Jahrbuch für Geschichte: Band 18 [Reprint 2021 ed.] 9783112530405, 9783112530399


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German Pages 416 Year 1979

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Jahrbuch für Geschichte: Band 18 [Reprint 2021 ed.]
 9783112530405, 9783112530399

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J A H R B U C H FÜR GESCHICHTE

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR ZENTRALINSTITUT FÜR

GESCHICHTE

J A H R B U C H FÜR GESCHICHTE

Redaktionskollegium: Horst Bartel, Rolf Badstübner, Lothar Berthold, Emst Engelberg, Heinz Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier, Wolfgang Schröder Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur), Hans Schleier (Stellv.), Jutta Grimann, Dietrich Eichholtz, Gerhard Keiderling, Rosemarie Schumann, Bernhard Tesche

JAHRBUCH 1 8 FÜR GESCHICHTE

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 197 8

Redaktionsschluß: 30. September 1977

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1978 Lizenznummer 202 . 100/105/78 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg/DDR Bestellnummer: 753 346 1 (2130/18) • L S V 0265 Printed in G D R DDR 2 5 , - M

Inhalt

Gerhard

Steiner

Joseph Meyer und die Barchentherstellung. Über ein Jugendunternehmen des Gründers des Bibliographischen Instituts Gotha-Hildburghausen-Leipzig . . . .

7

Hartmut

Zwahr

Zur Klassenkonstituierung der deutschen Bourgeoisie .

21

Gunther

Hildebrandt

Zur Rolle Ludolf Camphausens in den Auseinandersetzungen um die Durchsetzung der Reichsverfassung im Frühjahr 1849 (mit Dokumenten)

85

Margarete Piesche

Die Rolle des Reparationsagenten Seymour Parker Gilbert während der Weimarer Republik (1924-1930) . . 135

Siegfried Freick

Die separate Währungsreform in den Westzonen Deutschlands 1948 als Instrument imperialistischer Spaltungs- und Restaurationspolitik

171

Ursachen, Entstehung und Wesen des kalten Krieges in der Historiographie der USA - Richtungen und Trends

213

Die bürgerliche Historiographie in den USA zur Rolle des Interamerikanischen Systems bei der Herausbildung der globalen Strategie des kalten Krieges

253

Ursachen, Entstehung und Überwindung des kalten Krieges in der bürgerlichen britischen Geschichtsschreibung

295

Die Theorie des „organisierten Kapitalismus" als antimarxistisches Konzept zur Darstellung des staatsmonopolistischen Kapitalismus in der Sozialgeschichtsschreibung der BRD

339

Die Verhandlungen zwischen der Reichsgruppe Industrie und der Federation of British Industries in Düsseldorf am 15. und 16. März 1939

373

Karl Drechsler Liselotte Kramer-Kaske Marion Einhorn/ Mirjam Kölling Hans-Jürgen Steinbach

Dokumentation Christel Nehrig

Autorenverzeichnis

417

Abkürzungen

BzG GdA JbfW JfG MEW WZ ZfG ZStAM ZStAP

Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1966 Jahrbuch iür Wirtschaftsgeschichte, Berlin Jahrbuch für Geschichte, Berlin Marx/Engels, Werke, Berlin 1956 ff. Wissenschaftliche Zeitschrift Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin Zentrales Staatsarchiv, Merseburg Zentrales Staatsarchiv, Potsdam

Die Werke Lenins werden nach der 40bändigen Ausgabe des Dietz-Verlages, Berlin 1056-1965, zitiert.

Gerhard Steiner

Joseph Meyer und die Barchentherstellung. Über ein Jugendunternehmen des Gründers des Bibliographischen Instituts Gotha-Hildburghausen-Leipzig

Als der vieruridzwanzigjährige Joseph Meyer, der spätere bedeutende Verlagsbuchhändler und radikale bürgerliche Demokrat von 1848/49, im Frühjahr 1820 Hals über Kopf aus London geflohen war, nachdem er ein durch Spekulationen gewonnenes großes Vermögen durch eine Superspekulation mit einem Schlage verloren hatte, fand er in seiner Heimatstadt Gotha keine Zuflucht. Dort eröffnete ihm sein Gönner, der Kabinettsrat Ernst Madelung, den der Bedrängte des Nachts heimlich aufgesucht hatte, daß der Gothaer Herzog August (1772 bis 1822), der dem für ihn als Einkäufer Tätigen für seine Londoner Geschäfte Kredite gegeben hatte, nunmehr das ganze Vermögen des Vaters, des Schuhmachers Nikolaus Meyer (1759-1823), für des Sohnes Bankschulden in Anspruch nähme. Ohne die Eltern zu besuchen, floh Meyer weiter über den Thüringer Wald hinweg in das Sachsen-Weimar-Eisenacher Dorf Weilar. 1 Hier nahm ihn der ihm väterlich gesonnene Pfarrer Johann Salomo Grobe (1770-1837) auf, in dessen philanthropischer Erziehungsanstalt der mit elf Jahren sein Gothaer Gymnasium boykottierende Joseph Meyer zwei Jahre lang eine ihn belebende und geistig bereichernde Schulzeit absolviert hatte. Der England-Flüchtling verlobte sich mit der sechzehnjährigen Tochter Grobes, Minna. E r fand in der Unterrichtung der Zöglinge des Pfarrers eine vorläufige Betätigung. Nachdem Grobe im Herbst seine Anstalt nach Bayern verlegt und Meyer Körper und Nerven einigermaßen erholt hatte, erwachte sein auf größere Objekte gerichteter Unternehmungsgeist aufs neue, zumal er das ihm durch seine philanthropische Erziehung eingepflanzte und durch seine Erfahrungen während der englischen industriellen Revolution vertiefte Ideal des im Interesse der Emanzipation des Bürgertums gemeinnützig handelnden, den Reichtum der Gesellschaft vermehrenden Menschen keineswegs aufgegeben hatte. Entsprechend seiner merkantüistischen Einstellung galt ihm der Kaufmann als das nützlichste Glied der Gesellschaft.

1

Weilar über Bad Salzungen, ein großes Dorf mit damals rund 1 000 Einwohnern.

Gerhard

8

Steiner

Was Meyer nun in seinem Zufluchtsort Weilar betrieb, vermag nicht nur wirtschaftsgeschichtliches Interesse zu beanspruchen, sondern auch das Verständnis für Meyers spätere bedeutende kulturhistorische und industrielle Aktivitäten zu vertiefen. In den über diese Persönlichkeit geschriebenen Arbeiten ist die Weilarer „Episode" nur vorübergehend erwähnt oder ganz übergangen worden. Der Meyer-Biograph Johannes Hohlfeld (1888-1950)2 geht zwar etwas ausführlicher auf sie ein, aber auch bei ihm steht dieser Lebensabschnitt Meyers nur ganz am Rande der Biographie. Die Veranlassung zu Meyers Weilarer Unternehmen gab der Umstand, daß er in diesem Ort und dessen Umgebung soziale Zustände vorfand, die seine Überlegungen und bald auch seine Tätigkeit herausforderten. Es war seit etwa 10 Jahren, also seit dem Ende der Befreiungskriege, eine allgemeine Verarmung der Bevölkerung eingetreten, die ihre Ursache in dem Verfall der Barchentweberei3 hatte, in der fünf Sechstel der Einwohner beschäftigt waren. „Ungefähr 30 Barchentwebermeister teilten sich in das seit 1814 immer mehr sinkende Geschäft und gaben einigen 90 schon ganz verarmten Meistern, als ihren Gesellen, ein Ungewisses dürftiges Stückchen Brot, oft nicht genug, um nur die allernotwendigsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen." Diese kleinen Fabrikanten waren nicht mehr in der Lage, ihre Rohstoffe aus erster Hand billig zu beziehten. Sie verloren „durch eine Reihe von schlechten Messen, mit drückenden Geschäftsschulden belastet, . . . bei den solideren ihrer Handelsfreunde Kredit und sind nun so allmählich Wucherern in die Hände geraten, welche ihnen die rohen Materialien, bei kleinen Quantitäten, mit Aufschlag enormer Prozente auf die an sich schon teuren Preise gegen lange Zahlungsfristen überlassen". Die unter solchen ungünstigen Bedingungen angefertigten Barchente mußten nun obendrein zur Befriedigung der Gläubiger, die durch ihre dauernden Mahnungen die Meister unter Druck setzten, häufig unter dem Gestehungspredis verkauft, also verschleudert werden. Aus diesem Teufelskreis kamen die Weber nicht mehr heraus, ja die Stricke zogen sich noch enger um diese Manufaktur zusammen, denn „die so gewaltsam heruntergedrückten Preise erzeugten geringere txnd zuletzt so schlechte Ware", daß die Barchente dieser Gegend, die „noch vor 15 Jahren als vorzüglich gesucht waren, immer mehr in Verruf kamen und Käufer dafür mit jeder Messe seltener wurden". Das war sicher die Analyse der ökonomischen Situation, wie sie Joseph Meyer anstellte und sie sich der Erb-, Lehns- und Gerichtsherr auf Stadtlengsfeld und Weilar zu eiigen machte, der Geheime Regierungsrat Christoph Ernst Abraham Albrecht Freiherr vonBoyneburg (1752-1840). Dieser war an dem ökonomischen Aufschwung seines Bezirkes insofern stark interessiert, als die verarmten Meister unfähig waren, ihm die lehnsherrlichen Gefälle zu entrichten, und ihre Grundstücke fast ohne Ausnahme verpfänden mußten. So betont er, daß ihm 2

Hohlfeld,

3

Bardient: Ein Gewebe, dessen Kette aus Leinengarn und dessen Schuß aus B a u m wollgarn

Johannes, Das Bibliographische Institut, Leipzig 1926, S. 22—25. (Bettbarchent)

oder

dessen Kette und

Schuß

nur

aus

Baumwollgarn

(Kleiderbarchent) bestehen, das geköpert (die Fäden von Kette und Schuß durchkreuzen sich schräg) und einseitig aufgerauht ist.

Joseph Meyer

9

viel daran liege, „solche Maßregeln zu ergreifen, welche geeignet wären, den verlornen Wohlstand meiner lehnspflichtigen Untertanen allmählich wieder zurückzuführen". In dem Projekt, das ihm Joseph Meyer vor Augen stellte, sah er ein Mittel zu diesem Aufschwung. Der Plan bestand in der Gründimg eines mit typisch philanthropischen Begriffen als ..gemeinnützig merkantilisch" bezeichneten Instituts. Die Mittel waren Kooperation der Barchenthersteller unter einer kaufmännischen Leitung, Koordinierung von Export und Import und zugleich Heranführung der manufaktureilen an industrielle Methoden. Das Dokument, aus dem bisher zitiert wurde 4 und mit dem der Freiherr von Boyneburg am l . M ä r z 1821 der großherzoglich-sachsen-weimariischen Regierung die eben angeführte Analyse und das Projekt zur Kenntnis gab, enthält einen anonymen Hinweis auf Meyer, und man ist überrascht, diesen jungen, in England gescheiterten und mit Schulden belasteten Mann so gekennzeichnet zu finden: „Ein praktischer, vielerfahrner Geschäftsmann, dessen weite Handelsverbindungen mir neue Beziehungs- und Abzugsquellen für rohe Stoffe und deren Fabrikate eröffneten, bot mir seine Mitwirkung a n . . . " Dieses gute Zeugnis beruht nicht allein darauf, daß Joseph Meyer einen sachverständigen und vertrauenerweckenden Eindruck gemacht und die Freunidschaft des gleichaltrigen Sohnes, Emil von Boyneburg, gewonnen hatte, sondern vor allem erschienen dem Geldgeber Meyers Kenntnisse der englischen Handelspraktiken wichtig. Suchte doch England, das eine blühende Baumwollindustrie besaß, deutsche Waren möglichst von seinen Märkten fernzuhalten, während englische Waren den deutschen Markt überfluteten. Wenn man in den englischen Markt eindringen wollte, war es nötig, erstens die englischen Geschäftsgebaren zu kennen und zweitens die maschinelle Produktion ziu verbessern und zu erhöhen und die neuen Errungenschaften der Technik und Naturwissenschaft zur Verbesserung der Produktionsinstrumente und -methoden anzuwenden. Dazu war Meyer - zeit seines Lebens ein eifriger und erfolgreicher Autodidakt - fest entschlossen. Der Vertrag zwischen Boyneburg und Meyer - diesem wurde die alleinige Direktion übertragen - war am 10. November 1820 zustande gekommen, die Anstalt, für die Boyneburg 68 000 Gulden gegen 54prozentige Verzinsung zur Verfügung stellte, am 1. Januar 1821 eröffnet worden. Was das Schreiben an die Regierung iim Anschluß an den Hinweis auf Meyer im einzelnen über das Unternehmen aussagt, iist sicher Meyers eigener Text, denn er verrät inhaltlich eindeutig seine Handschrift: „Die Wirksamkeit dieses Etablissements, welches die seinem Zwecke analoge Benennung Gewerbsund Hülfs-Anstalt trägt, bestrebt sich, der Handelstätigkeit der Gegend im allgemeinen einen lebhaften Schwung zu geben und wird vorzüglich darauf abzielen, daß sie vorerst denjenigen Barchentwebermeistern, die jetzt ganz brotlos im Elend schmachten oder verarmt bei kümmerlichem Gesellenlohn ihr Leben fristen, eine dauernde Beschäftigung als Meister, für meine Rechnung und Gefahr, ausmittelt, wodurch ihnen und ihren Familien ein reichlicher, ruhiger Erwerb 4

Staatsarchiv Weimar, Eis. Archiv, Ämter und Städte Nr. 1959: Die in Weilar errichtete „Gewerbs- und Hülfsanstalt" 1821—1823.

10

Gerhard Steiner

f ü r immer gesichert wird, daß ferner, mit Hülfe einer anzulegenden Bleiche u n d Färberei nach einem großen Maßstabe u n d Beziehung d e r rohen Stoffe v o n den Produktionsmärkten sie sich bemüht, denjenigen Barchentwebern, welche vorziehen oder noch Mittel besitzen, f ü r ihre eigene Rechnung fortzuarbeiten, in der Folge das rohe Materiale besser u n d zu wesentlich wohlfeilem Preisen, als sie es jetzt erhalten können, zu liefern u n d sie so, nach u n d nach, den H ä n den der Wucherer gänzlich zu entreißen. Noch besondere, mit diesem Institute v e r k n ü p f t e gemeinnützige Zwecke, als: Errichtung einer Sparbank f ü r sämtliche durch dasselbe beschäftigte Weber u n d Arbeiter, Errichtung eines Schulfonds u n d einer Prämienkasse aus dem Fond der Anstalt, zur Beförderung der Industrie im allgemeinen, vor züglich aber zur A u f m u n t e r u n g der Weber, vollkommnere Fabrikate zu liefern, werden, dies hoffe ich, nicht minder wohltätig auf die Moralität u n d das Glück der U m wohnenden würken." Wir sehen hier ein System von ökonomischen Maßnahmen, die den entwickelteren gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit Rechnung trugen, eine wirtschaftliche S t ä r k u n g des Handwerkers u n d der Arbeiter bezweckten, u n d zwar durch Zusammenarbeit, durch Schaffung gemeinsamer Arbeitsmittel (Bleiche, F ä r b e rei), durch gemeinsamen Einkauf u n d durch finanzielle Stimulation. Außerdem sollte die A u s f u h r der Stoffe nach England mit d e r E i n f u h r von Lebensmitteln verbunden werden. Hier zeigte sich bereits der Unternehmergeist Meyers, der sich später zur Etablierung des Bibliographischen Instituts u n d vor allem zu seinen ausgedehnten Montanunternehmen steigerte. In allem kündigte sich der progressive Unternehmer an. Wie er hier im Kleinen das Gewerbe durch die Verteillang der Lasten auf viele Schultern u n d durch eine Bank entfalten wollte, handelte er 20, 25 J a h r e später im Großen fast nach dem gleichen Konzept: G r ü n d u n g von Aktiengesellschaften u. ä. f ü r die Nutzung industrieller und verkehrstechnischer Anlagen u n d Errichtung einer besonders f ü r diese Zwecke hilfreichen Bank, nämlich einer zur A n n a h m e von Depositen in zinstragenden Papieren, u n d dies, bevor noch Isaac Pereire den Crédit Mobüier gründete. Damals wie später ging es ihm darum, die Industrialisierung Deutschlands nach englischem Vorbild zu f ö r d e r n und dadurch die Wohlfahrt des Volkes, besonders der u n t e r e n Schichten zu heben. Die großherzogliche Unterstützung der Gewerbs- u n d Hülfsanstalt bestand offenbar n u r im Gewährenlassen, wenigstens ist keine andere festzustellen. Die Regierung richtete am 6. April an die Eisenacher Landesdirektion ein vom Großherzog Carl August (1757-1828) abgezeichnetes Schreiben 5 , in dem es heißt: „Es h a t Uns dieses U n t e r n e h m e n u m so m e h r zum gnfädigen] Wohlgefallen gereicht, als es von einer tätigen Teilnahme a n Beförderung des Gemeinwohls und, durch die an dieses g e k n ü p f t e n Zwecke, von Einsicht in das B e d ü r f n i s der Zeit u n d der Gegend in solcher Rücksicht zeugt. Wir begehren daher gn., Unsere Landesdirektion wolle dem Unternehmen Unsern Beifall darüber 6 zu erkennen geben, auch d e r Anstalt, d a nötig, mit schützender Teilnahme förderlich sein." 5 6

Vgl. Akte Anm, 4. Darunter wurde „Zufriedenheit damit" getilgt.

Joseph Meyer

11

Meyers Absichten als Leiter der Gewerbs- und Hülfsanstalt gingen weiter, als es das angeführte Schreiben vermuten läßt. Sie zielten auf möglichst weitgehende Industrialisierung der Barchentherstellung, auf den Bau und den Einsatz besonderer Maschinen, auf technische und chemische Versuche zur Veredelung der Ausgangsprodukte und des Endproduktes und damit auf Ablösung der Einzel- und Heimarbeit zugunsten der Zusammenarbeit in einer Fabrik, auf Ablösung der Manufaktur durch industrielle Fertigung. Das war im Jahre 1821 in Thüringen eine bedeutsame Initiative. Die Ursache für die gegenüber den westlichen Ländern zurückgebliebene Zivilisationsstufe Deutschlands sah Friedrich Engels noch 1847 darin, daß hier die Agrikultur der entscheidende Nahrungszweig sei und daß zu wenig Industrieerzeugnisse exportiert würden.7 Meyer hatte dies auf Grund seiner Erfahrungen in England frühzeitig erkannt und suchte durch die Ausfuhr hochwertiger Industrieprodukte wenigstens in einem, wenn auch kleinen, aber stetig zu vergrößernden Gebiet zu einer Änderung der wirtschaftlichen Situation beizutragen und damit zu der Entwicklung der einen Klasse, die stark genug werden mußte, „um von ihrem Emporkommen das der ganzen Nation, von dem Fortschritt und der Entwicklung ihrer Interessen den Fortschritt der Interessen aller andern Klassen abhängig zu machen".8 Größer, als zunächst zu vermuten war und der beschwingte, hoffnungsvolle Initiator ahnen konnte, waren aber die Schwierigkeiten, die sich herausstellten. Sie wurden erhellt durch eine kritische Bestandsaufnahme, die Meyer dem großherzoglich-weimarischen Präsidenten Schwendler sandte, gewiß in der Absicht, von der Regierung unterstützt zu werden: „Hochwohlgeborner Herr, Hochzuverehrender Herr Präsident! Fast zwei Jahre sind es, seitdem die unterzeichnete Anstalt die Ehre hatte, dem hochpreislichen Collegium ihre Entstehung und den Zweck ihres Wirkens mitzuteilen, der so glücklich war, des Beifalls Sr. Königlichen Hoheit9, unsers allverehrten Großherzogs, selbst gewürdigt zu werden. Das vorgesteckte hohe Ziel zu erreichen, war seit dieser Zeit unermüdetes Streben, aber Schwierigkeiten, größer als sie berechnet werden konnten, Unfälle, durch höhere Combinationen herbeigeführt, traten dazwischen, und soviel auch getan worden ist, noch ist es nicht errungen, noch ist das eigentliche Sein der Anstalt erst im Werden. Die Ausführung, großer Bauten zu einem passenden Lokale für die Anstalt erforderten, da es meines ehrwürdigen Chefs Vorsatz war, keine fremden, sondern nur hiesige Handwerker dazu zu gebrauchen, großen Aufwand an Geld und Zeit, - aber ungleich größern noch die Geschäftseinrichtung selbst und die Anschaffung derjenigen Hülfsmittel, wodurch die Konkurrenz englischer Fabrikate allein bestanden werden kann, - zahlreicher Maschinen nämlich, zu deren Bau ebenfalls fast ausschließlich nur Handwerker des hiesigen Amtsbezirkes genommen wurden, setzte fast unübersteigliche Hindernisse entgegen. 7 8 9

Engels, Friedrich, Der Status quo in Deutschland, in: MEW, Bd. 4, S. 43 f. Ebenda, S. 51. So wurde der Großherzog von Weimar-Eisenach angeredet.

12

Gerhard Steiner

Gewöhnlich w a r m a n dabei in dem Falle, solche Leute, denen Präzision in der Arbeit bisher völlig f r e m d geblieben, - zu den vorhabenden Zwecken emstlich zu unterrichten, u n d so manche Arbeit k a m vor, womit man, aller Versuche u n geachtet, g a r nicht zustande kommen konnte, wo die eigene Gabe d e r Erfindung allein aushelfen mußte. Auf diese Weise vom eigentlichen Ziele noch e n t f e r n t gehalten, k o n n t e auch das Wirken des Etablissements den von seinem Plane erregten E r w a r t u n g e n n u r erst teilweise entsprechen. Sein vorzüglichsterZweck, den Haupterwerbszweig des hiesigen Ortes, die ganz gesunkene Barchentfabrikation, zu vervollkommenen, w a r bisher n u r mit einigen Webern versuchsweise zu erreichen möglich. Von deren Erzeugnissen wird die Anstalt ein Musterstück, und, zur Vergleichung, - ein Stück des besten gewöhnlichen hiesigen Barchents zu der nächsten polytechnischen Ausstellung einschicken. Bei dieser Gelegenheit rechnet es sich die Anstalt zur angenehmen Pflicht, Ew. Hoch wohlgeboren mitzuteilen, daß es ihr durch ihren Direktor nach einer Reihe, - leider sehr nachteilig auf seine Gesundheit einwirkenden, - unbefriedigenden Versuchen, - vor kurzem glücklich gelungen ist, die große Aufgabe, den Flachs zur Maschinenspinnerei, gleich der Baumwolle, tauglich zu machen, auf das Vollständigste zu lösen, und dieses vaterländische Erzeugnis durch vollkommene T r e n n u n g seiner unendlichen feinen Fasern in einem so veredelten Zustande darzustellen, daß es sich dem Glänze u n d der Weichheit der Seide nähert u n d ziu den feinsten Maschinengespinsten geschickt wird. Die Anstalt n i m m t sich die Freiheit, Ihnen, hochgeehrtester Herr Präsident, zur eigenen vergleichenden Anschauung u n d Beurteilung ein Muster von hier erzeugtem Flachs u n d Werg in ihrem gewöhnlichen u n d veredelten Zustande vorzulegen, u n d hofft, im Verfolg dieser wichtigen Erfindung, bald solche Resultate a n f ü h r e n zu können, die dem hohen Sinn Ew. Hochwohlgeboren f ü r v a t e r ländische Industrie F r e u d e machen u n d von Hochdemselben vielleicht w ü r d i g geachtet w e r d e n dürften, Sr. Königlichen Hoheit, unsers gnädigsten Landesvaters, höchsteigene A u f m e r k s a m k e i t darauf zu lenken. Mit den G e f ü h l e n höchster Verehrimg v e r h a r r t Hochwohlgeboren, Hochzuverehrenden H e r r n Präsidenten gehorsamste Frhrl. von Boyneburgische Gewerbs- & Hülfs-Anstalt Weilar, Meyer am 23. J a n u a r 1823 Direktor" 1 0 Es ist zunächst einmal festzuhalten, daß es sich bei der in diesem Brief geschilderten Veredlung des Flachses und damit der Möglichkeit seiner maschinellen Verarbeitung u m ein sehr f r ü h e s Beispiel f ü r die Verbesserung der Leine10

Dieser bisher unveröffentlichte Brief Meyers, in dem in Fußnote 4 genannten Aktenstück enthalten, ist insofern eine Besonderheit, als mit der Vernichtung des Archivs des Bibliographischen Instituts in Leipzig während des zweiten Weltkriegs fast sämtliche Briefe Meyers verlorengingen.

Joseph Meyer

13

Weberei in Deutschland handelt. Auf diese Weise wollte Meyer die englische Konkurrenz durch Qualitätsverbesserung zurückdrängen. Der Brief läßt aber auch die Schwierigkeiten f ü r einen großzügigen A u f b a u der Barchentindustrie erkennen. Sie lagen einmal in der feudal-absolutistischen Zersplitterung Deutschlands, die z. B. den Besitzer d e r Anstalt veranlaßte, iim lokalen Interesse die einheimischen A r b e i t s k r ä f t e geeigneteren F r e m d e n vorzuziehen; Meyer hielt das keineswegs f ü r richtig, mußte es aber akzeptieren, was die g r u n d sätzliche Abhängigkeit seiner Maßnahmen vom adligen Lehnsherrn verdeutlicht. F e r n e r zeigt sich d e r Mangel an ausreichendem Kapital zum großzügigen Ausbau des Ganzen, der ja „der G r u n d des Status quo, der allgemeinen Schwäche ist". 11 Auf eine weitere Schwierigkeit des U n t e r n e h m e n s geht der Brief nicht ein. Ein Vierteljahr vor Abfassung des Schreibens w a r e n m e h r e r e Arbeiter fast gleichzeitig e r k r a n k t . Dieser Vorfall w a r den Gegnern des j u n g e n Betriebs gerade recht, gegen ühn mit aller Schärfe vorzugehen. Der Physiker Dr. Heß aus S t a d t lengsfeld und der dortige Amtsmann Knips v e r t r a t e n die Ansicht, d a ß es sich u m das „gelbe Pestfieber" (Typhus icterotes), eine oft schnell tödliche, typhusähnliche Krankheit heißer Länder, handele, das durch indische Baumwolle in Weilar eingeschleppt worden sei. Sie f o r d e r t e n die Beschlagnahme u n d Verb r e n n u n g der gesamten Baumwollvorräte. Das w ä r e ein vernichtender Schlag f ü r das U n t e r n e h m e n gewesen u n d h ä t t e seine Stillegung bedeutet. Gegen diese Maßregel der Bürokratie w a n d t e n sich die Wollarbeiter und mit ihnen Meyer. Boyneburg bangte u m sein Geld u n d verlangte von Meyer, daß er sofort alle Importe einstellen und ihm Schadenersatz zahlen sollte. Dieser verteidigte sich temperamentvoll u n d energisch nach allen Seiten. Er f a n d Hilfe bei d e m Physikus extraordinarius Dr. Bein aus Salzungen, der die Krankheit als „Nervenfieber" (Typhus nervosus) 12 erkannte, das nicht durch die Baumwolle hervorgerufen worden sein konnte. Als dies n u n auch die Großherzogliche Sanitätskommission bestätigte, h a t t e n das Gerücht u n d seine Begleiterscheinungen bereits „dem Weilarer Barchentverkehr gewiß großen Schaden zugefügt" 1 3 , m a n h a t t e die „ w a h r h a f t bedauernswerten Folgen auf d a s Gewerbe Weilars" 14 zu beklagen. Natürlich w ä r e der Schaden viel größer gewesen, w e n n die Wollarbeiter nicht gegen die unsinnigen Maßnahmen gemeinsamen Widerstand geleistet, sich nicht im Interesse ihrer Arbeit und ihrer Löhne ad hoc assoziiert hätten. So k a m d e r rastlos tätige Direktor neben den betrieblichen Schwierigkeiten in persönliche Nöte. Er h a t t e keine Ersparnisse mehr, seinen Haushalt, d e n er sich bereits - im Hinblick auf seine Heirat - f ü r 2 000 Gulden angeschafft hatte, 11 12 13

14

MEW, Bd. 4, S. 51. Bis um die Mitte des 19. Jh. gebräuchlicher Sammelname für verschiedene mit Fieber und Bewußtseinsstörungen verlaufende Krankheitszustände. Eisenachisches Wochenblatt, 13.11.1822. In diesem Journal fanden über die Weilarer Krankheit im November/Dezember 1822 heftige Kontroversen statt, die mir das Stadtarchiv Bisenach und die Zentralbibliothek der deutschen Klassik in Weimar zugänglich machten. Ebenda, 7.12.1822.

14

Gerhard

Steiner

ließ Boyneburg pfänden. Es zerschlug sich bis auf weiteres sowohl Meyers Eheschließung als auch eine Unterstützung seiner Eltern, auf die er hingearbeitet hatte. Boyneburg bevormundete seinen Direktor von nun an in allem und verlangte, daß dieser seine Schulden bis auf den letzten Heller abarbeitete. Wenn sich der Freiherr nach außen hin in bestem Einverständnis mit seinem Direktor zeigte, so ist dies die Folge davon, daß er letzten Endes dem Unternehmermut, dem immensen Können u n d Arbeitswillen Meyers seine Hochachtung nicht versagen konnte. In dem - bisher unbekannten - Schreiben, das Boyneburg zwei Wochen vor der beabsichtigten Aufgabe der Anstalt, am 15. Dezember 1823, an den Großherzog als einen letzten Hilferuf richtete, schildert er bei einem Rückblick auf die Entwicklung des Betriebes zunächst einen Teilerfolg: Das erste Ziel des Unternehmens, ein günstiges Verhältnis zwischen dem Preis der Rohstoffe und dem des fertigen Fabrikates herzustellen, sei in kurzer Zeit vollkommen erreicht worden, und das rohe Material konnte u m mehr als 30 Prozent billiger als f r ü h e r eingekauft werden. Dann heißt es: „Mit Hülfe der chemischen Bleiche s o l l t e . . . das zweite Hauptmaterial f ü r Barchente - das gebleichte leinene Garn - den Webern im nämlichen vorteilhaften Verhältnissen wie die Baumwolle geliefert werden, und der mit der Direktion des Ganzen Beauftragte betrieb es auch in dieser Hinsicht mit der angestrengtesten Tätigkeit und Ausdauer." Boyneburg machte f ü r den Rückgang der Anstalt u n d die Tatsache der erneuten gänzlichen Verarmung der Weber, die der Willkür der Händler ausgeliefert waren, „die unglücklichen, selbst auf den Kongressen zur Sprache gekommenen allgemeinen deutschen, gegenwärtig sich gestalteten Handelsverhältnisse" verantwortlich. Hier spielt er auf den Kampf um die Zollgesetze an, eine Misere der deutschen feudalen Zersplitterung. Preußen hatte sich seit dem 26. Mai 1818 durch ein Zollgesetz, das den Verbrauch fremder Waren besteuerte, vom Ausland und natürlich auch von allen anderen deutschen Staaten abgeschlossen, ein Umstand, der zur Entwicklung der Bourgeoisie in Preußen zwar entscheidend beitrug, aber im Großherzogtum Weimar-Eisenach als Nachbarstaat besonders schwer spürbar wurde. Auf den Wiener Konferenzen 1819/20 wetterten zwar die Minister der deutschen Staaten gegen das preußische Zollgesetz, aber eine Handhabe dagegen fand man nicht. Bundesverfassung und Bundestag waren nicht in der Lage, die - wie der weimarische Minister Carl Wilhelm Freiherr von Fritsch (1768-1851) als Vertreter der „sächsischen Häuser" in Wien sagte - „möglichste Freigebung des Handels und Verkehrs innerhalb des Bundesgebiets" als „die unerläßliche Bedingung des Wohlstands und der Zufriedenheit des deutschen Volkes" 15 zu erreichen. Dabei ging es Fritsch weniger um den Wohlstand als u m die Zufriedenheit, denn es sei zu offenbar, „wie durch die neuerlichen Handelserschwerungen die Zufriedenheit in Deutschland gestört und ein bedenklicher Same der Unruhe, Ungesetzlichkeit und Widerspenstigkeit ausgestreut worden ist". 16 15

16

Aegidi, Ludwig Karl, Die ScKluß-Acte der Wiener Ministerial-Conferenzen zur Ausbildung und Befestigung des deutschen Bundes. l.Abt., Berlin 1860, S. 334. Ebenda.

Joseph Meyer

15

Auch eine Handelskonferenz in Darmstadt 1821 u n d der Ende 1822 abgeschlossene Vertrag zwischen den thüringischen Kleinstaaten, die einen in sich geschlossenen Handelsstaat unter gemeinschaftlich zu verabredender Handelsgesetzgebung bilden wollten, brachten keine Lösung des Problems, unter dem auch das Weilarer Unternehmen litt. Wir wissen, wie nachdrücklich sich Engels noch 1847 f ü r ein deutsches Schutzzollgesetz eingesetzt hiat, damit die Bourgeoisie mit den mittelalterlichen Überresten des Feudalismus aufräumen und ihr eigenstes Wesen zur Entfaltung bringen könne, auch im Interesse der arbeitenden Klasse.17 In dem von Joseph Meyer herausgegebenen und mitverfaßten „Großen Conversationslexikon" konnte man 1852 lesen: „Zwischen das Prohibitivsystem und die Lehre der absoluten Handelsfreiheit trat das Schutzsystem, welches im deutschen Zollverein angenommen, aber, kaum entstanden, noch im Werden begriffen, noch nicht fehlerfrei ausgebildet worden ist. Seine Aufgabe und Bestimmung ist, den wichtigern, im Lande sich entwickelnden Zweigen der Industrie den inneren Markt durch Zollsätze zu sichern, welche die wohlfeilen Preise ausländischer Fabrikate so weit erhöhen, daß sie die einheimischen nicht von dem Markte verdrängen. Durch das Schutzsystem soll einer Nation die Möglichkeit gegeben werden, eine starke, ausgedehnte Industrie ins Leben zu rufen, welche zugleich eine wesentliche Bedingung des Wohlstandes und der Macht der Staaten ist."18 Sicher sind Meyers Weilar er Erfahrungen in eine solche Einschätzung: mit eingegangen. Soviel zu Boyneburgs Hinweis auf die unglücklichen deutschen Handelsverhältnisse. Als ein subjektives Hemmnis f ü r die Entwicklung der Gewerbs- und Hülfsanstalt führte er an: „Hiezu kam noch, daß der Direktor durch einen unglücklichen Zufall beim Bereiten der Bleich-Chlorien dermaßen an der Lunge beschädigt wurde, daß er sechs Monate damit hart zu kämpfen hatte und ich daher nicht zugeben konnte, sein einmal geschwächtes Organ irgend hiöbei einer in solchem Zustande nicht mehr unschädlichen Einwürkung aussetzen zu lassen." Eine weitere, von Meyer ausgehende subjektive Gefahr f ü r das Unternehmen erwähnte Boyneburg allerdings nicht: Der Direktor konnte es nicht unterlassen, zur Aufstockimg des Kapitals der Anstalt Spekulationsgeschäfte in Salpeter, Reis, Hopfen usw. zu wagen, die anfangs günstig waren, später aber fehlschlugen. Schließlich erkannte Meyer, daß es wichtig sei, sich „den Wechselfällen der Ereignisse, denen der große Kaufmann, sei er auch klüger als Fugger und Rothschild, stets ausgesetzt ist, unter keinen Umständen wieder preiszugeben oder einen Dritten dazu zu veranlassen". 19 Er betrieb nie wieder Börsengeschäfte. Boyneburg, der deutlich genug sagte, daß seine „individuelle K r a f t nicht auslangen würde", den „Nahrungszustand einer großen Anzahl tätiger Familien - Untertanen Ew. Königlichen Hoheit - wieder zu verbessern", gewann f ü r seinen Notruf in letzter Stunde wahrscheinlich noch nicht einmal „huldvolles 17 18

19

MEW, Bd. 4, S. 58-61. Meyefs Conversations-Lexicon, 2. Abt., 15. Bd., Hildburghausen/Amsterdam/Paris/ Philadelphia 1852, S. 929. Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 24.

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Gerhard Steiner

Interesse". Das kleine Land Sachsen-Weimar-Eisenach, das seit dem 5. Mai 1816 eine der besten Verfassungen in Deutschland hatte, w a r a r g in finanziellen Nöten. Das N o t j a h r 1816/17 w a r in dem weitgehend aiuf der Landwirtschaft basierenden Staat noch nicht überwunden, die oben gekennzeichnete Ohnmacht der kleinstaatlichen Handelspolitik u n d die Abneigung des Großherzogs, sich a n P r e u ß e n wirtschaftlich anzuschließen, beeinträchtigten allgemein - wie es am Weilarer Beispiel deutlich w u r d e - das Gewerbe u n d d e n Handel, u n d alles w i r k t e sich auf die Staatsfinanzen aus. Ein rechtes Unglücksjahr w a r das J a h r 1823 nicht n u r f ü r die H a n d w e r k e r u n d Arbeiter von Weilar und Umgebung, sondern auch f ü r Joseph Meyer selbst. Im J u n i starb in Gotha sein Vater, ohne seinen Sohn wiedergesehen zu haben, in U n f r i e d e n mit ihm. Es zeugt von der damals schon sichtbaren, später bis z u r Perfektion entwickelten A r b e i t s k r a f t u n d Vielseitigkeit Meyers, daß er in diesem ungünstigen J a h r neben seinem unermüdlichen, von Boyneburg bestätigten Wirken zur Rettung der Anstalt u n d den durch die „Weilarer Pest" ausgelösten Kämpfen, neben Arbeiten an einer englischen G r a m m a t i k und seiner eigenen nie aussetzenden Weiterbildung noch Zeit fand, sich mit einer aktuellen, die Staatsfinanzen betreffenden Angelegenheit zu beschäftigen und eine volkswirtschaftliche A b h a n d lung zu verfassen. Im Weimarer Parlament w a r im F r ü h j a h r 1823 eine Diskussion ü b e r die Einf ü h r u n g d e s Papiergeldes entstanden. Anlaß w a r ein 21 Seiten umfassendes mehrteiliges Memorandum des Landtagsmitglieds Carl Burkhardt, der als K a u f m a n n in Apolda d e m Drittel der bürgerlichen Abgeordneten angehörte. Kern dieses Memorandums w a r ein Plan mit zwei Versionen: „Zu einer jährlichen Zinsen-Ersparnis von 50 Tausend Thalern u n d der dadurch möglichen Tilgung von drei Millionen Thaler (!) Staatsschulden, innerhalb dreyßig Jahren." 2 0 Darin wird vorgeschlagen, Obligationen, „in passende S u m m e n abgeteilt", herauszugeben in der „Form des Papiergeldes", dessen E i n f ü h r u n g e n t w e d e r in dem einen Plan auf den allgemeinen Staatskredit oder in dem anderen auf den Kredit der Privatgrundeigner gegründet w e r d e n sollte. Die Debatte u m die E i n f ü h r u n g des Papiergelds in Sachsen-Weimar-Eisenach h a t t e eine Vorgeschichte. Bereits 1777 hatte der damalige Kammerpräsident J o h a n n August von Kalb (1747-1814) vorgeschlagen, mit der Errichtung einer Leihbank in Weimar ein Papiergeldsystem f ü r das Herzogtum einzuführen. Man w a r aber allgemein der Ansicht gewesen, d a ß sich dies System wohl in größeren Staaten bewährt habe, es aber aus dem kleinen kreditarmen Land das bare Geld vertreiben würde. Jedoch h a t t e 33 J a h r e später, im J a h r e 1810, Carl August die Ausgabe von Papiergeld f ü r ein Mittel gehalten, die Landesfinanzen aufzubessern. Den Optimismus des Herzogs, daß die Bevölkerung des Staates dem Papiergeld n u n das nötige V e r t r a u e n entgegenbringen werde, h a t t e n seine Beamten jedoch nicht geteilt u n d den Herzog mit einer Reihe von G r ü n d e n überzeugt. Goethe, der nach Kalbs Entlassung 1782 dessen Nachfolger in der K a m m e r geworden war, mochte durch die A b f u h r , die Kalb in der Papiergeld20

Staatsarchiv Weimar. Landtag 90, S. 13—34.

Joseph Meyer

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frage erfahren hatte, eine Aversion gegen das Papiergeld entwickelt haben, die er nie verlor und die während der Französischen Revolution durch die berüchtigte Assignatenwirtschaft mit ihren ungünstigen wirtschaftlichen Folgen noch verstärkt worden ist.21 Poetisch brachte er seine Gegnerschaft zum Papiergeld dadurch zum Ausdruck, daß er in „Faust II" - wie Eckermann schreibt - „das Papiergeld von Mephistopheles herleitet und dadurch das Hauptinteresse des Tages so bedeutend verknüpft und verewigt".22 Zu seinein Urteil stand Goethe also noch 1830. So gehörte er auch zu denen, die den Burkhardtschen Plan ablehnten. In der Sitzung vom 13. März 1823 beschloß der Landtag den Abdruck der Pläne und deren Beratung, nachdem man sie „beim Lesen durch ernstes Nachforschen genauer habe prüfen können".23 In der Sitzung vom 17. Mai lobte man „den Scharfsinn des Verfassers und seine vaterländische Gesinnung", entsprach aber in der Mehrheit ohne Diskussion, auf Grund einer ablehnenden Denkschrift des Jenaer „Professors Schulz"24, der Ansicht des Landtagsausschusses, die Pläne den großherzoglichen Staatsbehörden zur weiteren Prüfung zu übergeben. Die prekäre Situation des Landesetats, hieß es, erfordere, nichts Neues zu versuchen, „weil das Streben, Gefahren vorzubeugen, leicht Gefahren bringen könne". Besonders die Einführung eines Papiergeldes scheint, „wenn sie ohne Gefahr sein soll, eine so tiefe Kenntnis aller Verhältnisse der Gesellschaft in sich selbst und des Staates zu anderen Staaten, eine so feine Berechnung der Größe und Lage des Staates, der Grenzen und der Natur des Landes, des Verkehrs im Innern und mit Fremden vorauszusetzen, . . . daß nur selten j e m a n d . . . im Stande sein möchte, ohne Bedenklichkeit für eine solche Einführung zu stimmen". Im Hintergrund stand also das unbewältigte Verhältnis zu dem preußischen Zollsystem. Damit war die Einsicht in die Unfähigkeit der feudalen Bürokratie verknüpft, die es erschwerte, die komplizierter gewordenen ökonomischen Verhältnisse zu überschauen und in den Griff zu bekommen. Das geht u. a. aus der Anekdote hervor, die er während der Revolution in Gotha erlebte und im Februar 1830 erzählte: Baron von Grimm habe sich in Paris ein Paar Spitzenmanschetten für zweimal hundertfünfzigtausend Franken gekauft und sei noch glücklich gewesen, seine Assignaten gut angebracht zu haben. (Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe. Hrsg. von Fritz Bergemann, Leipzig 1968, S. 644.) 22 Ebenda, S. 345. •23 Verhandlungen des zu Weimar am 9. März 1823 eröffneten und am 25. May 1823 geendigten dritten Landtags im Großherzogthume Sachsen-Weimar-Eisenach. Hrsg. von den dazu beauftragten Landtags-Mitgliedern, Weimar 1823, S. 24, die folg. Anführungen S. 394 ff. 2'' So in den ebengenannten Akten. Es ist der Jenaer Professor Friedrich Gottlob Schulze (1795—1860) gemeint, damals Nationalökonom, später als Landwirtschaftler hervorgetreten. Das Manuskript der Schrift liegt den Akten im Staatsarchiv Weimar wohl deshalb nicht bei, weil es von Schulze veröffentlicht wurde: Über Papiergeld, besonders in Bezug auf das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach oder Beurteilung zweier Pläne, welche für die Tilgung der Staatsschuld des Großherzogthums Sachsen-Weimar-Eisenach der hohen Versammlung des Landes vorgelegt worden sind, Leipzig 1824. Schulze vertrat den Standpunkt, daß das Großherzogtum eine Million Taler Papiergeld nicht aufnehmen kann. 21

2 Jahrbuch 18

18

Gerhard Steiner

Diese Situation fand Meyers starkes ökonomisches Interesse. Er schrieb eine Abhandlung „Über die Einführung des Papiergeldes in das Großherzogtum Weimar, mit besonderer Beziehung auf die dem Landtage jetzt vorliegenden Burkhardtschen Pläne 1823" und brachte sie anonym in der Kesselringschen Buchhandlung in Hildburghausen an die Öffentlichkeit.25 Darin plädierte er auf Grund seiner Erfahrungen in England für die Einführung des Papiergeldes, die er vermutlich zollgesetzlich untermauert hatte, und er war davon überzeugt, daß er recht behalten werde, wenn er das auch in der „Zueignung an die kritikfähigen Leser" als Wunsch formulierte: „Möge, was ich als wahr mir dachte, von euch verständig geprüft - als Wahrheit bestehen!" Es ist anzunehmen, daß Meyer in dieser Schrift bereits die Ansicht vertrat, die 1844 in dem Artikel „Bank" seines „Großen Conversations-Lexicons" eingehend dargestellt wird. Dort wird die Einrichtung einer staatlichen „Zettelbank" vertreten, der private „Zettelbanken" zur Seite treten können. „Sie dienen, sobald sie Zettel ausgeben, dazu, die Menge der Umlaufsmittel in einem Lande zu vermehren, wenn es daran fehlt, oder ihm, wenn ein ausreichender Vorrat davon vorhanden, das kostspieligere und teuerere Umlaufsmittel, die Metallmünze, zu ersparen. Sobald eine Bank sich eines vollständigen Kredits erfreut, ist dem Handel ihre Note lieber als bares Geld, weil man sie leicht, fast ohne Kosten, versenden, auf Reisen unbemerkt große Summen mit sich führen kann usw. Sie hat folglich allgemeine Gerngültigkeit und wird . . . ohne den geringsten Nachteil ein gewöhnliches und allgemeines Zahlungsmittel bilden." Weiter wird nachgewiesen, daß die Zettelbanken aber auch dazu dienen, „die Operationen des Handels und der Industrie direkt zu unterstützen". Nachteile des Zettelbanksystems, so wird betont, beruhen nur auf seinem Mißbrauch. Erst im Februar 1848 beschloß die Weimarer Staatsregierung mit ständischer Zustimmung, „daß für das Großherzogtum ein Papiergeld . . . angefertigt und in Umlauf gebracht werden soll".26 Das Schicksal des Meyer-Boyenburgschen Unternehmens teilte das manch anderer wohlgemeinter gewerblicher Anstrengungen, für das die Zeit noch nicht reif war, weil die kapitalistische Entwicklung noch in den Kinderschuhen steckte. Das galt zum Beispiel auch für Goethes Streben, den Ilmenauer Bergbau zu beleben. Während seine Bemühungen da und dort recht wohlwollend als erfolgreich bezeichnet werden, scheint es mir berechtigt, den Erfolg in Ilmenau als viel zu gering einzuschätzen, weil er nicht der Mühe Goethes und seiner Mitarbeiter und allem Geldaufwand entsprach.27 Wenn auch, wie Goethe meinte, ein gewisser „Obergang vom Handwerk zum Maschinenwerk"28 erreicht worden 25

26 27

28

Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 27. Da die gedruckte Schrift nicht auffindbar ist und auch das Manuskript verlorenging, das Hohlfeld noch zur Verfügung stand, sind wir auf dessen karge Äußerungen darüber angewiesen. Meyer's Conversations-Lexicon. 14. Bd., Hildburghausen . . . 1852, S. 1247. Vgl. die aktenmäßige Darstellung von Voigt, Julius, Goethe und Ilmenau, Leipzig 1912. Goethe an Schiller am 29. 8. 1795: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hrsg. von Philipp Stein, Leipzig o. J., S. 127.

Joseph Meyer

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war, so stand doch im Herbst 1796 fest, daß „das Schicksal des Ilmenauer Bergwerks besiegelt" war. 29 Goethe suchte sich über die Ursachen dieses Fehlschlags seiner Anstrengungen klar zu werden und kam zu einer Einsicht, die auch f ü r die Mißerfolge Meyers galt: Goethe meinte, daß dem Ilmenauer Bergbau die Verbindung mit einem umfassenderen Bergbau fehlte: „Eine so wichtige Unternehmung isoliert zu wagen", schrieb er in den Annalen 1794, „war n u r einem jugendlichen, tätig-frohen Ubermut zu verzeihen. Innerhalb eines großen eingerichteten Bergwesens hätte sie sich fruchtbarer fortbilden k ö n n e n . . . " Goethe erkannte sehr richtig, daß die industrielle Entwicklung n u r durch den Zusammenschluß vieler kleiner Betriebe - möglichst über die Kleinstaatgrenzen hinweg - u n d durch starkes Kooperieren vorwärtsgebracht werden konnte. Ein halbes Jahrhundert später sagte Engels: „ . . . gute Kommunikationen herzustellen, wohlfeile Maschinen und Rohstoffe zu bekommen, geschickte Arbeiter zu bilden, dazu gehört ein ganzes industrielles System; dazu gehört das Ineinandergreifen sämtlicher Industriezweige . . ,"30 *Und gleichfalls ein halbes J a h r h u n d e r t später ging Joseph Meyer diesen Weg, indem er seit 1839 von Hildburghausen aus über 50 Bergbauunternehmen, vor allem Eisen-, Kupfer-, Silber-, Steinkohlen-, Braunkohlen-, Kobalt- und Nickelgruben, die über ein weites Gebiet T h ü ringens, Sachsens, Hessens und Frankens verteilt waren, in seiner Hand vereinigte. Zu den Gruben, die Meyer um 1850 zwischen Zwickau und der Rhön, zwischen Saalf eld und Wunsiedel besaß und deren Schätze er z. T. selbst entdeckt hatte, gehörte auch das Kupferbergwerk von Ilmenau, das seit Goethes Bemühungen liegengeblieben war. Meyer verband die Bergbauunternehmen mit einer großen Eisenbahnschienenproduktion und den Projekten eines ganz Deutschland überspannenden Eisenbahnnetzes, über die er sich mit seinem Freunde Friedrich List (1789-1846) besprach. Allerdings waren noch um die Mitte des 19. Jh. die durch die territoriale Zersplitterung Deutschlands immer noch gegebenen Widerstände, die ministeriellen Bürokratien, die Rückständigkeit der deutschen Bourgeoisie mit dem mangelnden Mut zum Finanzieren solcher Objekte, zu groß, als daß ein solches Mammutunternehmen hätte Bestand haben können. Nach Meyers Tod 1856 wurden jedoch sukzessive fast alle seine Pläne realisiert. Die Weilarer Gewerbs- und Hülfsanstalt konnte Meyer durch einige günstige Baumwollgeschäfte noch bis zum Jahresende 1823 am Leben halten, so daß sie schuldenfrei liquidiert werden konnte. So ging das f ü r den jungen Meyer so ereignisreiche J a h r 1823 mit der Auflösung des Unternehmens, u m dessen Bestand er drei harte Jahre lang gekämpft hatte, zu Ende. Boyneburg bescheinigte seinem Direktor, daß er am 1. Januar 1824 alles in bester Ordnung übergeben habe, was die Schuldenfreiheit der Anstalt mit einschließt, u n d schenkte, so gibt Hohlfeld an, Minna Grobe mit der Begründung, er wolle damit seinem ehemaligen Mitarbeiter seine persönliche Achtung erweisen, die von ihm gepfändete Einrichtung der Weilarer Wohnung. „Joseph Meyer selbst erließ er seine persönliche Schuld von 580 Gulden, u m ihm das Fortkommen zu erleich29 30

2*

Voigt, Goethe und Ilmenau, S. 66. MEW, Bd. 4, S. 136.

20

Gerhard

Steiner

tern." 31 Anfang J a n u a r 1824 kehrte Meyer heim nach Gotha, wieder gescheitert, aber nicht gebrochen. Er gründete dort ein wahrscheinlich nur kurzlebiges „Erziehungsinstitut f ü r angehende Kaufleute" 32 und beschloß dann schließlich, sich einer verlegerischen und literaturpropagandistischen Tätigkeit zuzuwenden. Boyneburg hat wohl in dem Bewußtsein, daß er es Meyer schuldig sei, Minna Grobe eine weitere Geldsumme überlassen, denn nach der 1826 erfolgten Gründung des Bibliographischen Institutes erklärte Meyer, der 1825 seine Braut geheiratet hatte, in einem vor der Ratsdeputation in Gotha geschlossenen Eheund Erbvertrag, „daß er nach den 1820 in London und 1823 in Weilar erlittenen Verlusten durchaus kein Vermögen in die Ehe gebracht habe, daß vielmehr sämtliches zusammengebrachtes Vermögen alleiniges Eigentum seiner Ehegenossin sei und außer der von ihren Eltern erhaltenen geringen Mitgift aus einer von Geh.Rat von Boyneburg in Weilar an sie gemachten Schenkung herstamme". 33 ' So w u r d e die tüchtige, aber erfolglose Weilarer Aktivität Joseph Meyers die Grundlage f ü r den erfolgreichen Aufbau des Bibliographischen Institutes mit Minna Meyer als Eigentümerin u n d Mitarbeiterin. 34 31 32

33

34

Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 25. Nach einem Lebenslauf Joseph Meyers vom 21.12.1852, im Besitz des Stadtmuseums Hildburghausen. Human, Armin, Carl Joseph Meyer und das Bibliographische Institut von Hildburghausen — Leipzig, Hildburghausen 1896, S. 10. Uber ihr Wirken berichtet mein Aufsatz „Minna Meyer" in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie, Jg. 1976, H. 62, S. 50-64; H. 63, S. 34-49.

Hartmut Zwahr

Zur Klassenkonstituierung der deutschen Bourgeoisie*

Die Konstituierung der Bourgeoisie als Klasse u m f a ß t drei große Bereiche d e r Klassenentwicklung, die sich wechselseitig durchdringen u n d beeinflussen: die ökonomische Konstituierung als den f ü r die Grundlegung d e r Klasse entscheidenden Vorgang, f e r n e r die soziale sowie die politisch-ideologische Konstituierung. Der in diesem Beitrag vorgestellte Forschungsansatz zielt auf eine ganzheitliche u n d zugleich differenzierte Untersuchung der Herausbildung der sozialen Klasse wie der Stellung u n d Leistung der jeweiligen Fraktion, G r u p p e u n d G r u p p i e r u n g in ihr. Eine solche methodologische Grundlage w u r d e zuerst f ü r die U n t e r suchimg der Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse entwickelt. 1 Sie ist im Prinzip gleichermaßen auf die Bourgeoisie anwendbar, zumal Bourgeoisie u n d Proletariat im Bereich der Produktion in ihrer Genesis dialektisch m i t e i n a n d e r v e r k n ü p f t sind u n d in dieser Bindung aneinander seit der industriellen Revolution die beiden Grundklassen der kapitalistischen Gesellschaftsformation bilden. In einer Rezension zu Thompsons „The making of t h e English w o r k i n g class" b e m e r k t e Kuczynski kritisch, daß der Verfasser die F o r m i e r u n g des Proletariats darstelle, „ohne gleichzeitig das Werden d e r Bourgeoisie zu u n t e r suchen". 2 Das gilt in U m k e h r u n g auch f ü r die Bourgeoisie. In welcher u r sprünglichen Gestalt ihre verschiedenen Elemente auch i m m e r a u f t r a t e n , sie * Als Beitrag im Mai 1977 auf einem Kolloquium des Zentralinstituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR zur Diskussion gestellt. Vgl. ZfG, 1977, H. 11, S. 1367: ferner Becker, Gerhard, Bourgeoisie und bürgerliche Umwälzung in Deutschland 1789 bis 1871, in: ZfG, 1976, H. 3, S. 333. 1

2

Vgl. Zwahr, Hartmut, Die Struktur des sich als Klasse konstituierenden deutschen Proletariats als Gegenstand der historischen Forschung, in: Probleme der Geschichtsmethodologie. Hrsg. von Ernst Engelberg, Berlin 1972, S. 235 ff.; ders., Zur Strukturanalyse der sich konstituierenden deutschen Arbeiterklasse, in: BzG, 1976, H. 4, S. 614 ff.; Bartel, Horst/Laschitza, Annelies/Schmidt, Walter, Reform und Revolution im Ringen um die Konstituierung der Arbeiterklasse, in: ZfG, 1975, H. 6, S. 636. Kuczynski, Jürgen, Einige Überlegungen zur Struktur der Arbeiterklasse in der Zeit der industriellen Revolution anläßlich des Erscheinens von E. P. Thompson» The making of the English working class, in: JbfW, 1965, Teil IV, S. 646.

Hartmut

22

Zwahr

veränderten ihr sozialökonomisches Profil vor allem über den kapitalistischen Produktions-, Ausbeutung^- und Reproduktionsprozeß und damit in direkter Abhängigkeit von der Produktionsleistung der Lohnarbeiter der jeweiligen historischen Periode. Wie in der Produktion, so sind moderne Bourgeoisie und modernes Proletariat auch durch den Klassenkampf strukturell miteinander verknüpft, dem für die Formierung beider Klassen konstitutive Bedeutung zukommt. Über ihn vollzog sich die politisch-ideologische Konstituierung der beiden Klassen (zeitlich in deutlich erkennbarer Phasenverschiebung3): die der Bourgeoisie im Kampf gegen die machtausübende Feudalklasse und erst seit den 30er Jahren des 19. Jh. gegen die junge, aufstrebende Arbeiterklasse, die der Teilnahme an den antifeudalen Auseinandersetzungen in ihrer Frühzeit zwar wesentliche politischideologische Bildungselemente verdankte4, ihre Transformation von einer Klasse an sich zur Klasse für sich selbst5 jedoch im wesentlichen in den ökonomischen, sozialen und politischen Kämpfen mit ihrem Antipoden, der Bourgeoisie, aber auch mit der Klasse der großen kapitalistischen Grundeigentümer in Gestalt der Junker vollzog. Es ist das Ziel dieser Studie, einen methodologischen Ansatz zur komplexen Klassenanalyse der deutschen Bourgeoisie in der bürgerlichen Umwälzung zu gewinnen. Den Untersuchungsgegenstand im engeren Sinne bildet die Genesis der sächsischen Gruppe der großbürgerlichen Vereinbarer, die in der bürgerlichdemokratischen Revolution 1848/49 hervortraten. Wie neuere marxistisch-leninistische Forschungen zur Geschichte der deutschen Bourgeoisie nachwiesen, war die Bourgeoisie Sachsens in der Periode des Heranreifens der bürgerlich-demokratischen Revolution wirtschaftspolitisch in einen freihändlerischen und einen schutzzöllnerischen Flügel gespalten.6 Beide bekämpften sich mit zunehmender Schärfe und brachten im Revolutionsverlauf schließlich mit großbürgerlichen Vereinbarern (vor allem Freihändler) und einer ökonomisch schwächeren, aber keineswegs unbedeutenden Fraktion von Bourgeoisierepublikanern (Schutzzöllner) ihre jeweils entschiedensten politischen Gruppierungen hervor. Der äußersten Rechten stand sonach eine bourgeoisie Linke gegenüber. Weiterführende Untersuchungen werden zu klären haben, ob es sich dabei nur 3

Vgl. Klassenkampf,

Tradition,

Sozialismus.

Von den A n f ä n g e n der Geschichte des

deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß, Berlin 1974, S. 203 ff., 223 ff. 4

Dazu

Marx,

Karl/Engels,

Friedrich,

Manifest

der

Kommunistischen

Partei,

in:

M E W , Bd. 4, S. 471. 5

Marx,

6

Zwahr,

Karl, Das Elend der Philosophie, in: Ebenda, S. 181. Annette,

Zur Politik der Bourgeoisie in Sachsen von Februar bis September

1848, in: Bourgeoisie

und bürgerliche

Umwälzung

in Deutschland

1789-1871. Hrsg.

von Helmut Bleiber, Berlin 1977, S. 331 f£. Dieser Studie sowie einer noch ungedruckten Arbeit der Verfasserin verdanke ich die Kenntnis wesentlicher und Zusammenhänge zur Politik der Bourgeoisie Sachsens

1848. -

Zum

des von M a r x und Engels geprägten Begriffs „Vereinbarer" vgl. Marx, Bourgeoisie und die Kontrerevolution, in: M E W , Bd. 6, S. 102.

Fakten Inhalt

Karl,

Die

Zur Klassenanalyse der Bourgeoisie

23

u m einen regionalen Sonderfall in einem der ökonomisch fortgeschrittensten deutschen Länder oder vielmehr um eine für die Entwicklung der deutschen Bourgeoisie im Verlauf der bürgerlichen Umwälzung überhaupt typische Erscheinung handelte. 7 Daß es um ein generelles Problem geht, dafür sprechen nicht zuletzt einige Hinweise, die sich bei Marx finden, so wenn er schreibt, die Bourgeoisie befinde sich in einem „fortwährenden Kampfe: anfangs gegen die Aristokratie; später gegen die Teile der Bourgeoisie selbst, deren Interessen mit dem Fortschritt der Industrie in Widerspruch geraten". 8 Und in der Märzansprache des Bundes der Kommunisten vom März 1850 zählten Marx und Engels zur sogenannten demokratischen Partei nicht nur die demokratischkonstitutionellen sowie republikanischen Kleinbürger, sondern an erster Stelle die „fortgeschrittensten Teile der großen Bourgeoisie, die den sofortigen vollständigen Sturz des Feudalismus und Absolutismus als Ziel verfolgen". 9 Die Bourgeoisrepublikaner in Sachsen waren eine solche Gruppierung, auf die die These vom Verrat der deutschen Bourgeoisie an der Revolution 1848/49 nicht zutrifft. 10 Wie die Antwort auf die oben gestellte Frage im einzelnen auch ausfallen mag, es gilt, den Forschungsgegenstand differenzierter als bisher zu betrachten. 11 Dazu gehören auch eingehende Untersuchungen zur konkret-historischen 7

Als historische Parallele siehe die Formierung der „republikanischen Fraktion der Bourgeoisie" bzw. der „bourgeois-republikanischen Fraktion" im Frankreich nach 1830. Vgl. dazu Marx, Karl, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, in: MEW, Bd. 7, S. 35 f. — Daß die deutschen Schutzzöllner zur demokratischen Bewegung tendierten, deutete sich auch bei dem Berliner Bankier und Freihändler Beer an, wenn er schreibt: „Das Geschrei nach Absperrung gegen das Ausland, nach hohen Schutzzöllen ist von daher am stärksten, wo die meisten demokratischen Elemente vorhanden sind, die Industrie bemeistert sich dort unfehlbar der Presse, und es fehlt nie an hochtönenden Worten, um dem Verlangen nach illiberalen Maßregeln das Gewand des Patriotismus umzuhängen." Beer, Wilhelm, Die Gefahren der Differential-Zölle und der Revision des Zoll-Tarifs. Gutachten für das ÄltestenCollegium der Berliner Kaufmannschaft, Berlin 1848, S. 46. 8 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 471. '' Dies., Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: MEW, Bd. 7, S. 246. 10 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Annette Zwahr auf dem Kolloquium anläßlich des 70. Geburtstages von Karl Obermann. Becker, Bourgeoisie und bürgerliche Umwälzung, S. 333. - „Es ist zu bezweifeln, ob es richtig ist, die Bourgeoisie 1848 uneingeschränkt und undifferenziert als konterrevolutionär anzusehen." Ders., Zur Rolle der preußischen Bourgeoisie nach der Märzrevolution 1848, in: ZfG, 1976, H. 2, S. 186. 11 Vgl. ebenda, S. 168 f., die Forderung nach Untersuchung der „inneren Struktur, der quantitativen und qualitativen Schichtung der Bourgeoisie sowie ihrer regionalen Verteilung in der Mitte des 19. Jh.". Beckers kritischer Bemerkung, daß im allgemeinen meist „von der Bourgeoisie" gesprochen werde, obwohl dies „eine gewisse Vereinfachung" sei, ist ebenso zuzustimmen wie der daraus abgeleiteten allgemeinen Überlegung: „Es gab Fraktionen, obere, untere und mittlere Schichten der Bourgeoisie, was manchmal außer Betracht gelassen wird" (ebenda, S. 168). —

24

Hartmut

Zwahr

Gliederung der Bourgeoisie in ihre verschiedenen Abteilungen, Fraktionen und Gruppierungen unter Berücksichtigung auch der territorialstaatlichen und anderen Entwicklungsbedingungen dieser Klasse. In diesem Zusammenhang sei an eine Bemerkung von Marx zu einem Geschichtswerk von A. Thierry über die Konstituierung der französischen Bourgeoisie erinnert: „Aus seiner Darstellung schön nachzuweisen, wie die Klasse aufkömmt, indem die verschiedenen Formen, in denen sie zu verschiedenen Zeiten ihren Schwerpunkt liegen hat, Eine dem Aufsatz von Hoffmann, Hildegard/Mittenzwei, Ingrid, Die Stellung des Bürgertums in der deutschen Feudalgesellschaft von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1789, in: ZfG, 1974, H. 2, S. 190ff., vergleichbare differenzierte Sicht der Problematik fehlt für die Zeit der bürgerlichen Umwälzung. Vgl. auch Mittenzwei, Ingrid, Zur Klassenentwicklung des Handels- und Manufakturbürgertums in den deutschen Territorialstaaten, in: ZfG, 1975, H. 2, S. 179 ff.; Forberger, Rudolf, Forschungen zur Entwicklung des Kapitalismus im 18. Jahrhundert. Bemerkungen zu Hildegard Hoffmann, Handwerk und Manufaktur in Preußen 1769 (Das Taschenbuch Knyphausen), in: JbfW, 1972, Teil III, S. 233 ff. - Den neuesten Forschungsstand zur Gesamtthematik untersucht Bleiber, Helmut, Bourgeoisie und bürgerliche Umwälzung in Deutschland. Zum Stand und zu Problemen der Forschung, in: ZfG, 1977, H. 3, S. 305 ff. - Gründliche Studien über die Bourgeoispolitik in den verschiedenen Etappen der bürgerlichen Umwälzung forderte Schmidt in einem ersten wesentlichen Aufsatz zu dieser Thematik; vgl. Schmidt, Walter, Zur Rolle der Bourgeoisie in den bürgerlichen Revolutionen von 1789 und 1848, in: ZfG, 1973, H. 3, S. 303. Den Forschungsstand bis 1970 referieren Bleiber, Helmut/Schmidt, Walter, Forschungen zur Geschichte der Revolution von 1848/49, in: Historische Forschungen in der DDR 1960-1970. Analysen und Berichte, 1970, Sonderb., S. 425 f.: „Über die Geschichte der Bourgeoisie in der Revolutionszeit fehlen gediegene Untersuchungen, ein Umstand, der angesichts der entscheidenden Bedeutung, die das Verhalten der Bourgeoisie für das Schicksal der Revolution hatte, besonders schwer wiegt." - Wichtige Aussagen zu Strategie und Taktik der großbürgerlichen Vereinbarer 1848/49 bietet die Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution 1848/49, Berlin 1973. Zum Forschungsstand vgl. ferner Scheel, Heinrich/Adameck, Horst u.a., Forschungen zur deutschen Geschichte 1789—1848, in: Historische Forschungen in der DDR 1960—1970, S. 380 ff. — Eine differenziertere Sicht der Bourgeoisproblematik lassen erkennen Mottek, Hans, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 2, Berlin 1964; Wutzmer, Heinz, Die Herkunft der industriellen Bourgeoisie Preußens in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Mottek/Blumberg/Wutzmer/Becker, Studien zur Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland, Berlin 1960, S. 145 ff.; Zeise, Roland, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der politischen Konzeption der deutschen Handels-, Industrieund Bankbourgeoisie in der politischen Krise von 1859 bis 1866, in: JfG, Bd. 10, 1974, S. 175 ff.; ders., Zur Rolle der kapitalistischen Interessenverbände beim Abschluß der bürgerlichen Umwälzung in den deutschen Staaten, in: Ebenda, Bd. 14, 1976, S. 125 ff. — Die sich anbahnenden gemeinsamen Klasseninteressen zwischen großgrundbesitzendem Adel und Teilen der Bourgeoisie verdeutlichen Kubitschek, Helmut, Zum Verhältnis von Ökonomie und Politik in den Auseinandersetzungen zwischen Bourgeoisie und Junkertum im vormärzlichen Preußen 1840—1847. Wirtschaftswiss. Diss., Berlin 1961; Eichholtz, Dietrich, Junker und Bourgeoisie vor 1848 in der preußischen Eisenbahngeschichte, Berlin 1961.

Zur Klassenanalyse der Bourgeoisie

25

u n d die verschiedenen Fraktionen, die durch diese F o r m e n Einfluß gewinnen, kaputtgehn. Diese Folge von Metamorphosen, bis es zur Herrschaft der Klasse kömmt.. Die historisch-materialistische Methode erfordert, die soziale Klasse in der K o m plexität i h r e r ökonomischen, sozialen u n d politisch-ideologischen Konstituierung u n d weiteren F o r m i e r u n g zu untersuchen. Erst auf dieser Grundlage w i r d es möglich sein, die Wechselbeziehungen zwischen diesen drei grundlegenden Seiten der Klassenentwicklung zu erfassen u n d den bestimmenden Z u s a m m e n hang von Ökonomie u n d Politik auch im Entwicklungsgang d e r deutschen Bourgeoisie w ä h r e n d d e r bürgerlichen Umwälzung allseitig aufzudecken u n d d a r zustellen. Die vorliegende Studie greift einige grundsätzliche Fragen d e r Klassenanalyse der deutschen Bourgeoisie in der bürgerlichen Umwälzung auf. Sie versucht, jenen Bourgeoistyp in seiner ökonomischen, sozialen u n d politisch-ideologischen Entwicklung n ä h e r zu bestimmen, der im Revolutionsverlauf 1848/49 die entschiedensten Verfechter d e r Vereinbarungspolitik mit K r o n e und Adel hervorbrachte. Wir bedienen u n s zunächst der biographischen Methode, u m einen Ausgangspunkt f ü r eine solche Untersuchung zu gewinnen, u n d begrenzen diese auf Sachsen, das im Vormärz neben der preußischen Rheinprovinz sozialökonomisch fortgeschrittenste deutsche Wirtschaftsterritorium, dessen industriekapitalistische Entwicklung im Textilgewerbe schon an der Wende vom 18. zum 19. Jh. einsetzte, w ä h r e n d die bürgerliche Umwälzung im Agrarbereich erst im Gefolge der Auswirkungen der französischen Julirevolution von 1830 in Gang gesetzt worden ist. 13 Als Schlüsselfiguren f ü r eine vergleichende Untersuchung 12

13

Marx an Engels, 27. 7.1854, in: MEW, Bd. 28, S. 382. Als beeindruckendes Beispiel differenzierter Bourgeoisanalyse siehe Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, S. 12 ff.; vgl. die Anwendung des Begriffs „Bourgeoisfraktion" in der Gegenüberstellung von „Finanzaristokratie" und „eigentlich industrielle Bourgeoisie", ebenda, S. 12. Wesentliche Ausgangspunkte zu differenzierter Klassenanalyse bieten Kossok, Manfred/Markov, Walter, Zur Methodologie der vergleichenden Revolutionsgeschichte der Neuzeit, in: Studien zur vergleichenden Revolutionsgeschichte 1500 bis 1917. Hrsg. von Manfred Kossok, Berlin 1974, S. 1 ff.; Küttler, Wolfgang, Zum Begriff der bürgerlichen und bürgerlich-demokratischen Revolution bei Lenin, in: Ebenda, S. 180 ff. Dazu Forberger, Rudolf, Zur Wandlung der gewerblichen Betriebsweise Sachsens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Übergang von der Manufaktur zur Fabrik im Textilgewerbe, in: Probleme der Ökonomie und Politik in den Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1960; Groß, Rainer, Die bürgerliche Agrarreform in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Untersuchung zum Problem des Ubergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in der Landwirtschaft, Weimar 1968. - In Fabrik- und Manufakturwesen einschließlich Berg- und Hüttenbau werde „Sachsens Vorrang vor anderen deutschen Staaten" in Relation zu Bevölkerungszahl und Größe des Territoriums „allgemein anerkannt". Nach Meinung eines kenntnisreichen Zeitgenossen stand es darin nur England nach. Vgl. Schiffner, Albert, Beschreibung von Sachsen und der Ernestinischen, Reußischen und Schwarzburgischen Lande, 2. durch Nachträge berichtigte Ausgabe, Dresden 1845, S. 83.

26

Hartmut Zwahr

erweisen sich die großbürgerlichen Abgeordneten der II. K a m m e r des a u ß e r ordentlichen Landtags im Königreich Sachsen 1848 sowie (in Klammer) deren Stellvertreter: der G r o ß k a u f m a n n , Handlungsdeputierte, Industrielle u n d Bankier Gustav H a r k o r t (Bankier Wilhelm Theodor Seyfferth) als Vertreter des Handels- u n d Fabrikwesens im 2. Wahlbezirk; der königlich-sächsische Appellationsrat am Appellationsgericht Dr. Carl Heinrich Haase (Stadtrat Dr. Robert Julius Vollsack); der Buchhändler Heinrich Brockhaus (Stadtrat Georg Friedrich Fleischer, Buchhändler, Vorsitzender des Vereins der deutschen Buchhändler) als Abgeordnete der Stadt Leipzig, Dr. Theodor Alexander Platzmann, Leipzig, nichtadliger Rittergutsbesitzer auf Hohnstädt bei Grimma, als Stellvertreter f ü r den Großherzoglich sächsischen K a m m e r h e r r n Ludwig Wilhelm Ferdinand v. Beschwitz auf Arnsdorf. 1 4 Biographische u n d andere Angaben zu dieser großbürgerlichen Personengruppe bietet Tabelle 1. Die vorhegende Studie bleibt thematisch nicht auf Sachsen beschränkt. Allein schon territoriale wie soziale H e r k u n f t und Familienbeziehungen weisen bei bedeutenden Vertretern dieser Bourgeoisfraktion weit über die f ü h r e n d e deutsche Messestadt Leipzig u n d Sachsen hinaus. Andererseits bildete Leipzig einen Konzentrationspunkt der Klassenentwicklung der deutschen Bourgeoisie von nationaler Bedeutung, u n d dies sowohl durch seine j a h r h u n d e r t e a l t e herausragende Messefunktion, seine Stellung als Universitätsstaidt als auch als S t a n d o r t von großen Handelsunternehmen, Banken, Versicherungsgesellschaften, von Fabriken 1 5 u n d M a n u f a k t u r e n . I. ökonomische u n d soziale Konstituierung einer Klasse sind besonders eng m i t einander verbunden. Doch gegenwärtig gehört die Ausprägung von sozialen Merkmalen u n d der a n sie g e k n ü p f t e n sozialen Beziehungen 1 6 zu d e n noch wenig v

> Vgl. Mitteilungen über die Verhandlungen des außerordentlichen Landtags im Jahre 1848, Nr. 1: Allgemeine, die Ständeversammlung betreffende Nachrichten, Dresden, 21. Mai 1848, S. 11 ff. 13 Dazu Schumann, Egon, Die Herausbildung der Fabriken in Leipzig. Phil. Diss., Leipzig 1971; ders., Leipziger Fabrikgründungen von 1830 bis 1871. Ein Beitrag zur Geschichte der industriellen Revolution in der Messestadt, in: Arbeitsberichte zur Geschichte der Stadt Leipzig. Hrsg. vom Stadtarchiv Leipzig, 1972, H. 2, S. 14 ff.; Zwahr, Hartmut, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Phil. Diss. B, Leipzig 1974, S. 29 ff. Buchveröffentlichung Berlin 1978. 115 Zur Abgrenzung der Begriffe „Soziales" und „Gesellschaftliches" vgl. Handke, Horst, Klassen-Schichten-Sozialstruktur, in: JbfW, 1975, T. I, S. 145 f. Wir folgen der Begriffsbestimmung im engeren Sinne und verstehen die sozialen Verhältnisse und Beziehungen als Verbindungsglieder zwischen ökonomischen und politischen Verhältnissen. — Siehe vergleichend die Fragestellung zur sozialen Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse bei Zwahr, Hartmut, Die Entwicklung proletarischer Gemeinschaftsbeziehungen im Prozeß der sozialen Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse, in: JfG, Bd. 13, 1975, S. 203 ff.

Zur Klassenanalyse der Bourgeoisie

27

erforschten Seiten der Klassenentwicklung. Das gilt sowohl f ü r die deutsche Bourgeoisie als auch f ü r das deutsche Proletariat. Die soziale Konstituierung der Klasse der Bourgeoisie wie ihrer jeweiligen Klassenelemente schließt u . E . unter anderem folgende Entwicklungen ein: 1. Die Entstehung von Bourgeoisfamilien und der ihnen entsprechenden Familienbeziehungen. 2. Das Entstehen von Heirats- und Herkunftsbeziehungen innerhalb der verschiedenen Bourgeoisfraktionen und zwischen ihnen (einschließlich d e r bürgerlichen Intelligenz), ferner zwischen Bourgeoisie und Junkerklasse (Klasse der kapitalistischen Grundeigentümer), Bourgeoisie und Staatsbürokratie bürgerlicher Herkunft (schon im Absolutismus nachweisbar) sowie adliger Herkunft (vor allem im Verlauf der bürgerlichen Umwälzung); Herstellung stabiler bourgeoiser Gemeinschafts- und schließlich Klassenbeziehungen. 3. Die Herausbildung einer geborenen (erblichen) Bourgeoisie. 4. Die Erringung einer der eigenen ökonomischen Macht entsprechenden gesellschaftlichen Stellung und Lebensweise, eines ihr gemäßen Selbstverständnisses und dessen soziale Manifestation in allen Lebensbereichen. 5. Die betonte soziale Abgrenzung und Abschließung gegenüber dem werktätigen Volk bis hin zur gesellschaftlichen Ächtimg jener Mitglieder bourgeoiser Familien, die beispielsweise Heirats- u n d Familienbeziehungen zum Kleinbürgertum und zu anderen Schichten des Volkes knüpften. 1 7 Die Analyse beginnt mit Aussagen zur ökonomischen und sozialen Genesis der genannten Bourgeoisfraktion (Tabelle 1). Deren hervorragende gesellschaftliche Stellung beruhte wesentlich auf der ökonomischen und sozialen Konstituierung der vorangegangenen Bourgeoisgenerationen. So fand der geborene Bourgeois schon entscheidende Startbedingungen f ü r eine Unternehmerlaufbahn vor, die sich aus der Stellung der Familie ergaben, in die er hineingeboren wurde. Deshalb machte es sich notwendig, auch familiengeschichtliche Zusammenhänge zu beleuchten. Ohne sie bleiben wesentliche gesellschaftliche Beziehungen im Dunkel. Löst m a n die Genealogie aus dem engen Rahmen der vorwiegend individuellen Familiengeschichtsforschung und konzentriert sie auf die Untersuchung eines bestimmten sozialen Typus, bestimmter sozialer und politischer Gruppen und damit auf gewichtige Forschungsfragen, so sind wesentliche Aufschlüsse zu erwarten. Sie sind durchaus geeignet, unsere Kenntnis über die Konstituierung der Bourgeoisie als Klasse wie über deren weitere Formierung zu bereichern. Abschnitt II der Studie ist der Darstellung der unmittelbaren ökonomischen Konstituierung der genannten Bourgeoisfraktion und der Untersuchung ihrer verschiedenen ökonomischen Betätigungsfelder gewidmet, Abschnitt III den Grundlinien u n d -zusammenhängen ihrer politisch-ideologischen Konstituierung. 17

Vgl. als typischen Einzelfall das Schicksal von Eduard Harkort (geb. 1797), einem Bruder von Gustav Harkort. Seine Mutter enterbte ihn 1837 wegen seiner „törichten und gesetzwidrigen Heirat mit der Witwe Kornemann, geb. Reuter", der nachgelassenen Frau eines Zimmermanns. Vgl. Köllmann, Wollgang, Friedrich Harkort, Bd. 1: 1793—1838. (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 27), Düsseldorf 1964, S. 51.

1863

1865

1872

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Biegert,

Kapitalismus,

S. 205.

System, S. 957.

System.

Hans

H.,

Industrielles

System und politische Entwicklung in

Weimarer Republik, in: I W K , Jg. 9, 1973, H. 19/20; Auerbach,

Hans,

der

Industrielles

System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte f ü r Zeitgeschichte, Jg. 22, 1973, H. 3. 117

Flemming,

Jens/Krohn,

Klaus-Dieter/Stegmann,

Dirk,

wußtsein, in: Frankfurter Rundschau, 23. 6. 1973, S. 18. 118

Auerbach, S. 354.

1,9

Biegert, S. 182.

Geschärftes

Problembe-

.Organisierter Kapitalismus"

367

bringen. Dabei werden Probleme angeschnitten, die von der Sache her teilweise die von bourgeoisen Klasseninteressen gezogenen Grenzen historischer F o r schung und erst recht geschichtlicher Erkenntnis berühren. Sie betreffen neben sekundären Fragen z. B. die sozialen und politischen Auswirkungen monopolistischer Konzentration, die Formen, den Grad und die Auswirkungen der Einflußnahme der Monopole und ihrer Verbände auf staatspolitische Entscheidungen, den Inhalt und die Folgen staatsmonopolistischer „Interventionen" insbesondere auf wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischem Gebiet während der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus sowie zur Bewältigung der Wirtschaftskrise, die reformistische Politik der SPD und vor allem der von ihr beeinflußten Gewerkschaften unter dem Gesichtspunkt „aktiver Integration" der Arbeiterbewegung in den imperialistischen Staat bis hin zur Erörterung der ökonomischen und politischen Bezüge von imperialistischer Partnerschaft und Rivalität im internationalen Rahmen. Die in Bochum vorgelegten Forschungsergebnisse offenbaren jedoch zugleich ein beklagtes „kritisches methodologisches Fazit" 1 2 0 und den Mangel an einer für die genannten Zwecke tragfähigen „spezifischen Forschungsstrategie", die offenbar einerseits zu weitgehende Enthüllungen vermeiden könnten und andererseits - so H. Mommsen - „einen längerfristigen Zugang zu den sozialökonomischen und den damit verknüpften politischen Problemen der Weimarer Republik" eröffnen und ermöglichen sollen, um (in letztlich apologetischer Absicht) „auch unsere G e g e n w a r t . . . besser zu verstehen und den Modellcharakter der Weimarer Republik für die Probleme der gegenwärtigen Industriegesellschaft stärker in den Griff zu bekommen". 121 Ohne es über den charakterisierten Rahmen hinaus auszubauen oder auf die genannten Probleme der Weimarer Republik konkret anzuwenden, boten Kocka und Winkler - u. a. den Intentionen H. Mommsens folgend - ihre Theorie des „organisierten Kapitalismus" als adäquaten Entwurf zur Bewältigung dieser historisch-politischen Zielsetzung an, ohne jedoch ungeteilten Beifall zu finden.122 Das Konzept des „organisierten Kapitalismus" schließt über die Weimarer Republik hinausgehend zugleich auch die Absicht ein, „überzeugendere" antiparxistische Antwort auf die Frage nach dem Wesen und der Funktion des Faschismus zu finden. Es ermöglicht beispielsweise Wehler, mit der Formel von der „politischen Polyvalenz" des „organisierten", also des staatsmonopolistischen Kapitalismus, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, daß sich dieser im politischen Rahmen sowohl der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie als auch der faschistischen Diktatur entwickelt hat. Faschismus an der Macht und „massendemokratischer Sozialstaat" gelten ihm als historisch konkrete, gleichwohl alternative politische Varianten des „organisierten Kapitalismus". 123 Jedoch wird der Wesenszusammenhang zwischen dem aus dem Monopol notwendig entspringenden Drang nach politischer Reaktion und Gewalt und dem Faschismus als v o r 120 121 122 123

Vgl. Industrielles System, S. 945. Mommsen, Hans, in: Industrielles System, S. 957. Siehe Industrielles System, S. 957 ff. Wehler, Der Aufstieg, S. 51; siehe auch Maier, Strukturen, S. 205.

368

Hans-Jürgen

Steinbach

geblich „naive, reduktionistische Gleichsetzung von ökonomischen Reproduktionsformen und öffentlicher Herrschaft" 12 ' 1 weiterhin geleugnet. Diesem Vorgehen liegt die methodologische Verknüpfung des Konzepts des „organisierten Kapitalismus" mit der bürgerlichen „Modemisierungstheorie" amerikanischer Historiker und Politologen 125 zugrunde. Mit dem Begriff der „Modernisierung" soll insbesondere die Geschichte der neuesten Zeit auf der Grundlage der „Injdustriegesellschafts"lehre, die Entwicklung des Imperialismus als progressiver Prozeß im Gegensatz zur vertieften allgemeinen Krise dargestellt und dabei dem Faschismus ein funktional begründbarer Platz eingeräumt werden. Einerseits erklärten Winkler, Kocka und Maier den Faschismus aus dem wohl f ü r den Einzelfall wie Deutschland und Italien historisch bedingten, jedoch nicht generalisierbaren Zusammenfall eines spezifischen Verlaufs von „Modernisier rung" durch die Entwicklung des „organisierten Kapitalismus" und „vorindustrieller Faktoren". Faschismus wird aus diesem Zusammenhang heraus lediglich als Ausdruck „antimodernistischen Protests" und damit allenfalls als Ideologie und politische Organisationsform außerhalb des Monopolkapitals angesiedelter Kräfte, besonders in den Mittelschichten, qualifiziert, in denen der „organisierte Kapitalismus . . . sich selbst seine Feinde" geschaffen habe. 126 Andererseits wird insbesondere am Beispiel Italiens versucht, dem Faschismus eine betont progressive Funktion bei der Entwicklung des „organisierten Kapitalismus" zu konzedieren. Er habe „in der Tat einen autoritären E r s a t z . . . f ü r die Entwicklung des Organisierten Kapitalismus von unten" dargestellt, indem er „nach und nach unter autoritärer Führung jene Disziplinierung des Marktes" erreicht und „politische Garantien gegen die Linke" geboten habe als Alternative f ü r die „nur langsam und zögernd" erfolgende „parlamentarische Eindämmung des Sozialismus". 127 Obwohl die parlamentarisch verbrämte Diktatur des Monopolkapitals als die günstigste politische Form des „organisierten Kapitalismus" btrachtet wird, bleiben auch bei dieser Konzeption - ungeachtet der den Faschismus ablehnenden Position der erwähnten Historiker - viele Möglichkeiten f ü r die Legitimation autoritär-faschistischer Elemente und auch offen faschistischer Diktaturen im staatsmonopolistischen Herrschaftssystem zum Zwecke der „Modernisierung" offen. Das geschichtsideologische Modell des „organisierten Kapitalismus" f a n d in der bürgerlichen Historiographie und in der historisch-politischen Publizistik der BRD unterschiedliche Resonanz. Sie reicht von wohlwollender Kritik bis zur Ablehnung. Dabei erwies sich in letzter Zeit deutlich, daß die Erörterungen geprägt sind von der politischen Auseinandersetzung zwischen den sozialreformistisch orientierten und den offensiver auftretenden bürgerlich-konservativen m Wehler, Der Aufstieg, S. 51. 125 Ygj Richter, Rolf, Zur Fäschismusinterpretation in der bürgerlichen Historiographie der USA, in: ZfG, Jg. 22, 1974, H. 8, S. 789 ff. 126 Vgl. Winkler, Vorläufige Schlußbemerkungen, S. 217; Kocka, Organisierter Kapitalismus, S. 21; Maier, Strukturen, S. 206. 127 Maier, Strukturen, S. 207.

.Organisierter Kapitalismus"

369

Gruppierungen, die auch in die bürgerliche Geschichtsschreibung der BRDHistoriographie hineinreicht. In Berichten d e r bourgeoisen Presse ü b e r den Mannheimer Historikertag 1976 wurde offen auf seit längerem bestehende „Richtungskämpfe", ideologische Auseinandersetzungen zwischen „Flügeln rechts u n d links", „Frontbildungen" hingewiesen, wobei sich in einem „ m ü h s a m e n Gerangel" Werner Conze u n d die Mehrheit des Vorstandes gegen jene durchsetzten, die sich seit 1970 „angeblich ,vorgedrängt' " hätten. 1 2 8 Zweifelsfrei sind damit die Verfechter einer als „historische Sozialwissenschaft" v e r s t a n d e n e n bürgerlichen Geschichtsschreibung gemeint, namentlich Kocka u n d Wehler sow i e die u m die Zeitschrift „Geschichte u n d Gesellschaft" sich sammelnden Historiker. Indessen d a u e r n die Kontroversen fort. 129 Die bürgerliche Kritik a m Modell des „organisierten Kapitalismus" ist vielschichtig u n d heterogen. Sie bezieht sich sowohl auf die generelle Fragwürdigkeit des ganzen U n t e r n e h m e n s als auch auf politische sowie theoretisch-methodologische Einwände, wobei sich eine zustimmende von einer prinzipiell ablehnenden Stoßrichtung unterscheiden läßt. Selbst die bisherigen Hauptvertreter des Modells, Kocka, Wehler u n d Winkler, sind sich des Zweifelhaften ihres Versuches bewußt, eine historisch gescheiterte politische Theorie als Vorlage benutzen zu wollen. Auch f ü r sie ist die „historische Aussagekraft des Begriffs .Organisierter Kapitalismus' keineswegs u n b e stritten" ; sie betrachten ihr Modell zunächst noch als „Anstoß f ü r w e i t e r e F o r schungen" 130 bzw. weisen ihm zunächst noch eine „primär heuristische F u n k tion" zu 131 mit der letztlichen Hoffnung, damit eine bürgerliche „historische Theorie des industriellen Deutschland" 132 gewinnen zu können. Teilnehmer an der Regensburger Diskussion u n d Rezensenten weisen besonders auf theoretisch-methodologische „Schwächen" hin. F ü r Medick ist der „organisierte Kapitalismus" zwar zunächst ein „brauchbares Instrument, weil es e r laube, Trends des sozioökonomischen Prozesses u n d des Verhältnisses von Ökonomie u n d Politik trennschärfer u n d u m f a s s e n d e r zu beschreiben". Allerdings bliebe „vom Methodischen her zu bedenken, ob das aus der bloßen Reihung von Variablen sich ergebende ,idealtypische Konzept' zur E r k l ä r u n g der tatsächlichen m

Vgl. Lüdtke, Die meisten Historiker betrachten die Krise als überwunden, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 219, 30. 9. 1976, S. 10; Stein-Ruegenberg, Ludger, Was ist Geschichte?, in: Deutsche Zeitung, Nr. 39, 24. 9. 1976, S. 4; Winkler, Wieviel Wirklichkeit gehört zur Geschichte?, in: FAZ, Nr. 212, 22. 9. 1976, S. 23. Vgl. einschätzend Zimmermann, Fritz, Im Zugwind des Konservatismus. 31. Historikertag der BRD 1976 in Mannheim, in: BzG, Jg. 19, 1977, H. 1, S. 128. m Vgl. Winkler, Wieviel Wirklichkeit; Kocka, Jürgen/Mommsen, Wolf gang J./Schieder, Wolfgang/Wehler, Hans-Ulrich,, Rückzug in den Traditionalismus. Zur Kritik an einer Erklärung des Historikerverbandes zum Geschichtsstudium, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 2, 1976, H. 4, 537 ff. IM winkler, Vorbemerkung, S. 7; vgl. ders., Einleitende Bemerkungen, S. 12; Kocka, Theorien in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, S. 26 f. 131 Kocka, Organisierter Kapitalismus, S. 19. 132 Wehler, Der Aufstieg, S. 51. 24

J a h r b u c h 18

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Hans-Jürgen

Steinbach

Vorgänge dienen" könne. Selbst wenn dieses an einem historischen Einzelfall bestätigt werden könnte, bliebe zu fragen, ob sich daraus schon „Rückschlüsse auf generelle heuristische Fruchtbarkeit dieses Konzepts ziehen" ließen.133 Und für den US-Amerikaner Feldman ist dieses zunächst noch eine „paradigmatische Superwaffe" und ein ,,vage[r] Generalnenner". 134 Bermbach, Bade und Sywottek, die das Konzept prinzipiell für „analytisch tragfähig" halten für eine genauere „systematische Bestimmung der westlichindustriellen Gesellschaften" 135 , fordern ganz allgemein seine noch differenziertere Ausarbeitung, wobei Bade in Verkennung der Realität die Not des Zurückgreifens auf eine „fragwürdige Konzeption" (von ihm zum „kreativen Mißbehagen" umgedeutet) in die Tugend echten theoretischen Schöpfertums zu münzen versucht. 136 Inzwischen empfiehlt er einen nebulösen „gangbaren Mittelweg". 137 Ein weiterer Akzent bürgerlicher Kritik ist in politisch-ideologischer Hinsicht gesetzt. So wird Unbehagen über eine noch zu wenig stichhaltige Abweisung bzw. Abgrenzung von der marxistisch-leninistischen Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus geäußert. 138 Vor allem aber geht es um die sozialreformistische Grundorientierung sowohl der Hilferdingschen Theorie als auch des geschichtsideologischen Modells. Offenbar scheint es selbst sympathisierenden Opponenten geboten, sich im gegenwärtigen ideologischen Klima in der BRD nicht zu einseitig und offen auf einen in der „Geschichte der revisionistischen deutschen Arbeiterbewegung parteipolitisch und ideologisch derartig ,eingefärbten' Terminus" festzulegen. 139 Sichtlich gewachsen ist in der letzten Zeit die ablehnende Kritik von Seiten tonangebender Kräfte im Historikerverband der BRD. 140 Sie umfaßt die gesamte Richtung einer als historische Sozialwissenschaft verstandenen, das Fach dominierenden „Gesellschaftsgeschichte", darin eingeschlossen auch die Theorie des „organisierten Kapitalismus". Beschränkte sich zunächst ihre Reserviertheit 1972 in Regensburg noch unter Verzicht auf offizielle Äußerungen auf die technisch-organisatorische Behinderung der Arbeitsgemeinschaft „Organisierter Kapitalismus" 141 , so wurde in Mannheim brüskerweise gänzlich auf das Themenangebot der Gruppe um Wehler und Kocka verzichtet. 142 Medick, Anfänge und Voraussetzungen, S. 58. Feldman, Der deutsche Organisierte Kapitalismus, S. 150 f. 135 Bermbach, S. 264 f.; vgl. Bade, S. 304. 136 Vgl. Bade, S. 304; Sywottek, S. 608 f. 137 Bade, S. 307. 138 vgl. Bermbach, S. 269; Feldman, Der deutsche Organisierte Kapitalismus, S. 152; Bade, S. 295; Sywottek, S. 619. 13:1 Wendt, Bernd-Jürgen, War Socialism - Erscheinungsformen und Bedeutung des Organisierten Kapitalismus in England im Ersten Weltkrieg, in: Organisierter Kapitalismus, S. 117. Vgl. ferner Sywottek, S. 611; Bermbach, S. 264; Bade, S. 293. 140 Vgl. Vogel, Barbara, Allenfalls Ansätze eines Wandels. Gedanken aus Anlaß des Erscheinens einer neuen historischen Zeitschrift, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 9, 12. 1. 1976, S. 10. 141 vgl. Organisierter Kapitalismus, S. 53 Anm. 1. 152 Vgl. Lüdtke/Stein-Ruegenberg/Zimmermann, S. 128. 133

134

.Organisierter Kapitalismus"

371

Darüber hinaus wurde zur offenen Polemik übergegangen. W. Conze schätzt unter geschichtsideologischem Aspekt zwar die vorgestellten Theoriebildungsversuche zunächst ein als Aufgreifen von „sehr wichtigen unid diskussionswürdigen, wenn auch nicht so gänzlich neuen methodologisch-theoretischen Probleme [n]"143, schränkt aber ihre Bedeutung für die bürgerliche Geschichtsschreibung lediglich auf „belebendes Anstoßerregen" ein.144 Hildebrand fordert dagegen unter direktem Bezug auf das Modell des „organisierten Kapitalismus" scharf, dem „neu erhobenen Absolutheitsanspruch einer Methode und einer Disziplin" als versuchtem „Oktroi fremd bestimmter Paradigmen" entgegenzutreten.145 Darin äußern sich letztlich politisch motivierte Befürchtungen, daß die bürgerliche Geschichtsschreibung über ihre Klassengrenzen hinausgedrängt werden könnte. Gerade Konzepte wie der „organisierte Kapitalismus" entwickelten „bedrohlich schnell ihre eigene, entweder nicht mehr kontrollierbare oder bewußte nicht kontrollierte Dynamik und Eigenmacht".146 Diesbezügliche Bedenken hinsichtlich der Erfüllung der Klassenfunktion bourgeoiser Historiker bestehen für Hildebrand in dreierlei Hinsicht: in der Eventualität einer auch nur teilweisen Berührung objektiver Gesetzmäßigkeiten durch den Versuch einer Gesamtsicht geschichtsbestimmender Faktoren147, in der wegen ihrer Aktualität zu brisanten Rückprojektion von Fragen selbst reformistischer Färbung, die die Existenzberechtigung des gegenwärtigen staatsmonopolistischen Gesellschaftssystems in Zweifel ziehen könnten148, sowie schließlich in einer bewußt hochgespielten „Gefahr" der „marxistischen" Unterwanderung.149 Besonders letzteres verdeutlicht, daß die Ablehnung Hildebrands wohl symptomatisch für das gegenwärtige politische Klima auch unter den bürgerlichen Historikern der BRD150 ist, aber spätestens seit dem „Methodenstreit" keineswegs originell wirkt. Auch die vorgestellten Vertreter der Theorie des „organisierten Kapitalismus", die durchaus nicht dem Marxismus verfallen wollen, sondern bestenfalls dessen Kategorien und eventuell Teilerkenntnisse für eine eindeutig bourgeoise Geschichtsschreibung zu nutzen versuchen, können die gesetzmäßige Krise der bürgerlichen Historiographie nicht meistern. Wohl jedoch unternehmen sie den Versuch, die Grenzen der bürgerlichen Geschichtsschreibung zu dehnen. Sie haben dabei über die Möglichkeiten des bürgerlichen Historismus hinausgehende Problemfelder erschlossen. Diese Bemühungen im besonderen wie die der bürgerlichen Sozialgeschichte im allgemeinen stellen somit immerhin einen, wenn auch vom bourgeoisen Denkhorizont begrenzten tenden143

Conze,

Werner,

Zu

den ersten drei Heften von

„Geschichte und

Gesellschaft".

Zeitschrift f ü r historische Sozialwissenschaften, in: Archiv f. Sozialgesch., Jg. 16, 1976, S. 622-626. 144

Ebenda, S. 626.

145

Hildebrand,

146

Ebenda, S. 331.

147

Vgl. ebenda, S. 340.

148

Vgl. ebenda, S. 335 f.

149 V g l 150 v g j

S. 331, 346.

ebenda, S. 356; Winkler, Wieviel Wirklichkeit? Lozek,

Gerhard,

Aktuelle Fragen der Entwicklung von Theorie und Metho-

dologie in der bürgerlichen Historiographie, in: Z f G , Jg. 25, 1977, H. 9, S. 1021 ff. 24*

372

Hans-Jürgen Steinbach

ziellen Fortschritt dar, der über die Darstellungen konventioneller Art hinausführt. Das heißt keinesfalls zu verkennen, daß auch damit die ideologie- und strategiebildende Funktion bürgerlicher Geschichtsbetrachtung im Hinblick auf die Vertiefung der Krise des imperialistischen Systems und die weiter zu seinen Ungunsten veränderten Bedingungen des Klassenkampfes mit dem Sozialismus ausgebaut und effektiver gestaltet werden soll, wobei als ideologisches und gesellschaftskonzeptionelles Leitbild der bürgerliche Sozialreformismus in seinen vielseitigen Schattierungen fungiert. In diesem Sinne orientiert man sich direkter auf die Untersuchung des staatsmonopolistischen Kapialismus, um einen ideologischen Beitrag zur Stabilisierung dieses Systems in der Gegenwart zu leisten. Dies läßt in Zukunft weitergehende Modifikationen des bürgerlichen Geschichtsbildes vornehmlich über die Entstehung des Imperialismus in Deutschland, den ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und den Faschismus erwarten. Entsprechend den nach wie vor bestehenden, klassenmäßig bedingten Erkenntniszielen und Erkenntnisschranken dieser Historiker sind und bleiben bisher solche Wandlungen letztlich gegen die Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts gerichtet. Daraus ergibt sich für die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft die Notwendigkeit der vertieften Erforschung des Imperialismus und des staatsmonopolistischen Kapitalismus.

DOKUMENTATION Christel

Nehrig

Die Verhandlungen zwischen der Reichsgruppe Industrie und der Federation of British Industries in Düsseldorf am 15. und 16. März 1939

Mitte März 1939 fanden in Düsseldorf vertrauliche Verhandlungen zwischen den Spitzenorganisationen des deutschen und des britischen Monopolkapitals statt. Sie bildeten nach dem Münchener Diktat einen neuen Höhepunkt der Beschwichtigungspolitik Großbritanniens gegenüber den aggressiven Bestrebungen des deutschen Imperialismus und nahmen bei der Vorbereitung des zweiten Weltkrieges einen wichtigen Platz ein. Das in der Geheimverhandlung vorbereitete Abkommen w a r der Versuch einer zeitweiligen Einigung der beiden imperialistischen Konkurrenten auf Kosten anderer Länder, vor allem d e r Sowjetunion. Deutsche und britische Monopolisten verband der durch den Grundwiderspruch zwischen Sozialismus und Kapitalismus bedingte Haß gegen den ersten sozialistischen Staat der Welt u n d der Wunsch, ihn zu vernichten. In dem Bemühen, die deutschen Annexionsabsichten gegen die Sowjetunion zu lenken, schlössen die britischen Imperialisten dieses Abkommen mit den aggressivsten, abenteuerlichsten Kreisen des internationalen Monopolkapitals. Dieser Vertrag barg daher einen stark antisowjetischen Aspekt in sich. Bereits W. I. Lenin wies darauf hin, daß solche interimperialistischen Bündnisse n u r Atempausen zwischen Kriegen sind. 1 Sie entstehen auf der Grundlage der sich verschärfenden imperialistischen Gegensätze und bedeuten eine „friedliche" Form des Kampfes. Ihr Fortbestehen bzw. ihr Ende hängt ab von der weiteren ökonomischen und politischen Entwicklung, von Verändungen des Kräfteverhältnisses zwischen den Kontrahenten. 2 Als Beispiel einer solchen zeitweiligen Partnerschaft zwischen imperialistischen Rivalen sind die Verhandlungen zwischen der Reichsgruppe Industrie und der Federation of British Industries (im folgenden: FBI) anzusehen, deren Protokolle jetzt in den Akten der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes gefunden wurden. 3 1

2 3

Lenin, W. I., Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Werke, Bd. 22, S. 301. Ebenda, S. 257. ZStAP, Film Nr. 6482. Die Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918—1945. Aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, Serie D, Baden-Baden 1950 bis 1962 (im folgenden: ADAP), bringen in Bd. 4, Nr. 331, S. 373, und in Bd. 6,

374

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Bereits im Oktoberl938 war von britischer Seite der Vorschlag gemacht worden, Verhandlungen zwischen den Spitzenorganisationen der Industrien beider Länder über Preise und Märkte zu führen. Die Reichsgruppe Industrie stimmte diesem Anerbieten aus mehreren Gründen zu. Sie lagen erstens in gewissen ökonomischen Schwierigkeiten Hitlerdeutschlands, die aus der forcierten Kriegsvorbereitung resultierten. Zwar hatte das gesteigerte Rüstungstempo dazu geführt, daß das faschistische Deutschland zur wirtschaftlich und militärisch stärksten Macht in Europa aufgerückt WEIT. Dem zur ökonomischen Vorherrschaft auf dem Kontinent vordringenden deutschen Imperialismus zeigte sich der britische Rivale vor allem in Südost- und Osteuropa unterlegen. Zweitens verstärkte die ökonomische Kriegsvorbereitung Hitlerdeutschlands die Disproportionalität in der Volkswirtschaft und rief Krisenerscheinungen, wie Arbeitskräfte- und Materialmangel, hervor. Die umfangreichen Rohstoffreserven, die für den geplanten Krieg benötigt wurden, konnten aus eigenem Aufkommen nicht gedeckt werden. Für deren Import waren Devisen dringend erforderlich. Daher das verstärkte Drängen des deutschen Monopolkapitals nach Export in jene Länder, die mit Devisen zahlten, wie das Empire. Weitere Gründe waren gewisse Kampfmaßnahmen der britischen Industrie, wie Zollerhöhungen und Präferenzen (Zollvergünstigungen für andere Länder), deren Zurücknahme sich die deutschen Monopolvertreter von den Gesprächen mit der FBI erhofften (Dok. 1). Am 8. März 1939 wurden von verschiedenen Ministerien die deutschen Mindestforderungen für die Verhandlungen ausgearbeitet: Eine Verständigung über Preise sei nur möglich, wenn der Export nicht schrumpft und der bisherige Devisenerlös erhalten bleibt. Für eine Vereinbarung über die Aufteilung dritter Märkte kämen nur die Länder des britischen Empires in Frage. Indiskutabel seien die Gebiete Südosteuropa, Südamerika, Ostasien/' Das bedeutete, daß die deutschen Imperialisten, gestützt auf ihre ökonomische und militärische Stärke, vom britischen Rivalen verlangten, Gebiete deutscher Vorherrschaft in Europa und Übersee anzuerkennen und die eigenen Interessen zurückzustellen. Darüber hinaus zielten ihre Ansprüche auf Zugeständnisse im Bereich des britischen Commonwealth selbst, eine Forderung, die die Grundlagen der britischen Weltmachtstellung erschüttern mußte. Diese Zielsetzung macht deutlich, daß es dem deutschen Finanzkapital um eine Neuaufteilung der Welt - einschließlich des Empires - ging. Das kommt auch in Hitlers Rede vom 8. März 1939 vor führenden Vertretern des Monopolkapitals, der NSDAP und der Generalität zum Ausdruck. Hier entwickelte er die Reihenfolge der nächsten Annexionen, beginnend mit der Tschechoslowakei, der Polen, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien folgen soll-

4

Nr. 11, S. 9, zwei Hinweise auf die Düsseldorfer Verhandlungen, ihre freundschaftliche Atmosphäre und den erfolgreichen Abschluß. Auch in Anatomie des Krieges. Neue Dokumente über die Rolle des deutschen Monopolkapitals bei der Vorbereitung und Durchführung des zweiten Weltkrieges. Hrsg. von Dietrich Eichholtz und Wolfgang Schumann, Berlin 1969, wird in Dok. 91 nur aus einigen Punkten der Presseveröffentlichung über die gemeinsame Erklärung zitiert. Vgl. AD AP, Bd. 4, Nr. 327, S. 367 ff., und Dok. 2.

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ten. Alle diese Gebiete seien f ü r Deutschland als Rohstofflieferanten lebenswichtig. Für die J a h r e 1940/41 plante er die „Abrechnung" mit dem „Erbfeind" Frankreich, dann sollte England folgen. „England ist ein altes Land, geschwächt durch Demokratie. Deutschland wind England leicht beherrschen und wird über Englands Reichtümer und Gebiete in der ganzen Welt verfügen, wenn einmal Frankreich besiegt ist." 5 Das war eine Stufe des Weltherrschaftsprogramms des deutschen Imperialismus, der in seinem Kampf u m Rohstoffgebiete, Absatzmärkte und Einflußsphären in vielen Teilen der Welt auf den imperialistischen Rivalen Großbritannien stieß. Das Endziel - die gewaltsame Lösung der imperialistischen Gegensätze - schloß jedoch eine zeitweilige Absprache, die dem Kräfteverhältnis entsprach, nicht aus. War es doch möglich, den Gegner durch diese Verhandlungen in einer außenpolitisch kritischen Phase zu neutralisieren. Die Gespräche in Düsseldorf begannen zu einem Zeitpunkt, der durch den verschärften Aggressionskurs des faschistischen deutschen Imperialismus gegen mehrere Staaten gekennzeichnet war. Genau an diesem 15. März vollendete er durch den Einmarsch der Wehrmacht in Prag u n d die Errichtung eines Satellitenstaates in der Slowakei die Zerschlagung der Tschechoslowakischen Republik. Die Westmächte besiegelten ihren Verrat an der Tschechoslowakei durch ihre direkte Zustimmung zur faschistischen Aggression, da angeblich, wie Großbritanniens Premier Chamberlain am 15. März 1939 im Unterhaus erklärte, dieser Staat „von innen her zerbrach und so sein Ende fand". 6 Von solcher Haltung ermuntert, zwang das faschistische Deutschland wenige Tage danach, am 22. März 1939, Litauen, das Memelgebiet abzutreten. Zu dieser Zeit, Mitte März 1939, richteten die deutschen Imperialisten ihre Aggressionspläne direkt auf das nächste Ziel: Polen. Nachdem die militärischen Vorbereitungen zum Überfall bereits seit Oktober 1938 angelaufen waren, traten die deutschen Imperialisten jetzt ultimativ mit ihren Gebietsforderungen a n die polnische Regierung heran. Auch Rumänien wurde in seiner Unabhängigkeit durch einen im Februar ausgearbeiteten und am 23. März 1939 unterzeichneten Wirtschaftsvertrag vom faschistischen Deutschland bedroht. Dieser Vertrag, der die Industrialisierung Rumäniens nur auf den Gebieten und in dem Umfang gestattete, der den deutschen kriegswirtschaftlichen Erfordernissen entsprach, bewog den Botschafter Rumäniens in Großbritannien, Tilea, dazu, am 14. März 1939 bei der britischen Regierung gegen die deutschen ultimativen Forderungen vorstellig zu werden. Alle diese faschistischen Aggressionsakte bzw. Vorbereitungen waren den britischen Imperialisten bekannt, als sie sich mit Vertretern des deutschen Monopolkapitals in Düsseldorf an einen Tisch setzten. Ihre Hauptaufgabe sahen diejenigen Monopolkapitalisten, die die Politik der Regierung Chamberlains bestimmten, in der Herstellung eines antisowjetischen Komplottes mit den deutschen Faschisten. Von blindem Antikommunismus getrieben und aus Furcht vor 5 6

Anatomie des Krieges, S. 204, Dok. 68. Parliamentary Debates. House of Commons, 15.3.1939, Spalte 437, zit. in: land im zweiten Weltkrieg, Bd. 1, Berlin 1974, S. 123.

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dem imperialistischen Rivalen, dessen Macht sie selbst durch ihre Appeasementpolitik gestärkt hatten, wollten sie dessen Eroberungsgelüste von Westeuropa in Richtung Sowjetunion lenken. Die Mehrheit des britischen Monopolkapitals war bereit, dem deutschen Imperialismus Südost- und Osteuropa als dessen Einflußbereich zu überlassen in der Erwartung, daß Deutschland von dort aus gegen die Sowjetunion marschieren würde. Von einem Krieg zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion erhofften sie sich die Vernichtung des ersten sozialistischen Staates und eine so wirksame Schwächung des imperialistischen Gegners, daß dieser für die eigene Existenz keine Gefahr mehr bedeuten würde. 7 Aber nicht nur aus diesem Grunde suchten die britischen Imperialisten einen Krieg mit Deutschland zu vermeiden und zu einem „general settlement", einer grundsätzlichen Regelung aller beiderseitig interessierenden Fragen, zu gelangen. Das britische Weltreich krankte selbst an nicht wenigen inneren Widersprüchen. In seinen Kolonien nahm die nationale Befreiungsbewegung, angespornt durch das Beispiel national selbständiger Entwicklung ehemals abhängiger Gebiete im Sowjetstaat, einen beträchtlichen Aufschwung. Ein offener Ausbruch der latenten Krise des Empires war nicht auszuschließen, wenn Großbritannien in einen Krieg mit Deutschland verwickelt werden würde. Jenseits des Atlantiks erwuchs dem britischen Imperialismus ein mächtiger Konkurrent in den USA. Großbritannien sah sich bereits in die Rolle eines Junior-Partners gedrängt und mußte befürchten, daß seinen Kolonien und Dominien, speziell Kanada, die USA als ein weit attraktiverer Partner erscheinen würden als das Mutterland. Nicht zuletzt befand sich Großbritannien 1938 in einer Wirtschaftskrise, die das ökonomische Kräfteverhältnis weiter zugunsten der deutschen Imperialisten verschoben hatte. 8 Eine Verständigung mit dem stärksten europäischen Konkurrenten über Preise, Ausfuhrquoten und dritte Märkte erschien daher ratsam. Verschiedene britische Industriezweige, so die Textil- und Autoindustrie, hatten unter den deutschen „unfairen Handelsmethoden" (Dumping, Exportförderung, Devisengesetze) zu leiden. Eine Klärung dieser Fragen zu ihren Gunsten bei Großzügigkeit ihrerseits auf andern Gebieten (Südosteuropa) erhofften sich die FBI-Vertreter von den Verhandlungen in Düsseldorf. Die deutsche Delegation wurde von Dr. E m s t Poensgen, Dr. Georg v. Schnitzler 9 und Erwin Junghans 10 geleitet. Der Leiter der Reichsgruppe Industrie, 7

8

9

10

Vgl. Deutschland im, zweiten Weltkrieg, Bd. 1, S. 140 ff., und Geschichte des zweiten Weltkrieges 1939-1945, Bd. 2, Berlin 1976, S. 160 ff. Ende 1938 war die britische Handelsbilanz mit 70 Mill. Pfund Sterling passiv. Die Arbeitslosenzahl betrug im Dezember 1938 1,91 Millionen und im Januar 1939 2,03 Millionen (vgl. Mac Donald, C. A., Economic Appeasement and the German Moderates, in: Past and Present, Nr. 56, August 1972, S. 124). Dr. Georg v. Schnitzler, Vorstandsmitglied der IG-Farbenindustrie AG, stellvertretender Leiter der Wirtschaftsgruppe Chemische Industrie, Mitglied des Großen Beirats der Reichsgruppe Industrie. Erwin Junghans, Generaldirektor der Gebrüder Junghans AG, Württembergischer Beirat der Deutschen Bank, Mitglied des Kleinen Beirats der Reichsgruppe Industrie.

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Wilhelm Zangen 11 , ein bekannter faschistischer Scharfmacher, nahm an den Gesprächen dagegen nicht teil (Dok. 7). Seine Abwesenheit muß sicher in diesen politisch-ökonomischen Zusammenhang gestellt werden. Die Wahl Poensgens, des Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke AG und Leiters der Wirtschaftsgruppe Eisenschaffende Industrie, zum Verhandlungsführenden erfolgte gewiß nicht ohne Absicht. Poensgen gab in einer Vorbesprechung den deutschen Delegationsmitgliedern Anweisungen f ü r ihr Auftreten gegenüber den Briten (Dok. 2). Hierbei erwies er sich als Vertreter derjenigen K r ä f t e des deutschen Monopolkapitals, denen an einer Verständigung mit den Engländern viel gelegen war. Das zeigte sich bei seiner Aufforderung an die deutschen Teilnehmer, alles zu tun, damit die Atmosphäre gut bleibe. Die Ursache f ü r Poensgens Verhalten lag zunächst darin, daß, wie er selbst in der Vorbesprechung angab, die deutsche Stahlausfuhr nach Großbritannien durch dessen Schutzzölle u m über ein Viertel gesunken war. Außerdem hatte die British Iron and Steel Federation am 1. J a n u a r 1939 die Eisen- u n d Stahlpreise herabgesetzt. Zum anderen gehörte Poensgen als Vertreter der Vereinigten Stahlwerke jenen Kreisen des deutschen Monopolkapitals an, die noch andere Wege als den Krieg sahen, u m ihre Expansionsziele zu erreichen. Diese Kreise waren verhältnismäßig stark an das amerikanische u n d britische Monopolkapital gebunden. Poensgen selbst war einer der Gründer der IREG (Internationale Rohstahlgemeinschaft), die die westlichen Stahlproduzenten zwecks Preis- u n d Quotenabsprachen vereinigte. Auch deshalb suchte er in Düsseldorf eine Einigung mit den Vertretern der FBI. Um einer Konfrontation mit den Westmächten, d. h. einem Mehrfrontenkrieg, aus dem Wege zu gehen, schlug er vor, den britischen Wünschen bezüglich Abreden über 'dritte Märkte entgegenzukommen. Er kritisierte das Postulat der Regierung, daß eine Vereinbarung über dritte Märkte n u r gebilligt werden könnte, wenn es sich um Länder des Empires handelte. Statt dessen forderte er Mut zur Verantwortung, falls bei wichtigen Abmachungen ein Land mit inbegriffen sei, über das nicht verhandelt werden d ü r f e (Dok. 2). Als weitere Themen f ü r die Diskussion in den Hauptdelegationen nannte Poensgen: 1. Die Steigerung der Ausfuhr nach Großbritannien. Um Zollermäßigungen allein f ü r deutsche Erzeugnisse auf dem englischen Markt zu erhalten, hatte die faschistische Regierung sogar Preiserhöhungen f ü r Exportartikel - bei gesichertem Absatz - zugestimmt. 12 Eine Preiserhöhung konnte insofern einen Vorteil bedeuten, als die Exportsubsidien des Zusatzausfuhrverfahrens in geringerem Maße in Anspruch genommen werden mußten. 2. Die Steigerung der Ausfuhr in das Empire u n d die Kolonien. Die deutschen Imperialisten verlangten zu diesem Zweck die Aufgabe des Ottawa-Abkommens 1 3 und die Durchsetzung der Politik 11

12 13

Wilhelm Zangen, Generaldirektor des Mannesmann-Konzerns, seit November 1938 Leiter der Reichsgruppe Industrie. Vgl. AD AP, Bd. 4, Nr. 327, S. 368; Nr. 306, S. 346. Auf der Konferenz in Ottawa im Juli und August 1932 hatten die dem britischen Empire angehörenden Staaten durch gegenseitige Vorzugszölle einen Wirtschaftsblock geschaffen, der anderen Staaten den Export in diese Länder erschwerte.

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der offenen Tür. Das A b k o m m e n von O t t a w a w a r Ursache d a f ü r , daß d a s d e u t sche V o r d r i n g e n in Indien, Ä g y p t e n u n d dem I r a n nicht im gewünschten Maße gelungen w a r . I n Düsseldorf erhofften die Faschisten, i h r e Wünsche durchzusetzen. I n die gleiche Richtung zielte die Reise des ehemaligen Reichswirtschaftsministers u n d Reichsbankpräsidenten Schacht i m Mai 1939 nach Indien. Die britische Delegation w u r d e g e f ü h r t v o n P e t e r Bennett, P r ä s i d e n t d e r FBI u n d Mitglied des Auf sichtsr ats der Imperial Chemical Industries Ltd (ICI), Guy H. Locock, Direktor des FBI, u n d Sir William Larke, C h a i r m a n FBI Tariff a n d Commercial Relations Committee, D i r e k t o r der British Iron a n d Steel Federation. Letzterer w a r Vorsitzender d e r Hauptdelegation Großbritanniens. Das britische Monopolkapital unterstrich somit bereits durch die Z u s a m m e n setzimg d e r Delegation die Wichtigkeit, die es d e n V e r h a n d l u n g e n beimaß. Die V e r t r e t e r des britischen Monopolkapitals betrachteten e s als ihr h a u p t sächlichstes Anliegen, die G r u n d s ä t z e der beiderseitigen A u ß e n h a n d e l s p r a k t i k e n festzulegen (Dok. 4). Zu diesem Zweck h a t t e n sie eine E r k l ä r u n g ausgearbeitet u n d schon vor Beginn der V e r h a n d l u n g e n a n die Reichsgruppe I n d u s t r i e geschickt. In 13 P u n k t e n w u r d e die englische A u f f a s s u n g ü b e r Möglichkeiten z u r Verbesserung d e s Handels dargelegt u n d Kritik a m u n f a i r e n W e t t b e w e r b geübt (wasteful, uneconomic competition). 14 Solche F o r m u l i e r u n g e n stießen auf A b l e h n u n g bei der deutschen Seite. Auf Wunsch Poensgens w u r d e auf der 1. Sitzung d e r Haupdelegation dieser Passus g e ä n d e r t (Dok. 4). B e m e r k e n s w e r t ist, daß die B r i t e n bereits eine n e u e Fassung ihres ursprünglichen S t a t e m e n t s nach Düsseldorf mitbrachten. A u ß e r einigen kleinen Ä n d e r u n g e n , meist Weglassungen, h a t t e n sie i h r e n ehemaligen P u n k t 6 nicht m e h r a u f g e n o m m e n , d e r A b k o m m e n ü b e r A u s f u h r q u o t e n u n d die Ausschließung a n d e r e r Mittel des u n ökonomischen W e t t b e w e r b s vorsah. Somit stellte die N e u f a s s u n g bereits ein Zugeständnis a n die deutschen Imperialisten dar. Die nach E i n a r b e i t u n g der Änderungsvorschläge a n g e n o m m e n e g e m e i n s a m e E r k l ä r u n g (Dok. 6) stellt ein typisches Beispiel f ü r die Verschleierung i m p e r i a listischer Klassenziele durch heuchlerische P h r a s e n dar. So w i r d m e h r f a c h von der Verbesserung der internationalen Z u s a m m e n a r b e i t , der F ö r d e r u n g des Welthandels u n d v o m „Gedeihen der ganzen Welt" gesprochen, obwohl offensichtlich der K a m p f u m die N e u a u f t e i l u n g der M ä r k t e in u n g e k a n n t e r . S c h ä r f e andauerte. Andererseits schloß d e r P a r a g r a p h 8 die Möglichkeit ein, daß sich die I n d u s t r i e v e r t r e t u n g e n beider L ä n d e r an die Regierungen wenden, u m gegen die K o n k u r r e n z d r i t t e r L ä n d e r gemeinsam vorzugehen. Diese Passage macht d e u t lich, daß es den deutschen u n d britischen Finanzkapitalisten allein u m die Sicherung ihres Monopolprofits auf Kosten schwächerer Rivalen ging. Schließlich w u r d e ein ständiges Komitee eingesetzt, das vierteljährlich die v o n den Fachdelegationen g e n a n n t e n Schwierigkeiten k l ä r e n sollte. Die g r ö ß t e Arbeit w u r d e auf der K o n f e r e n z in den Fachdelegationen geleistet. Von sechs Kommissionen h a t t e n u r e i n e auf deutschen Wunsch getagt, die a n deren w a r e n britischen Vorstellungen entsprechend z u s a m m e n g e t r e t e n (Dok. 15). 14

„Draft Statement to be presented to the Reichsgruppe Industrie as a suggested basis for discussion", in: ZStAP, Film Nr. 5582.

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Bei den Delegationen handelte es sich mit Ausnahme der Schnellstahl- und Motorradindustrie hauptsächlich um Vertreter der Konsumgüterindustrie. Das lag zum einen daran, daß auf dem Gebiet der Schwerindustrie bereits gut funktionierende Absprachen zwischen beiden Partnern existierten 15 , zum anderen waren auf beiden Seiten nicht alle Industriezweige zu Verhandlungen bereit. Die britischen Vertreter hatten sich auch wesentlich besser vorbereitet als die deutschen, vor allem statistisches Material gesammelt. In einem Resümee der Verhandlungen forderte daher die Reichsgruppe Industrie f ü r künftige Besprechungen ebensolche ausführlichen Unterlagen (Dok. 14). Bei den Diskussionen in den Fachkommissionen kam es zu einem harten Ringen beider Kontrahenten um die Sicherung ihrer Profite durch Verbesserung der Marktpositionen (Dok. 7, 10, 13). Als Ergebnis konnte ein Abkommen - f ü r den Artikel Schnellstahl - unterzeichnet werden, aber auch dort erst, nachdem sich die Hauptdelegationen vermittelnd eingeschaltet hatten (Dok. 13). Die anderen Kommissionen erzielten Teilabsprachen (Dok. 12) und beschlossen, die Verhandlungen baldigst fortzusetzen (Dok. 8, 9, 10, 11). Preis- und Marktabsprachen erwiesen sich f ü r das Gebiet des Vereinigten Königreiches als nicht unmöglich, wie es das Beispiel Strumpfindustrie zeigte (Dok. 12). Schwierigkeiten ergaben sich, als die deutschen Industriellen gleiche Wettbewerbsbedingungen f ü r sich im Empire, speziell in Indien, forderten (Dok. 8, 10, 13). Diesen Vorstoß gegen ihr Weltreich konnten die britischen Imperialisten nicht hinnehmen, ohne ihre eigenen Machtgrundlagen zu gefährden. Hinzu kam, daß der Industrie Großbritanniens selbst in der sich entwickelnden indischen Industrie ein Konkurrent entstanden war. So hatte Indien 1936 einseitig das Ottawa-Abkommen gekündigt und sich durch Schutzzölle speziell gegen britische Textilerzeugnisse abgeschirmt. 16 Daher lehnten die britischen Verhandlungspartner die deutsche Forderung ab, in einem Gebiet, in dem sie selbst zu kämpfen hatten, einen Konkurrenten zu begünstigen. Das geht aus den Verhandlungen in den Hauptdelegationen hervor, wo Poenagen direkt die „Niederlassung deutscher Häuser im Gebiet des britischen Empires" forderte (Dok. 4), u m von dort mehr Rohmaterial kaufen zu können. In die gleiche Richtung zielte seine Anregung, die Preise f ü r Kolonialprodukte zu erhöhen, damit die Rohstofflieferanten mehr - natürlich von Deutschland importieren könnten. Während Sir William Larke sich zu dieser deutschen Anregung zurückhaltend äußerte, stimmten die FBI-Vertreter dem Wunsch Poensgens nach Einbeziehung der USA in die Wirtschaftsverhandlungen sofort zu (Dok. 4). Die deutschen Imperialisten waren den amerikanischen Monopolen im Konkurrenzkampf sowohl in den USA als auch in Südamerika unterlegen. Nachdem ihnen die USA bisher die Meistbegünstigung verwehrt hatten - die Folge bestand in einer Einschrumpfung des deutsch-amerikanischen Handels - , w a r im März 1939 von der amerikanischen Regierung beschlossen worden, 15

16

Vgl. das deutsch-englische Kohleabkommen vom 28.1.1939; Absprachen existierten zwischen der ICI und der IG-Farben und innerhalb der IREG. Vgl. Wendt, Bernd-Jürgen, Appeasement 1938. Wirtschaftliche Rezession und Mitteleuropa, Frankfurt (M) 1966, S. 28 f.

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Zuschlagzölle in Höhe von 25 Prozent auf deutsche Erzeugnisse zu legen. 17 Die Verschärfung der deutsch-amerikanischen Widersprüche zu diesem Zeitpunkt veranlaßte die deutschen Imperialisten, bei ihren Verhandlungspartnern in Düsseldorf Unterstützung zu suchen, die, wie ihnen bekannt war, ebenfalls eine weitere Machtausdehnung der USA vermeiden wollten. Bereits vor dem Münchener Diktat hatten führende Kreise des britischen Monopolkapitals f ü r die Schaff u n g eines europäischen Wirtschaftsblocks, der aus Großbritannien, Frankreich, und Italien bestehen sollte, plädiert. Dieser sollte sich gegen die immer expansiver auftretende USA-Wirtschaft richten. Auch die Düsseldorfer Verhandlungen nutzten sie in diesem Sinne. Insgesamt konnten sowohl Poensgen als auch Bennett am Ende der zweitägigen Besprechungen mit Genugtuung eine Annäherung der Standpunkte in den Hauptfragen und gewisse Erfolge in den Fachdelegationen feststellen (Dok. 7). Die zum gleichen Zeitpunkt erfolgte Zerschlagung der Tschechoslowakischen Republik durch den faschistischen deutschen Imperialismus w a r f ü r die Vertreter des britischen Monopokapitals kein Anlaß, die Verhandlungen abzubrechen. Im Protokoll wurde dieser weitere Akt der Verletzung des Völkerrechts u n d nächste Schritt auf dem Wege zur Auslösung des zweiten Weltkrieges nicht direkt erwähnt. Lediglich der geplante Besuch der beiden Minister Stanley und Hudson in Berlin w u r d e abgesagt. Er w ä r e eine zu große Brüskierung des britischen Volkes gewesen, das über die jüngsten faschistischen Gewaltakte empört war. Die Vertreter Großbritanniens gaben durch ihr Verhalten zu erkennen, daß sie gewillt waren, ihre Beschwichtigungspolitik fortzusetzen und ein antisowjetisches Bündnis zustande zu bringen. Andererseits begann die Regierung Chamberlains dadurch ein gefährliches Doppelspiel, daß sie den deutschen Faschisten zu verstehen gab, sie könnte auf die sowjetischen Vorschläge zur Herstellung eines kollektiven Sicherheitssystems eingehen. Diesem Zweck dienten auch die Gespräche des britischen Uberseehandelsministers Hudson am 23. März 1939 in Moskau. Die Vertreter des britischen Imperialismus hatten in Düsseldorf ihr Ziel erreicht. Die vereinbarten Preis- u n d Marktabsprachen befriedigten die eigenen Wünsche - ein günstiges Resultat w a r f ü r die FBI-Vertreter sehr wichtig, um die in Kreisen der britischen Bourgeoisie laut gewordenen kritischen Stimmen zu beruhigen (Dok. 4) - und kamen den deutschen Forderungen entgegen. Die Zugeständnisse, die das britische Monopolkapital sowohl in Düsseldorf selbst als auch in der Folge dem Rivalen machte, stellten den Höhepunkt seiner Appeasementpolitik auf ökonomischem Gebiet dar. Durch dieses Abkommen und weitere großzügige Angebote an das faschistische Deutschland im F r ü h j a h r und Sommer 1939 gedachten die britischen Imperialisten, eine gewaltsame Austragung der zwischen beiden Mächten vorhandenen Gegensätze 2x1 verhindern. In Wirklichkeit ermunterten sie ihren schärfsten Feind. Sie erreichten nur eine vorläufige Minderung der Gegensätze vor allem zuungunsten der dringend not-

17

Vgl. Hass, Gerhart, Von München bis Pearl Harbor. Zur Geschichte der deutschamerikanischen Beziehungen 1938-1941, Berlin 1965, S. 124.

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wendigen kollektiven Abwehrfront gegen den faschistischen Aggressor, wie sie die Sowjetunion vorschlug. Somit hatten die deutschen Faschisten durch das Düsseldorfer Abkommen nicht nur ökonomische Vorteile erzielt. Sie zogen tatsächlich auch politischen Nutzen aus ihm. Großbritannien wurde fester an die antisowjetische Phalanx herangezogen und beantwortete die sowjetischen Vorschläge zur Herstellung eines kollektiven Sicherheitssystems zuerst hinhaltend und letztlich ablehnend. Der in Düsseldorf geschlossene Industriellenpakt torpedierte daher auch die Bemühungen der antifaschistischen Friedenskräfte. Jedoch war der deutsche Imperialismus und Militarismus durch Zugeständnisse nicht zu bändigen. Die Verwirklichung seines Weltherrschaftsprogramms stand der britische Imperialismus auf die Dauer gesehen im Wege18, denn er konnte ohne Gefahr für die eigene Existenz seine Position in Europa und der Welt nicht aufgeben. Daher mußten sich die nur zeitweilig überbrückten imperialistischen Gegensätze bei einer Änderung der Kräftekonstellation derart verschärfen, daß eine gewaltsame Lösung der Widersprüche nicht mehr zu vermeiden war. Zu bemerken ist, daß das Düsseldorfer Abkommen nicht wirksam wurde. Zwar erklärte sich die FBI bereits Anfang April 1939 zu neuen Verhandlungen bereit. Jedoch sagte sie das für Juni 1939 geplante Spitzengespräch mit der Reichsgruppe Industrie ab, da „zur Zeit nicht genügend Stoff vorliege". Es wurde die Hoffnung auf eine Zusammenkunft im Herbst geäußert und mitgeteilt, daß drei weitere englische Industriezweige zu Verhandlungen bereit seien. Ob es zu diesen Gesprächen mit deutschen Monopolvertretern gekommen ist, ist nicht bekannt. Die bereits in Düsseldorf anberaumten Sitzungen von Fachkommissionen in der Schweiz haben sicherlich auch stattgefunden, obwohl es darüber bis jetzt keine Unterlagen gibt. Am 21. April 1939 weilte Poensgen zu Besprechungen über das Stahlkartell in London. Allerdings fanden diese Verhandlungen im geheimen statt. Offizielle Gespräche wünschten die britischen Monopolvertreter angesichts der Verschärfung der britisch-deutschen Beziehungen nicht zu führen. Die offensichtlichen Vorbereitungen des faschistischen Uberfalls auf Polen, das von Großbritannien eine Garantie seiner Unabhängigkeit erhalten hatte, die Kündigung des deutsch-britischen Flottenabkommens durch Hitler sowie die faschistische Propagandakampagne gegen Großbritannien ließen die Begegnung höchster britischer und deutscher Monopolvertreter vor der Öffentlichkeit als nicht angebracht erscheinen. War doch bereits das Düsseldorfer Abkommen bei vielen Industriellen auf heftige Kritik gestoßen. Aber durch geheime Gespräche im kleinen Kreis die deutschen Wünsche zu befriedigen, ähnlich den Wohltat-Wilson-Verhandlungen - das lag im Interesse einiger führender britischer Monopolherren. Jedoch wurde ihr Verhandlungsspielraum immer

18

Vgl. die Rede Adolf Hitlers vor der Wehrmacht am 23. 5.1939, in der er England als Feind und die Auseinandersetzung mit ihm als auf Leben und Tod gehend bezeichnete, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, 14. November 1945—1. Oktober 1946, Bd. 37, Nürnberg 1949, S. 546 ff., Dok. L-079.

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mehr eingeschränkt und schließlich mit der gewaltsamen Durchsetzung des Annexionsprogramms des deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg zunichte gemacht. Die folgenden Dokumente werden in modernisierter Schreibweise veröffentlicht. Kürzungen wurden nicht vorgenommen.

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DOKUMENT 1

Zu den. deutsch-englischen Wirtschaftsbesprechungen. (Aufzeichnung des Oberregierungsrates im Reichswirtschaftsministerium, Alexander v. Süßkind-Schwendi)

7. 3.1939 Im Verlauf der Verhandlungen mit den Engländern im Sommer 1938 über die österreichischen Anleihen 1 w u r d e die F o r d e r u n g gestellt, die Engländer m ü ß t e n es durch Erleichterungen f ü r deutsche E i n f u h r e n sowohl nach Großbritannien als nach dem englischen Kolonialreich Deutschland ermöglichen, die Mittel f ü r den erhöhten Kapitaldienst zu gewinnen. Die Engländer h a b e n zugesagt, ü b e r die deutschen Forderungen auf Zollherabsetzungen u n d Eröffnung n e u e r Einfuhrmöglichkeiten Verhandlungen später aufzunehmen. Den Engländern sind d a r a u f h i n v o n deutscher Seite zwei Listen überreicht worden, die a) die deutschen Wünsche auf Zollsenkungen in England u n d b) die deutschen Wünsche auf Zollsenkungen im Kolonialbereich enthielten. Die letztere Wunschliste enthielt auch deutsche Vorschläge z u r V e r m e h r u n g des A b satzes deutscher Waren in den Kolonialgebieten. Die Engländer haben die Listen entgegengenommen u n d die Unterhaltungen, die der Erläuterung dieser Listen dienen sollten, als „informelle" bezeichnet. Sie haben insbesondere darauf hingewiesen, daß die englischen Zollerhöhungen zum großen Teil in der A b w e h r deutscher Schleuderkonkurrenz vorgenommen worden seien u n d daß das deutsche System der A u s f u h r f ö r d e r u n g vorläufig zu beweisen scheine, daß Zölle die deutsche A u s f u h r nicht behinderten. Unser Hinweis, daß uns d a r a n liegen müsse, aus der A u s f u h r möglichst hohe Deviseneinnahmen zu erzielen, w u r d e als richtig anerkannt. Die Engländer wiesen d a r auf hin, daß sie sich zu etwaigen Zollermäßigungen und zur Nichteinführung beantragter Zölle n u r entschließen könnten, w e n n sie von deutscher Seite die Gewißheit hätten, daß in Z u k u n f t eine beliebige Unterbietung der englischen Preise nicht m e h r stattfinden könne. Sie regten zu diesem Zwecke Besprechungen zwischen d e n beiderseitigen Industrien an. Wir haben diese Anregung angenommen, insbesondere u m den Engländern den Vorwand zu nehmen, daß Deutschland sich englischen Vorschlägen verschließe. Ursprünglich w a r e n n u r solche Warengruppen auf die Liste gesetzt 1

Nach der Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland im März 1938 weigerten sich die Faschisten, für die dem österreichischen Staat von Großbritannien gewährten Anleihen aufzukommen.

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worden, bei denen die Engländer in den letzten Jahren hohe Schutzzölle im Hinblick auf die deutsche Konkurrenz eingeführt hatten. Später ist dann die Liste auch noch auf solche Warengruppen erweitert [worden], bei denen Zollerhöhungsanträge schweben. Wir erhoffen uns von den Verhandlungen eine Einigung der beiderseitigen Industrien als Grundlage für eine nachher folgende Zollermäßigung. Die englische Regierung hat durch ihr Eingehen auf die Verhandlungen und durch das große Gewicht, das sie ihnen beimißt, u. E. schon stillschweigend der deutschen Seite gegenüber eine Verpflichtung übernommen, nach Abschluß der Verhandlungen, und zwar auch, wenn nur bei der einen oder anderen Warengruppe eine Einigung erzielt wird, die formellen Verhandlungen mit Deutschland über Zollermäßigungen aufzunehmen. Das gleiche gilt für die angestrebten Erleichterungen für die Ausfuhr deutscher Waren nach den englischen Kolonialgebieten. gez. Süßkind-Schwendi

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DOKUMENT 2

Protokoll über die Vorbesprechung zwischen der deutschen Hauptdelegation und den Fachdelegationen für die deutsch-englischen Industriebesprechungen am 15. 3. 1939 in Düsseldorf

Herr Dr. Poensgen eröffnet die Sitzung um 9.30 Uhr und bittet die einzelnen Herren anzugeben, welche Industriezweige sie vertreten, welche Fachgebiete zur Erörterung gelangen und wieviel deutsche und wieviel englische Vertreter anwesend sein werden. Gleichzeitig bittet er um Benennung des Führers der einzelnen Fachdelegationen auf deutscher Seite und Angabe darüber, ob ein Dolmetscher für die Besprechung benötigt wird. Nach Aufruf der einzelnen Delegationen, die sich aus der Anwesenheitsliste und einer besonderen Zusammenstellung ergeben, erläutert Herr Dr. Poensgen noch einmal kurz das Programm und gibt verschiedene technische Anweisungen. Danach geht Herr Dr. Poensgen zur sachlichen Seite über und bittet Herrn Dr. Koppen1, Richtlinien vorzulesen, die in einer Kommission, bestehend aus Mitgliedern des Auswärtigen Amtes, des Reichswirtschafts-, Finanz-, Verkehrsund Emährungsministeriums, ausgearbeitet worden sind.2 Herr Dr. Poensgen teilt mit, daß jeder Delegationsführer ein Exemplar dieser Richtlinien erhalten wird, die absolut vertraulich zu behandeln sind. Herr Dr. Koppen verliest zunächst den ersteren, allgemein gehaltenen Teil der Richtlinien. Hierzu führt Herr Dr. Poensgen folgendes aus: Mit diesen Fragen allgemein handelspolitischer Natur sollen sich die Fachkommissionen nicht beschweren. Die Besprechungen würden zu sehr in die Breite gehen, wenn diese Fragen in jeder Fachdelegation zur Erörterung gelangen würden. Diese Bestimmungen betreffen in erster Linie nur die Hauptdelegation, in der z. B. die Frage der offenen Tür in Kolonien und im Empire, Bemessung der Rohstoffpreise usw. besprochen werden soll. An die Fachdelegationen richtet er die Bitte, nicht auf Fragen dieser Art, sofern sie von englischer Seite gestellt werden, einzugehen, sondern auf einem Zettel zu vermerken und an die Haupdelegation weiterzuleiten. Hier soll dann eine Aussprache über diese Punkte stattfinden. Besondere Vorsicht ist zu beobachten bei allen Fragen des Zusatzausfuhrverfahrens. Als besonders schwere diplomatische Aufgabe sieht Herr Dr. Poensgen die Anweisung der Ministerien an, in Punkten, die 1 2

Dr. Koppen, Mitglied der Geschäftsführung der Reichsgruppe Industrie. ADAP, Bd. 4, Nr. 327, S. 367 f.

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w i r nicht akzeptieren, wollen, die Engländer zur Ablehnung zu bringen. Das bezieht sich insbesondere auf den Wunsch des Ministeriums, keine Marktabreden zu treffen. H e r r Dr. Poensgen glaubt, daß das nicht in allen Fällen möglich sein wird u n d wir in manchen Fällen doch den Wünschen d e r Engländer w e r d e n folgen müssen. Bei d e r Schwierigkeit u n d der Größe der uns gestellten A u f gaben m ü ß t e n w i r auch den entsprechenden Mut h a b e n zur V e r a n t w o r t u n g gegenüber der Behörde. Sollte bei Abmachungen, die f ü r beide Seiten wichtig seien, einmal ein Land mit inbegriffen sein, ü b e r das die Ministerien Vereinb a r u n g e n nicht wünschen, so soll das A b k o m m e n u n t e r Vorbehalt geschlossen werden. Nachträglich ist d a n n die Zustimmung der Ä m t e r einzuholen. A n dieser Stelle f ü h r t Herr Dr. Guth aus, daß zweifelsohne von den Engländern der Einwand k o m m e n wird, sie r ä u m t e n u n s den Südosten Europas ein, d a f ü r sollten wir aber ihre Gegenforderung auf freie Hand in Südamerika z. B. berücksichtigen. Die Gewähr, daß Marktabreden gerade von englischer Seite v o r geschlagen werden, w ä r e recht groß. Insbesondere bat H e r r Dr. G u t h d a r u m , der Ansicht der Engländer entgegenzutreten, d a ß w i r durch unsere Ausdehnung nach dem Südosten Europas in gesteigertem Maße a u t a r k w ü r d e n . Das Gegenteil w ä r e richtig, denn je m e h r wir uns in dieser Richtung ausdehnten, u m so m e h r w ä r e n w i r auch darauf angewiesen zu exportieren, weil v e r s t ä r k t e r Import verstärkten Export notwendig mache. Nunmehr k o m m t H e r r Dr. Poensgen auf den Handel zu sprechen u n d berichtet von der Bitte Staatsrat Helfferichs 3 , den Handel in die Verhandlungen einzuschalten. Er halbe Staatsrat Helfferich gebeten, hiervon Abstand n e h m e n zu dürfen, da diese Einschaltung die Verhandlungen n u r komplizieren würde. Es w ä r e selbstverständlich, d a ß d e r Handel in allen Fällen hinzugezogen w ü r d e , in denen die Industrie den Weg über d e n Handel nimmt. Er sei davon überzeugt, daß die anwesenden Vertreter der deutschen Industrie genau wüßten, w a n n direkt oder indirekt a u s g e f ü h r t würde, u n d daß sie bei ihren Besprechungen das Interesse des Handels nicht außer acht lassen w ü r d e n . Wenn irgendwelche Wünsche in dieser Richtung geäußert würden, so sei der Handel hinzuzuziehen. I m übrigen sei H e r r Basson von der Wirtschaftsgruppe Groß-, Ein- u n d Ausf u h r h a n d e l nach Düsseldorf gekommen u n d stünde jederzeit zu Besprechungen zur Verfügung. Danach verliest H e r r Dr. Koppen die Richtlinien zu Ende u n d teilt dazu mit, daß das Auswärtige A m t u n d Reichswirtschaftsministerium ü b e r die zur Verhandlung gelangenden Fachdelegationen unterrichtet wären. H e r r Dr. Poensgen weist darauf hin, d a ß es sich hier nicht allein u m wirtschaftliche Verhandlungen handle, sondern u m eine Sache höchst politischer Natur. H e r r Dr. Poensgen b a t darum, diesem U m s t a n d Rechnung zu t r a g e n u n d d a f ü r zu sorgen, daß die Atmosphäre gut bleibe, u n d u n t e r allen Umständen zu v e r meiden, daß der Eindruck entstehen könne, die Industrie habe d a f ü r gesorgt, daß die S t i m m u n g zwischen Deutschland u n d England noch schlechter gewor3

Emil Helfferich, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Hamburg-Amerika-Linie (Hapag) und der Deutsch-Amerikanischen Petroleumgesellschaft, Leiter des Außenhandelsausschusses der Reichsgruppe Handel.

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den wäre. Aus seinen Unterhaltungen mit Sir William Larke habe er den Eindruck gewonnen, daß die Engländer mit Optimismus und gutem Willen nach Deutschland gekommen wären und sich von den Verhandlungen sehr viel mehr versprächen als wir Deutschen. Sie sollten daher möglichst nicht enttäuscht werden. Allerdings glaubten die Engländer selber auch nicht, daß wir auf den einzelnen Fachgebieten schon zu nennenswerten Erfolgen kommen würden. Herr Dr. Koppen berichtet sodann, wie die einzelnen Fachbespechungen zustande gekommen sind und nach welchen Grundsätzen die Gruppen ausgesucht wurden. Herr Dr. Poensgen setzt dann noch einmal auseinander, welche drei Gebiete für die Verhandlungen in Frage kommen: 1. Ausfuhr nach Großbritannien. Es bestünde die große Gefahr, daß das Board of Trade4 die Zölle für die Einfuhren erhöhe und dann wieder für Länder, mit denen es sich verständigt hat, Präferenzen einführt, z. B. für Eisen. Hier hätten die Engländer in früherer Zeit bei Nichteinigung mit den Deutschen die Zölle auf 50% heraufgesetzt, nach Verständigung aber auf 20 und später auf 10% reduziert. Um Deutschland allein zu bevorzugen, bestünde sogar die Möglichkeit, daß sie die Zollermäßigung nur auf Waren geben, die mit gewissen Begleitpapieren versehen wären. Durch diese Handhabung würden andere Länder von der Zollvergünstigung ausgeschlossen. 2. Ausfuhr in das Empire und die Kolonien. Diese Frage soll grundsätzlich innerhalb der Hauptdelegationen erörtert werden. Deutscherseits wolle man gegen das Ottawaabkommen vorgehen, das doch bereits schon durch das Abkommen mit Amerika5 unterbrochen wäre. Da dieser Einbruch bereits vollzogen wäre, müßten wir auch notwendigerweise die Meistbegünstigung bekommen. 3. Verständigung über dritte Märkte. Hier sei äußerste Vorsicht anzuwenden, wie sich aus den Richtlinien ergebe. Diese Einschränkung durch die Ministerien bedeute ein schweres Hemmnis, das in irgendeiner Form noch beseitigt werden müßte. Herr Dr. Koppen führt aus, das Idealergebnis einer jeden Vereinbarung sei eine Steigerung der Ausfuhr zu angemessenen Preisen. Das wäre aber leichter gesagt als getan. Es müsse vermieden werden, daß Quoten vereinbart würden, die nicht erfüllt werden könnten. Die Engländer wären wohl bereit, uns Deutschen einen Preisvorsprung zu geben. Im übrigen zielte aber das Vorgehen der Engländer darauf ab, über die Vereinbarung mit uns hinaus zu Abkommen zu gelangen, in die auch die Industrien anderer Länder mit eingeschlossen werden können. Herr Dr. Hipp6 weist darauf hin, daß man bei den Fachbesprechungen vermut4 5

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Britisches Handelsministerium. Gemeint ist der Handelsvertrag' zwischen Großbritannien und den USA vom 17.11. 1938. Dr. Otto Hipp, Mitglied der Geschäftsführung der Reichsgruppe Industrie, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Wirtschaftsprüfungs- und Treuhand AG.

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lieh immer auf die gleiche Schwierigkeit stoßen werde, daß nämlich die deutsche Seite besonders gute Preise erzielen wollte, während es der englischen Industrie mehr darauf ankäme, ihren Absatz zu vergrößern. England stände jetzt da, wo Deutschland vor ca. 2-3 Jahren stand, daß nämlich die A u s f u h r im Interesse der Arbeitsbeschaffung Ein erster Stelle stünde. In Deutschland habe sich das Blatt gewandelt. Unser Interesse an der Ausfuhr als solcher w ä r e nicht mehr sehr stark, da der Inlandsbedarf sehr groß wäre. Unser Interesse konzentriere sich allein auf den Deviseneingang. Eine allgemeine Norm lasse sich f ü r die Erfüllung beider Wünsche nicht aufstellen. In den Fachverhandlungen müßte je nach der Sonderheit der einzelnen Fälle ein Mittelweg, der beiden Teilen gerecht wird, gefunden werden. Herr Dr. Poensgen gibt dann noch einen kurzen Uberblick über die Entwicklung der deutschen Stahlausfuhr nach England, die von 2-3 Millionen t jährlich auf rund 500 000 t zur Zeit herabgesunken wäre. Dieser Rückgang sei allein durch die Schutzzölle der Engländer erreicht worden. Herr Dr. Poensgen hob dieses Beispiel besonders hervor, u m dadurch deutlich zu machen, welches Machtmittel die Engländer mit ihren Zollbestimmungen hätten. Abschließend verliest Dr. Hipp die Verteilung der Sitzungssäle f ü r die einzelnen Fachkommissionen und benennt die Dolmetscher, die f ü r die einzelnen Besprechungen zur Verfügung stehen. Herr Dr. Poensgen schließt die Sitzung um 11 Uhr.

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DOKUMENT 3

Protokoll über die Eröffnungssitzung der deutsch-englischen Industriebesprechungen am 15. u n d 16. März 1939 in Düsseldorf, an der die beiderseitigen Haupt- u n d Fachdelegationen teilnahmen.

Herr Dr. Poensgen eröffnet u m 11.05 Uhr die Sitzung und begrüßt die Anwesenden, wobei er besonders H e r r n Bennett u n d Sir William L a r k e hervorhebt. Sodann spicht Herr Dr. Poensgen über d e n Zweck unserer Z u s a m m e n k u n f t , der darin besteht, zu einer industriellen Zusammenarbeit zu gelangen. Durch p e r sönlichen Meinungsaustausch hofften wir, zu einem A b k o m m e n zu gelangen u n d infolgedessen zu einer Regelung von schwebenden Preis- u n d M a r k t f r a g e n . Der gegenwärtige Stand des Wettbewerbs zwischen britischen u n d deutschen Fabrikanten scheine nicht zufriedenstellend zu sein, da beide Teile offenbar gegeneinander k ä m p f t e n . Unsere Aufgabe w ü r d e es sein, Mittel u n d Wege z u r Beseitigung des Wettbewerbs zu finden u n d allgemeine Richtlinien f ü r eine gemeinsame Zusammenarbeit aufzustellen. Hierbei sei aber i m m e r zu berücksichtigen, d a ß nicht n u r Deutschland und England in der Welt v o r h a n d e n wären, sondern daß es auch noch andere Länder gäbe, die gleiche Industrien hätten wie wir. Er persönlich h a b e keine besonders hohe Meinung von Gentleman-Agreements, weil sie n u r eine begrenzte Lebensdauer hätten. Er sei aber der Ü b e r zeugung, daß der wirtschaftliche Rückgang durch feste A b k o m m e n ü b e r w u n d e n w e r d e n könne. In den Fachdelegationen sei n u n festzustellen, ob und welche Abkommen getroffen w e r d e n könnten. Herr Bennett d a n k t f ü r die freundliche Begrüßung u n d gibt seiner Meinung Ausdruck, daß die Zusammenarbeit zwischen der Federation of British I n dustries u n d der Reichsgruppe Industrie einen wesentlichen Beitrag zur Gesundung des Wirtschaftslebens der beiden Völker bedeuten würde. Zur Beseitigung von Schwierigkeiten sei es stets das beste, w e n n sich die Beteiligten mündlich hierüber aussprechen. Bei der A u s t r a g u n g eines scharfen Wettbewerbskampfes seien i m m e r die beiden Wettbewerber die Leidtragenden. England erkenne an, d a ß die deutschen Industrien exportieren müssen. Die gleiche Notwendigkeit läge aber auch auf englischer Seite vor. Beide Länder brauchten ihre Exporte, u m die Importe bezahlen zu können. Die gemeinsame Arbeit b e stünde darin, Mittel u n d Wege zu finden, u m beiden Ländern i h r e Exporte zu ermöglichen. Damit w ü r d e n wir zugleich einen Beitrag zur Weltprosperität leisten. Der Hinweis von H e r r n Dr. Poensgen auf die Industrien dritter Länder, die zu respektieren seien, erscheine ihm sehr beachtlich, u n d er bäte zu überlegen, o b

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nicht zu einem gegebenen Zeitpunkt andere Länder zu unseren Industriebesprechungen hinzugezogen werden sollen. Zunächst wollten wir uns aber auf unsere beiden Länder beschränken. Später könne dann der Kreis erweitert werden. Genau so verhalte es sich mit den einzelnen Industrien. Zuerst müßten sich einige verständigen, später würden dann weitere folgen. Herr Dr. Poensgen dankt Herrn Bennett für seine Worte und schließt mit der Feststellung, daß zwischen der deutschen und der englischen Auffassung, über die gemeinsamen Aufgaben Einigkeit bestünde. Er bat dann die Fachdelegationen, ihre Besprechungen aufzunehmen.

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DOKUMENT 4

Protokoll ü b e r die 1. Sitzung der beiderseitigen Hauptdelegationen der deutschenglischen Industriebesprechungen in Düsseldorf a m 15. März 1939, 11.30 Uhr.

I. Der Vorsitzende der deutschen Hauptdelegation, Dr. Ernst Poensgen, eröffnet die Sitzung u n d teilt mit, daß er bereits a m Vorabend mit Sir William Larke, dem Vorsitzenden der englischen Hauptdelegation, informelle Besprechungen ü b e r den Entwurf f ü r eine gemeinsame E r k l ä r u n g abgehalten habe, der v o n der englischen Hauptdelegation ausgearbeitet w o r d e n sei. Innerhalb der deutschen Hauptdelegation sei der Entwurf gleichfalls e r ö r t e r t worden, u n d m a n sei zu der Ansicht gekommen, daß der Entwurf etwas lang w ä r e u n d infolgedessen d e r K ü r z u n g bedürfe. Sir William Larke entwickelte die Vorgeschichte des E n t w u r f e s u n d weist auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Erklärung, die nicht zu k u r z g e f a ß t sein dürfe, hin. Erfreulich sei die Tatsache, d a ß ü b e r einige W a r e n g r u p p e n bereits A b k o m m e n getroffen w ä r e n ; andererseits seien Verhandlungen aber aus den verschiedensten Gründen, beispielsweise politischer Art, zum Stillstand gekommen, u n d es bestünde die Hoffnung, daß durch diese gemeinsame Erklär u n g die abgebrochenen Verhandlungen wieder a u f g e n o m m e n w e r d e n könnten. Die beiden Hauptdelegationen müßten sich der V e r a n t w o r t u n g b e w u ß t sein, die sie damit ü b e r n o m m e n haben, daß sie in großem R a h m e n Einigungen zwischen der deutschen u n d der englischen Industrie h e r b e i f ü h r e n wollten. Die Konkurrenz, die sich die deutschen u n d die englischen Industrien bereiteten, k ö n n e n u r durch industrielle Zusammenarbeit beseitigt werden. Die erste Voraussetzung d a f ü r sei aber der Wille, zu positiven A b k o m m e n zu gelangen. Durch k o n s t r u k t i v e Zusammenarbeit k ö n n e sehr viel zum Wohle der eigenen Völker sowie d e r ganzen Welt beigetragen werden. Die englische Delegation sei von d e m Wunsch zu einer Einigung völlig durchdrungen, u n d sie glaube auch fest an den g u t e n Willen d e r deutschen Industrie u n d an eine gedeihliche Z u s a m m e n a r b e i t u n t e r einander. Wenn irgendein Abschluß d u r c h g e f ü h r t würde, so d ü r f e m a n nicht glauben, daß dies d e m Wünsche von einer Seite allein entspräche, sondern es m ü ß t e so sein, daß der Abschluß den beiderseitigen Interessen entspricht. Die gemeinsame E r k l ä r u n g sei aber auch aus dem G r u n d e erforderlich, weil die Verhandlungen nicht n u r mit der Federation of British Industries g e f ü h r t w ü r d e n , sondern im G r u n d e m i t der gesamten englischen Industrie, u n d der m ü ß t e m a n etwas Positives überreichen können. W e n n die deutsche Delegation

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grundsätzlich mit dem Entwurf einverstanden wäre, dann k ö n n t e m a n d a r a n gehen, in dem einen oder anderen P u n k t e eine andere Fassung zu wählen. Es müßte aber erreicht werden, daß am Schluß der Tagung diese Erklärung u n t e r zeichnet werden könnte. Die endgültige Fassung überlasse m a n der deutschen Delegation; er gebe aber der Hoffnung Ausdruck, daß die gemeinsame Erklärung n u r im beiderseitigen Einvernehmen an die Presse gegeben würde. Er weise ausdrücklich darauf hin, daß der Inhalt des Entwurfes bisher n u r den Mitgliedern der englischen Hauptdelegation bekanntgegeben w o r d e n sei. Er schlage vor, daß der Entwurf jetzt P u n k t f ü r P u n k t durchgegangen w ü r d e u n d damit die Voraussetzung geschaffen w ü r d e f ü r eine endgültige Fassung der gemeinsamen Erklärung, auf deren Bedeutung er noch einmal hinweisen möchte, da die englischen Minister 1 den Wunsch geäußert haben, diese Erklärung in Berlin bereits überreicht zu bekommen. Herr Dr. Poensgen erklärt sich mit dem Wunsch der englischen Hauptdelegation auf sofortige E r ö r t e r u n g des E n t w u r f e s einverstanden. Sir William Larke beginnt, die Erklärung P u n k t f ü r P u n k t vorzulesen. Die P u n k t e 1 - 4 werden erörterungslos angenommen. Zu P u n k t 5 spricht H e r r Dr. Poensgen d e n Wunsch aus, die Worte „wasteful competition" zu streichen u n d d a f ü r folgende Fassung zu w ä h l e n : „ . . . zu treffen, die eine etwa a u f t r e t e n d e marktzerstörende Konkurrenz ausschließen." Sir William Larke erklärt sich mit der Ä n d e r u n g einverstanden. Die P u n k t e 6, 7 u n d 8 werden in der neuen Fassung des englischen Statements angenommen. Bei Ziffer 9 wird der Satz „and it is realised t h a t . . . by the agrieements." gestrichen. 2 Die P u n k t e 10, 11 u n d 12 w e r d e n angenommen. Herr Dr. Poensgen bittet noch u m eine Erklärung zu dem zusätzlich überreichten Vorschlag bezüglich des „Ständigen Komitees". Sir William Larke f ü h r t dazu aus, die englische Hauptdelegation schlage vor, ein Ständiges Komitee zu bilden, das vierteljährlich zusammenkommen sollte, u m die in der Zwischenzeit innerhalb der Fachdelegationen aufgetretenen Schwierigkeiten zu erörtern. Es sei notwendig, daß das Ständige Komitee aus Persönlichkeiten bestünde, die über große E r f a h r u n g e n in Kartellfragen usw. v e r f ü g t e n . Er w ü r d e es sehr begrüßen, w e n n das deutsche Komitee im J u n i nach London käme. Herr Dr. Poensgen d a n k t f ü r die Einladung u n d schließt sich der Ansicht von 1

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Für den 17. 3.1939 war ein Besuch des englischen Handelsministers Stanley und des Staatssekretärs im Britischen Überseehandelsministerium, Hudson, in Berlin geplant. Dieser Besuch sollte Höhepunkt und Abschluß der beiderseitigen Wirtschaftsverhandlungen sein. Die ursprüngliche Fassung des zweiten Teiles des Punktes 9 lautet: „and it is realised that the success of the policy of industrial agreements would be jeopardized by the continuance of uneconomic methods of competition in industries not covered by the agreements."

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Sir William Larke an, den soeben erörterten Vorschlag mit in die gemeinsame Erklärung aufzunehmen. H e r r Dr. Poensgen teilt weiterhin mit, daß nach seiner E r f a h r u n g Kommissionen an Mitgliederzahl im L a u f e der Zeit außerordentlich stark anwüchsen. Aus diesem G r u n d e halte er es f ü r zweckmäßig, das Ständige Komitee von vornherein sehr klein zu halten. Sir William Larke und H e r r Bennett schließen sich dieser Ansicht an, da sie gleichfalls der Meinung sind, daß eine kleine Kommission viel arbeitsfähiger ist. Sir William Larke weist allerdings noch einmal ausdrücklich darauf hin, daß beiden Parteien das Recht zustehen muß, die Kommission nach ihrem Belieben zu erweitern. II. N u n m e h r werden einige Einzelfragen erörtert. Herr Ramsden3 teilt hinsichtlich der Zuckermaschinen mit, daß der Verhandl u n g s f ü h r e r f ü r die englische Zuckermaschinenindustrie gestorben wäre. Die Vertreter d e r englischen Telephonkabelindustrie stünden zu Verhandlungen zur Verfügung. Es w i r d d a n n beschlossen, daß einige Einzelfragen mit Dr. Hipp in einer besonderen Sitzung erörtert werden. III. H e r r Dr. Poensgen äußert den Wunsch, einige allgemein interessierende Fragen innerhalb der Hauptdelegation zu erörtern. So scheine ihm von ganz besonderer Bedeutung die richtige Bemessung der Rohstoffpreise (cutting of prices). N u r durch eine angemessene Bezahlung von Kolonialprodukten wie z. B. Baumwolle, Kaffee, Tee, Zucker usw. könne die K a u f k r a f t der Rohstoffproduzenten so e r höht werden, d a ß sie in d e r Lage wären, in v e r s t ä r k t e m A u s m a ß e unsere Exp o r t w a r e n aufzunehmen. Statt daß aber durch erhöhte Rohstoffpreise die K a u f k r a f t gewachsen wäre, seien die Preise f ü r Fertigwaren gestiegen, wodurch n u r bewirkt wäre, diaß sich die Absatzmöglichkeiten verringert hätten. In diesen Fragenkomplex müsse aber unbedingt USA mit einbezogen werden, denn ger a d e dieses Land habe v o r dem Kriege im Interesse einer v e r s t ä r k t e n E i n f u h r Kredite aufgenommen u n d sei erst infolge seiner außerordentlich verstärkten Exporttätigkeit im L a u f e des Krieges zum reichsten Land der Welt geworden. Nach dem Kriege hielt es seine A u s f u h r a n n ä h e r n d auf der gleichen Höhe, w ä h rend die E i n f u h r e n außerordentlich stark im Verhältnis zu der Zeit vor dem Kriege zurückgingen. Sir William Larke äußerte, daß ihm diese F r a g e außerordentlich erörterungsw e r t erscheine. Er wolle dem Vorschlag von H e r r n Dr. Poensgen entsprechend die Ansicht ü b e r diesen P u n k t den englischen Ministern bekanntgeben. Er glaube, daß dieses Problem sehr sorgfältig behandelt w e r d e n müsse, insbesondere sei zu berücksichtigen, daß die Lage in USA ganz anders wäre, so beispiels3

Ramsden, Außenhandelsdirektor der Federation of British Industries.

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weise die besondere Finanzlage in USA, das sich durch seine überaus großen Goldreserven auszeichne. Herr Bennett teilt mit, daß er Ende August nach Amerika zu reisen beabsichtige und versuchen wolle, mit führenden amerikanischen Persönlichkeiten über diese Frage zu sprechen. Ihm erschiene es sehr wesentlich, Amerika zu der Position zurückzuverhelfen, die es früher innehatte. Herr Locock führte aus, daß er im Mai bereits nach Amerika ginge, um festzustellen, welche Organisationen in Amerika vorhanden sind, mit denen unter Umständen zusammengearbeitet werden könne. Bisher wisse man sehr wenig darüber, und es sei schwierig festzustellen, an wen man sich halten könne. Wenn der Augenblick günstig und die beiderseitigen Organisationen bereit wären, könnte man unter Umständen schon im Juni gemeinsame Besprechungen abhalten. Erschwert werde die Situation durch den raschen Wechsel der Dinge in Amerika. Er glaube, daß die Industrie sehr stark gegen Roosevelt4 eingenommen wäre; besonders aus dem Grunde, weil sich das amerikanische Großgeschäft außerordentlich verschlechtert habe. Die früher angewandten Methoden seien der eigenen Kontrolle entzogen, und er glaube, daß Amerika sich eines Tages dazu genötigt sehen würde, auch mit der europäischen Industrie zusammenzuarbeiten. Herr Dr. Poensgen weist darauf hin, daß bereits verschiedene Abmachungen auch mit der amerikanischen Industrie bestünden. Seine Erfahrungen gingen dahin, daß die Zusammenarbeit mit der amerikanischen Industrie außerordentlich schwer wäre. Man müsse aber dennoch versuchen, die Verbindung mit Amerika aufzunehmen. Sir William Larke ist der Ansicht, es würde gut sein, diesen Fragenkomplex zunächst einmal mit den Ministern zu bespechen. Er schlage aber vor, in die gemeinsame Erklärung einen ausdrücklichen Hinweis auf Amerika nicht aufzunehmen. Er wolle die deutschen Wünsche unterstützen, endgültig festlegen könnte er sich in dieser Richtung aber noch nicht. Die englische Hauptdelegation wolle diese Frage intern besprechen und der deutschen Hauptdelegation ihre Stellungnahme bekanntgeben. Daraus dürfe aber nicht der Schluß gezogen werden, daß dieser Punkt etwa fallengelassen werde. Herr Dr. Poensgen bringt noch einen weiteren Punkt zur Erörterung. Er erinnert daran, daß Deutschland vor dem Kriege reich und infolgedessen in der Lage war, alle Rohmaterialien vom Auslande zu kaufen. Ein großer Teil dieser Ankäufe sei in den Ländern des britischen Empires getätigt worden. Wesentlich trugen dazu die deutschen Auslandsanlagen im britischen Empire bei, deren Erträgnisse damals den Ausgleich unserer Zahlungen sicherstellten. Es müssen die Möglichkeiten zur Niederlassung deutscher Häuser im Gebiet des britischen Empires wieder erleichtert werden. In der Zeit nach dem Kriege wären aber Anordnungen getroffen worden, die diesen regen Verkehr unmöglich machten. Die Hauptschwierigkeiten tauchten dadurch auf, daß die Deutschen von den Engländern anders behandelt würden als andere Nationen. Die 4

Franklin D. Roosevelt, Präsident der U S A von 1933—1945.

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einzelnen Fälle seien ganz verschieden gelagert. Er glaube, es wäre gut, zur Politik der offenen Tür, wie sie früher betrieben wurde, zurückzukehren. Es wäre eine große Aufgabe f ü r die beiden Hauptdelegationen, diese Schwierigkeiten zu beseitigen und damit den Weg zu einer Ausdehnung des beiderseitigen Warenverkehrs zu eröffnen. Auf eine Zwischenfrage von Sir William Larke, ob diese Schwierigkeiten politischer oder gefühlsmäßiger Natur seien, erwiderte Herr Dr. Poensgen, daß man beides annehmen könnte. Sir William Larke erklärte sich dazu bereit, die von Herrn Dr. Poensgen aufgeworfenen Fragen zu erörtern, soweit sie die beiden Länder betreffen. Hinsichtlich der politischen Seite erklärt er die Delegation allerdings nicht f ü r zuständig. Er gibt der Hoffnung Ausdruck, daß die Schwierigkeiten überwunden werden könnten, glaubt [aber], daß man eine lange Zeit dazu benötigen werde. Auch glaube er, daß durch Beseitigung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten die politischen Differenzen beigelegt werden könnten. Herr Dr. Poensgen dankt f ü r das freundliche Anerbieten Sir William Larkes lind schlägt vor, für heute die Sitzung der Hauptdelegation zu schließen und erst am nächsten Vormittag um 10 Uhr zusammenzukommen. Inzwischen sollte die gemeinsame Erklärung so weit vorbereitet werden, daß sie morgen nachmittag unterzeichnet werden kann. IV. Herr Ramsden überreicht noch eine Liste von englischen Wünschen, die zwischen der deutschen und der englischen Industrie besprochen werden sollen und über die bereits Schriftverkehr der Federation of British Industries und der Reichsgruppe Industrie stattgefunden hat (Liste B).5 Die 9 Punkte werden im einzelnen durchgesprochen. Eine Erwiderung auf die von englischer Seite neu vorgebrachten Tatsachen soll auf schriftlichem Weg erfolgen. Außerdem werden sich Herr Ramsden und Dr. Hipp im Laufe des Nachmittags noch einmal detailliert über die einzelnen Fragen unterhalten. Die Sitzung wird um 13 Uhr geschlossen. 5

Liste B ist nicht aufgefunden worden.

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DOKUMENT 5

Protokoll ü b e r die 2. Sitzung der beiderseitigen Haupdelegationen d e r deutschenglischen Industriebesprechungen in Düsseldorf am 16. März 1939.

Herr Dr. Poensgen eröffnet die Sitzung u m 17.10 U h r u n d stellt die gemeinsame Erklärung noch einmal zur Erörterung. Grundsätzlich abzuändern w a r n u r der P u n k t 5, den Sir William Larke noch einmal in der f r ü h e r e n u n d in der jetzigen Fassung vorliest. Mit der v o n deutscher Seite vorgeschlagenen Abänderung erklärt er sich einverstanden, u n d die wörtliche Übersetzung des deutschen Textes ins Englische w i r d angenommen. Herr Ramsden erklärt, daß er mit H e r r n Dr. Hipp u n d H e r r n Jordan 1 zusammen die E r k l ä r u n g P u n k t f ü r P u n k t durchgesprochen habe, u n d sie h ä t t e n den Eindruck gewonnen, daß beide Teile zu sehr guten Übersetzungen gekommen w ä r e n und daß m a n sich mit allen Änderungen einverstanden erklären könne, da die Übersetzungen identisch seien. Danach wird die von der deutschen Seite vorgeschlagene Presseerklärung 2 besprochen, die H e r r Ramsden in englischer Übersetzung verliest. Die englische Delegation e r k l ä r t sich mit dem T e x t einverstanden. Danach schließt H e r r Dr. Poensgen u m 17.25 U h r die Sitzung. 1 2

Jordan, Vertreter der Federation of British Industries in Deutschland. Diese Presseerklärung ist nur in Auszügen veröffentlicht in: Anatomie des Krieges, Dok. 91.

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der Vorbote einer größeren internationalen Zusammenarbeit zwischen den Industrien angesehen werden soll, die dazu bestimmt ist, den Weltkonsum und folglich auch die Produktion zum Segen aller Betroffenen zu erhöhen. 12) Das letzte Ziel muß sein, das Gedeihen der ganzen Welt zu fördern. Die Reichsgruppe Industrie und die Federation of British Industries sind der Ansicht, daß ihre Besprechungen in dem Ergebnis gipfeln, eine gesunde Grundlage geschaffen zu haben, auf der die einzelnen Industrien nutzbringend in Verhandlungen eintreten können. Um den Erfolg dieser Politik zwischen der Reichsgruppe Industrie und der Federation of British Industries für die Zukunft sicherzustellen, ist ein ständiges Komitee der beiden Organisationen gebildet worden. Dieses soll in regelmäßigen Zusammenkünften den jeweiligen Stand der Verhandlungen überprüfen. Die Federation of British Industries hat die deutschen Mitglieder dieses gemeinsamen Komitees eingeladen, im Juni den Besuch in England zu erwidern. Die Einladung ist von den deutschen Kollegen dankend angenommen worden.

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DOKUMENT 7

Protokoll über die Abschlußsitzung der deutsch-englischen Industriebesprechungen am 16. März 1939 in Düsseldorf, an der die beiderseitigen Haupt- u n d Fachdelegationen teilnahmen.

Herr Dr. Poensgen eröffnet die Sitzung um 17.30 Uhr und teilt mit, daß die Hauptdelegationen eine von der englischen Seite ausgearbeitete gemeinsame Erklärung eingehend beraten und heute abend unterzeichnet hätten. Er bat Sir William Larke, den englischen Text zu verlesen. Sir William Larke verliest den englischen Text. Darauf trägt Herr Dr. Poensgen die deutsche Fassung 1 vor. Im Anschluß daran bittet Herr Dr. Poensgen die Führer der einzelnen Gruppen, durch Verlesung der Protokolle oder durch einen Vortrag über das Ergebnis der Verhandlungen zu berichten. 1. Zuckermaschinen2 Da ein englischer Vertreter f ü r diesen Industriezweig nicht mehr anwesend ist, verliest Herr Quitmann von der Wirtschaftsgruppe Maschinenbau sowohl den englischen als auch den deutschen Text des Abkommensentwurfs. 2. Landwirtschaftliche Maschinen3 Die Verlesung der Protokolltexte erfolgte wiederum durch Herrn Quitmann von der Wirtschaftsgruppe Maschinenbau. 3. Motorräder4 Major Watling von der British Cycle & Motor Cycle Manufacturers & Traders Union, Ltd., machte f ü r die englische Seite etwa folgende Ausführungen: Mit Rücksicht auf die Länge des Protokolls wollte er von einer Verlesung Abstand nehmen. Eingangs erklärte er, daß die britische und die deutsche Motorradindustrie am stärksten auf dem Weltmarkt vertreten wären. Infolgedessen sei der Wunsch, zu einem Abkommen zu gelangen, verständlich. Er habe den deutschen Vertretern eingehendes Material überreicht, das eines gründlichen Studiums bedürfe, insbesondere darauf hin, ob nicht irgend etwas darin enthalten wäre, was der deutschen Industrie gefährlich erscheine. Ihm läge insbesondere daran, die Preise zu kontrollieren und ein Dumping zu verhindern. 1 2 3 4

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Dok. Dok. Dok. Dok.

6. 3. 9. 10.

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Die freundschaftliche Verbindung müßte so weit gehen, daß eine Überprüfung der Preise jederzeit möglich sei. Den Wunsch der Deutschen, die Präferenzen auf den Empire-Märkten zu beseitigen, wolle er gern vertreten. Er glaube aber nicht, daß ihm ein Erfolg beschieden sein würde. Weitere Besprechungen sollten baldmöglichst in Deutschland vorgenommen werden. Die Möglichkeit, andere Länder, z. B. USA, in die Besprechungen mit einzubeziehen, soll einer späteren Prüfung vorbehalten bleiben. Generaldirektor v. Falkenhayn von den NSU-Werken, Neckarsulm, trug inhaltlich ungefähr dasselbe vor wie Major Watling und fügte nur erklärend hinzu, daß die deutschen Preise zwar sehr niedrig wären, Sie deutsche Motorradindustrie aber durch die englischen Preise zu diesen Preisfestsetzungen gelangt wäre. Das von englischer Seite überreichte Material sei sehr interessant. Es beruhe auf der Statistik der Importländer. Von Interesse sei es insbesondere deswegen, weil die beiderseitigen Industrien bei fortlaufendem Austausch ihres Materials von ihren ausländischen Vertretern unabhängiger würden. So sei vereinbart, die Verkaufslistenpreise 1938 auszutauschen und in Zukunft ganz offen über Nachlässe, sonstige Unterstützungen, Diskont, Rabatt usw. zu sprechen. Hinsichtlich der Preisverständigung habe er zum Ausdruck gebracht, daß die Benachteiligung der deutschen Industrie innerhalb des britischen Empires durch Zölle, Präferenzen usw. beseitigt werden müßte. Grundsätzlich bestand aber Klarheit darüber, daß in gleichem Maße, wie die deutsche Industrie in den Empireländern benachteiligt wäre, die englische Industrie Absatzschwierigkeiten in den Ländern hätte, mit denen wir Clearingabkommen getroffen hätten. 4. Uhrenindustrie5 Herr Barrett von der Firma Smith's English Clocks Ltd. trug vor, daß bei den beiderseitigen Uhrenindustrien seit vielen Jahren der Wunsch bestanden habe, in Deutschland zu Besprechungen zusammenzukommen. Das ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht möglich gewesen. Alle bisherigen Besprechungen haben in England stattgefunden. Auf dieser Tagung sei ein prohibitiv agreement6 zwischen den beiderseitigen Industrien geschlossen worden. Im Mai würde man wieder zusammenkommen, und zwar sollen die neuen Verhandlungen in der Schweiz abgehalten werden. Im übrigen äußerte sich Herr Barrett außerordentlich befriedigt über den freundschaftlichen Verlauf der Besprechungen. Herr Speck, i. Fa. E. Speck, Schwenningen a. N., verliest den deutschen Text der deutsch-englischen Vereinbarungen auf dem Gebiete der Uhrenindustrie. 5. Textilindustrie (gewirkte Damenstrümpfe)7 Für die englische Seite verliest Herr Stockdäll, National Federation of Hosiery Manufactures' Association, und für die deutsche Seite Herr Weinhold von der Fachuntergruppe Flachstrumpfwirkerei den Text des Abkommens über Damenstrümpfe. 5 6 7

Vgl. Dok. 11. Prohibitiv agreement: Schutzzollabkommen. Vgl. Dok. 12.

26 Jahrbuch 18

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Christel

Nehrig

6. Schnellstahl8 Herr Shapman von der Firma William Jessop & Sons Ltd. teilte mit, daß die Besprechungen zwischen der High Speed Steel Association und dem Deutschen Edelstahl-Verband außerordentlich fruchtbringend verlaufen wären. Nach eingehender Erörterung der Weltprobleme auf dem Gebiet des Schnellstahls seien die Besprechungen mit einem befriedigenden Abkommen abgeschlossen worden. Die deutschen und die englischen Gruppen haben bereits vor 6 Jahren eine gemeinsame Basis für ihre Zusammenarbeit gefunden. 1937 sollte dieses Abkommen, das im beiderseitigen Interesse lag, erweitert werden. In den verschiedenen Besprechungen, die deswegen abgehalten wurden, seien aber erhebliche Schwierigkeiten aufgetaucht, die auch jetzt in Düsseldorf zunächst einmal nicht hätten beseitigt werden können. Erst durch die Vermittlung der Hauptdelegation sei es gelungen, alle schwebenden Streitpunkte zu bereinigen und ein beide Teile zufriedenstellendes Abkommen zu treffen. Herr Dr. Kossmann, Geschäftsführer des Deutschen Edelstahl-Verbandes, machte für die deutsche Seite inhaltlich die gleichen Ausführungen wie Herr Shapman. 7. Fitting9 Herr Dr. Poensgen teilte mit, daß man nach einer Erklärung von Herrn Macdiarmid, der inzwischen leider abgereist sei und infolgedessen nicht selbst berichten könne, zu einem vollen Abkommen gelangt sei und daß dieser ganze Vertragsabschluß sich in IV2 Minuten erledigt habe. Herr Dr. Poensgen brachte noch einmal sein Bedauern darüber zum Ausdruck, daß Herr Macdiarmid nicht persönlich seine Ausführungen habe machen können. Abschließend dankte Herr Dr. Poensgen allen Berichterstattern und konnte mit Genugtuung feststellen, daß einige Erfolge zu verzeichnen gewesen sind. So sehr wie er sich freute, die einzelnen Herren persönlich wiederzusehen, so hoffe er doch, daß es innerhalb solcher Tagungen nicht mehr nötig sein würde, weil sich die Gruppen nämlich endgültig geeinigt hätten. Herr Dr. Poensgen gab dann ein Telegramm von Herrn Zangen bekannt, in dem er außerordentlich bedauerte, in Düsseldorf nicht anwesend sein zu können. Herr Dr. Poensgen wandte sich dann noch einmal der englischen Hauptdelegation zu und dankte ihr, insbesondere Sir William Larke, für die Mitarbeit und für die zur Schau getragene geistige Haltung, in der die gemeinsame Arbeit verrichtet wurde. Er lobte insbesondere den Willen, englischerseits auf die deutschen Wünsche einzugehen. Vor allem dankte er für den vorgelegten Entwurf für die gemeinsame Erklärung, der als Basis für die Entschließung außerordentlich gute Dienste geleistet habe. Herr Dr. Poensgen brachte sodann sein Bedauern darüber zum Ausdruck, daß den deutschen und englischen Ministern nicht unmittelbar im Anschluß an die Tagung in Berlin berichtet werden konnte. Er hoffe aber, daß trotz der besonderen, in der Zwischenzeit eingetretenen Um8 9

Vgl. Dok. 13. Armaturenindustrie.

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stände auf beiden Seiten die Überzeugung herrschte, daß diese Arbeit nur ein, wenn auch sehr vielversprechender, Anfang war und daß in Zukunft noch sehr viel getan werden müsse, um die Arbeit positiv zu gestalten. Herr Bennett führte danach aus, daß ihm die sehr angenehme Aufgabe zufalle, am Ende einer zweitägigen Besprechung sagen zu können, daß von den Delegationen das geleistet wäre, was sie sich vorgenommen hätten. Zwar seien die Arbeiten nicht endgültig abgeschlossen, aber das hätte auch niemand erwartet. Sodann dankte er den deutschen Teilnehmern f ü r die ausgezeichnete Vorbereitung, die es erst ermöglichte, einen so verhältnismäßig großen Erfolg zu erzielen. Insbesondere lobte Herr Bennett auch noch die einzelnen Fachkommissionen, die in richtiger Erkenntnis des Geistes, der bei gegenseitigen Verhandlungen vorherrschen muß, stets der Ansicht der Gegenseite Rechnung getragen habe. Faire Verhandlungspartner müssen sich auch mit dem Problem des anderen auseinandersetzen, und bei der Verschiedenheit und Vielgestaltigkeit der Probleme könne es wohl einmal vorkommen, daß nicht gleich beim ersten Mal ein Abschluß erzielt werden könne. Die Fachdelegationen sollten dann aber nicht den Mut verlieren, sondern beim nächsten Mal nach reiflicher Prüfung an die Verhandlungen herangehen. Im übrigen würde er es begrüßen, wenn die einzelnen Gruppen in Fällen, in denen sie nicht weiterkommen, an die Hauptverhandlung mit der Bitte um Vermittlung herantreten würden. Wie tunlich dies sei, zeige der Fall von Edelstahl.

27 J a h r b u c h 18

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Christel Nehrig

DOKUMENT 8

Abschrift Düsseldorf, den 16. März 1939

Vorschläge der deutschen Fachdelegation f ü r die von der englischen Seite angeregte Besprechung im April betr. Zuckermaschinen.

Leider w a r es der englischen Delegation infolge Ablebens eines ihrer Mitglieder nicht möglich, zur Besprechung zu erscheinen. Die englischen F a b r i k a n t e n von Zuckermaschinen haben sich jedoch erfreulicherweise geäußert, im April eine Z u s a m m e n k u n f t der beiden Industrien herbeizuführen. Die deutsche Fachdelegation h a t die P u n k t e festgelegt, welche als Basis f ü r die beabsichtigte Besprechung im April dienen können. Die Einzelheiten der Vorschläge werden der Federation of British Industries durch die Reichsgruppe Industrie übermittelt werden, u n d die deutsche Delegation w ü r d e sich freuen, zur gegebenen Zeit die Wünsche der Gegenseite zu hören. Der H a u p t p u n k t , ü b e r welchen die deutsche Zuckermaschinenindustrie ein Abkommen m i t der Gegenseite erreichen möchte, betrifft die Zahlungsbedingungen f ü r Geschäfte in Britisch-Indien. Ähnliche Absprachen könnten evt. auch f ü r andere Länder später gemacht werden. Es k a n n f e r n e r festgestellt werden, daß die deutschen Zuckermaschinenhersteller sich bereit erklärt haben, zu einer Absprache mit der englischen Seite zu kommen ü b e r Preise f ü r Zuckerwalzwerke u n d Nachbehandlungsmaschinen. Schließlich k a n n noch darauf hingewiesen werden, daß Bereitwilligkeit seitens der deutschen Seite besteht, auch über die folgenden Maschinen zu sprechen: 1. Tabakmaschinen, 2. Teebearbeitungsmaschinen, 3. Kaffeebearbeitungsmaschinen, 4. Bäckereimaschinen.

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DOKUMENT 9 Abschrift

Düsseldorf, den 16. März 1939

Ergebnis über die Besprechung der Fachdelegation der englischen und deutschen Landmaschinenindustrie, vertreten durch Mr. Albert Cowburn, als Vertretung der Agricultural Engineering Association, London, einerseits

und Direktor I. G. Fahr, Maschinenfabrik Fahr, Gottmadingen, Prokurist Hugo Schwarz, „ „ „ Direktor Hassler und | i. Fa. Heinrich Lanz, Direktor P. J. Zils j Mannheim Herrn Greve, Fachgruppe Landmaschinenbau, „ Quitmann, Wirtschaftsgruppe Maschinenbau, andererseits. Beide Parteien tauschten ihre Ansichten aus und nahmen Kenntnis von den gegenseitigen Wünschen und Absichten. Die Verhandlungen verliefen im Geiste gegenseitigen Verstehens, und es besteht die Möglichkeit, auf Grund der heutigen Besprechung den Meinungsaustausch fortzusetzen mit der Absicht, definitive Absprachen zu treffen über verschiedene Fragen, von denen die Einzelheiten inzwischen noch geklärt werden müssen. Es wurde vorgeschlagen, die nächste Zusammenkunft zwischen den beiden Industrien im Juli stattfinden zu lassen anläßlich der Royal Show in Windsor.

27*

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Christel Nehrig

DOKUMENT 10

Abschrift

Niederschrift über das Ergebnis der Aussprache der Fachdelegationen der britischen und deutschen Motorradindustrie am 16. März 1939.

Teilnehmer: Major Watling (Direktor der British Cycle and Motor Cycle Manufactures & Traders Union Ltd.) Generaldirektor von Falkenhayn (NSU) (Leiter der Fachgruppe Krafträder) Dr. Hufenbecher (Fachgruppe Krafträder) Dr. Müllensieten (Reichsgruppe Industrie). Auf dem Weltmarkt sind seit vielen Jahren nur die Produktionen der britischen und deutschen Motorradindustrie von Bedeutung. Der wechselseitige Export beider Länder ist mit Rücksicht auf die zur Zeit bestehenden Zollsätze seit mehreren Jahren ohne wesentliche Bedeutung. Auf der anderen Seite besteht seit vielen Jahren, vor allem auf motorsportlichem Gebiet, engste freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen der britischen und deutschen Motorradindustrie und hat von jeher der Wunsch bestanden, auch in der die beiden Länder gleichermaßen interessierenden Exportfrage zu einer Einigung zu kommen. In diesem Sinne sind sich auch heute die Fachdelegationen beider Länder darüber einig, daß eine grundsätzliche Zusammenarbeit auf dem Weltmarkt erstrebenswert erscheint. Major Watling übergab der deutschen Delegation sehr eingehendes statistisches Material, aufgeteilt nach Stückzahl und Durchschnittswert der britischen, deutschen und amerikanischen Motorradausfuhr in alle Weltländer seit dem J a h r e 1934. Bei der wertmäßigen Gegenüberstellung hat Major Watling in den Jahren 1934 bis 1936 einschließlich das P f u n d zu RM 12,16 bis RM 12,85, f ü r die J a h r e 1937 und 1938 das P f u n d zu RM 16,- umgerechnet. Deutscherseits lag eine genaue Statistik des deutschen Motorradexportes in der Zeit vom 1. J a n u a r bis 30. September 1938 vor. Das englische statistische Material ist aufgebaut auf den veröffentlichten amtlichen Statistiken, wie sie von den Importländern geliefert wurden; inwieweit Fehlerquellen vorhanden sind, konnte nicht übersehen werden. Die beiden Delegationen waren sich darüber einig, 1. das vorgelegte statistische Material auf seine Richtigkeit eingehend zu prüfen,

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2. zur Vermeidung von Fehlerquellen eine Zusammenstellung des K r a f t r a d exportes beider Länder im J a h r e 1938 nach folgendem Gesichtspunkt auszutauschen: Exportländer u n d Stückzahl, aufgeteilt in folgende Hubraumklassen: Motorfahrräder bzw. Kleinstkrafträder bis 100 ccm K r a f t r ä d e r bis 125 ccm K r a f t r ä d e r bis 250 ccm K r a f t r ä d e r bis 350 ccm K r a f t r ä d e r bis 500 ccm Krafträder über 500 ccm. Bei der Aussprache, auf welchem Wege eine Einigung zwischen den beiden Industrien möglich wäre, brachte M a j o r Watling den Wunsch zum Ausdruck, eine Preisverständigung herbeizuführen, u m das gegenseitige Unterbieten auf dem Weltmarkt, welches beide Industrien n u r schädigte, zu verhindern. Hierbei wies Herr M a j o r Watling darauf hin, daß nach den bei ihm v o r h a n d e n e n Unterlagen die deutschen K r a f t r ä d e r im Ausland zu f ü r die englische Industrie unerträglich niedrigen Preisen v e r k a u f t w u r d e n . H e r r von F a l k e n h a y n wies darauf hin, daß die deutsche Industrie nicht das geringste Interesse d a r a n hätte, zu Schleuderpreisen i m Auslande zu verkaufen, u n d daß alle deutschen Exportpreise durch eine Exportkommission der Industrie kontrolliert w ü r d e n . Entgegen den Bemerkungen von Major Watling h ä t t e die deutsche Motorradindustrie den Eindruck, daß die Exportpreise der englischen Motorräder v e r antwortlich seien f ü r die niedrigeren Preise der deutschen Motorräder. U m ein f ü r alle Mal diese wichtige Frage zu klären, w u r d e vereinbart, 1. die Verkaufslistenpreise des J a h r e s 1938 in den verschiedenen Ländern auszutauschen u n d festzustellen, wie weit die Händler diese Preise innehielten, 2. Informationen auszutauschen über Diskont, R a b a t t u n d a n d e r e Bewilligungen, die in diesen Ländern g e w ä h r t werden, u n d ü b e r die Praxis der Frachtbezahlungen. Die vorliegenden Informationen zeigten, daß weder die britische noch die d e u t sche Industrie bis jetzt die Verkaufslistenpreise der Länder in f r e m d e n Ländern kontrolliert hatten. Auch die deutsche Delegation gab zum Ausdruck, daß sie in einer Preisverständigung den ersten Schritt zu einer Zusammenarbeit erblicke. Dabei brachte H e r r von F a l k e n h a y n zum Ausdruck, daß eine solche Preisverständigung selbstverständlich voraussetze, daß die beiden Industrien auf dem gesamten Weltmarkt, also auch im britischen Empire, gleiche Wettbewerbsbedingungen erhalten. Bisher beständen u. a. im gesamten britischen E m p i r e diese gleichen Wettbewerbsbedingungen f ü r die deutsche Industrie nicht. M a j o r Watling erklärte, daß eine Ä n d e r u n g der Präferenzen im britischen E m p i r e f ü r die englische Motorradindustrie, u m der deutschen Motorradindustrie gleiche Bedingungen zu gewähren, nicht möglich wäre. Dieser Vorteil der englischen Industrie im britischen Empire w ü r d e dadurch wettgemacht, daß die deutsche Industrie in Ländern, die im Clearingverkehr mit Deutschland stehen, der englischen den Wettbewerb unmöglich machte.

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Christel

Nehrig

Herr Major Watling ist der Ansicht, daß in jedem Falle eine Preisverständigung wenigstens für die Länder, die nicht zum britischen Empire bzw. zum deutschen Clearing gehörten, von Vorteil wäre. Zusammenfassend stimmten beide Delegationen überein, daß das erreichte Ergebnis so freundschaftlich und nützlich sei, daß weitere Besprechungen so bald als möglich veranstaltet werden sollten, wenn mehr Informationen erlangt wären, und Major Watling erklärte sich bereit, einer Einladung des Herrn von Falkenhayn baldmöglichst zu einer Zusammenkunft in Deutschland mit der deutschen Motorrad-Export-Kommission Folge zu leisten. Weiter stimmen beide Delegationen überein, daß, wenn auch die Besprechungen sich bis jetzt auf die Lage der britischen und deutschen Motorradindustrien beschränkt haben, es wünschenswert sei, in einem späteren Zeitpunkte auch die Lage der Industrien anderer Erzeugungsländer, besonders der Vereinigten Staaten, in Betracht zu ziehen. gez. v. Falkenhayn

gez. Watling

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DOKUMENT 11 Abschrift

Düsseldorf, den 16. März 1939

[Protokoll über die Besprechung zwischen der deutschen u n d englischen U h r e n industrie.]

Bei dem Zusammentreffen der Reichsgruppe Industrie und d e r Federation of British Industries am 15. u n d 16. März 1939 in Düsseldorf f a n d eine Besprechung statt zwischen der deutschen Uhrenindustrie u n d derjenigen v o n Großbritannien. Bei der Z u s a m m e n k u n f t w a r e n anwesend: Herr Speck, Herr Junghanns, H e r r Jung, H e r r Dr. Netzner, H e r r Lanzendörfer. Die britische Uhren-Industrie w a r vertreten durch H e r r n Barrett. Es besteht folgende Übereinstimmung: Den Interessen der deutschen u n d britischen Uhrenhersteller w i r d am besten durch ein enges Zusammenarbeiten gedient. Es w u r d e auch anerkannt, daß die nützlichsten u n d wirksamsten Result a t e von einer solcher Zusammenarbeit k o m m e n w ü r d e n , welche allmählich auf begrenzten, aber genau festgelegten P u n k t e n a u f b a u e n soll. Weil die deutschen Uhrenhersteller ein beträchtliches Geschäft auf dem Markt des Vereinigten Königreichs von Großbritannien haben, soll zunächst ein Abkommen getroffen werden, welches die Marktregelung f ü r U h r e n n u r f ü r Großbritannien u m f a ß t . Später k a n n dieses auf die M ä r k t e des britischen Empires ausgedehnt werden, falls dieses gegenseitig wünschenswert erscheinen sollte. Ein Unterkomitee der deutschen Fachgruppe Uhren-Industrie, bestehend sowohl aus den großen als auch aus den kleinen Fabriken, soll ein Unterkomitee der britischen Uhrenhersteller-Vereinigung w ä h r e n d des Monats Mai treffen, u m endgültig Einzelheiten festzulegen u n d ein A b k o m m e n zu treffen. Diese Zus a m m e n k u n f t findet in Basel (Schweiz) statt. Man k a m f e r n e r überein, daß das Abkommen zwei J a h r e gelten soll u n d von beiden Seiten vierteljährlich gekündigt w e r d e n kann. Erfolgt keine Kündigung, so verlängert sich das A b kommen von J a h r zu J a h r . Die Punkte, welche H e r r Barrett in seinem Memorandum, gezeichnet B.1, a n f ü h r t e , sollen in Betracht gezogen werden, w e n n über 1

Unterlagen bisher nicht ermittelt.

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Christel

Nehrig

die Abkommen endgültig verhandelt wird, da diese Punkte ein wesentliches Material f ü r die Verhandlungen bieten. Zuerst soll ein Abkommen über Schlagwerke und komplette Uhren mit Schlagwerken getroffen werden. Die Besprechung kann auf andere Werktypen ausgedehnt werden, wenn es gewünscht wird. Wenn das vorgeschlagene Abkommen endgültig geschlossen ist und irgendwelche unvorhergesehene Konkurrenzen oder Schwierigkeiten entstehen sollten, hat man sich sofort hiermit auf einer Sitzung der Vertreter von beiden Seiten zu beschäftigen.

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DOKUMENT 12

Abschrift

Vereinbarung zwischen der britischen und deutschen Strumpfindustrie in Düsseldorf am 16. März 1939.

Am 16. März 1939 trafen sich in Düsseldorf erstmalig Vertreter der englischen und deutschen Damenstrumpfindustrie. Nach eingehender Aussprache über die Lage der britischen und großdeutschen Strumpfindustrie bestand Ubereinstimmung in folgenden Punkten: 1. Unter Berücksichtigung der augenblicklichen englischen Marktlage ist die deutsche Damenstrumpfindustrie bereit, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, in Zukunft die Ausfuhr von Bemberg-kunstseidenen Damenstrümpfen I. Wahl zu unterbinden, die in England bei Inanspruchnahme der normalen Handelsspanne zu sh —/1/6 verkauft werden können. 2. Hinsichtlich der Preislage für Bemberg-kunstseidene Damenstrümpfe, die in England zu sh-/l/ll verkauft werden, prüft die englische Gruppe, ob eine Preisänderung nach oben eintreten kann, und macht sodann entsprechende Vorschläge. Die deutsche Industrie wird die Vorschläge wohlwollend prüfen und zur Grundlage neuer Verhandlungen machen. 3. Die deutsche Strumpfindustrie ist im übrigen bereit, auch alle sonstigen Vorschläge der englischen und britischen Strumpfindustrie bezüglich des englischen Marktes und der dritten Märkte zu prüfen. Die britische und deutsche Damenstrumpfindustrie begrüßen die heutige Fühlungnahme als Einleitung für weiteres Zusammenarbeiten. '

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Christel

Nehrig

DOKUMENT 13

Abgekürztes Protokoll über die Besprechungen zwischen dem Deutschen Edelstahl-Verband und der High Speed Steel Association in Düsseldorf.

Am 15. und 16. März 1939 haben Verhandlungen mit den Vertretern der High Speed Steel Association stattgefunden, die die Verhandlungen fortsetzten, die seit über 2 J a h r e n geführt worden sind und seit dieser Zeit sich im großen und ganzen bewährt haben. Besondere Schwierigkeiten waren diesmal zu überwinden, weil eine der kontinentalen Gruppe bisher gewährte 5%ige Preispräferenz in Britisch-Indien von den Engländern zurückgezogen wurde. Da eine Einigung zwischen den beiderseitigen Delegationen nicht zustande kam, wurde an die Hauptdelegation appelliert, und unter Führung von Sir William Larke, Herrn Dr. von Schnitzler und Herrn Junghans kam eine Einigung zustande, auf Grund deren die Präferenz den Mitgliedern der kontinentalen Gruppe nur noch bei einer Anzahl von Eisenbahnen gewährt wird, während im übrigen die kontinentale Gruppe auf die Präferenz verzichtet. Im übrigen übernahm es Sir William Larke, seinen ganzen Einfluß dahin geltend zu machen, daß die f ü r die kontinentale Gruppe sehr störenden englischen Außenseiter sich dem Vorgehen der High Speed Steel Association anschließen.

Verhandlungen der Industrie 1939

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DOKUMENT 14

[Schreiben des Hauptgeschäftsführers der Reichsgruppe Industrie, Karl Guth]; An die Wirtschaftsgruppen zur Bearbeitung, Industrieabteilungen, der Wirtschaftskammer, Reichswirtschaftskammer, Reichsstelle f ü r Außenhandel, Außenhandelsstellen, Herren Mitglieder des Beirats, des Außenhandelsausschusses und des Sonderausschusses f ü r Devisenfragen zur Kenntnisnahme.

Vertraulich

Berlin W 35, 28. 3.1939 Tirpitzufer 56/58

Betrifft: Deutsch-englische Industriebesprechungen. In der Anlage 1 senden w i r einen Bericht über das erste Zusammentreffen zwischen der Reichsgruppe Industrie und der Federation of British Inidustries am 15. und 16. März in Düsseldorf. Dieser Bericht ist vertraulich zu behandeln, insbesondere die Angaben über die einzelnen Fachkommissionen. Wenn auch die politische Lage noch nicht erkennen läßt, wann die Wiederaufnahme von Verhandlungen zwischen der deutschen und der englischen Industrie möglich sein wird, so möchten wir Sie doch jetzt schon bitten, uns gemäß unserem Rundschreiben vom 4. Januar 19392 weitere Anregungen f ü r die deutschenglischen Industriebesprechungen zu unterbreiten. Von englischer Seite sind uns bisher insgesamt etwa 50 derartige Wünsche f ü r Verhandlungen zugegangen. Die Zahl der Anregungen von deutscher Seite ist wesentlich geringer. Wir bitten zu berücksichtigen, daß sich hier eine Gelegenheit bietet, die deutschenglischen Wirtschaftsbeziehungen in neue Bahnen zu lenken u n d auf eine Grundlage zu stellen, die einen unmittelbaren Erfolg des Exports herbeiführen kann. Die Besprechungen der Fachdelegationen werden, nachdem sie durch u n s und die Federation of British Industries eingeleitet worden sind, in Z u k u n f t nicht ausschließlich im Rahmen der besonderen Tagungen d e r Hauptdelegationen erfolgen, vielmehr erfordert in verschiedenen Fällen eine Beschleunigung und Intensivierung dieser Besprechungen auch zwischenzeitliche gesonderte Verhandlungen der Fachkommissionen. In diesen Fällen legen wir Wert darauf, über derartige Sonderverhandlungen auch zwischenzeitlich stets unterrichtet zu werden. Erwünscht wäre es, daß der endgültige Abschluß von Vereinbarungen in besonderer Form im Rahmen der in Aussicht genommenen regelmäßigen Tagungen der Hauptdelegationen stattfinden würde.

1 2

Vgl. Dok. 15. ZStAP, Film Nr. 6482.

414

Christel

Nehrig

In V e r b i n d u n g m i t I h r e n A n r e g u n g e n z u V e r h a n d l u n g e n m i t den englischen Industriellen bitten wir u m folgende Angaben: 1. e i n e S a c h d a r s t e l l u n g u n t e r B e r ü c k s i c h t i g u n g d e r b i s h e r i g e n E n t w i c k l u n g der Wettbewerbsverhältnisse; 2. e i n e Z a h l e n a u f s t e l l u n g ü b e r E i n - u n d A u s f u h r D e u t s c h l a n d s u n d E n g l a n d s i n d e n in F r a g e k o m m e n d e n A r t i k e l n ; 3. A n g a b e d e r Richtung, in d e r sich die d e u t s c h e n W ü n s c h e u n d Vorschläge b e wegen ; 4. v e r m u t e t e E i n s t e l l u n g d e r G e g e n s e i t e ; 5. A n g a b e des K r e i s e s d e r beteiligten d e u t s c h e n I n d u s t r i e f i r m e n u n d d e r N a m e n d e r V e r h a n d l u n g s t e i l n e h m e r u n t e r b e s o n d e r e r B e z e i c h n u n g des V e r h a n d lungsführers ; G. A n g a b e d e r englischen W e t t b e w e r b s f i r m e n u n d d e r e t w a in F r a g e k o m m e n den O r g a n i s a t i o n e n . S ä m t l i c h e s M a t e r i a l b i t t e n w i r u n s in vierfacher Ausfertigung zu ü b e r m i t t e l n u n d dabei z u vermerken, welche Angaben gegebenenfalls n u r f ü r u n s bestimmt sind. W e n n sich d e r a r t i g e A n r e g u n g e n zu deutsch-englischen I n d u s t r i e b e s p r e c h u n g e n nicht sofort, s o n d e r n k ü n f t i g e r g e b e n sollten, so b i t t e n w i r , u n s auch d i e s e j e weils z u ü b e r m i t t e l n . Heil H i t l e r Reichsgruppe Industrie Der Hauptgeschäftsführer gez. G u t h 3 3

Dr. Karl Guth, Vorsitzender des Verwaltungsrates des Industrie-Pensions-Vereins, Berlin.

Verhandlungen der Industrie 1939

415

DOKUMENT 15

Bericht Vertraulich!

Betrifft: Deutsch-englische Industriebesprechungen, [ohne Datum]

[I.] Bereits im Herbst v. J. w a r der Gedanke aufgetaucht, zwischen der deutschen u n d englischen Industrie Vereinbarungen mit dem Ziele zu treffen, d e n gegenseitigen Wettbewerb auf eine gesunde u n d erfolgreiche Grundlage zu stellen. Im Dezember 1938 w u r d e durch eine Aussprache zwischen Vertretern der Reichsgruppe Industrie u n d der Federation of British Industries die grundsätzliche Feststellung getroffen, daß die beiderseitigen Industriespitzenorganisationen in der Lage und bereit wären, die A n b a h n u n g u n d Überwachung d e r a r t i g e r Vereinbarungen zu übernehmen. 1 Nachdem der Große Rat d e r Federation of British Industries Ende J a n u a r seing ausdrückliche Zustimmung zu den geplanten Industriebesprechungen erteilt hatte, w u r d e v o n beiden Seiten mit der Vorbereitung der ersten offiziellen Z u s a m m e n k u n f t begonnen. Es bestand Übereinstimmung zwischen der Reichsgruppe Industrie u n d der Federation of British Industries, daß zunächst einmal zwischen den Hauptdelegationen beider Seiten eine Grundlage geschaffen w e r d e n müßte, die als Ausgangspunkt f ü r die weiteren Verhandlungen Geltung haben sollte. Die Besprechungen der Hauptdelegationen w a r e n i n erster Linie auf die Festlegung einer gemeinsamen Erklärung gerichtet, die auch richtungweisend f ü r die weitere Zusammenarbeit zwischen den beiden Spitzenorganisationen sein sollte. Diese gemeinsame Erklärung der Reichsgruppe Industrie u n d der Federation of British Industries ü b e r das Ergebnis der Düsseldorfer Verhandlungen am 15. u n d 16. März 1939 ist in der Anlage beigefügt. 2 Sie enthält mit aller Deutlichkeit den Hinweis, daß die Industrien a n d e r e r Länder keine Befürchtungen darüber zu hegen brauchten, daß die deutsch-englische Industrieverständigung die Konkurrenzlage auf dem Weltmarkt verschärfen wird. D a r ü b e r h i n a u s aber ist die E r k l ä r u n g auch insofern programmatischer Natur, als ein ständiges Komitee von deutscher u n d von englischer Seite eingesetzt wird, das in regelmäßigen Abständen von drei Monaten zusammentreten soll, u m etwaige in den Fachkommissionen auftauchende Schwierigkeiten zu beseitigen und F r a g e n allgemeiner N a t u r zu erörtern. 1

2

AD AP, Bd. 4, Nr. 289.

Vgl. Dok. 6.

416

Christel Nehrig

Solche Fragen allgemeiner Natur sind auch bereits auf der Düsseldorfer Tagung besprochen worden. Einmal w u r d e d a s Problem der Bemessung der Rohstoffpreise erörtert. Es ist f ü r den Export von großer Bedeutung, da bei guten Rohstoffpreisen die K a u f k r a f t der Rohstoff-Produzenten wächst. Zum anderen w u r d e deutscherseits der Wunsch geäußert, England möchte wieder zur Politik der offenen T ü r zurückkehren u n d d e n Deutschen alle Vorteile einräumen, die es auch den Angehörigen anderer Nationen gewährt. Derartige Fragen w e r d e n in Z u k u n f t schriftlich vorbereitet werden. Die Beantwortung d e r letzteren Frage soll i m Interesse einer Vertiefung des Problems im Schriftwege durch die Engländer erfolgen, nachdem die Federation of British Industries sich zu diesem Zweck m i t i h r e r Regierung in Verbindung gesetzt hat. II. Die Reichsgruppe Industrie h a t t e durch Rundschreiben vom 4. J a n u a r 1939 die Firmen über die Wirtschaftsgruppen aufgefordert, Wünsche f ü r Verhandlungen m i t der englischen Industrie anzumelden. Wenn es möglich wäre, sollten bereits bei der ersten Z u s a m m e n k u n f t fachliche Verhandlungen stattfinden, weil in ihnen, worüber m a n sich beiderseits im klaren ist, die eigentliche positive A r beit zu leisten ist. Aus den u n s v o n deutscher Seite zugegangenen Anregungen haben w i r in Düsseldorf n u r einen Fall zur Verhandlung stellen können. Die übrigen in Düsseldorf abgehaltenen Fachbesprechungen entsprachen englischen Wünschen. Mit Rücksicht auf den kurzen Zeitraum, der f ü r die Vorbereitung dieser Fachbesprechungen zur V e r f ü g u n g stand, k a n n nach übereinstimmender Auffassung von deutscher u n d englischer Seite das n u n m e h r vorliegende Ergebnis als durchaus erfreulich und ermutigend f ü r k ü n f t i g e Verhandlungen angesehen werden. Es haben in Düsseldorf auf folgenden Gebieten sechs Fachkommissionen getagt: 1. Zuckermaschinen, 2. landwirtschaftliche Maschinen, 3. Motorrad-Industrie, 4. Uhrenindustrie, 5. Damenstrümpfe, 6. Schnellstahl-Industrie. So unterschiedlich auch der Gang der Verhandlungen in den einzelnen Fachkommissionen, angepaßt den besonderen Verhältnissen u n d Bedingungen, w a r u n d so abweichend im einzelnen auch die Ergebnisse sind, k a n n in sämtlichen sechs Fällen eine erfreuliche A n n ä h e r u n g des gegenseitigen S t a n d p u n k t e s mit dem ausdrücklichen gegenseitigen Willen festgestellt werden, möglichst u m gehend zu einer Vereinbarung zu gelangen. In verschiedenen Fällen ergab sich bereits eine völlige Übereinstimmung in Sonderpunkten, auch w u r d e n bereits Ort u n d Termin weiterer gemeinsamer Verhandlungen festgesetzt.

Autorenverzeichnis

Dr. phil. hábil. Gerhard Steiner, Professor em., Berlin Dr. sc. phil. Hartmut Zwahr, Professor, Sektion Geschichte der Karl-MarxUniversität Leipzig Dr. phil. Gunther Hildebrandt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut f ü r Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin Margarete Piesche, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut f ü r Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Dr. oec. Siegfried Freick, wissenschaftlicher Oberassistent am Franz-MehringInstitut der Karl-Marx-Universität Leipzig Dr. sc. phil. Karl Drechsler, Professor, Abteilungsleiter am Zentralinstitut f ü r Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Dr. phil. Liselotte Kramer-Kaske, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut f ü r Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Dr. phil. Marion Einhorn, wissenschaftliche Arbeitsleiterin am Zentralinstitut f ü r Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Dr. phil. Mirjam Kölling, wissenschaftliche Oberassistentin am Zentralinstitut f ü r Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Dr. phil. Hans-Jürgen Steinbach, Sekretär f ü r Agitation und Propaganda der Kreisleitung Kamenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Dr. phil. Christel Nehrig, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut f ü r Agrargeschichte und Internationale Landwirtschaft der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften, Berlin