Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1972 [1972] 3875370090


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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz, 1972
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Inhaltsverzeichnis
Bollert, Werner und Lemke, Arno (Hrsg.) - Carl Maria von Webers Briefe an Gottfried Weber
Dahlhaus, Carl - Studien zu romantischen Symphonien
Brinkmann, Reinhold - "Drei der Fragen stell' ich mir frei"/Zur Wanderer-Szene im 1. Akt von Wagners "Siegfried"
De La Motte-Haber, Helga: Der Einfluß psychologischer Variablen auf das ästhetische Urteil
Jost, Ekkehard - Über die Klangeigenschaften von Lautsprechern/Eine experimentalpsychologische Untersuchung
Namen- und Sachregister
Über die Autoren
Vakatseiten
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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1972 [1972]
 3875370090

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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz

1972

Merseburger

JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FÜR MUSIKFORSCHUNG

Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz

1972

Herausgegeben von Dagmar Droysen

Verlag Merseburger Berlin

Edition Merseburger 1444

© 197 3 Verlag Merseburger Berlin GmbH Alle Rechte vorbehalten · Printed in Germany Redaktionelle Mitarbeit und Composersatz: Helga Friede!, Monika Pommerening, Sabine Stahnke Druck: Arno Brynda, Berlin

ISBN 3875370090

INHALT

BOLLERT, Werner und LEMKE, Arno {Hrsg.) Carl Maria von Webers Briefe an Gottfried Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 DAHLHAUS, Carl Studien zu romantischen Symphonien

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

BRINKMANN, Reinhold „Drei der Fragen stell' ich mir frei" Zur Wanderer-Szene im 1. Akt von Wagners ,Siegfried' . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 DE LA MOTTE-HABER, Helga Der Einfluß psychologischer Variablen auf das ästhetische Urteil . . . . . . . . . . . 163 JOST, Ekkehard Über die Klangeigenschaften von Lautsprechern Eine experimentalpsychologische Untersuchung

. 1 75

Namen- und Sachregister . . . . . . . . .

. 203

Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . .

. 205

7

CARL MARIA VON WEBERS BRIEFE AN GOTTFRIED WEBER Herausgegeben von WERNER BOLLERT und ARNO LEMKE

Vorwort „Da habe ich eben mein Geschreibsel wieder durchgelesen und da stieß mir eine kuriose Idee auf. Wenn es nämlich der Himmel so fügen wollte, daß wir berühmte Leute würden, nach deren Briefen man hascht nach ihrem Tode - - höre das wäre ein verfluchter Streich, wenn z. B. so ein Brief wie dieser gedruckt würde". Diese Worte Carl Maria von Webers, einem Schreiben vom September 1811 entnommen, zeigen - bei aller gebotenen Zurückhaltung - doch sehr deutlich, daß er schon damals, sich eines persönlichen Wertes bewußt, durchaus nicht abgeneigt war, für seine Wirkung in der Öffentlichkeit und für die allgemeine musikalische Meinungsbildung selbst etwas zu tun. Nicht zuletzt seiner Initiative war es ja zu verdanken gewesen, daß zu Mannheim ein Jahr zuvor jener „Harmonische Verein" ins Leben getreten war, der die Förderung des „wahrhaft Guten" im Bereiche der Tonkunst auf seine Fahnen geschrieben hatte (lt. Statut vom 30. November 1810}. Die Begründer dieses Vereins waren, neben Carl Maria von Weber, Giacomo Meyerbeer, Gottfried Weber und Alexander von Dusch; von Anfang an zählten außerdem dazu Ludwig Berger und Johann Gänsbacher. Die Mitglieder, die sich „Brüder" nannten, waren gehalten, sich gegenseitig tätig zu unterstützen; „gleich großer Eifer für die Kunst, gleiche Ansichten derselben, die Notwendigkeit besonders den ästhetischen Teil mehr zu pflegen, waren die Hauptgründe des Vereins". Carl Maria von Weber wurde hier der „Dirigens"; zum Zentralpunkt und Sitz des Archivs wurde Mannheim bestimmt, wo Gottfried Weber als Sekretär seines Amtes zu walten hatte. Zu den Obliegenheiten der „Brüder" gehörte es, für bestimmte Zeitschriften unparteiische und fachlich einwandfreie Musik-Rezensionen im Sinne der Vereinssatzungen abzufassen, wobei in der Regel Autoren-Pseudonyme verwendet wurden: Carl Maria von Weber= Melos, Simon Knaster, Niemand; Gottfried Weber= Giusto, Dian; Giacomo Meyerbeer = Philodikaios, J ulius Billig; Johann Gänsbacher = Triole, Trias; Alexander von Dusch= Unknown bzw. The Unknown man. Für die Zuwahl neuer Mitglieder bestanden recht strenge Normen, zumal man bei den Vorschlägen nicht bloß auf die künstlerische, sondern ebenso auf die menschliche Qualität sah. Deshalb wuchs dieser Kreis von „Brüdern" überhaupt nur langsam an; in den Bund aufgenommen wurden dann Friedrich Wilhelm Berner, Franz Danzi und Carl Ludwig Röck. Für die Mitgliedschaft vorgesehen waren weiterhin noch Franz Joseph Fröhlich (Würzburg}, Max Cäsar Heigel (München}, Hans Georg Nägeli (Zürich} und Heinrich Zschokke (Aarau}. Zur Beurteilung der Aspiranten wurden sog. „Circulares" verfaßt, von denen sich leider nur einige wenige Proben erhalten haben.

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WERNER BOLLERT UND ARNO LEMKE

Soviel auch Carl Maria von Weber, schriftstellerisch ungemein talentiert und zudem der geborene Organisator, auf publizistischem Wege erreicht hat, der Wirksamkeit des „Harmonischen Vereins" waren doch Grenzen gesetzt. Für Dusch rückten die juristischen Ziele allmählich in den Vordergrund; Gänsbacher ging für viele Jahre in seine österreichische Heimat zurück, um sich dort zunächst militärischen Belangen zu widmen; und Meyerbeer begann schon sehr bald, seine eigene stark international ausgerichtete kompositorische Laufbahn zu verfolgen. So mußten die beiden Webers in ihrer Initiative mit der Zeit mehr und mehr allein bleiben. Auch für sie forderten die Hauptberufe in zunehmendem Maße ihr Recht; kein Wunder also, daß diese Aktivität - im Rückblick von heute aus überaus modern anmutend - endlich doch völlig zum Erliegen kam. Die Freundschaft zwischen Gottfried und Carl Maria von Weber, in den letzten Februartagen des Jahres 1810 zu Mannheim unvermutet rasch geschlossen und bis zum Tode des „Freischütz"-Komponisten andauernd, ist - wie auch der vorliegende Briefwechsel es klar ausweist - nicht ohne krisenhafte Perioden, nicht ohne starke innere Belastungen und Erprobungen der gegenseitigen Zuneigung geblieben. lnsgesam t erhält man den Eindruck, die weitaus größere Empfindlichkeit habe jedenfalls auf seiten Gottfried Webers gelegen, der sich gerade als Musiker immer wieder zurückgesetzt fühlen mußte. Bereits in den Sommermonaten 1813, 1814 und 1815 sind aus den Briefen erhebliche Spannungsmomente herauszulesen, die eher noch Carl Maria, immer wieder, zu überbrücken sucht; als er dann im November 1817 dem Freunde zu Mainz seine eben angetraute Frau Lina vorstellt, meint er wie aus einem an Gänsbacher gerichteten Brief hervorgeht - eine wirkliche Entfremdung zu spüren. Unmittelbar danach gibt es in der Korrespondenz jene merkwürdig lange Schreibpause, die sich bis zum April 1822 hinzieht; erst dann setzen die Briefe wieder ein, als sei zwischen den Freunden nichts Ernsthaftes vorgefallen. Bei beiden ist nun die Stufe einer geistigseelischen Neutralität erreicht, die sich von Emotionen und bloßen Stimmungen gänzlich freigemacht hat. Ohne Vorbehalt bewundert Carl Maria die musiktheoretische Leistung Gottfried Webers; dieser wiederum erkennt neidlos das musikalische Genie des Freundes an, wohl wissend, welchen Rang Carl Maria als Komponist dann im Urteil 'der Mitwelt einnehmen wird. Bald nach Carl Marias Tode (1826) ergab sich für Gottfried Weber die Gelegenheit, in der von ihm gegründeten Zeitschrift „Cäcilia" dem Verstorbenen durch einen Wiederabdruck von Briefen ein erstes „Monument" zu errichten; in seiner Edition liegen denn also die Schreiben aus den Jahren 1822-1826 (Bd. 7, 1828, S. 20-40) sowie diejenigen von 1810 (Bd. 15, 1833, S. 30-58) vor, wobei freilich - neben den wohl persönlich zu begründenden Auslassungen - doch ein paar Lücken bleiben. Auch Max Maria von Weber, der drei Jahrzehnte später (1864-66) ein groß angelegtes Lebensbild seines Vaters in Buchform publiziert hat, zieht die Gottfried-Briefe weitgehend mit heran, die er jedoch auf ziemlich willkürliche Art benutzt und fast immer bloß brockenweise veröffentlicht; dies war zwar gut gemeint, doch hat das von ihm praktizierte Verfahren eher zur „Verunklarung" beigetragen. So erscheint es keineswegs überflüssig, jetzt endlich die erhalten gebliebenen Briefe Carl Maria von Webers an Gottfried Weber in möglichst originaler Gestalt neu zu präsentieren. Von den zahlreichen Schreiben Gottfrieds an Carl Maria ist heute kaum mehr etwas vorhanden. Daß also stets nur der eine Briefpartner spricht, mag man ebenso bedauern wie die Tatsache, daß die hier publizierte Brieffolge nicht ganz komplett ist. Bereits zu Gottfrieds Lebzeiten fehlten einige Schreiben, und aus Carl Marias sorgfältig geführten

WEBER-BRIEFE

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Tagebüchern weiß man, daß die Korrespondenz der Freunde auch durch das (hier nicht vertretene) Jahr 1812 pausenlos fortgesetzt wurde. Trotzdem bieten diese Briefe ein gutes, z. T. treffend gesehenes kultur- und musikgeschichtliches Abbild für das erste Viertel des 19. Jahrhunderts; sie werfen ein bezeichnendes Licht auf eine bedeutsame Künstlerfreundschaft und sind zudem äußerst wertvoll „als Charakterschilderung und Selbstporträtierung". Wohl schon Gottfried Weber (gest. 1839), dann aber auch seiner Witwe Auguste (vgl. deren Schreiben an Meyerbeer vom 20. April 1845) hat die Idee vorgeschwebt, eine Gesamtausgabe dieser Briefe zu veranstalten. Gottfried selbst, der die Dokumente hochhielt, dürfte vielleicht noch für eine Abschrift gesorgt haben, die innerhalb seines engeren Familienkreises zustandekam. Danach fungierte seine Tochter Antonie (gest. 1890) als Nachlaßverwalterin. Die Originale zwar waren inzwischen größtenteils nicht mehr greifbar; die Abschriften jedoch gelangten in der ersten Hälfte unseres J ahrhunderts an den Darmstädter Buchhändler Wilhelm Kleinschmidt (gest. 1945 ), der eine Edition der Briefe plante und schon eine Einleitung hierfür konzipiert hatte. Er konnte sie aber nicht mehr realisieren; und die Unterlagen kamen nun an den Berliner Musikalienhändler und Weber-Spezialisten Hans Dünnebeil (gesl. 1961). Dieses Material wurde sodann vom Staatlichen Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz erworben, in dessen Jahrbuch 1972 die Weber-Briefe jetzt ans Licht der Öffentlichkeit treten. Aus raumlechnischen Gründen können in diesem Bande zunächst nur die Brieftexte selbst erscheinen, denen aber gleich ein Personenregister beigegeben ist. Da in diesem Falle auf gründlichere Kommentierungen nicht verzichtet werden darf, wird das Jahrbuch 1973 den hierfür unerläßlichen Apparat sowie einige philologisch-kritische Anmerkungen enthalten. In unserer Edition wurde versucht, die Ursprünglichkeit und Frische der Weberschen Ausdruckswelt zu wahren, die alle Schreibweise und seinen mitunter recht originellen Briefstil - sofern es die Abschriften noch getreu zu überliefern vermögen - beizubehalten. Ein für die Arbeit erschwerendes Moment bildeten die mannigfachen, wenn auch zumeist geringfügigen Abweichungen zwischen den beiden zur Verfügung stehenden Briefabschriften (Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Berlin bzw. Archiv des Verlags B. Schott's Söhne Mainz); nach vergleichender Prüfung wurde in jedem Falle die von uns als richtig erachtete Lesart gewählt. Eindeutig falsch geschriebene Namen wurden stillschweigend berichtigt; die Text-Auslassungen wurden nur dann ausgefüllt, wenn die jeweilige Ergänzung quellenmäßig genügend gesichert erschien.

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WERNER BOLLERT UND ARNO LEMKE

Darmstadt, 10. April 1810 Liebster Freund und Bruder! Längst schon hätte ich Dir geschrieben, wenn nicht zwei kleine Ursachen mich bis jetzt davon abgehalten hätten. Erstens habe ich nichts zu schreiben, denn der ganze Stoff wäre auf das Thema - ich ennuyire mich - reducirt gewesen, zweitens war ich zu verstimmt und drittens sind mir, und ergo auch dir, verstimmte Saiten und Briefe zuwider. Damit Du aber nicht etwa denkst, daß ich auch zu der Ratl~n_t! Nun sage mir §..C!!,lii;.h.t. welches geschlech t !J.1.bLayf_Qq .i:r.1k.iYcJse.n?

~!!!'

Ec:! _!;r.Qe_s~h.Qo_ß_;

nun sage mir ~ej_tc:r welches geschlech t ~c!!.t!:.t ~u.f ~r_e!:._d~

[Ü.f~u..? 20

Vgl. die Kennzeichnungen in der folgenden Synopse, wobei Unterstreichungen wörtliche Parallelen, Unterstrichelungen Entsprechungen im Stellenwert der Worte, also inhaltlich z. T. notwendige Varianten hervorheben.

ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED' 3. Alles weißt du, Wanderer, auf g~_sr_!!~ !ii_c~~Il - ill!!!. künde mir noch zum dritten, welches geschlecht ~~h_!l! e~li~h!_e!! !!~h~aj'

135

Viel, Wandrer, weißt du mir Y.0.!19~r_e!:_d~ !'!..uhe,!ll_rjjcJ!.~nj

melde mir "Yrj_t~!:, welches geschlecht ~Q.h!!t~l!f ~Q!.kjgcai hö.!i'.!.1?

Erstniederschrift !!!!11 melde mir ~c:Jte.r Particell nun sage mir

~~i~!

Partitur-Reinschrift nun sage mir ~'!!i!

Die sprachliche Gegenrefrain-Technik, ein Stilelement der eddischen Epik, ist jene · Instanz, die als Spiegelung der dargelegten inhaltlichen Stufung von Mimes Fragen jene Spezifik der musikalischen Parallelisierung, die später aufzuzeigen sein wird, initiiert. Zwar: auch Wotans Fragen zeigen Ansätze zum Gegenrefrain: l. „Nun ehrlicher zwerg /sag mir zum ersten „." 2. „Zum zweiten nun sag' mir zwerg „." 3. „Sag' mir, du weiser/ waffenschmied ... "

Doch die auf das „sag mir" beschränkten Analogien der Frageeinleitungen werden nicht ausgebaut, bleiben beiläufig, zudem als wenig exponierte Worte inmitten eines je größeren Redezusammenhangs, umfassen vor allem keine metrische, schon gar keine strophische Einheit. Demgegenüber wird der Gegenrefrain der dritten Mime-Frage, der in seiner drittletzten Zeile zunächst nur fragmentarisch realisiert war, noch im Zusammenhang mit der musikalischen Komposition endgültig ausgearbeitet: die rhythmische Korrespondenz der musikalischen Anlage 2 1 führt in der Erstniederschrift (der sog. ,Kompositionsskizze') zur Ergänzung des „nun"; im Particell wird dann sprachlichlautlich angeglichen, das herausfallende „melde" durch „sage" ersetzt, und in der Partitur-Reinschrift endlich ermöglicht die Streichung des zweisilbigen „weiter" zugunsten des „wahr" eine musikalisch den anderen, an entsprechender Stelle ebenfalls einsilbigen Adverbien („schlau" - „schlicht") analoge rhythmische Endung: statt der Folge Viertel-Achtel die halbe Note. Bis zur letzten Niederschrift also hat Wagner an der sprachlich-musikalischen Durchbildung des Gegenrefrains im ersten Teil der Wette gefeilt. Die investierte Arbeit des Autors bezeugt als äußerliches Indiz den Stellenwert dieses Verfahrens für die dichterisch-musikalische Struktur der Szene. 8. In Briefen an Liszt und Uhlig vom November 1851 22 und in der ,Mitteilung an meine Freunde' (WAGNER IV, S. 342 f.) hat Wagner die Gründe für die Ausweitung des Doppeldramas der „beiden Siegfriede" zur ,Ring'-Tetralogie immer wieder auf den gleichen Begriff gebracht: Versinnlichung, Vergegenwärtigung - die zentrale Kategorie seiner dichterisch-musikalischen Theorie im Schnittpunkt von dramatischen und epi-

21

Vgl. das Notenbeispiel 3.

22

Vgl. die Zusammenstellung bei STROBEL (1930), S. 201 f. u. 206 ff.

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REINHOLD BRINKMANN

sehen Verfahren, wie sie in ,Ofer und Drama' auf dem Hintergrund einer Goethe2 Schiller-Rezeption entfaltet ist • In ,Siegfrieds Tod' und im Jungen Siegfried' bleibe „eine Fülle nothwendiger Beziehungen allein der Erzählung, oder gar der Kombination des Zuhörers überlassen: alles Das, was der Handlung und den Personen dieser beiden Dramen erst die unendlich ergreifende, weithin wirkende Bedeutung giebt, mußte in der Darstellung ungegenwärtig gelassen, und nur dem Gedanken mitgeteilt werden ... " (an Liszt, 20. 11. 1851). Und indem Wagner im gleichen Brief seinen neuen Plan entfaltet, charakterisiert er die für den Jungen Siegfried' nun erforderlichen Umarbeitungen: „Es [das ,Rheingold'] hat zum Gegenstand die vollständige Darstellung Alles Dessen, was in Bezug auf diesen Raub, die Entstehung des Nibelungenhortes, die Entführung dieses Hortes durch Wodan, und den Fluch Alberichs, im Jungen Siegfried' erzählungsweise vorkommt. - Bei der hierdurch ermöglichten Deutlichkeit der Darstellung gewinne ich nun - indem zugleich alles, jetzt so breite, Erzählungsartige vollständig hinwegfällt, oder doch zu ganz bündigen Momenten zusammengedrängt wird - hinreichenden Raum, um die Fülle der Beziehungen auf das Ergreifendste zu steigern, während ich bei der früheren halb epischen Darstellung, alles mühsam beschneiden und entkräften mußte". Kritik der epischen Momente unter dem Theorem der szenischen Vergegenwärtigung und die Möglichkeit, die Beziehungsfülle der dichterischen Motive immens zu steigern - negative und positive Argumente also verschränkt - , bestimmen die Neufassung des Jungen Siegfried', die Ende November 1852 fertiggestellt und mit dem Privatdruck des ,Ring' von 1853 vorgelegt wird. Das Zusammenwirken beider Argumente jedoch führt logisch zur zweiten der im Brief an Liszt genannten Überarbeitungstendenzen: nicht die vollständige Streichung des episch Erzählten, sondern dessen Zusammendrängung zu „bündigen Momenten" ist präzis das angewandte Verfahren. Innerhalb der Wanderer-Szene des Jungen Siegfried' betrifft dies einzig bestimmte Teile der WotanAntworten - ein weiteres Indiz für die epische Haltung gerade dieses Szenenabschnitts. Als Beispiel mag eine Gegenüberstellung der ersten Wotan-Antworten beider Fassungen genügen:

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Versfassung 1851

Privatdruck 1853

In der erde tiefe

In der Erde Tiefe

tagen die Nibelungen: Nibelheim ist ihr land; Nebel zeugte sie, nacht gebar sie, nebelnächtiges Volk; kunstreiche schmiede, rastlos schaffend regen die erde sie auf. Schwarzalben sind sie, Schwarzalberich hütet' als herrscher sie einst.

tagen die Nibelungen: Nibelheim ist ihr Land.

Schwarzalben sind sie; Schwarzalberich hütet' als Herrscher sie einst:

Vgl. BRINKMANN ( 1971 ), S. 90 ff.; über den Anteil E. Devrients an Wagners Reflexion auf die epischen Momente seiner ,Ring'-Dichtung ebenda, S. 87 ff.

ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED' der wassertiefe entwandt er das Rheingold, schuf aus ihm einen ring; durch seines zaubers zwingende kraft zähmt er das fleißige volk, Ihrem herren gehorchend hieß er sie schaffen; den eig'nen bruder hielt er in banden; den tarnhelm mußte Mime ihm schmieden durch den stahl er sich jede gestalt, überall wachend zu wahren sein reich. den gewaltigen hort gewann er so der sollte die weit ihm gewinnen.

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eines Zauberrings zwingende Kraft zähmt' ihm das fleißige Volk.

Reicher Schätze schimmernden Hort häuften sie ihm: der sollte die Welt ihm gewinnen.

Streichung von Einzelzügen derjenigen Partien, die im ,Rheingold' jetzt ohnehin zur Darstellung gelangen {die Arbeit des nächtlichen Nibelungenvolkes, der Raub des Rheingolds, die Geschichten von Ring und Tarnhelm), Beibehaltung aber der wichtigsten Züge dieser Vorgeschichte: der Bezug zu „wirklich sinnlichen Handlungsmomenten" {WAGNER IV, S. 343) rechtfertigt die zusammengedrängten epischen Reste (vgl. BRINKMANN 1971, S. 87). Die Voranstellung des ,Rheingold' allerdings, eben jenes sinnliche Vorhandensein der Bezugspunkte, verändert den Stellenwert der WandererSzene insgesamt. Was als ihre eigentliche Funktion innerhalb des Jungen Siegfried' erkannt worden war, nämlich durch breite Erzählungen notwendige Handlungsvoraussetzungen zu vermitteln, ist hinfällig geworden; dieselben, jetzt lediglich durch Auswahl gerafften Berichtsdaten gelten einzig epischer Kontemplation, schaffen erinnernd ein Netz von Bezügen, das seinerseits wieder erst das „Beziehungsfest" des musikalischen Motivverfahrens konstituiert (hierzu analog DAHLHAUS 1970a, S. 35). Indem aber der handlungsmotivierende Sinn des epischen Szenenteils entfällt, indem zugleich für den Szenenschluß noch keine Neufassung im Sinne der dramatischen Zuspitzung des Endtextes erfolgt, der finale Zug also weiterhin ohne Konsequenz bleibt, erscheint die Wanderer-Szene der ,Siegfried'-Fassung des Privatdrucks, obwohl sie der endgültigen Textgestalt am nächsten gerückt ist, als die in bezug auf ihre Funktion im ganzen am wenigsten motivierte und einleuchtende. Wie Wagner jedoch diese Diskrepanz mit einer einzigen, an Ausdehnung für diese Szene geringfügigen, an Gewicht dennoch erheblichen Änderung aufzuheben vermochte, das deutet wohl auf die Richtigkeit der These hin, die Struktur der Szene habe eine solche Lösung von vornherein intendiert. Wagners an den Textstufen ablesbares unablässiges Bemühen galt der adäquaten Realisierung dieser Formidee auch im Bereich des Stofflichen; die von der vorgegebenen Szenen-Struktur geforderte Einführung eines merklichen Konfliktpunktes am Szenenschluß erscheint als Konsequenz künstlerischer Logik. 9. Der endgültige Partiturtext entstand wahrscheinlich teilweise vor und sicher zum Teil während der Komposition, die im Frühherbst 1856 begonnen wurde {das Particell verzeichnet als Anfangsdatum den 22. 9. 1856). Wagners ingeniöse Organisation seines

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REINHOLD B RlNKMANN

Arbeitsprozesses 2 4 , die nur minimal zeitversetzte, parallele Fixierung von Erstniederschrift (sog. ,Kompositionsskizze') und Particell (sog. ,Orchesterskizze'), spiegelt sich in den Textmodifikationen anläßlich der Komposition; die Änderungen stehen teils schon in der Kompositionsskizze, teils erst im Particell, teils auch korrespondieren beide Manuskripte in verschiedener Stufung. Diese Retuschen sind geringfügig, erwachsen durchweg aus metrisch-rhythmischen Problemen der Zuordnung von Text und Musik (so ist in der Kompositionsskizze der holprige Vers „Gaben gönnten mir viele" der Fassung 1853 zum glatt alternierenden „Gaben gönnten viele mir" umgestellt und dies deutlich aufgrund des vorskizzierten taktmäßigen Arioso der Melodie); sie können hier ignoriert werden 2 5 . Vor der Komposition, wohl im Sommer 1856, liegt jene zentrale Korrektur des Szenenschlusses, die in Wagners Handexemplar des aus dem Privatdruck von 1853 separierten Jungen Siegfried' eingetragen ist und umfangreichen Änderungen in der 1. und 3. Szene korrespondiert. Wagners Handexemplar befindet sich unter der Signatur A II f 5 im Richard-Wagner-Archiv Bayreuth 2 6 • Es ist ein gebundenes, mit blauem Papier durchschossenes, also für Korrekturen präpariertes Exemplar, das auf dem ersten durchgeschossenen Blatt mit Tinte von Wagners Hand die Notiz trägt: „Mit Allem muß man fertig zu werden wissen." Eine große Zahl von Änderungen sind den oben beschriebenen in Erstniederschrift und Particell analog. Daneben finden sich gelegentlich Niederschriften musikalischer Einfälle, so innerhalb der Wanderer-Mime-Szene auf S. 84a eine Skizzierung des Begleitparts der späteren Takte 28 - 30 („Gastlich ruh' ich bei Guten"). Den größten Raum aber nimmtjene Umarueitung ein, welche die Neuformulierung des Fürchten-Motivs betrifft. Um diese geht es im Folgenden. Die S. 88 enthält den Schluß der Wanderer-Szene des 1. Akts. Die Korrekturen sind dort zunächst mit Bleistift in den gedruckten Text eingetragen, das Korrekturresultat ist dann auf die rechts nebenstehende durchgeschossene Seite (88a) übertragen, wobei weitere Modifikationen erfolgen konnten. Offensichtlich war der Grund für den Durchschuß demnach der Umfang der Veränderungen - vor allem in der 1. und 3. Szene des 1. Aufzugs.

Hans von WOLZOGEN (1896, passim) hat diese Veränderungen minuziös verzeichnet und einleuchtende Begründungen für sie gegeben. Einer der Gründe war sicher derjenige, den Wolzogen ins Zentrum seiner Argumentation rückt: die nur schwache Motivierung der Einführung des Märchenmotivs vom furchtlosen Jungen, also die ursprüngliche Zweiteilung der l. Szene, wo Mime den ungestüm mit dem sogenannten ,Waldfluchtlied', dem heutigen Schluß dieser Szene, davoneilenden Siegfried in die Höhle zurückholt und ihn unvermittelt mit dem angeblichen Wunsch Sieglindes, ihr Sohn müsse wegen der Falschheit der Welt das Fürchten lernen, konfrontiert. Was Wagner für die l. Szene durch völlige Streichung ihres zweiten Teils erreichte, nämlich den tatsächlichen Höhepunkt (er war es bereits in der alten Fassung, was in der Tat eine dramatisch-musikalische Diskrepanz bedeutete) ans Ende zu rücken, eine intendierte Kulmination der szenischen Einheit nun wirklich zu realisieren, genau das erforderte 24

Th. W. ADORNUs ( 1952, S. 116 f.) auf den „späten Wagner" bezogene Beschreibung gilt auch schon für diese Phase seines Schaffens. 25 Auf den einen wichtigen, bis zur Partitur-Reinschrift reichenden Korrekturvorgang war schon auf S. 135 hingewiesen worden. 26

Der Verfasser dankt Frau Gertrud Strobel für freundliche Unterstützung bei der Arbeit im Richard-Wagner-Archiv des Hauses Wahnfried.

ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED'

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im analogen Fall der 2. Szene eine Umarbeitung. Wagner zog aus beiden Schwächen der alten Stoffdisposition die Konsequenz, und seine adäquate Lösung war die Verbindung beider Operationen: Streichung des Fürchten-Motivs an der einen und seine neuformulierte Einführung an der anderen Stelle. Die im Handexemplar vorgenommene Umarbeitung der Wanderer-Szene ist aus der folgenden Gegenüberstellung ablesbar; der korrigierte Text ist bereits Grundlage für die Erstniederschrift der Komposition (wo lediglich das „ich's" der vorletzten Zeile zu „ich es" aus musikalischen Gründen verändert ist). Privatdruck 1853

Handexemplar S. 88

Jetzt, Fafners kühner Bezwinger, hör', verfallener zwerg: nur Siegfried selbst schmiedet sein Schwert.

Jetzt Fafners kühner Bezwinger, hör', verfallener Zwerg: nur wer das Fürchten nicht erfuhr [ante corr.: gelernt] schmiedet Nothung neu. Dein weises Haupt wahre von heut: verfallen - lass ich's dem [... Textrasur ......... ] gelernt

Dein kluges Haupt behalt' für dich: nutzloses ist mir nicht noth: doch hüt' es wohl von heute an! Ilab' Acht, wenn die Zunge dir schwankt, schwatze kein albernes Zeug!

Modifikationen S. 88a

nie erfuhr

der das Fürchten nicht gelernt.

Mimes in Siegfried gesetzte und in langjähriger, mühevoller Erziehung praktizicrlt: lloffnungen sind jetzt wie in einem Brennpunkt über das Fürchten-Motiv verbundt:n mit Mimes höchster Gefährdung: Siegfried, der das Schwert allein schmieden, Fafner töten und somit den Hort erlangen kann, verfügt zugleich über das Leben des Zwerges. Diese fatale - für Mime fatale - Konstellation wird Agens der folgenden Handlung, und erst der Kunstgriff, beide Aspekte in einen prägnanten Punkt zusammenzuzwingen, macht die Struktur der Szene, die Ausrichtung ihres zweiten Teils auf die Lösung des letzten Rätsels hin überhaupt sinnvoll: der episch-dramatische Doppelcharakter der Wagnerschen Wissenswette, von dem nun schon oft genug die Rede war, ist funktionell eingebunden in den Plan des Ganzen. Zu fragen ist, wie der Musiker Wagner dieser Herausforderung durch den Dramatiker begegnete.

II. Gegen diese Frageformulierung wäre einzuwenden, daß gemäß der Theorie und in der Terminologie Wagners der Dramatiker den Dichter wie den Komponisten umschließt, dichterische (auch szenische) und musikalische Momente des Formungsprozesses also bei ihm, dem Dichterkomponisten, nicht nach dem Schema der Libretto-Vertonung zu scheiden seien. Das ist sicherlich in einem grundsätzlichen Sinn richtig. Aber nur eingeschränkt. „So unleugbar es ist, daß Wagner von einer dichterisch-musikalisch-szenischen Gesamtkonzeption ausging, so ungewiß ist das Ausmaß, in dem der Entwurf und die Ausarbeitung des Textes durch musikalische Vorstellungen mitbestimmt wurden" (DAHLHAUS 1971, S. 94). Am 29. 6. 1851 schreibt Wagner an Liszt den schon oben (S. 127, Anm. l O) herangezogenen Passus: „ ... das Geschriebene ist hier (gemeint ist die Versfas-

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REINHOID BRINKMANN

sung 1851 des Jungen Siegfried'] - fürchte ich - für meine Absicht so unvermögend; kann ich Dir's aber mit lauter Stimme - und andeutungsweise so wie ich es beabsichtige - vortragen, so würde mich das über den gewünschten Eindruck meiner Dichtung auf Dich durchaus beruhigen". Die ,Absicht', die Wagner nur im mündlichen Vortrag (mit „lauter Stimme") anzudeuten sich fähig sah, kann nur eine über den bloßen Text hinausgehende sein, muß - wie immer auch geartete musikalische Vorstellungen einbegriffen haben. Ob diese nun, wie DAHLHAUS (1971, S. 75) aus 2 dem Brief an Uhlig vom 1. (oder 2.) 9. 1851 7 schließt, eher vage Form- und Strukturideen denn 28 prägnante musikalische Gestalten beinhalteten, ist schwer zu entscheiden • Immerhin sind Skizzierungen von musikalischen Gedanken in den Textmanuskripten (z. B. die Niederschrift der Rhythmik des ,Waldfluchtliedes' in der Erstniederschrift der Versfassung 1851 von ,Der Junge Siegfried', vgl. STROBEL 1930, nach S. 112; auch die rhythmische Fixierung von Siegmunds ,Lenzlied' bereits im ,Walküre'-Text, vgl. STROBEL 1930, S. 254, u. a.) Indizien für die Verbindung der Textkonzeption mit konkreten musikalischen Figuren, selbst wenn sie nur Teilmomente des Tonsatzes betreffen. Und auch in dem Bericht an Uhlig ist von musikalischen Einzelheiten, „plastischen Motiven" die Rede. Trotzdem ist es schwer vorstellbar, daß jene Andeutungen der musikalischen Implikationen des Textes, die Liszt erhalten sollte, mehr sein konnten, denn Mitteilungen von umrißhaften Formvorstellungen, Strukturzusammenhänge allgemeinerer Art, an bestimmten Punkten freilich bereits spezifizierter, und vielleicht gelegentlich konkrete musikalische Gebilde betreffend. Darüber hinaus hat Robert BAILEY ( 1968, passim) anhand der Skizzierungen einzelner Partien des Vorspiels zu ,Siegfrieds Tod', die 1850 entstanden, nachgewiesen, daß derselbe Text (Siegfrieds Abschied, also die 2. Szene des Prologs) durchaus zwei divergierende Versionen hervorbringen konnte: die Skizze und die gut 19 Jahre später komponierte endgültige Fassung bieten - im durch den Text vorgegebenen Rahmen - abweichende Lösungen. Und hier spielt auch das Moment der biographischen Zeit eine Rolle. Es ist kaum wahrscheinlich, daß viel mehr als Vorstellungen über Umrisse der Form die große Zei :spanne (und dies vor allem bei den beiden Siegfried-Dramen) zwischen Text- und Musikniederschrift überdauern konnten. (Allerdings, BAILEY - 1968, S. 469 u. 479 - weist darauf hin, daß der Beginn der Nomenszene sowohl in der Skizze von 1850 zu ,Siegfrieds Tod' als auch in der ,Götterdämmerung' in es-moll steht, obwohl 27

„Ich gehe nun an die Musik [zum Jungen Siegfried'], bei der ich mich recht zu erfreuen gedenke. Das, was Du dir gar nicht vorstellen kannst, macht sich ganz von selbst! ich sage Dir, die musikalischen Phrasen machen sich auf diesen Versen und Perioden ohne daß ich mir nur Mühe darum zu geben habe; es wächst Alles wie wild aus dem Boden. Den Anfang hab' ich schon im Kopfe; auch einige plastische Motive, wie den Fafner". 28

Den durch die Praxis widerlegten Glauben, der ,Ring'-Text sei aufgrund seiner musikalischen Implikationen leicht komponierbar, hat WAGNER, solange er noch nicht mit der Komposition befaßt war, immer wieder artikuliert. „Nun wollte ich an die Komposition (des Jungen Siegfried'] gehen: zu meiner Freude gewahrte ich, daß die Musik zu diesen Versen höchst natürlich und leicht, ganz wie von selbst sich gestaltete" (an Liszt, 20. 11. 1851); „Die Musik [zum ,Ring'] wird mir sehr leicht und schnell von Statten gehen ... " (an Liszt 16. 6. 1852). Später dann, als sich die Arbeit an ,Rheingold' und vor allem ,Walküre' als sehr mühsam und quälend erwies, richtete sich die Hoffnung auf das ,leichtere' Sujet des ,Siegfried': „Wenn ich nur erst bis zum Jungen Siegfried' bin, der wird dann wohl schon schneller gehen" (an die Fürstin Sayn-Wittgenstein, November 1854); „ •.. mit dem Jungen Siegfried' wird es natürlich viel leichter und schneller gehen; vom heitren Stoff hängt viel ab" (an Minna Wagner, 25. 5. 1855 ). Doch auch dieser Glaube trog: „Im Ganzen gehört doch viel Hartnäckigkeit dazu, wenn ich das Alles noch fertig machen soll ... " (an Liszt, 27. 1. 1857, während der Arbeit am 1. ,Siegfried'-Akt); „Mit dem ,Rheingold' ging's unter diesen Verhältnissen noch ganz frisch; die ,Walküre' machte mir schon großen Schmerz. Nun gleiche ich bereits einem sehr verstimmten Klavier (was mein Nervensystem betrifft) - darauf soll ich nun den ,Siegfried' herausbringen ... " (an Liszt, 27. 1. 1857); „Mit dem ,Siegfried' bringt es die Not nur vorwärts ... " (an die Fürstin Sayn-Wittgenstein, Januar 1857). Es folgte, nur Monate später, der Abbruch der Arbeit.

ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED'

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Wagner die Skizze im Jahre 1869 wahrscheinlich nicht zur Hand hatte. Nur: der Text beider Fassungen ist durchaus verschieden - hier könnte nur die Identität einer allgemeinen szenischen Idee über die Jahre hinweg gewirkt haben.) Denn von dem, was da nach Wagners Worten etwa im September 1851 „wie wild aus dem Boden" wuchs, ist nichts überliefert, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit sind Skizzierungen überhaupt nicht erfolgt („Den Anfang hab' ich schon im 29 Kopfe ... "! ). Und bezeichnenderweise waren es dann auch grundsätzliche Erwägungen zur dramatisch-epischen Form, die nur kurz nach diesen gärenden Wochen Wagner von der Komposition des Jungen Siegfried' Abstand nehmen und zur Erweiterung der Gesamtkonzeption schreiten ließen. Das sprachliche Bild der Aussage „es wächst Alles wie wild aus dem Boden" wäre dann wörtlich zu nehmen: die Keime zur Musik sind im Text gelegt, ob und wie sie wachsen, welche Gestalten sie annehmen, hängt ab von anderen, zusätzlichen Bedingungen. In diesem Sinn ist die musikalische Komposition dann „Ausführung des bereits Fertigen" (WAGNER an Liszt, 16. 6. 1852), „der Form nach „. vollkommen in mir fertig" (WAGNER an Liszt, 1 L 2. 1853), was in dieser Entschiedenheit allerdings erst im Februar 1853, als der Privatdruck der ,Ring'-Dichtung vorlag, gelten konnte. DAHLHAUS ( 1970a, S. 36) hat diese Aussagen wohl richtig als allgemeine Vorstellungen von einem durch den ,Ring'-Text präformierten musikalischen Motivgewebe interpretiert. Eine zu extensive Auslegung verwehrt WAGNER selbst, wenn er während der Niederschrift des L ,Siegfried'·Aktes am 6. 12. 1856 an Liszt seine Erfahrungen als Komponierender mitteilt: „Dieser Tage werde ich mit der ersten Szene fertig. Sonderbar! erst beim Komponieren geht mir das eigentliche Wesen meiner Dichtung auf: überall entdecken sich mir Geheimnisse, die mir selbst bis dahin verborgen blieben. So wird Alles viel heftiger und drängender ... " Mit dieser Zurücknahme ist die Verwirrung komplett. Jeder Versuch der Konkretion von Wagners Aussagen bleibt unter solchen Bedingungen spekulativ. Auf die Wanderer-Mime-Szene wird in Wagners Bemerkungen nirgends angespielt. Ob ihre Struktur bereits im Stadium der Textkonzeption musikalische Determinanten einschloß, was oben (S. 127) als Vermutung ausgesprochen wurde, ob eben die Wagnersche episch-dramatische Anlage der Wissenswette auch eine musikalische Formvorstellung im Sinne der Brief-Interpretation durch Dahlhaus einbegriff, kann verbindlich bei so ungesichertem Grund daher auch dann nicht geschlossen werden, wenn die folgende Analyse dies nahelegt. Unabhängig davon bleibt die Frage nach der Einlösung des textlichen Vorwurfs durch die Komposition als bestimmender Aspekt der folgenden Untersuchungen bestehen. Die Analyse unterwirft sich damit bewußt einer Beschränkung, einer durch die Fragestellung dieser Studie vomerbestimmten T11ndenz.

Mime fragt zum ersten. In T. 126 30 spielt die Baßk.larinette ein diatonisch absteigendes Motiv m, das in T. 127 von h aus mit chromatischem Einschlag imitiert wird; ein primär rhythmisch bestimmtes, an einen Ton fixiertes Triolenmotiv n umspielt in den Bratschen diese Engführung. Sie leitet kadenzierend in T. 129 zu einem von den Violoncelli exekutierten Zweiunddreißigstel-Triller auf H, zu dem in den Fagotten ein Terzmotiv o erklingt, das durch tonartliches Vagieren seines Terzenfalls und synkopischen Einsatz charakterisiert ist. Das Motiv wird in T. 131 f. versetzt wiederholt und fixiert endlich, mit dem H der Violoncelli, H-Dur. Mime setzt ein. Die von e aus schrittweise zur Oberquinte h ansteigende viertaktige Gesangslinie p wird durch die Begleitung {Motivreste von o: mitgeführter Terzenzug der Klarinetten, und n: nachschlagender Baßton mit Doppelvorschlag in den Violoncelli; dazu das Hornpedal auf A, ferner die kadenztragenden 29

Der Versuch BAILEYs, diesen „Anfang" in Analogie zur Konzeption der Nomenszene zu konkretisieren (1968, S. 479, Anm. 27), muß Vermutung bleiben. 30

Die Taktzählung betrifft die Wanderer-Szene allein (,Siegfried' I, 2). Zu den folgenden Erörte· rungen ist ständig auch das Notenbeispiel 3 zu vergleichen.

142

REINHOID BRINKMANN

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Notenbeispiel 1 Fagotte ab T . 135) als authentischer Kadenzzusammenhang mit chromatischen Nebenstufen interpretiert und erreicht von a-moll über H-Dur in T. 136 e-moll. Mit dem Ton e setzt erneut Motiv n ein, im tiefen Horn grundiert von einem aus drei Terzen bestehenden Motiv q. Erneut erscheint die Konstellation von Violoncello-Triller Uetzt gegenüber T. 129 quintversetzt auf Fis) und Fagott-Motiv o (geweitet und transponiert). Dazu Mimes Frage (T. 138 ff.), ein Achttakter (2 + 2 + 4): mit dem Kleinterzmotiv r die Aufforderung „nun sage mir schlau"; betont abgesetzt - wieder nach e kadenzierend - das Quintfallmotiv s „welches Geschlecht ... "; der Nachsatz t dann, durch den Kleinterzbeginn Motiv q aufgreifend, führt mit neapolitanischer Wendung durch die begleitenden Fagott-Akkorde über Des 6 zum leeren c der Pauken (T. 144). Über dem Orgelpunkt steigt die Wanderer-Antwort (u', am Beginn p verwandt) empor, c-moll diatonisch zunächst, dann aber - statt wie erwartet im Hochton c 1 zu münden - chromatisch gebrochen nur b erreichend (T. 148), das durch den Begleitakkord als Quinte von Es-Dur gedeutet wird. Eine von Motiv n durchzogene längere Passage schließt sich an. Insgesamt ein durch klare Kadenzschematik periodisch gegliederter Abschnitt, zunächst im 4. Takt H-Dur fixierend (T. 129 ff.), das nach zwei Viertaktgruppen, zur Dominante umgedeutet, nach e-moll führt (T. 136); schließlich nach ebenfalls zweimal vier Takten (Singstimme und Orchestersatz sind gegeneinander verschoben) die Einführung des wiederum viertaktigen C-Orgelpunktes, so daß die Gesamtdisposition der tonartlichen Ebenen eine Aufwärtsbewegung von H nach C darstellt. Diesem Raster

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fügen sich die Motive des Orchestersatzes fast entwicklungslos ein; die Disposition des Ganzen scheint vorgegeben, die Motive mosaikhaft nebeneinandergesetzt: ein Gefüge von Zitaten. Mime fragt zum zweiten. Die Konstellationen wiederholen sich - und zwar mit zunehmender Prägnanz der Entsprechungen: In T. 169 ff. nur bezogen auf die Motivkombination (durch Motiv n kommentierte m-Engführung von c bzw. a aus; zwei Kadenztakte - 172 f. - sind eingeschoben), ab T. 1 74 bereichert um die Transpositions-Konstanz der tonartlichen Ebenen, jetzt gegenüber T. 129 um einen Halbton erhöht (Paukenwirbel und Horn auf c, dann auch das ans c fixierte Motiv n treten für den Triller auf Hein), von T. 177 an (der hier nur oktavversetzten Wiederholung von Motiv o) tritt schließlich zur rhythmisch und intervallisch getreuen Motivkorrespondenz im analogen periodischen Kadenzschema die der instrumentalen Farben. Alles ist gegenüber dem ersten Fragekomplex um einen Halbton nach oben gerückt: Mim es Eingangsformel T. 1 79 ff. jetzt in b-moll gegenüber a-moll von T. 133 ansetzend, wieder von Klarinetten, Violoncelli, Hornpedal und kadenzierenden Fagotten begleitet; die Motive q und n (T. 182) von f statt e (T. 136) ausgehend, gefolgt von Motiv o in den Fagotten über dem Violoncello1 1 Triller (T. 183 ff.); die Frage Mimes mit dem Quintfallmotiv s (hier von c statt von h aus) leitet über die Bläserakkorde (an dieser Stelle - vom Vorbild T. 141 ff. instrumental abweichend mit Tuben statt Fagotten, dazu ein knapp angedeuteter punktierter Rhythmus der Pauke in T. 187) zum um einen Takt verkürzten Paukenwirbel auf des (der Schluß der Gesangsstimme ist in T. 190 leicht abgewandelt), auf dem wiederum die Wanderer-Antwort u' emporsteigt. Diese erreicht erneut infolge chromatischer 1 1 Brechung am Ende nicht den erwarteten Zielton (kulminiert also statt in des in c ); sie eröffnet mit T. 193 eine den Takten 148 ff. in der Funktion analoge breitere Passage, die hier von jenem Motiv bestimmt wird, das die Pauke bereits in T. 18 7 rhythmisch antizipierte. Führte die Disposition des ersten Fragekomplexes von H nach C, so greift der zweite die C-Ebene am Beginn auf (T. 174 ff.) und führt bei identischer Anlage am Ende erneut einen Halbton aufwärts nach Des. Mime fragt zum dritten. Erwartungsgemäß der identische Bau, mit kleinen Varianten. Die Engführung von Motiv m (T. 216 f., bei Wegfall von n) ist geschärft durch das auf eine Kleinsekunde verengte Einsatzintervall und bricht zur Kadenz überstürzt ab. Mit T. 219 wird, wiederum trugschlüssig, die Tonartebene Cis erreicht: also erneute Aufwärtstransposition um einen Halbton (T. 129: H, T. 174: C). In den Takten 219 - 224 liegt ein cis als Tremolo in den Bratschen, dafür wird Motiv n von den Violoncelli übernommen, während o den Fagotten verbleibt, jetzt bereits mit seinem ersten Einsatz dem vorhergehenden Fragekomplex intervallisch analog. Über Mimes in h-moll beginnendem Vorspruch (T. 225, vgl. T. 133: a-moll, T. 179: b-moll) und seine dritte Geschlechterfrage zum Quintfallmotiv s Getzt von cis 1 aus) werden die hier den Posaunen (vorher den Tuben, davor den Fagotten) anvertrauten Bläserakkorde erreicht. Der Frageschluß ist bei erneuter Verkürzung um einen Takt mit sofortigem Anschluß der Wotan-Antwort entscheidend geändert: die erwartete D-Ebene erscheint nicht, vielmehr wird der schon ,irreguläre' Schlußton des 1 Mimes als Sept in einen doppeldominantisch eingesetzten Septakkord auf Es einbezogen und die von diesem Es aufsteigenden Stufen der Wande-

REINHOLD BRINKMANN

144

rer-Antwort u' sind über As 7 nach Des-Dur geführt, das den folgenden Abschnitt beherrscht. Die Transpositionsmechanik ist verwickelt. Der erste Fragekomplex erreicht die Ebene C, der zweite, dort ansetzend, Des; der dritte, das Ende des zweiten aufgreifend, strebt D an, das jedoch nicht erscheint. Wotans erste Antwort setzt vom c an, bestätigt dies aber nicht, sondern führt nur nach b (das als Quinte von Es-Dur umgedeutet wird); Wotans zweite Antwort greift das des 1 auf, wiederum ohne es zu bekräftigen, statt seiner wird c eingeführt; W otans dritte 1 Antwort setzt auf es an und erreicht aufsteigend erneut nur eine Sept: des . Wotan setzt an mit: Wotan erreicht:

b -

c c -

des des

es

Frage und Antwort führen beim ersten Mal über C nach B (das umgedeutet wird), beim zweiten Mal über Des nach C (das bestätigt wird), beim dritten Mal über Des (das umgedeutet wird) nach Des. Der Abstand zwischen Station und Ziel verkürzt sich durch Positionswechsel der Umdeutung: große Sekunde - kleine Sekunde - Einklang. Im Zusammenspiel von Frage und Antwort wiederholt sich so in der Gesam tdisposition des Abschnitts jene Rückung von C nach Des, die das Verhältnis von der ersten zur zweiten Mime-Frage bestimmte. Darauf wird zurückzukommen sein. Wie oben beschrieben, stellt sich die Identität der Abschnitte in den verschiedenen Schichten des Tonsatzes sukzessiv her, die Einführung des Abschnittsmodells geschieht nicht abrupt. Die Not der modulatorischen Überleitung dürfte dafür kaum ein Grund sein, vielmehr die ästhetische Erwägung, daß eine allzu simple, vordergründige ,Strophik' in derart differenzierter m usikdram atischer Umgebung einen Bruch bedeuten könnte. Das Prinzip des allmählichen Übergangs zur vollen Identität läßt die Abschnitte nun zwar deutlich, doch nicht zu kompakt korrespondieren. Wie sorgfältig Wagner diesen Übergang kalkuliert hat, ist aus einer Änderung der ursprünglichen Fassung von T. 131 abzulesen. Die Wiederholung von Motiv o setzte in der Niederschrift der Kompositionsskizze zunächst mit den Tönen a - c 1 ein, in der Orchesterskizze ist dies zur Endfassung f - a korrigiert. Durch die kleine Retusche sind jetzt die Fragekomplexe eins und zwei von dieser Motivwiederholung (T. 131 und 177), die Fragekomplexe zwei und drei bereits vom ersten Erscheinen des Motivs (T. 175 und 221) an intervallisch gleich. Vollständige Identität aller drei Komplexe aber herrscht jeweils mit dem Einsatz Mimes. Und das macht den Hintergrund dieser musikalischen Korrespondenzen deutlich: die aus dem eddischen Lied in den Text übernommene Technik des Gegenrefrains ist in die Komposition transformiert, die musikalische Anlage erscheint als zweifach gebrochene Spiegelung eines alten epischen Verfahrens. Und wenn in Wagners Dichtung der Gegenrefrain erst im Verhältnis der zweiten zur dritten Frage in jeder Einzelheit gegeben ist, die erste Frage vor allem am Beginn !eicht divergiert, so geht auch diese Nuance des Textes in den musikalischen Bau ein. Der oben (S.135) gegebene Hinweis auf eine Korrektur Wagners in T. 231, welche erst in der Partitur-Reinschrift die den Takten 139 und 185 voll entsprechende Fassung ergab, beweist, wie sorgfältig diese Parallelität ausgearbeitet wurde. Daher müssen diejenigen Divergenzen, die stehen blieben, von besonderem Interesse sein. Sie betreffen den Schluß der Fragen Mim es.

ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED'

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Relativ einfach ist die Begründung für die abweichende Nuancierung des je letzten Wortes der drei Fragen: die Inhalte der Worte „Tiefe", „Rücken" und „Höhn" werden direkt in der Diastematik der melodischen Schlußwendung abgebildet. Auch hier hat erst eine Korrektur Wagners die gültige Fassung hervorgebracht: in der Kompositionsskizze stand in T. 190 ante correcturam eine dem Schluß der ersten Frage analoge 1 1 Kleinterz f - as • Die aus der semantisch begründeten Längung zu „Tiefe" in T. 145 gegenüber einer aus dem gleichen Grund sich ergebenden Phrasenverkürzung am Ende der zweiten Frage {T. 190) resultierende Abweichung hat Wagner keineswegs als eben nicht vermeidbare Deutungsnuance belassen, sondern strukturell aufgefangen, indem er das Ende der dritten Frage bei erneuter Verkürzung der Phrase um einen Takt mit dem Anfang der Wanderer-Antwort im selben Takt zusammentreffen ließ. Diese Zeitraffung in den Beziehungen von Fragen und Antworten wirkt zugleich als Ausdrucksmoment. Ebenfalls semantisch begründet, doch dies differenzierter, sind die verschiedenen instrumentalen Erscheinungen der drei Akkorde im Nachsatz der Mime-Fragen {T. 141 ff., 187 ff., 233 ff.). Fagotte, Tuben und Posaunen verweisen schon, jeweils antizipierend, auf jene drei Geschlechter, nach denen Mime gerade fragt. Die Musik erhält kommentierende Funktion. Das führt zurück zur Motivkonstellation des Fragekomplexes überhaupt, zurück auch zur oben gegebenen Charakteristik der Motive als mosaikhaft gesetzte Zitate. Die Motive sind, das ist bei Wagner bekanntermaßen so, nicht einfach musikalische Phänomene, sie bedeuten. Motiv m erklingt zuerst in der 2. Szene des ,Rhcingold', wenn von Wotans Absprachen mit den Riesen die Rede ist, seither ist es mit Wotans Verträgen, die ihm seine Herrschaft garaPticren {„der durch Verträge ich llcrr", ,Walküre' 11, 3), verbunden, verkörpert einen Rechtsgedanken. Erklingt es nun zu Eingang jedes Frage-Antwort-Paares, so signalisiert es auf dem Hintergrund seiner bisherigen Erscheinungen die Unverbrüchlichkeit eines Brauchs, dessen Normen auch Wotan unterworfen ist: die Wissenswette ist ein Vorgang mit Rechtscharakter. Dem korrespondiert, gleichsam erläuternd, Motiv q, das den Verseinschnitt zwischen Mimes Vorspruch und dem eigentlichen Fragesatz markiert und - das sei vorab notiert - auch Wotans Fragen einleitet. Es erinnert an Hundings „Heilig ist mein Herd" aus dem 1. Aufzug der ,Walküre' 31 , lokalisiert so das eigentlich auslösende Moment des Rätselkampfes: den fremden, ungebetenen Gast am geschützten Herd. Mit beiden Motiven, dem der Verträge und dem des Herdes, ist n verbunden. Es ist, wie o {das Motiv des Grübelns, des Sinnens), direkter semantisch motiviert: seine mechanischen Repetitionen bilden im ,Rheingold' die mühevolle Arbeit der geknechteten Nibelungen ab, sie begleiten in der 1. Szene des ,Siegfried' Mim es vergebliche Schmiedeversuche und sind, mit ihrer vernagelten Fixierung an einen Tonpunkt, Ausdruck zugleich seiner Arbeit wie seines beschränkten, geschäftigen Geistes. Erscheint also n zur Engführung von m, so ist die Konstellation der Kontrahenten angedeutet, erscheint es zu q, so wird gesagt, um wessen Herd es sich handelt. Und da m wie q auch in ihrer konkreten Prägung die Bedeutung, die ihnen der dramatische Zusammenhang zuweist, spiegeln sollen, der Gehalt gemäß Wagners Theorie direkt durch das Medium der Musik als Ausdruck erfahrbar sein soll (der eherne Gang des Motivs m, das ruhig gestufte Abwärtssinken von q), erscheint in ihrer Kombination mit dem Mime-Motiv n jene oben (S. 132 f.) 31 Auf die Komplikationen, die sich daraus ergeben, daß dieses Motiv seinerseits eine Variante des sogenannten ,Ring'-Motivs ist, braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden.

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bereits aufgrund der Wandlung der Mime-Figur gegebene Deutung musikalisch bestätigt: Mime ist das ohnmächtige Opfer des aufgezwungenen Kampfes von vornherein. Ein literarisches Formmodell, der Gegenrefrain, und eine musikalische harmonischperiodische Struktur sind für die Einzelfragen gleichsam vorgegeben, als Geriist für eine Montage von Gehalten, die sich in musikalischen Gestalten niedergeschlagen haben. Diese musikalischen Metaphern werden kommentierend eingesetzt, die Motive erscheinen als Reminiszenzen für sich, als Zitate. Keine Entwicklung der Motive selbst hat statt, nicht vermittelt sich das musikalisch Einzelne zum Ganzen der Struktur, eine statische Form resultiert - Lorenz scheint gegen Adorno recht zu haben; doch nur, wenn die Analyse auf diesem Niveau der Gleichsetzung von Motivanordnung und Form stehen bleibt. Die Wanderer-Mime-Szene ist, bei teilweiser Verschränkung von inhaltlichen und musikalischen Zäsuren, deutlich gegliedert: drei durch Wanderer-Motive geprägte Abschnitte umrahmen die beiden mitje ca. 220 Takten gleich langen Teile der Wissenswette.

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T.

T.

T.

T.

1 - 83 Am Beginn ein geschlossener Komplex, der als Handlung die Eingangssituation, Wotans Eintritt bei Mime, umfaßt und musikalisch primär durch die drei Motive des 32 Wanderers gekennzeichnet ist . 83 - 306 Der erste Teil der Wissenswette, mit Mimes Rätselfragen im Zentrum, ist musikalisch vom markanten Auftreten des Vertragsmotivs (am Beginn von c, dann von des, am Schluß von des aus) mit anschließendem c-Orgelpunkt (Motiv u !) und neapolitanischer Kadenz nach c eingefaßt und abgegrenzt. 306 - 34 7 Vom einleitenden Dialog zum zweiten Teil der Wissenswette ist die Zwischenrede Wolans musikalisch abgetrennt, sie wird getragen vom zweiten und dritten WandererMotiv und erfüllt die Funktion eines gliedernden Zwischenteils. 347 · 567 Der zweite Teil der Wissenswette, mit Wotans Rätselfragen im Zentrum, musikalisch durch die nur leicht zäsurierte entwickelnde Variation einer größeren Zahl von Motiven geprägt. 567 ·(616)Der Szenenschluß, mit Wotans entscheidender Antwort; er ist durch den Wiedereinsatz der Wanderer-Akkorde in der Tonhöhenkonstellation des Szenenbeginns (vorher den Schluß der 1. Szene aufgreifend) kräftig markiert.

In bezug auf den Eröffnungsabschnitt interessieren hier, die analytischen Bemerkungen von DAHLHAUS (1969, S. 104, 125 u. 126 f.) vorausgesetzt, primär Aspekte seiner Disposition. 1. Am Beginn stehen die Wanderer-Akkorde, eine modellhafte Folge von fünf Klängen mit verschränkt eintretender einmaliger Sequenz. Harmonisches Merkmal des Modells ist die neapolitanische Kadenz (mit vorausgehender Subdominante) seiner Akkorde 2 - 5: S 6 - SN - D - T 6. Zwar läßt sich der erste Klang als Doppeldominante ebenfalls tonal beziehen, doch scheint dies gewaltsam, es verdeckt gerade das entscheidende - und von Dahlhaus einleuchtend semantisch gedeutete - Kriterium der Folge: die Verbindung von schwankendem und eindeutigem tonalen Bezug. Das chromatische Akkord-Modell ist so organisiert, daß zwischen Anfangs- und Zielakkord ein Sekundschritt abwärts liegt. Indem die Sequenz sich akkordverschränkt an das Modell reiht,

32

Vgl. KURTH (2/1923), S. 347 f.

ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED'

147 33

ergibt sich ein diatonischer Terzgang abwärts {H - A - G) der Hauptklänge : die von Dahlhaus als satztechnisches Signum der Szene bemerkte Vermittlung von Diatonik und Chromatik prägt bereits die Akkordfolge selbst. Dem anschließenden zweiten Wanderer-Motiv, dem des Näherschreitens, liegen - umgekehrt und erweitert - diatonisch aufwärts führende Quartzug-Sequenzen zugrunde {dem späteren Motiv von Mimes Angst chromatische Terzzug-Sequenzen). Das diatonische wie chromatische, primär aufwärts gerichtete, stufenweise Durchbilden der Baßschritte ist ein zentrales Kompositionsprinzip dieses Abschnitts. 2. Die Wanderer-Akkorde, Modell mit Sequenz, erscheinen im Eröffnungsabschnitt zweimal ungekürzt und unverändert, in T. 1 ff. von H, in T. 17 ff. von C aus; das Motiv des Näherschreitens erscheint viermal ungebrochen, in T. 5 ff. von G, in T. 21 ff. von As, in T. 42 ff. von A und in T. 69 ff. von H aus. Die Abschnittsdisposition durch beide Motive wie deren interne Modell-Sequenz-Folge ergeben folgende diatonischchromatisch durchstrukturierte, aufwärts gerichtete Stufung der zentralen Ebenen: T.

1 ff.

Wanderer-Akkorde Wotans Näherschreiten

T. 17 ff.

Wanderer-Akkorde Wolans Näherschreiten

T. 42 ff.

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C~B : ~ 1 1 1

l

A

)H

As

B

c

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A

Wotans Näherschreiten

~

T. 69 ff.

Wotans Näherschreiten

1 1

_H

II

c

)

c D

'V" -Der Szenenbeginn wich in den ersten Niederschriften von der Endfassung noch entscheidend ab: die Überlagerung der l. und 2. Szene ist erst nach mehreren Skizzierungsansätzen in Kompositionsskizze und Particell realisiert worden. Die Kompositionsskizze bietet auf Blatt 11 verso den folgenden Szenenübergang (s. Notenbeispiel 2). Die Akkordfolgen des Wanderers setzen also ursprünglich erst mit dem „Heil dir", nicht auf H, sondern auf A ein; sie sind ferner aufgrund durchgehender Sexten am Beginn konventioneller und kadenzieren am Schluß simpel. Das Bild des Wanderers scheint musikalisch noch nicht festzustehen. Dagegen weist das Ende von Mimes Phrase bereits die charakteristischen Harmonieschritte aus, die später dann von dieser bloßen Schlußkadenz zum motivischen Akkordmodell erhoben sind. Die Erstfassung der Kompositionsskizze bricht hier zunächst ab. Im Particell (S. 20) werden die Skizzierungsversuche fortgesetzt (ein Indiz also dafür, daß Kompositionsskizze und Particell - wenigstens für diese Partie - direkt nebeneinander ausgearbeitet wurden!). Hier ist Mimes Schlußphrase erstmals ab „nicht" (T. 1 der späteren 2. Szene) im 4/4-Takt gesondert notiert; diese Version ist wieder durchstrichen. Dann findet sich in der Kompositionsskizze (S. 12) ein neuer Ansatz: die Überlappung ist für zwei Takte (T. 1 -2 der späteren 2. Szene) ausgeführt; die Pizzikato-Bässe der Streicher zu den 33 Die mit einer Nachzeichnung (in Tinte) der Bleistiftniederschrift Wagners offensichtlich verbundenen Korrekturen im Sinne der Endfassung werden hier nach Möglichkeit ausgeschaltet; sie stammen wohl von Cosima Wagner. Die Gesangsmelodie im vorletzten Takt des Notenbeispiels war infolge derartiger Korrekturen nicht mehr eindeutig zu entziffern.

148

REINHOID BRINKMANN

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Notenbeispiel 2 gehaltenen Akkorden der Bläser, die instrumentatorische Idee dieser Takte ist durch die doppelte Notation der Baßtöne in Halben und Vierteln bereits angedeutet (im Particell wird sie auf der übernächsten Textstufe - S. 21 - durch Verkürzung der Viertel auf Achtel verdeutlicht). Dieser zweitaktige Neuansatz ist sofort ins Particell (S. 20) übernommen, dort mit dem dritten Takt alter Version {das „Heil dir" in ganzen Noten) ergänzt. Die drei Takte sind ebenfalls durchstrichen. Als nächste Stufe wird in der Kompositionsskizze im Anschluß an die bereits vorhandenen zwei ersten Takte der Szene jetzt auch ab T. 3 die Endfassung erreicht. Diese wird nach S. 21 des Particells (wo am Seitenbeginn schon früher das Akkordmodell mit Ces beginnend - also den Szenenwechsel noch nicht enharmonisch notierend - als Skizze niederge· schrieben wurde) übernommen. Auf jeden Fall war also die Endfassung des Szenenbeginns erreicht, bevor die Szene insgesamt erstmals niedergeschrieben wurde. Es ist kaum vorstellbar, daß die Disposition des Eröffnungsab· schnitts ohne die Endfassung der Anfangstakte möglich gewesen wäre.

Das Wanderer-Akkord-Motiv ist von H aus nach C gehoben, es überschreitet diese Ebene nicht; das ihm beigeordnete Motiv des Näherschreitens steigt von G nach As und

ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED'

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- jetzt auf sich gestellt, ohne Vorgang der Wanderer-Akkorde - weiter über A nach H, auf C zielend. Dieses erscheint am Beginn des zweiten Abschnitts machtvoll mit dem Vertragsmotiv m. Beide Aufwärtsstufungen des ersten Szenenteils münden so im C des zweiten, und es wird die Logik einsichtig, die sich in der nur einmaligen Transposition der Wanderer-Akkorde manifestiert: der zweite Abschnitt setzt an mit dem Resultat jener Halbtontransposition, mit der tonalen Ebene, welche das Hauptmotiv des ersten erreicht (ein in der Stufung der Mime-Fragen ebenfalls wirksames Prinzip) und die das nachgeordnete Motiv in einem zweiten, längeren Ansatz ebenfalls herbeiführt. Das Ziel der Disposition ist der Kernabschnitt der Szene: die mit dem C erreichte Wette 34 • Sie hebt an mit dem Vertragsmotiv min c-moll (T. 83), dem sich, mit neapolitanischer Kadenz eingeführt, direkt seine Transposition nach Des anschließt (T. 92); die Aufwärtsrückung wird jedoch sofort nach C zurückgeleitet (T. 95 ). In dieser vom Neapolitaner durchdrungenen Halbtonrückung und ihrer Zurücknahme ist die zentrale formale Idee des Abschnitts komprimiert. Der Abschnitt endet, wie er beginnt. Seine Binnenstruktur zeigt in Konsequenz der Eröffnungsdisposition die chromatische Aufwärtsrückung einheitlicher Blöcke bzw. markierter thematisch-motivischer Einsätze als Prinzip, jedoch merkwürdig gebrochen: in einem ersten Ansatz mit Motiv m von C nach Des, in einem zweiten, ebenfalls einschrittigen, jetzt mit Motiv u , wiederum von C nach Cis; dann folgen in der beschriebenen dreifachen Stufung die Frage-Antwort-Komplexe. Indem Mimes Fragen, die Rückung H - C des Eröffnungsabschnittes eingangs repetierend (so wie in den Takten 261 ff. der dritten Wanderer-Antwort die Rückung der drei Antworten insgesamt durch das zweifach versetzte sogenannte Weltesche-Motiv m' erinnert wird), von H ansetzen, erreichen sie auch als Zweischrittstufung wiederum nur Des; und die gemäß der beschriebenen internen Anlage der Fragekomplexe auf C beginnende Dreier-Folge der Wanderer-Antworten wird durch das Umdeutungsverfahren der Zielpunkte ebenfalls an die offenbare Grenze Des zurückgenommen. Und die Zurücknahme terminiert im Abschnittsende, wo mit der Folge m (auf Des) - u (auf C) der Ausgangspunkt wieder erreicht ist. Dem Motiv u selbst ist mit der neapolitanischen Kadenz die Wendung von Des nach C noch einmal eingeschrieben. Die flächige tonale Stufung des gesamten Abschnitts ist somit letztlich auf die neapolitanische Folge C - Des - C zurückzuführen, als in die Form entfaltetes Kadenzelement zu begreifen .. Und der Zusammenhang der Formdisposition mit der neapolitanischen Kadenz wird im übrigen durch deren ständiges betontes Auftreten zusätzlich verdeutlicht. Ihre Herkunft aber liegt in den Wanderer-Akkorden. Damit ist auch die Architektonik von Eröffnungs- und erstem Wettabschnitt der Szene semantisch bestimmt: die musikalisch abgebildete Wanderer-Gestalt prägt sie als eine statische, als in sich ruhendes Gefüge aus. Wie aber dieser Bau durch die zum AusgangspunKt zurücksinkende Bewegung der tonalen Fixpunkte mit dynamischen Faktoren durchsetzt ist, so sind auch satztechnisch statische und dynamische Elemente verschränkt. DAHLHAUS (1969, S. 104 u. 126 f.) hat die ,symphonische' Verarbeitung der Wanderer-Motive beschrieben, Ansätze zu entwickelnder Variation erscheinen auch in den Wotan-Antworten. Doch ist das Verhältnis der in sich ruhenden zu sich entwickelnden Momenten stets so bestimmt, daß zwischen fixierte Blöcke, als den konstitutiven, freier sich entfaltende 34

Zum Folgenden vgl. das Notenbeispiel 3.

150

REINHOLD BRINKMANN

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ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED'

153

Perioden treten. Chromatisch-diatonische Progression der parallelen Abschnitte, reale und chromatische Sequenztechnik und schließlich symphonische Durchführungsverfahren treten so in Beziehung, nähern sich an. Oder anders formuliert: Grundsätze der Formartikulation und Strukturprinzipien der kleinsten Einheiten kongruieren. Archimedischer Ort beider ist der kleine Schritt, der chromatische wie der diatonische. Zugleich ist hiermit jener Punkt benannt, an dem sich die Grundforderung Adornos an die Wagner-Analyse nach Lorenz einlösen läßt: zu zeigen, wie Einzelnes und Ganzes der Wagnerschen Form miteinander vermittelt sind. Schon Ernst KURTH (2/1923, S. 353 ff.) hat auf durchgängige Halbtonrückungen, primär aufwärts gerichtet, als ein Kompositionsprinzip Wagners {nach Kurth ein zu Rückungen von „Aufbauschichten" ausgeweitetes Sequenzverfahren) hingewiesen und betont, daß auf sie „oft eine poetische Idee oder gewisse Anschaulichkeit hinleitete". Das Spektrum dieser chromatisch-diatonischen Schrittfolgen ist - über Kurth hinausgehend - kurz anzudeuten, um das Verfahren der Wanderer-Mime-Szene noch genauer bestimmen zu können. Einige Beispiele aus der Fülle der Belege mögen genügen. Oiromatisch-diatonische Durchbildung aufwärts drängender Linien bei dramatischen Aufschwüngen ist ein normales Ingredienz Wagnerscher Melodiebildung. So wird in der emphatischen Periode von Siegmunds „Heiligster Minne höchste Not" aus dem 1. ,Walküre'-Akt zunächst das Anfangs1 intervall g - es 2 stufenweise ausgefüllt, dann erfoiit, an inhaltlich betonter Stelle, der chromatische Umbruch nach e 2 mit weiterem Aufstieg über t zum Hochton fis 2 (s. Notenbeispiel 4). Korrespondenz von melodischer und harmonischer Rückung zeigt die Phrase Mimes „Ein Schwert nur taugt zur Tat" aus der 1. ,Siegfried'-Szene (s. Notenbeispiel 5 ). Parallelität der Aufwärtsbewegungen von Melodie und Harmoniefolge kennzeichnet zunächst ebenfalls Loges tückischen Preis von des „Weibes Wonne und Wert" in der Mitte der 2. Szene des ,Rheingold'; am Ende der Phrase allerdings setzt sich bei stehender und dann absteigender Melodie die verselbständigte Progression in der Begleitung allein fort (s. Notenbeispiel 6). Ober einen Zwischenraum hinweg erfolgt die auch von Kurth genannte Progression der Heerrufe 1 (d - es 1 ) im 1. Akt des ,Lohengrin'; ähnlich, über eine Distanz hin, korrespondieren die Sentenzen der 1. und 2. Norn im Prolog der ,Götterdämmerung' „Singe, Schwester ... weißt du, wie das wird?" (s. Notenbeispiel 7) KURTH sieht völlig richtig mit solchen Rückungcn sich „eine spannungsvolle Erwartung über die ganze Handlung breitend" (2/1923, S. 354). Es handelt sich in der Tat um Mittel dramatischer Intensivierung und Steigerung. Indem aber derartige Tonfolgen sich durch Wiederholung als fixierte Gestalten definieren, tritt gerade bei Distanzdisposition der Rückung ein verweisendes, voraus- und zurückdeutendes, ein episches Moment ein. Das ist ganz in Ansätzen auch bei einer derart aus dramatischem Geist gesetzten Steigerungsanlage der Fall, wie sie der Verfasser an der strophischen Progression des Tannhäuser-Liedes beschrieben hat (BRINKMANN 1970, passim), jener von anderen Dimensionen des Tonsatzes unterstützten Aufwärtsführung der Strophenfolge von Des über D nach Es in der Venusberg-Szene und endlich nach E im Wartburg-Saal. Wichtig erschien hier, daß die Progression der Strophen sowohl in der Marienanrufung des 1. als auch in der Venusanrufung des 2. Aktes terminiert. Strukturell vollends deutlich wird aber die musikalische Kulmination in der von den Strophen isolierten.Marienanrufung erst im Rückbezug vom 2. Akt her: dann nämlich, wenn das harmonisch-melodische Modell der Marienanrufung als Venusbeschwörung leicht verfremdet in den Schluß der 4. Liedstrophe eingeht. Dieses Verfahren der Vorausdeutung wie des Rückbezugs, Wagner würde von „Ahnung" und „Erinnerung" sprechen, bildet als ein episches die Grundlage der späteren Leitmotivtechnik. Indem hier die Spiegeltechnik Elemente entwickelnder Variation aufnimmt, wäre ein Moment bezeichnet, wo die Tradition der Situationsmotive, mit der Technik des Erinnerungsmotivs zusammentreffend, das Leitmotivverfahren aus sich entläßt. Eine genuin dramatische Intention der Steigerungsmechanik und Ansätze epischer Formung sind ineinander verwoben.

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REINHOLD BRINK.MANN

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Notenbeispiel 4 Neben dem ,Tannhäuser'-Beispiel steht das Zwischenspiel vor der 4. Szene des ,Rheingold', auf dessen inhaltlich motivierte Aufwärtsbewegung die Wanderer-Antworten sich direkt erinnernd beziehen, der Wanderer-Szene wohl am nächsten, allerdings mit überaus vereinfachter Struktur und als direkte Darstellung eines unsichtbaren Handlungsvorgangs: die Auffahrt Wotans und Loges mit Alberich von Nibelheim über Riesenheim zur Rheinhöhe wird musikalisch abgebildet durch dreifache Rückung (mit chromatischen Zwischenstufen) des Riesenmotivs von C über D nach E (s. Notenbeispiel 8 ). Ähnlich führt in der ,Götterdämmerung' das Zwischenspiel am Ende des Prologs hin zu Siegfrieds Rheinfahrt: von Es über E nach F (s. Notenbeispiel 9).

KURTH (2/1923, S. 355) hat nach der Erörterung derartiger Steigerungsmechanismen bei Wagner, Bruckner und Strauss diesen Formideen eine „gewisse epische Breite"

ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED'

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REINHOID BRINKMANN

156



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ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED'

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Notenbeispiel 8

telten Zurücknahme einer nur scheinhaften, Fortschreiten nur vorstellenden, Progressionsmechanik in die Setzung des Abschnittsbeginns präzis eine musikalische Metapher jener mythischen „Struktur des Immergleichen" ist, welche Werner DIEZ {1969) im Rückgriff auf Th. W. Adorno als innere Form der ,Ring'-Dramaturgie erkannte. Und erhellend zugleich ist das Faktum, daß es die Akkorde Wotans sind, die mit ihrem neapolitanischen Kern das Modell für die Zurücknahme bilden: Wotans, der gerade als Wanderer in epischer Selbstreflexion, als kontemplativer Geist, Vergangenheit rekapituliert, die immer noch währt, der in der wiederholenden Darstellung der mythischen

REINHOLD BRINK.MANN

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Notenbeispiel 9

Welt die Zeit stillstehen läßt, nicht unähnlich jenem „Geist der Erzählung", welcher in Thomas Manns ,Gregorius' sich immer wieder - allerdings ironisch gebrochen - kom mentierend und unterbrechend einschaltet: das Wesen der epischen Wanderer-Figur schlägt sich nieder bis in technische Details der Komposition. Die Formidee der gesamten Wissenswette war aus der Analyse ihrer literarischen Realisierung als episch-dramatischer Doppelcharakter bezeichnet worden: inselhaft episch im ersten, perspektivisch gerichtet im zweiten Teil. Nach der musikalischen Gestaltung dieses zweiten Teils ist jetzt abschließend zu fragen. In einem Brief an Goethe vom 25. 4 . l 797 schreibt SCHILLER innerhalb der Diskussion über epische und dramatische Gattungen der epischen Handlung einen „zögernden Gang", der dramatischen „rascher( es] und direkter( es]" Fortschreiten zu. Diese Differenz spiegelt sich als musikalische exakt in den beiden Teilen der Wissenswette, ablesbar an einem Moment der Komposition, das bislang unberücksichtigt blieb: den Relationen und Entwicklungen der Tempi. Für den ersten Szenenteil ist grundsätzlich ein durchgehend mäßiges, langsames Tempo konstitutiv, das vom lebhaften Beginn zum „Sehr mäßig" in T. 225 eher eine Verlangsamung erfährt, parallel zu dem in den Szenenanweisungen für den Darsteller deutlich gemachten immer tieferen Versinken Mimes in Sinnen und Nachdenken: T.

83 ff. 148 ff. 174 ff. 193 ff. 214 ff. 219 ff. 225 ff. (252 297 ff.

Lebhaft, doch nicht' zu schnell Breiter Mäßig Schwer und zurückhaltend Tempo 1 Etwas bewegt, dann sogleich immer langsamer Sehr mäßig Unmerklich etwas bewegter) Mäßig

Gegenüber diesem Gleichmaß zeigt der zweite Teil der Wette eine stürmische Entwicklung des Tempos zum Höhepunkt mit der dritten Wotanfrage und dem Entsetzen des ratlosen Mime:

ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED'

T. 347 ff. 376 ff.

(388 440 ff. 517 ff.

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Sehr ruhig (vgl. T. 313) Noch etwas gemessener Etwas belebter) Belebt Sehr schnell

Hinzu tritt ab T. 440 die Verkürzung der Notenwerte auf durchgehende Achtelbewegung, die erhöhte Belebung bewirkt. In Gegensatz zum Einstehen der Handlung, zum Zurückhalten der Zeit in der ersten Szenenhälfte tritt vorwärtstreibende Beschleunigung, Raffung des Verlaufs; im szenischen Bild ist das eingefangen durch die immer größere Exaltation Mimes. In bezug auf die Bauform des 2. Szenenteils ist zunächst eine negative Feststellung anzuschließen: entsprechend der Textkonzeption ist auch musikalisch kein Gegenrefrain vorhanden, keine Ausbildung analoger Motivgefüge, auch keine Stufung nach analog organisierten tonalen Flächen. Eingeleitet zwar wird der gesamte zweite Rätselkomplex ebenfalls durch das Vertragsmotiv m (T. 344 f.), in jener Engführung im Kleinsextabstand, die vor jeder Mime-Frage erklang; Parallelstellen für diese Konstellation gibt es hier dagegen nicht. Auch erscheint Motiv q („Heilig ist mein Herd") zu Beginn sowohl der ersten wie der zweiten Frage Wotans (T. 370 f. u. 420 f.); doch weder ist in der Tonhöhendisposition noch im harmonischen Bild der Korrespondenztakte eine Beziehung analog der Mime-Fragen erkennbar, noch ist das Motiv in eine wie auch immer geartete fixierte Motivanordnung einbezogen, es ist isoliert und normal auftretendes Leitmotiv. Und bei der dritten Frage Wotans fällt es ganz aus: sein Ausdruckscharakter scheint dem beschleunigten dramatischen Verlauf der Takte 502 f. nicht mehr adäquat. Die Form des zweiten Teils der Wissenswette ist von einem Prinzip getragen, das dem der ersten Szenenhälfte entgegengesetzt ist: Entwicklung. Entwickelnde Variation, Verarbeitung im Sinne finaler Durchführungstechnik - im ersten Teil peripher vorhanden, abgedeckt durch statische Blöcke - prägt musikalisch den Abschnitt als Prozeß. Das sei an einem Beispiel verdeutlicht. Hauptmotiv des ersten Teils war - vor allem auch als strukturbildendes - das der Wanderer-Akkorde. Zentral für die zweite Szenenhälfte ist das Motiv Mimes (n). Schon in dieser Zuordnung bildet sich die Differenz der Form ab: das hartnäckig ostinatohaft repetierende Motiv n wäre zur Grundlegung einer statischen Architektur überhaupt nicht fähig. Motiv n, das den zweiten Teil eröffnet, erscheint auf wechselnden Stufen, wird variiert, verkürzt, auf Einzelelemente reduziert, vor allem aber erweitert um einen chromatischen Abwärtsgang mit synkopischem Halt. 390

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So durchzieht es auch Mimes zweite Antwort, in T. 457 mit Sextsprung c - a, jetzt diatonisch absteigend, dann als Grundmotiv n in T. 466 in den Streichern, reduziert im

160

REINHOLD BRINKMANN

Fagott in T. 468; ein Splitter des Abwärtsganges erscheint im Horn in T. 469, mit vorgeblendetem Triller tritt die vollständige Bewegung ab T. 476, wiederum diatonisch, mehrfach von wechselnden Tonhöhen aus auf. Wichtig ist nun, daß dieser Durchführungsprozeß mit dem Ende der Mime-Antwort keineswegs abgebrochen wird, sondern sich in Wotans erneuter Frageeinleitung fortsetzt. Mit T. 489 erscheint zunächst n, dem sich nach dem eingeblendeten Triller die diatonische Abwärtslinie anschließt; jetzt findet (T. 493 ff.) ein Abspaltungsvorgang statt, innerhalb dessen sich Triller mit eintaktigem Gang absondern, versetzt werden, um dann einer Version von n wieder Platz zu machen (T. 500 ff.). Die motivische Entwicklung überspielt also die Abschnittsgrenzen, sie ist das eigentliche Agens der Form des zweiten Szenenteils. Dem Doppelcharakter des Textvorwurfs der Wandererszene entspricht die musikalische Lösung ihres Formproblems im Sinne einer Kongruenz der leitenden Prinzipien. Das Ende der Szene insgesamt jedoch kehrt zum Anfang zurück. Über eine wörtliche Aufnahme der Schlußtakte der 1. Siegfried-Szene werden die Wanderer-Akkorde in der Stellung des Beginns, auf H also, eingeführt. Die Reprise zwar markiert den dramatischen Höhepunkt, auf den der zweite Teil der Wette zielt, als solche aber ist sie - in dieser Deutlichkeit selten bei Wagner - dramatisch-musikalisch kaum anders zu verstehen denn als Rücknahme im ganzen. Die gedoppelte Formidee prägt die Binnenstruktur der Wissenswette, wie Wagner sie verstand und gemäß den Bedingungen seiner ,Ring'-Konzeption funktionell notwendig nuancierte, in bezug auf die zentrale Siegfried-Handlung bleibt der Auftritt des Wanderers dennoch epischer Einschub in einen dramatischen Verlauf. Und die formale Wahrheit der doppelten Verschränkung von epischen und dramatischen Bestimmungen, welche die Komposition bis ins Detail spiegelt, beruht darin, daß sie den Kern der Wagnerschen Musikdramatik begreift: szenische Epik.

ZUSAMMENFASSUNG Wissenschaftsgeschichtlich scheint in bezug auf die konkrete Analyse Wagnerscher Musik gegenwärtig ein Vakuum zu bestehen. Die dogmatischen Interpretationen von Alfred Lorenz, Grundlage der Wagner-Anschauung einiger Generationen, sind der Brüchigkeit überführt und zugleich als ideologisch durchschaut; für einen exegetischen Neuansatz, der sich, wie es Adorno forderte, vom schematisierenden Formendenken emanzipiert, sind erst jüngst die Grundlagen gelegt. Ist aus der Falsifizierung der Lorenzschen Unternehmungen eine erste Lehre zu ziehen, dann die, das analytische Denken nicht auf Typenbildungen zu fixieren, sondern sich strikt mit der Erkenntnis von Einzelnem, als Individuellem, zu bescheiden, auch dort, wo traditionelle Formtypen durchscheinen, die singuläre Prägung oder die Differenz vom Schema zu akzentuieren. Eine zweite Konsequenz wäre, den Rückfall in die Kapellmeisterperspektive zu vermeiden, vielmehr Wagners Werk als einen in der Mitte des 19. Jahrhunderts lokalisierten, differenzierten Wirkungszusammenhang von szenischen, dichterischen und musikalischen Momenten mit poetologischen Grundvorstellungen, mit einer durch biographische Implikationen sowie durch literarische und musikalische Traditionen vielfach gebrochenen musikdramatischen Theorie - und das alles in Relation zur Genesis des Hauptwerkes - zu begreifen.

ZUR WANDERER-SZENE VON WAGNERS ,SIEGFRIED'

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In der Wanderer-Szene des 1. ,Siegfried'-Akts findet ein solcher wegen seiner Angewiesenheit aufs Detail notwendig umfangreicher Versuch, der gleichwohl nur dem einen konkreten Fall gilt, einen aus vielerlei Gründen geeigneten Vorwurf.

LITERATUR

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162

REINHOLD BRINKMANN

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163

DER EINFLUSS PSYCHOLOGISCHER VARIABLEN AUF DAS ÄSTHETISCHE URTEIL HELGA DE LA MOTIE-HABER

Die Schlacht bei Vittoria war eine historische Begebenheit, deren Folgen zwar im voraus nicht zu prognostizieren waren, von der aber mit Sicherheit feststand, daß sie Auswirkungen, Veränderungen nach sich ziehen würde. Von Beethovens Komposition ,Wellingtons Sieg' ist Gleiches nicht nur deshalb schwer zu behaupten, weil das Schlachtengemälde, das in der Tradition der Battaglia steht, in seiner Bedeutung nicht an das sonstige Werk Beethovens heranreicht. Musikalische und geschichtliche Phänomene unterscheiden sich vielmehr insofern, als ohne Rezeption ein musikalisches Ereignis erst gar nicht zu einem solchen wird oder zumindest nur ein Relikt davon bleibt. Geschichtsschreibung ist selbst in der primitiven Form der Datenaufreihung immer auch Darstellung der Wirkungsgeschichte; Vorkommen und Fortgang sind zwangsläufig verknüpft. Musikgeschichtsschreibung impliziert zwar auch meist Rezeptionsgeschich te Einflüsse und Beeinflussung werden beschrieben ; sobald es aber um ästhetische Probleme geht, beschränkt man sich auf etwas, was als das „Werk selbst" angesehen wird. Es scheint aber, daß damit nur eine rudimentäre Existenzform der Wcrke angesprochen werden kann. Auch ohne der Frage, die letztlich eine ontologische ist, weiter nachzuspüren, ob ästhetische Gebilde, von jeglicher Rezeption losgelöst, den Charakter eines Ereignisses haben, einer Frage, die deshalb so schwer zu beantworten wäre, weil auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen zugleich Rezeption bedeutet, ist es offenkundig, daß eine Betrachtung außerhalb von Wahrnehmungszusammenhängen unmöglich ist. Zwar fehlt es nicht an Versuchen, Kategorien zu finden, die eine objektive Deskription liefern sollen. Die Ergebnisse, die sie bislang hervorbrachten, sind allerdings eher kläglich. Zu denken ist hierbei vor allem an informationstheoretische Ansätze, die gemäß dem Ordnungsgrad, der sich an einem Kunstwerk berechnen läßt, dieses mit jeder anderen Struktur, selbst Wetterwechseln, vergleichbar machen. Was das spezifisch Ästhetische sei, bleibt außerhalb der Diskussion; der Versuch Moles, ästhetische Qualitäten von Musik zu erfassen, indem er Musik von rückwärts abspielen läßt, ist Unsinn im wahrsten Sinne des Wortes. Wie objektiv das Gebaren auch immer sei, bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß selbst eine mathematische Behandlung an Meinungen oder Normen gebundene Entscheidungen voraussetzt; das, was als ästhetisches Zeichen zu werten ist, läßt sich im Bereich der Musik nur mehr oder weniger willkürlich festsetzen. „Exaktwissenschaftliche" Analysen, deren Resultate meist dürftiger sind als die der traditionellen Ästhetik, teilen mit dieser, daß sie ohne die menschliche Anschauung nicht auskommen. Und die Plausibilität von Analysen wird immer dann geringer, wenn die durch Anschauung gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse reduziert werden. Dies hängt mit Prinzipiellem zusammen, nämlich damit, daß Musik an die Wahrnehmungsvorgänge gebunden ist, sich ohne diese in Schwingungsformen oder Tinte auf Papier auflöst. Selbst einfache sachliche Äußerungen lassen schon erkennen, wie wenig durch die akustische Struktur aufgeklärt wird. Der Bereich der eingestrichenen Oktave ist für ein Cello eine hohe Tonlage, für eine Violine eine tiefe; obwohl akustisch Gleiches produziert wird, handelt es sich musikalisch nicht um das gleiche.

164

HELGA DE LA MOTIE-HABER

Ein Akzent kann aus der Dauer, der Stärke oder Höhe eines Tones resultieren, selbst dessen Fehlen kann ihn anzeigen, aus der Verschiedenheit der notierten und akustischen Vorgänge geht aber musikalisch Identisches hervor. Ohne Deutung eines wahrnehmenden Subjekts sind musikalische Sachverhalte undenkbar. Mehr noch als am Sachurteil zeigt sich am Werturteil, daß es eine Interpretation erfordert; ohne diese läßt sich über Größe, Vollkommenheit oder Banalität von Musik nichts aussagen. Sachurteil und Werturteil sind zwar nur graduell voneinander verschieden, da beide auf Sinngebung basieren, sie lassen sich jedoch nicht ineinander überführen. Argumentiert man, um Minderwertigkeit zu belegen, mit einem mangelnden Zusammenhang der musikalischen Kategorien, so gelingt dies sicher in extremen Bereichen einer Tonsprache, die diesen Zusammenhang voraussetzt. Wie eng aber die Beziehung zwischen Harmonik, Rhythmik, Motiv usw. sein muß, ist nicht in allgemeinerer Weise festzulegen, da zwar Abhängigkeit, aber keine Identität zwischen diesen Kategorien bestehen muß und die Freiheitsgrade nicht bestimmbar sind. Nur eine zusätzliche Deutung dessen, was vorgefunden wurde, führt zu einer Bewertung. Damit diese nicht einer ausschließlich subjektiven Meinung gleichkommt, ist es notwendig, daß Normen existieren, an denen sich ein Werturteil ausrichten kann. Ohne verbindlichen Kanon kann man nicht über ihren Wahrheitsgehalt entscheiden. In Zeiten, in denen kein solcher Kanon existiert, wird leicht Meinung gegen Meinung verteidigt, ohne daß eine Entscheidung möglich wäre, welche Argumentation treffender wäre. Die Begründungen werden wichtiger. Teilweise hängt es mit der Entwicklung der Auffassung über Musik zusammen, teilweise auch mit dem Fehlen verbindlicher Normen, daß in unserem Jahrhundert ein ästhetisches Urteil nur mehr dem Experten zugebilligt wird. Da aber Werturteile nicht gänzlich im Sachurteil aufgelöst werden können (was nicht heißt, daß das Sachurteil damit überflüssig wäre), ist auch das Expertenurteil mit Momenten belastet, die seiner „Objektivität" entgegenstehen. Auch dann, wenn man nicht geneigt ist, ein ästhetisches Urteil auf soziologische oder psychologische Komponenten zu reduzieren, wird man zugestehen müssen, daß es in stärkerem Maße als andere Urteile an die geistige Verarbeitung gebunden ist. Und im Hinblick darauf, daß es fraglich ist, ob sich Musik überhaupt außerhalb der Anschauungen zu konstituieren vermag, scheint die Hypothese nicht unsinnig, daß, abgesehen von sprachlichen Mechanismen, spezielle Züge der Wahrnehmung und des Denkens das Urteil prägen. Generell trägt jedes Urteil den Keim des Vorurteils in sich. Dies hängt mit den Mechanismen der menschlichen Informationsverarbeitung zusammen, die so geartet sind, daß jede Situation auf die einfachste Weise bewältigt wird. Erfahrungen werden eingesetzt, um Zusammenhänge leichter durchschaubar zu machen, zudem besteht fast immer eine gewisse Notwendigkeit zu ökonomischem Verhalten; daraus ergibt sich, daß nicht immer aufs neue Sachverhalte unabhängig von vorherigem Wissen eingeschätzt werden. Eine Situation auf einfache und ökonomische Weise zu bewältigen, bedeutet damit aber zugleich auch, daß verzerrende Effekte nicht ausgeschlossen sind, da vorgegebene Akzentuierungen von Merkmalen oder Generalisierungen wirksam werden können.Je unklarer die Umstände sind, desto massiver setzen die auf Schematisierung zielenden Mechanismen des Denkens ein. Daß die Differenzierung des Urteils geringer wird, je weniger Einsicht in musikalische Verhältnisse besteht, hat JOST (1968) dargelegt: Von Musikwissenschaftlern werden an Jazz und von Jazzexperten an „Klassische Musik" Vorurteile herangetragen. RITTELMEYER (1971) hat in einer weiteren Studie gezeigt, daß vorheriges Wissen, das nur einen mittelbaren Bezug zur Sache hat, Urteile über Musik färbt. Ein Beispiel

~65

EINFLUSS AUF DAS ÄSTHETISCHE URTEIL

Quelle der Variation

Quadratsummen

df

Varianzschätzung

F

Signifikanz

22,43 114,93 73,56 210,92

2 19 38 59

11,21 6,05 1,94

5,79

ss

18,30 122,98 152,36 293,65

2 19 38 59

9,15 6,47 4,01

2,28

ns

31,60 78,66 203,73 314,00

2 19 38 59

15,80 4,14 5,36

2,95

ns

34,13 68,33 105,86 208,33

2 19 38 59

17,06 3,60 2,78

6,14

ss

bedeutungsvoll - belanglos Instruktion zur Musik Beurteiler Wechselwirkung Total

angenehm - unangenehm Instruktion zur Musik Beurteiler Wechselwirkung Total

gefällt mir - gefällt mir nicht Instruktion zur Musik Beurteiler Wechselwirkung Total

originell - banal Instruktion zur Musik Beurteil er Wechselwil:kung Total

Tabelle 1: Die Varianzanalysen für die Beurteilungen der Ausschnitte aus der 2. Klaviersonate von Boulez

Neuer Musik wird mit der Suggestion, daß es sich um eine bedeutende Komposition handle, als angenehmer, geordneter und kunstvoller eingestuft als ohne diese. Rittelmeyer unterwarf seine Daten keiner statistischen Analyse; eine nachträgliche Berechnung ergab, daß die Unterschiede signifikant sind. Was den absoluten Betrag betrifft, so ist die Verschiebung auf der Skala „angenehm - unangenehm" am kleinsten; auch mit Prestigesuggestion wird nicht eigentlich der Eindruck „angenehm" erzielt, sondern

166

HELGA DE LA MOTTE-HABER

nur bewirkt, daß die Beurteiler zur neutralen Mitte tendieren. Sowohl] ost als auch Rittelmeyer untersuchten das Urteil von Laien. (Das Urteil der Musikwissenschaftler dem Jazz gegenüber, über den sie nur wenig Kenntnis besaßen, wie das der J azzexperten, ist als Laienurteil anzusehen, wie auch das der Versuchspersonen bei Rittelmeyer gegenüber Neuer Musik.) Zu fragen bleibt, ob und in welchem Ausmaß auch das Urteil von Experten, deren sachliche Orientierung viel größer ist, von gleichen Tendenzen geprägt sein kann. Ein Experiment, an dem nur ausgebildete Musikwissenschaftler teilnahmen, lieferte erste Indizien dafür, daß - mögen auch graduelle Unterschiede vorhanden sein - bei Experten ebenfalls die vorurteilssteuernden Mechanismen des Denkens zur Wirkung kommen. Zwei musikalische Beispiele, ein Ausschnitt aus der ,Grazer Fantasie' von Schubert (deren Echtheit hier nicht von Belang ist) und einer aus einem Salonstück ,Großmütterchen' von Gustav Langer wurden auf den Skalen „künstlerisch - trivial", „geschmackvoll - kitschig", „gefällt mir - gefällt mir nicht" und „angenehm - unangenehm" beurteilt. Der einen Hälfte der Versuchspersonen (Vpn) wurden diese Stücke mit umgekehrten Vorzeichen dargeboten, so als h andelte es sich bei Schubert um Salonmusik und bei ,Großmütterchen' um ein Beispiel seriöser Musik; die andere Hälfte der Versuchspersonen erhielt die richtigen Angaben. Die Einschätzungen der beiden Gruppen differierten bezüglich der Gesichtspunkte „trivial - künstlerisch" und „geschmackvoll kitschig" nach Maßgabe der verbalen Information. Ein weiterer Versuch erhärtete dieses Ergebnis. Zwanzig Musikpädagogen, Dozenten an Musikhochschulen und pädagogischen Hochschulen, also ebenfalls Experten, beurteilten in jeweils unterschiedlicher Reihenfolge drei vergleichbare Ausschnitte aus der 2. Klaviersonate von ßoulcz. Einer der Ausschnitte wurde ohne Hinweis vorgespielt, bei den beiden anderen wurde nebenbei bemerkt, es sei ein Beispiel von ßoulcz bzw. die Arbeit eines Kompositionsschülers. Die Einstufung der Beispiele erfolgte auf vier ncunstufigcn Skalen: „bcdcu tungsvoll belanglos", „angenehm - unangenehm", „gefällt mir - gefällt mir nicht" und „originell - banal". Über jede Skala wurde eine zwcifaktoriclle Varianzanalyse gerechnet mit den Versuchspersonen als random-factor (s. Tabelle 1). Ein Effekt der Instruktion zeigt sich bei den Einschätzungen „bedeutungsvoll - belanglos" und „originell - banal". Wird der Name von Boulez genannt, so gewinnt dadurch die Komposition. Sie wird für bedeutungsvoller und origineller gehalten als jener Ausschnitt, der nur von der musikalischen Wirkung lebt (Tabelle 2).

Skala Boulez bedeutungsvoll - belanglos angenehm - unangenehm gefällt mir - gefällt mir nicht originell banal

4,65 4,40 3,70 3,30

Instruktion Schülerarbeit

4,25 3,75 3,30 3,30

keine Angabe

5,70 5,00 5,00 4,90

Tabelle 2: Die Mittelwerte der Beurteilungen der Ausschnitte aus der 2. Klaviersonate von Boulcz

EINFLUSS AUF DAS ÄSTHETISCHE URTEIL

167

Daß auch Einstellungen zum Tragen kommen, die vielleicht speziell mit einem pädagogischen Beruf zusammenhängen, zeigt sich an der sehr positiven Einschätzung der angeblichen Schülerleistung, sie wurde mindestens ebenso gut, wenn nicht besser, wie „Boulez" beurteilt. Die Hypothese, daß darin gruppenspezifisches Verhalten von Pädagogen zum Ausdruck kommt, muß ungeprüft bleiben. Sie weist nur darauf hin, daß der Begriff des Experten sehr vage ist; auch dann, wenn hinreichendes Sachwissen vorhanden ist, ist das ästhetische Urteil nicht unabhängig von anderen Faktoren. Bei den Skalen „angenehm - unangenehm", „gefällt mir - gefällt mir nicht" zeigt sich eine ähnliche Tendenz zur Verschiebung des Urteils; die Unterschiede sind jedoch wie in dem zuvor beschriebenen Experiment zu klein, um signifikant zu sein. Es ist sehr merkwürdig, daß gerade jene Einschätzungen, die als weniger „objektiv" gelten, eigentlich Geschmacksurteile darstellen, schwerer zu manipulieren sind. Rittelmeyers Versuch erbrachte allerdings auch bei dem Eindruck von „angenehm - unangenehm" einen statistisch relevanten Unterschied. Dies könnte durch zwei Momente bedingt sein; einerseits nämlich dadurch, daß das einzustufende Musikbeispiel bei neutraler Darbietung mißfiel, und andererseits dadurch, daß die Beurteiler Laien waren: Man weiß, daß das Wohlgefallen durch Lernprozesse, zu denen auch gezielte Information gehört, gesteigert werden kann. Bei Experten hingegen entfällt diese Möglichkeit, sie sind sich ihrer Vorlieben sicher. Und da Präferenzen mit einem geringeren Anspruch, die Sache selbst zu repräsentieren, befrachtet sind, entziehen sie sich in stärkerem Maße der Suggestion. Schwierig zu beantworten anhand bisheriger Ergebnisse wäre die Frage, ob bei musika· lischen Beispielen, die spontan von Experten sehr positiv oder sehr negativ bewertet werden, eine Veränderung des Urteils durch zusätzliche Information möglich ist. Die bisher untersuchten musikalischen Ausschnitte, die keine extrem hohe oder niedrige Einschätzung aufweisen, geben darüber keine Aufschlüsse. An ihnen wurde außerdem nur die Wirkung positiver und negativer Information nachgewiesen, nicht aber der Effekt widersprüchlicher Hinweise. Gerade aber die Untersuchung des Verhaltens bei widersprüchlicher Information ist bei musikalischen Sachverhalten interessant, da eine alltägliche Situation simuliert wird: Ehe man einem neuen Stück im Konzert begegnet, hat man meist darüber schon voneinander Abweichendes gehört. Für die Verarbeitung widersprüchlicher Information bei Personenbeurteilungen hat COHEN (1967) nachgewiesen, daß andere Dimensionen als jene, auf der der Widerspruch besteht, zur Charakterisierung herangezogen werden. Er folgerte daraus, daß die bisherigen Modelle zur Beschreibung von Urteilsvorgängen unzureichend seien, da sie eine additive Zusammensetzung einzelner Komponenten vorsehen. Auch bei der Einschätzung des verminderten Dreiklangs, der in der Musiktheorie als dissonant gilt, aber als akustische Erscheinung mild klingt, zeigt es sich, daß man, sofern kein Zwang zur Einschätzung hinsichtlich des Gesichtspunkts „konsonant - dissonant" besteht, auf andere Aspekte ausweicht. Um zu klären, wie sich bei extremer bewerteter Musik positives, negatives und widersprüchliches vorheriges Wissen gegenüber der bloßen musikalischen Darbietung auswirkt, wurden drei Beispiele ausgewählt, die im Charakter sehr unterschiedlich waren, nämlich der Anfang von LUTOSLAWSKis ,Venezianischen Spielen', ein Ausschnitt aus CAGEs Montage von ,Atlas Eclipticalis', ,Winter Music' und ,Cartridge Music' sowie ein völlig sinnloses Zusammenwirken von Instrumenten, das entfernt an das Stimmen eines Orchesters erinnert (im folgenden Beispiel 3 genannt). Jedes Beispiel dauerte 1,5 Minuten. Sie wurden aus dem Bereich Neuer Musik

168

HELGA DE LA MOTIE-HABER

entnommen, da sich damit der Übergang von „sinnvoll" zu „sinnlos" besser darstellen läßt. Beurteilt wurden die Beispiele von insgesamt 64 Musikstudenten, die mit Neuer Musik vertraut waren; sie wurden in vier Gruppen aufgeteilt, die jeweils unterschiedliche Instruktionen erhielten. Einer Gruppe wurde lediglich die Musik vorgespielt mit der Bitte, sie zu charakterisieren (neutrale Information), einer zweiten wurde gesagt, es handle sich um Musik, die in den letzten Jahren auf Musikfesten beim Publikum wie auch der Kritik den meisten Anklang gefunden habe (positive verbale Information), einer weiteren wurde das Gegenteil hiervon mitgeteilt (negative verbale Information) mit dem Zusatz, d~ sie nur eine Untergruppe eines Versuchs sei, bei dem schlechte und gute Musik bewertet werden sollte; die zusätzliche Bemerkung schien notwendig, um nicht automatisch Widerspruch und Mißtrauen gegen Konzertpublikum und Kritiker zu reizen. Die vierte Beurteilergruppe erhielt den Hinweis, daß es sich um Musikbeispiele handle, die sowohl sehr gelobt als auch sehr verrissen worden seien (widersprüchliche verbale Information). Zur Einschätzung wurden zehn Adjektive vorgegeben: dunkel, kunstvoll, erregt, häßlich, geordnet, banal, hell, schön, zufällig und gemessen. Diese Attribute stammten aus älteren Untersuchungen mit dem Polaritätsprofil; sie stecken den semantischen Raum ab. Ihre polare Anordnung wurde aufgegeben, da die Beurteiler die Möglichkeit haben sollten, Widersprüche durch ambivalente Charakterisierungen - wie der, etwas sei schön und zugleich häßlich - zu lösen. Es sollten so viele der Adjektive, als passend erschienen, angekreuzt werden. Da die Versuche jeweils nur mit 1-3 Personen pro Sitzung durchgeführt wurden, konnte die Reihenfolge der Beispiele variiert werden. Die Häufigkeiten, mit denen ein Adjektiv von jeder der vier Gruppen zur Charakterisierung eines Musikbeispiels angeführt wurde, sind in Tabelle 3 zusammengestellt.

Adjektive

neutrale Information

Luto·

Cagc

Bsp. 3

slawski

dunkel II

8

14

geordnet

12

3 3 1 5 5 3 12 6

banal hell

5

schön

II

Bsp. 3

3

14

15 15 2 12

II

4 14 13

negative Information

Luto-

Cage

Bsp. 3

slawski

1

kunstvoll

gemessen

Cage

slawski

erregt häßlich

zufällig

positive Information Luto ~

II

2 12 2 1 3 3

8 4

7 2 13 1 12

widersprüchliche Information

Luto-

4 1 2 6

Bsp. 3

2 3 4

2

6 II

14

II

l

II

5

6

3

12 2 5

8

Cage

slawski

14 3

10

1 5 3 3 13 3

10 2 6

8

Tabelle 3: Die Wahlhäufigkeiten einzelner Kategorien für Musikbeispiele mit verschiedener Instruktion dargeboten Da auf eine Kategorie maximal 16 Urteile (entsprechend der Gesamtzahl an Beurteilern) entfallen konnten, zeigen 10 bis 11 Urteile eine auf dem 5%-Niveau signifikante Zuordnung eines Attributs zu einem Musikbeispiel an. Bei neutraler Darbietung besitzt der Anfang von Lutoslawskis ,Venezianischen Spielen' die Eigenschaften „erregt", „kunstvoll", „geordnet" und „schön". Cages ,Montage' gilt als „zufällig"; bei einer

EINFLUSS AUF DAS ÄSTHETISCHE URTEIL

169

größeren Stichprobe würde sich vielleicht auch die Qualität „kunstvoll" als signifikantes Merkmal herausstellen. Bemerkenswert ist, daß einige Beurteiler sowohl „zufällig" als auch „kunstvoll" angekreuzt haben. Die Ambivalenz solchen Verhaltens erklärt sich daraus, daß die Musik Cages widerspruchsvoll ist insofern, als ihr Sinn sich nur negativ bestimmen läßt als Vermeiden dessen, was in der Musik bislang als Sinn galt. Das Übereinanderkopiercn verschiedener Stücke macht dies deutlich. Abwertende Attribute wie „häßlich", „banal" und „zufällig" billigte man dem dritten Musikbeispiel zu. Die Häufigkeitstabelle zeigt, daß je nach Art verbaler Information Veränderungen auftreten. Um zu prüfen, ob es sich dabei um mehr als zufällige Unterschiede handelt, wurden für jedes Beispiel die Abweichungen von einer Gleichverteilung, die die verschiedenen Instruktionen bewirkten, nach Kolmogorov-Smirnov (Tabelle 4) berechnet. Diese Berechnung wurde für jene Kategorien durchgeführt, die sich bei neutraler Beurteilung als relevant zur Charakterisierung eines Stückes erwiesen hatten. Für das Beispiel von Cage wurde allerdings auch die Kategorie „kunstvoll" herangezogen, da sie bei positiver verbaler Information sehr häufig gewählt wurde; es ist das einzige Beispiel, bei dem sich gegenüber der neutralen Beurteilung bei einer anderen Art von Wissen über Musik ein zusätzliches Attribut als kennzeichnend erweist. Es ist möglich, daß dies mit der Größe der Stichprobe zusammenhängt.

D

Signifikanz

Lutoslawski kunstvoll erregt geordnet schön

0,243 0,047 Gleichverteilung 0,281

s ns ns ss

0,326 0,074

ns

Cage kunstvoll zufäUig

Beispiel 3 häßlich banal zufällig

0,05 0,0961 0,0639

ns 103

ns

Tabelle 4: Die nach Kolmogorov-Smirnov berechneten Werte von D für die Unterschiede der Beurteilungen bei verschiedener Instruktion

170

HELGA DE LA MOTTE-HABER

Wie aus Tabelle 4 hervorgeht, bewirkt die verbale Information für den Anfang von Lutoslawskis ,Venezianischen Spielen' eine Änderung des Urteils kunstvoll. Weiß man, daß es sich um ein bedeutendes Werk handelt, so schätzen es beinahe alle Versuchspersonen als „kunstvoll" ein, bei der bloßen Darbietung der Musik ist die Mehrzahl auch dieser Meinung, die widersprüchliche Information löst Zurückhaltung aus, nur die Hälfte der Beurteiler billigt diesem Beispiel noch das Attribut „kunstvoll" zu, durch die Angabe, es handle sich um schlechte Musik, verliert es diese Eigenschaft beinahe vollkommen. Daß sich insbesondere im Vergleich mit der positiven die negative Beeinflussung so stark auswirkt, ist verblüffend. Die Abhängigkeit des Werturteils von anderen Faktoren als denen, die ausschließlich musikalische Sachverhalte betreffen, besteht auch dann, wenn im Unterschied zu den Experimenten, in denen Phrasen von Schubert, Langer und Boulez als unabhängige Variablen dienten, Musik herangezogen wird, der an sich ein hoher Kunstwert zugeschrieben wird. Der gleiche Effekt, der sich beim Urteil „kunstvoll" zeigt, ist auch für die Bewertung „schön" nachweisbar. Vor allem bei negativer Information verschwindet diese Charakterisierung, die widersprüchliche Instruktion hat zur Folge, daß sich ebenfalls wie bei der Kennzeichnung „kunstvoll" ein Teil der Beurteiler der günstigen, der andere Teil der ungünstigen Wertung anschließt. Die Beurteilung spiegelt damit den gespaltenen Charakter der Information wider. Bei widersprüchlicher Information stellt sich nicht wie bei dem Versuch von Cohen ein Ausweichen vor jener Urteilsdimension ein, auf die sich der Widerspruch bezieht. Ein direkter Vergleich der beiden Untersuchungen ist jedoch nicht möglich, da es in einem Fall um die Beschreibung fiktiver Personen ging, im anderen zu erklingender Musik zusätzliche verbale Information gegeben wurde. Der eigentliche Widerspruch, 90 könnte man argumentieren, liege bei dem Beispiel aus Lutoslawskis ,Venezianischen Spielen' in der Differenz zwischen der Musik und den negativen Angaben, die über sie gemacht wurden. Daß bei negativer Information die Kategorien „kunstvoll" und „schön" nicht gewählt wurden, wäre eine Bestätigung dafür, daß man Dimensionen, für die gegensätzliches Wissen vorliegt, nicht zur Charaktensierung heranzieht. Denn würde sich im Vermeiden der Kategorien „kunstvoll" und „schön" bei der Beurteilung eines im Rang hochstehenden Musikbeispiels, das mit einem schlechten Etikett versehen wurde, nicht Ambivalenz ausdrücken, sondern ungünstige Bewertung, so hätte sich dies an einer häufigeren Wahl der Kategorien „häßlich" und „banal" zeigen müssen. Diese aber werden ebenfalls als irrelevant empfunden. Werturteile werden mehr als Sachurteile von zusätzlichen Momenten, die das Denken verarbeitet, beeinflußt. Unabhängig davon, was an zusätzlichem Wissen über das Beispiel von Lutoslawski erfahrbar war, wurde es als erregt und geordnet empfunden (vgl. die nicht signifikanten Ergebnisse in Tabelle 4). Der Widerspruch, der sich zwischen Musik und ihrer negativen Kennzeichnung auftat, wurde so gelöst, daß man sich auf diese wertneutralen sachlichen Züge beschränkte. Eine neue Dimension ist offensichtlich dann nicht notwendig, um Ambivalenz auszudrücken, wenn eine Reduktion auf jene Aspekte, die widerspruchsfrei sind, möglich ist. Die Zahl der Antworten sinkt damit (vgl. Tabelle 3), die Charakterisierung wird ärmer. Daß der Eindruck von Musik, deren Kunstcharakter bei neutraler Darbietung nicht den höchsten Rang einnimmt, durch zusätzliches Wissen verändert werden kann, wurde schon mehrfach dargelegt. Die Einschätzungen des Beispiels von Cage liefern zusätzliche Bestätigung. Zwar mißt man ihm immer Zufälligkeit bei, es wirkt aber kunstvoller, wenn man es als aufsehenerregend apostrophiert, und es verliert dieses Merkmal gänzlich, wenn man es als schlechte Musik deklariert. Daß etwas zugleich kunstvoll und

EINFLUSS AUF DAS ÄSTHETISCHE URTEIL

171

zufällig sei, schließt sich im übrigen nicht aus, da die beiden Kategorien von verschiedenen Faktoren des semantischen Raumes stammen. Das wüste, ungeordnete Zusammenwirken von Instrumenten wurde immer als „häßlich" und „zufällig" beurteilt, gleich wie das verbal vermittelte Wissen aussah. Da man bei diesem grotesken Beispiel kaum von Musik sprechen kann, war eine Verschiebung des Urteils bei Experten auch kaum zu erwarten. Merkwürdig ist allerdings die geringe Wahl der Kategorie „banal" bei widersprüchlicher Information. Der nach KolmogorovSmirnov berechnete Wert von D für die Abweichung der Beurteilungen „banal" von einer Gleichverteilung zeigt zwar keinen gesicherten Unterschied an; er entspricht aber etwa einem Signifikanzniveau von 103, bei dem in der Regel keine Entscheidung für oder gegen eine Hypothese möglich ist. Ist ein Unterschied auf dem 13- oder 53Niveau signifikant, so bedeutet dies, daß in 993 bzw. 953 aller weiteren Fälle der nachgewiesene Unterschied wieder auftritt, er basiert somit nicht auf einem Zufall. Mit einem Ergebnis, dessen Signifikanz geringer ist, begnügt man sich in wissenschaftlichen Abhandlungen meist nicht. Läßt sich aber ablesen, daß, wie ein Signifikanzniveau von 103 anzeigt, in 903 aller weiteren Fälle das beobachtete Ergebnis wieder auftreten könnte, so ist schwer zu behaupten, es basiere auf Zufall. Es bedarf zur Klärung weiterer Forschung. Und der Gedanke ist nicht abwegig, daß auch dann, wenn Musik als „häßlich" und „zufällig" empfunden wird, sich bei widersprüchlicher Information über ihren Wert eine Tendenz bemerkbar macht, das Urteil „banal" zu vermeiden. Es ist schwer vorstellbar, daß etwas banal sei und zugleich Widersprüche auslöse. Bei der Betrachtung der Wahlhäufigkeiten der Kategorien, die zur Charakterisierung eines Musikbeispiels benutzt wurden, ergab sich, daß eine Veränderung des Urteils durch zusätzliche verbale Information möglich ist. Aber auch dann, wenn diese Änderung durch einen Widerspruch bedingt ist, erfolgte nicht, wie erwartet wurde, eine völlig andere Einschätzung, sondern nur eine Reduktion des Urteils auf jene Gesic.htspunkte, die von dem Widerspruch nicht betroffen wurden. Ambivalente Urteile wurden nicht abgegeben. Die nach Spearman berechneten Rangkorrelationen geben zusätzlichen Aufschluß über die Ähnlichkeiten der Urteile bei verschiedener Instruktion (s. Tabelle 5 ). Das Beispiel von Lutoslawski wurde von allen vier Beurteilergruppen sehr ähnlich eingestuft. Die größte Abweichung ergibt sich zwischen dem Urteil der Gruppe mit positiver und jener mit negativer Information. Die Korrelationen sind jedoch so hoch, daL ~me faktorielle Aufschlüsselung nicht lohnt, da die Distanzen zwischen den Beurteilungen dieses Beispiels einen Winkel von weniger als 45 Grad einschließen würden. Sehr hoch ist auch der Zusammenhang der Einschätzungen des Musikbeispiels 3; der geringere Grad an Banalität, det bei widersprüchlicher Information diesem Beispiel zugebilligt wurde, drückt sich in nur um ein weniges kleiner werdenden Korrelationen aus. Bei der Passage von Cage zeigen sich für die Beurt~ilungen bei positiver, negativer und widersprüchlicher Information sehr kleine Korrelationen, die, da sie nahe Null liegen, bei einer Faktorenanalyse mindestens zwei Faktoren zur Beschreibung erforderlich machen würden. Jedoch würde eine solche Analyse leicht irreführen. Daß die Angabe, es handele sich um eine bedeutende Komposition, zugleich mit der Empfindung „kunstvoll" verknüpft ist, ergab sich schon bei der detaillierten Betrachtung der Wahlhäufigkeiten einzelner Kategorien. Für die sehr niedrigen Korrelationen ist aber außerdem auch eine größere Unsicherheit der Versuchspersonen verantwortlich zu machen. Wie sich an der Tabelle 3 ablesen läßt, sind die Streuungen der Beurteilungen viel größer als bei den beiden anderen Beispielen; beinahe jede Kategorie wurde zur

172

HELGA DE LA MOTTE-HABER

Lutoslawski

Information

1 2 3 4

neutral positiv negativ widerspruchlich

0,88 0,85 0,86 1

0,69 0,79 2

0,89 3

4

0,35 0,14 2

0,45 3

4

0,94 0,87 2

0,85 3

4

Cage

Information

1 2 3 4

neutral positiv negativ widerspruchlich

0,72 0,57 0,68

Beispiel 3

Information 1 2 3 4

neutral positiv negativ widerspruchlich

0,96 0,98 0,84 1

Tabelle 5: Die nach Spearman berechneten Rangkorrelationen

Charakterisierung bemüht, keine aber scheint so recht zu passen. Eine eindeutige Zuordnung eines Attributs, d. h. also die Konzentration der Urteile aller Versuchspersonen auf eine Kategorie, ist mit Ausnahme jener Gruppe, in der positive Angaben gemacht wurden, nur für das Adjektiv „zufällig" möglich. Während für Lutoslawskis

EINFLUSS AUF DAS ÄSTHETISCHE URTEIL

173

,Venezianische Spiele' wie für das groteske Beispiel 3 mehrere Kennzeichnungen übereinstimmend gewählt wurden, weichen die Angaben der Versuchsper~onen bei der Passage von Cage stark voneinander ab; nur eine einzige Kategorie vermag so viele Meinungen auf sich zu ziehen, daß ein statistisch gesicherter Zusammenhang mit diesem musikalischen Ausschnitt besteht. Da die Adjektive eine repräsentative Auswahl aus dem ~emantischen Raum darstellen, der sich in bisherigen Untersuchungen als relevant zur Beschreibung von Musik erwiesen hatte, ist es wahrscheinlicher, daß ein Mangel an Sinnfälligkeit des Beispiels von Cage zur Unsicherheit in der Beurteilung führte, als daß die Selektion der Kategorien dafür verantwortlich zu machen sei. Die subjektiv sehr unterschiedlichen Meinungen, zusätzlich von unterschiedlicher Information beeinflußt, ergeben eine jeweils andere Verteilung der Antworten, ohne daß von einer eindeutigen Charakterisierung zu sprechen wäre. Die Korrelationen aber werden dadurch erniedrigt, ihre Unterschiede sind nur durch Unsicherheit zu erklären. Da Cages Musik der Negation dessen entspricht, was man als musikalischen Sinn bezeichnen könnte, ist dieses Ergebnis allerdings plausibel. Die Frage, welche Kategorien zur Beschreibung dienen könnten, muß offen bleiben. Das übliche Wahrnehmungsmodell, das die Beziehung zwischen Reiz und Reaktion vorsieht, gilt für musikalische Vorgänge im engeren Sinne nicht, da diese an die Anschauung gebunden sind. Aus der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen erklingender akustischer Struktur und musikalischer Wahrnehmung lassen sich aber Aufschlüsse darüber gewinnen, wie verschiedene Faktoren zusammenwirken, um einen musikalischen Eindruck zu bilden. Insbesondere Werturteile sind wesentlich von vorherigen Erfahrungen bestimmt, variiert man Kenntnisse künstlich, so zeigt sich, daß Urteile über Musik verzerrt werden können. Auch beim Expertenurteil, dem die größtmögliche sachliche Orientierung zugeschrieben wird, ist eine Manipulation möglich, die aber insofern „richtig" ist, als den Experten immer zusätzlich zu verarbeitendes Wissen zur Verfügung steht. Da aber Denkprozesse, einem eigenen Mechanismus gehorchend, so ökonomisch als möglich ablaufen, kann dieses Wissen, sofern der Gegensatz zum Erklingenden nicht zu schroff ist, ungeprüft in den Urteilsvorgang einbezogen werden. Gegen die Veränderung des musikalischen Urteils durch eine Variation der verbalen Information, wie sie experimentell nachgewiesen wurde, läßt sich einwenden, daß die Beurteiler keine Möglichkeit hatten, das, was ihnen zusätzlich zur Musik gesagt wurde, zu klären. Diese Kritik besteht zu Recht, sie trifft jedoch nicht den Kern, da die verschiedenen Angaben über die Bedeutung der Musik ganz automatisch in das Urteil mit einflossen. Der Wunsch, sie zu überprüfen, bestand nicht. Ich habe darzulegen versucht, daß Musik sich nicht ausschließlich als akustischer Vorgang oder als Notentext beschreiben läßt, sondern sich erst durch die Interpretation des Hörers realisiert. Je mehr Wissen vorliegt, um so klarer die Orientierung, um so geringer karikierende Effekte. Wenn aber nicht eindeutig definiert ist, wonach sich eine Interpretation auszurichten hat, so ist Subjektivität der Deutung mitgegeben. Wo kein Maßstab mitgeliefert ist, ist auch das Urteil des Experten damit befrachtet. Daß er sich begründender Argumente bedienen kann, schließt dies nicht aus, daß sich Urteile über Musik nicht restlos in Begründungen überführen lassen. Insbesondere dann, wenn sich Bewertungen auf Kompositionen der Gegenwart beziehen, ist die Möglichkeit zur Täuschung groß, da viele Momente, von denen das Urteil abhängt, weniger klar durchschaut werden können, als wenn eine abgeschlossene Entwicklung vorliegt. Man ist es gewohnt, daß bei Neuer Musik unterschiedliche Expertenurteile gegeneinanderstehen,

174

HELGA DE LA MOTTE-HABER

deren Richtigkeit sich nicht unbedingt an den Begründungen ablesen läßt. Und es scheint, daß es im Lauf der Geschichte eines Werkes so etwas wie eine Konvergenz der Meinungen gibt; der Grad an Subjektivität wird dabei geringer. Die traditionelle Ästhetik beschränkte sich meist auf eine Deskription von Werken. Es zeichnen sich inzwischen Versuche ab, sie durch eine Wirkungsästhetik abzulösen, Versuche, die von der Erkenntnis getragen werden, daß ein Werk nicht aus einem Traditions- und Bewußtseinszusammenhang herauszulösen ist. Als drohend wird dabei aber die Gefahr des Psychologismus empfunden, der die Werke mit den Vorgängen der Wahrnehmung gleichsetzt. Ismen sind Schimpfworte, sie bergen wie alle Schimpfworte Übertreibungen in sich. Es ist nicht zu leugnen, daß an der Entstehung und Wirkung von Kunstwerken psychologische Faktoren beteiligt sind, über die man allerdings sehr wenig weiß, die daher zu untersuchen lohnt. Die Behauptung aber, daß Kunstwerke auf diese psychologischen Momente reduzierbar sind, impliziert dies nicht.

ZUSAMMENFASSUNG Die Einschätzung künstlerischer Qualitäten hängt nicht allein von der erklingenden Musik ab. Je nachdem, ob eine zusätzliche verbale Information positiv oder negativ ist, erfolgt eine Verschiebung des Werturteils. Besitzt man widersprüchliches Wissen, so vermeidet man, jene Dimension, bezüglich der ein Widerspruch besteht, in den Urteilsvorgang mit einzubeziehen. Subjektive Urteile des Wohlgefallens werden, weniger als solche, die den Anschein größerer Verbindlichkeit haben, von zusätzlichen suggestiven Angaben beeinflußt.

LITERATUR

Cohen, Rudolf: Eine Untersuchung zur cliagnostischen Verarbeitung widersprüchlicher Informa1967 tion. In: Psychologische Forschung 30, 211-225. Jost, Ekkehard: Der Einfluß des Vertrautheitsgrades auf die Beurteilung von Musik. 1969 In: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1968, 65-86. Berlin. Rittelmeyer, Christian: Zur Auswirkung der Prestigesuggestion auf die Beurteilung der Neuen 1971 Musik. In: Musik und Bildung 2, 72-74.

175

ÜBER DIE KLANGEIGENSCHAFTEN VON LAUTSPRECHERN Eine experimentalpsychologische Untersuchung EKKEHARD JOST

Unter den verschiedenen Bausteinen eines Wiedergabesystems stellt erfahrungsgemäß der Lautsprecher dasjenige Element dar, dessen Eignung zur Reproduktion von Musik nur zu einem sehr geringen Teil aus seinen technischen Daten vorhersagbar ist. In stärkerem Maße als bei der Beurteilung der Güte von Plattenspielern, Tonbandgeräten und Verstärkern ist man daher bei Lautsprechern darauf angewiesen, deren Qualität mit Hilfe von Hörtests zu überprüfen. Abgesehen von den mit derartigen Tests verbundenen technischen Problemen (Raumabhängigkeit, Anpassung an Verstärker usw.} ergeben sich bei einer quantitativen Erfassung von subjektiven Höreindrücken einige Schwierigkeiten, die durch die folgenden drei Gesichtspunkte umrissen werdenl: (J) Der von einem Lautsprecher reproduzierte Klang stellt keine eindimensionale Größe dar, die auf einem zwischen den Polen „gut - schlecht" variierenden Kontinuum zu lokalisieren wäre, sondern er fügt sich wie jeder musikalische Klang in ein mehrdimensionales System voneinander unabhängiger Eigenschaften. Dieser Mehrdimensionalität gilt es bei der Wahl einer geeigneten Testmethode Rechnung zu tragen. (2) Für den Höreindruck durchaus relevante Differenzen zwischen den Klangeigenschaften zweier Lautsprecher können unter Umständen so nuanciert sein, daß sie in der isolierten Beurteilung eines einzelnen Lautsprechers nicht zur Geltung kommen. Dieser Sachverhalt impliziert die Verwendung eines vergleichenden Hörtests. 1 (3) Man hat davon auszugehen, daß nicht jedes Lautsprechersystem für jede Art von Musik gleich gut geeignet ist, so daß Aussagen über die Qualität eines Lautsprechers immer nur im Hinblick auf die jeweils reproduzierte Musik getroffen werden können. Der im Sommer 1971 am Staatlichen Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz in Berlin durchgeführte Lautsprechertest hatte einerseits die Aufgabe einer Erweiterung unseres Wissensstandes im Zusammenhang mit Problemen des Musikhörens in elektrischer Übertragung, zum anderen sollte er vor allem Aufschlüsse über methodische Probleme der Erfaßbarkeit von auditiven Eindrucksqualitäten vermitteln. Als Grundlage diente hierzu das vom Autor 1968 im Auftrage einer Fachzeitschrift entwickelte Verfahren des „m ultiplen Paarvergleichs" 2.

1 2

Zu einer ausführlicheren Behandlung dieser Fragen s. E.JOST (1971). Vgl. hierzu den Artikel ,Sechs Boxen der 500-DM-Klasse, ein vergleichender Hörtest' im Fono Forum Nr. 4, 1968, S. 222-233.

176

EKKEHARD JOST

Danken möchte ich an dieser Stelle vor allem den fünfzehn Versuchspersonen, die sich den Strapazen eines ausgedehnten Hörtests mit großer Geduld unterzogen, außerdem Herrn Ing. grad. Horst Zander, der für den technischen Aufbau des Versuchs verantwortlich war und die Aufzeichnungen der Frequenzgänge sowie die Pegelhäufigkeitsanalysen besorgte, Herrn Dr. Horst-Peter Hesse, der die Computer-Rechnungen durchführte, Herrn Dr. Ackmann von der Firma Standard Electric Lorenz AG. und den Herren der Firma Perpetuum-Ebner, die uns zusätzlich zu den im Institut vorhandenen Lautsprechern einige von ihren Modellen für den Test zur Verfügung stellten.

1

Versuchsplan und Durchführung

1.1 Versuchspersonen Als Jury zur Beurteilung der Klangeigenschaften der Lautsprecher fungierten 15 Versuchspersonen {Vpn) im Alter zwischen 20 und 45 Jahren, die durchgehend über Hörerfahrungen mit High-Fidelity-Anlagen verfügten, aber nicht im eigentlichen Sinne als „Lautsprecherexperten", sondern eher als „normale Musikhörer" angesehen werden können.

1.2 Musikbeispiele Als Klangmaterial dienten zwei Musikbeispiele von je ca. 2 Minuten Dauer: 1. ein Ausschnitt aus dem Menuett der Symphonie Nr. 40, g-moll, von Mozart (Schallplatte DGG 6433535/1) und 2. die ersten sechs Chorusse eines 12taktigen Blues, gespielt von einer Jazzgruppe des französischen Geigers Jean Luc Ponty in der Besetzung: elektrisch verstärkte Violine, Klavier, Kontrabaß und Schlagzeug {Schallplatte Saba SB 15139). Die Kriterien zu der Auswahl dieser Musikbeispiele, die im folgenden mit MOZART und JAZZ identifiziert werden, lagen in der unterschiedlichen Klangstruktur derselben. Während das Beispiel MOZART mit einem relativ homogenen Streichersatz vor allem in den mittleren Frequenzbereichen zwischen 200 Hz und 600 Hz starke Anteile aufweist, ist das Beispiel JAZZ durch eine deutliche Betonung der extremen Frequenzregionen gekennzeichnet: ein starker, gezupfter Baß im unteren und ein scharf angeschlagenes Becken im oberen Bereich sind als rhythmisches Kontinuum in der Aufnahme ständig präsent. {Eine nachträglich durchgeführte Pegelhäufigkeitsanalyse der Musikbeispiele bestätigte diese Beobachtungen.) Auf die an sich wünschenswerte Einbeziehung weiterer Musikbeispiele in den Test wurde vor allem aus Gründen der Ökonomie verzichtet. Da bei der von uns verwendeten und im folgenden näher zu beschreibenden Testmethode des multiplen Paarvergleichs die für einen Test erforderliche Zeit mit der Anzahl der Beurteilungsobjekte nicht linear, sondern nach einer Exponentialfunktion ansteigt, hätte jedes weitere Musikbeispiel einen in diesem Rahmen nur schwer zu bewältigenden Mehraufwand bedeutet.

KLANGEIGENSCHAITEN VON LAUTSPRECHERN

177

1.3 Lautsprecher Die in den Test einbezogenen acht Lautsprecherpaare wiesen eine außerordentliche Variationsbreite sowohl hinsichtlich ihrer technischen Ausstattung als auch ihres Preises auf. Die „einfachste" Box (Nr. l} verfügt lediglich über ein Einwegsystem und ist zu einem Preise von ca. DM 80,-- erhältlich, der größte der verwendeten Lautsprecher (Nr. 8) besteht aus fünf Einheiten und kostet ca. DM 700,--. Die zu dem Test herangezogenen Lautsprecher werden im folgenden durch die Ziffern 1-8 gekennzeichnet.

1.4 Vortest zur Lau tstärkeregelung Durch einen Vortest sollte ermittelt werden, inwieweit die Hörer bestimmte Präferenzen hinsichtlich der Wiedergabelautstärke zeigten. Die diesem Test zugrunde liegenden Hypothesen waren: a} verschiedene Lautsprecher erforderten verschiedene Einstellungen des Wiedergabepegels am Verstärker und b) die beiden Musikprogramme, MOZART (M) und JAZZ U), müßten eventuell unterschiedlich laut abgespielt werden. Die Vpn erhielten die Möglichkeit, die „ihnen angenehme Wiedergabelautstärke" für jeden Lautsprecher und jedes Musikprogramm zu wählen, indem der Versuchsleiter die Schallpegel nach ihren Wünschen am Verstärker regulierte. Der Test wurde bei jeder Vpn im Abstand von mehreren Tagen zweimal wiederholt. Die Vergleichbarkeit der Schallpegel wurde dadurch ermöglicht, daß ein jeweils zwischen die Musikbeispiele eingefügtes, durch Vollaussteuerung genormtes Weißes Rauschen mit Hilfe eines Schallpegelmessers registriert wurde. Die Auswertung dieses Vortests führte zu folgenden Ergebnissen: (1) Die Urteile der einzelnen Vpn blieben über die insgesamt drei Testdurchläufe hin relativ konstant, wobei bei einer mittleren Pegeleinstellung von etwa 80 dB in der Regel Streuungen um 3.0 auftraten. Dabei zeigte sich allerdings die Tendenz, daß die Vpn bei den Versuchswiederholungen gemeinhin eine größere Wiedergabelautstärke forderten als im ersten Testdurchgang: Zwischen dem ersten und dem dritten Durchgang traten vereinzelt Differenzen bis zu + 10 dB auf. Als Ursache hierfür dürfte ein Adaptionsvorgang verantwortlich sein: Die Vpn „gewöhnen" sich an die Laboratoriumssituation und an das Testmaterial und wünschen die Musik mit der Zeit lauter zu hören. (2) In der Gegenüberstellung der über die drei Versuche gemittelten Pegel zeigten sich zum Teil erhebliche Differenzen sowohl zwischen den einzelnen Vpn als auch zwischen den Musikbeispielen. Das heißt die Vpn bevorzugen verschiedene Wiedergabelautstärken, wobei jede einzelne Vpn darüber hinaus verschiedene Musikprogramme in unterschiedlicher Lautstärke zu hören wünscht. Die Differenzen zwischen den Vpn dürften in erster Linie auf deren „allgemeine Hörgewohnheiten" zurückgehen, z. B. darauf, wie laut sie zu Hause Musik zu hören gewohnt sind. Zum anderen scheint das Alter der Vpn einen Einfluß zu haben: Junge Testteilnehmer wünschen im allgemeinen größere Lautstärken als ältere. Differenzen, die sich bei einzelnen Vpn hinsichtlich der Wiedergabelautstärke der beiden Musikbeispiele ergaben, dürften ihre Ursache vor allem im musikalischen Inhalt der Beispiele

178

EKKEIIARD ]OST

haben, wobei die Tendenz deutlich wird, daß eine pos1t1ve Einstellung zu der jeweils abgespielten Musikgattung (Klassik-Jazz) zur Wahl eines größeren Wiedergabepegels führt. Anders gesagt: was man nicht mag, möchte man möglichst leise hören. (3) Die zentrale Frage, ob die einzelnen Lautsprecher unterschiedliche optimale Wiedergabelautstärken erforderten, konnte mit Hilfe des Vortests nicht gelöst werden, da die Differenzen zwischen den Vpn und die damit verbundenen Urteilsstreuungen eindeutige Tendenzen nicht erkennen ließen. Von einer differenzierten Pegelregelung bei den einzelnen Lautsprechern während des Hauptversuchs wurde daher abgesehen. Insgesamt läßt sich aus dem Vortest ableiten, daß starke interindividuelle Differenzen in der Wahl einer optimalen Wiedergabelautstärke auftreten, die einerseits von den allgemeinen Hörgewohnheiten der Vpn abhängen und zum anderen durch ästhetische Kriterien beeinflußt werden. Diesen Dingen jedoch im Detail nachzugehen, würde über die spezielle Fragestellung der vorliegenden Untersuchung hinausgehen, da hier nicht die Lautstärke, sondern die Klangqualität im Vordergrund steht.

1.5 Technischer Aufbau des Haupttests Wie der Vortest wurde der zur Ermilllung der Klangqualiüiten der Lautsprecher dienende llaupttest in einem Raum des Staatlichen Instituts für Musikforschung durchgeführt, dessen akustische Charakteristika in etwa denen eines größeren Wohnraumes in einem Altbau entsprechen. Die 16 Lautsprecher (8 Paare) wurden an einer der Schmalseiten des Raumes so aufgestellt, daß nach Möglichkeit gleiche Abstrahlungsbedingungen herrschten (identische Bedingungen ließen sich nicht herstellen, da man sonst die Lautsprecher während des Tests ständig hätte umgruppieren müssen). Der Versuchsaufbau ermöglichte es den Vpn nicht, die jeweils in Betrieb befindlichen Lautsprecher zu lokalisieren. Die Musikbeispiele wurden vom Tonbandgerät (Telefunken M 26) über den Verstärker Sony TA 1120 mit einer mittleren Lautstärke von 80 Phon abgespielt. Ein speziell für den Versuch erstellter Schaltmechanismus erlaubte es, nach Belieben zwischen jeweils zwei Lautsprechcrpaaren hin und her zu schalten.

1.6 Methode und Durchführung der Versuche Der Lautsprechertest erfolgte in zwei Etappen, die im folgenden durch unsere „Hinweise für die Versuchspersonen" veranschaulicht werden sollen, die diesen vor Beginn des Tests vom Versuchsleiter (VL) verlesen wurden. Hinweise für die Versuchspersonen Sie nehmen an einem Test teil, der zur Erfassung der Wiedergabequalitäten von Lautsprechern dienen soll. Da diese Qualitäten zum Teil subjektiver Natur sind, brauchen Sie nicht zu befürchten, etwas falsch zu machen: Ihre Urteile spiegeln Ihre persönlichen, subjektiven Einschätzungen der Qualitäten.

KLANGEIGENSCHAITEN VON LAUTSPRECHERN

179

Der Lautsprechertest läuft in zwei Stufen ab. Im ersten Durchgang beurteilen Sie jeden Lautsprecher isoliert, im zweiten vergleichen Sie jeweils zwei Lautsprecher miteinander. Bitte schreiben Sie an den Schluß jedes Testbogens Ihren Namen oder (falls Sie anonym bleiben wollen) irgendein Kennzeichen, damit wir später feststellen können, welche Testbögen zusammengehören. Hinter dem Namen (bzw. Kennzeichen) geben Sie bitte Ihr Alter an. Zum 1. Test: Sie bekommen über jeden der Lautsprecher 1-8 zwei verschiedene Musikprogramme (A, B) vorgespielt. Bitte tragen Sie nach der Angabe des Versuchsleiters oben links auf dem Testbogen die Programm-Bezeichnung ein (A oder B). Daneben, in der ersten Zeile, werden die Nummern der jeweiligen Lautsprecher eingetragen. Der Versuchsleiter spielt Ihnen nacheinander über alle Lautsprecher ein bestimmtes Musikprogramm vor. Kreuzen Sie bitte in der betreffenden Spalte die Eigenschaften an, von denen Sie meinen, daß sie den jeweiligen Lautsprecher am besten charakterisieren. Die ersten 16 Adjektive beziehen sich auf die allgemeinen Eigenschaften des Lautsprechers, die nächsten vier auf die Wiedergabe der Höhen und die letzten vier auf die Wiedergabe der Bässe. Es steht Ihnen frei, so viele Adjektive anzukreuzen, wie es Ihnen angemessen erscheint. Zum 2. Test: Im zweiten Durchgang erhalten Sie vom Versuchsleiter jeweils zwei Lautsprecherpaare zum Vergleich dargeboten. Der Versuchsleiter schaltet hierzu bei einem bestimmten Musikprogramm (A oder B) in kurzen Abständen zwischen je zwei Lautsprecherpaaren hin und her. Ein Lichtzeichen wird Ihnen dabei signalisieren, ob gerade der Lautsprecher R (=rot) oder G (=grün) in Betrieb ist. Tragen Sie nach den Angaben des Versuchsleiters bitte diese Buchstaben sowie die Nummer des Paarverglcichs in Ihr Testformular ein. Ihre Aufgabe ist es nun zu entscheiden, welchem der beiden Lautsprecher (R oder G) die vorgegebenen Attribute in stärkerem Maße zukommen, d. h. welcher von beiden z. B. heller, verschwommener, flacher usw. klingt. Bei diesem Lautsprecher machen Sie dann bitte Ihr Kreuzchen. Falls Sie davon überzeugt sind, daß beide Lautsprecher sich hinsichtlich eines bestimmten Attributes nicht unterscheiden oder ein Attribut auf keinen der beiden Lautsprecher zutrifft, brauchen Sie kein Kreuz zu machen. Doch vermeiden Sie bitte den übermäßigen Gebrauch des Null-Urteils.

Während im Test 1 somit von einem „check-list"-Verfahren Gebrauch gemacht wurde, das dem Prinzip des Ilevnerschen Adjektivzirkels entspricht (K. HEVNER 1936), wurde für Test 2 ein neues Verfahren verwendet: die Methode des multiplen Paarvergleichs. Die Idee zu der Entwicklung dieses Skalierungsverfahrens ging in erster Linie von der Feststellung aus, daß die im Rahmen der neueren Musikpsychologie häufig verwendete Methode des Polaritätsprofils im Hinblick auf einige spezielle Fragestellungen gewisse Schwächen offenbart. Das Polaritätsprofil erweist sich vor allem zur Bestimmung elementarer psychischer Faktoren und affektiver Qualitäten als hervorragend geeignet, scheint jedoch für die Erfassung sehr feiner Nuancierungen in qualitativen Abweichungen von Beurteilungsobjekten ein mitunter zu grobes Raster darzustellen. Bereits in einer Arbeit von Eberhard KÖTTER (1968) wurde deutlich, daß Differenzen in den Wiedergabequalitäten im allgemeinen größer gewählt werden mußten, als es den „realen" Gegebenheiten entsprach, damit sie durch die Profilbeurteilung ausreichend erfaßt werden konnten. Gründe für einen solchen Mangel an Differenzierfähigkeit beim Polaritätsprofil dürften die folgenden sein: (1) Bei den vom Profil nicht differenzierten Qualitäten könnte es sich um Merkmale handeln, die außerhalb der primären emotionalen Dimensionen stehen (z. B. bestimmte satztechnische Feinstrukturen der Musik oder vorwiegend intellektuell geprägte, formale Charakteristika). (2) Dominierende affektive Faktoren könnten geringe qualitative Differenzen zwischen sekundären Merkmalen überdecken (durch eine Art Halo-Effekt).

180

EKK.EHARD JOST

(3) Die vermutlich wesentlichste Ursache dürfte in der mit einer Profiluntersuchung verbundenen Darbietungsweise liegen: Die zu beurteilenden Objekte werden hier isoliert dargeboten, wodurch feinere Unterschiede in sekundären Merkmalen, wie sie bei einem unmittelbaren Vergleich der Objekte wirksam würden, aufgrund der Zeitdifferenz zwischen den Darbietungen der verschiedenen Objekte von den Vpn nicht bemerkt (bzw. vergessen} werden. Dabei könnte darüber hinaus eine gewisse Adaption der Vpn an das jeweils beurteilte Objekt eine Rolle spielen. Anknüpfend an den letzten Punkt wurde für den Lautsprechertest die hier verwendete Methode des multiplen Paarvergleichs konzipiert, mit deren Hilfe durch unmittelbare Vergleiche von je zwei Objekten (Lautsprechern) auch feinere Differenzen zwischen diesen erfaßt werden. Diese Methode entspricht im Prinzip dem herkömmlichen Paarvergleich, unterscheidet sich von diesem jedoch insofern, als die Vergleiche nicht allein hinsichtlich einer einzigen Beurteilungskategorie vorgenommen werden, sondern - wie beim Polaritätsprofil - hinsichtlich einer ganzen Reihe von Attributen. Als Beurteilungskriterien dienten im vorliegenden Test die folgenden Attribute: ( 1) Allgemeine Beurteilung: hell, verschwommen, flach, angenehm, vordergründig, brillant, spitz, natürlich, voluminös, hart, ausgeglichen, durchsichtig, blechern, sauber, näselnd, gepreßt. (2) Beurteilung der Höhen: kräftig, deutlich, weich, klirrend. (3) Beurteilung der Bässe: kräftig, dumpf, dünn, sauber. Bei acht Lautsprechern und zwei Musikbeispielen ergab sich für die Vpn insgesamt ein Beurteilungsmaterial von 16 Einzelbeurteilungen (Test l} und 56 Paarvergleichen (Test 2), wobei jeder Lautsprecher mit jedem verglichen wurde. Das gesamte Material wurde von den Vpn in fünf Sitzungen zu je einer Stunde Dauer bewältigt. Um Reihungseffekte und damit systematische Urteilsbeeinflussungen auszuschließen, wurden die einzelnen Vergleichspaare in Test 2 nach Zufallsfolgen dargeboten, die darüber hinaus bei den einzelnen Vpn-Gruppen differierten.

2

Auswertung der Daten

Nach Abschluß der Versuche ergaben sich für Test 1 ca. 1800 und für Test 2 ca. 17400 Einzeldaten, was die ]'Jotwendigkeit nahelegt, diese Daten zur besseren Überschaubarkeit weiterzuverarbeiten bzw. sie dergestalt zu „bündeln", daß eindeutige Aussagen über die Qualitäten der Lautsprecher ermöglicht wurden.

2.1Test1 Im Fall von Test 1, in welchem von den Vpnjedem der Lautsprecher isoliert nach der vorgegebenen Adjektivliste bestimmte, „zutreffende" Attribute zugeordnet wurden, genügte es, eine Häufigkeitstabelle anzufertigen, in welcher für jedes Attribut registriert wurde, wie oft es im Zusammenhang mit einem bestimmten Lautsprecher (bei einem bestimmten Programm} genannt worden war.

KLANGEIGENSCHAITEN VON LAUTSPRECHERN

181

Die Verteilungen der Häufigkeiten in den Tabellen 1 und 2 zeigen eine nur sehr geringe Prägnanz. Die Angaben der Vpn weisen erhebliche Streuungen über die Attribute auf, wodurch eine eindeutige Zuordnung bestimmter Eigenschaften zu den einzelnen Lautsprechern mit wenigen Ausnahmen unmöglich gemacht wird. Eine korrelationsstatistische Weiterverarbeitung dieser Häufigkeitstabellen mit anschließender Faktorenanalyse ergab keinerlei sinnvolle Interpretationen der Daten. Dieses negative Ergebnis bestätigt die Vermutung, daß eine isolierte Beurteilung von einzelnen Lautsprechern deren z. T. sehr feinen Qualitätsunterschieden nicht gerecht wird und daß es des unmittelbaren Vergleichs bedarf, um diese Unterschiede ermitteln zu können. Auf eine weitere Diskussion von Test 1 soll daher verzichtet werden.

2.2 Test 2 Die aus dem Datenmaterial von Test 2 gewonnenen Häufigkeitsverteilungen sind in den Tabellen 3 und 4 wiedergegeben. Die Zahlen in den Zellen geben dabei an, wie oft jedem der Lautsprecher im Vergleich mit einem beliebigen anderen (bei den jeweiligen Musikbeispielen) die einzelnen Attribute zugeordnet wurden, wie oft er also als heller, verschwommener, brillanter usw. erschien als ein zweiter, mit dem er verglichen wurde. Da bei dieser Art der Häufigkeitstabellierung keine Normalverteilung der Daten vorausgesetzt werden konnte, wurden die verschiedenen Lautsprecher nicht durch ProduktMoment-Korrelationen zueinander in Beziehung gesetzt, sondern mit Hilfe von Rangkorrelationen. Die Häufigkeiten aus den Tabellen 3 und 4 wurden hierzu in Rangplätze transformiert, wobei jeweils das Attribut den Rangplatz „ l" erhielt, das die größte Urteilshäufigkeit auf sich vereinigte (vgl. Tabellen 5 und 6). Die Quantifizierung der „subjektiven Ähnlichkeiten" zwischen den einzelnen Lautsprechern (d. h. der Ähnlichkeiten der Beurteilungen) erfolgte durch Spearmans Rangkorrelationskoeffizienten

p

1 -

61: D 2 N (N 2

-

1)

Dabei stellt D die Differenz der Rangplätze eines Beobachtungspaares bei einem beliebigen Attribut dar und N die Anzahl der Attribute. · Rangkorrelationen variieren (wie Produkt-Moment-Korrelationen) zwischen + 1.0 und -1.0, wobei + 1.0 maximale Ähnlichkeit (Identität) zwischen zwei Objekten und -1. 0 Gegensätzlichkeit zwischen ihnen bedeutet. Die Matrix der Rangkorrelationen (Tabelle 7), in welcher die Beziehungen aller Lautsprecherbeurteilungen zueinander wiedergegeben sind, wurde einer Faktorenanalyse (Dimensionsanalyse) unterzogen, wodurch eine Zuordnung der Lautsprecherbeurteilungen zu voneinander unabhängigen Dimensionen des Klanges ermöglicht wurde.

182

3

EKKEHARD JOST

Ergebnisse

3.1 F ak torenanalyse der Lau tsprecherbeurteilungen (Q-Analyse) Tabelle 8 gibt die unrotierte Faktorenmatrix der Analyse der Lautsprecherbeurteilungen (Q-Analyse) wieder. Es zeigt sich, daß aus der Korrelationsmatrix zwei bedeutsame Faktoren extrahiert wurden, die insgesamt 93 3 der im Datenmaterial enthaltenen Information erklären. Die Faktoren III und IV mit einem Varianzanteil von 7 3 dürften demgegenüber vor allem Zufallsvarianz enthalten und können insofern von der weiteren Diskussion ausgeschlossen werden. Zur besseren Überschaubarkeit wurde in Abb. 1 die Faktorenebene I/II graphisch dargestellt. Die Ahnlichkeitsrelationen zwischen je zwei Lautsprechern werden dabei näherungsweise durch den Winkel bezeichnet, den sie miteinander zum Nullpunkt des Koordinatensystems bilden. Die aus der Faktorenmatrix ersichtlichen sog. Ladungszahlen (Ladungen) repräsentieren die Affinität der einzelnen Lautsprecherbeurteilungen zu den betreffenden Dimensionen des Klangeindruckes, wobei eine hohe (positive oder negative) Ladung gleichsam eine hohe (positive oder negative) Korrelation mit der jeweiligen Dimension widerspiegelt. Die sinngemäße Bedeutung dieser Dimension läßt sich somit aus den Rangprofilen derjenigen Lautsprecher ableiten, für die die betreffende Dimension besonders bedeutsam ist, die also eine besonders hohe Ladungszahl auf dieser besitzen. Danach ist Faktor 1 auf der positiven Seite vor allem mit den Eigenschaften von Nr. 8 (M), Nr. 3 U), Nr. 2 (M), Nr. 1 (J + M) und Nr. 6 (M) in Verbindung zu setzen, auf der negativen mit denen der Lautsprecher Nr. 5 O + M), Nr. 7 (M) und Nr. 4 0 + M). Hieraus ergibt sich die Bedeutung der beiden Faktoren wie folgt3: Faktor I

(positiv): (negativ):

Faktor II

(positiv): (negativ):

angenehm, natürlich, ausgeglichen, voluminös, deutliche und weiche Höhen, kräftige Bässe. hell, hart, blechern, spitz, flach, kräftige Höhen, dünne Bässe. durchsichtig, sauber, vordergründig, natürlich, angenehm, deutliche und kräftige Höhen. flach, verschwommen, näselnd, gepreßt, klirrende Höhen, dumpfe Bässe.

Wie aus dieser Aufstellung hervorgeht, zeigt die Hauptfaktorenebene l/II eine deutliche Übereinstimmung mit Faktorensystemen, wie sie aus zahlreichen Untersuchungen der Tonpsychologie bekannt sind4, wobei Faktor I als Klangvolumen und Faktor II als Klangdichte zu identifizieren wären.

3

4

Daß bei den Faktoren I und II die positiv zu wertenden Eigenschaften mit den positiven (im mathematischen Sinne) Enden der Faktoren zusammenfallen, ist Zufall bzw. beruht lediglich auf der statistischen Prozedur der Rotation der Faktoren. Vgl. u. a. S. S. STEVENS ( 1934 ). Auf die gleichen Faktoren stieß der Verfasser innerhalb einer experimental-psychologischen Untersuchung zur Klangfarbe. Vgl. E. JOST ( 196 7).

KLANGEIGENSCHAFTEN VON LAUTSPRECHERN

183

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Abb. 1: Faktorenanalyse der Lautsprecherbeurteilungen

Dieser Sachverhalt legt folgende Schlüsse nahe: Der Prozeß einer Differenzierung von Lautsprecherqualitäten bzw. - ganz allgemein Klangqualitäten in elektrischer Übertragung wird durch die gleichen elementaren Klangeigenschaften gesteuert, die auch das „normale" Hören bestimmen. Diese Eigenschaften sind nicht nur unabhängig voneinander, sondern sie sind in gewissem Ausmaße auch unabhängig von einer Bewertung. Ein Beispiel aus unserem Experiment mag + M) besitzen etwa das letztere verdeutlichen: Die Lautsprecher Nr. 2 U) und Nr. 4 das gleiche Maß an Dichte (sprich: Durchsichtigkeit) und unterscheiden sich doch

a

184

EKKEHARD JOST

erheblich im Grad ihrer „Angenehmheit". Die Bewertung eines Lautsprechers, d. h. ob er als gut oder schlecht empfunden wird, ist keine unabhängige Variable, sondern resultiert aus dem Zusammenwirken mehrerer (hier: zwei) Faktoren. Will man unserem System der Klangeigenschaften dennoch eine Bewertung der Lautsprecher im Sinne einer linearen Rangreihe „angenehm - unangenehm" überlagern, so bietet sich eine verhältnismäßig einfache Methode: Durch die Konfiguration der Lautsprecher im Faktorenraum I/11 wird eine Gerade gelegt, welche die Rangplätze der Lautsprecherbeurteilungen auf der Skala „angenehm" optimal repräsentiert. Das Lot von den Positionen der Lautsprecher auf diese Gerade kennzeichnet dann deren Grad an Angenehmheit. Die auf diese Weise in Abb. 1 hineinprojizierte Bewertungslinie korreliert mit den Rangplätzen der Lautsprecher auf der Skala „angenehm" mit Rho= 0.97, d. h. die Positionen der Lautsprecherbeurteilungen auf diesen „Bewertungsgradienten" geben die Zuordnung nach dem Kriterium „angenehm" mit sehr großer Genauigkeit wieder.

3.2 Zur Abhängigkeit der Übertragungsqualität von den für die Beurteilung verwendeten Musikbeispielen Dem aufmerksamen Betrachter von Abb. l wird nicht entgangen sein, daß die Positionen der Lautsprecherbeurteilungen im Faktorenraum in starkem Maße davon abhängen, welches der beiden Musikbeispiele (MOZART oder JAZZ) zur Beurteilung verwendet wurde. Nur zwei der Lautsprecher sind völlig stabil gegen derartige durch das Programm verursachte Urteilsänderungen: einerseits die extrem kleinen Boxen Nr. 1, die durchgehend sehr positiv beurteilt wurden, wobei der dominierende Eindruck (paradoxerweise) der eines ausgeprägten Volumens ist, und andererseits die Flachboxen Nr. 5, die unabhängig vom Programm als extrem hart, spitz, dünn usw. eingestuft wurden. Als relativ unabhängig von den verschiedenen Musikbeispielen erwiesen sich außerdem die Klangeigenschaften der Lautsprecher Nr. 4. Alle übrigen Lautsprecher zeigen, je nachdem, welches Musikbeispiel über sie abgespielt wird, mehr oder weniger starke Urteilsänderungen. Zwei besonders prägnante Beispiele mögen dies verdeutlichen: (1) Den Boxen Nr. 3 werden bei der Jazzmusik von den Vpn die folgenden Attribute besonders häufig zugeordnet: angenehm, voluminös, natürlich, ausgeglichen, sauber, deutliche und weiche Höhen, kräftige Bässe. Die gleichen Lautsprecher ergeben beim Beispiel MOZART die geradezu diametral entgegengesetzten Eigenschaften: flach, verschwommen, näselnd, gepreßt, blechern, klirrende Höhen und dumpfe Bässe. (2) Der umgekehrte Fall zeigt sich - wenn auch nicht ganz so krass - bei den Lautsprechern Nr. 8: Innerhalb der Gesamtstichprobe der Lautsprecher wechseln diese Boxen bei mehreren Attributen sehr deutlich ihre Rangplätze in Abhängigkeit vom Musikprogramm:

KLANGEIGENSCHAFrEN VON LAlITSPRECHERN

MOZART natürlich flach näselnd weiche Höhen

JAZZ

2

7

7 7

3 2.5 6

1

185

Hierbei bedeutet ein niedriger Rangplatz eine starke Affinität mit dem betreffenden Attribut, ein hoher Rangplatz eine geringe. Die aus den unterschiedlichen Musikprogrammen resultierenden Urteilsänderungen bei den einzelnen Lautsprechern lassen sich im Detail anhand der Tabellen 5 und 6 unschwer nachvollziehen. Ein quantitatives Maß für diese Urteilsänderungen wird darüber hinaus durch die Koeffizienten der Korrelationen zwischen den gleichen Lautsprechern bei unterschiedlichem . Programm gegeben, wobei hohe positive Korrelation (> 0.80) einen geringen Einfluß der Musikbeispiele auf die Klangqualitäten der betreffenden Lautsprecher signalisieren, niedrige positive oder gar negative Korrelationen dagegen eine starke Abhängigkeit der Beurteilungen von den Musikbeispielen. Für die einzelnen Lautsprecher ergeben sich die folgenden Korrelationskoeffizienten: Lautsprecher Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8

O.M) 0.93 0.34 -0.22 0.83 0.93 0.59 0.08 0.34

Diese Koeffizienten sagen wohlgemerkt nichts über die Klangqualitäten an sich aus, sondern nur über die Stabilität derselben gegenüber einem Wechsel des Musikprogramms. Zwar sind aus dem vorliegenden Material aufgrund der minimalen Stichprobengröße von nur zwei Musikbeispielen kaum definitive (d. h. im statistischen Sinne signifikante) Aussagen darüber möglich, ob einer der von uns getesteten Lautsprecher z. B. für klassische Musik optimal geeignet und für Jazz ungeeignet ist (oder umgekehrt); dies müßte sich erst anhand einer größeren Stichprobe von Musikbeispielen erweisen. Dennoch lassen es die vorliegenden Ergebnisse legitim erscheinen, die folgende, generalisierende Hypothese aufzustellen:

Die subjektive Einschätzung der Klangqualität eines Lautsprechers stellt in der Regel keineswegs eine konstante Größe dar, sondern hängt zu einem erheblichen Teil von der Struktur der Musik ab, die über ihn wiedergegeben wird. Dies gilt nicht nur für eine unspezifische Beurteilung des Lautsprechers nach Kriterien wie „gut - schlecht" oder „geeignet - ungeeignet", sondern ebenso für subtilere Klangeigenschaften wie durchsichtig, verschwommen, voluminös, hart usw.

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3.3 Zu den Beziehungen zwischen den Klangeigenschaften und den technischen Daten der Lautsprecher Bereits die Tatsache, daß einem Lautsprecher bei verschiedenen Musikprogrammen unterschiedliche Klangeigenschaften zugemessen werden, weist darauf hin, daß der Vorhersagbarkeit dieser Eigenschaften aus den physikalischen Meßdaten des Lautsprechers Grenzen gesetzt sind. Daß es keine Eins-zu-eins-Relationen z. B. zwischen dem Frequenzgang einer Box und ihrer subjektiven Bewertung gibt, weiß man seit geraumer Zeit, denn andernfalls wäre man nicht darum bemüht, sog. „subjektive" Lautsprechertests durchzuführen, sondern könnte mit den ungleich leichter zu ermittelnden technischen Meßdaten vorlieb nehmen. Eine wesentliche Konsequenz aus den hier vorliegenden Ergebnissen scheint mir die folgende zu sein: Es genügt nicht, den Beziehungen zwischen den meßtechnisch erfaßbaren und den vom Hörer „empfundenen" Eigenschaften eines Lautsprechers nachzugehen, sondern man hat darüber hinaus als zentrales Glied innerhalb der Kommunikationskette die Musik zu berücksichtigen, die über den Lautsprecher abgestrahlt wird, denn erst in Verbindung mit der akustischen Struktur des übertragenen Mediums „Musik" erhalten die sog. objektiven Kriterien der Klangwiedergabe (z.B. der Frequenzgang) ihren Sinn. (Wer hört über seine „Heimstereo-Anlage" schon Sinustöne oder Weißes Rauschen!) Einen kritischen Punkt für unsere Analyse bildet die Tatsache, daß die akustischen Strukturen der Musik und vor allem die Bedeutung dieser Strukturen für das Musikhören relativ schwer faßbar sind, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich einer Quantifizierung weitgehend entziehen. Für die beiden in unserem Experiment verwendeten Musikbeispiele sind wir daher weitgehend auf Beobachtungen allgemeiner Natur angewiesen: (1) Man kann voraussetzen, daß im Jazz als einer im wesentlichen rhythmisch betonten Musik den extremen Frequenzregionen in Bässen und Höhen eine besondere Bedeutung zukommt, denn dort wird der Grundrhythmus akzentuiert: vom gezupften Baß und vom Zymbal des Schlagzeuges. Mängel in der Übertragung dieser Regionen werden sich daher in einem Werturteil eher niederschlagen als eine relativ schwache Präsenz z. B. des mittleren Bereichs, in welchem bei unserem Beispiel die elektrisch verstärkte Violine zudem verhältnismäßig unempfindlich gegenüber Klangveränderungen sein dürfte. (2) Im Gegensatz hierzu gewinnen bei dem Beispiel MOZART, bei dem es ganz wesentlich auf die Prägnanz und Eindeutigkeit der harmonischen Beziehungen ankommt, die tiefen und vor allem die mittleren Frequenzregionen an Bedeutung, während die Übertragung der Höhen etwa von 5 kHz an als sekundär zu werten ist. Wie sind diese Beobachtungen nun mit den Beurteilungen der Klangeigenschaften der Lautsprecher einerseits und mit den elektro-akustischen Eigenschaften derselben andererseits in Verbindung zu setzen? Eine Ermittlung der „objektiven" Charakteristika der Boxen wurde auf zweierlei Weise durchgeführt: Zum einen wurden nach dem herkömmlichen Verfahren die Frequenzgänge der Lautsprecher im Versuchsraum aufgezeichnet (vgl. Abb. 2a-h). Die Schwächen dieses Verfahrens sind bekannt. Sie beruhen nicht zuletzt darauf, daß Lautsprecher in der Regel keinen sinusförmigen Schall abstrahlen, sondern Klang-

KLANGEIGENSCHAFfEN VON LAUTSPRECHERN

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gemische. Dieser Tatsache wurde in einem zweiten Meßvorgang Rechnung getragen, in welchem die Lautsprecher ein normiertes sog. Weißes Rauschen abstrahlten. Die Auswertung erfolgte hierbei nicht durch die übliche Pegelschreiberaufzeichnung, sondern durch das Verfahren der Pegelhäufigkeitsanalyse. Es ist hier nicht der Rahmen, auf die technischen Implikationen dieses Verfahrens näher einzugehen. Nur soviel als Erläuterung zu den Ergebnissen, die es in unserem speziellen Fall lieferte: Die in Abbildung 3 wiedergegebenen Kurven veranschaulichen das relative Ausmaß, in welchem das Weiße Rauschen über die Frequenz und über die Zeit von den einzelnen Lautsprechern reproduziert wird. Da es sich um relative Häufigkeiten handelt und nicht um absolute oder relative Schallpegel, ist für die Interpretation der Kurven lediglich deren Verlauf, nicht aber deren Höhe relevant. Insgesamt gesehen dürften diese Pegelhäufigkeitsverteilungen für unsere Fragestellung informativer sein als die auf der Wiedergabe von sinusförmigem Schall basierenden Frequenzgänge der Lautsprecher. Obwohl sich aus der Verknüpfung der drei Glieder unseres Kommunikationssystems (Lautsprecher-Musik-Hörerurteil} nicht in allen Fällen eindeutige Erklärungen der zur Diskussion stehenden Fragen ableiten lassen, ergeben sich jedoch einige Indizien, die unsere Hypothesen hinsichtlich der Abhängigkeitsrelationen innerhalb dieses Kommunikationssystems stützen. Eine stichwortartige Zusammenstellung der Beobachtungen mag dies verdeutlichen:

Lautsprecher Nr. 1: Unempfindlich gegenüber Programmwechsel. Dominierende Eigenschaften: voluminös, ausgeglichen, natürlich, angenehm, deutliche und weiche Höhen, kräftige Bässe. Pegelverlauf: Relativ ausgewogen im mittleren Bereich, gute Reproduktion der Bässe und Höhen. D. h. die Voraussetzungen sind sowohl für MOZART als auch für JAZZ optimal.

1Lautsprecher Nr. 2: Klangeigenschaften abhängig vom Musikbeispiel: Die Box wird bei JAZZ als durchsichtiger, natürlicher und sauberer eingestuft als bei MOZART, wo sie als verschwommen bezeichnet wird. Pegelverlauf: Besonders starke Reproduktion der Bässe und Höhen ab 5 kHz, dagegen Einbrüche im mittleren Frequenzbereich zwischen 200 und 400 Hz und um 1000 Hz, den Bereichen also, die für das MOZART-Beispiel besonders kritisch sind.

Lautsprecher Nr. 3: Klangeigenschaften abhängig vom Musikbeispiel. Die Verhältnisse liegen hier ähnlich wie bei Nr. 2, und zwar sowohl im „subjektiven" wie im „objektiven" Bereich.

Lautsprecher Nr. 4: Relativ unempfindlich gegenüber Programmwechsel. Der Klangeindruck wird in erster Linie durch die ausgeprägte Höhenwiedergabe bestimmt (hell, hart, spitz, deutliche Höhen, dünne Bässe). Der Einbruch im Bereich um 200 Hz scheint daneben kaum Bedeutung zu haben.

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Abb. 2a-h: Frequenzgänge der Lautsprecher Nr. 1-8



KLANGEIGENSCHAFTEN VON LAUfSPRECHERN

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Lautsprecher Nr. 5: Klangeigenschaften unabhängig vom Musikbeispiel. Die dominierenden Charakteristika sind hell, blechern, flach, hart, spitz, kräftige Höhen, dünne Bässe. Die Boxen weisen nicht nur einen ähnlichen Pegelverlauf wie Nr. 4 auf, auch die Beurteilungen der Klangcharakteristika entsprechen einander weitgehend (Korrelation von Rho= 0. 74). Lautsprecher Nr. 6: Klangeigenschaften abhängig vom Musikbeispiel. Die Box ist eine der wenigen, die für MOZART besser geeignet zu sein scheint als für JAZZ. Dominierende Eigenschaften bei JAZZ: flach und verschwommen; bei MOZART: ausgeglichen, natürlich, sauber, durchsichtig. Abgesehen davon, daß die Box für JAZZ offenbar zu wenig Höhen wiedergibt und daher „verschwommen" wirkt, läßt sich für diese Beurteilung aus dem Pegelverlauf kaum eine Erklärung herleiten. Lautsprecher Nr. 7: Starke Abhängigkeit der Klangeigenschaften vom Musikbeispiel. JAZZ: Angenehm, durchsichtig, hell, sauber, kräftige Bässe. MOZART: Hell, blechern, spitz, hart, flach. Verantwortlich hierfür ist zweifellos der Einbruch um 250 Hz einerseits und die außerordentlich prägnante Höhenwiedergabe andererseits. Lautsprecher Nr. 8: Bei beiden Programmen dominiert der Eindruck des Voluminösen (starke Betonung der unteren Frequenzregion), wobei der Lautsprecher bei JAZZ vermutlich wegen der weniger stark ausgeprägten Höhenwiedergabe als flacher und weniger natürlich eingestuft wird. Wie man hieraus ersieht, resultiert die Beurteilung der Klangqualität in mehreren Fällen aus Wechselwirkungen zwischen der musikalischen Struktur der Klangbeispiele und den technischen Meßdaten der Lautsprecher, soweit sich diese durch die Pegelhäufigkeitsanalyse erfassen lassen. Inwieweit diese Ergebnisse als allgemeingültig zu betrachten sind, wäre anhand einer größeren Stichprobe von Musikbeispielen unterschiedlichster Strukturen zu ermitteln.

3.4 Zu den Beziehungen zwischen Preis und Klangqualität der Lautsprecher Wiewohl es im Bereich der Wissenschaft gleichsam als anstößig gilt, sich mit einem so irdischen Ding wie dem Geld zu befassen, wollen wir im folgenden versuchen, die Relationen zu ermitteln, die zwischen dem Verkaufspreis der Lautsprecher und den ihnen von unseren Versuchspersonen (in Unkenntnis der Preise) zugemessenen Klangqualitäten bestehen. In Abb. 4 haben wir diese Relation in einem Koordinatensystem wiedergegeben, wobei die x-Achse mit der „Angenehm-Achse" unserer Faktorenanalyse identisch ist und auf der y-Achse die Preise für je ein Lautsprecherpaar in DM aufgetragen sind. Im Fall eines ein-eindeutigen Zusammenhanges zwischen Preis und Qualität müßten die Lautsprecher in etwa auf der gestrichelten Diagonalen des Achsensystems angeordnet sein.

KLANGEIGENSCHAFTEN VON LAUTSPRECHERN

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