Anhängern des historischen Materialismus in der polnischen Geschichtsforschung und wirkten bahnbrechend bei dA" Uberwindung der alten Denkschemen in den Forschungen über die deutsch-polnischen Beziehungen in ihrer Gesamtheit. Eine interessante und zugleich ambitiöse Gründung des Jahres 1946 war die Monatsschrift für die Geschichte und Kulturgeschichte der Antike „Meander". Sie erscheint bis auf den heutigen Tag und erfreut sich eines wachsenden Leser-
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kreises, da sie außer Forschungsberichten Texte populärwissenschaftlichen Charakters bringt und somit ü b e r die Spezialistenkreise hinaus wirkt. Das Interesse an d e r Alten Geschichte scheint in den letzten J a h r z e h n t e n nach vorübergehendem Rückgang n u n wieder größer zu werden. Dabei sollte noch bemerkt werden, daß in „Meander" auch Altphilologen und nicht n u r ausschließlich Historiker i h r e Arbeiten drucken lassen. Seit 1964 zeichnet f ü r die Herausgabe dieser einzigartigen Zeitschrift das Komitee der Altertumswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Noch eine n e u e Zeitschrift sei genannt, die katholische kirchengeschichtliche „Nasza Przeszlosc" (Unsere Vergangenheit), die seit 1946 in zwangloser Folge erscheint u n d von der bis 1976 bereits 47 B ä n d e vorliegen. Bis 1974 w u r d e sie vom Theologischen Institut des Missionarsordens in K r a k o w herausgegeben. Seitdem dieses Institut gewissermaßen verweltlicht wurde, erscheint die Zeitschrift n u n m e h r in einem eigenen Verlag. 1947 konnten wieder Publikationen von spezialisiertem Profil mit überregionalem Charakter erscheinen, so die „Roczndki Dziejöw Spoiecznych i Gospodarczych" (Jahrbücher f ü r Sozial- und Wirtschaftsgeschichte) in Poznafi, d i e bis 1939 in Lviv herausgegeben w u r d e n u n d bis h e u t e in Polen ein Zentralorgan f ü r diese Problematik darstellen. Die ebenfalls in Poznan erscheinenden „Roczniki Historyczne" (Historische Jahrbücher) haben trotz des allgemeingeschichtlieh klingenden Titels m e h r den C h a r a k t e r einer Zeitschrift, inoffizielles Organ d e r in Poznan arbeitenden Historiker, obwohl ebenfalls Autoren aus anderen Orten zu Worte kommen. Es läßt sich in d e r behandelten Thematik ein Übergewicht der feudalen und der frühkapitalistischen Epoche beobachten, w a s ebenfalls auf regionale, nicht aber regionalistische G r ü n d e zurückzuführen ist. Zu den Pozn a n e r Zeitschriften gesellte sich schließlich die 1947 ebenfalls e r n e u e r t e „Slavia Occidentalis" hinzu, ein J a h r b u c h f ü r Geschichte der Westslawen, vornehmlich Altertum u n d Mittelalter. Sein Herausgeber ist das Westslawische Institut der Universität zu Poznan. Eine interessante, aber sehr spezialisierte Zeitschrift erschien wieder 1947: die „Reformacja w Polsee", Organ der Gesellschaft f ü r Forschungen ü b e r die Geschichte d e r Reformation in Polen. Sie veröffentlichte in zwangloser Folge bis zu i h r e r Einstellung 1956 50 Hefte. An die Stelle dieser in methodologischer Hinsicht recht traditionellen Zeitschrift t r a t in jenem J a h r eine neue Publikation, „Odrodzenie i Reformacja w Polsce" (Renaissance und Reformation in Polen), die als J a h r b u c h vom Institut f ü r Geschichte der Polnischen Akademie d e r Wissenschaften herausgegeben wird. Bisher sind 22 Bände erschienen. Als eine Erscheinung von kurzer Dauer erwies sich zunächst die Zeitschrift „Dzieje Najnowsze" (Neueste Geschichte) 1 , die vom Institut des Nationalen Gedenkens (Instytut Pami^ci Narodowej) ediert werden sollte. Es ist aber n u r ein 1
Die polnische Bezeichnung „neueste Geschichte" umfaßt nach dem üblichen Sprachgebrauch sowohl die neueste als auch die Zeitgeschichte. Der Begriff „Zeitgeschichte" ist zwar der polnischen Sprache nicht fremd (historia wspolczesna), wird aber meistens sowohl in der Forschung als auch in der institutionellen Organisation der Wissenschaft nicht ausgesondert, sondern als dem Sammelbegriff „Historia najnowsza" (neueste Geschichte) untergeordnet betrachtet.
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Band im Jahre 1947 erschienen; auch das erwähnte Institut stellte gleich darauf seine Arbeit ein. Unter demselben Titel „Dzieje Najnowsze" und der Redaktion des Direktors des Instituts für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Prof. Dr. Czeslaw Madajczyk, hat die Akademie 1969 mit der Publikation eines Jahrbuchs für diesen Problemkreis begonnen. Zu einem bedeutsamen Ereignis für die Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften wurde die Schaffung eines theoretischen Organs des Zentralkomitees der Polnischen Arbeiterpartei (seit 15. Dezember 1948 Polnische Vereinigte Arbeiterpartei), das unter dem Titel „Nowe Drogi" (Neue Wege) bis heute monatlich erscheint. Zahlreiche geschichtswissenschaftliche Probleme der Forschung, der Lehre und der gesellschaftlichen Praxis wurden bislang in dieser Zeitschrift aus marxistisch-leninistischer Sicht beleuchtet und wichtige historische Publikationen rezensiert. Die führenden marxistischen Historiker Polens gehören dem Redaktionskollegium an und sind Autoren von Aufsätzen oder Besprechungen. 1948 war zugleich das letzte „Nachkriegsjahr", in dem praktisch die letzten geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften der Vorkriegszeit wiedergegründet wurden, und zwar mit eindeutig überregionalem Profil. Es handelte sich dabei vor allem um „Archeion", eine Zeitschrift f ü r das Archivwesen und alle damit zusammenhängenden Fragen, die von der Hauptdirektion der Staatlichen Archive herausgegeben wird (vorwiegend als Jahrbuch, es gibt aber Jahre, in denen auch zwei umfangreiche Halbbände erscheinen). Sie dient den Historikern besonders als Informationsquelle über neu erschlossene oder zugänglich gemachte Aktenbestände. Die „Wiadomosci Historyczne" (Historische Nachrichten) befassen sich mit der Methodik des Geschichtsunterrichts und erschienen vor dem zweiten Weltkrieg als eine bescheidene Beilage zu „Kwartalnik Historyczny". Der Herausgeber dieser nun selbständigen Zeitschrift ist das Ministerium f ü r Volksbildung. Bis 1953 erschien sie unter dem alten Titel, dann wurde sie in „Historia i Nauka o Konstytucji" (Geschichte und Verfassungskunde) umbenannt. 1958 erhielt sie aber die frühere Bezeichnung zurück. Sie erscheint alle zwei Monate; zum Redaktionskollegium gehören ebenso Mitglieder der Didaktischen Kommission der Polnischen Historischen Gesellschaft, die als Mitherausgeber genannt wird. Das nach dem Kriege in Polen ins Leben gerufene Jüdische Historische Institut hat 1948 mit der Herausgabe seines Organs in Jiddisch, der „Bieter far Geschichte" begonnen; zunächst erschien die Zeitschrift als Vierteljahresschrift, seit 1958 als Jahrbuch (bis 1970). Forschungsberichte des Jüdischen Historischen Instituts erscheinen seit 1949 als „Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego", zunächst in Jiddisch, seit 1950 in Polnisch (2 bis 4 Hefte jährlich). Es werden besonders die Schicksale der Juden in Polen in der Zeit der Nazibesatzung behandelt, in einem bedeutend geringeren Umfang andere Probleme der jüdischen Geschichte. In den Jahren 1949 bis 1955 gab es nur wenige Neugründungen von geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften!; auch die bereits bestehenden erschienen in größeren Zeitabständen, manche haben ihr Erscheinen sogar vorübergehend eingestellt. Zwei derzeit wirkende Faktoren spielten hierbei eine Rolle: der „kalte Krieg", der die materiellen Ressourcen aller sozialistischen Staaten in gesteiger-
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tem Maße f ü r Verteidigungszwecke vorsah, und die sich in diesen J a h r e n vollziehenden ideologischen u n d institutionellen Umwandlungen in der Wissenschaft und im Hochschulwesen, wobei auch gewisse Fehler gemacht w u r d e n : Einige Zeitschriftenredaktionen w u r d e n geschlossen, so daß die bisher von ihnen publizierten Forschungsergebnisse von wissenschaftlichem Wert keine anderweitigen Verbreitungsmöglichkeiten finden konnten. Weitere Ursachen w a r e n die f ü h l bare Verminderung von U m f a n g u n d Heftzahlen der meisten Zeitschriften u n d die im selben Zeitraum durchgeführte grundlegende Neuorgansierung des gesamten Verlagswesens. Die neugeschaffenen staatlichen Verlagshäuser m u ß t e n sich eine gewisse Zeit lang „einarbeiten", bevor sie ihre geplante Kapazität erlangten. Es gab aber bereits in dieser problemreichen Periode m e h r e r e Anzeichen f ü r positive Veränderungen. Zunächst w u r d e die Redaktionsplanung u n d die damit zusammenhängende Redaktionspoltik nicht n u r eingeführt, sondern auch eingehalten, w a s einen fördernden Einfluß auf das methodologische und sachliche Niveau des veröffentlichten Materials h a t t e und auch zu einer gewissen Arbeitsaufteilung u n t e r den einzelnen Zeitschriften beitrug. Es w u r d e dabei klar, d a ß gewisse Forschungsgebiete, die eben erst nach dem Kriege, u n d zwar vielfach unter d e m Einfluß der marxistischen Methodologie u n d Fragestellung, in einem größeren Maße betrieben wurden, n u r beschränkte Publikationsmöglichkeiten in d e n seit m e h r e r e n J a h r z e h n t e n vorhandenen Zeitschriften hatten. Diesen neuen Bedürfnissen t r u g m a n Rechnung, wenngleich zunächst nicht in d e r gewünschten Art. So entstand bereits 1950 eine interdisziplinäre Zeitschrift f ü r Gesellschaftswissenschaften mit dem Titel „Przegl^d Nauk Spoiecznych i Historycznych" (Rundschau der Gesellschafts- u n d Geschichtswissenschaften), die von der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Lodz bis 1958 herausgegeben wurde. Nach d e r N e u g r ü n d u n g d e r Polnischen Akademie d e r Wissenschaften mit dem Sitz in Warschau 2 w u r d e n n e u e geschichtswissenschaftliche zentrale Fachzeitschriften ins Leben gerufen. Dazu gehörten 1952 „Kwartalnik Instytutu PolskoRadzieckiego" (Vierteljahresschrift des Polnisch-Sowjetischen Instituts) - eine Zeitschrift, die u n t e r diesem Titel bis 1956 existierte und dann die Bezeichnung „Slavia Orientalis" erhielt - , sowie die „Studia Wczesnoiredniowieczne" (Frühmittelalterliche Studien), von denen fünf Bände erschienen. In den darauffolgenden drei J a h r e n gab es weitere Neugründungen von historischen Zeitschriften, die sich d a n n mit ganz wenig Ausnahmen g u t b e w ä h r t haben. So entstand 1953 „Kwartalnik Historii K u l t u r y Materialnej" (Vierteljahresschrift f ü r die Geschichte der materiellen Kultur) und die „Teki Archiwalne" (Archivmappen), die zu einem Quellenpublikationsorgan f ü r die staatlichen Archive w e r d e n sollten. 1954 w u r d e die wichtige „Czasopismo Prawno-Historyczne" (Zeitschrift f ü r Rechtsgeschichte) gegründet, eine international a n e r k a n n t e polnische Zeitschrift. In dieses J a h r fällt auch die Wiederbelebung des bereits vor dem Kriege in der damaligen Freien Stadt Danzig existierenden „Rocznik Gdanski" (Danziger J a h r buch), das in Volkspolen zu einem der Hauptorgane der Geschichte Pomereilens, Pommerns und des Ostseeraumes wurde. 1955 entstanden als wichtige regionale N e u g r ü n d u n g e n : „Kwartalnik Opolski" (Oppelner Vierteljahresschrift), die regelmäßig erscheint (22 Bände bis 1976), und „Studia i Materiaty do Dziejöw Wielkopolski i Pomorza" (Studien u n d Materialien zur Geschichte Großpolens
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und Pomereilens), 11 Bände bis einschließlich 1975. Auch die „Zapiski Towarzystwa Naukowego w Toruniu" (Mitteilungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft zu Thorn) - seit 1908 - haben ihren bisherigen Titel, dem tatsächlichen Inhalt entsprechend, in „Zapiski Historyczne" (Historische Mitteilungen) umgewandelt. Der Untertitel sagt aus, daß die Geschichte Pommerns, Pomereilens (Westpreußens), Ermlands und Masurens (Ostpreußens) sowie des gesamten Ostseeraumes behandelt wird. Besonders im letzten Jahrzehnt hat sich dies© vor 70 Jahren anfänglich bescheidene lokale Zeitschrift einen internationalen Rang erworben, die Beiträge von Autoren aus der UdSSR, der DDR, Finnland, Schweden, der BRD und den Niederlanden veröffentlicht. Das Jahr 1956 mit seinen bedeutsamen politischen Ereignissen ist im polnischen geschichtswissenschaftlichen Zeitschriftenwesen nicht ohne bemerkenswerte Folgen geblieben. Die Überwindung des sogenannten Personenkults führte insbesondere in den Gesellschaftswissenschaften zu manchen vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus aus unerwünschten Nebenerscheinungen, z. B. zu gewissen als revisionistisch erkannten Tendenzen. Die Geschichtswissenschaft in Polen wurde aber von diesen Erscheinungen im Vergleich zu anderen Gesellschaftswissenschaften nur in einem geringen Maße betroffen, so daß hier der Erneuerungsprozeß ziemlich reibungslos verlief. Dazu hat bestimmt die in Polen traditionsmäßig große erzieherische Rolle der Geschichte beigetragen, die den Patriotismus förderte, der sich wiederum mit dem Sozialismus und dem proletarischen Internationalismus gut in Einklang bringen ließ und zugleich mit der Vaterlandsliebe auch das Denken in staatlichen Kategorien entwickelte. Nach 1956 wurden auf dem für uns so interessanten Gebiet historische Zeitschriften, von denen freilich nicht alle die Probe der Zeit bestanden haben, neugegründet. Es gab mehrere lokale Initiativen, die sich entweder in der Herausgabe einiger bescheidener Hefte oder Bände erschöpften oder aber sogar versandeten. Diese Publikationen sind aber nicht zu verwerten, da sie meistens ihr Entstehen den authentischen lokalen Bedürfnissn verdanken und somit einen Nutzen auch für ernstere Forschung bringen können. Mancher Lokalhistoriker leistete auf diese Weise einen wertvollen Beitrag. Wir können hier aber nicht auf alle regionalen Arbeiten eingehen, da sie nur selten internationales Interesse erwecken dürften. Von den wichtigeren Gründungen dieser Art aus den in dieser Hinsicht fruchtbarsten Jahren 1956 bis 1958 sind lediglich diejenigen lokalen periodischen Veröffentlichungen zu nennen, die entweder mit den Universitäten und anderen humanistischen Hochschulen lebhafte Verbindungen aufrechterhalten oder aber in Städten herausgegeben werden, die über eine längere'Tradition der lokal2
Die 1873 noch unter österreichischer Herrschaft in Galizien gegründete Akademie der Wissenschaften hatte ihren Sitz in Krakau. Nach der Gründung der neuen Akademie übernahm diese den gesamten Besitz der alten, nicht aber ihre Publikationsreihen, die nicht mehr fortgeführt wurden. Ähnlich war es mit der Warschauer wissenschaftlichen Gesellschaft. Die regionalen wissenschaftlichen Gesellschaft mit akademischem Charakter blieben weiter bestehen (wie z. B. Lodz, Poznafi, Torun, Gdarisk, Wroclaw, Lublin), konnten ihre Publikationen auch weiterhin herausgeben.
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geschichtlichen Forschung, etwa in den örtlichen wissenschaftlichen Vereinen, verfügen. Dazu gehören die „Roczniki" (Jahrbücher), die jeweils in Lodz, Lublin, Olsztyn, Przemyál, Elbl^g und Toruñ - die beiden letzteren erst seit 1961 herausgegeben werden; daneben gibt es Periódica, wie z. B. „Zeszyty" (Hefte). Damit ist aber die Liste nicht erschöpft, und es ließen sich mit Bestimmtheit etwa weitere 20 Titel aufzählen. Weit größere Bedeutung haben f ü r die Forschung diejenigen in derselben Periode gegründeten Zeitschriften, die sich von Anfang an programmatisch auf die Gesamtgeschichte eingestellt haben, wenngleich schon ihr Titel etwas über die stark akzentuierte Spezialisierung und Arbeitsteilung sagt. Während der folgenden 20 J a h r e waren sie f ü r die Forschung nutzbringend, einige von ihnen wurden inzwischen sogar international bekannt. Zu nennen sind vor allem „Kwartalnik Historii Nauki i Techniki" (Vierteljahresschrift f ü r die Geschichte der Wissenschaft und Technik), gegründet 1956, und die in Poznañ erscheinenden „Studia Zródloznawcze - Commentationes" (Studien f ü r die Quellenforschung - Kommentare), die vorwiegend den sogenannten Hilfswissenschaften der Geschichte gewidmet sind, gegründet 1957. Eine wichtige Rolle spielt f ü r die Geschichte der Kriegskunst und des Militärwesens „Wojskowy Przegl^d Historyczny" (Militärgeschichtliche Rundschau), die vom Ministerium f ü r Nationale Verteidigung seit 1956 als Vierteljahresschrift neben den bereits unregelmäßig erscheinenden „Studia i Materialy do Dziejów Wojskowosci" (Studien und Materialien zur Militärgeschichte) herausgegeben wird. Das Institut f ü r Parteigeschichte des ZK der PVAP begann 1958 unter dem Titel „Z Pola Walki" (Aus dem Kampffeld) eine eigene Zeitschrift herauszugeben, die an eine in den Jahren 1926 bis 1934 in Moskau edierte Zeitschrift der polnischen Sektion des Marx-Engels-Lenin-Instituts anknüpft und sich mit den Fragen der Geschichte der Arbeiterbewegung befaßt. In demselben J a h r e brachte das Institut f ü r Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften „Najnowsze Dzieje Polski" (Neueste Geschichte Polens) bis 1968 heraus. Von den regionalen Periódica mit zum Teil überregionaler Bedeutung sollten noch die „Komunikaty Mazursko-Warmiñskie" (Masurisch-Ermländische Mitteilungen), gegründet in Olsztyn 1957, und die „Malopolskie Studia Historyczne" (Kleinpolnische Historische Studien), gegründet in Krakow 1958, seit 1965 n u r noch „Studia Historyczne" genannt, angeführt werden. Eine besondere Bedeutung f ü r die internationale Geschichtswissenschaft können ebenfalls die „Acta Poloniae Histórica" verzeichnen, in denen zusammenfassende Forschungsberichte und Literaturübersichten aus verschiedenen Bereichen der polnischen Geschichtswissenschaft veröffentlicht werden, und zwar in den sogenannten Kongreßsprachen, d. h. meistens französisch und englisch, aber auch deutsch, je nach dem voraussehbaren Leserkreis, der sich f ü r die behandelten Probleme interessieren wird. Eine Zeitschrift f ü r die Geschichte der geistigen Kultur des Mittelalters sind die als Jahrbuch seit 1958 von der Abteilung f ü r die Geschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie des Philosophischen Instituts der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen „Studia Mediewistyczne" (Mediävistische Studien). Und eine Zeitschrift, die über die reine Geschichtswissenschaft
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hinausgeht, ist die 1957 gegründete „Przeglqd Humanistyczny" (Humanistische Rundschau). Um die l i s t e der Neugründungen unmittelbar nach 1956 möglichst vollständig anzuführen, dürfen zwei Spezialzeitschriften nicht unerwähnt bleiben, und zwar „Wiadomosci Numizmatyczne" (Numismatische Nachrichten) und die bereits erwähnte „Odrodzenie i Reformacja w Polsce" (Renaissance und Reformation in Polen). Zuletzt soll in dieser Gruppe noch eine besondere Zeitschrift genannt werden, die zwar keine geschichtswissenschaftliche Publikation in dem Sinne ist, daß sie die Forschung mit ihren Beiträgen bereichert, dafür aber namhaften Forschern öfter ihre Spalten zur Verfügung stellt: die 1958 gegründete Monatsschrift „Möwiq Wieki" (Es sprechen die Jahrhunderte). Sie popularisiert die Geschichte und spielt eine bedeutende Rolle in der Verbreitung des historischen Wissens in der Gesellschaft, insbesondere in der jungen Generation. Die letzten 20 Jahre lassen sich in der Entwicklung des geschichtswissenschaftlichen Zeitschriftenwesens in der Volksrepublik Polen als eine längere Periode der Stabilisierung bezeichnen. Es gab zwar noch einige, durchaus wichtige Neugründungen, im allgemeinen aber stand es fest, daß die in den ersten 15 Jahren nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen oder wiederbelebten Zeitschriften den Bedürfnissen sowohl hinsichtlich der Sachgebiete als auch der lokalen und regionalen Forschungsvorhaben ausreichend entsprachen. Die Weiterentwicklung der Geschichtswissenschaft selbst und die daraus resultierenden Belange der historischen Erkenntnis gaben jedoch Anlaß f ü r die Gründung weiterer Zeitschriften. Dabei soll f ü r die 60er Jahre vor allem der meist als „Zeszyty Naukowe" (Wissenschaftliche Hefte) bezeichneten Zeitschriften der Universitäten und Pädagogischen Hochschulen gedacht werden, die nach dem Muster der in der Sowjetunion seit mehreren Jahrzehnten bestehenden „Vestniki" (Mitteilungen) der einzelnen Hochschulen in Polen und ebenfalls in anderen sozialistischen Ländern - wie z. B. schon in den 50er Jahren in der DDR - ins Leben gerufen wurden. Die Grundidee dieser Zeitschriften ist es, insbesondere den jüngeren Forschem, Assistenten und Adjunkten eine Möglichkeit der Veröffentlichung zu verschaffen. Dadurch sollte zunächst das Niveau dieser Erstlingswerke angehoben und zugleich der wissenschaftliche Nachwuchs beschleunigt stimuliert werden. Selbstverständlich wurde den erfahrenen Mitarbeitern die Publikation ihrer Texte in den Wissenschaftlichen Heften nicht verwehrt, und somit konnten diese Zeitschriften in einem gewissen Maße auch ihren Beitrag zur Integration der verschiedenen Historikergenerationen leisten. Außer dieser recht umfangreichen Gruppe von Zeitschriften, in denen die rein historischen Periodica nur etwa 10 bis 20 Prozent ausmachen, sind weitere entstanden, die f ü r früher nicht existierende oder unterentwickelte Teilgebiete der Geschichtswissenschaft bestimmt wurden. An erster Stelle sollen hier diejenigen genannt werden, die sich methodologischen und erkenntnistheoretischen Fragen der Geschichtswissenschaft widmen. Auch auf diesem Gebiet hat sich Poznan als ein reger Mittelpunkt hervorgetan, so daß man heute bei uns bereits von einer „Posener Schule" spricht, die insbesondere mit dem Namen des Akademiemitglieds Prof. Jerzy Topolski und des Philoso-
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phen Prof. Jerzy Kmita verbunden ist. In Poznan entstand 1965 eine speziell den Fragen der Methodologie d e r Wissenschaften gewidmete Zeitschrift „Studia Metodologiczne" (Methodologische Studien), in der die Methodologie d e r Geschichtsforschung einen bedeutenden Platz einnimmt. In K r a k o w gibt es seit 1967 die Zeitschrift „Historyka" (Historik), deren Bände in zwangloser Folge erscheinen, u n t e r d e r Redaktion von Prof. Celina Bobinska gegründet. Sie widmet sich ausschließlich den Fragen der weit gefächerten Methodologie d e r Geschichtswissenschaft; es sind bis 1977 acht Bände erschienen, der Autorenkreis u m f a ß t Mitarbeiter aus ganz Polen. Neue Forschungsbereiche w u r d e n - w i e gesagt - von neugegründeten Zeitschriften erfaßt, von denen als wichtigste Beispiele noch folgende a u f g e f ü h r t werden sollen: „Roczniki Dziejöw Ruchu Ludowego" (Jahrbücher f ü r die Geschichte der Bauernbewegung), seit 1959; „Studia z Dziejöw Kosciola Katolickiego" (Studien zur Geschichte der katholischen Kirche), herausgegeben von der Gesellschaft f ü r Religionskunde, 1960-1968; „Rocznik Historii Czasopismiennictwa Polskiego" (Jahrbuch f ü r die Geschichte des polnischen Zeitschriftenwesens), seit 1962; „Kwartalnik Historii Ruchu Zawodowego" (Vierteljahresschrift f ü r die Geschichte der gewerkschaftlichen Bewegung), seit 1967, u n d die bereits e r w ä h n t e „Dzieje Najnowsze" (Neueste u n d Zeitgeschichte). Die katholische Universität in Lublin gibt die „Archiwa, Biblioteki i Muzea Koscielne" (Kirchenarchive, Bibliotheken und Museen) heraus. Die Gesamtheit der in d e r Volksrepublik Polen erscheinenden geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften bietet ein umfangreiches Panorama, in dein fast alle Bereiche d e r heutigen historischen Forschung vertreten sind. Da die wissenschaftlichen Zeitschriften maßgeblich die Situation in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen widerspiegeln, darf m a n auf G r u n d des hier n u r global behandelten Zustandes des polnischen geschichtswissenschaftlichen Zeitschriftenwesens feststellen, d a ß die Geschichtswissenschaft in Volkspolen bereits seit m e h r e r e n J a h r e n planmäßig entwickelt wird und den geselllschaftlichen Bedürfnissen sowie den Erfordernissen moderner Forschung durchaus gewachsen ist. Uber die innere S t r u k t u r der meisten geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften in Polen läßt sich sagen, daß sie d e m klassischen Modell d e r „Historischen Zeitschrift" folgen. Dieses Modell hat sich international b e w ä h r t u n d wird n u n m e h r praktisch in der Welt als eine gelungene redaktionstechnische Lösung ohne Rücksicht auf weltanschauliche, methodologische oder fachliche Ausrichtung mit Erfolg eingewandt. Im allgemeinen ist es so, daß die m e h r auf Lokal- u n d Regionalgeschichte eingestellten Zeitschriften den Aufsatzteil weitgehend ausbauen und d e n Besprechungsteil in bescheidenen Ausmaßen halten. Bei den Zeitschriften allgemeinen Charakters, aber auch bei denjenigen Periodica, die sich auf einzelne Sachgebiete konzentrieren, zugleich aber einen überregionalen C h a r a k ter aufweisen, ist es genau u m g e k e h r t : die Besprechung u n d bibliographischen Notizen n e h m e n verhältnismäßig viel Platz ein. Dieser Unterschied in der inneren S t r u k t u r dieser Zeitschriftengruppen läßt sich damit erklären, daß die lokalen Zeitschriften vorwiegend den Bedürfnissen entsprechen, die mit dem Bildungsdrang d e r lokalen Intelligenz zusammenhängen, die übrigen aber von den Forschern gelesen werden, die sich schnell und zuverlässig informieren wollen.
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Die Auflagen sowohl der Zeitschriften als solcher als auch ihrer einzelnen Hefte und Bände variieren ziemlich weit. Als Regel gilt: je allgemeiner im Hinblik auf Sachgebiet und zeitliche Ausdehnung der Inhalt der gegebenen Zeitschrift, desto größer die Auflage, und umgekehrt. So gibt es welche, meistens lokale und regionale, die nur in wenigen hundert Exemplaren erscheinen, und solche, die die Grenze von dreitausend Exemplaren überschreiten. Für Polen ist es spezifisch, daß für die Probleme der Geschichte ein verhältnismäßig reges Interesse in der Öffentlichkeit besteht und - was damit zusammenhängt - auch in anderen Zeitschriften und den weit verbreiteten literarischen Wochenschriften die historischen Fragen einen mehr als nur gebührenden Platz einnehmen. Es würde den Rahmen unserer knappen Darstellung sprengen, wollten wir darauf näher eingehen. Nur als ein Beispiel sei vermerkt, daß die gelesene Wochenschrift „Polityka" viel Material über neueste und Zeitgeschichte bringt und daß die ebenfalls populäre Wochenschrift „Warszawas Kultura" seit mehreren Monaten einen Zyklus der Biographien polnischer Herzöge und Könige veröffentlicht. Das erklärt, warum manche streng fachorientierte geschichtswissenschaftliche Zeitschrift von Nichtfachleuten gelesen wird.
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Auswahlbibliographie der in der Volksrepublik Polen erscheinenden geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften
Abkürzungen:
Hg. Jb. Vjs. Mon. PAN
= = = — =
Herausgeber Jahrbuch Viertel] ahresschrift Monatsschrift Polska Akademia Nauk (Polnische Akademie der Wissenschaften) 1. Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego, Hg. 2ydowski Instytut Historyczny (Jüdisches Historisches Institut) in Warszawa, seit 1949, zunächst in jiddischer, dann polnischer Sprache, Jb., seit 1953 Vjs. 2. Bieter far Geschichte, Hg. Zydowski Instytut Historyczny, seit 1948, unregelmäßig, bis 1970. 3. Czasopismo Prawno-Historyczne (Zeitschrift für Rechtsgeschichte), Hg. PAN. 4. Dzieje Najnowsze (Neueste Geschichte), Hg. PAN, seit 1969. 5. Historyka (Historik), Hg. PAN, Zweigstelle in Krakow, seit 1967, unregelmäßig. 6. Komunikaty Mazursko-Warminskie (Masurisch-Ermländische Mitteilungen), Hg. Polskie Towarzystwo Historyczne (Polnische Historische Gesellschaft) in Olsztyn, als wiss. Zeitschrift seit 1957, Vjs. 7. Kwartalnik Historyczny (Historische Vierteljahresschrift), Hauptorgan des Instituts f ü r Geschichte der PAN, seit 1887, bis 1951 als Organ der Polnischen Historischen Gesellschaft, 1887-1939 in Lwöw, 1945-1951 in Krakow, seit 1952 in Warszawa, Vjs. 8. Kwartalnik Historii Kultury Materialnej (Vierteljahresschrift für die Geschichte der materiellen Kultur), Hg. PAN, seit 1953, Vjs. 9. Kwartalnik Historii Nauki i Techniki (Vierteljahresschrift für die Geschichte der Wissenschaft und Technik), Hg. PAN, seit 1956, Vjs. 10. Kwartalnik Opolski (Oppelner Vierteljahresschrift), Hg. Instytut Sl^ski (Schlesisches Institut) und Opolskie Towarzystwo Przyjaciol Nauk (Oppelner Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften) in Opole, seit 1955, Vjs. 11. Malopolskie Studia Historyczne (Kleinpolnische Historische Studien), Hg. Polnische Historische Gesellschaft in Krakow, seit 1958, 1967 Titeländerung in Studia Historyczne (Historische Studien), Hg. PAN, Zweigstelle Krakow, Vjs.
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12. Meander, Zeitschrift für Kulturgeschichte der antiken Welt, Hg. PAN, seit 1946, Mon. 13. Möwiq, Wieki (Es sprechen die Jahrhunderte), populärwissenschaftlich, Hg. Pädagogischer Verlag und Polnische Historische Gesellschaft in Warszawa, seit 1958, Mon. 14. Najnowsze Dzieje Polski (Neueste Geschichte Polens), Materialien und Studien, Hg. PAN, Jb. 15. Nasza Przeszlosc (Unsere Vergangenheit), Hg. Instytut Teologiczny Ks. Misjonarzy (Theologisches Institut des Missionarordens) in Krakow, seit 1946, ab 1974 im Selbstverlag der Redaktion, unregelmäßig (mehr als 1 Band pro Jahr). 16. Odrodzenie i Rejormacja w Polsce (Renaissance und Reformation in Polen), Hg. PAN, seit 1956, Jb. 17. Przeglqd Historyczny (Historische Rundschau), Hg. Polnische Historische Gesellschaft, Zweigstelle Warszawa, seit 1905, Vjs. 18. Rocznik Gdanski (Danziger Jahrbuch), Hg. Wissenschaftliche Gesellschaft in Gdansk, seit 1927, Jb. 19. Rocznik Historii Czasopismiennictwa Polskiego (Jahrbuch f ü r die Geschichte des Polnischen Zeitschriftenwesens), Hg. PAN, seit 1962, Jb. (in den letzten Jahren auch 2 oder 4 Hefte im Jahr). 20. Rocznik Krakowski (Krakauer Jahrbuch), Hg. Towarzystwo Milosniköw Historii i Zabytköw Krakowa (Gesellschaft f ü r Geschichte und Denkmäler Krakaus) und PAN, seit 1898, Jb. 21. Rocznik Lödzki (Lodzer Jahrbuch), Hg. Polnische Historische Gesellschaft, Zweigstelle Lodz, seit 1928, Jb. 22. Rocznik Lubelski (Lubliner Jahrbuch), Hg. Polnische Historische Gesellschaft, Zweigstelle Lublin, seit 1958, Jb. 23. Rocznik Olsztynski (Allensteiner Jahrbuch), Hg. Masurisches Museum (1958 bis 1963), seitdem Wojciech-K^trzynski-Forschungsstelle der Polnischen Historischen Gesellschaft in Olsztyn, Jb. 24. Rocznik Przemyski (Przemysler Jahrbuch), Hg. Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften in Przemysl, seit 1911, unregelmäßig. Bemerkung: Unter dem Titel „Rocznik" erscheinen in Polen mehrere regionale Zeitschriften, die u. a. geschichtswissenschaftliches Material bringen. Meistens lautet der Titel so, daß nach dem angeführten Anfangswort ein Adjektiv hinzugefügt wird, von dem entsprechenden Ortsnamen gebildet. 25. Roczniki Dziejöw Ruchu Ludowego (Jahrbücher für die Geschichte der Bauernbewegung), Hg. ZK der Vereinigten Bauernpartei, seit 1959, Jb. 26. Roczniki Dziejöw Spolecznych i Gospodarczych (Jahrbücher für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte), Hg. Poznanskie Towarzystwo Przyjaciöl Nauk (Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften in Poznan), bis 1939 in Lwöw erschienen, seit 1946 in Poznan, Jb. 27. Roczniki Historyczne (Historische Jahrbücher), Hg. Poznanskie Towarzystwo Przyjaciöl Nauk (Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft), 1925. 28. Slavia Occidentalis, Hg. A. Mickiewicz-Universität und Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften in Poznan, seit 1921, Jb. 33«
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29. Slavia Orientalis, Hg. PAN, 1952-1956 unter dem Titel Kwartalnik Instytutu Polsko-Radzieckiego, Vjs. des Polnisch-Sowjetischen Instituts, heute Jb. 30. Sobötka (Zobtenberg), Hg. Polnische Historische Gesellschaft, Zweigstelle in Wroclaw, seit 1946, seit 1957 mit dem Untertitel „Sl^ski Kwartalnik Historyczny", Vjs. 31. Studia i Materialy do Dziejöw Wielkopolski i Pomorza (Studien und Materialien zur Geschichte Großpolens und Pommerns-Pomerellens), Hg. Polnische Historische Gesellschaft, Zweigstelle in Poznan, seit 1955, unregelmäßig. 32. Studia Mediewistyczne (Mediävistische Studien), Hg. PAN, seit 1958, unregelmäßig. 33. Studia Zrödloznawcze. Commentationes (Quellenkundliche Studien), Hg. PAN, Zweigstelle in Poznan, seit 1957, Jb. 34. Wiadomosci Historyczne (Historische Nachrichten), Zeitschrift f ü r Methodik des Geschichtsunterrichts, vor dem Kriege als Beilage zu „Kwartalnik Historyczny", 1948-1953 selbständige Zeitschrift, Hg. Ministerium für Volksbildung, 1953-1957 unter dem Titel „Historia i Nauka o Konstytucji" (Geschichte und Verfassungskunde), seit 1958 wieder unter dem früheren Titel, erscheint alle 2 Monate. 35. Wiadomosci Numizmatyczne (Numismatische Nachrichten), Hg. Polnische Archäologische Gesellschaft, seit 1957, Jb. 36. Wojskowy Przeglqd Historyczny (Militärgeschichtliche Rundschau), Hg. Ministerium der Nationalen Verteidigung, seit 1956, Vjs. 37. Zapiski Historyczne (Historische Schriften), Zeitschrift für Geschichte des Ostseeraumes, Hg. Wissenschaftliche Gesellschaft in Torun, seit 1908, Vjs. (1908-1954 unter dem Titel Zapiski Towarzystwa Naukowego w Toruniu). 38. Zaranie Slqskie (Schlesische Morgenröte), Hg. vom Instytut Sl^ski (Schlesischen Institut) in Katowice und Towarzystwo Ludoznawcze (Volkskundliche Gesellschaft) in Cieszyn, seit 1907 mit mehreren Pausen, seit 1957 regelmäßig, Jb. 39. Z Pola Walki (Aus dem Kampffeld), Hg. Institut für Parteigeschichte des ZK der PVAP, seit 1958, Vjs. (Deutscher Originaltext des Verfassers)
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Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte Polens des 16. bis 18. Jahrhunderts
Die Forschungen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Neuzeit nehmen einen sehr wesentlichen Platz innerhalb der Geschichtswissenschaft Polens nach dem zweiten Weltkrieg ein. Sie zeichnen sich sowohl durch die große Anzahl publizierter Arbeiten als auch durch neue Methoden bei der Lösung der Forschungsaufgaben aus. Dank vor allem dieser Leistungen der Forschungen zur Ökonomik des neuzeitlichen Europas und Polens wurde der Begriff von der „polnischen historischen Schule" geprägt, die durch Kühnheit in der theoretischen und zusammenfassenden Darstellung und durch moderne Arbeitsmethoden in der monographischen Forschung gekennzeichnet ist. Diese besondere Stellung der wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten der letzten 30 Jahre zur Epoche der Neuzeit resultiert aus mehreren Faktoren. Eine bedeutende Rolle kam dabei bereits den Arbeiten derjenigen polnischen Wirtschaftshistoriker zu, die im Zeitraum zwischen beiden Weltkriegen tätig waren. Den größten Beitrag leisteten zwei Schulen der Wirtschaftsgeschichte Polens: die „Poznanet- Schule", geleitet von Jan Rutkowski, und die „Lwöwer Schule", geschaffen durch Franciszek Bujak. Trotz einer gewissen gegenseitigen Konkurrenz ergänzten sich diese beiden Forschungsrichtungen sehr gut. Besonders die methodologischen Leistungen der Poznaner Schule - und hier vor allem die Arbeiten ihres Schöpfers Jan Rutkowski - wurden bereits vor dem Kriege sehr bekannt. Rutkowskis Forschungen zur Geschichte des Dorfes und der Entwicklung der Landwirtschaft in der Neuzeit stützten sich bereits damals auf histbrische Quellen mit Massencharakter und die Anwendung statistischer Methoden bei ihrer Auswertung. 1 Die Schule von Bujak dagegen, auf ein nicht geringeres Forschungsprogramm eingestellt, hinterließ in der Hauptsache Forschungsarbeiten zur Entwicklung des Marktes und der Wirtschaftskonjunktur der Neuzeit. Hier ragen besonders die Arbeiten zur Geschichte der Preise in fünf großen polnischen Städten heraus2, die bis auf den heutigen Tag für die internationale Forschung zur Entwicklung 1
Rutkowski, J., Studia z dziejöw wsi polskiej XVI-XVIII w. (Studien zur Geschichte des polnischen Dorfes vom 16. bis 18. Jh.), Warszawa 1956; ders., Klucz brzozowski biskupstwa przemyskiego w XVIII wieku (Der Güterkomplex Brzozowski des Bistums Przemysl im 18. Jh.), Krakow 1918; ders., Badania nad podzialem dochodöw w Polsce w czasach nowozytnych (Forschungen zur Frage der Verteidigung des Einkommens im Polen der Neuzeit), Krakow 1938.
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der Ökonomik Europas in der Neuzeit als wichtige Quelle benutzt werden. Für die Entwicklung der Wirtschaftsforschung Polens über die Zeit der Adelsherrschaft der Szlachta war außerdem die allgemeine Auffassung der polnischen Historiker von großem Einfluß, daß hierbei die marxistische Methodologie angewandt werden müsse, weil sie schöpferische Resultate beim Studium der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ermögliche. Nicht ohne Einfluß auf die genannten Forschungen war auch die Tatsache, daß der Verfall des polnischen Staates im 18. Jh. - eines der wesentlichsten Themen der Volkshistoriographie - traditionell mit der Schwäche des polnischen Wirtschaftsorganismus verbunden wurde. Das veranlaßte die polnischen Historiker, ihre Studien mit besonderem Nachdruck auf die Entwicklung der Wirtschaftskrise des polnischen Staates zu richten. Die zahlreichsten Veröffentlichungen, besonders zur ersten Etappe des genannten Zeitraums, sind Forschungen zur Entwicklung der Landwirtschaft und der Dorfgemeinschaft. Begonnen wurde diese Arbeit mit einer Serie von Studien zur bisher wenig behandelten Problematik der gesellschaftlichen Verhältnisse des Dorfes. Autoren solcher Arbeiten sind C. Bobinska, B. Baranowski, J. Bieniarzöwna, J. Gierowski, J. Leszczynski, A. Kersten, J. Kowecki, A. Przybos, J. Szcztotka, S. Sreniowski, J. Topolski und W. Urban. 3 Sie widmeten ihre Forschungen besonders Fragen des Klassenkampfes auf dem Dorf, der Schichtenbildung der Dorfbevölkerung und des Standesbewußtseins 2
3
Hoszowski, S., Ceny we Lwowie w XVI-XVII wieku (Die Preise in Lwöw im Zeitraum des 16. bis 17. Jh.), Lwöw 1928; Adamczyk,W., Ceny w Warszawie w XVI i XVII wieku (Die Preise in Warschau im 16. und 17.), Lwöw 1938; Pelc,J., Ceny w Krakowie od 1369 do 1600 (Die Preise in Krakow im Zeitraum 13C9 bis 1600), Lwöw 1935; ders., Ceny w Gdansku w XVI i XVII wieku (Die Preise in Gdansk im 16. und 17. Jh.), Lwöw 193f7; Tomaszewski, E., Ceny w Krakowie latach 1601 bis 1795 (Die Preise in Krakow in den Jahren 1601-1795), Lwöw 1934. Baranowski, B., Walka klasowa chlopöw ze starostwa branskiego na Podlasiu w XVII-XVIII w (Der Klassenkampf der Bauern aus der Bransker Starostei in Podlasie im 17. und 18. Jh.), in: Roczniki Dziejöw Spolecznydi i Gospodarczych, Bd. 15, 1955, Bieniarzöwna, J., O chlopskie prawa (Um die Bauernrechte), in: Szkice z dziejöw wsi malopolskiej (Skizzen zur Geschichte des Dorfes in Kleinpolen), Krakow 1954; Kersten, A., Chiopi polscy w walce z najazdem szwedzkim 1655-1656 (Die polnischen Bauern im Kampf gegen die Angriffe der Schweden 1655-1656), Warszawa 1958; Gierowski, J., Kartka z rodowodu biedoty wiejskiej (Ein Beitrag zur Entstehung der Dorfarmut), Warszawa 1953; Przybos, A., Powstanie chlopskie w starostwie lanckoronskim i nowotarskim w 1670 r. (Der Bauernaufstand in den Starosteien Lanckorona und Nowy Targ im Jahre 1670), Krakow 1953; Sreniowski, S., Zbiegostwo chlopöw w Polsce jako zagadnienie ustroju spolecznego (Die Bauernflucht in Polen als Frage der Gesellschaftsordnung), Warszawa 1948; Topolski, J., Polozenie i walka klasowa chlopöw w dobrach arcybiskupstwa gnieznienskiego (Die Lage und der Klassenkampf der Bauern auf den Gütern des Erzbistums Gniezno), Warszawa 1956; Urban, W., Poddani szlacheccy w wojewödztwie krakowskim w II polowie XVIII wieku i ich opör antyfeudalny (Die Untergebenen des Adels in der Wojewodschaft Krakow in der zweiten Hälfte des 10. Jh. und ihr antifeudaler Widerstand), Krakow 1958; Studia z dziejöw wsi malopolskiej w II polowie XVIII wieku (Studien zur Geschichte des Dorfes in Kleinpolen in der zweiten Hälfte des 18. Jh.), hrsg. von C. Bobinska, Warszawa 1957.
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der Bauern. Wenngleich diese Arbeiten nicht selten die Ausmaße der untersuchten Erscheinungen aufbauschten und ihre aus dem Quellenmaterial abgeleiteten Thesen übertrieben, bedeuteten sie dennoch einen großen Fortschritt in der Erkenntnis der charakteristischen Merkmale der zahlreichsten Gruppe der Gesellschaft der frühen Neuzeit. In breitem Maßstab wurden auch die Archivbestände gesichtet sowie eine systematische Publikation der Quellenmaterialien in Angriff genommen. Es erschienen in großer Auswahl Inventarlisten von Landgütern, wirtschaftliche Instruktionen und Materialien aus Gerichtsbüchern, die die Dorfproblematik enthalten und zur Positionsbestimmung der agrarhistorischen Literatur wesentlich beitragen. 4 Eine besondere Rolle in den wirtschaftshistorischen Forschungen spielte die bis zur Gegenwart fortgesetzte Herausgabe der Übersichten über die von der Szlachta und den großen Magnaten gepachteten Königsgüter. 5 Diese Übersichten sind, trotz zahlreicher Streitigkeiten über die Glaubwürdigkeit der publizierten Materialien, eine grundlegende Quelle für die - sowohl chronologisch als auch territorial - vergleichende Analyse der Entwicklungstendenzen der dörflichen Wirtschaft. Die umfangreiche Suche nach Archivmaterial und die Quelleneditionen wurden zur Grundlage f ü r den Ausbau der Forschungen über die Struktur und die Entwicklungsdynamik der Landwirtschaft im Polen der Neuzeit, die den wichtigsten Teil der Errungenschaften der polnischen Historiographie bei der Erforschung der Agrarproblematik bilden. Hauptmotiv f ü r diese Ausarbeitungen war die notwendige Klärung der Rolle der Vorwerks- und Gutsbesitzerwirtschaften, die die Forscher für die Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung im Polen der Adelsherrschaft für entscheidend ansehen. Sie zogen gleichzeitig wesentliche Konsequenzen f ü r die gesellschaftliche und politische Struktur des damaligen Polen nach sich. Die thematische Reichweite dieser Forschungen wurde durch das vorhandene Quellenmaterial bestimmt. Deshalb untersuchten die Historiker hauptsächlich den Charakter der dörflichen Wirtschaft der verschiedenen Eigen4
5
Vgl. z. B. Inwentarze döbr szlacheckich powiatu kaliskiego (Inventarlisten der Adelsgüter im Kreis Kalisz), Bd. 1: 16. bis Mitte des 17. Jh., hrsg. von Wl. Rusinski, Wroclaw 1955; Inwentarze döbr ziemskich wojewöztwa Krakowskiego 1576-1700 (Die Inventarlisten der Landgüter der Wojewodschaft Krakow im Zeitraum 1576 bis 1700), bearb. von A. Kaminski, A. Kielbicka und St. Pankow, Warszawa 1956; Instrukcje gospodarcze dla döbr magnackich i szlacheckich z XVII-XIX wieku (Wirtschaftliche Instruktionen für die Güter der Magnaten und des Adels aus der Zeit vom 17. bis 19. Jh.), Bd. 1, hrsg. von B. Baranowski u. a., Wroclaw 1958; Ksiqgi sqdowe klucza Lqckiego (Die Gerichtsbücher des Güterkomplexes in Lqck), T. 1 und 2, hrsg. von A. Vetulani; Starodawne Prawa Polskiego Pomniki (Denkmäler des polnischen Rechts), Serie 2, Abt. 2, Bde. 1-3, 1957, 1962, 1964; Gostomski, A., Gospodarstwo (Die Wirtschaft des Bauern), hrsg. von S. Inglot, Wroclaw 1951; Grosser, M., Krötkie i bardzo proste wprowadzenie do gospodarstwa wiejskiego (Kurze und sehr einfache Einführung in die Landwirtschaft), hrsg. von S. Inglot, Wroclaw 1954. Übersichten über die Königsgüter des 16. bis 18. Jahrhunderts werden vom Institut für Geschichte bei der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben.
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tumstypen: des Eigentums des Königs6, der Kirchen7, der Magnaten8, der Szlachta als des kleinen Adels9 und auch der Bauernwirtschaft.10 Daneben gab es Detailforschungen über den Charakter und die Entwicklung der Produktion auf einzelnen Gebieten der Landwirtschaft: Viehzucht, Fischfang und Waldwirtschaft.11 Besondere Aufmerksamkeit fand die Getreideproduktion, darK
Wyczanski, A., Studia nad gospodarkq starostwa korczynskiego 1500-1660 (Studien über die Wirtschaft der Starostei Korczynsk 1500-1660), Warszawa 1964. 7 Topolski, J., Gospodarstwo wiejskie w dobrach arcybiskupstwa gnieznienskiego od XVI do XVIII wieku (Die Landwirtschaft auf den Gütern des Erzbistums von Gniezno vom 16. bis 18. Jh.), Poznan 1958; Zytkowicz, L., Studia nad gospodarstwem wiekskim w dobrach koscielnych XVI wieku (Studien zur Landwirtschaft auf den Kirchengütern im 16. Jh.), Bd. 1-2, Warszawa 1962. 8 Rychlikowa, I., Studia nad towarowq produkcjq wielkiej wlasnosci w Malopolsce w latach 1764-1805 (Studien über die Warenproduktion des Großgrundbesitzes in Kleinpolen in den Jahren 1764-1805), Wroclaw 1966; Rözycka-Glassowa, M., Gospodarka rolna wielkiej wlasnosci w Polsce XVIII wieku (Die Landwirtschaft des Großgrundbesitzes im Polen des 18. Jh.), Warszawa 1964; Serczyk, W., Gospodarstwo magnackie w wojewödztwie podolskim w drugiej polowie XVIII wieku Die Magnatenwirtschaft in der Wojewodschaft Podolsk in der zweiten Hälfte des 18. Jh.), Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1965; Topolska, M. B., Dobra szklowskie na Bialorusi Wschodniej w XVII i XVIII wieku (Die Güter von Szklowsk in OstBelorußland im 17. und 18. Jh.), Warszawa 1969; Leskiewiczowa, J., Dobra osieckie w okresie gospodarki folwarczno-panszczyznianej XVI-XIX wieku (Die Güter von Osiek im Zeitraum der gutsherrlichen Vorwerkswirtschaft des 16. bis 19. Jh.), Wroclaw 1957. 9 WyczaAski, A., Studia nad folwarkiem szlacheckim w Polsce w latach 1500-1580 (Studien zum gutsherrlichen Vorwerk in Polen von 1500 bis 1580), Warszawa 1960; Kamler,M., Folwark szlachecki w Wielkopolsce w latach 1580-1655 (Das gutsherrliche Vorwerk in Großpolen in den Jahren 1580-1655), Warszawa 1976; Nowak, A., Poczqtki kryzysu sil wytwörczych na wsi wielkopolskiej w koÄcu XVI i pierwszej polowie XVII wieku (Der Beginn der Krise der Produktivkräfte im großpolnischen Dorf zu Ende des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jh.), Warszawa 1975. 10 Studia z dziejöw wsi malopolskiej w II polowie XVIII wieku (Studien zur Geschichte des Dorfes in Kleinpolen in der zweiten Hälfte des 18. Jh.), Red. C. Bobiriska, Warszawa 1957; Trzyna, E., Polozenie ludnosci wiejskiej w krölewszczyznadi wojewödztwa krakowskiego w XVIII wieku (Die Lage der Dorfbevölkerung auf den Königsgütern in der Wojewodschaft Kraköw im 18. Jh.), Wroclaw 1963; Mqczak, A., Gospodarstwo chlopskie na 2ulawach malborskich w poczqtkach XVII wieku (Die Bauernwirtschaft in der Malborger Zulawy zu Beginn des 17. Jh.), Warszawa 1962; Wawrzynczyk, A., Gospodarstwo chlopskie na Mazowszu w XVI i poczqtkach XVII wieku (Die Bauernwirtschaft in Mazowsze im 16. und zu Beginn des 17. Jh.), Warszawa 1962; Baranowski, B., Gospodarstwo chlopskie i folwarczne we wschodniej Wielkopolsce w XVIII wieku (Die Bauern- und Vorwerks Wirtschaft im östlichen Kleinpolen im 18'. Jh.), Warszawa 1958; Rusinski,W., Osady tzw. „oledröw" w dawnym wojewödztwie poznanskim (Die Ansiedlungen der sogen. „Oledry" in der alten Wojewodschaft Poznan), Kraköw 1947. 11
Vgl. die Materialien der Konferenz in Rogöw vom 16. bis 18. 9.1964 in Studia z Dziejöw Gospodarstwa Wiejskiego (Studien zur Geschichte der Bauernwirtschaften), Bd. 8, Warszawa 1965, S. 103-346.
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unter die Entwicklung der Geräte und der Agrartechnik und vor allem die Ernteergebnisse.12 Die Forschungen über die Dorfwirtschaft lieferten ein umfangreiches Bewedsmaterial über die Grundlagen, auf die sich die Kalkulation und die Entwicklung der Vorwerke des Adels stützten sowie über die Tendenzen bei der Ausnutzung der Arbeitskraft der Fronbauern und bäuerlichen Tagelöhner. Sie bewiesen auch die negativen Wirkungen der Vorwerkswirtschaft auf die Entwicklung der staatlichen Ökonomik. Die polnischen Historiker verwarfen die These über die Vorwerkswirtschaft als eine Etappe auf dem Wege zur Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in der Landwirtschaft13 und konzentrierten sich auf deren schädliche Auswirkungen. So macht z. B. A. Wyczanski in seiner zusammenfassenden Darstellung, die sich auf eine Anzahl auf Quellen beruhender Einzeluntersuchungen stützt, darauf aufmerksam, daß die Prinzipien der Entwicklung der gutsherrlichen Vorwerke im 16. Jh. und deren Neigung zur Autarkie zum Verfall der Bauernwirtschaft führten.14 W. Kula stellt dagegen in seiner Arbeit, die als eine der größten Leistungen der Wirtschaftsgeschichte Polens betrachtet wird, das Modell des Funktionierens der gutsherrlichen Landwirtschaft vor, unter besonderem Hinweis auf die spezifische Art der Wirtschaftsgrundsätze, die durch deren Eigentümer verwirklicht wurden.15 Beide Forschungsarbeiten, sowohl die von Wyczanski über die Entwicklung der Vorwerkswirtschaft im 16. als auch das von Kula vorgestellte Modell ihres Funktionierens im 18. Jh., führten - ergänzt durch monographische Forschungen über die Folgen der wirtschaftlichen Kriegsschäden Mitte des 17. Jh. - zum gleichen Ergebnis: sie erhärteten das zusammenfassende Urteil über den höchst negativen Einfluß der gutsherrlichen Vorwerkswirtschaft auf die neuzeitliche Ökonomik Polens. Sie hauptsächlich verursachte die Rückständigkeit der tech12
Toplski, J., Narzédzia uprawy roli w Polsce w okresie panowania folwarku panszyznianego (Geräte zur Bodenbearbeitung in Polen zur Zeit der gutsherrlichen Vorwerks Wirtschaft), in: Kwartalnik Historii Kultury Materialnej, 1955, 3, S. 356 bis 374; Wawrzynczykowa, A., Pròba ustalenia wysokosci plonu w królewszczyznach województwa sandomierskiego w II polowie XVI i poczqtkach XVII wieku (Versuch der Feststellung der Ernteergebnisse der Königsgüter in der Wojewodschaft Sandomierz in der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jh.), in: Studia z Dziejów Gospodarstwa Wiejskiego, Bd. 4, Warszawa 1961, H. 1; dies., Studia nad wydajnoéciq produkcji rolnej dóbr królewskich w drugiej polowie XVI wieku (Studien über die Arbeitsproduktivität der Landwirtschaft auf den Königsgütern in der zweiten Hälfte des 16. Jh.), Wroclaw 1974; Zytkowicz, L., Studia nad wydajnoéciq gospodarstwa wiejskiego na Mazowszu w XVII wieku (Studien über die Produktivität der Landwirtschaft in Mazowsze im 17. Jh.), Warszawa 1969.
13
Vgl. Zientara, B., Z zagadnien spornych tzw. wtórnego poddafistwa w Europie srodkowej (Zur Streitfrage der sogen. Zweiten Leibeigenschaft in Mitteleuropa), in : Przeglqd Historyczny 47, 1956. Siehe Anm. 9. Kula, W., Teoria ekonomiczna ustroju feudalnego (Die ökonomische Theorie der feudalen Gesellschaftsordnung), Warszawa 1962.
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nischen Entwicklung und der Arbeitsproduktivität der Landwirtschaft und begünstigte die Tendenz der Einschränkung der Teilnahme der Landbevölkerung an der Marktwirtschaft, wodurch Voraussetzungen für die Entwicklung des einheimischen Handwerks und des Handels fehlten. Die weitere Entwicklung der Forschungen hat, wie es scheint, die vorhergehenden Ergebnisse nur zu einem bestimmten Teil bestätigt. Deshalb wurde in neueren Arbeiten den wesentlichen regionalen Unterschieden in der Entwicklung der polnischen Landwirtschaft erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt. Dazu gehören auch die Zusammenhänge innerhalb der wirtschaftlichen Spezifik der Regionen und besonders das Problem der Entwicklung des inneren Marktes der einzelnen Gebiete sowie die verschiedenen Konsequenzen der Entwicklung der Tagelöhnerwirtschaft auf den gutsherrlichen Vorwerken.16 Neben der agrargeschichtlichen Forschung erlebte die Geschichte des Handwerks in den Nachkriegsjahren eine wahre Wiedergeburt der Forschungen. Beflügelnd wirkte dabei die Notwendigkeit, die Entwicklung der Aktivität des städtischen Sektors der Produktion im Zeitraum der Renaissance und die Ursachen ihres Zurückbleibens im 17. und 18. Jh. zu klären. Das von M. Malowist17 dafür zusammengestellte Forschungsprogramm wurde durch die Untersuchungen von M. Bogucka, A. Mqczak, H. Samsonowicz und B. Zientara verwirklicht.18 Kennzeichnend für diese Arbeiten sind nicht nur ihr chronologischer Umfang und die Vielseitigkeit der untersuchten Problematik, sondern auch der Versuch einer zusammenfassenden Darstellung der Entwicklungsbedingungen des neuzeitlichen Handwerks in Polen auf dem Hintergrund der sozialökonomischen Situation des Landes bzw. der Region. Die Autoren verließen dabei den traditionellen Weg der Untersuchung der Geschichte des Handwerks in seinem rechtlich-organisatorischen Aspekt und wandten sich verstärkt den Problemen der Arbeitskräfte, der Produktionstechnik und schließlich der Entstehung des Kapitals zu. Ihre besondere Aufmerksamkeit richtete sich auf die Textilproduktion und den Bergbau als die entscheidenden Sektoren in der wirtschaftlichen Entwicklung der Neuzeit. Die bis zur Gegenwart fortgesetzten Forschungen zur Entwicklung des Handwerks legen jetzt besonderen Wert auf technologische und Rohstofffragen; sie Vgl. z. B. Topolski, J., Model gospodarczy Wielkopolski w XVIII wieku (Das Wirtschaftsmodell Großpolens im 18. Jh.) Poznan 1961; ders., Gospodarka polska a europejska w XVI-XVIII wieku (Die Wirtschaft Polens und Europas vom 16. bis 18. Jh.), Poznaü 1957, S. 267-282. " Malowist, M., Rzemioslo polskie w okresie odrodzenia (Das polnische Handwerk im Zeitraum der Renaissance), in: Odrodzenie w Polsce Bd. 1 (Geschichte), Warszawa 1955, S. 261-298. 18 Bogucka, M., Gdansk jako oSrodek produkcyjny XIV-XVII wieku (Danzig als Zentrum der Produktion vom 14. bis 17. Jh.), Warszawa 1962; Mqfizak, A., Sukiennictwo wielkopolskie w XIV-XVII wieku (Die Tuchweberei in Großpolen vom 14. bis 17. Jh), Warszawa 1955; Samsonowicz, H., Rzemioslo wiejskie w Polsce XIV-XVI wieku (Das Dorfhandwerk in Polen vom 14. bis 16. Jh.), Warszawa 1954; Zientara, B., Dzieje malopolskiego hutnictwa zelaznego XIV-XVII wieku (Zur Geschichte des Eisenhüttenwesens in Kleinpolen vom 14. bis 17. Jh.), Warszawa 1954. 16
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tendieren zur monographischen Darstellung aller Gebiete der handwerklichen Produktion. 19 Gegenstand von Untersuchungen waren auch die provinziellen Zentren der handwerklichen Produktion, die sich in den Händen der Magnaten oder der Szlachta befanden. Sie waren ein besonders charakteristisches Element der fortschreitenden Refeudalisierung und Agrarisierung des Wirtschaftslebens des Landes.20 Erschöpfend wurde auch die Entwicklung der Manufaktur des 18. Jh. dargestellt, unter besonderer Berücksichtigung der begrenzten Möglichkeiten der Industrialisierung, die von der Klasse der Feudalherren unter Verwendung der Arbeitskraft vom Fronbauern durchgeführt wurde. 21 Diese Forschungen über die Rolle des städtischen Sektors in der Wirtschaft arbeiteten die Zurückgebliebenheit und den Verfall dieses Sektors heraus, konnten aber die Ursachen dieser Entwicklung noch nicht klären. Es entstand der Eindruck, daß der bisher schwach bearbeitete Zeitraum des 15. Jh., hypothetisch als Phase eines großen Zuwachses der Rolle der städtischen Produktion, im Leben des Landes betrachtet, differenzierter durch monographische Studien erforscht werden muß. Damit hängt auch die Frage über die wirtschaftliche Entfaltung im nächsten Jahrhundert zusammen, das für die städtische Entwicklung als besonders günstig bezeichnet wird.22 Die Studien zur Geschichte des Dorfes und des Handwerks, die den ungünstigen 19
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Molenda, D., Görnictwo kruszcowe na terenie zlöz slqsko-krakowskich do polowy XVI wieku (Der Erzbergbau auf dem Gebiet der Erzvorkommen in Schlesien und in Krakau bis Mitte des 16. Jh.), Wroclaw 1963; Rembowska, I., Gdanski cech zlotniköw od XIV do konca XVIII wieku (Die Gdartsker Goldschmiedezunft vom 14. bis zum Ende des 18. Jh.), Gdansk 1971; Wyrobisz, A., Szklo w Polsce od XIV-XVII wieku (Die Glasproduktion in Polen vom 14. bis 17. Jh.), Warszawa 1968; Zarys historii wlokiennictwa na ziemiach polskich do konca XVIII wieku (Grundriß zur Geschichte der Textilindustrie in den polnischen Gebieten bis zum Ende des 18. Jh.), Wroclaw 1966; Turnau, 1., Skörnictwo odziezowe w Polsce XVI do XVIII wieku (Die Lederproduktion für die Bekleidungsherstellung in Polen vom 16. bis 18. Jh), Wroclaw 1975. Gierszewski, S., Struktura gospodarcza i funkcje rynkowe mniejszych miast wojewödztwa pomorskiego w XVI-XVII wieku (Die Wirtschaftsstruktur und die Marktfunktionen der kleineren Städte in der Wojewodschaft Pommern im 16. und 17.), Gdansk 1966; Kwapien,M./Maroszek,J./Wyrobisz, A., Studia nad produkcjq rzemieslniczq w Polsce XIV-XVIII wieku (Studien über die Handwerksproduktion in Polen vom 14. bis 18'. Jh.), Wroclaw/Warszawa/Kraköw/Gdansk 1976; Wyrobisz, A., Badania nad historig malych miast w Polsce (Forschungen zur Geschichte der Kleinstädte Polens), in: Przeglqd Historyczny, 59, 1968; Kowalczyk, K., Rzemioslo Zamoscia 1580-1821 (Das Handwerk in Zamosc 1580-1821), Warszawa 1971. Kula, W., Szkice o manufakturach w Polsce XVIII wieku (Skizzen über die Entwicklung der Manufakturen in Polen im 18. Jh.), Bd. 1-2, Warszawa 1956; Koscialkowski, S., A. Tyzenhauz, podskarbi nadworny litewski (A. Tyzenhauz, der litauische Schatzmeister des Königs), Bd. 1-2, London 1970/71. Vgl. z. B. Samsonowicz, H., Zlota jesien polskiego sredniowiecza (Goldener Herbst des polnischen Mittelalters), Warszawa 1971; Gqsiorowski, A., in: Dzieje Polski, Red. J. Topolski, Warszawa 1976.
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Einfluß der gutsherrlichen Vorwerkswirtschaft auf die Entwicklung der neuzeitlichen Ökonomik Polens eindeutig bestätigen, richteten die Aufmerksamkeit der Forscher auf ein anderes Problem: die grundlegende Bedeutung der ausländischen Absatzmärkte für die landwirtschaftliche Produktion Polens. Das veranlaßte eine stärkere Beschäftigung mit dem Problemkreis des Außenhandels. Wenngleich sich diese Forschungen relativ spät entwickelten, gewannen sie doch angesichts des ausgewerteten Quellenmaterials und der breiten Anwendung quantitativer Methoden erhebliche Bedeutung f ü r die Modernisierung des Herangehens und bei der Auswertung der Historiographie Europas. Für die Historiker, die den Außenhandel untersuchten, wurde die Geschichte des polnischen Getreideexports zum wichtigsten Objekt. Nach den ersten Arbeiten von H. Obuchowska-Pysiowa und T. Chudoba, die sich mit Ausmaß, Reichweite und Technik des Getreidetransports auf der Weichsel beschäftigten 23 , folgte die eingehende Analyse der polnischen Teilnahme am Ostseehandel. Cz. Biernat und S. Gierszewski publizierten wertvolle Materialien über das Ausmaß des Warenumsatzes und der Segelschiffahrt Danzigs24; M. Bogucka, A. M^czak und H. Samsonowicz untersuchten monographisch verschiedene Aspekte des polnischen Ostseehandels und leisteten damit einen Beitrag zur internationalen Wirtschaftsordnung dieser Region.25 In diesen Arbeiten wurde ein für diese Epoche ungewöhnlich reichhaltiges statistisches Material aus den Zollarchiven des Sundes, Danzigs und der kleineren Ostseehäfen ausgewertet. Auf dieser Grundlage konnten nicht nur die Entwicklungstendenzen und der Umfang des polnischen Seehandels dargestellt, sondern sogar der Versuch gemacht werden, die polnische Handelsbilanz aufzuzeigen. Daraus ergaben sich weiterführende allgemeine Schlußfolgerungen. Der Handel indizierte die wirtschaftliche Konjunktur der Erzeugnisse der polnischen Landwirtschaft und zugleich die wachsende Abhängigkeit Polens von den westeuropäischen Absatzmärkten. Damit konnte auch der überzeugende Beweis geführt werden, daß die Entwicklung des polnischen Handwerks durch Importe über die Ostseehäfen geschädigt wurde. Der Informationsgehalt des Materials und seine relativ hohe Glaubwürdigkeit barg jedoch die Gefahr in sich, den polnischen Ostseehandel a priori als repräsentativ für den gesamten polnischen Außenhandel zu betrachten. 23
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25
Obuchowska-Pysiowa, H., Handel wiSlany w pierwszej polowie XVII wieku (Der Handel auf der Weichsel in der ersten Hälfte des 17. Jh.), Wroclaw 1955; Chudoba, T., Z zagadnien handlu wiSlanego Warszawy w XVI wieku (Zur Frage des Handels der Stadt Warschau auf der Weichsel im 16. Jh.), in: Przeglgd Historyczny, 50, 1959. Biernat, Cz., Statystyka obrotu towarowego Gdanska w latach 1651-1815 (Die Statistik des Warenumsatzes der Stadt Gdansk in den Jahren 1651-1815), Warszawa 1962; Gierszewski, S., Statystyka zeglugi Gdanska w latach 1670-1815 (Statistik der Segelschiffahrt der Stadt GdaAsk in den Jahren 1670-1815) Warszawa 1963. Bogucka, M., Handel zagraniczny Gdanska w pierwszej polowie XVII wieku (Der Außenhandel der Stadt Gdansk in der ersten Hälfte des 17. Jh.), Warszawa 1970; Mqczak, A., Mi^dzy Gdanskiem a Sundem (Zwischen Gdansk und dem Sund), Warszawa 1972.
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Die gleichzeitig durchgeführten Studien über den Warenaustausch auf dem Landweg basierten auf einem bescheidenen Materialfundus, der quantitativ nicht annähernd einem Vergleich mit dem des Seehaftdels standhielt. Deshalb konnten die Arbeiten über die Rolle des Handels solcher Stadtzentren wie Krakow, Poznan, Gniezno, Lublin oder Wroclaw 26 lediglich Veränderungen der Handelsschwerpunkte und der Handelswege darstellen und bestimmte Verschiebungen in der Warenstruktur signalisieren. Hinsichtlich des Warenvolumens und des Wertes des Warenaustausches blieb man jedoch auf Vermutungen angewiesen. Auch die jüngsten Forschungen über den polnischen Viehhandel, der allgemein im Export an zweiter Stelle stehend betrachtet wurde, erbrachte dafür quantitativ kein überzeugendes Quellenmaterial. 27 Alle dem Außenhandel gewidmeten Forschungen berühren mehr oder weniger die Problematik der Entwicklung des inneren Marktes und seiner charakteristischen Merkmale. Sie beziehen sich meistens recht fragmentarisch auf die Region und eine bestimmte Warengruppe, die Veränderungen in der Struktur des Angebots und der Nachfrage sowie die Organisationsformen des Warenaustausches. Das einzige Gebiet, das hierbei gründlich und umfassend bearbeitet werden konnte, ist die Entwicklung des inneren Getreidemarktes im 16. und 17. Jh., dargestellt in den Studien von S. Mielczarski.28 28
Grycz, M., Handel Poznania 1550-1655 (Der Handel Poznans 1550-1655), Poznan 1964; Guldon, Z., Zwiqzki handlowe dobr magnackich na prawobrzeznej Ukrainie z Gdanskiem w XVIII wieku (Die Handelsverbindungen der Güter der Magnaten der Ost-Ukraine mit Gdansk im 18. Jh.), Torun 1966; Kuklinska, K., Handel Poznania w XVIII wieku (Der Handel Poznans im 18. Jh.), Poznan 1976; Kulczykowski, M., Krakow jako osrodek towarowy Malopolski Zachodniej w drugiej polowie XVIII wieku (Krakow als Warenzentrum des westlichen Kleinpolens in der zweiten Hälfte des 18. Jh.), Warszawa 1963; Malecki,J., Zwiqzki handlowe miast polskich z Gdanskiem w XVI i I polowie XVII wieku (Die Handelsverbindungen der polnischen Städte mit Gdansk im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jh.), Wroclaw 1968; Wolanski, M., Zwi^zki handlowe Slqska z Rzeczqpospolitg w XVII wieku ze szczegolnym uwzgl^nieniem Wroclawia (Die Handelsverbindungen Schlesiens mit Polen im 17. Jh. unter bes. Berücksichtigung Wroclaws), Wroclaw 1961; Topolski, J., Rola jarmarköw gnieznienskich w handlu europejskim od XV do XVIII wieku (Die Rolle der Jahrmärkte in Gniezno im europäischen Handel vom 15. bis 18. Jh.), Poznan 1965; ders., Gospodarka polska a europejska w XVI-XVII wieku (Der polnische und der europäische Handel im 16. und 17. Jh.), Poznan 1977, S. 182-258; Wawrzynczyk, A., Studia z dziejow handlu Polskie z Wielkim Ksi^stwem Litewskim i Rosjq w XVI wieku (Studien zur Geschichte des Handels Polens mit dem Großfürstentum Litauen und Rußland im 16. Jh.), Warszawa 1954.
27
Baszanowski, J., Z dziejöw handlu polskiego w XVI-XVIII wieku, Handel wolami (Zur Geschichte des polnischen Handels vom 16. bis 18. Jh., vor allem des Viehhandels), Gdansk 1977. Mielczarski, S., Rynek zbozowy na ziemiach polskich w drugiej polowie XVI i pierwszej polowie XVII wieku (Der Getreidemarkt in den polnischen Gebieten in der zweiten Hälfte des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jh.), Gdansk 1962; Malecki, J., Studia nad rynkiem regionalym Krakowa w XVI wieku (Studien zur Entwicklung des Regionalmarktes in Krakow im 16. Jh.), Warszawa 1963.
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Neben der Landwirtschaft, dem Handel und Handwerk wurden auch Forschungen zu anderen Gebieten des Wirtschaftslebens durchgeführt, jedoch in wesentlich geringerem Ausmaß und mit bescheideneren Ergebnissen. Das Gebiet mit den größten Forschungslücken ist der Komplex der Geschichte des Geldes, insbesondere seine gesellschaftliche Rolle und seine Funktion auf dem Markt. Abgesehen von einigen Arbeiten über die charakteristischen Merkmale der Währung, die Produktionsart des Geldes, über Reformen und Währungseinbrüche sowie das System des Staatsschatzes Polens 29 bleibt hier die Historiographie hinter den Forschungen zum Mittelalter und zum 19. und 20. Jh. zurück. Unbefriedigend ist der Forschungsstand auch in bezug auf Studien zu ökonomischen Ansichten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen Polens, die von einem spezialisierten Historikerkollektiv untersucht werden. E. Lipinski und seine Schüler30 legten in ihren Ausarbeitungen und Quellenpublikationen die Auffassung der bekanntesten Vertreter der ökonomischen Ideen vor. Der wesentliche Mangel dieser Arbeiten besteht darin, daß sie lediglich die Auffassungen der hervorragendsten Repräsentanten des Bürgertums und des Adels wiedergeben, dem Verständnis der breiten Massen f ü r die wirtschaftlichen Probleme jeoch n u r wenig Platz einräumen. Aus den restlichen Gebieten der Wirtschaftsgeschichte Polens ist zur altpolnischen Demographie zwar n u r eine, d a f ü r aber wertvolle Arbeit zu verzeichnen. 31 Die polnischen Forscher, die n u r über ein sehr unvollständiges Material der Personenstandsbücher der katholischen Kirchengemeinden verfügen, begannen während der letzten J a h r e eine Serie moderner Untersuchungen, die sich nicht n u r mit dem Ausmaß der Ansiedlungen und der Bevölkerungsdichte, sondern auch mit der charakteristischen Entwicklung der Demographie dieser Epoche und mit der Familienstruktur beschäftigen. 29
30
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Gumowski, M., Mennica bydgoska (Die Münze in Bydposzcz), Torun 1955; Palucki, W., Drogi i bezdroza skarbowosci polskiej XVI i pierwszej polowy XVII wieku (Die Methoden und Mißerfolge bei der Bildung des polnischen Staatsschatzes im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jh.), Wroclaw/Warszawa/Kraköw/ Gdansk 1974. Lipinski, E., Studia nad histori^ polskiej mysli ekonomicznej (Studien zur Geschichte der Entwicklung der ökonomischen Ideen in Polen), Warszawa 1956; Görski, J., Poglqdy merkantylistyczne w polskiej mysli ekonomicznej XVI i XVII wieku (Die Entwicklung des Merkantilismus in den polnischen ökonomischen Ideen im 16. und 17. Jh.), Wroclaw 1958; Sadowski, Z., Pieniqdz i poczgtki upadku Rzeczypospolitej w XVII wieku (Die Geldwirtschaft und die Anfänge des Verfalls Polens im 17. Jh.), Warszawa 1964; Merkantylistyczna mysl ekonomiczna w Polsce XVI i XVII wieku (Die ökonomischen Ideen des Merkantilismus in Polen im 16. und 17. Jh.), hrsg. von J. Görski und E. Lipinski, Warszawa 1958; Rozprawy o pieniqdzu w Polsce pierwszej polowy XVII wieku (Beiträge zur Geldwirtschaft in Polen in der ersten Hälfte des 17. Jh.), hrsg. von Z. Sadowski, Warszawa 1958; Z historii rachunkowosci w Polsce i Gdansku w wieku XVI (Zur Geschichte des Rechnungswesens in Polen und in Gdatisk im 16. Jh.), hrsg. von A. Grodek und I. Surma, Warszawa 1959. Gieysztorowa, I., Wst^p do demografli staropolskiej (Einleitung zur altpolnischen Demographie), Warszawa 1976.
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Die Studien zur allgemeinen Geschichte sind zahlenmäßig gering; unter ihnen sind jedoch einige wertvolle Arbeiten zur Epoche der Neuzeit. Hier sind die von M. Malowist begonnenen 32 und durch seine Schüler fortgesetzten Studien zur sozialökonomischen Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas besonders hervorzuheben. Autoren dieser Arbeiten sind A. Dziubinski, M. Kula, R. Karpinski, J. Kieniewicz, B. Nowak, B. Stçpniewska und M. Tymowski. Ihre Monographien enthalten aus außereuropäischen Gebieten ein äußerst wertvolles Vergleichsmaterial f ü r die Geschichte des europäischen Feudalismus sowie zum Einfluß der europäischen kolonialen Expansion auf das Wirtschaftsleben dieser Regionen. 33 Die Einbeziehung der allgemeinen Geschichte ist übrigens ein ständiges Element der Modelluntersuchungen und der zusammenfassenden Arbeiten der Mehrheit der polnischen Historiker. Dennoch fehlen - abgesehen von den genannten Autoren - spezialisierte Forscher 94 , die sich konsequent mit der Wirtschaftsgeschichte anderer Länder befassen. Probleme der allgemeinen Geschichte werden z. B. zumeist in Ausarbeitungen zu Fragen des Marktes und des Warenaustausches sowie in vergleichenden Arbeiten zur Landwirtschaft und zum Handwerk untersucht. Außerdem liegen einige Studien zur Wirtschaftsgeschichte des europäischen Kontinents vor. M. Malowist stellte in einer Monographie auf breiter Materialgrundlage die charakteristischen Merkmale der Entwicklung verschiedener Wirtschaftsregionen Europas, vor allem Ost- und Südosteuropas, vor35, und J. Topolski sowie A. Mqczak erarbeiteten eine Diskussionsgrundlage zur Entstehung des Kapitalismus in Europa. 36 32
Malowist, M., Wielkiè panstwa Sudanu Zachodniego w pôznym sredniowieczu (Die großen Staaten des Westsudans im späten Mittelalter), Warszawa 1964; ders., Europa a Afryka Zachodnia w dobie wczesnej ekspansji kolonialnej (Europa und Westafrika im Zeitraum der frühen Kolonialexpansion), Warszawa 1969. 3-1 Dziubinski, A., Maroko w XVI wieku (Marokko im 16. Jh.), Wroclaw 1972 ; Kula, M., Poczqtki czarnego niewolnictwa w Brazylii (Die Anfänge der schwarzen Sklaverei in Brasilien), Wroclaw 1970; Kieniewicz, J., Faktoria i Forteca (Faktoreien und Festungen), Warszawa 1970; Nowak, B., Kupcy Mandingo o Afryce Zachodniej (Händler von Mandingo in Westafrika), Warszawa 1974; Karpinski, R., Panstwomiasto Kono do dzihadu Fulanich (Der Stadtstaat Kono bis zur Zeit Fulanis), Warszawa 1973; Tymowski, M., Le dévelopement et la régression chez les peuples de la boncle du Niger a l'époque précoloniale, Warszawa 1974. :y ' Eine gewisse Ausnahme bildet die letzte Studie von Wojtowicz, J., Miato europejskie w epoce oswiecenia i rewolucji francuskiej (Die europäische Stadt in der Epoche der Aufklärung und der Französischen Revolution), Warszawa 1972. :|r > Malowist, M., Wschôd a zachôd Europy w XIII-XVI wieku (Der Osten und der 36
Westen Europas vom 13. bis 16. Jh.), Warszawa 1973. Topolski, J., Narodziny kapitalizmu w Europie w XIV-XVII wieku (Die Geburt des Kapitalismus in Europa vom 14. bis 17. Jh.), Warszawa 1965; ders., Gospodarka polska a europejska w XVI-XVIII wieku (Der polnische und die europäische Wirtschaft vom 16. bis 18. Jh.), Poznan 1977; Mqczak,A., U zrödel nowoczesnej gospodarki europejskiej (An den Quellen der modernen Wirtschaft Europas), Warszawa 1967.
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Den Entwicklungstendenzen verschiedener Wirtschaftsgebiete Europas widmeten sich auch W. Rusinski und S. Hoszowski.37 Besonders hervorgehoben zu werden verdient die Arbeit von W. Kula, die die Forschungsmethoden der Wirtschaftsgeschichte untersucht und in ihren Abschnitten zur Markt- und Konjunkturforschung sowie zur Maß- und Gewichtskunde zu den modernsten Darlegungen dieses Typs gehört.38 In den Nachkriegsjahren erschienen einige zusammenfassende Darstellungen zur Wirtschaftsgeschichte, in denen die Epoche der Neuzeit größeren Raum einnimmt. Dazu sind Arbeiten zur allgemeinen Geschichte von W. Rusinski, Ë. Kaczynska und K. Piesowicz ebenso zu zählen wie die Darstellungen zur Geschichte Polens von A. Mqczak und W. Rusinski.39 Ein bedeutender Aufschwung ist auch bei den wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen zur Entwicklung der Städte und geographischer Regionen vor allem Großpolens und Pommerns zu verzeichnen.40 Die letzten Jahre scheinen auf ein gewisses Zurückbleiben in den traditionellen Formen der wirtschaftshistorischen Forschiingen zur Epoche der Neuzeit hinzudeuten. Die Anzahl der Publikationen zur Geschichte des Handels, des Handwerks und der Landwirtschaft hat recht erheblich abgenommen. Hinzu kommt, daß neue Veröffentlichungen meistens den Charakter von Ergänzungen bzw. Korrekturen zum bisherigen Stand der Forschungen haben. Andererseits fällt es schwer, von einer Krise dieses Teils der Historiographie zu sprechen. Vielmehr handelt es sich wohl viel eher darum, daß sich die Forschungsproblematik der Wirtschaftshistoriker wesentlich verbreitert hat, insbesondere durch die Einbeziehung der Geschichte der Gesellschaft und Kultur. Die neuesten Forschungsarbeiten konzentrieren sich besonders auf die Probleme der gesellschaftlichen und sogar der psychologischen Voraussetzungen der ökonomischen Prozesse und der sie hervorrufenden Entscheidungen sowie auf zusammende Bearbeitungen der vor sich gegangenen Veränderungen im Rahmen 37
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Hoszowski, S., Rewolucja cen w srodkowej Europie w XVI i XVII wieku (Die Revolution der Preise in Mitteleuropa im 16. und 17. Jh.), in: Kwartalnik Historyczny, 68, 1961, 2; Rusinski, W., Drogi rozwoju folwarku panszczyznianego (Der Entwicklungswege der gutsherrlichen Vorwerkswirtschaft), in: Przeglqd Historyczny, 47, 1956. Kula, W., Problemy i metody historii gospodarczej (Probleme und Methoden der Wirtschaftsgeschichte), Warszawa 1964; ders., Miary i ludzie (Maße und Menschen), Warszawa 1971. Rusinski, W., Zarys historii gospodarczej powszechnej. Czasy nowozytne i najnowsze (Grundriß der allgemeinen Wirtschafsgeschichte - Neuzeit und neueste Zeit), Warszawa 1973; Kaczynska, E./Piesowicz, K., Wykiady z historii gospodarczej powszechnej (Vorlesungen zur allgemeinen Wirtschaftsgeschichte), Warszawa 1977; Rusinski, W., Rozwöj gospodarczy ziem polskich w zarysie (Die wirtschaftliche Entwicklung der polnischen Gebiete im Grundriß), Warszawa 1973; Zientara, B./ Mqczak, A./Ihnatowicz, l./Landau, J., Dzieje gospodarcze Polski do 1939 r. (Die Wirtschaftsgeschichte Polens bis zum Jahre 1939), Warszawa 1973. Dzieje Wielkopolski (Geschichte Großpolens), Red. J. Topolski, Bd. 1: Bis zum Jahre 1793, Poznan 1969; Historia Pomorza (Die Geschichte Pommerns), Red. G. Labuda, Bd. 2, Poznan 1977.
Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte
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bestimmter sozialer Gruppen der Bevölkerung bzw. ganzer Städte und Regionen. Die Tatsache jedoch, daß bei diesen komplexen Darstellungen Wirtschaftshistoriker eine führende Rolle spielen, scheint darauf hinzuweisen, daß die Leistungen der Wirtschaftsgeschichte und ihre modernen Arbeitsmethoden auf die Ausweitung der Forschungsarbeit inspirierend einwirken. (übersetzt von Dr. Bruno Buchta, Potsdam)
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Anna Zarnowska
Forschungen zur Geschichte der Arbeiterklasse Polens im 19. bis 20. Jahrhundert (bis 1939)
Im letzten Jahrzehnt wuchs das Interesse der polnischen Historiker f ü r die Probleme der Umgestaltung der gesellschaftlichen Struktur, insbesondere der neuzeitlichen Gesellschaft Polens und ihrer spezifischen Merkmale vor dem Hintergrund der umfangreicheren europäischen Entwicklung. Pionierarbeit auf diesem Forschungsgebiet wurde von dem Kollektiv unter Witold Kula im Institut für die Geschichte Polens bei der Akademie der Wissenschaften geleistet, das sich besonders auf Prozesse in der ersten Hälfte des 19. Jh. konzentrierte, vor allem auf Erscheinungen der Umgestaltung der feudalen in die kapitalistische Gesellschaftsstruktur. 1 Es entstanden zahlreiche Teilarbeiten, die konstitutive Formierungsprozesse der neuen Klassen, der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse, aber auch der Intelligenz untersuchten. Das Kollektiv richtete seine Aufmerksamkeit u. a. auf die Möglichkeit, Massenerscheinungen auf der Grundlage von Akten des Personenstandswesens zu erforschen, die in großer Anzahl in den Standesämtern vorhanden sind, von Personalakten und individuellen hypothetischen Eintragungen usw. Das erforderte jedoch die Anwendung neuer Forschungstechniken, u. a. der maschinellen Datenverarbeitung. Im vergangenen Jahrzehnt begannen ebenfalls historische Forschungen zur Geschichte der II. Republik in Polen 1918 bis 1939, d. h. bereits einer Gesellschaft mit kapitalistischer Struktur, wenn auch mit Relikten der Vergangenheit behaftet. In diesen Jahren entwickelte sich die polnische Gesellschaft auf der Basis der Wiedererlangung und des Wiederaufbaus eines eigenen Staates. Neben einer Reihe von Einzelforschungen über die Arbeiterklasse, Intelligenz und Bauernschaft konnte eine zusammenfassende Darstellung über die gesellschaftliche Entwicklung der II. Republik sowie der Struktur der Klassen und Schichten und des Berufswesens erarbeitet werden.2 1
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Vgl. u. a. Spoleczenstwo Krölestwa Polskiego. Studia o uwarstwieniu i ruchliwosci spolecznej, Red. W. Kula und J. Leskiewicz (Die Gesellschaft des Königreichs Polen. Studien über die soziale Schichtenbildung und ihre Veränderlichkeit), Bd. 1-6, Warszawa 1965-1974; Przemiany spoleczne w Krölestwie Polskim 1815-1864, Red. W. Kula und J. Leskiewicz (Die sozialen Veränderungen im Königreich Polen 1815-1864), Warszawa 1979, S. 5-8. Zarnowski, J., Spoleczenstwo Drugiej Rzeczpospolitej 1918-1939 (Die Gesellschaft der Zweiten Republik 1918-1939), Warszawa 1973.
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Anna Zarnowska
Noch liegt keine vollständige Geschichte der gesellschaftlichen Umgestaltungen in den polnischen Gebieten an der Wende vom 19. zum 20. Jh. vor. Aber gerade in diesem Zeitraum vor der Wiedererlangung der selbständigen Staatlichkeit fielen wesentliche Entscheidungen über die Modernisierung der gesellschaftlichen Struktur Polens und ihres Entwicklungstempos in der gesamten ersten Hälfte des 20. Jh. Damit stehen die Historiker vor einem sehr schwierigen Forschungsproblem: Wie verlief die kapitalistische Modernisierung der Struktur sowohl der polnischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit als auch der einzelnen Klassen, die sich unter den besonderen Bedingungen des Fehlens einer eigenen Staatlichkeit vollzog, wobei das polnische Volk in drei verschiedene gesellschaftlich-politische Organismen der Unterdrückermächte eingegliedert war. Die erschöpfende Beantwortung dieser Fragen erfordert das Zusammenwirken der Historiker Polens und anderer Länder Zentral- und Osteuropas. Der ungleichmäßige Forschungsstand zur gesellschaftlichen Entwicklung Polens in den verschiedenen Zeitetappen bedingt Unterschiede im Fortschreiten der Forschungen zur Geschichte der einzelnen Klassen und Schichten im 19. und 20. Jh., darunter auch der Arbeiterklasse. Die polnische Historiographie widmete nach 1945 der Erforschung der Arbeiterklasse viel Aufmerksamkeit, vor allem der Entwicklung der Arbeiterbewegung, wobei sie die Geschichte der revolutionären Parteien und der größeren Streikkämpfe besonders berücksichtigte. Großen Wert legte sie auf ideologische Probleme, während das massenweise Auftreten der Arbeiter kaum eine Behandlung fand. Die 60er und 70er Jahre brachten eine Reihe historischer Monographien, die sich zumeist auf eine breite Quellenbasis stützten. Sie untersuchten in chronologischer Folge die Geschichte der einzelnen Arbeiterparteien des 20. Jh. in ausgewählten Arbeiterzentren: in Warschau, in Lodz, im Becken von D^browa, in Schlesien, im Gebiet von Biaiystok u. a. Es entwickelte sich ein spezielles Modell der historischen Monographie der Arbeiterparteien, in dessen Rahmen die Historiker das Programm und die Politik der ausgewählten Partei, ihr Verhältnis zur Staatsmacht und zu anderen Parteien sowie in kleinerem oder größerem Umfang die organisatorische und propagandistische Tätigkeit analysierten. Immer öfter wurde versucht, in den Abhandlungen auch die Frage zu beanworten, wie groß der Einfluß und die Einwirkung der jeweiligen Arbeiterpartei innerhalb der Arbeiterklasse war. Das bezieht sich sowohl auf Arbeiten über eine einzelne ausgewählte Partei als auch auf einen zweiten Typ von Monographien, der in den 60er und 70er Jahren zahlreicher wurde und die Lage der Arbeiterklasse, ihre Massenkämpfe und die Tätigkeit der Arbeiterparteien in einem bestimmten Arbeiterzentrum zum Forschungsgegenstand hatte. Nennen wir als Beispiel für die Zeit der nationalen Unterdrückung die Publikationen von J. Buszko3, P. Korzec4, D. Steyer5, A. Hrebenda 6 und P. Pabisz7. 3
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Buszko, J., Ruch socjalistyczny w Krakowie 1890-1914 (Die sozialistische Bewegung in Kraköw 1890-1914), Kraköw 1966. Korzec, P., Pol wieku dziejöw ruchu rewolucyjnego Bialostoczcyzny 1864-1914 (Ein halbes Jahrhundert aus der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung in dem Gebiet Biaiystok 1864-1914), Warszawa 1965.
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Im selben Zeitraum wurden unter sozialökonomischem Aspekt Probleme der Geschichte der Arbeiterklasse in zahlreichen Publikationen behandelt, und zwar im Zusammenhang mit der Geschichte der Industrie, besonders in der ersten Etappe der kapitalistischen Industrialisierung und der daraus resultierenden Entwicklung der modernen Arbeiterklasse in den polnischen Gebieten. Dabei stand die Klasse im Mittelpunkt, die für den Fortschritt des Prozesses der Industrialisierung ein entscheidender Faktor war. Gegenstand dieser Forschungen waren besonders jene Elemente der Lage der Arbeiter, die Bezug auf ihre Stellung innerhalb der kapitalistischen Produktion hatten, namentlich die Dynamik der Beschäftigung und die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Intensität und Produktivität der Arbeiter, die Arbeitsgesetzgebung, die Arbeitslöhne, die Sozialversicherung, die Wohnungssituation u. a.8 Dieser Problematik einer recht eng aufgefaßten „Lage" der Arbeiter wurde auch die Auswahl der Quellen untergeordnet, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Herkunft als auch ihres Typs. Die Forschungen stützten sich vor allem auf amtliche und private Berichte und Korrespondenzen in bezug auf die Unternehmen, die Produktion, die Kosten u. a. Faktoren, auf industrielle Statistiken und Zusammenstellungen und auf normative Quellen. Eine ähnliche Einschränkung der Forschungsproblematik beobachten wir auch bei der Mehrzahl der Darstellungen über die Lage der Industriearbeiter im Zeitraum zwischen beiden Weltkriegen. 9 Man muß jedoch hinzufügen, daß im Unterschied zu den Aus5 6 7
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Steyer, D., Problemy robotnicze Gdyni 1926-1939 (Probleme der Arbeiter in Gdynia 1926-1939), Gdynia 1959. Hrebenda, A., Klast robotnicza Zagl^bia Dqbrowskiego w latach 1929-1933 (Die Arbeiterklasse im Becken von Dqbrowa in den Jahren 1929-1933) Katowice 1969. Papisz, J., Walka klasy robotniczej wojewödztwa älqskiego w okresie wielkiego krysysu gospodarczego (Der Kampf der Arbeiterklasse in der Wojewodschaft Schlesien im Zeitraum der großen Weltwirtschaftskrise), Katowice/Kraköw 1972. Zum Beispiel Pietrzak-Pawlowska, I., Krölestwo Polskie w poczqtkach imperializmu 1900-1905 (Das Königreich Polen zu Beginn des Imperialismus 1900-1905), Warszawa 1955; Jonca, K., Polozenie robotnikow görniczo-hutniczych na Slqsku w latach 1889-1914 (Die Lage der Berg- und Hüttenarbeiter in Schlesien in den Jahren 1889-1914), Wroclaw 1960; Gqsiorowska, N., Z dziejöw przemyslu w Krölestwie Polskim 1815-1918 (Zur Geschichte der Industrie im Königreich Polen 1815-1918), Warszawa 1965; Ihnatowicz, I., Przemysl lodzki w latach 1860-1900 (Die Industrie in Lodz in den Jahren 1860-1900), Warszawa/Wroclaw/Kraköw 1965; Szulc, W., Polozinie klasy robotniczej w Wielkopolsce w latach 1871-1914 (Die Lage der Arbeiterklasse in Großpolen in den Jahren 1871-1914), Poznan 1970; Kaczynska, E., Sila robocza w przemysle ci^zkim Krölestwa Polskiego 1870-1900 und Polozenie robotnikow przemyslu ci^zkiego w Krölestwie Polskim w latach 1864-1905 (Die Arbeitskräfte in der Schwerindustrie des Königreichs Polen 1870-1900 sowie Die Lage der Arbeiter in der Schwerindustrie im Königreich Polen in den Jahren 1864-1905), in: Polska Klasa Robotnicza, Studia historyczne, Bd. 1, Warszawa 1970, S. 93-148; und Bd. 3, Warszawa 1972, S.49-116. Jonczyk, J., Ochrona pracy kobiet i mlodocianych w polskim przemysle w latach 1919-1939 (Der Arbeitsschutz für Frauen und Jugendliche in der polnischen Inustrie der Jahre 1919-1939), Warszawa 1961; Maciejewski, H., Polozenie robotnikow prze-
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arbeitungen über die sozialökonomische Lage der Arbeiter im Zeitraum der nationalem Unterdrückung für die Studien über die Jahre 1918 bis 1939 und besonders über die große Weltwirtschaftskrise (1929-1933) weitaus mehr Quellen herangezogen werden konnten, die über den traditionellen Materialfundus des Wirtschaftshistorikers hinausgehen. Die breitere Quellenbasis schloß namentlich auch Umfragematerial ein, wie es in der Zwischenkriegszeit auf Initiative verschiedener Funktionäre der Linken gesammelt worden war. Die Forschungsrichtungen zur Geschichte der Arbeiterklasse, der materiellen Arbeits- und Lebensbedingungen sowie bestimmter Elemente des sozialen Status des Arbeiters verliefen ziemlich parallel. Nicht selten kam es zu einer gegenseitigen Bestätigung der Schlußfolgerungen aus beiden Themenkomplexen. Zudem wurde der Forschungsgegenstand ziu eng aufgefaßt und auf die Industrieund Bergarbeiter beschränkt. Seit Mitte der 60er Jahre haben sich diese Forschungen, die die Geschichte der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt stellen, bedeutend entwickelt. Der traditionelle Problemkatalog wurde beträchtlich erweitert und bezog nunmehr sozialgeschichtliche Fragestellungen ein, die weit über die bisherige Sicht der Lage der Arbeiter hinausgingen und die Erschließung neuer Quellen verlangten. Diese Arbeiten konzentrierten sich anfangs auf die Universitäten in Lodz und Warszawa sowie auf das Warschauer Historische Institut der Akademie der Wissenschaften. Das Forschungsprogramm umfaßte u. a. folgende Themenkomplexe: Welchen Platz nahm die Arbeiterklasse in der sozialen und Berufsstruktur der gesamten Gesellschaft ein? Aus welchen sozialen Schichten stammte die Arbeiklasse bzw. ergänzte sie sich? Eine solche Problemstellung ermöglichte es, die Geschichte der Arbeiterklasse sowie den Zusammenhang zwischen der Entwicklung dieser Klasse und der Veränderung der Struktur der gesamten Gesellschaft dynamischer zu erfassen. Damit wird mit der isolierten Betrachtung der Arbeiterklasse Schluß gemacht und ihre Entwicklung im Zusammenhang mit ihrem „natürlichen Hinterland", den sich proletarisierenden Teilen der Bauernschaft, des städtischen Kleinbürgertums und der Intelligenz aufgezeigt. Das zieht weitere Fragen nach sich, z. B.: Wie unterscheidet sich die Arbeiterklasse im Vergleich zur gesamten Gemyslowych w Wielkopolsce w latach 1929-1939 (Die Lage der Industriearbeiter in Großpolen in den Jahren 1929-1939), Warszawa 1964; Jqdruszczak, H., Place robotniköw przemyslowych w Polsce w latach 1929-1939 (Die Löhne der Industriearbeiter in Polen in den Jahren 1929-1939), Warszawa 1965; Landau, Z./Tomaszewski, J., Robotnicy przemyslowi w Polsce. Materialne warunki bytu 1918-1939 (Die Industriearbeiter in Polen. Materielle Lebensbedingungen in den Jahren 1918-1939), Warszawa 1971; Lawnik, J., Polozenie klasy robotniczej Warszawy w latach 1926-1929 (Die Lage der Arbeiterklasse Warschaus in den Jahren 1926-1929), Warszawa 1972; Szczygielski, Z., Niektöre problemy sytuacji warszawskiej klasy robotniczej w latach trzydziestych (Einige Probleme der Lage der Warschauer Arbeiterklasse in den 30er Jahren), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 1, S. 325-354, Mroczka, L., Z badari nad placami robotniczymi w lödzkim przemysle wlökienniczym w latach 1918-1923 (Zu den Forschungsergebnissen über die Arbeitslöhne in der Lödzer Textilindustrie in den Jahren 1918-1923), ebenda, Bd. 3, S. 444-461.
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sellschaft in der nationalen Zusammsetzung, demographisch und berufsmäßig? Wie veränderte sich die innere Struktur? In welchem Tempo entwickelte sich der innere Integrationsprozeß der Arbeiterklasse? Wie ist der Charakter und das Gewicht ihrer inneren Differenzierung einzuschätzen? Der Versuch, diese und ähnliche Fragen zu beantworten, stößt auf quellenmäßige Schwierigkeiten. Er erfordert von der gesamten historischen Forschung eine Erweiterung der bisher traditionell benutzten QueUenbasds, also auch bei der Analyse politischer oder wirtschaftsgeschichtlicher Prozesse. Diese neue Fragestellung wurde zuerst in den Forschungen zur ersten Etappe der Entwicklung der modernen Arbeiterklasse Mitte des 19. Jh. sowie in der Etappe ihrer vollen Entfaltung im Rahmen der entwickelten kapitalistischen Gesellschaftsstruktur im unabhängigen polnischen Staat von 1918 bis 1939 aufgegriffen. Pionierarbeit sind die Untersuchungen von Tadeusz Lepkowski über die Anfänge der Entwicklung der Arbeiterklasse Warschaus (1764-1864), die er danach auf alle von den drei Okkupationsmächten beherrschten polnischen Gebiete ausdehnte. 10 Der Wert der Arbeiten Lepkowskis wird noch dadurch erhöht, daß er in seinen Forschungen zur Sozialgeschichte als erster die Bücher der Einwohnermeldeämter sowie der Standesämter auswertete (hier vor allem Akten über Taufen und Eheschließungen), außerdem Hypothekenakten und Akten über Ermittlungsverfahren. Er berücksichtigte also die individuellen, persönlichen Eintragungen, die in großer Anzahl vorhanden sind, deren Auswertung jedoch nur mittels quantitativer Methoden möglich ist. Freilich konnte Lepkowski diese Akten nur in kleinerem Umfang, hauptsächlich zur Vervollständigung seiner Quellenbasis nutzen, weil sie umfassend nur durch Forschungskollektive ausgewertet werden können. Dennoch hat seine Arbeit erstmalig in der polnischen Historiographie die Eignung dieses Quellentyps f ü r Forschungen über die territoriale Mobilität der Arbeiterbevölkerung, über ihre Bräuche und ihre soziale Herkunft eindeutig nachgewiesen. In ähnlicher Richtung arbeiteten Lödzer Historiker in einem von Natalia G^siorowska und danach von Grzselda Missalowa geleiteten Kollektiv. Eine zusammenfassende Übersicht der gewonnenen Resultate gab G. Missalowa in einer umfangreichen, quellenmäßig gut fundierten Monographie.11 Missalowa wertete bereits in breitem Umfang individuelle Quellen aus, d. h. die Bücher der Einwohnermeldeämter und die Akten der Standesämter von 1864 bis 1918 sowie Tabellen, die über die Tätigkeit der Bauernbevölkerung außerhalb der Landwirtschaft in der Nachbarschaft des Lödzer Industriezentrums Aufschluß geben. Forschungen dieses Typs, die sich auf individuelle Eintragungen mit biographischen Informationen, auf vervollkommnete statistische Methoden und die moderne 10
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Lepkowski, T., Poczqtki klasy robotniczej Warszawy (Die Anfänge der Arbeiterklasse in Warschau), Warszawa 1956; ders., Polska - narodziny nowoczesnego narodu 1764-1870 (Polen - die Geburt eines modernen Volkes 1764-1870), Warszawa 1967. Missalowa, G., Studia nad powstaniem Lödzkiego Okr^gu Przemyslowego 1815 do 1870 (Studien über die Entstehung des Lodzer Industriebezirks in den Jahren 1815-1870), Bd. 2, Lodz 1967.
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Rechentechnik stützen, wurden bei Untersuchungen über soziale und berufsmäßige Veränderungen der Einwohner Warschaus in breiterem Umfang eingewandt, was auch für Arbeiten über die Lage der Arbeiterbevölkerung um die Wende der ersten zur zweiten Hälfte des 19. Jh. 12 sowie auf Studien über die Bergarbeiter in den Jahren 1817 bis 1870 zutrifft.13 Individuelle Eintragungen in den „Geschlechtsregistern" des Bergarbeiter-Korps ermöglichten die Zusammenstellung einer Kartothek, die mehrere hundert Mitglieder dieser Knappschaft anführt. Diese Kartothek ermöglichte Detailuntersuchungen der sozialen und territorialen Herkunft der Bergarbeiter, der Veränderungen ihres sozialökonomischein Status in der ersten Etappe der kapitalistischen Industrialisierung sowie einiger Strukturelemente dieser wichtigen Kategorie der sich formierenden Arbeiterklasse. Dieselbe Problematik der Quellen und der sozialen Herkunft der Arbeitskräfte untersuchte ebenfalls Waciaw Dlugoborski in seinen Studien über die Anfangsetappen der Industrialisierung für den Bergbau und das Hüttenwesen im Becken von D^browa und in Oberschlesien.14 Der Wert seiner Forschungen wird durch die vergleichende Darstellung der Verhältnisse in den polnischen Gebieten mit der Entwicklung in Zentral- und Osteuropa erhöht. Ziemlich umfangreich, wenn auch mit einer gewissen Verspätung, wurden in den letzten Jahren Forschungen zur nächsten Entwicklungsetappe der modernen Arbeiterklasse in jenen polnischen Gebieten vorangetrieben, die noch immer von den fremden Mächten okkupiert waren, aber bereits eine bedeutende Entwicklung der kapitalistischen Gesellschatfsstruktur aufwiesen. Auf den Zeitraum des letzten Drittels des 19. Jh. bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges konzentrieren sich nunmehr viele Historiker in den Forschungszentren Polens. Gegenstand der ersten aus den Quellen erarbeiteten Monographien, die ausgewählte Industriebezirke und Regionen untersuchten, war die Arbeiterklasse, die jedoch noch zu eng auf die Arbeiter der Industrie und des Bergbaus begrenzt wurde.15 12
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Kowalska-Glikman, S., Ruchliwoäc spoleczna i zawodowa mieszkancöw Warszawy w latach 1845-1861 (Die sozialen und beruflichen Veränderungen innerhalb der Einwohner Warschaus in den Jahren 1845-1861), Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1971. Kaczynska, E./Kowalska, S., Struktura spoleczna robotniköw zachodniego okregu görniczego w latach 1840-1870 (Die soziale Struktur der Arbeiter des westlichen Bergbaubezirks in den Jahren 1840-1870), in: Zaranie Slqskie, 1964, 2; Lukaszewicz, W., Korpus Görniczy w okr^gu zachodnim (Das Bergarbeiter-Korps im westlichen Bergbaubezirk), in: Spoleczenstwo Krölestwa Polskiego, Bd. 2, Warszawa 1966, S. 9-110; Kowalska-Glikman, S., Robotnicy w görnictwie i hutnictwie rzqdowym Krölestwa Polskiego (1831-1863) (Die Arbeiter im Bergbau und im staatlichen Hüttenwesen des Königreichs Polen 1831-1863), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 1, S. 56-92. Vgl. Dlugoborski, W., Naplyw sily roboczej do przemyslu w krajach Europy srodkowo-wschodniej (1850-1918) (Der Zufluß von Arbeitskräften in die Industrie der Länder Zentral- und Osteuropas 1850-1918), in: Gospodarka przemyslowa a poczqtki cywilizacji technicznej w rolniczych krajach Europy, Wroclaw/Warszawa/ Krakow 1977, S. 233-256. Jonca, K., Polozenie robotniköw görniczo-hutniczych na Slgsku w latach 1889 do 1914 (Die Lage der Berg- und Hüttenarbeiter in Schlesien in den Jahren 1889-1914),
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Darüber hinaus wurde die Entwicklung der Arbeiterklasse meistens isoliert von den anderen Klassen und sozialen Schichten in der kapitalistischen Gesellschaft betrachtet. Diese Studien könzentrieren sich vor allem auf die Lage der Arbeiter, ihre Stellung und Funktion in der Produktion und gingen nur geringfügig über den traditionellen Fragenkomplex hinaus, der mit der ökonomischen Lage der Arbeiter verbunden ist. Einen anderen Charakter haben die Arbeiten, die in den 60er Jahren von einem Kollektiv unter Leitung Kazimierz Dobrowolskis im Krakower Forschungszentrum entstanden. Es handelt sich um soziologisch-ethnographische Studien von Antoni Stojak, Danuta Dobrowolska und Edward Pietraszek, die sich mit der Geschichte der Belegschaften eines oder mehrerer Produktionsbetriebe im Becken von Kraköw, damals österreichisches Okkupationsgebiet, beschäftigten.16 Sie repräsentieren eine spezifische Form sondierender Untersuchungen unter historischem Gesichtspunkt. Sie analysierten sowohl die Quellen als auch die Art und Weise der Entwicklung der Arbeiterbelegschaft unter besonderer Berücksichtigung des sozialen Wandlungsprozesses ländlicher Schichten zum Proletariat, der materiellen Lage der Arbeiter wie auch struktureller Veränderungen im Rahmen ausgewählter Arbeiterkategorien. Dazu gehören auch die weit aufgefaßten sozialen Verhältnisse im Produktionsbetrieb, wie z. B. Entstehung von Bindungen innerhalb der Belegschaft des Bergwerks oder der Hütte, die Entwicklung des Klassenbewußtseins der Arbeiter u. a. Die Berücksichtigung einer derart umfangreichen Forschungsproblematik wurde durch die Auswertung unterschiedlicher Quellen möglich: Neben amtlichen statistischen und die Lage beschreibenden Berichten der Presse und anderer Druckerzeugnisse konnten sie sich auf die glücklicherweise überlieferten Bergwerksarchive - wobei sich die Geburtenbücher der Bergleute als besonders wertvoll erwiesen - stützen sowie auf Materialien aus der Regional- und Lokalforschung (Umfragen). Die Problematik der inneren Struktur der Arbeiterklasse um die Wende vom 19. zum 20. Jh. im gesamten Königreich Polen, dem sich damals am schnellsten modernisierenden Teil Polens, untersuchte die Verfasserin in einer an der Warschauer Universität entstandenen Monographie.17
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Wroclaw 1960; Szulc, W., Polozenie klasy robotniczej w Wielkopolsce w latach 1871-1914 (Die Lage der Arbeiterklasse in Großpolen in den Jahren 1871-1914), Poznan 1970; Kaczynska, E., Sila robocza w przemySle ci^zkim Krölestwa Polskiego (1870-1900) (Die Arbeitskräfte in der Schwerindustrie des Königreichs Polen 1870-1900), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 1, S. 93-128. Stojak, A., Studium o görnikach kopalni „Janina" w Libiqzu 1905-1960 (Studie über die Lage der Bergarbeiter der Grube „Janina" in Libi^z 1905-1960), Lodz/ Warszawa 1964; Dobrowolska, D., Görnicy salinarni Wieliczki w latach 1880-1939 (Die Bergarbeiter der Saline Wieliczka in den Jahren 1880-1939), Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1965; Pietraszek, E., Wiejscy robotnicy kopaln i hut. Dynamika przemian spoleczno-kulturalnych w sierszanskim osrodku görniczym w X I X i X X wieku (Die ländlichen Arbeiter der Bergwerke und Hütten. Dynamik der sozialen und kulturellen Veränderungen im Sierszansker Bergarbeiterzentrum des 19. und 20. Jh.), Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1966. Zarnowska, A., Klasa robotnicza Krölestwa Polskiego 1870-1914 (Die Arbeiterklasse im Königreich Polen in den Jahren 1870-1914), Warszawa 1974.
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Sie verfolgte unter ausgewählten Gesichtspunkten die Entwicklung der Arbeiterklasse in den Jahren von 1870 bis 1914 auf der Grundlage der Veränderungen der sozialen und Berufsstruktur der ganzen Gesellschaft, und zwar im Vergleich aller drei Teilungsgebiete Polens. Dabei berücksichtigt sie u. a. die Veränderungen in der demographischen Zusammensetzung, in den Berufsgruppen, in der Nationalität u. ä. und analysiert das bisher nicht erforschte Problem der Reichweite und Intensität der Mobilität der Arbeiterklasse im Prozeß der strukturellen Veränderungen der gesamten Gesellschaft. Dazu gehört auch der Versuch, Verschiebungen zwischen den Klassen und sozialen Schichten zu erfassen, die im Laufe des industriellen Fortschritts mit der Entwicklung und Stabilisierung der modernen Arbeiterklasse verbunden sind. In die Untersuchung der inneren Struktur der Arbeiterklasse sind solche Probleme wie der erreichte Stand der sozialökonomischen Stabilisierung des Arbeiters, seiner Familie sowie der Einfluß der nationalen Unterschiede einbezogen. Als ein besonders wichtiges Element der inneren Differenzierung der Arbeiterklasse an der Wende vom 19. zum 20. Jh. erwies sich im Königreich Polen das Ausmaß des Analphabetentums und der Schulbildung. Bei diesen Forschungen wurden in der Regel die auf statistischen Quellen beruhenden Ergebnisse den durch sondierende Untersuchungen erzielten Hypothesen gegenübergestellt. Diese Einzeluntersuchungen fußten auf Arbeiterbiographien, f ü r die Informationen aus Repressionsakten, Personalakten, autobiographischen Aufzeichnungen, Nekrologen u. a. gesammelt wurden. Diese biographischen Aufzeichnungen wurden erstmals in Forschungen über die Struktur und soziale Mobilität der Arbeiterklasse ausgewertet. Dabei erwies sich, daß die individuellen Biographien nach einer entsprechenden Umgruppierung eine weit bessere Möglichkeit für repräsentative Untersuchungen über Veränderungen des sozialökonomischen Status der Arbeiter in einer Reihe von Generationen ergaben als statistische Quellen. An der Wende vom 19. zum 20. Jh. waren die unterschiedlichen Arbeitslöhne ein wesentlicher Maßstab f ü r die innere Schichtung der Arbeiterklasse. Der mangelhafte Quellenfundus bereitet derartigen Forschungen jedoch sehr große Schwierigkeiten; entsprechende statistische Materialien und andere dafür geeignete Quellen fehlen weitgehend. Einzelstudien zum Thema der Unterscheidung der Arbeiter nach der Höhe ihrer Arbeitslöhne im Königreich Polen zu Anfang des 20. Jh. führte zuletzt Standsiaw Kalabinski durch. Dabei stützt er sich erstmalig nicht auf Statistiken, sondern auf Einzelquellen, d. h. auf für die Jahre 1904 bis 1910 vorhandene Aufzeichnungen über den Jahreslohnfond in einzelnen Fabriken und Bergwerken. 18 Kalabinski ist auch der Initiator und Organisator eines Kollektivunternehmen eilner großen Gruppe von Historikern der Polnischen Akademie der Wissenschaften und von Universitäten, des umfangreichen „Grundrisses der Geschichte der Arbeiterklasse" in den polnischen Gebieten. Der erste
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Kalabinski, St., Zroznicowanie placowe robotniköw przemyslowydi Krölestwa Polskiego w latach 1904-1910 (Die Unterschiede bei der Entlohnung der Industriearbeiter im Königreich Polen in den Jahren 1904-1910), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 7, Warszawa 1976, S. 7-128.
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Band des „Grundrisses"19 behandelt die Geschichte der Arbeiterklasse bis 1918 in den drei polnischen Gebieten während der Okkupation. Der zweite Band wird die Geschichte der Arbeiterklasse im Zeitraum der II. Republik darstellen. Im Mittelpunkt der bereits fertigen Teile des „Grundrisses" steht- die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit. Die Autoren konzentrieren sich vor allem auf die Industriearbeiter, den Kern der Arbeiterklasse, berücksichtigen jedoch auch die Arbeiter der Kleinbetriebe und des Handwerks, des Bauwesens, des Transports - vor allem die Eisenbahner und Hafenarbeiter - sowie fragmentarisch die Beschäftigten in den Dienstleistungsbetrieben. Viel Aufmerkamkeit widmen die Autoren den Landarbeitern, die einen wesentlichen" Teil der Arbeiterklasse Polens bildeten, was der Quellenforschung über die Rolle des Landproletariats, u. a. im Königreich Polen, in Pomorze und in Galizien neue Impulse gab.20 Das Autorenkollektiv des ersten Bandes des „Grundrisses" stellte - die produktiven Ergebnisse einiger zuvor erschienener Monographien weiterführend - die Geschichte der Arbeiterklasse nicht mehr isoliert dar, sondern im Zusammenhang mit den strukturellen Veränderungen, die in der gesamten, sich modernisierenden Gesellschaft vor sich gingen. Die Darstellung konnte auch die Vielgestaltigkeit der zu behandelnden Problematik wesentlich erweitern. Das Spektrum erfaßte die sozialen Anfänge der Arbeiterklasse, ihre innere Zusammensetzung und gewisse Elemente ihrer Struktur, die Entwicklungsdynamik, die territoriale Ausdehnung u. ä., bezog Veränderungen der rechtlichen und materiellen Lage (Arbeits- und Lebensbedingungen, Konsumtion) ebenso ein wie den Bildungsgrad und die Überwindung des Analphabetentums und reicht bis hin zur Entwicklung des Klassenbewußtseins und des Nationalbewußtseins sowie zu den gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten der Arbeiterklasse. Die meisten dieser Gesichtspunkte waren bereits früher Gegenstand monographischer Quellenstudien, aber nicht in dieser Komplexität und vor allem nicht auf das gesamte polnische Territorium bezogen. Deshalb mußten spezielle Quellenforschungen (besonders im Gebiet von Bialystok und in Galizien) durchgeführt werden, die weitere Untersuchungen zur Beseitigung empfindlicher Lücken 19
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Potska Klasa Robotnicza. Zarys dziejów (Die polnische Arbeiterklasse. Grundriß der Geschichte), Bd. 1, T. 1: Von der Wende des 18./19. Jh. bis 1870, bearb. von St. Kalabiñski, L. Karwacki, R. Kolodziejczyk, St. Midialkiewicz, K. Murzynowska, W. Najdus, K. Wajda und A. Zajqc, Red. S. Kalabiñski, Warszawa 1974 (siehe dazu die Rez. von Zarnowska, A., in: Acta Poloniae Histórica, Bd. 34, Warszawa 1976, S. 72-74); T. 2-3: 1870-1918, Warszawa 197», bearb. von K. Groniowski, St. Kalabiñski, Wl. Lech Karwacki, R. Kolodziejczyk, St. Michalkiewicz, J. Molenda, K. Murzynowska, W. Najdus, Z. Pustula, K. Wajda, A. Zajqc, A. Zarnowska, Red. S. Kalabiñski. Wajda, K., Robotnicy rolni Pomorza Wschodniego na przelomie X I X i X X w. (sklad i rozwój liczebny) (Die Landarbeiter in Ostpommern an der Wende vom 19. zum 20. Jh. Zusammensetzung und zahlenmäßiges Wachstum), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 3, S. 322-347; Najdus, W., Praca najemna w magnackich gospodarstwach rolnych w Galicji w pierwszej polowie X I X wieku (Die Lohnarbeit auf den Magnatengütern Galiziens in der ersten Hälfte des 19. Jh.), ebenda, Bd. 5, Warszawa 1973, S. 247-278; Groniowski, K., Robotnicy rolni w Królestwie Polskim 1871-1914 (Die Landarbeiter im Königreich Polen 1871-1914), Warszawa 1977.
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im derzeitigen Wissensstand anregten. Ihre Ergebnisse fanden ihren Niederschlag in einer Serie von Beiträgen, die unter dem Titel „Die polnische Arbeiterklasse" durch das Institut f ü r Geschichte an der Akademie der Wissenschaften seit 1970 unter Mitwirkung von vielen Historikern des ganzen Landes und Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen publiziert werden. 21 Hieraus ergaben sich zugleich statistische Studien u. a. über die Dynamik der zahlenmäßigen Entwicklung des Proletariats, über die berufsmäßige, demographische oder nationale Zusammensetzung der Arbeiter und über ihre unterschiedlichen Arbeits- und Reallöhne. Die zuletzt genannte Thematik behandelten in Einzeldarstellungen, gestützt auf statistische Berichte von Bergwerksiedtungen und Fabrikinspektionen im Königreich Polen sowie auf individuelle Quellen, E. Kaczynska und St. Kalabinski. 22 E. Kaczynska wertete in ihren Forschungen u. a. jährliche Aufzeichnungen über die individuellen Arbeitslöhne von Bergarbeitern aus, aufbewahrt in den Bergwerksakten über pensionierte Bergarbeiter bzw. Rentner aus den Jahren 1846 bis 1882. Das ermöglichte der Autorin, nicht n u r eine Übersicht über die unterschiedlichen Löhne dieser Berufsgruppe zu gewinnen, sondern auch den Versuch der Analyse der Reallöhne dieser Arbeiter zu unternehmen. Dazu war die Ausarbeitung eines Katalogs objektiver Kennziffern f ü r die Ermittlung und den Vergleich der Reallöhne und der Veränderungen des Lebensstandards der Arbeiter notwendig. Dasselbe Forschungsprogramm legte Kalabinski seinen Untersuchungen über die materielle Lage der Arbeiter im Gebiet von Bialystok zugrunde. Durch die Forschungen der letzten J a h r e zeichneten sich auch die sozialen Veränderungen innerhalb der Arbeiterklasse um die Jahrhundertwende etwas klarer ab. Einzelne Studien über die soziale Mobilität der Arbeiter im Königreich Polen legte u. a. die Autorin dieses Aufsatzes vor. 23 Sie beziehen sich auf Veränderungen in der territorialen Verteilung der Arbeiter sowie die Veränderungen in 21
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Polska Klasa Robotnicza. Studia historyczne (Die polnische Arbeiterklasse. Historische Studien), Red. S. Kalabinski, Bd. 1-7, Warszawa 1970-1976. Kaczynska, E., Polozenie robotniköw przemyslu ciejzkiego w Krölestwie Polskim 1870-1900 (Die Lage der Arbeiter der Schwerindustrie im Köngreich Polen 1870 bis 1900), ebenda, Bd. 3, S. 93-116; Kalabiüski, St., Z dziejöw polozenia klasy robotniczej Bialostockiego Okr^gu Przemyslowego w latach 1861-1914 (Zur Geschichte der Lage der Arbeiterklasse im Industriebezirk von Bialystok in den Jahren 1861-1914), ebenda, S. 117-203. Vgl. Z arnowska, A., Klasa robotnicza a procesy ruchliwoSci spolecznej (Z badari nad robotnikami Warszawy i innych oärodöw przemyslowych Krölestwa na przelomie XIX i XX w.) (Die Arbeiterklasse und die Prozesse der sozialen Beweglichkeit [Aus den Forschungen über die Lage der Arbeiter Warschaus und anderer Industriezentren des Königreichs Ende des 19. und Anfang des 20. Jh.]), in: Z'pola walki, 1972, 1, S. 29-79 dies., Robotnicy 2yrardowa w koncu XIX wieku. Z badan nad pochodzeniem, struktur^ i ruchliwoäci^ spoleczna (Die Arbeiter Zyrardöws Ende des 19. Jh. Aus den Forschungen über Herkunft, Struktur und soziale Beweglichkeit), in: Ekonomia, 36, 1976, S. 161-176, dies., Z badan nad skladem spotecznym klasy robotniczej w Krölestwie Polskim 1870-1914 (Untersuchungen über die soziale Zusammensetzung der Arbeiterklasse im Königreich Polen 1870-1914), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 4, S. 101-138.
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ihrem sozialen Status. Analysiert wurden auch Erscheinungen des Abstiegs und des Aufstiegs der Arbeiter sowohl im Rahmen ihrer Klasse als auch darüber hinaus. Man führte sondierende Forschungen durch, die sich auf eine Sammlung individueller Arbeiterbiographien stützten. Weitere monographische Publikationen untersuchten die Lohnbewegungen in verschiedenen Gebieten sowie die Löhne von emigrierten Arbeitern. Sehr intensiv befaßte sich die Forschung mit der Wanderbewegung polnischer Arbeiter nach Deutschland, einschließlich der polnischen Gebiete unter preußischer Okkupation (Posen/Westpreußen, das Danziger Pommern und Oberschlesien).24 Gründliche Forschungen über die Entstehung und Entwicklung eines polnischen Arbeiterzentrums im Ruhrgebiet, über dessen berufliche und demographische Gliederung, die Lebensbedingungen sowie die gesellschaftliche und politische Aktivität der Arbeiter führte Krystyna Murzynowska durch.25 Außerdem wurde die polnische Lohnarbeiter-Emigration in die USA und nach Brasilien untersucht. 26 Forschungen über die soziale Umgestaltung im Zeitraum der II. Republik wurden bereits in der Epoche zwischen beiden Weltkriegen intensiv betrieben. In der historischen Nachkriegsliteratur wurde diese Problematik vom Institut f ü r Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau aufgegriffen. Marian Drozdowski unternahm in einer umfangreichen Monographie am Beispiel Warschaus den Versuch, die Veränderungen in der Zusammensetzung und sozialen Struktur der Arbeiterklasse in den Jahren 1918 bis 1939 zu analysieren.27 Janusz Zarnowski führte Untersuchungen über die Gesellschaft der II. Republik durch und erarbeitete für den Zeitraum zwischen den Weltkriegen u. a. einen zusammenfassenden Grundriß über die soziale Struktur der Arbeiterklasse (einschließlich der Landarbeiter). 28 Das Problem der sozialen Struktur der 24
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Jonca, K., Imigracja robotniköw polskich na Sl^sk w koncu XIX i w poczqtkach XX wieku (Die Wanderbewegung der polnischen Arbeiter nach Schlesien Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh.), in: Studia Sl^skie seria nowa, Bd. 1, Opole 1958; Brozek, A., Robotnicy spoza zaboru pruskiego na Görnym Slqsku 1870-1914 (Die Arbeiter aus den Gebieten außerhalb des preußischen Okkupationsgebietes in Oberschlesien 1870-1914), Wroclaw 1966; Szajbel, J., Ruchy migracyjne ludnosci polskiej w Niemczech w latach 1892-1913 (Die Wanderbewegung der polnischen Bevölkerung nach Deutschland in den Jahren 1892-1913), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 3, S. 348^366. Murzynowska, K., Polskie wychodzstwo zarobkowe w Zagl^biu Ruhry w latach 1870-1914 (Die Wanderbewegung polnischer Lohnarbeiter ins Ruhrgebiet in den Jahren 1870-1914), Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1972. Groniowski, K., Udzial robotniköw okr^gu lödzkiego w emigracji do Brazylii (Der Anteil von Arbeitern des Industriebezirks Lödz an der Emigration nach Brasilien), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 3, S. 204-228. Vgl. Drozdowski, M, Klasa robotnicza Warszawy 1918-1939. Sklad i strukture spoleczna (Die Arbeiterklasse Warschaus 1918-1939. Zusammensetzung und soziale Struktur), Warszawa 1968. Zarnowski, J., Rzut oka na struktur^ spoleczn^ klasy robotniczej w Polsce mi^dzywojennej (Ein Überblick über die soziale Struktur der Arbeiterklasse im Zwischenkriegspolen), in: Najnowsze Dzieje Polski (1914-1939), Bd. 12, 1968, S. 37-69; ders.,
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Landarbeiter wurde außerdem in einer besonderen Skizze von Andrzej Ajnenkiel behandelt.29 Diese Studien erfassen die Struktur der Arbeiterklasse als Element breiterer struktureller und sozialer Wandlungspoze§se im gesamtgesellschaftlichen Ausmaß. Die Autoren waren bestrebt, verschiedene Kriterien der inneren Schichtung der Arbeiterklasse in Betracht zu ziehen wie die Höhe des Einkommens, den Zugang zur Bildung, den Bildungsgrad und die berufliche Qualifikation, die Sicherung vor Arbeitslosigkeit, den Lebensstandard einschließlich des Lebensmittelkonsums und der Wohnbedingungen, aber auch andere Aspekte der sozialökonomischen Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse, z. B. ihre Teilnahme am kulturellen Leben, die Benutzung von Bildungseinrichtungen und die Beteiligung am religiösen und politischen Leben. Das war deshalb möglich, weil für den Zeitraum 1918 bis 1939 ein unvergleichlich reichhaltigeres Quellenmaterial vorhanden ist als für die Zeit der Jahrhundertwende. Dazu trugen ebenfalls umfangreiche ökonomisch-statistische und soziologische Forschungen über die Lage der werktätigen Bevölkerung bei, die vor allem auf Initiative politisch linksgerichteter Funktionäre besonders während der Weltwirtschaftskrise durchgeführt wurden. Darauf konnte die Forschung nach dem zweiten Weltkrieg zurückgreifen. Ihr standen für die Zwischenkriegszeit nicht nur statistische Quellen - vor allem Ergebnisse zweier allgemeiner Volkszählungen -, sondern auch analytische Berichte von Arbeitsinspektoren sowie Material aus Umfragen zur Verfügung. Unter letzteren haben die Resultate einer vom Institut für Soziale Wirtschaft durchgeführten Umfrage unter den Arbeitern besondere Bedeutung.30 Die aufgezeigten Forschungsmethoden über die Veränderungen innerhalb der Arbeiterklasse im Zeitraum der II. Republik wurden von zahlreichen Autoren in Einzelstudien über verschiedene polnische Zentren fortgesetzt, wie z. B. den Warschauer Bezirk (Ludwik Hass), Bialystok und Umgebung (Jözef Kaja), das Gebiet von Teschen (Jözef Chlebowczyk), Lodz und Umgebung (Ludwik Mroczka) und das Gebiet von Kielce (Mieczyslaw Markowski). Die Mehrzahl dieser Ausarbeitungen wurde bereits in der genannten Publikationsireihe „Die polnische Arbeiterklasse" veröffentlicht. In einigen Studien wurden weitere Faktoren analysiert: So untersuchte z. B. J. Chlebowczyk für das Gebiet von Teschen, wie sich die nationalen Veränderungen auf die soziale und berufsmäßige Struktur der Arbeiterklasse auswirkten31, und L. Hass den Einfluß, den die veränderte Verteilung der Industriearbei-
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Spoleczeristwo II Ezeczpospolitej 1918-1939 (Die Gesellschaft der II. Republik 1918-1939), Warszawa 1973, S. 48-128. Vgl. Ajnenkiel, A., Uwagi w sprawie struktury robotniköw rolnych w okresie mi^dzywojennym (Bemerkungen zur Frage der Struktur der Landarbeiter in der Zeit zwischen beiden Weltkriegen), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 1, S. 391-411. Warunki zycia robotniczego w Warszawie, Lodzi i Zaglqbiu Dqbrowskim w swietle ankiet 1927 roku (Die Lebensbedingungen der Arbeiter in Warschau, Lodz und im Becken von Dqbrowa im Lichte der Umfragen des Jahres 1927), Warszawa 1929. Vgl. Chlebowczyk, J., Polskie srodowisko robotnicze Zaolzia na tle struktury narodowsciowej i socjalno-zawodowej ludnosci regionu w latach 1921-1930 (Das polnische Arbeiterzentrum im Olsagebiet vor dem Hintergrund der nationalen, sozialen
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ter in den 30er Jahren im gesamtpolnischen Ausmaß auf die berufsmäßige Struktur der Arbeiterklasse hatte. 32 In erster Linie wurde jedoch die Zusammensetzung der Arbeiterklasse nach demographischen, berufsmäßigen, nationalen und anderen Kriterien erforscht, d. h. den Elementen in der sozialen Unterscheidung, die statistisch am leichtesten erfaßt werden können. Die Verbreiterung und Vertiefung des Wissens über die Arbeiterklasse selbst, über ihre innere Strukur und ihren Platz in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gestattete es, die Forschungen über die Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung zu vertiefen. In letzter Zeit wenden sich die polnischen Historiker, die sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse beschäftigen, zunehmend der Problematik der Massenkämpfe sowie der gesellschaftlichen und politischen Aktivität der Arbeiter zu. Sie untersuchen den Mechanismus dieser Erscheinungen, die den Kampf fördernden und hemmenden Faktoren und schließlich die Wirksamkeit des Einflusses der politischen Parteien innerhalb der Arbeiterklasse. Gegenstand dieser Untersuchungen sind nicht nur die Formen von Massendemonstrationen und ihrer Dynamik, nicht nur die Entwicklung der Organisationsstrukturen, sondern auch die vielfältigen politischen und sozialen Voraussetzungen, die diesen Erscheinungen zugrunde liegen, wobei sich Methoden und Ergebnisse der Forschungen über die Struktur der Arbeiterklasse als fruchtbar erweisen. Das bedeutet eine Ausweitung der Forschungsproblematik auf das breit aufgefaßte Gebiet der politischen Kultur der Arbeiterklasse. 33 Die Verwirklichung dieses Programms ist nicht möglich, ohne bisher in den Forschungen zur Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung nicht ausgewertete Quellentypen einzubeziehen. Dazu gehören auch individuelle Quellen, die sich sowohl auf Personen als auch auf Ereignisse (wie z. B. einzelne Streiks, Demonstrationen, Aktivitäten in Betrieben u. ä.) beziehen, die in großer Anzahl vorhanden sind und die Anwendung quantitativer Methoden gestatten. Erste Versuche derartiger Forschungen über den Einfluß der sozialistischen Parteien und ihre soziale Basis im Königreich Polen am Vorabend und während der Revolution von 1905 bis 1907 erfolgten bereits Anfang der 60er Jahre. 34
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und beruflichen Struktur der Bevölkerung der Region in den Jahren 1921-1930), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 2, Warszawa 1971, S. 287-313. Vgl. Hass, L., Roczemieszenie robotniköw przemyslowych w Polsce w drugim dziesi^cioleciu mi^dzywojennym (Die Verteilung der Industriearbeiter in Polen im zweiten Zwischenkriegsjahrzehnt), ebenda, Bd. 6, Warszawa 1974. S. 169-208. Vgl. z. B. Zarnowska, A., Kultura polityczna klasy robotniczej w Krölestwie Polskim na przelomie XIX i XX wieku (Die politische Kultur der Arbeiterklasse im Königreich Polen an der Wende vom 19. zum 20. Jh.), in: Z dziejöw kultury politycznej w Polsce, Red. J. Gierowski, Prace XI Powszecäinego Zjazdu Historyköw Polskich w Toruniu w r. 1974 (Arbeiten des XI. Allgemeinen Historikerkongresses Polens in Torun 1974), Warszawa 1977, S. 202-215; Karwacki, W. L., Lödz w rewolucji 1905-1907 (Lodz in der Revolution 1905-1907), Lodz 1975. Vgl. Zarnowska, A., ZasiQg wplywöw i baza spoleczna PPS w przeddzien rewolucji 1905 roku (Die Reichweite des Einflusses und die soziale Basis der PPS am Vorabend der Revolution von 1905), in: Kwartalnik Historyczny, 67, 1960, 2, S. 357-385;
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Indizien für Umfang und Intensität des Einflusses der illegalen sozialistischen Parteien waren selbstverständlich solche Kriterien wie der Ausbau des Organisationsnetzes und der Stützpunkte der Parteien, aber auch z. B. die Auflagenhöhe der Schriften und anderer Druckerzeugnisse, die Verbreitung von Aufrufen und Flugblättern, die u. a. nach Berichten der unteren Polizeiorgane ermittelt wui> den, oder Umfang und Resultate von Sammlungen, Spenden und Beiträgen. Dazu gehörten auch Analysen über die personelle Zusammensetzung des aktiven Mitgliederstamms der sozialistischen Parteien im Königreich Polen, wofür Erinnerungen, Autobiographien sowie Personalakten von Gemaßregelten, Steckbriefe u. ä. m. herangezogen wurden. Forschungen zur sozialen Basis der Arbeiterparteien stießen in der polnischen Historiographie nicht sofort auf Zustimmung. Diese Problematik wurde erst in den 70er Jahren zu einem der wichtigsten Forschungsthemen zahlreicher historischer Studien zur Arbeiterbewegung. Breiter angelegte Forschungen über „die Zusammensetzung und Struktur der Avantgarde der Arbeiterklasse", über die Faktoren und Wege des Parteibildungsprozesses, über den Mechanismus des Entstehens und des Ausbaus der politischen Arbeiterorganisationen liegen der Monographie von Felix Tych über den Verband der Arbeiter Polens zugrunde.® Auf seine Initiative entstand in Zusammenarbeit mit St. Kalabiñski, gestützt auf das Kollektiv für die Geschichte der Arbeiterklasse beim Historischen Institut an der Akademie der Wissenschaften, eine Arbeit über die Mitglieder der Arbeiterparteien und Arbeiterorganisationen in den polnischen Gebieten vor 1918. Die Quellenbasis erstreckte sich auf Druckerzeugnisse (Presse, Broschüren, Aufrufe, Flugblätter u. a.), amtliche Berichte (der Polizei, Gendarmerie u. ä.) und Akten über Repressionen. Sie ermöglichte die Zusammenstellung von Personallisten der Funktionäre und Mitglieder der Arbeiterorganisationen. Die Uneinheitlichkeit der Informationsquellen erwies sich dabei als ernsthafter Mangel, der durch differenzierte und mühsame Bestätigungsverfahreh nicht vollkommen ausgeglichen werden konnte. Trotz dieser Vorbehalte konnte ein für die statistische Analyse geeignetes Material erarbeitet werden. Den ersten Versuch einer derartigen Analyse unternahm St. Kalabiñski in seiner Untersuchung über die personelle Zusammensetzung der ersten sozialistischen Organisationen im Königreich Polen an der Wende von den 70er zu den 80er Jahren des 19. Jh. Die gleichen Methoden wandte der junge Lodzer Historiker Pawel Samus bei seiner auf ähnlicher Quellenlage fußenden Studie über die personelle Zusammensetzung der zahlenmäßig starken Mitgliedschaft der
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siehe auch dies., Geneza rozlamu w PPS 1904-1906 (Die Entwicklung der Spaltung in der PPS 1904-1906), Warszawa 1965; Holzer, J., Polska Partía Socjalistyczna w latach 1917-1919 (Die Polnische Sozialistische Partei in den Jahren 1917-1919), Warszawa 1962. Vgl. Tych, F., Czlonkowie kól socjalistycznych, gmin i socjalnorewolucyjnej partii „Proletariat" w áwietle badañ ankietowydi (Die Mitglieder der sozialistischen Zirkel, der Gemeinden und der Sozialrevolutionären Partei „Proletariat" im Lichte der Umfrage-Forschungen), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 6, S. 7-62.
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Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens an.36 Unabhängig von den genannten Autoren, aber in analoger Weise untersuchte Zbigniew Szczygielski die soziale Basis der Kommunistischen Partei Polens, insbesondere die soziale und berufsmäßige Zusammensetzung, den Bildungsgrad, die politische Aktivität u. ä. der Mitglieder sowie des Parteiaktivs in den Zwischenkriegsjahren. Seine Analyse stützte sich vor allem auf die erhalten gebliebenen Personalangaben, die zu statistischen Zwecken während der Parteitage der KPP über die Delegierten erhoben wurden, sowie auf die in der Nachkriegszeit durch Umfragen gewonnenen Unterlagen über die Mitglieder der kommunistischen Bewegung, über die das Zentrale Parteiarchiv beim Zentralkomitee der PVAP verfügt.37 Der Wert dieses Typs von Studien ist nicht gering zu veranschlagen. Derartige Untersuchungen können als ein wesentliches Element eines breiteren Forschungsprogramms eingeschätzt werden, das auf die Analyse des Reagierens der Arbeiterklasse (oder bestimmter Teile von ihr) auf die organisatorische und ideologische Tätigkeit der politischen Parteien, der Gewerkschaftsverbände und anderer gesellschaflicher Organisationen ausgerichtet ist. Im Grunde genommen handelt es sich also um Elemente von Studien über die politische Kultur und den Prozeß der politischen Aktivierung der Arbeiterklasse. Die Begrenzung auf die „Elite" würde jedoch bedeuten, auf halbem Wege stehenzubleiben. Die Erfahrungen der polnischen Historiker in den letzten Jahren scheinen zu bestätigen, daß der Ausweg aus dieser vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt bedenklichen Situation in Studien über die politische Haltung der Masse der Arbeiter gesucht werden muß. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Heranreifen des Klassenbewußtseins der Arbeiter in unterschiedlichem Grade und in verschiedensten Formen von Massenaktivitäten zum Ausdruck gelangt und erfaßt werden kann. Das zeigt sich z. B. bei der im letzten Jahrzehnt angefertigten Gesamtdarstellung der Streikbewegung in der für die Arbeiterbewegung wichtigen Zeit des Umbruchs im Königreich Polen zu Beginn der 90er Jahre des 19. Jh.38, während der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 193339 sowie vor allem in den Jahren 38
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Vgl. Samus, P., Czlonkowie lödzkiej orgnizacji SDKPiL w okresie do upadku rewolucji 1905-1907 w Swietle badan ankietowych (Die Mitglieder der Lodzer Organisation der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens bis zur Zeit der Niederlage der Revolution 1905-1907 im Lichte der Umfrage-Forschungen), in: Z pola walki, 1975, 3, S. 3-28. Vgl. Szczygielski, Z., Czlonkowie KPP w swietle ankiet osobowych (Die Mitglieder der Kommunistischen Partei Polens im Lichte persönlicher Umfragen), T. 1-2, in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 5, S. 315-338; Bd. 6, S. 134-168. Vgl. Kancewicz, J., Strajki ekonömiczne w zaborze rosyjskim w latach 1893-1895 (ökonomische Streiks im russischen Okkupationsgebiet Polens in den Jahren 1893-1895), in: Biuletyn Biura Historycznego CRZZ (Bulletin des Zentralrats der Gewerkschaften), 1964, 1, S. 3-40; Tych, F., Narodziny masowego ruchu robotniczego w Krölestwie Polskim (Die Geburt der massenhaften Arbeiterbewegung im Königreich Polen), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 2, S. 7-46. Zum Beispiel Kieszczynski, L., Ruch strajkowy w przemysle wlökienniczym w latach 1929-1933 (Die Streikbewegung in der Textilindustrie in den Jahren 1929 bis 1933), Lödz 1969; Pabisz,J., Walka klasy robotniczej wojewödztwa slqskiego w
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der Revolution von 1905 bis 1907. Die Forschungen zu dem zuletzt genannten Komplex werteten die Streikstatistiken aus, die von der Fabrikinspektion angefertigt wurden40, sowie individuelle Quellen wie Kurzberichte über einzelne Streiks, zusammengestellt durch die Fabrikinspektoren für einzelne Betriebe, die Vergleiche mit der amtlichen Streikstatistik ermöglichen.41 Weiterführende Studien über die Reichweite, die Dynamik und die Formen der Streikaktivität der Arbeiterklasse wurden eigentlich erst in Angriff genommen. So fehlt bisher z. B. eine Gesamtdarstellung der Streikbewegung in den polnischen Gebieten vor 1918, ebenso auch für das Zwischenkriegspolen. Noch gravierender erscheint der Mangel, daß die bisherigen Ausarbeitungen oft auf eine tiefere Analyse des Verhaltens der Arbeiter während der Streikkämpfe verzichten. Diese Faktoren versuchte die Autorin dieses Aufsatzes in ihren Studien über die Entwicklung der Aktivität und der politischen Kultur der Arbeiter im Königreich Polen während der Revolution von 1905 bis 1907 zu berücksichtigen42, wobei insbesondere die politische Haltung der Masse der Arbeiter während der Streiks, Straßendemonstrationen, Fabrikversammlungen in die Untersuchung einbezogen und die Reichweite und Popularität der politischen Druckerzeugnisse, der politischen, gewerkschaftlichen, kulturellen und religiösen Organisationen analysiert wurden. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt L. W. Karwacki in seiner Monographie über dieselben revolutionären Ereignisse in L6dz sowie in seiner Studie über die Rolle von Symbolen und Liedern im revolutionären Kampf der Arbeiter.43 Er beweist damit zugleich die Nützlichkeit der Auswertung ikonographischer Überlieferungen von Liedern oder Legenden, die in ihrer Form von den klassischen beschreibenden Quellen abweichen.
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okresie wielkiego kryzysu gospodarczego (Der Kampf der Arbeiterklasse der Wojewodschaft Schlesien zur Zeit der großen Weltwirtschaftskrise), Katowice/Kraków 1972. Vgl. Èarnowska, A., Pròba analizy ruchu strajkowego w Królestwie Polskim w dobie rewolucji 1905-1907 (Versuch einer Analyse der Streikbewegung im Königreich Polen in den Jahren der Revolution 1905-1907), in: Przegl^d Historyczny, 56, 1965, 3, S. 432-456. Vgl. Kalabinski, St., Rudi strajkowy robotników przemyslowych Warszawy i gubernii warszawskiej w okresie najwyzszego jego natQzenia (Pròba analizy statystycznej) (Die Streikbewegung der Industriearbeiter in Stadt und Gouvernement Warschau im Zeitraum ihrer größten Intensität [Versuch einer statistischen Analyse]), T. 1-2, in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 4, S. 7-100; Bd. 5, S. 7-97. Vgl.¿arnowska,A., Proletariat Królestwa Polskiego w rewolucij 1905-1907 (Das Proletariat des Königreichs Polen in der Revolution 1905-1907), in: Z pola walki, 1975, Sondernummer zum 70. Jahrestag der Revolution 1905-1907, S. 61-78; dies., Rewolucja 1905-1907 a aktywizacja polityczna klasy robotniczej Królestwa Polskiego (Die Revolution 1905-1907 und die politische Aktivierung der Arbeiterklasse des Königreichs Polen), ebenda, 2, S. 3-21. Karwacki, Liódz w rewolucji 1905-1907; ders., Znaki i Symbole w rewolucji lat 1905-1907 (Zeichen und Symbole in der Revolution 1905-1907), in: Dzieje Najnowsze, 1975, 3, 3-20.
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Für den Zeitraum zwischen beiden Weltkriegen erwiesen sich die Statistiken als wesentliche Quelle für die Erforschung der Arbeiterklasse und ihrer politischen Haltung. Dazu gehören vor allem die statistischen Berichte über die Wahlen zu den Vertretungskörperschaften (zum Sejm, zum Rat der Arbeiterdelegierten, zum Stadtrat, zu den Krankenkassen), die Rechenschaftsberichte der Gewerkschaften und Genossenschaften, die Register von Kollektivverträgen, die statistischen Berichte der Arbeitsinspektionen u. a. Diese Quellen bilden die Grundlage eingehender Studien von Jerzy Holzer und Ludwik Hass für die Einschätzung der politischen Haltung der Arbeiter und den Grad der Organisiertheit.44 Die politische Kultur ist offensichtlich nur ein Teilbereich der Kultur der Arbeiterklasse. Dieses Problem erweckt immer mehr Aufmerksamkeit und bildet gleichzeitig den Gegenstand lebhafter Diskussionen bei denjenigen Historikern, die sich mit der Geschichte der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung beschäftigen, aber auch bei Soziologen oder Ethnographen.45 Allgemein wird diese Problematik sehr breit aufgefaßt, also mit Einschluß der Kultur des täglichen Lebens, der Gestaltung des Lebens der Arbeiterfamilie, der Kultur der Arbeit, der Unterhaltung usw.46 Auch hier hat es der Historiker mit Massenerscheinungen und Prozessen zu tun, deren Erforschung nicht nur die Erschließung neuer Quellenkategorien erfordert (u. a. auch nicht schriftlich überlieferte Quellen), sondern auch Überlegungen, um neue Methoden in bezug auf die Auswertung bereits bekannter Quellen anzuwenden, die bisher nicht für die Einschätzung von Massenverhaltensweisen genutzt wurden. (übersetzt von Dr. Bruno Buchta, Potsdam) 44
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Holzer, Polska Partia Socjalistyczna w latach 1917-1919; Hass,L., Uklad Sil i zasi^g oddzialywania ruchu zawodowego wäröd klasy robotniczej w latach drugiej Rzeczypospolitej (Das Kräfteverhältnis und die Reichweite des Einflusses der Gewerkschaftsbewegung innerhalb der Arbeiterklasse in den Jahren der II. Republik), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 5, S. 139-222; ders., Postawy polityczne klasy robotniczej mi^dzywojennej Warszawy w äwietle wyniköw wyborczych (Die politische Haltung der Arbeiterklasse im Warschau der Zwischenkriegszeit im Lichte der Wahlergebnisse), ebenda, S. 279-317; ders., Wybory warszawskie 1918-1926 (Die Warschauer Wahlen 1918-1926), Warszawa 1972. Vgl. Dobrowolska, D., Z zagadniefi kultury robotniczej (Zu Fragen der Kultur der Arbeiterklasse), in: Studia socjologiczne, 7, 1967, 3; Karwacki, L. W., Badania nad kulturst robotniczg w Polsce (Forschungen zur Kultur der Arbeiterklasse in Polen), in: Dzieje Najnowsze, 6, 1974, 1, S. 45-65. Ligqza, T./Zywriska, M., Zarys kultury görniczej. Görny Sl^sk - Zagl^bie D4browskie (Grundriß der Kultur der Bergarbeiter in Oberschlesien und im Becken von Dqbrowa), Katowice 1964; Zarnowska, A., ZasiQg oSwiaty elementarnej wsröd klasy robotniczej Krölestwa Polskiego w drugiej polowie X I X wieku (Die Reichweite der Elementarbildung innerhalb der Arbeiterklasse des Königreichs Polen in der zweiten Hälfte des 19. Jh.), in: Z pola walki,1973, 2/3, S. 3-33; Krajewska, J., Z dziejöw oswiaty robotniczej. Biblioteki robotnicze w Krölestwie Polskim w latach 1870-1914 (Zur Geschichte der Arbeiterbildung. Arbeiterbibliotheken im Königreich Polen in den Jahren 1870-1914), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 5, S. 180-209;
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Anna Zarnowska
Karwacki, L. W., Kultura i obyczaje robotników (od przeîomu XVIII i XIX wieku do r. 1870) (Die Kultur und die Lebensgewohnheiten der Arbeiter von der Wende vom 18. zum 19. Jh. bis 1870), in: Polska Klasa Robotnicza, Grundriß, Bd. 1, T. 1, S. 705-831 ; ders., Piosenka w árodowisku robotniczym. Z dziejów _ kultury i obyczajów (Das Lied im Arbeitermilieu. Zur Geschichte der Kultur und der Lebensgewohnheiten), T. 1-2, in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 5, S. 98-179; Bd. 6, S. 84-118; ders., Teatr día robotników przed 1914 r. Przyczynek do dziejów awansu kulturalnego klasy robotniczej (Das Theater für die Arbeiter vor 1914. Beitrag zur Geschichte des kulturellen Fortschritt der Arbeiterklasse), ebenda, Bd. 7, S. 159-216; Z arnowska, A., La famille et le status familial des ouvriers et des domestique de la Royaume de Pologne au declin du XIX siècle, in: Acta Poloniae Histórica, 38, 1977, S. 113-144; Zarnowski, J., Kultura pracy klasy robotniczej w okresie miçdzywojennym (Die Arbeitskultur der Arbeiterklasse im Zeitraum zwischen beiden Weltkriegen), in: Polska Klasa Robotnicza, Bd. 8, Warszawa 1978.
Andrzej Skrzypek
Forschungen zur neusten Geschichte in Polen
Die polnischen Historiker verstehen unter dem Begriff der neuesten Geschichte die Geschichte der letzten reichlich 100 Jahre. Sie akzeptieren die Zäsur des Jahres 1871 für die allgemeine Geschichte und modifizieren sie etwas für die Verhältnisse ihrer Geschichte. Als solche Marksteine hinsichtlich der polnischen neuesten Geschichte werden der Januar-Aufstand (ausschließlich) im Gebiet des Königreichs Polen, der 1864 erlosch, und für Galizien gern die Verleihung der Autonomie 1867 betrachtet. In diesem Zeitraum veränderten sich wesentlich die Produktionsverhältnisse. Im russisch okkupierten Teil Polens wurde die Leibeigenschaft der Bauern abgeschafft und damit der Prozeß der Fronbauernarbeit auf polnischem Boden beendet. Damit begannen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu dominieren. Die neueste Geschichte Polens wird in fünf Zeitabschnitte unterteilt: 1. die Zeit nach dem Januar-Aufstand von 1864 bis 1914; 2. die Wiedererlangung der Staatlichkeit von 1914 bis 1921; 3. die II. Republik Polen, auch als Zwischenkriegszeit bezeichnet, von 1921 bis 1939; 4. Krieg, faschistische Okkupation und Widerstandskampf von 1939 bis 1945; 5. die Entwicklung Volkspolens seit 1944. In der Praxis sind die Zäsuren zwischen diesen Zeitabschnitten fließend, oft in Abhängigkeit davon, auf welches Ereignis besonderer Wert gelegt wird. So überlappt z. B. der Prozeß der Wiedererlangung bzw. des Wiederaufbaus der Staatlichkeit häufig die hier aufgezeigte Begrenzung. Die Forschungen zur Geschichte der neuesten Zeit werden in der Volksrepublik Polen auf drei organisatorischen Ebenen durchgeführt: in den Instituten der Polnischen Akademie der Wissenschaften; in wissenschaftlichen Instituten, die verschiedenen zentralen Institutionen unterstellt sind; an den Hochschulen. Ihre Ergebnisse erscheinen in zusammenfassenden Darstellungen, in Monographien bzw. als Publikationen in verschiedenen Zeitschriften.1 Die führende Rolle bei diesen Forschungen obliegt dem Institut für Geschichte bei der Polnischen Akademie der Wissenschaften, das gleichzeitig auch der Herausgeber der vielbändi1
Siehe den Artikel von J. Serczyk im vorliegenden Sammelband.
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gen „Geschichte Polens" ist.2 Unter den vom Akademieinstitut veröffentlichten historischen Zeitschriften beschäftigt sich die Viertelj ahreszeitschrift „Dzieje Najnowsze" (Neueste Geschichte) mit der Analyse solcher Ereignisse, die sich nach 1914 vollzogen haben. Es ist eine Tatsache, daß es sich bei der neuesten Geschichte um eine eminent politische Wissenschaft handelt, und demzufolge zeigen verständlicherweise die in Polen wirkenden politischen Parteien für diese Problematik ein großes Interesse. Die führende Kraft des Volkes, die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, verfügt über ein eigenes wissenschaftliches Forschungszentrum, die Hochschule für Gesellschaftswissenschaften, zu der das Institut der Polnischen und Internationalen Arbeiterbewegung gehört. Dieses Forschungszentrum gibt die Vierteljahresschrift „Z Polka Walki" (Vom Kampffeld) und das Periodikum „Archiwum Ruchu Robotniczego" (Archiv der Arbeiterbewegung) heraus. Analog dazu existiert bei der Vereinigten Bauernpartei das Institut für Geschichte der Bauernbewegung, Herausgeber der Zeitschrift „Roczniki Historii Ruchu Ludowego" (Jahrbücher zur Geschichte der Bauernbewegung). Die Geschichte der Jugendbewegung repräsentiert die Vierteljahreszeitschrift „Pokolenia" (Generationen). Die Forschungen zur neuesten Geschichte sind in der Volksrepublik Polen in bezug auf die Fragen der inneren Entwicklung relativ gut fortgeschritten. Sie werden von fast allen wissenschaftlichen Zentren durchgeführt, auch von Instituten, die sich zwar nicht direkt mit Geschichte befassen (sondern z. B. mit Fragen des Genossenschaftswesens und der Landwirtschaft), ihre Probleme jedoch häufig unter historischen Gesichtspunkten betrachten. Eine besondere Gruppe bilden diejenigen Einrichtungen, in denen die Geschichtsproblematik nur am Rande, jedoch in einer spezialisierten Richtung betrieben wird: Forschungen zur Geschichte der Literatur und Presse im Institut für Literarische Forschung, zur Geschichte der Wissenschaft und Bildung im Institut für Geschichte der Wissenschaft, Technik und Bildung, zur Geschichte des Rechts im Institut für Rechtswissenschaften u. a.3 Zur nächsten Gruppe gehören die Regionalinstitute wie das Institut für die Ostseegebiete, das Schlesische Institut u. a. Besonders bemerkenswert sind die Forschungen zur Geschichte des Militärwesens und des zweiten Weltkrieges, durchgeführt vom Institut für Militärgeschichte, dessen Ergebnisse in seiner Quartalszeitschrift „Wojskowy Przeglqd Historyczny" (Historische Militärrundschau) publiziert werden. Die Kommission zur Erforschung der faschistischen Verbrechen in Polen ist dagegen kein historisches Forschungszentrum, aber in bezug auf das durch sie gesammelte Dokumentenmaterial politisch besonders wichtig. In Warschau wirkt auch das Jüdische Historische Institut, das ein eigenes Bulletin herausgibt, in dessen Spalten das Martyrium der jüdischen Bevölkerung während des zweiten Weltkrieges einen breiten Raum einnimmt. Schließlich müssen die Forschungseinrichtungen erwähnt werden, die sich mit Fragen der 2
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Historia Polski (Geschichte Polens), Bd. 3/1, Warszawa 1963; Bd. 3/2, Warszawa 1972; Bd. 3/3, Warszawa 1974; Bd. 4/1, Warszawa 1969. Nähere Angaben dazu siehe im jährlich erscheinenden Informator Nauki Polskiej (Wissenschafliches Informationsblatt), Warszawa.
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internationalen Beziehungen befassen, wie das Polnische Institut für Internationale Angelegenheiten (Herausgeber der Monatszeitschrift „Sprawy Mi^dzynarodowe" [Internationale Angelegenheiten]), das Westliche Institut (Herausgeber der Zweimonatszeitschrift „Przegl^d Zachodni" [West-Rundschau]) sowie das Institut für Sozialistische Länder bei der Polnischen Akademie der Wissenschaften mit seiner periodischen Zeitschrift „Z dziejów stosunków polsko-radzieckich" (Zur Geschichte der polnisch-sowjetischen Beziehungen). Nun sollen die Forschungsschwerpunkte und die Wissenschaftler genannt werden. Diese Übersicht kann bei weitem nicht vollständig sein, denn etwa 400 Wissenschaftler erforschen die Geschichte der neuesten Zeit.4 Von ihnen befassen sich jedoch einige mit Themen, die einen bedeutenden Verallgemeinerungsgrad in bezug auf die Geschichte des Volkes und des Staates aufweisen. Über den Zeitraum der nationalen Unterdrückung arbeiten H. Wereszycki und S. Kieniewicz5, über die Jahre des ersten Weltkrieges L. Grosfeld, J . Holzer und J . Molenda6, über die Phase des Beginns der II. Republik H. JabloAski und A. Ajnenkiel7, über die Okkupationszeit C. Madajczyk8 und über die Epoche der Volksrepublik Polen schließlich W. Gòra und A. Burda9. Ihre Publikationen behandeln primär politische und sozialpolitische Probleme und sind somit typisch für die Historiographie des uns hier interessierenden Zeitraums10, dabei dominiert das Interesse für Probleme der Arbeiterbewegung. In weit geringerem Maße beschäftigen sich die Autoren mit der Bauernbewegung, und die politische Rolle der besitzenden Klassen wird von ihnen mehr als Randerscheinung betrachtet. Die Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung hat eine mehr als hundert4
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Eine umfassende Information dazu findet der Leser in der periodisch erscheinenden Bibliografia historii polsleiej za rok ... (Bibliographie zur Geschichte Polens für das Jahr . . . ), Sie erscheint seit 1945. Wereszycki, H., Historia polityczna Polski 1864-1918 (Politische Geschichte Polens 1864-1918), Kraków 1948; Kieniewicz, J., Historia Polski 1795-1918 (Geschichte Polens 1795-1918), Warszawa 1968. Grosfeld, L., Polityka paftstw centralnych wobee sprawy polskiej w latadi 1914 do 1918 (Die Politik dee Mittelmächte zur polnischen Frage in den Jahren 1914-1918), Warszawa 1962; Holzer, J./Molenda, J., Polska w pierwszej wojnie swiatowej (Polen während des ersten Weltkrieges), Warszawa 1973. Jablonski, H., Narodziny II Rzeczypospolitej (Die Geburt der I. Republik), Warszawa 1962; Ajnenkiel, A., Od rzgdów ludowych do przewrotu majowego (Von den Volksregierungen bis zum Mai-Umsturz), Warszawa 1977. Madajczyk, C., Polityka III Rzeszy w okupowanej Polsce (Die Politik des Dritten Reiches im okkupierten Polen), Warszawa 1970; Przygonski, A., Polska w walce z okupantem hitlerowskim 1939-1945 (Polen im Kampf gegen die faschistischen Okkupanten 1939-1945), Warszawa 1971. Burda, A., Rozwój ustroju politycznego Polski Ludowej (Die Entwicklung des politischen Aufbaus der Volskrepublik Polen), Warszawa 1967; Kolomejczyk,N./Syzdek, B., Polska wlatach 1944-1949 (Polen in den Jahren 1944-1949), Warszawa 1971; Gòra, W., Polska Rzeczpospolita Ludowa 1944-1974 (Volkspolen 1944-1974), Warszawa 1974. Eine Reihe von Artikeln zur Veranschaulichung der Geschichte Polens findet der Leser in der sowjetischen Geschichtszeitschrift Voprosy Istorii, 1977, Nr. 12.
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jährige Tradition. Obwohl sie mehrere politische Richtungen einschließt, konzentrierten sich die Forscher fast ausschließlich nur auf diejenige, die am konsequentesten mit der Ideologie des Klassenkampfes verbunden war. In den 80er Jahren des 19. Jh. entstanden in den okkupierten polnischen Gebieten verschiedene sozialistische Parteien, die durch die Repressionen der herrschenden Klassen schnell liquidiert wurden. Erst der in den 90er Jahren gegründeten Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna - PPS) und der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (Socjaldemokracja Krölestwa Polskiego i Litwy - SDKPiL) war eine längere Wirkungsperiode vergönnt. Die SDKPiL arbeitete seit der Revolution von 1905 bis 1907 mit der bolschewistischen SDAPR eng zusammen und übernahm die Ideologie des revolutionären Marxismus. In der PPS gab es dagegen innere Widersprüche, und sie spaltete sich in die Gruppe der Linken (PPS-Lewica) und in die sogenannte Revolutionäre Fraktion. 1918, zur Zeit der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Polens, vereinigten sich die SDKPiL und die PPS-Linken zur Kommunistischen Arbeiterpartei Polens (seit 1925 KPP) und bildeten eine Sektion der III., Kommunistischen Internationale. Die PPS-Revolutionäre Fraktion vereinigte sich mit der PPS Galiziens und nahm danach die Bezeichnung PPS an. Die KPP wurde 1938 durch einen auf falschen Informationen beruhenden Beschluß des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale aufgelöst. Zur Erbin ihrer revolutionären Traditionen entwickelte sich die in den Jahren der Okkupation gegründete Polnische Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza - PPR). Im Dezember 1948 erfolgte die Vereinigung der polnischen Arbeiterbewegung durch den Zusammenschluß der PPR und PPS zur Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza - PZPR). Die hier sehr kurz skizzierte Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung wurde bisher in zwei zusammenfassenden Darstellungen publiziert.11 Unter den zahlreichen Monographien zu dieser Thematik verdienen besondere Erwähnung die Arbeiten von L. Baumgarten und J. Buszko zu den Anfängen der sozialistischen Bewegung in den polnischen Gebieten12, die von H. Jablonski, A. Zarnowska, A. Tymieniecka und J. Zamowski zur Geschichte der PPS13, die von F. Swietli11
Historia polskiego ruchu robotniczego 1864-1964 (Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung 1864-1964), Bd. 1-2, Warszawa 1967; Pölski ruch robotniczy. Zarys historii (Die polnische Arbeiterbewegung. Grundriß der Geschichte), Warszawa 1974. 12 Baumgarten, L., Dzieje Wielkiego Proletariatu (Zur Geschichte des großen Proletariats), Warszawa 1966; Buszko, J., Narodziny ruchu socjalistycznego na ziemiach polskich (Die Geburt der sozialistischen Bewegung in den polnischen Gebieten), Kraköw 1967; Danilczuk, B., Ruch robotniczy w Wielkopolsce 1871-1914 (Die Arbeiterbewegung in Großpolen 1871-1914), Torun 1961; Tych, F., Zwiqzek Robotniköw Polskich 1889-1892 (Der Polnische Arbeiterverband 1889-1892), Warszawa 1974; Zychowski, M., Polska myäl socjalistyczna XIX i X X wieku (Die polnischen sozialistischen Ideen im 19. und 20. Jh.), Warszawa 1976. ® Jablonski, H., Polityka PPS w czasie wojny 1914-1918 (Die Politik der PPS während des Krieges 1914-1918), Warszawa 1958; Zarnowska, A., Geneza rozlamu w PPS 1904-1906 (Die Entwicklung der Spaltung in der PPS 1904-1906), Warszawa 1965;
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kowa und J. Kowalski zur Geschichte der KPP 14 , die von M. Malinowski zur Geschichte der PPR 15 sowie die von B. Syzdek und T. Sierocki zur Geschichte der Nachkriegs-PPS 16 . Als dazugehörend können noch eine Reihe weiterer Publikationen genannt werden, die regionalgeschichtliche Ereignisse behandeln. 17 Alle Forschungen zur Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung reichen grundsätzlich bis zum Jahre 1948, d. h. bis zur Vereinigung der Arbeiterbewegung; darüber hinaus gehende Untersuchungen gehören noch zu den Ausnahmefällen. Auch innerhalb der Bauerinbewegung bildeten sich Parteien heraus, deren Vereinigungsprozeß in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts begann und in der Epoche Volkspolens endete, als es mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats zum Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft kam. Dieser Prozeß spiegelt sich in zahlreichen monographischen Arbeiten wider. 18 Über das politische Wirken der ehemaligen Ausbeuterklassen gibt es nur wenige Monographien. 19 Daher muß diese Thematik noch weiter erforscht werden, wie
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hadyka, T., Polska Partia Socjalistyczna (Frakcja Rewolucyjna) w latach 1906-1914 (Die Polnische Sozialistische Partei [Revolutionäre Fraktion] in den Jahren 1906 bis 1914), Warszawa 1972; Tymieniecka, A., Polityka PPS w latach 1924-1928 (Die Politik der PPS in den Jahren 1924^-1928), Warszawa 1969; Zarnowski, J., PPS w latach 1935-1939 (Die PPS in den Jahren 1935-1939), Warszawa 1965. Swietlikowa, F., Komunistyczna Partia Robotnicza Polski 1918-1923 (Die Kommunistische Arbeiterpartei Polens 1918-1923), Warszawa 1968; Kowalski, J., Trudne lata (Schwere Jahre), Warszawa 1966; ders., Komunistyczna Partia Polski 1935-1938 (Die Kommunistische Partei Polens 193S-1938), Warszawa 1975; Kalicka, F., Z zagadnien jednolitego frontu KPP i PPS w latach 1933/34 (Zur Frage der Einheitsfront zwischen KPP und PPS in den Jahren 1933/34), Warszawa 1967. Kolomejczyk,N., PPR 1944-1945 (Die PPR 1944-1945), Warszawa 1965; Malinowski, M., Geneza Polskiej Partii Robotniczej (Die Entwicklung der Polnischen Arbeiterpartei), Warszawa 1972. Syzdek, B., Polska Partia Socjalistyczna 1944-1948 (Die Polnische Sozialistische Partei 1944-1948), Warszawa 1974; Sierocki, T., Warszawska organizacja PPS 1944-1948 (Die Warschauer Organisation der PPS 1944-1948), Warszawa 1976. Kozik, Z., Stronnictwa i partie polityczne w krakowskiem (Vereinigungen und politische Parteien im Gebiet von Kraköw), Kraköw 1975. Garlicki,A., Powstanie PSL Piast (Die Entstehung der Polnischen Bauernpartei Piast), Warszawa 1966; Molenda,J., Polskie Stronnictwo Ludowe w Krölestwie Polskim 1915-1918 (Die Polnische Bauernpartei im Königreich Polen 1915-1918), Warszawa 1964; Lato,J., Ruch ludowy a Centrolew (Die Bauernbewegung und der Zentrale Linksblock), Warszawa 1965; Szaflik,J.R., Polskie Stronnictwo Ludowe „Piast" 1928-1932 (Die Polnische Bauernpartei „Piast" 1928-1932), Warszawa 1970. Jqdruszczak, T., Pilsudczycy bez Pilsudskiego (Die Anhänger Pilsudskis ohne Pilsudski), Warszawa 1963; Orzechowski, M., Narodowa Demokracja na Görnym Sl^sku (Die Nationale Demokratie in Oberschlesien), Wroclaw 1965; Wapinski,R., Endecja na Pomorzu 1920-1939 (Die Endecja in Pommern 1920-1939), Gdansk 1966; Krzywoblocka, B., Chadecja (Die Chadecja), Warszawa 1974; Wladyka, W., Dzialalnosc polityczna polskich stronnictw konserwatywnych w latach 1926-1935 (Die politische Tätigkeit der polnischen konservativen Parteien in den Jahren 1926 bis 1935), Wroclaw 1977; Myslek, W., Kosciöl katolicki w Polsce w latach 1918-1939 (Die katholische Kirche in Polen in den Jahren 1918-1939), Warszawa 1966.
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das beispielsweise die allgemeinen Übersichten von A. Micewski und J. Holzer zur Tätigkeit von Parteien und anderen Organisationen der herrschenden Klassen jener Zeit aufzeigten.20 Fehlende Monographien auf diesem Gebiet werden in gewisser Weise durch die in letzter Zeit zahlreicher erscheinende biographische Literatur kompensiert, z. B. zur Rolle von Wojciech Korfanty, Roman Dmowski, Wincenty Witos und Norbert Barlicki.21 Die politische Geschichte während der Okkupationszeit kann ebenfalls auf eine Reihe von Publikationen verweisen, die die politischen Ideen und Konzeptionen des polnischen Volkes darlegen. Dazu gehören die Arbeiten von E. DuraczyAski und W. T. Kowalski22 sowie die Monographie von A. Skarzynski über den Warschauer Aufstand. 23 Besondere Erwähnung verdienen die Forschungen zu den Septemberkämpfen von 193924 sowie die zahlreichen Studien über die Teilnahme polnischer Bürger am bewaffneten Kampf gegen die deutschen Faschisten, in denen die Tätigkeit verschiedener konspirativer und Partisanenorganisationen aufgezeigt wird, die unter dem Einfluß unterschiedlicher politischer Kräfte standen.26 Die Gründung des Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung am 21. Juli 1944 eröffnete ein neues Kapitel in der Geschichte des polnischen Volkes.26 Die Übernahme der Staatsmacht durch das linke Lager wurde dank der Befreiung der polnischen Territorien durch die Rote Armee möglich.27 Die revolutionärdemokratischen Kräfte haben diese historische Chance voll genutzt. Seit der Bildung des Befreiungskomitees begann in Polen die sozialistische Revolution, 20
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Micewski, A., Z geografli politycznej II Rzeczpospolitej (Aus der politischen Geographie der II. Republik), Kraköw 1964; ders., W cieniu marszalka Pilsudskiego (Im Schatten des Marschalls Pilsudski), Warszawa 1968; Holzer, J., Mozaika polityczna II Rzeczpospolitej (Das politische Mosaik der II. Republik), Warszawa 1974. Tomicki, J., Norbert Barlicki 1880-1941, Warszawa 1968; Orzechowski, M., Wojciech Korfanty, Wroclaw 1975; Zakrzewski, A., Wincenty Witos, chiopski polityk i mqz stanu (Wincenty Witos, Bauernpolitiker und Staatsmann), Warszawa 1977. Kowalski, W. T., Walka dyplomatyczna o miejsce Polski w Europie (Der diplomatische Kampf um einen Platz Polens in Europa), Warszawa 1967; Duraczynski, E., Wojna i okupacja (Krieg und Okkupation), Warszawa 1974. Skarzynski, A., Polityczne przyczyny powstania warszawskiego (Die politischen Ursachen des Warschauer Aufstandes), Warszawa 1964. Porwit, M., Komentarze do historii polskich dzialan obronnych 1939 roku (Kommentare zur Geschichte der polnischen Verteidigungsaktionen im Jahre 1939), Warszawa 1969; Iwanowski, W., Wojna obronna Polski (Der Verteidigungskrieg Polens), Warszawa 1964. BiegaAski, T./Juchniewicz, M./Okqcki, S. u. a., Polacy w ruchu oporu narodöw Europy 1939-1945 (Polen in der Widerstandsbewegung der Völker Europas 1939-1945), Warszawa 1977. Jablonski, H., Geneza Polskiej Rzeczpospolitej Ludowej (Die Entwicklung der Volksrepublik Polen), in: Kultura i Spoleczenstwo, 1974, Nr. 4; Ryszka, F., PPR a koncepcje panstwa polskiego (Die PPR und die Konzeption des polnischen Staates), in: Dzieje Najnowsze, 1972, Nr. 3. Dolata, B., Wyzwolenie Polski 1944/45 (Die Befreiung Polens 1944/45), Warszawa 1966; Stupor, Z., Bitwa o Berlin (Der Kampf um Berlin), Warszawa 1973.
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wenngleich ihre Entwicklung anfangs nur langsam vor sich ging. Die Revolutionäre strebten die Errichtung des Systems der Volksdemokratie an, das mit der Diktatur des Proletariats, die wiederum den schrittweisen Übergang zum Sozialismus ermöglichte, Wirklichkeit wurde. Die Forschungen zur Geschichte Volkspolens befinden sich noch im Anfangsstadium, während Soziologen, Ökonomen und Juristen auf diesem Gebiet bereits mit Arbeiten aufwarten können. 28 Dennoch dürfen die diesbezüglichen Forschungsergebnisse der Historiker nicht gering eingeschätzt werden. So erwarb sich große Verdienste das von S. Kalabinski geleitete Kollektiv, das periodisch Studien zur Geschichte der polnischen Arbeiterklasse herausgibt. 29 Imponierend sind auch die Forschungen zur Entwicklung der Industrie in den polnischen Gebieten im 19. Jh. Es erschienen bisher zahlreiche Studien von N. GqsiorowskaGrabowska, von I. Ketrzak-Pawlowska und deren Schülern. 30 Die Thematik der Zwischenkriegiszeit behandeln die Schriften von Z. Landau und J. Tomaszewski, die oft gemeinsam publizieren. 31 Ein strukturelles Bild der Gesellschaft Polens im gleichen Zeitraum gibt die Arbeit von J. Zarnowski 32 , und über Fragen des Parlamentarismus und der Staatsverwaltung informieren die Studien von A. Ajnenkiel und A. Luczak. 33 Auf breiter Ebene erfolgen die Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte Volks28
Sadkowski, M., System partyjny PRL (Das Parteiensystem der Volksrepublik Polen), Warszawa 1974; Wesolowski,W.fWiatr,J., Ksztaltowanie si§ instytucji politycznych Polski Ludowej (Die Gestaltung der politischen Institutionen der Volksrepublik Polen), in: Studia Söcjologiczne, 1965, Nr. 3. 29 Polska Klasa Robotnicza (Die Polnische Arbeiterklasse), historische Studien unter der Red. von S. Kalabinski, Bd. 1-7, Warszawa 1974-1979. 30 Gqsiorowska-Grabowska, N., Z dziejöw przemyslu w Krölestwie Polskim 1815-1918 (Zur Geschichte der Industrie im Königreich Polen 1815-1918), Warszawa 1965; Pietrzak-Pawlowska, I., Krolestwo Polskie w poczqtkach imperializmu 1900-1905 (Das Königreich Polen zu Beginn des Imperialismus 1900-1905), Warszawa 1955; Groniowski, K., Kwestia agrarna w Krölestwie Polskim 1871-1914 (Die Agrarfrage im Königreich Polen 1871-1914), Warszawa 1966; Pustula, Z., Poczqtki kapitalu monopolistycznego w przemySle hutniczo-metalowym Krölestwa Polskiego (Die Anfänge des Monopolkapitals in der Eisenhütten- und Metallindustrie des Königreichs Polen,) Warszawa 1968; Choma6,R., Struktura agrarna Krölestwa Polskiego na przelomie XIX i XX wieku (Die Agrarstruktur im Königreich Polen an der Wende vom 19. zum 20. Jh.), Warszawa 1970. 31 Kostrowicka, I./Landau, Z./Tomaszewski, J., Historia gospodarcza Polski XIX i XX wieku (Die Wirtschaftsgeschichte Polens im 19. und 20. Jh.), Warszawa 1966; Drozdowski, M. M., Polityka gospodarcza rzqdu polskiego 1936-1939 (Die Wirtschaftspolitik der polnischen Regierung 1936-1939), Warszawa 1963. 32 Zarnowski, J., Spoleczenstwo II Rzeczpospolitej (Die Gesellschaft der II. Republik), Warszawa 1973. :i:l Luczak, A., Samorzqd terytorialny w programach i dziaialnosci stronnictw ludowych 1918-1939 (Die territoriale Selbstverwaltung in den Programmen und in der Tätigkeit der Bauernparteien 1918-1930), Warszawa 1973; Ajnenkiel, A., Parlamentaryzm II Rzeczpospolitej (Der Parlamentarismus in der II. Republik), Warszawa 1975.
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polens, vor allem deshalb, weil der wirtschaftliche Wiederaufbau sich mit dem Prozeß der Umwälzung der Gesellschaftsstruktur verflocht, der im Ergebnis sozialökonomische Veränderungen brachte: Bodenreform und Nationalisierung der Industrie. Das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung erließ bald nach seiner Machtergreifung am 6. September 1944 das Dekret über die Bodenreform. Damit wurde das Programm der revolutionären Kräfte über die Enteignung des Großgrundbesitzes ohne Entschädigung und über die Aufteilung des Bodens an die Kleinbauern und Landarbeiter verwirklicht. Das veränderte grundlegend die Agrarstruktur des Landes: Die Klasse der Großgrundbesitzer wurde liquidiert und der in Polen bestehende „Landhunger" gemindert. Unter den Historikern, die sich dieser Problematik zuwandten, muß man besonders auf H. Slabek, J. Gol^biowski, H. J^druszczak und B. Brzezinski verweisen.34 Außerdem gibt es einige Arbeiten, in denen der Versuch unternommen wird, die genannten Probleme zusammenfassend darzustellen.® Relativ gering wurden die mit der Kulturgeschichte verbundenen Fragen bearbeitet. Beachtlich sind jedoch die Studien zur Geschichte der Presse, deren Ergebnisse in den Spalten des „Rocznik Historii Czasopismiennictwa Polskiego" (Jahrbuch für Geschichte des Zeitschriftenwesens Polens) veröffentlicht werden. Diese Thematik wurde zeitlich bis 1918 bereits zusammenfassend dargestellt. Autoren von Monographien über die Journalistik der folgenden Jahre sind A. Paczkowski, E. Rudzinski und B. Golka.36 Einen wichtigen Platz in der Historiographie der neuesten Zeit nehmen die beziehungsgeschichtlichen Forschungen ein, was sich aus der integralen Verbindung polnischer Gebiete mit der Geschichte seiner Okkupationsmächte vor 1918 und auch aus der starken Abhängigkeit Polens hinsichtlich seiner internationalen Beziehungen ergibt. Bezüglich der polnisch-deutschen Beziehungen analysieren die Historiker besonders die deutsche Regierungspolitik in der polnischen Frage im letzten Viertel des 19. Jh.37 und während des ersten Weltkrieges.38 Zahlreiche 34
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Jqdruszczak, H., Zatrudnienie i przemiany spoleczne w Polsce 1944-1960 (Die Beschäftigung und die gesellschaftlichen Veränderungen in Polen 1944-1960), Warszawa 1972; Golqbiowski, J., Walka PPR o nacjonalizacj? przemyslu (Der Kampf der PPR um die Nationalisierung der Industrie), Warszawa 1961; Brzezinski, B., Klasa robotnicza Warszawy 1944-1948 (Die Arbeiterklasse Warschaus 1944^1948), Warszawa 1974; Slabek, H., Dzieje polskiej reformy rolnej 1944-1948 (Zur Geschichte der polnischen Bodenreform 1944-1948), Warszawa 1972. Karpinski, A., Zarys rozwoju gospodarczego Polski Ludowej (Grundriß der Virtschaftlichen Entwicklung der Volksrepublik Polen), Warszawa 1968; Jezierski, A., Historia gospodarcza Polski Ludowej 1944-1968 (Die Wirtschaftsgeschichte Volkspolens 1944-1968), Warszawa 1971; Secomski,K., Polityka gospodarcza Polski Ludowej 1944-1955 (Die Wirtschaftspolitik Volkspolen 1944-1955), Warszawa 1976. Paczkowski, A., Prasa Drugiej Rzeczpospolitej 1918-1939 (Die Presse der Zweiten Republik 1918-1939), Warszawa 1971; Rudzinski, E., Informacyjne agencje prasowe w Polsce 1926-1939 (Informationelle Presseagenturen in Polen 1926-1939), Warszawa 1970; Golka, B., Prasa konspiracyjna ruchu ludowego 1939-1945 (Die konspirative Presse der Bauernbewegung 1939-1945), Warszawa 1975. Wojciechowski, Z., Polska - Niemcy (Polen - Deutschland), Krakow 1945. Pajewski, J., Mitteleuropa, Poznan 1959.
Forschungen zur neuesten Geschichte
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Historiker untersuchen Probleme der polnisch-russischen Beziehungen. Das erklärt sich hauptsächlich aus den Bindungen zwischen der polnischen und der russischen Arbeiterbewegung und vor allem aus der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, wodurch Polen die staatliche Unabhängigkeit erlangte. 39 Besondere Aufmerksamkeit verdienen hier die Studien von W. Toporowicz, I. Spustek, H. Jabîonski und W. Najdus 40 sowie auch zwei enzyklopädische Publikationen. 41 Die Fakten der polnisch-sowjetischen Beziehungen bereichert die vielbändige Dokumentenpublikation, die bis zum Jahre 1955 heranführt. 42 Fragen der internationalen Politik wurden in zwei anderen Sammelbänden beleuchtet. Der eine Band enthält Dokumente zur polnischen Frage auf der Versailler Friedenskonferenz, der zweite Materialien zur Rolle des weltberühmten Pianisten und zugleich Politikers - 1919 war er Ministerpräsident - Ignacy Paderewski. 43 Es liegen sehr viele Arbeiten über die internationalen Beziehungen Polens vor. Zur Entwicklung der polnisch-deutschen Beziehungen schrieben S. Kubiak, J. Krasuski, M. Wojciechowski, M. Puiaski und J. Kozenski 44 , zu den Beziehun39
Bibliographische Angaben und Grundriß der Problematik siehe Skrzypek,A., Rewolucja Pazdziernikowa a odzyskanie niepodlegloéci Polski (Die Oktoberrevolution und die Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens), in: Kwartalnik Historyczny, 1977, Nr. 4. 40 Toporowicz, W., Sprawa polska w polityce rosyjskiej 1914-1917 (Die polnische Frage in der russischen Politik 1914-1917), Warszawa 1973; Spustek,I., Polacy w Piotrogradzie 1914-1917 (Die Rolle der Polen in Petrograd 1914-1917), Warszawa 1966; Jabloûski, H., Rewolucja Pazdziernikowa a sprawa niepodleglosci Polski (Die Oktoberrevolution und die Frage der Unabhängigkeit Polens), Warszawa 1967; Najdus, W., Polacy w rewolucji 1917 roku (Die Polen in der Revolution von 1917), Warszawa 1967; ders., Lewica polska w K r a j u Rad 1918-1920 (Die polnische Linke im Land der Räte 1918-1920), Warszawa 1971. 41 Ksiçga Polakôw - uczestniköw Rewolucji Pazdziernikowej 1917-1920 (Gedenkbuch der Polen, die Teilnehmer der Oktoberrevolution von 1917 bis 1920 waren), Warszawa 1967; Encyklopedia Rewolucji Pazdziernikowej (Enzyklopädie der Oktoberrevolution), Red. L. Bazylow und J. Sobczak, Warszawa 1977. 42 Dokumenty i materialy do historii stosunkôw polsko-radzieckich (Dokumente und Materialien zur Geschichte der polnisch-sowjetischen Beziehungen), Bd. 1-10, Warszawa 1959-1978. 43 Sprawy polskie na konferencji pokojowej w Paryzu w 1919 r (Die polnische Frage auf der Pariser Friedenskonferenz im Jahre 1919), Dokumente und Materialien, Bd. 1-3, Warszawa 1965-1968; Archiwum polityczne Ignacego Paderewskiego (Politisches Archiv von Ignac Paderewski), Bd. 1-4, Warszawa 1974; Zrôdla do dziejôw powstan slqskich (Quellen zur Geschichte der Aufstände in Ober Schlesien), Bd. 1-3, Wrocîaw 1968-1974. 44 Kubiak, S., Niemcy a Wielkopolska 1918/19 (Deutschland und Großpolen 1918/19), Poznan 1969; Krasuski, J., Stosunki polsko-niemieckie 1919-1925 (Die polnisch-deutschen Beziehungen 1919-1925), Poznan 1962; ders., Stosunki polsko-niemieckie 1926-1932 (Die polnisch-deutschen Beziehungen 1926-1932), Poznaü 1964; Wojciechowski, M., Stosunki polsko-niemieckie 1933-1938 (Die polnisch-deutschen Beziehungen 1933-1938), Poznan 1967; Puiaski, M., Stosunki dyplomatyczne polskoczechoslowacko-niemieckie 1933-1938 (Die diplomatischen Beziehungen zwischen
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Andrzej
Skrzypek
gen zwischen Polen und den baltischen Republiken P. Lossowski, L. Kiewisz und A. Skrzypek 45 , zu den polnisch-sowjetischen Beziehlingen W. Gostynska, J. Kumaniecki und M. Leczyk 46 , zu den polnisch-französischen J. Kukulka, J. Cialowicz und K. Mazurowa 47 und zu den polnisch-ukrainischen schließlich A. Deruga, R. Törzecki und J. Radziejowski 48 . Außerdem gibt es Monographien über die Beziehungen Polens zu Italien, dem Vatikan, zu Jugoslawien, Ungarn und Großbritannien. 49 Zur Außenpolitik Volkspolens liegen Publikationen von W. T. Kowalski und E. Gajda vor. 50 Wichtig sind auch die Studien A. Klafkowskis über die Bedeutung des Potsdamer Abkommens für Polen 61 sowie zahlreiche Arbeiten über Zustandekommen und Bedeutung der neuen Westgrenzen der Volksrepublik. 52
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Polen, der Tschechoslowakei und Deutschland 1933-1938), Poznan 1967; Kozenski, J., Czechoslowacja w polskiej polityce zagranicznej 1932-1938 (Die Tschechoslowakei in der polnischen Außenpolitik 1932-1938), Poznan 1964. Lossowski, P., Stosunki polsko-litewskie w latach 1918-1920 (Die polnisch-litauischen Beziehungen in den Jahren 1918-1920), Warszawa 1966; Kiewisz, L., Sprawy lotewskie w baltyckiej polityce Niemiec 1914-1919 (Die lettische Frage in der deutschen Politik zu den Baltenrepubliken 1914-1919), PoznaA 1970; Skrzypek, A., Zwiqzek Baltycki 1919-1925 (Der Baltenbund 1919-1925), Warszawa 1972. Gostynska, W., Stosunki polsko-radzieckie 1918/19 (Die polnisch-sowjetischen Beziehungen 1918/19), Warszawa 1972; Kumaniecki, J., Po traktacie ryskim (Nach dem Friedensvertrag von Riga), Warszawa 1971; Leczyk, M., Polityka II Rzeczpospolitej wobec ZSRR w latach 1925-1934 (Die Politik der II. Republik gegenüber der UdSSR in den Jahren 1925-1934), Warszawa 1976. Kukulka, J., Francja a Polska 1919-1922 (Frankreich und Polen 1919-1922), Warszawa 1970; Cialowicz, J., Polsko-francuski sojusz wojskowy 1921-1938 (Das polnisch- französische Militärbündnis 1921-1938), Warszawa 1971; Mazurowa. K., Europejska polityka Francji w latach 1938/39 (Die Europapolitik Frankreichs in den Jahren 1938/39), Warszawa 1974. Deruga, A., Polityka wschodnia Polski wobec ziem Litwy, Bialorusi i Ukrainy w latach 1918/19 (Die Ostpolitik Polens gegenüber Litauen, Belorußland und der Ukraine in den Jahren 1918/19), Warszawa 1969; Törzecki, R., Kwestia ukrainska w polityce III Rzeszy (Die ukrainische Frage in der Politik des Dritten Reiches), Warszawa 1972; Radziejowski, J., Komunistyczna Partia Zachodniej Ukrainy (Die Kommunistische Partei der Westukraine), Kraköw 1976. Sierpowski, S., Stosunki polsko-wloskie w latach 1918-1940 (Die polnisch "italienischen Beziehungen in den Jahren 1918-1940), Warszawa 1975; Wislocki,J., Konkordat Polski z 1925 roku (Das Konkordat Polens aus dem Jahre 1925), Poznan 1977 ; Nowak-Kielbikowa, M., Polska - Wielka Brytania 1918-1923 (Polen und Großbritannien 1918-1923), Warszawa 1975; Batowski, H., Europa zmierza ku przepaSci (Europa bewegt sich zum Abgrund), Poznaö 1977. Kowalski, W. T., Polityka zagraniczna RP 1944-1947 (Die Außenpolitik Volkspolens 1944-1947), Warszawa 1971; Gajda, E., Polska polityka zagraniczna 1944-1971 (Die polnische Außenpolitik 1944-1971), Warszawa 1972. Klafkowski, A., Umowa poczdamska z dnia 2 VIII 1945 (Das Potsdamer Abkommen vom 2. 8.1945), Warszawa 1960; ders., Granica polsko-niemiecka po II wojnie Swiatowej (Die polnisch-deutsche Grenze nach dem 2. Weltkrieg), Poznan 1970. Skubiszewski, K., Zachodnia granica Polski (Die Westgrenze Polens), Gdansk 1969;
Forschungen zur neuesten Geschichte
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Verschiedentlich wird die Darstellung der internationalen Beziehlingen Polens mit den in letzter Zeit besonders intensiven Forschungen zur Rolle derjenigen Polen verknüpft, die ständig im Ausland leben. Diese Fragen werden sowohl in einzelnen Monographien als auch in speziellen Periodika untersucht.53 Zur Charakterisierung der Forschungen zur neuesten Geschichte Polens gehört auch eine bedeutende Anzahl von Erinnerungen, Berichten und Denkschriften, die in verschiedenen Zeitschriften bzw. in Buchform publiziert werden.54 Eine besondere Gesellschaft, die seit 1971 eine Vierteljahreszeitschrift unter dem Titel „Pami^tnikarstwo Polskie" (Polnische Erinnerungen und Denkschriften) herausgibt, widmet sich dieser Thematik. Vorliegende Studie konnte verständlicherweise nur einige Themenkomplexe behandeln. Ungenannt blieben z. B. die polnischen Forschungen zur allgemeinen bzw. zur Regionalgeschichte. Auch die Anzahl der von mir genannten Titel und Autoren ist unvollständig. Eine erschöpfende Darstellung wäre jedoch auch meines Erachtens in einem wesentlich umfangreicheren Artikel nicht möglich. Diese Übersicht hat somit lediglich die Aufgabe, über die Hauptrichtungen zur neuesten Geschichte in Polen zu informieren. (übersetzt von Dr. Bruno Buchta, Potsdam)
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Labuda, G., Polska granica zachodnia (Die polnische Westgrenze), Poznan 1971; Dobrzycki, W., Granica zachodnia w polityce polskiej 1944-1947 (Die Westgrenze in der Politik Polens 1944-1947), Warszawa 1974. Problemy Polonii Zagraniczuej (Probleme der Polen im Ausland), Bd. 1-9, Warschau 1960-1975. Vgl. Skrzypek, J., Bibliografla pamiejtniköw polskich do roku 1964 (Bibliographie der polnischen Denkschriften bis zum Jahre 1964), Wroclaw 1976.
Kurzbiographien der Autoren
Dr. Maria Bogucka, Professor. Sie beendete ihr Studium an der Universität in Warszawa im J a h r e 1951, promovierte 1955, erhielt 1961 eine Dozentur und w u r d e 1971 Professor. B. ist Arbeitsgruppenleiter der Kulturgeschichte Altpolens und der Aufklärung am Institut f ü r Geschichte der PAN und Chefredakteur der „Acta Poloniae Historica". Sie beschäftigt sich besonders mit der sozialökonomischen Geschichte und Kulturgeschichte Polens und Europas vom 16. bis 18. Jh. Ihre wichtigsten Publikationen sind: Gdanskie rzemioslo tekstylne od XVI do polowy XVII w. (Das Danziger Textilhandwerk vom 16. bis Mitte des 17. Jh.), Wroclaw 1956; Gdansk jako centrum produkcyjne XVI-XVII w. (Danzig als Produktionszentrum des 16. und 17. Jh.), Warszawa 1962; Handel zagraniczny Gdanska w pierwszej poiowie XVII w. (Der Außenhandel Danzigs in der ersten Hälfte des 17. Jh.), Wroclaw 1970; Dawna Polska: narodziny, rozkwit, upadek (Das alte Polen: Geburt, Aufblühen und Verfall), Warszawa 1973; Ziemia i czasy Kopernika (Das Land und die Zeiten des Kopernikus), Wroclaw 1972, engl. Ausg.: The country and times of Nicholas Copernicus, Wroclaw 1973; Zycie codzienne Gdanska XV-XVII w. (Das Alltagsleben im Danzig des 15. bis 17. Jh.), Warszawa 1967 - gegenwärtig in deutscher Ubersetzung befindlich bei Koehler und Amelang, Leipzig; Historia Holandii (Die Geschichte Hollands), Wroclaw 1976 (gemeinsam mit J. Balicki). In Vorbereitung: Historia kultury polskiej do schylku XVIII w. (Geschichte der polnischen Kultur bis zum Ende des 18. Jh.), f ü r den Urania-Verlag, Leipzig.
Dr. Danuta Borawska, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut f ü r Geschichte der PAN. B. forscht hauptsächlich auf dem Gebiet der Geschichte des Mittelalters (Studien über Thietmar) sowie der ältesten Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen. Ihre wichtigsten Publikationen sind: Z dziejöw jednej legendy. W sprawie genezy kultu sw. Stanislawa Biskupa (Aus der Geschichte einer Legende. Zur Frage der Entwicklung des Kultes u m den hl. Bischof Stanislaw), Warszawa 1964; Gallus Anonim czy Italus Anonim (Gallus Anonim oder Italus Anonim), 36 J a h r b u c h 23
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Kurzbiographien der Autoren
in: Przegl^d Historyczny, 56, 1965; Mistrz Wincenty w nowym wydaniu i opracowaniu. W stronq cystersöw i sw. Bernarda z Clairvaux (Meister Vinzenz in neuer Ausgabe und Bearbeitung. Für die Cistenser und den hl. Bernhard aus Clairvaux), ebenda, 68, 1977, 2; Ekkehard I, Margrabia Misni i Ludolfingowie (Ekkehard I., Markgraf von Meißen, und die Ludolfinger), in: Kwartalnik Historyczny, 86, 1979, 4.
Dr. habil. Jozef Chlebowczyk, Professor, geboren 1924 in Karwina (Tschechoslowakei). Er ist Ordentlicher Professor der Schlesischen Universität und Prorektor der Zweigstelle dieser Universität in Cieszyn. Ch. spezialisierte sich auf die allgemeine Geschichte und die Geschichte Polens der Neuzeit und der neuesten Zeit, unter besonderer Berücksichtigung der Probleme der nationalen Beziehungen im östlichen Mitteleuropa des 18. bis 20. Jh. Zu seinen wichtigsten Arbeiten gehören: Procesy narodotwörcze we wschodniej Europie Srodkowej w dobie kapitalizmu - od schylku XVIII do poczqtköw XX w. (Die nationbildenden Prozesse im östlichen Mitteleuropa in der Ära des Kapitalismus - vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jh.), Warszawa/Kraköw 1975; Wybory i swiadomosc spoleczna na Sl^sku Cieszynskim w drugiej polowie XIX w. (Die Wahlen und das gesellschaftliche Bewußtsein in Teschener Schlesien in der zweiten Hälfte des 19. Jh.), Katowice/Kraköw 1966; Gospodarka Komory Cieszynskiej na przelomie XVII-XVIII oraz w pierwszej polowie XVIII w. (Die Wirtschaft der Teschener Kammer an der Wende vom 17. zum 18. und in der ersten Hälfte des 18. Jh.), Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1966; Nad Olzq. Slqsk Cieszyriski w wiekach XVIII, XIX i XX (An der Olsa. Teschener Schlesien im Zeitraum vom 18. bis zum 20. Jh.), Katowice 1971; Dwa wieki Kuzni Ustron (Zwei Jahrhunderte der Schmiede Ustron), Katowice 1972; Der Standpunkt der SPD zur nationalen Frage bis zum Jahre 1914, in: Rozwöj organizacyjny i rewolucja programowa Socjaldemokratycznej Partii Niemiec 1875-1975 (Die organisatorische Entwicklung und die Revolutionsprogrammatik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von 1875-1975), Poznan 1976, S. 53-80; Der Einfluß der Oktoberrevolution auf die Verwirklichung der Leninschen Konzeption und Politik in der nationalen Frage, in: Rewolucja Pazdziernikowa a swiatowy rewolucyjny proces (Die Oktoberrevolution und der revolutionäre Weltprozeß), Katowice 1979, S. 133-170.
Dr. Jan Gorski, geboren 1930. Er ist Historiker, Soziologe und Publizist. G. promovierte mit der Arbeit Doswiadczenia i perspektywy sqdöw robotniczych w Polsce (Erfahrungen und Perspektiven der Arbeitergerichte in Polen), Warszawa 1967. Als Forscher über den Wiederaufbau Warschaus ist G. Redakteur der kollektiven Publikation Odbudowa Warszawy 1944-1949. Wybör dokumentow i materialöw (Der Wiederaufbau Warschaus 1944-1949. Auswahl von Dokumenten und Materialien), Bd. 1-2, Warszawa 1977, Redakteur der Serienpublikation Studia
Kurzbiographien der Autoren
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Warszawskie - Warszawa stolica Polski Ludowej (Warschauer Studien - Warschau, Hauptstadt Volkspolens), H. 1-4, sowie der Anthologie Pami^c warszawskiej odbudowy (Zum Gedenken des Warschauer Wiederaufbaus), Warszawa 1973, und der Monographie Drugie narodziny miasta - Warszawa 1945 (Die zweite Geburt der Stadt - Warschau 1945), Warszawa 1976. Gegenwärtig bereitet er die Monographie Historia odbudowy Warszawy 1944-1949 (Geschichte des Wiederaufbaus Warschaus 1944-1949) vor. G. ist auch als historischer und soziologischer Publizist tätig. Auf diesem Gebiet veröffentlichte er folgende Skizzen: Historia powszechna i osobista (Allgemeine und persönliche Geschichte), Krakow 1964; Rozmowy o historii (Gespräche über Geschichte), Krakow 1967; Dylematy i tradycje (Dilemmas und Traditionen), Krakow 1969; 2blizenia do wspölczesnosci (Annäherung an die Zeitgenossen), Warszawa 1973; Pogranicze historii (Grenzgebiete der Geschichte), Warszawa 1974.
Dr. habil. Ireneusz Ihnatowicz, Professor, geboren 1928. Er legte sein Magisterexamen im Jahre 1950 an der Universität in Lodz ab. Bis 1956 war I. Assistent im Staatlichen Archiv in Lodz, und seit 1957 ist er an der Universität in Warszawa tätig - zunächst als Oberassistent und danach als Adjunkt. I. promovierte im Jahre 1961 und habilitierte sich 1967. Eine Dozentur erhielt er 1968 und wurde 1974 zum Professor ernannt. Seine wichtigsten Publikationen sind: Przemysl lödzki 1860-1900 (Die Lodzer Industrie von 1860 bis 1900), 1965; Historia kancelarii przemyslowej w okr^gu lödzkim (Die Geschichte der Industriekanzlei im Bezirk von Lodz), 1967; Vademecum do badan nad historiq XIX i XX wieku (Vademekum über die Forschungen zur Geschichte des 19. und 20. Jh.), Bd. 1, 1967; Bd. 2, 1971; Bureuazja warszawska (Die Warschauer Bourgeoisie), 1972; Spoleczenstwo polskie 1795-1918 (Die Gesellschaft Polens 1795-1918), 1979.
Dr. habil. Hanna Jqdruszczak. Sie ist Absolventin des Rechtsbereiches der Universität in Warszawa (1951). Ihre Promotion schloß sie 1960 ab und habilitierte sich 1970. J. ist Dozent im Institut für Geschichte der PAN und Leiterin der Arbeitsgruppe Geschichte der Städte und der polnischen Kultur des 19. und 20. Jh. J. ist Autorin von etwa 100 wissenschaftlichen Arbeiten, die zur Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Geschichte der Kultur sowie zu Problemen der Methodologie der Gesellschaftswissenschaften erschienen sind. Ihre wichtigsten Arbeiten sind: Place robotnikow przemyslowyeh w Polsce w latach 1924-1939 (Die Löhne der Industriearbeiter Polens in den Jahren 1924 bis 1939), 1963; Upanstwowienie i odbudowa przemyslu w Polsce 1944-1948. Wybör zrodel archiwalnych (Die Verstaatlichung und der Wiederaufbau der Industrie Polens in den Jahren 1944-1948. Auswahl von Archivquellen), Bd. 1, 1967; Bd. 2, 1969; Ostatnie lata II Rzeczpospolitej (Die letzten Jahre der II. Republik), Mitautor, 1970; Zatrudnienie a przemiany spoleczne w Polsce w latach 1944-1960
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Kurzbiographien der Autoren
(Die Beschäftigung und die gesellschaftlichen Veränderungen in Polen in den Jahren 1944-1960), 1972. Außerdem veröffentlichte J. eine Reihe von Skizzen über die schöpferische Arbeit berühmter polnischer und anderer Schriftsteller, und sie ist Mitautorin zusammenfassender historischer Darstellungen aus den Jahren zwischen beiden Weltkriegen und nach dem zweiten Weltkrieg. In jüngster Zeit verfaßte sie Studien über die theoretischen Grundlagen der Gesellschaftswissenschaften und zur Kultur als Gegenstand historischer Forschungen. Dr. habil. Tadeusz Jqdruszczak, Professor. 1952 beendete er sein Studium an der Juristischen Fakultät der Universität in Warszawa. J. promovierte 1955 und habilitierte sich 1961. Im Jahre 1968 wurde er zum Außerordentlichen Professor und 1978 zum Ordentlichen Professor berufen. J. war von 1968 bis 1973 Direktor des Historischen Militärinstituts und ist seitdem Leiter der Forschungsstelle Politische Geschichte des 19. und 20. Jh. am Institut für Geschichte PAN. Außerdem ist er Chefredakteur von „Kwartalnik Historyczny" (Historische Vierteljahresschrift). Seine wichtigsten Publikationen sind: Polityka Polski w sprawie Gornego Sl^ska 1918-1922 (Die Oberschlesienpolitik Polens 1918-1922), 1958; Pilsudczycy bez Pilsudskiego. Powstanie Obozu Zjednoczenia Narodowego 1937 (Die Pilsudkianhänger ohne Pilsudki. Die Entstehung des Verbandes der Nationalen Einigung 1937), 1963; Mitverfasser: Ostatnie lata II Rzeczypospolitej (Die letzten Jahre der II. Republik), 1970. J. ist Mitherausgeber der Quellenausgaben: Zrödla do dziejöw powstan sl^skich (Quellen zur Geschichte der schlesischen Aufstände) und Archiwum polityczne Ignacego Paderewskiego (Das politische Archiv Ignacy Paderewskis). Außerdem verfaßte er mehrere Abhandlungen zur Genesis des zweiten Weltkrieges und über den antifaschistischen Widerstandskampf 1939-1945. Dr. Ryszard Kiersnowski, Professor, geboren 1926 in Wilna. Er ist Mediävist und Leiter des Bereiches Geschichte der Gesellschaft und Politik bis Ende des 18. Jh. im Institut für Geschichte der PAN. Seit 1971 ist K. Vorsitzender der Gesellschaft für Archäologie und Numismatik und war 1973 bis 1979 Stellvertreter des Vorsitzenden der Internationalen Kommission für Numismatik. K. ist außerdem Ehrenmitglied der Königlichen Gesellschaft für Numismatik in Großbritannien, der Ungarischen Gesellschaft für Numismatik sowie Korrespondierendes Mitglied der Amerikanischen Gesellschaft für Numismatik. K. bekleidet die Funktion des Redakteurs der Quartalzeitschrift „Wiadomosci Numizmatyczne" (Numismatische Nachrichten). Er leitet auch die Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Numismatik und der Geschichte des Geldes im Europa des Mittelalters. Seine wichtigsten Publikationen sind: Pieniqdz kruszcowy w Polsce wczesnosredniowiecznej (Das Metallgeld im Polen des frühen Mittelalters), Warszawa
Kurzbiographien der Autoren
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1960; Wst^p do numizmatyki polskiej wieköw srednich (Einführung in die polnische Numismatik des Mittelalters), Warszawa 1964; Wielka reforma monetarna XIII-XIV w. (Die große Münzreform des 13. und 14. Jh.), Warszawa 1969; Pradzieje grosza (Die Vorgeschichte des Groschens), Warszawa 1975; Zycie codzienine na Sl^sku w wiekach srednich (Das tägliche Leben im Schlesien des Mittelalters), Warszawa 1977. K. publizierte darüber hinaus etwa 150 kleinere Arbeiten. Dr. habil. Irena Koberdowa, Ordentlicher Professor am Institut f ü r Geschichte der Arbeiterbewegung in Warszawa. K. promovierte 1956 mit der Arbeit Polityka czartoryszczyzny w powstaniu styczniowym (Die Politik des Gebiets von Czartoryski während des JanuarAufstands), Warszawa 1957. Das Thema der Habilitation im Jahre 1962 lautete: Wielki Ksi^ze Konstanty w Warszawie 1862-1863 (Der Großfürst Konstantin in Warschau 1862/63). Ihre Ernennung zum Außerordentlichen Professor erfolgte 1971 und zum Ordentlichen Professor im Jahre 1979. Sie befaßt sich speziell mit der Geschichte des 19. Jh. sowie mit der polnischen und internationalen Arbeiterbewegung bis 1914. Die nächsten Arbeiten beziehen sich auf die Internationalen Vereinigungen der Arbeiter und die internationale Arbeiterbewegung des 19. Jh. Sie ist Autorin der wissenschaftlichen Ausgabe der politischen Rapporte der Generalkonsuln Frankreichs in Warszawa von 1860 bis 1864 (erschienen 1965). Dr. Stefan Krszyztof Kuczynski, geboren 1938. Er ist Absolvent des Bereiches Geschichte an der Universität in Warszawa und ging aus dem Seminar f ü r Polnische und Allgemeine Geschichte des Mittelalters, geleitet von Prof. Dr. Aleksander Gieysztor, hervor. In den Jahren 1958 bis 1968 war K. Adjunkt im Hauptarchiv f ü r Alte Akten. 1964 arbeitete K. als Archivar in den Archives nationales in Paris, und seit 1969 ist er als Adjunkt am Institut f ü r Geschichte der PAN tätig. K. ist Mitglied des Redaktionskollegiums von „Przeglqd Historyczny" (Historische Rundschau), „Wiadomosci Numizmatyczne" (Numismatische Nachrichten) und der populärwissenschaftlichen Zeitschrift „Mowi^ Wieki" (Es sprechen Jahrhunderte). K. beschäftigt sich mit den Hilfswissenschaften der Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit, besonders mit der Sphragistik, der Heraldik und der Genealogie. Seine wichtigsten Arbeiten sind: Die polnischen Nationalfarben, in: Godlo, barwy i hymn Rzeczypospolitej (Wappen, Farben und Hymne der Republik Polen), 1963 (19702, 19773); Herb Warszawy (Das Wappen Warschaus), 1977; PieczQcie ksiqz^t mazowieckich (Die Siegel der Fürsten von Masowien), 1978; Herb Plocka i wojewödztwa plockiego (Das Wappen von Stadt und Wojewodschaft Plock), 1979. In Vorbereitung befinden sich eine Arbeit über die polnischen Territorialwappen und ein Handbuch über die polnische Heraldik. 37 J a h r b u c h 23
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Kurzbiographien der Autoren
Dr. habil. Czeslaw Madajczyk, Ordentlicher Professor am Institut für Geschichte der PAN. Er ist Stellvertreter des Vorsitzenden des Komitees für Historische Wissenschaften, Vorsitzender der Kommission für Geschichte des zweiten Weltkrieges sowie Gründer und Redakteur der Quartalszeitschrift „Dzieje Najnowsze" (Neueste Geschichte). Sein wissenschaftliches Interessengebiet umfaßt die Geschichte der Bauern im letzten Jahrhundert in Polen, polnische und allgemeine Problematik des zweiten Weltkrieges, den Faschismus und sein Verhältnis zur Kultur sowie Fragen der polnischen Arbeiterbewegung. Seine wichtigsten Arbeiten sind: Burzuazyjno-obszarnicza reforma rolna w Polsce 1918-1939 (Die bürgerlich-gutsherrliche Bodenreform in Polen 1918-1939), 1956; Sprawa reformy rolnej w Polsce 1939-1945 (Fragen der Bodenreform in Polen 1939-1945); Programy - Taktyka (Programme und Taktiken), 1961; Generaina Gubernia w planach hitlerowskich (Das General-Gouvernement in den Plänen Hitlers), 1961 - diese Arbeit erhielt einen Preis der Wochenzeitung „Polityka"; Polityka III Rzeszy w okupowanej Polsce (Die Politik des Dritten Reiches im okkupierten Polen), 2 Bde., 1970 - mit dem Staatspreis 2. Klasse und dem Preis des Ministers für Nationale Verteidigung 1. Klasse ausgezeichnet; Ludnosc cywilna w powstaniu warszawskim (Die Zivilbevölkerung im Warschauer Aufstand), 3 Bde., 1972, Einleitung und Redaktion - Preis des Wissenschaftlichen Sekretärs der PAN und von „Polityka"; Zamojszczyzna - Sonderlaboratorium SS (Das Gebiet von Zamosc - Sonderlaboratorium der SS), 2 Bde., 1977, Mitautor und Redaktion - Preis des Wissenschaftlichen Sekretärs der PAN; Inter arma non silent musae. The war and the culture 1939-1945, 1977, Mitautor und Redaktion. In Vorbereitung zum Druck befinden sich die zweibändige Arbeit Systemy okupacyjne pafistw Osi w Europie (Die Okkupationssysteme der Achsenmächte in Europa) sowie eine neue, gekürzte Fassung der Politik des Dritten Reiches im okkupierten Polen. Dr. Adam Manikowski, geboren 1946 in Wroclaw. Er beendete sein Geschichtsstudium 1969 am Historischen Institut der Universität in Warszawa und promovierte 1976 ebenda. M. arbeitet am Institut für Geschichte der Universität Warszawa, Zweigstelle Bialystok, als Stellvertreter des Direktors. Sein spezielles Forschungsgebiet ist die Wirtschaftsgeschichte Europas vom 16. bis 18. Jh., insbesondere die Geschichte des Handels in Zentraleuropa im 16. Jh. sowie die gesellschaftlichen Motivationen für die Luxuskonsumtion. Dr. habil. Jerzy Maternicki, Professor, geboren 1935 in Warszawa. Er absolvierte sein historisches Studium an der Universität in Warszawa und beendete es im Jahre 1958. M. promovierte 1966, habilitierte sich 1971 und wurde 1978 zum Professor ernannt.
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M. ist Leiter des Bereichs für Geschichte der Historiographie und Didaktik am Historischen Intitut der Universität Warszawa, Mitglied des Komitees für Historische Wissenschaften der PAN, Mitglied des Wissenschaftlichen Rates des Instituts für Geschichte der Wissenschaft, Volkbildung und Technik der PAN, Vorsitzender des Kollektivs Geschichte beim Ministerium für Volksbildung und Erziehung, Mitglied des Redaktionskomitees von „Kwartalnik Historyczny" (Historische Vierteljahresschrift), Leiter des Ressorts Geschichte der Zeischrift „Przeglqd Humanistyczny" (Historische Rundschau) und Vorsitzender des Redaktionskomitees von „Wiadomosci Historyczne" (Historische Nachrichten). M. forscht speziell auf dem Gebiet der Geschichte der Historiographie, Methodologie und Didaktik der Geschichte. Seine wichtigsten Publikationen sind: Warszawskie srodowisko historyczne 1832-1869 (Das historische Zentrum Warschaus 1832-1869), Warszawa 1970; Dydaktyka historii w Polsce 1773-1918 (Die Didaktik der Geschichte in Polen 1773-1918), Warszawa 1974; Idee i postawy. Historia i historycy polscy 1914-1918 (Ideen und Grundhaltungen. Die Geschichte und die polnischen Historiker 1914-1918), Warszawa 1975; Literatura popularno-naukowa w nauczaniu historii (Die populärwissenschaftliche Literatur in der Geschichtsausbildung), Warszawa 19772; Polska dydaktyka historii 1918-1939 (Polnische Didaktik der Geschichte 1918-1939), Warszawa 1978; Kultura historyczna dawna i wspôlczesna (Die Kultur der alten und neuzeitlichen Geschichte), Warszawa 1979. Dr. Henryk Samsonowicz, Professor, geboren 1930. S. ist Absolvent des Humanistischen Bereichs der Universität Warszawa, wo er sein Studium im Jahre 1950 beendete. Seit dieser Zeit arbeitet S. ununterbrochen am Historischen Institut daselbst. Er promovierte im Jahre 1954, wurde 1960 Dozent und 1971 Professor. Seit 1975 ist S. Direktor des Historischen Instituts der Universität, seit 1978 Vorsitzender des Hauptvorstandes der Polnischen Historischen Gesellschaft und seit 1981 Rektor der Universität Warszawa. Er spezialisierte sich hauptsächlich auf dem Gebiet der polnischen und allgemeinen Geschichte des Mittelalters und interessiert sich in erster Linie für soziale und kulturelle Probleme. Seine wichtigsten Arbeiten sind: Rzemioslo wiejskie w Polsce XIV-XVI wieku (Das Handwerk auf dem Dorfe in Polen im 14. bis 16. Jh.), 1954: Badania nad kapitalem mieszczanskim Gdanska w XV wieku (Forschungen zum städtischen Kapitel Danzigs im 15. Jh.), 1960; Pôzne sredniowiecze miast nadbaîtyckich (Das späte Mittelalter der baltischen Städte), 1968; Historia Polski do 1795 roku (Geschichte Polens bis zum Jahre 1795), 1971 ; Zlota jesien polskiego sredniowiecza (Goldener Herbst des polnischen Mittelalters), 1972. Dr. Jerzy Serczyk Er ist Dozent am Institut für Geschichte und Archivkunde der Universität Torun. 1969 bis 1979 war S. Leiter der Abteilung Methodologie der Geschichtswissenschaft und Methodik des Geschichtsunterrichts. 37»
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Kurzbiographien der Autoren
Sein spezielles Forschungsgebiet ist die Geschichte der Historiographie. Die wichtigsten Publikationen sind : Podstawy badan historycznych (Grundlagen der historischen Forschungen), 1963; Nowozytna historiografia europejska (Europäische Historiographie der Neuzeit), 1966 ; Dzieje Towarzystwa Naukowego w Toruniu (Geschichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Torun), 1974 und 1978. Darüber hinaus verfaßte S. einige Abhandlungen über die städtische Geschichtsschreibung des 17. und 18. Jh. in Königlich-Preußen u. a. Aus den 50er Jahren gibt es auch einige Veröffentlichungen zur Geschichte der Hussitenbewegung in Polen. Dr. habil. Andrzej Skrzypek, Dozent, geboren 1944. Er beendete sein historisches Studium im Bereich Geschichte an der Universität in Warszawa im Jahre 1967, promovierte 1971 und habilitierte sich im Jahre 1976. S. ist wissenschatflicher Mitarbeiter des Instituts für sozialistische Länder der PAN. Außerdem ist er Redaktionssekretär von „Kwartalnik Historyczny" (Historische Vierteljahresschrift). Sein spezielles Forschungsgebiet ist die Geschichte der Außenpolitik des 20. Jh., insbesondere Fragen der polnisch-sowjetischen Beziehungen. Er gab zwei wissenschaftliche Monographien heraaas: Zwi^zek Baltycki. Litwa, Lotwa, Estonia i Finlandia w polityce Polski i ZSRR w latach 1919-1925 (Der baltische Bund. Litauen, Lettland, Estland und Finnland in der Politik Polens und der UdSSR in den Jahren 1919-1925), Warszawa 1972; Strategia pokoju. Radziecka polityka zbiorowego bezpieczeristwa w Europie 1932-1939 (Die Strategie des Friedens. Die sowjetische Politik der kollektiven Sicherheit in Europa 1932-1939), Warszawa 1979; sowie eine Arbeit mit populär-wissenschaftlichem Charakter: Miçdzy Warszawq a Moskw^. Zarys stosunkôw polsko-radzieckich 1917-1945 (Zwischen Warschau und Moskau. Abriß der polnisch-sowjetischen Beziehungen 1917-1945), gemeinsam mit W. T. Kowalski, im Druck. Dr. habil. Piotr Skubiszewski, Professor, geboren 1931 in Borzyköw (Großpolen). Er studierte in den Jahren 1949 bis 1954 an der Universität in Poznan Kunstgeschichte. 1958 promovierte S. und habilitierte sich im Jahre 1964. Seine Studien auf dein Gebiet der Kultur- und Kunstgeschichte des Mittelalters vervollständigte er in Frankreich an der Universität Poitiers. 1973 wurde S. zum Professor ernannt. S. ist Stellvertreter des Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Komitees f ü r Kunst an der PAN, Kandidat des Comité International d'Histoire l'Art in Paris und ausländischer Berater des International Center of Médiéval Art in New York. S. arbeitete zunächst als Assistent am Nationalmuseum in Poznan 1949/50, danach von 1953 bis 1964 an der Universität Poznan und schließlich am Institut für Polnische Kunst der PAN 1964 bis 1967. Im Jahre 1967 wurde er als Lehrstuhlleiter f ü r Kunstgeschichte des Mittelalters an die Universität in Warszawa berufen und übernahm 1970 die Funktion eines Direktors des Instituts für
Kurzbiographien der Autoren
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Kunstgeschichte an derselben Universität. Er lehrt zur Geschichte der Kunst des Mittelalters. Zu dieser Thematik entstanden unter seiner Leitung bisher fünf Dissertationen und etwa 30 Magisterarbeiten. S. unternahm eine Reihe von wissenschaftlichen Reisen in verschiedene Länder Europas und in die USA. Er hatte die Funktion als visiting professor an den Universitäten Uppsala (Schweden) und Kansas University (USA) und hielt außerdem Vorlesungen, u. a. in München am Zentralinstitut für Kunstgeschichte, in Venedig am Fondazione Giogio Cini, in Clevland (Clevland Museum of Art), im Centre d'Etudes Supérieurs de Civilisation Médiévale de l'Université de Poitiers, an der Freien Universität in Westberlin, an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, an der East Anglia University in Norwich, an der Université Laval in Québec und an der Ottawa University sowie an der Universität in Wien. Er ist auch ständiger Teilnehmer von wissenschaftlichen Konferenzen in Polen und anderen Ländern. S. publizierte über 80 Arbeiten und wissenschaftliche Beiträge - darunter drei Bücher - zu folgenden Themenkomplexen: Die Bildhauerkunst der Romanik (Portal in Tuma), Gräberbildhauerei des 14. und 15. Jh. in Schlesien und Großpolen, die schöpferische Kunst von Veit Stoß, die vorromanische und romanische Kunst des Vergoldens (östliche Einflüsse der Nachkarolinger- und romanischen Zeit), die Ikonographie des Mittelalters, Bildprogramme und romantische Putten, Osterzyklen in der Kunst des Mittelalters sowie Methodologie der Kunstgegeschichte. Hinzu kommen Beiträge zu Fagen des Verhältnisses der Erforschung von Einzel- und von Gruppenkunstwerken sowie Probleme der Kunst und des Kunststils.
Dr. habil. Jacek Staszewski, Dozent. Er ist Direktor des Instituts f ü r Geschichte und Archivkunde der Universität in Torun. Sein wissenschaftliches Forschungsgebiet ist die Geschichte der polnisch-sächsischen Union von 1697 bis 1763. Die wichtigsten Publikationen sind: Stosunki Augusta II z kurjq rzymsk^ 1704-1706. Rzymska misja (Die Beziehungen Augusts II. zur römischen Kurie 1704-1706. Die römische Mission), Torun 1965; O miejsce w Europie. Stosunki Polski i Saksonii z Francjq na przelomie XVII i XVIII wieku (Um den Platz in Europa. Die Beziehungen Polens und Sachsens zu Frankreich an der Wende des 17. zum 18.Jh.), Warszawa 1973. Außerdem verfaßte St. viele Abhandlungen Und Aufsätze über die Verfassungsgeschichte und über Reformversuche in Polen und Sachsen sowie die Frühaufklärung in Polen.
Dr. habil. Jozef Ryszard Szaflik, Professor, geboren 1930. Sein historisches Studium beendete S. an der Universiät Poznafi im Jahre 1954. Er promovierte 1960 an der Universität „Maria Curie-Sklodowska" in Lublin und habilitierte sich 1969 an der Universität in Warszawa. Hier wurde er im Jahre 1977 Professor.
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Kurzbiographien der Autoren
In den Jahren 1954 bis 1963 arbeitete S. an der Lubliner Universität und danach an der Universität Warszawa als Adjunkt, Dozent und Professor. In den Jahren 1963 bis 1971 war S. Leiter des Historischen Bereichs für die Bauernbewegung (ZHRL) beim Obersten Komitee der Vereinigten Bauernpartei. Seit 1975 bekleidete er das Amt des Prodekans des. Bereichs Geschichte der Universität Warszawa, und seit 1979 ist er im selben Bereich Dekan. S. hat außerdem noch folgende Funktionen: Stellvertreter des Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Rates des ZHRL, Mitglied des Redaktionskollegiums der Zeitschrift „Roczniki Dziejow Ruchu Ludowego" (Jahrbücher zur Geschichte der Bauernbewegung), Chefredakteur der Zeitschrift „Prace Archiwalno-Muzealne" (ArchivarischMuseale Arbeiten), Stellvertreter des Vorsitzenden des Progamm-Kollektivs für Geschichte beim Ministerium f ü r Volksbildung und Erziehung. Sein spezielles Forschungsgebiet ist die Geschichte des Dorfes und der Bauernbewegung. Er ist der Autor von etwa 100 Publikationen, darunter von 17 Büchern, z. B.: Wies lubelska w polowie XVII wieku (Das Dorf im Lubliner Gebiet Mitte des 17. Jh.), 1963; Z dziejow zjednoczenia Lewicy chlopskiej „Samopomoc" (Aus der Geschichte der Vereinigung der bäuerlichen Linken „Selbsthilfe"), 1967; Polskie Stronnictwo Ludowe „Piast" (Polnische Bauernpartei „Piast"), 1970; O rz^d chlopskich dusz (Um eine Regierung bäuerlicher Seelen), 1976; Historia Polski 1939-1947 (Geschichte Polens 1939-1947), 1979. Dr. Janusz Tazbir, Professor, geboren 1927. T. ist Ordentlicher Professor am Institut f ü r Geschichte der PAN und Stellvertreter des Direktors für wissenschaftliche Fragen. Außerdem ist er Leiter des Bereichs Geschichte der Altpolnischen Kultur. T. hat die Funktion des Vorsitzenden des Historischen Komitees für Wissenschaft und Technik und ist Mitglied des Komitees f ü r Historische Wissenschaften, wo er die Forschungskommission zu Fragen der Renaissance leitet. Seit 1965 ist T. Chefredakteur des Jahrbuchs „Odrodzenie i Reformacja w Polsce" (Renaissance und Reformation in Polen) und gehört auch zum Redaktionskollektiv der Serie „Biblioteka Pisarzy Reformacyjnych" (Bibliothek der Schriftsteller der Reformation) sowie zum Redaktionskomitee „Polski SJownik Biograficzn" (Polnisches Biographisches Wörterbuch). T. beschäftigt sich mit der Geschichte der polnischen Kultur sowie der Reformation und Gegenreformation in Polen. Er veröffentlichte zu diesem Themenkreis zahlreiche Studien und Erörterungen in Polen und im Ausland (z. B. in „Archiv für Reformationsgeschichte", „II Pensiero Politico", „Rinascimento" sowie anderen Zeitschriften und Kollektivarbeiten). Er ist Autor zahlreicher Bücher, von denen besonders folgende erwähnt werden sollen: Arianie i katolicy (Arianer und Katholiken), 1971; Bracia Polscy na wygnaniu (Polnische Brüder im Exil), 1977; Kultura szlachecka w Polsce: rozkwit-upadek-relikty (Die Kultur des niederen Adels in Polen: Aufblühen, Verfall, Relikte), 1978, 19792; Rzeczpospolita i swiat. Studia z dziejow kultury XVII wieku (Die Republik Polen und die Welt. Studien zur Geschichte der Kultur des 17. Jh.), 1971; Stanislaw Lubieniecki, przywödca ariariskiej
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emigräcji (Stanislaw Lubieniecki, Führer der arianischen Emigration), 1961; A State without Stakes. Polish Religious Toleratin in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, poln. Ausg. 1967, engl. Ausg. 1973; Geschichte der polnischen Toleranz, poln. Ausg. 1973, dt. Ausg. 1977. Außerdem beschäftigt T. sich mit dem Verhältnis der altpolnischen Auffassungen in bezug auf die Unterjochung Südamerikas durch Spanien. Dieser Problematik widmete er u. a. das Buch Szlachta a konkwistadorzy (Der Adel und die Konquistadoren), 1969, sowie die umfangreiche Erörterung La découverte de rAmerique dans la conscience polonaise aux XVI e -XVII e siécles, in: Rinascimento, 24,1974. Dr. habil. Jan Tomicki, Professor, geboren 1932 in Warszawa. Er absolvierte von 1952 bis 1956 sein Gestehichtsstudium an der Universität seiner Geburtsstadt, promovierte 1968 und habilitierte sich 1973. Im Jahre 1974 wurde er zum Dozenten und 1980 zum Professor ernannt. T. ist Stellvertretender Abteilungsleiter am Institut f ü r Geschiche der Arbeiterbewegung in Warszawa. Sein spezielles Forschungsgebiet ist die Geschichte der polnischen und internationalen Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jh. T. veröffentlichte u. a. folgende Bücher: Norbert Barlicki, Dzialalnosc polityczna (Norbert Barlicki. Seine politische Tätigkeit), Warszawa 1968; Dzieje II Mi^dzynarodöwski 1914-1923 (Geschichte der 2. Internationale 1914-1923), Warszawa 1975; Mi^dzynarodowy ruch robotniczy (Die internationale Arbeiterbewegung), Bd. 1, Mitautor, Warszawa 1976; Ruch robotniczy w Polsce (Die Arbeiterbewegung in Polen), Warszawa 1977; Mieczyslaw Niedzialkowski (Biographie), Warszawa 1978. Dr. Andrzej Wyczanski, Professor. Er absolvierte seine Studien an den Universitäten Warszawa und Krakow und vervollständigte sie in Paris (VI. Sektion der EFHE). W. ist Ordentlicher Professor am Institut f ü r Geschichte der PAN und Leiter der Arbeitsgruppe Geschichte der Neuzeit. Außerdem lehrt er an der Zweigstelle der Universität Warszawa in Bialystok. W. ist Vorsitzender der Gesellschaft f ü r Freunde der Geschichte in Warszawa, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates der Nationalbibliothek sowie der Kommission für Wirtschaftsgeschichte im Akademieinstitut. Die Serie „Spoleczenstwo staropolskie" (Altpolnische Gesellschaft) wird von ihm als Redakteur betreut. W. ist Historiker der frühen Neuzeit und beschäftigt sich besonders mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen des 16. Jh. Seine wichtigsten Publikationen sind: Francja wobec panstw Jagiellonskich w latach 1515-1529 (Frankreich angesichts der Jagiellonischen Staaten 1515-1529), 1954; Studia nad folwarlkiem szlacheckim w Polsce w latach 1500-1580 (Studien zum Gutsvorwerk des Adels in Polen 1500-1580), 1960; Studia nad gospodarkq starostwa korczynskiego w latach 1500-1660 (Studien zur Wirtschaft der Starostei Korczynsk in den Jahren 1500-1660), 1964; Polska Rzeczq Pospolitq Szlacheckq
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Kurzbiographien der Autoren
(Polen als Adelsrepublik), 1965; Historia powszechna, koniec XV - polowa XVII wieku (Allgemeine Geschichte vom Ende des 15. bis Mitte des 17. Jh.), 1965; Studia nad konsumpcj^ zywnosci w Polsce w XVI i pierwszej polowie XVII wieku (Studien über die Lebensmittelkonsumtion in Polen im 16. und in de!r ersten Hälfte des 17. Jh.), 1969; Uwarstwienie spoleczne w Polsce (Die gesellschaftliche Schichtung in Polen), 1977. Neben den genannten Buchpublikationen veröffentlichte er noch zahlreiche Artikel und Quelleneditionen. Dr. habil. Anna Zarnowska Sie ist Dozent am Historischen Institut der Universität in Warszawa, wo sie auch ihr Studium absolvierte. Im Jahre 1962 promovierte 2. und habilitierte sich 1973. An der Universität liest 2. zu Problemen der Geschichte der polnischen Arbeiterklasse und leitet ein Forschungskollektiv zu Fragen der Kultur der Arbeiterklasse in Polen. Sie ist Mitarbeiterin der Kommission zur Geschichte der Städte der Historischen Gesellschaft der DDR. 2. ist Autorin folgender historischer Monographien: Geneza rozlamu w Polskiej Partii Socjalistycznej, 1904-1906 (Entwicklung der Spaltung in der Polnischen Sozialistischen Partei in den Jahren 1904-1906), 1965; Klasa robotnicza Krölestwa Polskiego 1870-1914 (Die Arbeiterklasse des Königreichs Polen in den Jahren 1870-1914), 1973. Sie ist auch Mitautorin der Kollektivarbeit Polska klasa robotnicza - Zarys dziejöw (Die polnische Arbeiterklasse - Abriß der Geschichte), 1978.
Übersicht der im „Kwartalnik Historyczny" 1 9 7 8 - 1 9 8 0 enthaltenen Artikel
Kwartalnik Historyczny, Jg. 85, 1978 25. Jahrestag des Instituts für Geschichte der Polnischen der Wissenschaften
Akademie
Chamerska, Haiina, Wydawnictwa bibliograficzne Institutu Historii PAN (Bibliographische Publikationen des Akademieinstituts - PAN) H. 3, S. 573 Gqsiorowski, Antoni, Wydawnictwa zrodlowe Instytutu Historii PAN, 1953-1977 (Quellenpublikationen des Instituts f ü r Geschichte - PAN 1953-1977) H. 3, S. 553 Jasifiski, Kazimierz, Osi^gni^cia Instytutu Historii PAN w zakresie nauk pomocniczych historii (1953-1977). Proba oceny (Errungenschaften des Instituts f ü r Geschichte PAN auf dem Gebiet der Hilfswissenschaften zur Geschichte, 1953 bis 1977. Versuch einer Einschätzung) H. 3, S. 563 Madajczyk, Czeslaw, Wklad Instytutu Historii w ksztaltowanie swiadomoici spoleczenstwa (Der Beitrag des Instituts für Geschichte zur Gestaltung des gesellschaftlichen Geschichtsbewußtseins) H. 3, S. 531 Mqczak, Antoni, Badania kwantytatywne (Quantitative Forschungen) H. 3, S. 547 Samsonowicz, Henryk, Prace geograficZno-historyczne Instytutu Historii PAN (Geographisch-historische Arbeiten des Historischen Instituts PAN) H. 3, S. 543 Erörterungen Czerepica, Walerij, Polski ruch narodowowyzwolenczy i Bialorus w latach szescdziesi^tych XIX stulecia (Die polnische nationale Befreiungsbewegung in Belorußland in den 60er Jahren des 19. Jh.), H. 1, S. 37 Dqbkowski, Witold, Proces Szesnastu z Hzy (styczen - wrzesien 1865 r.). Przyczynek do dziejow organizacji cywilnej powstania styczniowego w Sandomierskim (Der Prozeß der Sechzehn aus Ilza, Januar-September 1865. Ein Beitrag zur Geschichte der Zivilorganisation im Gebiet von Sandomierz) H. 2, S. 269 Hass, Ludwik, Zwiqzek Patriotyczny 1918-1926 (Der Bund der Patrioten 1918 bis 1926) H. 4, S. 913
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Übersicht der im „Kwartalnik Historyczny" 1978-1980 enthaltenen Artikel
Jaskiewicz, Leszek, Administracja carska a samorz^d terytorialny w epoce Aleksandra III (Die zaristische Staatsverwaltung und die territoriale Selbstverwaltung in der Epoche Alexanders III.) H. 2, S. 287 Jqdrusczak, Tadeusz, Odrodzenie niepodleglej Polski w 1918 r. (Die Wiedergeburt eines unabhängigen Polen im Jahre 1918) H. 4, S. 799 Listopad 1918 - niepodleglo£c (November 1918 - Unabhängigkeit) von: W. Bitner, J. Chlebowczyk, A. Czubinski, H. Janowska, St. Kieniewicz, E. Kuszko, B. Lesnodorski, P. Lossowski, Cz. Madajczyk, J. Molenda, St. Rostworowski, F. Skibiriski, J. R. Szaflik, St. Szwalbe, R. Wapinski, A. Zakrzewski H. 4, S. 833 Misztal, Jan, Dzialalnosc propagandowa podziemia poniemieckiego na Sl^sku Opolskim w latach 1945-1949 (Die propagandistische Tätigkeit des deutschen Untergrundes im Oppelner Schlesien in den Jahren 1945-1949) H. 1, S. 51 Najdus, Walentyna, Dziaiacze zachodnioniemieckich partii socjalistiycznych o narodzie i ojczyznie (Die Funktionäre der westdeutschen sozialistischen Parteien über Volk und Vaterland) H. 4, S. 987 Nowak-Kielbikowa, Maria, Polityka brytyjska wobec Polski w latach trzydziestych XX w. (Die britische Politik gegenüber Polen in den 30er Jahren des 20. Jh.) H. 4, S. 943 Opalinski, Edward, Polityka rozdawmictwa Zygmunta III Wazy na terenie wojewödztwa poznanskiego i kaliskiego (Die Teilungspolitik Siegmunds III. Wasa im Territorium der Wojewodschaften Poznah und Kalisz) H. 1, S. 25 Pacuski, Kazimierz, Mazowsze wobec walk o wladze w Polsce XIII/XIV w. (Die Rolle von Masowien in den Kämpfen um die Macht in Polen an der Wende des 13. zum 14. Jh.) H. 3, S. 585 Poppe, Andrzej, Rus i Bizancjum w latach 986-989 (Die Rus' und Byzanz in den Jahren 986-989) H. 1, S. 3 Rutkowski, Adam, Objazdy i system rz%dzenia panstwem przez Kazimierza Wielkiego (Die Besichtigungsfahrten und das staatliche Regierungssystem Kazimiers des Großen) H. 3, S. 605 Rzepecki, Jan, W Polskierj Sile Zbrojnej (Bei den Polnischen Streitkräften) H. 4, S. 887 Skrzypek, Andrzej, Michal Bobrzynski jako organizator nauki i wydawca ¿rodet (Micha! Bobrzynski als Wissenschaftsorganisator und Quellenpublizist) H. 3, S. 643 Watt, D. C., Bl^dne informacje. Bl^dne koncepcje. Brak zaufania. Z dziejow brytyjskiej polityki zagranicznej lat 1938-1939 (Fehlerhafte Informationen, fehlerhafte Konzeptionen, Mangel an Vertrauen. Zur Geschichte der britischen Außenpolitik der Jahre 1938-1939) H. 4, S. 961 Wisner, Henryk, Litwa i plany wojny tureckej Wiadyslawa IV (Litauen und die Pläne des türkischen Krieges Wladyslaws IV.) H. 2, S. 255 Wyczanski, Andrzej, Czy chlopu bylo zle w Polsce XVI wieku? (Ging es dem Bauern schlecht im Polen des 16. Jh.?) H. 3, S. 627 Zarnowski, Janusz, Odbudowa niepodleglosci w 1918 r. w historiografli polskiej ubieglych lat szescdziesi^ciu (Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Polens im Jahre 1918 in der Polnischen Historiographie der vergangenen 60 Jahre) H. 4, S. 817
Übersicht der im „Kwartalnik Historyczny" 1978-1980 enthaltenen Artikel
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Problematik des gesellschaftlichen und nationalen Bewußtseins in den polnischen Gebieten Devleeshouwer, Robert, Ruchy spoleczne i swiadomosc narodowa w Belgii 1830 do 1918 (Gesellschaftliche Bewegungen und Nationalbewußtsein in Belgien 1830-1918) H. 2, S. 341 Geremek, Bronislaw, Metody badañ nad swiadomosci^ spoleczeñstwa polskiego w sredniowiecu (Methoden der Forschungen über die Bewußtheit der Gesellschaft im Mittelalter) H. 2, S. 311 Grabski, Andrzej, Historia wobec zagadnieñ swiadomosci spolecznej. Refleksje metodologiczne (Die Geschichte und die Fragen des gesellschaftlichen Bewußtseins. Methodologische Reflexionen) H. 2, S. 299 Karwacki, Wladyslaw Lech, Wiedza historyczna w masach (Die Geschichtskenntnisse innerhalb der Massen) H. 2, S. 307 Molenda, Jan, Uwagi w spawie ksztaltowanie siç swiadomosci narodowej w pierwszym dwudziestoleciu XX wieku (Bemerkungen zur Frage der Gestaltung des Nationalbewußtseins in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jh.) H. 2, S. 315 Skarga, Barbara, Dwa programy (Zwei Programme) H. 2, S. 329 Sprawozdanie z dyskusji 18 X 1977 w Instytucie Historii PAN poswiçconej problematyce swiadomosci spolecznej i narodowej na ziemiach polskich w drugiej polowie XIX wieku (Bericht über die Diskussion vom 18. 10. 1977 im Institut für Geschichte PAN zur Problematik des gesellschaftlichen und Nationalbewußtseins in den polnischen Gebieten der zweiten Hälfte des 19. Jh. - Haiina Kiepurska H. 2, S. 346 Sprawozdanie z dyskusji 24 X 1977 w Instytucie Historii PAN poswiçconej metodom badawczym nad przemianami swiadomosci i kultury spoleczeñstwa polskiego (Bericht über die Diskussion vom 24. 10. 1977 im Institut f ü r Geschichte PAN zur Problematik1 der Forschungsmethoden über die Veränderungen in Bewußtsein und Kultur der polnischen Gesellschaft) - Maria Bieliúska H. 2, S. 351 Übersichten - Polemiken - Vorschläge Kosman, Marceli, Biblioteka Kórnicka jako warsztat badañ historycznych (Die Bibliothek von Kórnick als Werkstatt historischer Forschungen) H. 2, S. 357 Kowecki, Jerzy, Kuznica Koll^tajowska - legenda czy rzeczywistosc historyczna? (Die Schmiede von Koüqtaj - Legende oder historische Wirklichkeit?) H. 4, S.1017 Olszewski, Daniel, Zródía i problematyka badañ nad religijnosciq polskq w XIX w. (Quellen und Forschungsproblematik über die polnische Religiosität im 19. Jh.) H. 1, S. 65 Rucinski, Henryk, Historiografía sîowacka w latach 1960-1975 w ocenie VII zjazdu Sïowackiego Towarzystwa Historycznego - sredniowiecze i czasy nowozytne do drugiej poîowy XVIII w. (Die slowakische Historiographie der Jahre 1960-1975 in der Einschätzung des 7. Kongresses der Slowakischen Histo-
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Übersicht der im „Kwartalnik Historyczny" 1978-1980 enthaltenen Artikel
rischen Gesellschaft - Mittelalter und Neuzeit bis zur zweiten Hälfte des 18. Jh.) H. 1, S. 75 Senkowska-Gluck, Monika, Francuska historiografía okresu napoleoñskiego (Die französische Historiographie des napoleonischen Zeitraums) H. 2, S. 369 Skowronek, Jerzy, Z najnowszych dyskusji i badañ problemów ruchów narodowych i wyzwolenia Síowian (Aus den neuesten Diskussionen und Forschungen zu Problemen der nationalen Bewegung und der Befreiung der Slawen) H. 2, S. 383 Strzelczyk, Jerzy, Z nowszych badañ nad struktur^ administracyjnq pañstwa wschodniofrankij Skiego (Aus neueren Forschungein über die Struktur der staatlichen Verwaltung des ostfränkischen Staates) H. 3, S. 657 Materialien ks. Kumor, Böleslaw, Projekt zalozenia Akademii Nauk i Sztuk Pozytecznych w Warszawie, 1766 (Projekt der Gründung der Akademie der Wissenschaften und der Nützlichen Künste in Warschau, 1766) H. 2, S. 395
Kwartalnik Historyczny, Jg. 86, 1979 35 Jahre
Volkspolen
Bobrowski, Czeslaiv, Wspomnienia 1945-1948 (Erinnerungen 1945-1948) H. 3, S. 701 Gluck, Leopold, Rada Naukowa dla Zagadnieri Ziem Odzyskanych, 1945-1948 (Der Wissenschaftliche Rat für Fragen der wiedergewonnenen Gebiete, 1945 bis 1948) H. 3, S. 643 Polska nauka historyczna - problemy odbudowy (Die polnische historische Wissenschaft - Probleme des Wiederaufbaus), von: B. Baranowski, H. Barycz, W. Czaplinski, A. Gieysztor, K. Görski, M. Pelczar, H. 3, S. 585 Skodlarski, Janusz, Ewolucja gospodarki swiatowej w latach 1938-1947 (Die Entwicklung der Weltwirtschaft in den Jahren 1938-1947) H. 3, S. 687 Erörterungen Banaszkiewicz, Jacek, Fabularyzacja przestrzeni. Sredniowieczny przyklad granic (Die Fabularisierung des Gebiets. Mittelalterliches Beispiel der Grenzen) H. 4, S. 987 Borawska, Danuta, Margrabia Misni Ekkehard I i Ludolfingowie (Markgraf M. Ekkehard I. und die Ludolfinger) H. 4, S. 933 Cegielski, Tadeusz, Polityka Rzeszy Niemieckiej w okresie pierwszego rozbioru Polski 1772-1774 r. (Die Politik des Deutschen Reiches im Zeitraum der ersten Teilung Polens 1772-1774) H. 1, S. 19
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Cegna, Romolo, Idea wolnosci w ruchach heretyckich pöznego sredmiowiecza waldyzm europejski (Die Idee der Freiheit in den heretischen Bewegungen des späten Mittelalters - der europäische Waldismus) H. 4, S. 951 Czaplinski, Wladyslaw, Cien Polski nad Sundem - Kartki z dziejöw dyplomacji w latach 1621-1626 (Der Schatten Polens über dem Sund - Karten aus der Geschichte der Diplomatie in den Jahren 1621-1626) H. 2, S. 321 Eisenbach, Arthur, Zbratanie Polskie Wszystkich WyznaA Religijnych (Polnische Verbrüderung aller Religionsgemeinschaften) H. 1, S. 43 Gorski, Jan, Urabnistyczne plany odbudowy Warszawy (Urbanistische Pläne zum Wiederaufbau Warschaus) H. 2, S. 343 Marczuk, Jözef, Samorzqd miasta Lublina w latach 1915-1918 (Die Selbstverwaltung der Stadt Lublin in den Jahren 1915-1918) H. 2, S. 281 Nowak-Kielbikowa, Maria/Spustek, Irena, Stanowisko mocarstw anglosaskich wobec powstania panstwa polskiego w 1918 r. (Der Standpunkt der angelsächsischen Mächte angesichts der Entstehung des polnischen Staates im Jahre 1918) H. 1, S.67 Ochmann, Stefania, Dzialalnosc polityczna Jana Andrzeja Morsztyna w latach 1660-1661 (Die politische Tätigkeit Jan Andrzej Morsztyns in den Jahren 1660 bis 1661) H. 1, S. 3 Samsonowicz, Henryk, Liczba i wielkosc miast poznego sredniowiecza Polski (Größe und Anzahl der Städte im Polen des späten Mittelalters) H. 4, S. 917 Skubiszewski, Piotr, Polska sztuka Sredniowieezna czy sztuka sredniowieczna w Polsce? (Polnische mittelalterliche Kunst oder mittelalterliche Kunst in Polen?) H. 4, S. 891 Stqpniak, Henryk, Gdanska Macierz Szkolna i jej walk'a o polsk^ oswiat^ i kulture w Wolnym Miescie Gdansku, 1921-1939 (Der Danziger Schulverein und sein Kampf um eine polnische Volksbildung und Kultur in der Freien Stadt Danzig, 1921-1939) H. 2, S. 297 Witkowska, Aleksandra, Ksztaltowanie si$ tradycji pqtniczych w sredniowiecznym Krakowie (Die Gestaltung der Pilgertraditionen im mittelalterlichen Kraköw) H. 4, S. 965 Übersichten - Polemiken - Vorschläge Architektura jakö zrödio historyczne (Die Architektur als historische Quelle), von: A. Tomaszewski, A. Wyczanski, St. Mossakowski, A. Wyrobisz, B. Kürbis, T. Zarebska, St. Trawkowski, P. Sczaniecki H. 2, S. 451 Armbruster, Adolf, Pocz^tki swiadomosci narodowej Rumunöw i Sasöw transylwanskich w epoce Odrodzenia i humanizmu - Z najnowszych badan rumunskich (Die Anfänge des Nationalbewußtseins der Rumänen und transsylvanischen Sachsen in der Epoche der Renaissance und des Humanismus - aus neuesten rumänischen Forschungen) H. 1, S. 123 Batowski, Henryk, Historia i geografia (Geschichte und Geographie) H. 2, S. 421 Buczek, Karol, Gospodarcze funkcje organizacji grodowej w Polsce wczesnofeudalnej - X-XIII wieku (Die wirtschaftlichen Funktionen der Stadtorganisation im frühfeudalen Polen des 10. bis 13. Jh.) H. 2, S. 363
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Czerniewski, Kazimierz, O prawdç historyczny w publikacjach o konspiracyjnej prcxiukcji broni w okresie okupacji (Um die historische Wahrheit in den Publikationen über die konspirative Produktion von Waffen im Zeitraum der Okkupation) H. 2, S. 385 Czy Polska stracila wiek XIX pod wzglçdem nowoczesnej cywilizacji? (Hat Polen das 19. Jh. in bezug auf die Nutzung der neuzeitlichen Zivilisation vertan?) von: K. Groniowski, I. Ihnatowicz, J. Jedlicki, J. Leskiewiczowa, I. Pietrzak-Pawîowska, Z. Stankiewicz, I. Trzeciakowski H. 1, S. 89 Gqsiorowski, Antoni, Nad itinerarium Kazimierza Wielkiego (Uber das Itinerarium Kazimiers des Großen) H. 3, S. 733 Jçdruszczak, Hanna, Industrializacja a urbanizacja: propozycje badawcze i uwagi polemiczne (Die Industrialisierung und die Urbanisation: Vorschläge f ü r die Forschung und polemische Bemerkungen) H. 2, S. 405 Kieniewicz, Stefan, Polski Slownik Biograficzny (Polnisches Biographisches Wörterbuch) H. 1, S. 149 Kloczowski, Jerzy, Religijnosc mas ludowych w chrzeécijanstwie zachodnim XIII do XVII stulecia (Die Religiosität der Volksmassen in der westlichen Christenheit des 13. bis 17. Jh.) H. 4, S. 1007 Leczyk, Marian, Stosunki polsko-radzieckie w latach 1918-1945 w historiografii Polski Ludowej (Die polnisch-sowjetischen Beziehungen in den Jahren 1918 bis 1945 in der Historiographie Volkspolens) H. 2, S. 429 Pomorski, Jan, Zaîozenia metodologiczne Osiemnastego Brumaire'a Ludwika Bonaparte Karola Marksa (Die methodologischen Grundlagen des achtzehnten Brumaire Louis Bonapartes von Karl Marx) H. 1, S. 133 Russocki, Stanislaw, „Grundherrschaft" - kilka uwag historyczno-semantycznych (Die „Grundherrschaft" - einige historisch-semantische Bemerkungen) H. 4, S. 1001 Ryszka, Franciszek, Jeszcze raz o rewizji podrçcznikôw polskich i zachodnioniemieckich, czyli o „Antyzaleceniach" (Noch einmal über die Revision polnischer und westdeutscher Lehrbücher, oder über die „Antianweisungen") H. 1, S. 155 Stemplowski, Ryszard, Modernizacja - teoria czy doktryna? (Die Modernisierung - Theorie oder Doktrin?) H. 3, S. 741 Tazbir, Janusz, Popularyzacja - aie jaka? (Popularisierung - aber was f ü r eine?) H. 3, S. 755
Kwartalnik Historyczny, Jg. 87, 1980 Erörterungen Bardach, Juliusz, Miasta na prawie magdeburskim w Wielkim Ksi^stwie Litewskim od schylku XIV do polowy XVII stulecia (Städte nach Magdeburger Reicht im Großfürstentum Litauen vom Ende des 14. bis Mitte des 17. Jh.) H. 1, S. 21 Jqdruszczak, Tadeusz, Czasy zalamari - czasy nadziej (Zeiten des Zusammenbruchs - Zeiten der Hoffnung) H. 3/4, S. 577.
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Landau, Zbigniew, Minister skarbu Jan Pilsudski (Schatzminister Jan Pilsudski) H. 2, S. 335 Maternicki, Jerzy, Historia w oczach socjologôw. Ludwik Gumplowicz i Ludwik Krzywicki (Die Geschichte in den Augen der Soziologen. Ludwik Gumplowicz und Ludwik Krzywicki) H. 1, S. 97 Maternicki, Jerzy, Problemy i perspektywy dydaktyki historii w Pols ce (Probleme und Perspektiven der Geschichtsdidaktik in Polen) H. 3, S. 589 Piotrowski, Bernard, Finski ruch narodowy w XIX wieku (Die finnische nationale Bewegung im 19. Jh.) H. 1, S. 53 Powierski, Jan, Polityka baltyjska ksiqz^t polskich w poîowie XIII wieku - Koncesje Innooentego IV (Die baltische Politik der polnischen Fürsten Mitte des 13. Jh. - Konzessionen Innocents IV.) H. 2, S. 311 Rostworowski, Emanuel, Polska w Europie oswieconych (Polen im Europa der Aufklärung) H. 1, S. 3 Sladkowski, Wieslaw, Georgesa Clemenceau zainteresowanie Polskq (Das Interesse Georges Clemenceaus für Polen) H. 1, S. 69 Szumowski, Tadeusz, Woköl przesilenia lipcowego 1940 roku (Rund um die JuliKrise des Jahres 1940) H. 1, S. 85 Tazbir, Janusz, Rola zywego slowa w polskiej propagandzie wyznaniowej (Die Rolle des lebendigen Wortes in der polnischen Bekenntnispropaganda) H. 2, S. 291
Sozialökonomische Forschungen zur Geschichte Lukasiewicz, Juliusz, Zasoby naturalne w Europie Srodkowej w okresie rewolucji przemyslowej (Die Naturredchtümer Zentraleuropas im Zeitraum der industriellen Revolution) H. 2, S. 369 Madurowicz-TJrbariska, Helena, Potrzeby w zakresie historii gospodarczej Galicji (Die Notwendigkeiten auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte Galiziens) H. 2, S. 415 Nietyksza, Maria, Dzieje miast polskich w epoce kapitalizmu. Problemy, stan badan, postulaty (Die Geschichte der polnischen Städte in der Epoche des Kapitalismus. Probleme, Stand der Forschungen, Vorschläge) H. 2, S. 399 Prus, Witold/Nietyksza, Maria/Chomac-Klimek, Regina, Uprzemyslowienie ziem polskich w XIX-XX w. w badaniach zespolowych (Die Industrialisierung der polnischen Gebiete im 19. und 20. Jh. in den Kollektivforschungen) H. 2, S. 351 Rustäski, Wladyslaw, Sprawa tzw. neutralnoSci polskiego ruchu spöldzielczego w okresie mi^dzywoj ennym (Die Frage der sog. Neutralität der polnischen Genossenschaftsbewegung im Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen) H. 2, S. 383
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Übersichten - Polemiken - Vorschläge Dyskusja nad historié Polski lat 1921-1939 (Diskussion über die Geschichte Polens der Jahre 1921-1939), von: S. Kieniewicz, W. Wrzesinski, J. Maternicki, A. Zakrzewski, P. Gach H. 1, S. 119 Jaskiewicz, Leszek, Polityka wewnçtrzna caratu w najnowszej historiografli radzieckiej (Die Innenpolitik des Zarismus in der neuesten sowjetischen Historiographie) H. 1, S. 185 Kieniewicz, Stefan, Przeszloéc narodowa w oczach spoleczenstwa i w oczach historyka (Die nationale Vergangenheit in den Augen der Gesellschaft und in den Augen des Historikers) H. 2, S. 435 Kozmiriski, Maciej/Sieroszewski, Andrzej, O Stereotypie Polaka i Wçgra w XIX i XX w. (Über die Schablonenhaftigkeit Polens und Ungarns im 19. und 20. Jh.) H. 1, S. 193 Modzelewski, Karol, Jurysdykcja kasztelanska i pobör danin prawa ksiqzçcego w swietle dokumentöw XIII wieku (Die kastellanische Jurisdiktion und die Einziehung der Abgaben nach fürstlichem Recht im Lichte der Dokumente des 13. Jh.) H. 1, S. 149 Nadolski, Andrzej, Rozwazania o Grunwaldzie (Überlegungen zu Grunwald) H. 2, S. 447 Potkowski, Edward/Skrzypek, Andrzej, XII Powszechny Zjazd Historykôw Polskich (Der 12. Allpolnische Historikerkongreß) H. 2, S. 425 Rusinski, Wladyslaw, Stagnacja czy postçp (Stagnation oder Fortschritt) H. 3/4, S. 677 Russocki, Stanislaw, Chlopskie „prawa zakupne": Forma uzytkowania gruntöw czy wtasiiosc podlegla (Das bäuerliche „Aufklärungsrecht" - eine Form der Bodennutzung oder des abhängigen Landeigentums) H. 1, S. 175 Wisniewski, Jerzy, W sprawie pochodzenia rodu kröla Stanislawa Augusta (Zur Frage der Abstammung des Königs Stanislaw August) H. 2, S. 459