Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1976 [1976] 3875371526


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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz, 1976
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Hermelink, Siegfried - Das Präludium in Bachs Klaviermusik
Dahlhaus, Carl - Musikalischer Funktionalismus
Steinbeck, Wolfram - Die Liederbank Kiel
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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1976 [1976]
 3875371526

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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz

1976

Merseburger

JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FCR MlJSIKFORSCHUNG

Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz

1976

Herausgegeben von Dagmar Droysen

Verlag Merse burger Berlin

Edition Merseburger 1476

© 1977 Verlag Merseburger Berlin GmbH Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Composersatz: Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Karin Mattoni und Heidemarie Schwarz Druck: Arno Brynda GmbH, Berlin

ISBN 3-87537-152 -6

INHALT

HERMELINK, Siegfried Das Präludium in Bachs Klaviermusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

DAHLHAUS, Carl Musikalischer Funktionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

STEINBECK, Wolfram Die Liederbank Kiel

94

DAS PRÄLUDIUM IN BACHS KLA VIERMUSIK *

SIEGFRIED HERMELINK

Über den Begriff des Präludiums für Tasteninstrumente im 1 7. Jahrhundert Stand des Klavierpräludiums um 1 700

Wer sich mit der Geschichte des Präludiums für Tasteninstrumente befassen will, findet eine Anzahl besonderer Schwierigkeiten vor: zunächst die Vielzahl der Namen, unter denen solche Stücke überliefert sind. Präambel, Toccata, Intonatio, Fantasia, Tastada, Ricercata, Boutade, ja sogar Ouvertüre und Ritornell machen schon den zeitgenössischen Theoretikern alle Mühe, sofern eine Abgrenzung überhaupt versucht wird, und selbst die neueren Untersuchungen etwa der Toccata (Valentin, Entwicklung der Tokkata und Gombosi, Vorgeschichte der Tokkate) oder der Fantasie (Deffner, Entwicklung der Fantasie) bringen nur Teilergebnisse, die sich dazu nicht selten widersprechen. Gesamtdarstellungen wie etwa die von Fischer (Instrumentalmusik) zeigen wohl eine bestechende Klarheit, bei genauerer Prüfung findet man aber doch manches gewaltsam zurechtgerückt. Eine weitere Schwierigkeit liegt in den Quellen selbst. Während „gearbeitete" Musik schriftliche Fixierung voraussetzt und deshalb naturgemäß einen reicheren quellenmäßigen Niederschlag hinterläßt, erfahren die improvisatorischen Formen nur in Ausnahmefällen eine Aufzeichnung. So finden sich die ersten spärlichen Zeugnisse einer Präludierkunst auf der Orgel erst in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Aber auch dann unterrichten uns diese freien Orgelstücke, die in den Tabulaturbüchern des 16. Jahrhunderts immer häufiger anzutreffen sind, einseitig, denn man muß annehmen, daß das, was aufgezeichnet wurde, in irgendeiner Hinsicht Sonderleistung war, wie es für spätere Werke, etwa die Toccaten Frescobaldis oder die Fantasien Sweelincks, sicher zutrifft. Die Methode, einzig solche Meisterwerke zur Grundlage einer Erkenntnis zu machen, gleicht einer Gratwanderung von Gipfel zu

*

Bei seinem letzten Besuch in Berlin anläßlich der Tagung Geschichte der Musiktheorie im Jahre 1974 hatte Siegfried Hermclink davon gesprochen, daß er seine Dissertation für die Veröffentlichung neu bearbeiten wollte. Sein unerwarteter Tod am 9. August 1975 hat dieses Vorhaben vereitelt. Die Arbeit, unter den sehr schwierigen Bedingungen der letzten Kriegsjahre bei Heinrich Besseler entstanden und Anfang 1945 in Heidelberg als Dissertation angenommen, hätte der Autor ohne Umarbeitung nicht zum Druck freigegeben. Wenn sie hier dennoch nahezu unverändert vorgelegt wird, so geschieht dies in der Zuversicht, daß ihr Inhalt den Rückstand gegenüber der inzwischen erschienenen Fachliteratur aufzuwiegen vermag. Redaktionell wurden lediglich bei den schwerer aufzufindenden Präludien zu den Angaben der vom Verfasser benutzten Ausgabe der Bachgesellschaft zu Leipzig (= BGA) die Nummern von Sehmieders Bach-WerkeVerzeichnis hinzugefügt. Bei der Überprüfung von Zitaten mußte gelegentlich auf spätere Auflagen der angeführten Werke zurückgegriffen werden. Aus diesem Grunde wurden diese in das Literaturverzeichnis aufgenommen. Frau Martha Hermelink sei an dieser Stelle für die Überlassung des Handexemplars der Dissertation besonders gedankt.

7

Gipfel: Man läuft dabei aber Gefahr, die eigentlichen Fundamente zu übersehen. Darauf weist Dietrich (Orgelchoral) hin, indem er eine durchlaufende Linie in der deutschen Orgelkunst fernab der großen italienischen und niederländischen Vorbilder nachweist, die sogenannte „Fundamenttradition". Handelt es sich dort um Cantusfirmus-Bearbeitung, so ist auf dem Gebiete der nicht gebundenen Formen in verstärktem Maße mit einem kontinuierlichen Strom handwerklich solider Organistenpraxis zu rechnen, der durch die Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben wird und die Eigenleistung des schöpferischen Meisters erst ermöglicht. Diese Kunst der freien Improvisation von Vorspielen, die bis auf den heutigen Tag zu den Fertigkeiten eines guten Organisten und Klavierspielers gehört, entzieht sich naturgemäß fast völlig der auf schriftliche Überlieferung angewiesenen Nachwelt. Man sieht sich auf Berichte von Ohrenzeugen angewiesen, die für eine Anzahl der großen Meister vorhanden sind und stets mit Ausdrücken höchster Bewunderung von derartigen Erlebnissen sprechen. Einen Versuch, von der Improvisation her zu einer Genesis des Präludiums zu gelangen, unternahm E. Ferand in seinem Buch über Die Improvisation in der Musik. Im Abschnitt über die improvisatorischen Formen bis etwa 1600 werden dort drei wesen tliche Komponenten nachgewiesen: die „lineare" als Kolorierung, Diminuierung und Auszierung einer schlichten Melodie, die „vertikale" als Hinzufügung einer oder mehrerer Gegen- oder Begleitstimmen und die sogenannte „motorische", die im eigentlichen Sinne das Musizieren aus dem Geiste des Instrumentes ausmacht und damit zur Keimzelle der freien Instrumentalmusik wird. Aus den beiden Elementen der motorischen Komponente, dem Akkord- und dem Passagenspiel, entstehen die ersten rein instrumentalen Formen, die aus der Natur des Instruments geschaffen sind: Präambel und Toccata, über deren Entwicklung folgendes bekannt ist: 1. Das Präambulum und die artverwandte Toccata treten vom 15.Jahrhundert an als unmittelbar aus dem instrumentalen Spiel gewonnene Formen auf den Plan. Das Tasteninstrument erweist sich hierbei, auch gegenüber Laute und Gambe, als besonders formbildend.

2. Die überwiegende Mehrzahl der Quellen läßt eine Scheidung hinsichtlich der Bestimmung für die verschiedenen Tasteninstrumente nicht zu. Ein Großteil der deutschen Tabulaturbücher ist allerdings für die Orgel bestimmt, wie andrerseits italienische und englische Quellen (Dirutas Transilvano, das Fitzwilliam Virginal-Book) sich auf das besaitete Tasteninstrument beschränken. Das sind jedoch vereinzelte Ausnahmen einer erst beginnenden Differenzierung des Klangsinnes und der Technik. 3. Eine gegenseitige Abgrenzung der Begriffe Präludium und Toccata kann aus vorliegenden Quellen und Zeugnissen nicht gegeben werden. Insbesondere erscheinen für den Toccatentyp die Bezeichnungen und Formen mehrfach determiniert. Einen Sonderfall bildet die Form der Fantasia, die einerseits zum Präludium und zur Toccata, andrerseits zum Ricercar Beziehungen aufweist. So kann grundsätzlich jedes Spielstück mit improvisatorischem Einschlag Fantasia heißen. 4. Der eigentliche Sinn instrumen talcr Vorspiele besteht, psychologisch gesehen, in einem Fühlungnehmen des Spielers nach zwei Richtungen: dem Material, d. h. dem Instrument, und dem Zuhörer. Dazu kommt die Aufgabe der Vorbereitung auf die folgende Musik, die durch ein Hinüberleiten zur Tonart des nachfolgenden Stückes als erfüllt gilt.

8

Diese Grundzüge behalten im wesentlichen auch für das Präludium im 1 7. Jahrhundert Gültigkeit. Die Erscheinung und Abhängigkeit der Organistenschulen in diesem Zeitabschnitt ist mehrfach durchforscht und dargelegt worden. Dabei wird aber das Geschick des bescheidenen Präludiums durch die im Vordergrund stehenden Variationswerke und großen mehrteiligen Toccaten verdunkelt, auf Seiten der Klaviermusik vor allen Dingen durch die Entwicklung der Tanzzyklen. Als Normaltyp des improvisierten Vorspiels können Stücke gelten, wie sie z. B. das 1645 gedruckte Tabulaturbuch des Leipziger Nikolaikirchen-Organisten Christian Michel enthält. Der Vergleich eines dieser Sammlung entnommenen Stückes (NB. 1) mit einem Präambulum Kindermanns aus dessen im gleichen Jahr erschienener Harmonia organica (NB. 2) und einem der kleinen von Pachelbel erhaltenen Präludien (NB. 3) verdeutlicht die gemeinsame Grundvorstellung der Zeit von der Struktur solcher Gebilde. Sie finden sich durch das ganze Jahrhundert hindurch in Frankreich und England ebenso in Deutschland. Sie sind ausdrücklich als Gebrauchsmusik für die Orgel ausgewiesen wie das Präambulum Kindermanns, finden sich aber genau so auch in Klaviersammlungen für die bürgerliche Hausmusik 1 • Finden sich nun in diesen kleinen Gebilden Ansatzpunkte für Untersuchungen formaler Art? Es wäre verkehrt, gelegentliche imitatorische Episoden oder deutlicher profilierte Motivteile zur Feststellung von Typen oder Entwicklungszügen zu verwerten.

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Gerade in der Freiheit von jeglicher formalen Bindung und der unberechenbaren Willkür liegt die Charakteristik. Trotzdem läßt sich nicht abstreiten, daß diese Präludien bei aller Mannigfaltigkeit immer wieder den Eindruck einer inneren Einheit hervorrufen, die sich in einer gewissen Tönung von reservierter Neutralität äußert. Diese wird jedoch nicht so sehr durch äußere Mittel erreicht, sondern als iederschlag dessen, was im Unterbewußtsein des Spielers beim Gedanken an Musik ganz allgemein erklingt. So erfüllt das Präludium die Aufgabe, in das Reich der Musik einzuführen, auf die natürlichste Weise. Gleichzeitig enthalten sie aber aus den Beiträgen und Neuerungen einzelner großer Künstlerpersönlichkeiten dasjenige, was mit seiner Tiefenwirkung die Fundamente der Musik berührt. So läßt der Anfang von Notenbeispiel l deutlich die Einwirkung von Frescobaldis Durezza-Toccatentypus erkennen. Die Anwendung der Septimenakkorde in Pachelbels Präludium zeigt auf betontem Taktteil (in den Takten (i bis 10) die Wendung zur neuen Dur-Moll-Harmonik, die sich in den vorangegangenen 50 Jahren vollzogen halle. Im ganzen zeigen die Präludien des 1 7. Jahrhunderts als Grundlage den „stile antico" in seiner orgelmäßigen Ausprägung vor allem durch die schulbildenden llauptmeister Frescobaldi und Sweelinck. Erst um 1 700, in der Generation unmittelbar vor Bach, finden sich Anzeichen eines Wandels. Für den Übergangscharakter der Epoche ist das Nebeneinander von Stücken wie in der 1 G99 gedruckten Klavierübung von Johann Krieger bezeichnend (NB. 4 - 6).

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Joh. Krieger, 1699

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Joh. KriPger. 1699

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Das g-moll-Präludium trägt noch stark die Merkmale des Normaltypus im bisherigen Sinn: des Organistenpräludiums. Immerhin bereiten gewisse Einzelheiten, wie die Erfindung des Ganzen von der Oberstimme her, die deutliche Ausbildung von sequenzartigen Folgen (Takt 9-11) oder das Beibehalten gleichartiger rhythmischer Gruppen auf Neues vor. Trotzdem ist es als Ganzes in eine Reihe mit den Notenbeispielen 1 bis 3 zu stellen. Anders steht es mit den Präludien in G-Dur und A-Dur. Hier ist die eindeutig homophone Grundlage unverkennbar, das gelegentliche Motiv- und Imitationsspiel dient nur der Auflockerung (NB. 5 ). Noch deutlicher spricht das kleine Präludium in A-Dur. Hier wirken lediglich breit nebeneinandergestellte Klangflächen, deren funktionsmäßige Zusammenhänge klare Logik aufweisen. Den zehn wiedergegebenen Takten folgt eine jener Kriegerschen Doppelfugen, die bekanntlich Händel besonders schätzte. Das Präludium aber stellt in seiner Knappheit die Urgestalt eines Bauplans dar, der für die Ausbildung des künftigen Klavierpräludiums von ausschlaggebender Bedeutung werden sollte. Dieses harmonische Grundgerüst bietet Entfaltungsmöglichkeiten einer eigentlich klavieristischen Technik, wie sie das frühere polyphon gedachte Organistenpräludium nicht besaß.

12

Hier wirken sich in der Instrumentalmusik aus der Tiefe steigende, neue Kräfte aus, die auf allen Gebieten den Geist des Jahrhunderts formen. Es ist die Mathematik, die seit Descartes Grundlage eines exakten, weltumspannenden Verstehens werden sollte. Das Phänomen der Zahl, der Mechanik steht weithin im Mittelpunkt, führt aber nicht zu einem Dualismus-Mechanismus gegen Beseeltes, sondern steht noch innerhalb der umfassenden und starken Kraft einer universalen Individualität. Das philosophische System von Leibniz spiegelt diesen Geist vielleicht am vollkommensten. Der Rationalismus wirkt sich in dem immer neuen Drang aus, alles, Materie wie Geist, in Form und Gesetz zu bringen, den waltenden Gesetzen auf die Spur zu kommen und auf empirischem Wege zu einer verstandesmäßigen Durchdringung des „harmonischen'" Universums zu gelangen. Die Musik kann sich diesen Strömungen nicht entziehen; einen kräftigen Vorstoß in dieser Richtung bedeuten schon die zahlreichen musiktheoretischen Schriften des Paters Marin Mersenne (1588 - 1648), der - im lebhaften Gedankenaustausch mit Descartes auf eine theoretische Untermauerung der Musiklehre auf empirischem Wege hinarbeitet und dabei zu wichtigen Ergebnissen über die Natur des Tons, die Geschwindigkeit der Schallfortpflanzung, das Problem der Obertöne u.a.m. kommt. Sein Hauptwerk llarmonie universelle (1636/37) zeigt aber durch eine Unmenge übernommenen ldeenballasts, wie tief die Zeit noch in mittelalterlichen Vorstellungen steckt. Die wissenschaftliche Eroberung des Klangraumes geht jedoch von da ab ununterbrochen weiter und führt in der zweiten Jahrhunderthälfte zu wirklich weittragenden Ergebnissen wie der mathematisch genauen Bestimmung der Obertöne durch Sauveur (1653 - 1716). - Für die Tasteninstrumente war das Problem der Temperierung immer noch eine weitgehende Einschränkung der Möglichkeiten. Hier bedeutet nun nach vielen Bemühungen Werckmeisters Wohltemperierte Stimmung (1691) die wichtigste Errungenschaft des J ahrhunderts 2 . Die mathematische Systematisierung des Oktavraums, wie sie dieser Vorschlag zur mechanischen Teilung in zwölf gleiche Halbtonschritte unter Preisgabe der absoluten Reinheit der Terzen, Quarten und Quinten darstellt, ist wohl zunächst überwiegend Frucht rationalistischer Spekulationen, und die Zeitgenossen waren sich kaum der ganzen Tragweite dessen bewußt, was sie mit der begeisterten Aufnahme der wohltemperierten Stimmung begrüßten, ohne die spätere Entwicklungen undenkbar gewesen wären. Jedoch zieht die Folgezeit schnell die Kon sequenzen: Jetzt wird es dem entdeckerfrohen Geschlecht möglich, den gesamten Klangraum rational zu durchdringen, den Kreis der Tonartbeziehungen zum Quintenzirkel abzurunden und Besitz vom ganzen Tonraum zu nehmen. Das Entstehen der Dur-Moll-Tonalität aus dem System der Kirchentöne steht damit in engster Verbindung. Sicher ist, daß die Entwicklung schrittweise und in den einzelnen Ländern verschieden schnell vor sich geht. Das Werk von Männern wie Couperin und Carissimi war bahnbrechend 3 . Sie schrieben schon um 1650 in klarem Dur oder Moll und nützten die Charakteristik der Tongeschlechter in modernem Sinne. Deutschland selbst bleibt zwar noch durch mehrere Jahrzehnte Hort der alten Tradition, aber auch 4 hier leben die Kirchentöne etwa von 1 700 an nur noch in der Theorie weiter . 2

Über die mancherlei Versuche vgl. Tappert, Wohltemperiertes Klauier. 3 Fr. W. Marpurg schreibt J 759 (Kritische Einleitung, S. 138): ,,Die Rcduction der zwölf Tonarten auf diese zwo (Dur und Moll] haben wir der Mitte des vorigen Jahrhunderts, und zwar einem Tonmeister in Frankreich zu danken, deßcn Nahmen ich vor langer Zeit in einem Buche, worauf ich micht nicht mehr besinne, gelesen habe." Sciffert (Klaviermusik, S. 163 f.) weist nach, daß der Bezeichnete Couperin sei. 4

Es sei an den Streit Matthcson·Buttstcll erinnert. Dazu Ziller, Buttstctt.

13

Erst die neue Tonalität und Klangauffassung ermöglichen die Entfaltung der führenden Instrumentalformen. Auf italienischem Boden entsteht die Leitform der hochbarocken Instrumentalmusik: das Instrumentalkonzert. Die Konzertform bringt die Verwirklichung der neuen Ideale in sinnfälliger Weise: Unterordnung aller Einzelteile unter die rauschende und majestätische Wirkung nebeneinandergestellter Klangflächen in übersichtlicher Abstufung. Um das zu erreichen, tritt die imitatorische Arbeit mehr und mehr zu Gunsten homophoner Setzart zurück; vor allem bildet sich jene Melodik heraus, die zwar das charakteristische Kopfmotiv beibehält, die Kopfpartie aber fast immer auf eine rein harmonische Grundlage bringt und sich selbst weithin in Dreiklangszerlegungen mit Durchgangsfüllung erschöpft. Besonders die Melodik der Fort spinnungsteile und der Soli trägt häufig bloßen figurativen Charakter und ergeht sich in Akkordbrechungen, Arpeggien oder Effekten mit leeren Saiten. Indem die einmal eingeschlagene Art der Figurierung konsequent durchgeführt wird, ergibt sich eine eigenartige Stilisierung des Gefüges, die wesentlich zur Hauptforderung der Zeit beiträgt: Einheit der Form in sich, Beibehaltung des gleichen Affektes vom ersten bis zum letzten Takt. - Die Generation, die derartiges hervorbringen konnte, hatte den ent scheidenden Schritt getan. Sie fühlte sich innerlich beheimatet in der musikalischen Neuen Welt. Die beiden Kriegerschen Stücke (NB. 5 und 6) waren nun, und damit kommen wir auf unser eigentliches Gebiet zurück, Beispiele für das Eindringen der neuen Strömungen auch in das Unterbewußtsein der schöpferischen Phantasie. Wenn uns die Gestalt des Präludiums auch weiterhin als Spiegel für den Begriff Musik gelten darf, so verdient ein Typus, der um l 700 in verschiedenen Sammlungen gleichzeitig und unvermittelt auftritt, besondere Beachtung, weil er in mehr als einer Beziehung Ausdruck des neuen Geistes ist. Gemeint sind jene Stücke, die .l ediglich aus periodisierten Akkordfolgen bestehen, welche Takt für Takt nach demselben Zerlegungsschema gebrochen werden - also Vorläufer des ersten Präludiums aus Bachs Wohltemperiertem Klavier I, das dieses Prinzip in höchster Vollendung durchführt (vgl. auch Hermelink, Erstes Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier). Die Bezeichnung „Arpeggio-Präludium", wie sie - im Gedanken an dieses großartige Musterbeispiel - gelegentlich Verwendung findet (so bei Carriere, Harmonisches Gefüge und Arpeggio des C-dur-Präludiums, S. 64 - 92), erweist sich indessen als zu spe zialisiert, denn das Wesentliche sind nicht die Arpeggien an sich, sondern die stereotyp gleichförmige Bewegung auf der Grundlage eines homophonen Akkordgerüstes, wodurch der Eindruck breiter Klangflächen in logischer Aufeinanderfolge entsteht. Die in den Notenbeispielen 7 bis 25 zusammengestellten wichtigsten Bildungen dieser Art zeigen neben reinen Arpeggio-Präludien noch manch andere interessante Realisierung des Prinzips. W. Fischer (Instrumentalmusik, S. 562) nennt bei Besprechung des Wohltemperierten Klaviers diese Art „Typus des Lautenpräambels, wie er sich im 1 7. J h . entwickelte und durch Kuhnau u. a. auf das Klavier übertragen wurde". Eine achprüfung bestätigt jedoch diese These nicht. An originalen Lautenkompositionen konnte ich nur das Stück von E. Reusner (NB. 20) finden, das zur ot hier in An spruch genommen werden könnte. Die gebrochenen Akkordfolgen entbehren jedoch jeder Periodisierung und gehen rasch in polyphone Bildungen über. Ein reines Arpeggio-Präludium ist allerdings das Prelude von S. L. Weiß (NB. 21). üies Stück beweist aber nichts, da Weiß einer späteren Generation angehört und seine freundschaftlichen Beziehungen zu Bach selbst zu bekannt sind, um nicht vermuten zu lassen, daß hier Einflüsse der Klaviermusik vorliegen und nicht umgekehrt! Wenn man schon Be ziehungen zur Lautenmusik aufdecken will, wlire eher an jene halbimprovisierlDT XXI/XXII, S. :I'.!())

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NB. 14: aus: Toccata G-Dur von J .A. Reincken {Hrsg. in M. Scifferts Organum, IV. Reihe, Heft 5, S. 7)

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N II. 15: aus: Passacaglio c-moll von Dietrich Buxtehude {Orgelwerke, hrsg. v. M. SeilTcrt, S. 10)

NB. IG: aus: Pracludium e-moll von Nicolaus Bruhns {Ges. Werke, hrsg. v. F. Stein; LD Schleswig-llolstein, Bd. 11, S. 171)

B. 17: Tastada, Suitenvorspicl /.U Nr. 7. Terpsichorc, aus den IX ,\lusen von J .K.F. Fischer (S:irntliche Werke fiir Klavier und Orgel, hrsg. v. E. v. Werra, 1901, S. 57)

17

NB. 18: Arpeggio von A.B. Della Ciaja, aus der Sonate per Cembalo con alcuni Saggi ed altri contrapunti di Largo e grave Stile ecclesiastico per grandi Orga11i, Roma 1727 (Vgl. Sandberger, Zur älteren italienischen Klaviermusik, Pctcrs-J ahrbuch 1918, s. 17-25)

NB. 19: aus: Praeludium g-moll vonj.S. Bach (BGA XV, S. 113)

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NB. 20: Praeludium aus Neue Lauten-Früchte von E. Reusner, 1676 (Hrsg. v. H. Neemann, RD XII, 1939, S. 18)

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B. 21: Preludc zu Sonate II von S.L. Weiß, 1686 1 750 (Hrsg. v. H. Nccmann, RD XII, 19 39, S. 48)

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NB. 22 Prclude

L. Couperin, 1630/65

NB. 23: Prclude aus dem Premier Livre de Pieces de Clavecin v. J .Ph. Rameau, 1706 (Oeuvres complcles, hrsg. v. C. Saint-Saens und Ch. Malherbe, Bd. 1, S. 1)

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NB. 24: Violinsonale aus den Scherzi da Violino Solo con il Basso continuo Nr. VIII vonJ.J. Wallher, 1676 (llrsg. v. G. Beckmann; RD XVII, S. 49)

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NB. 25: Violinsonate aus den Scherzi da Violino Solo con il Basso continuo Nr. VIII vonJJ. Walther, 1676 (Hrsg. v. G. Beckmann; RD XVIl, S. 50)

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19

Ansätze für ein Bildungsprinzip, das dem Arpeggiopräludium entspricht, finden sich indessen in der virtuosen norddeutschen Orgelkunst des sp;iteren 1 7. J ahrhunderls mit dem unerschöpflichen Reichtum an immer neuen Salzmanieren. Weniger im Werk Buxtehudes selbst, wo allerdings Stellen wie in Notenbeispiel 15 fast auf jeder Seitl' zu finden sind, die aber bei genauem Zusehen ihre direkte Herkunft .1us der \';1ri.11ions kunst des Jahrhunderts nicht verleugnen können 7. als ,·or allem in den Stücken, die von Bruhns erhalten sind. Das llarpeggio ( 1 B. 16) bildet einen \'Öllig in sich .1bgeschlossenen Satz von 1 7 Takten, der das einmal eingeschlagene Zerlegungsschem.1 kon sequent beibehält. Der Typus ist hier in allen Einzelheiten ausgebildet und das be kannte Bachsehe Exempel dieser Art (NB. 19) kopiert geradezu die form.de ,\nlagc. Aber auch neben Bruhns finden sich ähnliche Erscheinungen, die nicht selten interessante Ausprägungen des Personalstils dazu darstellen. So fiel mir eine Stelle .1us Reinckens G -Dur-Toccata (NB. 14) durch rhythmische Uniformierung der Takte .iuf. welche auf dieselbe Wirkung abzielt wie die Struktur des Postludiums von Böhm. das ganz auf dem in Notenbeispiel 11 angedeuteten Schema aufgebaut ist. Noch klarer aufgebaut nur arpeggierte Akkorde - ist das Präludium des Böhmschen Stückes. und Spitta (Bach, I, S. 206) bemerkt dazu bezeichnend: „In die cm wunderschönen Stücke, das hinreichen würde, seinen Componisten unter die bedeutendsten schaffenden Talente der Zeit zu setzen, keimt und knospt etwas, das durch Sebastian Bach und einzig durch ihn zur berauschend duftenden Blüthe sich öffnen sollte: jene fast nur harmonisch bewegten, selig und doch so wehmüthig auf- und niederwallenden Praeludien des Wohltemperirten Claviers (C-dur des ersten, Cis-dur des zweiten Theils) und ähnliches haben in dem Anfangs- und Endstücke der Böhmschen Composition ihren Vorläufer, und, wenn auch nicht ihren einzigen, so doch meines Wissens ihren einzig ebenbürtigen". Es ist nun interessant zu beobachten, daß sich, chronologisch gesehen, die ersten Zeugnisse für die l\lanier, Klangflächen durch mechanisch und sterotyp wiederholte Brechungen darzustellen, in der Violinmusik finden. 1n den Sonaten Johann Jacob Walthers \'O n 1676 trifft man viele Stellen, wie die in den Notenbeispielen 24 und 25 angeführten 8 . Die virtuose Geigenkunst hatte in ihrem Bestreben, auf der Violine polyphone Wirkungen hervorzubringen, durchlaufende Arpeggien zur Darstellung von Akkordfolgen ganz organisch als eine ihrer l\löglichkeiten ausgebildet. Aus technischer Notwendigkeit entstand hier in rhythmischer Hinsicht die gleichbleibende charakteristische Figur, die dem musikalischen Gefüge durch die stetige Wiederholung jenen eigenartigen Gleichrhythmus \'erleiht. „Figur" und „Gleichrhythmus" im harmonischen Verlauf, das sind die wesentlichen Elemente schon dieser ersten Belege; sie bleiben für die gesamte Erscheinung das bezeichnendste l\lcrkmal 9 . 7

Vor allem durch Nachwirkungen der Virginalisten in der Anwendung von Spielmanieren und virtuos gelockerter Satzweise. Merkwürdigerweise sind aber die Auswirkungen der Virginalmusik auf die Klaviermusik des Kontinents viel geringer. So hatte sich in England schon um 1600 eine Form des Klavierpräludiums gebildet, die manche Züge solcher Stücke aus dem frühen 18.Jahrhundert aufweist, ja selbst bis zu einem gewissen Grade die dreistimmige Sinfonie Joh. Seb. Bachs antizipiert.

11 Bei der Gleichaltrigkeit Walthers mit Corelli (und dem vermutlichen Studienaufenthalt Walthers in Italien) wären so leicht Beziehungen zum Instrumentalkonzert und dessen charakteristischer Melodik herzustellen und damit auch die Erscheinung des Arpeggio-Präludiums in die großen Zusammenhänge einzubauen, 9 Nicolaus Bruhns nimmt gewissermaßen eine Schlüsselstellung ein, und es kann nicht wundernehmen, daß gerade von ihm als virtuosem Geiger zahlreiche Belege für unsere Setzart überliefert

20

Arpeggio-Präludien in mehr oder weniger ausgeprägter Form treten uns an einer Stelle entgegen, wo zum ersten Male mit einigem Recht von Klavierpräludien im engeren Sinn gesprochen werden kann, nämlich in den Vorspielen, die seit der Erweiterung der Klaviersuite um die Jahrhundertmitte den Tanzsätzen vorangeschickt wurden. Zwar finden prinzipiell alle existierenden Instrumentalformen Verwendung als „Präludium", um so bezeichnender ist es jedoch, daß schon in der ersten Sammlung, die derartige Stücke enthält, nämlich im ersten Teil von Kuhnaus Clavier-Ubung aus dem Jahre 1689, unter sieben Vorspielen zwei ganz reine (zu Partie III und V, B. 7 und 8) und zwei weitere mit homophon-akkordlicher Grundlage ähnlich dem Kriegerschen Präludium (NB. 5) zu finden sind. Nur das erste Stück ist noch in gebunden-polyphonem Stil des improvisatorischen Organistenpräludiums gehalten. Auch in Kuhnaus ClavierUbung (2. Teil, 1692} finden sich zwei Vertreter des neuen, homophonen Klangflächcnpräludiums mit gleichen Taktperioden: Die Vorspiele zu Partie III und VII. Besonders das erste in e-mail geht über die Vorgänger von 1689 durch einen durchaus vom Instrument her erfundenen Bewegungsgedanken hinaus; durch Einführung einer Nebennote wird aus dem gebrochenen Akkord eine charakteristische Figur gebildet, und die so gewonnene Linie wird im gleichmäßigen Wechsel taktweise in die rechte oder linke Hand verlegt. Daß hier die Grundzüge der Etüde vorgebildet sind, wurde von Georgii (Klaviermusik, S. 98 f.} erneut betont. - Johann Caspar Ferdinand Fischers Blumen-Büschlein von 1699, das chronologisch folgende wichtige Suitenwerk, unterscheidet sich äußerlich schon dadurch, daß den Tänzen durchweg echte Präludien vorangestellt sind. Noch Kuhnau verwendete neben solchen eine Ciacona und eine Sonatina, außerdem sind die übrigen Vorspiele dort mehrteilige Stücke mit einer Fuge als Hauptteil; nur die besagten vier Stücke stehen allein. Mit einigem Recht könnte man also die Ausbildung eines speziellen Klavierpräludiums mit dem Werk Fischers in Zusammenhang bringen, dessen Nachwirkungen auf viele Klavierwerke Bachs zu Tage liegen und uns noch beschäftigen werden. Zunächst fällt eine weitere Form bei Fischer auf, die wie das Präludium II (NB. 1 7) die Klangflächen durch rhythmisch sich wiederholende vollgriffige Akkordgruppen darstellt: „Es ist eine feierliche, akkordische Setzweise, bei der den überraschenden harmonischen Wendungen und den höchst ausdrucksvollen Vorhalten mehr Bedeutung zukommt als der Melodie und dem Rhythmus" (Georgii, Klaviermusik, S. 96}. Daß in diesem Typus, der von Fischer mit besonderer Liebe gepflegt wurde, musikalisch lediglich der Zauber neuer harmonischer Möglichkeiten wirksam ist, stellt ihn unmittelbar neben das reine Arpeggio-Präludium. Daneben enthält das Blumen-Büschlein reine Vertreter des „Organistenpräludiums" so das kurze, außerordentlich schöne Vorspiel der V. Suite in e-mail oder das merkwürdige Stück in g-moll, das wie Notenbeispiel 1 7 beginnt, vom 2. Takt an aber ein kurzes melodisches Motiv verarbeitet, dessen wechselndes Auftreten in den verschiedenen Stimmen als komplementäre Rhythmik wirkt. Im ganzen überwiegen jedoch die

sind. Gerber berichtet in seinem Lexikon der Tonkünstler (I, S. 529), daß Bruhns nicht selten die Geige mit auf die Orgelbank nahm und zu seinem Spiel auf dem Pedal den Baß ausführte. Gerade Stellen wie Notenbeispiel 16 zeigen den Geiger auch in seinen reinen Orgelstücken. - Daß der Gedanke an eine ursprüngliche Obertragung der Arpeggiomanier von der Violine auf das Klavier im 18. Jahrhundert noch lebendig war, geht aus Rousseaus Lexikonartikel hervor: „II y a des Instrumens sur lesqucls on ne pcut former un Accord plein qu'en Arpegeant; tels sont 1e Violon ... et tous ceux dont on joue avec l'archet ... Ce qu'on fait sur le Violon par neccssite, on le pratique par gout sur le Clavecin. Comme on ne peul tirer de cet Instrument que des Sons qui nc tiennent pas, on est obligc de les refrapper sur des Notes de longuc durc~e .. ."(Dictionnaire, Arpeggio).

21

homophonen Einflüsse, wenn auch ausgeprägte Typen zunächst fehlen. Immerhin zeigt ein Stück wie das prächtige D-Dur-Präludium, das bekannte Vorbild für Bachs Präludium in B-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier I, Fischer auf demselben Wege. Jene sind umso zahlreicher in Fischers Alterswerk, dem Musicalischen Parnassus von 1 738 vertreten, wo sich neben drei weiteren Akkordpräludien (darunter NB. 1 7) zwei Arpeggio-Präludien finden, die schon durch die ausdrückliche Oberschrift (vgl. NB. 9 und 10), vor allem durch die innere Ahnlichkeit der Gesamtanlage zeigen, daß sich der Typus inzwischen fest in die formale Vorstellungswelt eingereiht hat 10 . In welcher Richtung jedoch hier die Beziehungen zum Wohltemperierten Klavier gehen, kann vorerst nicht entschieden werden 1 1 . Immerhin zeigen Parallelerscheinungen wie das Arpeggio, das der Italiener Azzolino Bernardino Della Ciaja 1 727 veröffentlichte (NB. 18), oder die beiden unter dem Namen Zachows überlieferten Arpeggio-Präludien (NB. 12 und 13), daß der Typus über die hier angeführten Quellen hinaus weit verbreitet und beliebt gewesen sein muß. überblicken wir nun die verschiedenen Formen, so läßt sich das neue Bildungsprinzip am besten mit „homophonem Klangflächenpräludium" beschreiben. Verschiedene Mittel, mit welchen diese Klangflächen dargestellt werden, geben Anhaltspunkte für eine Unterteilung, die neben dem Arpeggio-Präludium noch einige besonders ausgeprägte Typen berücksichtigen müßte: Im einzelnen umfaßt das homophone Klangflächenpräludium (1) das reine Arpeggio-Präludium, (2) das Etüden-Präludium (mit Einbau der Figur), (3) das Akkordgruppen-Präludium und (4) Einzelprägung verschiedener Art. Um 1 700 erfuhr neben dem homophonen Klangflächenpräludium auch das alte polyphon-improvisatorische Organistenpräludium weiterhin auf Cembalo und Klavichord nicht nur in Formen freier Polyphonie, SO!'Jdern auch als freie Toccata seine Pflege. Aber sein Platz blieb in der Formenwelt der Zeit auch nach 1 700 so untergeordnet wie vorher. An eine Eigenentwicklung des Klavicrpräludiums war hier im Schatten der Orgel nicht zu denken. Das homophone Klangflächenpräludium bot jedoch dafür alle günstigen Voraussetzungen: Rein formal bildet es zunächst den Rahmen für eine freie Entwicklung der klavieristischen Technik, denn die Darstellung der harmonischen Flächen mit immer neuen Mitteln führte zur Entdeckung von fast unbegrenzten Möglichkeiten des Klaviersatzes. Damit wird der Weg frei für eine Weiterentwicklung des Präludiums zu dem nuancierten Charakterstück, eine Entwicklung, die als Parallelerscheinung in der Welt der französischen Suitenkomposition mit den Schöpfungen Couperins tatsächlich zur Wirklichkeit wird. Inhaltlich spiegelt es den Grundaspekt jener Generation, die Newtons Philosophiae naturalis mathematica Principia erscheinen sah und für die ein Schema Sinnbild der gesetzmäßig-rationalen Weltordnung werden konnte. Für eine Zeit, in welcher der Gedanke an eine Beseelung des Mechanismus nichts Fremdes war, die der Zahl Leben einhauchen und die Seele ermessen wollte, konnte der Sinn einer solchen musikalischen Form weiter gehen als ehemals beim schlichten Präludium: Über die „Vorbereitung auf die folgende Musik" und das Kontaktnehmen „mit Materie und Zuhörer" hinaus kann sich im Präludium selbst die Musik in ihrer kosmischen Urgestalt offenbaren. All diese Möglichkeiten wurden zunächst nur teilweise erkannt und genützt; sie sind immer noch nicht erschöpft. Aber einer hat sie in der genialsten Weise gesehen und in beglückender Mannigfaltigkeit verwirklicht: Johann Sebastian Bach. 1

o Vgl. Oppcl, f.K.F. Fischers Einfluß, S. 64 f. 11 Auf keinen Fall kann jedoch Bachs C-Dur-Präludium gerade unter dem Einfluß dieser beiden Stücke entstanden sein, wie das Oppel im vorgenannten Aufsatz feststellt.

22

II

Die frühen Beiträge Johann Sebastian Bachs

Es ist nicht viel, was sich an echten Jugendwerken Bachs erhalten hat, wenn man die Zahl der reifen Kompositionen damit vergleicht; dies gilt auch für das Klavierpräludium. Streng genommen könnte man nur zwei oder drei Stücke so bezeichnen. Die folgende Aufstellung umfaßt als frühe Beiträge alles, was vermutlich vor den Köthener Jahren, genauer - vor den Inventionen und dem Wohltemperierten Klavier entstanden ist, also vor Bachs erster intensiver Auseinandersetzung mit dem Klavier: Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

J 2 3 4 5 6 7 8 9 10 II

12 13

Nr. 14

Präludium c-moll Präludium a-moll Präludium h-moll Präludium C-Dur Präludium a-moll Präludium d-moll Präludium e-moll Präludium C-Dur Präludium F-Dur Präambulum d-moll Präludium G-Dur Präludium G-Dur 12 kleine Präludien

BGA BGA BGA BGA BGA BGA BGA BGA BGA BGA BGA BGA BGA

XXXVI, S. XXXVI, S. s. XLII, XXXVI, S. XXXVI, S. XXXVI, S. XXXVI, S. XXXVI, S. XXXVI, S. XXXVI, S. XXXVI, S. XXXVI, S. XXXVI, S.

136 138 211 134 104 106 108 224 112 226 114 220 118 - 127

6 kleine Präludien

BGA XXXVI, S. 128- 133

(BWV921) (BWV 922) (BWV 923) (BWV 943) (BWV 895) (BWV 899) (BWV 900) (BWV 870a) (BWV 901) (BWV 875a) (BWV 902) (BWV 902a) (BWV 924- 930, 939 - 942, 999) (BWV 933 - 938)

Angahl'n ühcr dil.' Quellenlage sind der Ausgabe der Bachgesellschaft (= BGA) entnommen, soweit nichts anderes verml'rkt ist.

Die beiden Präludien in c-moll und a-moll bilden wohl die ältesten Stücke, die uns der Zufall erhalten hat. Für ersteres lagen dem Herausgeber zwei Abschriften vor, von welchen eine die Jahreszahl 1 713 trägt, während sich die andere im Sammelband des Andreas Bach befindet, einer Quelle, die wahrscheinlich von J. G. Walther angelegt 12 wurde und Bachsehe Kompositionen bis zum Jahr 1710 enthalten soll . Das a-moll Präludium ist nur in einem Sammelband von Krebs enthalten und trägt dort die Bezeichnung Fantasia, j.S.B .. Die Verwandtschaft mit Nr. 1 ist so auffallend, daß ein Zweifel an der Zugehörigkeit zu jener frühen Zeit kaum möglich ist. Die übrigen Stücke scheinen durchweg spiiter entstanden zu sein, auch wenn Anhaltspunkte für eine Datierung fehlen. Nr. 4 und 5 sind je in einer Abschrift in dem sogenannten Sammelband Kellner überliefert 13 ; dagegen finden sich von dem Präludium in h-moll (Nr. 3) neben drei Handschriften die ersten 15 Takte auf der letzten Seite des sogenannten Fischhoffschen Autographs mit dem Titel Praelude di j.S. Bach. Wenn auch die Echtheit jenes Autographs nicht unangezweifelt ist, so wird die Zuweisung in den hier behandelten Zeitraum, die sich ohnedies aus stilistischen Rücksichten ergeben würde, dadurch gerechtfertigt (vgl. Spitta, Bach, 1, S. 797). Die Nummern 6 bis 12 gehören insofern zusammen, als sie einer gemeinsamen Quelle entstammen. Dies geht aus der Ausgabe der Bachgesellschaft (BGA) nicht ohne weite res hervor, und es ist an der Zeit, daß einmal auf jenen kleinen, \'On Bach eigenh ~indig 12 Vgl. hierzu: Wolffhcim,

/l!öllcrschc Il1111dschrift.

13 Verfasser:

Vgl. Wl'itzm.mn-Seiffrrt, Klal'iemwsik, 1, S. 361 ff.

.J .P. Kdlncr.

'.?3

geschriebenen Notenband hingewiesen wird, der neben einem Trio für ein zweimanualiges Instrument mit Pedal 6 Präludien und 5 Fugen oder Fughetten entlült (NB. :?6 '.l:? und 32a). Dieses 1\utograph, das sich im Nachlaß des Kammersängers llauscr 14 befin det, war dem Herausgeber Naumann bei der Bearbeitung des entsprechenden Bandes der Klaviermusik Bachs wohl bekannt; leider wurde es nicht als Ganzes veröffentlicht. Sein Titel lautet: Praeludia et Fugae l'x D moll, /:' moll, C dur et F dur, itc111 Trio 2 Clavier et Pedal ex D moll di ]. Scbasl. Bach 1 "

n

Thematisches Anfangsverzeichnis der Stücke des Hauserschen Autographs NB.26 1. Praeludium und Fughetta DmoU (BGA XXXVI, S. 106)

j~;':d;~)r :1:r!1f:g~l~ 1:·1~fvl@l!J NB.27 2. Praeludium und Fughetta Emoll (BGA XXXVI, S. 108) Prael. Fughetta

NB.28 3. Praeludium und Fughetta Cd ur (BGA XXXVI, S. 224 ) Prael. Fughetta

14

Franz Hauser, 1794-1870. Passionierter Sammler von Bach-Autographen. Sein wertvoller Handschriftennachlaß befindet sich im Besitz von Professor Karl-Anton - Mannheim.

15

Ein weiteres Präambulum in Dmoll ist hinzugeschrieben und Prael. Icon Fuga ex G dur man. di Bach hinten angeheftet. Vgl. Revisionsbericht, BGA XXXVI, S. LVI u. XCIV. Restlos läßt sich daraus der Inhalt nicht rekonstruieren. Eine Anfrage bei Professor Anton ermöglichte das in den Notenbeispielen 26 bis 32a gegebene Anfangsverzeichnis. Strittig war die Gestalt des Trios. Dies Stück läßt eine Datierung der Sammlung vor 1722 zu, da es bereits als Variante zum Wohltemperierten Kl.avier I auftreten soll (Naumann in BGA XXXVIII, S. XLII).

24

NB.29

4. Praeludium und Fughetta Fdur (BGA XXXVI, S.112) Prael. Fughetta

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NB.30

5. Trio Dmoll (BGA XV, S. 26) II

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NB.31

6. Praeambulum Dmoll [hinzugeschrieben] (BGA XXXVI, S. 226 ) 6. II



1







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NB.32

7.Praeludium 1 und Fuge Gdur [angeheftet] (BGA XXXVI, S. 114) Prael.

Kdlncrs Sammlung cnthiilt hiervon die Nummern 1, 2 und 6 sowie die Fuge von Nr. 7 in Verbindung mit dem Notenbeispiel 32a, unter dem im Text angeführten Titel zusammengefaßt.

NB. 32a

Praeludium Gdur (BGA XXXVI, S. 220)

Man geht nicht zu weit, wenn man in der Sammlung eine Parallelerscheinung zu den größeren Zyklen sieht, die Bach um diese Zeit zusammenstellte. Dafür sprechen auch die drei Präludien und vier Fugen in dem Kellnerschen Sammelband unter dem Titel Praeludia und Fugen zum Nutzen und Gebrauch der lehrbegierigen musikalischen Jugend als auch derer in diesem Studio schon habil Seienden besonderem Zeitvertreib aufgesetzt und verfertigt von Johann Sebastian Bachen (BGA XXXVI, S. LVI). Daß Kellner nicht alle Stücke abgeschrieben hat, erklärt sich wohl daraus, daß er schon einzelne davon besaß, wie z. B. das Präludium in C-Dur (BGA XXXVI, S. XCIV). festzuhalten ist auf alle Fälle, daß Kellners Sammlung bereits um 1 722 bestanden hat, eine Tatsache, die für die Entstehungsgeschichte des Wohltemperierten Klaviers II von Bedeutung ist 1 6 . Eine vollkommen willkürliche Zusammenstellung sind dagegen die 12 kleinen Präludien. Sie tritt im 19.Jahrhundert zum ersten Male in der Ausgabe von Peters so auf und wurde auch in der Ausgabe der Bachgesellschaft beibehalten 1 7 • Ihr lagen als Hauptquellen das Klavier-Büchlein für Friedemann (hrsg. v. H . Keller, Augsburg 192 7) und der Sammelband Kellner vor:

Klavierbüchlein (nach BGA) für die Nummern nach Kellers Numerierung Kellners Sammelband für die Nummern

1 2 2

4

27 3

5 4 6

8 8 7

9 10 8

10 (48) 12

11 9

Das erste Präludium ist im Klavierbüchlein von Bachs eigener Hand eingetragen, alle übrigen von fremder Hand. Dieser Umstand sowie die Bezeichnung von Nr. 5 als Präludium II lassen eine abgeschlossene Sammlung als Vorlage vermuten, deren Reihenfolge und Zusammensetzung wir aber nicht kennen. Bei der Redaktion der Peters-Ausgabe kann sie nicht vorgelegen haben; deren Freizügigkeit wird noch besonders durch die Aufnahme des kleinen Trios (als Nr. 10) gekennzeichnet, das Bach bekanntlich zu der Partia di Sign. Stelzeln als 4. Satz hinzukomponiert hat (Keller-Ausg., S. 95) und das in einer Handschrift als „alternativemant" - nach h-moll transponiert - zu dem Menuett der 3. Französischen Suite überliefert ist (BGA XXXVI, S. 237). Anders steht es mit den 6 kleinen Präludien. Allerdings liegt hier kein Autograph vor (BGA XXXVI, S. LXI), jedoch werden die Stücke, die auch innerlich nahe verwandt sind, in mehreren Handschriften in derselben Reihenfolge überliefert; und eine „sehr gute alte Abschrift" (vgl. ebenda) mit dem Titel Six Preludes l'usage des Commen "ants composes par Jean Sebastian Bach diente Forke! als Hauptunterlage für seine erste Ausgabe. Man kann also mit einiger Sicherheit annehmen, daß Bach die Stücke ~;c l!F. ! ~,.., :rngcordnct hat. Bach hat sich bis zu den Köthener Jahren nicht sonderlich mit dem Klavier beschäftigt. Dieser Eindruck, der schon aus der geringen Anzahl der erhaltenen Werke hervorgeht, bestärkt sich bei eingehender Betrachtung und ist bei dem übergewicht der Orgel im Aufgabenkreis der Mühlhauser und Weimarer Zeit nicht anders zu erwarten. Und doch lassen sich unterschiedliche Stilperioden in ihren Umrissen auch in den vorliegenden Präludien verfolgen. Den beiden Hauptwerken, die neben den Suiten im wesentlichen den Ertrag der intensiven Auseinandersetzung mit dem Klavier nach 1 71 7 darstellen, dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers und den Inventionen, gehen hier Schöpfungen voran, die eine zweifache oder, wenn man die Kleinen Präludien trotz ihrer Sonderstellung mitrechnet, eine dreifache Schichtung der Schaffensweise Bachs in jener frühen Zeit spiegeln. Wir vermeiden es bewußt, in diesem Zusammenhang von

a

16

Ober Kellner: Landshoff, Revisionsbericht, S. 54 (s. unten Arun. 30).

17

Peters-Ausgabe, Cah. 9, hrsg. v. Griepenkerl unter dem Titel Douze petits Preludes ou Exercises pour les Commeni;ants (S. 73).

26

Entwicklungsstufen zu reden, denn es wird sich auch hier zeigen, daß geradlinige Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel zwischen früheren und späteren Werken Bachs kaum vorliegt. Die Tatsache, daß Bach immer wieder auf Früheres zurückgreift, um in neuer Synthese neue Möglichkeiten zu finden, kennzeichnet seine Schaffensweise bis zum Orgelchoral am Schluß der Kunst der Fuge. Die überaus große Anzahl der Bearbeilungen eigener Kompositionen ist dafür Zeuge, vor allem aber die Art dieser Bearbeitungen. Den ersten Stilkreis kennzeichnet die virtuose Spielfreudigkeit des jungen Genies, das begierig alles Erreichbare in sich aufgenommen hat und steigern will. Insbesondere ist es die Kunst des Nordens mit Buxtehudes Orgelmusik, die auf die Klavierwerke wirkt und jene phantastischen Gebilde erfüllt, die sich kaum in Formen zwingen lassen. Die zweite Phase zeigt Bach in einer bewußten Beschränkung. Aus der Vielfalt jener rauschhaft ineinander übergehenden oder unvermittelt umschlagenden Stimmungen der „Sturm - und Drangzeit" führt kein eigentlicher Weg vorwärts. Das erst jetzt in ausgeprägterer Form gepflegte Präludium etwa des Hauserschen Autographs, das jenen bezeichnenderweise auch in der Benennung zwischen „Fan tasia", „Präludium" oder „Toccata" schwankenden Stücken folgt, sucht höchste Meisterschaft im Kleinen durch klare Gliederung und sorgfältig ausgewogene Kräfteverteilung im modulatorischen Grundplan. Vor allem aber ist es die Ausdruckskraft des Motivs, die Bach als Geheimnis zur Erschließung einer neuen Welt entdeckt. Und hierin liegt die eigentliche Bedeutung auch der Präludien jener Epoche für die Klaviermusik, obwohl sie ebensogut als Orgelpräludien angesehen werden können. Dies ist erst bei den Kleinen Präludien nicht mehr der Fall. Unmittelbar aus Bachs Lehrtätigkeit heraus entstanden - in einer Zeit der höchsten Meisterschaft, zeigen diese kleinen Gebilde zum ersten Male Rücksicht auf ein bestimmtes klaviertechnisches Problem: kleinste, aber in sich geschlossene Gestalt, leichte Ausführbarkeit und gleichzeitig erste Einführung in die Formenwelt des Klaviers. „Fand sich aber, daß irgend einem derselben [Schüler] ... die Geduld ausgehen wollte, so war er so gefällig, kleine, zusammenhängende Stücke vorzuschreiben, worin jene Uebungssätze [Anschlagsübungen] in Verbindung gebracht waren. Von dieser Art sind die 6 kleinen Präludien für Anfänger, und noch mehr die 15 zweystimmigen Inventionen. Beyde schrieb er in den Stunden des Unterrichts selbst nieder, und nahm dabey bloß auf das gegenwärtige Bedürfniß des Schülers Rücksicht. In der Folge hat er sie aber in schöne, ausdrucksvolle kleine Kunstwerke umgeschaffen." (Forke!, Bach, S. 58 f.) Tatsächlich enthalten die Kleinen Präludien fast alle wesentlichen Merkmale des Bachsehen Klavierpräludiums im Keim. Es ist nun interessant zu beobachten, wie Bach schon in den frühesten Stücken die Elemente des homophonen Klangflächenpräludiums aufgreift und mit ihnen Buxtehudes mehrteilige Toccatenform ausgestaltet. Das gilt für die Präludien in c-moll und a-moll (Nr. J und 2) wie für das großartige h-moll-Präludium (Nr. 3). Spitta (Bach, l, S. 430) bemerkt bei der Besprechung der beiden ersteren: „Eine hervorspringende melodische Blüthe fehlt dem einen wie dem andern durchaus, sie bieten nur Harmonienfolgen, welche sich an einem festen rhythmischen Spalier weiterranken. Der Rhythmus allein gliedert auch ihre Form in zwei Haupttheile, die von vorbereitenden oder ausklingenden Accorden und Passagenwerk eingerahmt werden". l\lit dem Hinweis auf „ein früher erwähntes Clavierwerk Georg Böhms" als Vorbild kommt Spitta der Erkenntnis, daß hier ein ganz besonderer, festgeprägter Typus zugrundeliegt, recht nahe, ohne sie jedoch zu formulieren 111 • Das c-moll-Präludium hat zu Beginn eine 111 Ebenda S. 429. Gemeint ist Präludium, Fuge und Postludium g-moll; vgl. oben

S. '.!O

und

NB. 11.

'27

Reihe jener arpeggierten Akkorde, wie sie uns schon bei Krieger (NB. 6) begegneten und die folgenden, auch äußerlich durch Taktwechsel bezeichneten Abschnitte um fassen, reine Arpeggio-Stücke (NB. 33). Bemerkenswert ist dabei der modulatorischc Grundplan des Stückes: 4/4: c-g,

6/8: g-Es,

4/8 : Es-g,

4/4: g-f,

24/16: f-c

NB.33

Das in manchem etwas ungelenke Gebilde stellt so eine deutliche Übergangserscheinung dar: die äußerlich noch festgehaltene mehrteilige Anlage wird dadur h vereinheitlicht, daß ein homophones Klanggerüst durch das ganze Stück hindurch Bildungselement bleibt und die einzelnen Teile beim Gang durch die nächstverwandten Tonarten nur in der Beziehung zum Ganzen ihren Sinn erhalten. In diesen beiden Punkten bringt Bach gegenüber Buxtehude und anderen Vorgängern grundsätzlich Neues 1 9 . Vor allem die Übertragung des Modulationsplans der italienischen Orchestermusik auf die Formen für Tasteninstrumente, die hier versucht wird, war für das gesamte spätere Schaffen Bachs grundlegend. Im a-moll-Präludium verzichtet Bach auf Modulation in den einzelnen Teilen, wie denn dieses Stück überhaupt stärker an Buxtehude gemahnt - durch die breite Anlage, die nach den einleitenden Zweiunddreißigstelgängen 2 0 und den langen Orgelrezitativen ein ebenfalls völlig homophones Stück von 20 Takten mit dem in Notenbeispiel 34a wiedergegebenen charakteristischen Zerlegungsschema folgen läßt. Im nächsten Abschnitt geht Bach noch weiter und versucht, die Idee des homophonen Klangflächenpräludiums auch auf fugierte Sätze zu übertragen (NB. 34b). Das Ergebnis ist immerhin 19

Die einzelnen Teile in Buxtehudes mehrteiligen Werken schließen fast restlos in der Grundtonart ab. Selten sind Halbschlüsse in der Dominante, aber von einer Modulation in dem Sinne, daß die Nebentonarten als Tonika dienen, kann nie gesprochen werden.

20

Schon hier ließe sich eine Reminiszenz an Buxtehudes fis-moll-Präludium denken; vgl. den jeweils ersten Takt der beiden Stücke:

4YerM rfr f Eil f cfr f 1cfr r11e ~1!(-!riff1 28

zweifelhaft, und die Scheinpolyphonie der Verarbeitung des chromatisch absteigenden Motivs mit den aufspringenden Zweiunddreißigsteln zu Beginn ermüdet in 53 Takten das moderne Ohr trotz aller harmonisch interessanten Wendungen. Der Hörer von 1710 empfand in dieser Beziehung wohl anders; alle Möglichkeiten der modernen Tonalität waren noch neu, Überraschungen durch neapolitanische Wendungen ein wirkliches Ereignis. Und als Ganzes bestrickt das Stück doch durch den kühnen Schwung se iner rhapsodisch freien Teile wie den melancholisch nachdenklichen Ton gewisser Episoden.

NB.34 a)

Mehr wie aus einem Wurf mutet das h-moll -Priiludium an, das wohl seiner Art nach zu den besprochenen gehört, dessen ein:1.elne Teile aber sehr stark ineinander übergehen. Ein arpeggierter Akkord eröffnet die rezitative Einleitung, während der Hauptteil als echtes Arpeggio - Pr ~iludium in Akkorden notiert ist. ach dem Feuer des einleitenden Passagenwerks soll nur die Frische der llarmonicfolgen musikalisch wirken, da die rhythmische Ausführung der Arpeggien dem Spieler freigestellt ist - und doch „wel1 cher Zauber geht von ihnen aus!" (Dörffel im Vorwort zu BGA XLV , S. LIX.) Bach hat sich dieses Stückes noch bei der Zusammenstellung des Wohltemperierten Klaviers erinnert und seine Aufnahme erwogen. Ihrer Anlage nach lassen sich die bisher besprochenen Werke nur bedingt als „Prälu dien" in der eingangs festgelegten Bedeutung auffassen. Sie sind aus dem Geiste der norddeutschen virtuosen Orgelkunst konzipiert und stehen so den eigentlichen Klaviertoccaten Bachs viel näher, einer Gattung, die Bach wohl eifrig weiter pflegt. die wir aber hier nicht berücksichtigen können. Daß B,1ch daneben auf den „Urstrom" des improvisatorischen Organistenpräludiums zurückgreift, um ihn persönlich .iuszuformen, und daß ihm aus dieser Schicht auch noch in sp~itercn Werken wesentliche Kdfte zufließen, wird sich immer wieder zeigen.

29

Ein schönes Beispiel dafür bietet das kleine a-moll-Präludium, das in Verbindung mit einer Fuge, wahrscheinlich aus der Weimarer Zeit, auftritt (Nr. 5, BGA XXXVI, S. 104 - BWV 895 ). Knapp 12 Takte, einschließlich des einleitenden rezitativartigen Baßgangs, und doch: Wieviel Innigkeit des Ausdrucks ist in diesem kleinen Bild ausgebreitet! Bei freier Polyphonie mit komplementärer Rhythmik, die durchlaufende Sechzehntelbewegung gelegentlich durch Unterteilung belebt, der iiußeren Form nach also ganz der Typus des Normalpräludiums, von dem wir oben sprachen, zeigt die Oberstimme leichtes Übergewicht, aber ohne eigentlichen Kantilenencharaktcr. Die rhythmische Figur steht als treibende Kraft im Hintergrund und führt mit der Erreichung des hohen C als Spitzenton zu einem gewissen Höhepunkt, von dem ein jiiher Absturz in den ergreifenden Schluß einmündet (NB. 35). Daß solche Stücke wohl auf guter Kenntnis der Tradition beruhen, dafür hat uns der Zufall ein interessantes Dokument überliefert in der Kopie, die sich Bach von den Fiori musicali Frescobaldis ( 1635) verschaffte und deren eigenhändige Datierung von 1714 aufschlußreich ist (vgl. Spitta, Bach, I, S. 418). Die darin enthaltenen „Toccaten" dürfen sehr stark als Vorbild der 1mprovisationspraxis im Sinne unseres Organistenpräludiums gewertet werden, und wenn wir einen Abschnitt aus einer solchen Toccata (NB. 36) betrachten 2 1 , so faßt sich ohne weiteres feststellen, welche starken Eindrücke Bach der Beschäftigung mit dieser Musik verdankt. Natürlich waren ihm auch die entsprechenden Stücke der Franzosen, etwa die eines Lebegue 2 2 , nicht unbekannt. Vor allem aber sind es ähnliche Präludien Fischers. deren Einfluß oft bis in Einzelheiten nachzuweisen ist.

NB.35

21

Vgl. Neuausg. v.

1922. 22

J.

Sonnet u. F.-A. Guilmant in Les grands maitres anciens de l'orgue. Paris

s. 81.

Lebegues PrCludes und Plein jeux wollen bewußt „au public quelque connaissance de Ja maniere que l'on touche l'orgue presentement Paris" geben. - N.A. Lebegue, Oeuvres com-

a

30

Die vergleichende Betrachtung der Vorlagen verstärkt gerade hier wieder den Eindruck der natürlich vitalen, bis ins Mark gesunden Persönlichkeit Bachs, der es fern liegt, „im alten Stil" zu schreiben und mit falscher Pietät lediglich zu kopieren, die dagegen dem Typus bewußt den eigenen Stempel aufdrückt. In einer überaus genialen Synthese verbindet Bach mit der alten Form ein Neues, ohne sie dabei ihrer charakteristischen Eigenart zu entkleiden. Dieses Neue läßt sich vor allem in zwei Richtungen erfassen : ( 1) Anwendung der Ausdruckskraft der modernen Harmonik im Sinne einer klaren Dur-Moll-Tonalität, und zwar in ökonomischer Auswertung der Möglichkeiten, die in den überschwänglichen Werken der frühen Periode entdeckt worden waren. Dabei kommt dem Dominantsept- und Nonakkord sowie dem verminderten Septakkord große Bedeutung zu. (2) Kultur des affektgesättigten Motivs, das, meist durch den ganzen Satz beibehalten, diesen auflockert und die innere Einheit herstellt. - Erst im Zusammenwirken dieser beiden Momente, des vertikalen wie des horizontalen, ersteht die eigenartige Wärme ßachscher Tonsprache. Die Herausbildung dieser Tonsprache ist das Hauptergebnis der Weimarer Jahre. Sie voll;cieht sich vor allem auf den beiden Gebieten, die ganz im Aufgabenbereich des lloforganisten lagen: der Orgelmusik und der Kirchenkantate. In den Kantatentexten waren von vornherein die Bilder gegeben, an denen sich die künstlerische Phantasie entzünden und für die sie charakteristische Motive gestalten konnte. Aber auch die freien Orgelwerke jener Zeit zeigen ausdrucksgeladene Motive, die dem Wesen eines Satzes jenen einheitlichen, persönlichen Charakter verleihen (NB. 3 7). Am klarsten tritt der Weimarer Bachstil in den 46 Chorälen des Orgelbüchleins hervor. Der Cantus firmus in Gestalt des protestantischen Kirchenliedes gibt hier in doppelter Hinsicht den Rahmen: Zunächst schafft die an sich freie Möglichkeit der Harmonisierung die homophone Grundlage, die durch kunstvolle Umspielung mit Motiven in scheinpolyphoner Weise aufgelockert wird. Die Struktur der zugrundeliegenden Choralmelodie gibt aber zugleich den modulatorischen Grundplan ab, der die kleinen Gebilde zu einem selbständigen Organismus abrundet. Daß es neben diesen formalen Prämissen der vom

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pletes d'orgue (Bd. 9, S. 1. In Fclix-Alcxandrc Guilmant, Archii•cs des 111afrres dl' /'orgue d e.1 XV Je, XVl/e et X Vllle siecles . . „ 10 Bde. Paris 1898 - 1914).

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Text her bestimmte poetische Gehalt ist, dessen Wiedergabe in der Sprache der Musik, mittels der Begleitmotivik, die eigentliche Bedeutung dieser Schöpfungen ausmacht, wurde u . a. von Schweitzer (Bach} und Pirro (Esthetique de Bach} hinlänglich gezeigt. Andererseits können wir aber am Orgelbüchlein nicht vorübergehen, wenn wir die Klavierpräludien der Weimarer Zeit betrachten: Die musikalische Sprache ist tatsächlich dieselbe. Aber während dort durch den Cantus firmus ein bestimmtes harmonisches und modulatorisches Grundgerüst gegeben ist, ist hier die Anlage frei; während dort bestimmte Bilder die Erfindung und Gestaltung des Motivs beeinflussen , ist die schöpferische Phantasie hier ungebunden und kann, wie Spitta sagen würde, aus dem Reich der absoluten Musik ihre Anregungen empfangen. Was den ersten Punkt anbelangt, so werden wir bald sehen, wie sehr Bach bestrebt ist, auch die Form des Präludiums innerlich zu straffen, indem er einen festen Modulationsplan zugrundelegt, der den Aufbau klar gliedert. Er verfährt dabei also ähnlich wie bei der Schaffung der modernen einthematischen Klavierfuge, für die als wesentlichste Tat die Verbindung der planmäßigen modulatorischen Anlage der Orchesterfuge, wie sie sich in den Instrumentalformen für größere Ensembles gegen Ende des 1 7. Jahrhunderts entwickelt hatte, mit der sorgfältigen Kontrapunktik der - aus Gründen der Temperatur - bisher kaum modulierenden Tastenfuge nachweisbar ist (vgl. Fischer, Instrumentalmusik) . Im Klavierpräludium dagegen sind es weithin die eigentlichen Tanzformen, deren Modulationsschema unschwer als Grundplan wieder entdeckt werden kann . Zieht man andererseits in Betracht, wieviel aus dem Lied- und Tanzbereich auch in den protestantischen Choral übergegangen ist, so dürfen wir hier eine der stärksten Wurzeln der homophonen Großrhythmik sehen, die A. Lorenz (Bachs Polyphonie) auch in den rein kontrapunktischen Werken