Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1971 [1971] 3875370066


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German Pages 194 [213] Year 1972

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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz, 1971
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Inhaltsverzeichnis
Husmann, Heinrich - Hymnus und Troparion/Studien zur Geschichte der musikalischen Gattungen von Horologion und Tropologion
Fellinger, Imogen - Die Oper im kompositorischen Schaffen von Hugo Wolf
Van der Meer, John Henry - Beiträge zum Cembalo-Bau der Familie Ruckers
De La Motte-Haber, Helga - Die Anwendung der Bedingungsvariationen bei musikpsychologischen Untersuchungen
Dahlhaus, Carl - Ernst Blochs Philosophie der Musik Wagners
Namen- und Sachregister
Über die Autoren
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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1971 [1971]
 3875370066

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JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FÜR MUSIKFORSCHUNG

Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz

1971

Herausgegeben von Dagmar Droysen

Verlag Merseburger Berlin

Edition Merseburger 1443

© 1972 Verlag Merseburger Berlin GmbH Alle Rechte vorbehalten · Printed in Germany Satz und Druck: H. Heenemann KG, Berlin ISBN 3 87537 006 6

INHALT

HusMANN, HEINRICH

Hymnus und Troparion Studien zur Geschichte der musikalischen Gattungen von Horologion und Tropologion . . . . . . . . . . . . .

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FELLINGER, lMOGEN

Die Oper im kompositorischen Schaffen von Hugo Wolf

87

vAN DER MEER, JoHN HENRY

Beiträge zum Cembalo-Bau der Familie Ruckers

100

DE LA MOTTE-HABER, HELGA

Die Anwendung der Bedingungsvariation bei musikpsychologischen Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 DAHLHAUS, CARL

Ernst Blochs Philosophie der Musik Wagners Namen- und Sachregister Über die Autoren

...........................

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HYMNUS UND TROPARION Studien zur Geschichte der musikalischen Gattungen von Horologion und Tropologion HEINRICH HUSMANN

INHALT Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Der Hymnus 1. Der »älteste christliche Hymnus« S11b 11111111 praesidi11111 in Vesper und Orthros . . . . . . 2. Die alten Hymnen von Komplet und Mesonyktikon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Hymnus He elpi.r 111011 ho pater . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . • . • . . . . . . . . . . • . . . . • b) Die Hymnen des Erlangensis 1234 (olim 96) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Hymnen des Sinaiticus gr. 864............ ....... .....................

9 13 13 17 22

II. Das Troparion A. Die Handschriftentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Tropologion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Oktoechos und Parakletike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der »Üktoechos« des Severus von Antiochien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Die Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einstrophige Troparien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Troparion und Perisse.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die assyrischen Hymnen Aik 'e/rä und Läk11111ärä . . • . • . . . . . . . . . . . . . • . . • • c) Die Ma'niata des Severus von Antiochien............................... 2. Die mehrgliedrige Troparienreihe . . . . . . . . . . . . . • . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tropos und Troparion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Troparion und Prokeimenon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Troparion und Sticheron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Troparion, Kathisma, Katabasia, 'Eqba, Tar'a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Idiomelon, Automelon, Prosomoion, Hirmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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EINLEITUNG Hymnus und Troparion sind die beiden möglichen Formen liturgischer Poesie: der Hymnus die selbständige religiöse Dichtung, das Troparion ein Gebilde, das sich mit biblischer Poesie, vor allem den Psalmen und den Kantika, verbindet, sich ihnen voransetzt, in sie einschiebt oder an sie anschließt. Beide Formen sind allen christlichen Riten gemeinsam - sie leben insbesondere auch heute noch im Lateinischen; denn wenn auch die Tropen aus dem gregorianischen Choral eliminiert worden sind, so bleiben immer noch Antiphon und Responsorium, die auch nichts anderes als Troparien sind.

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HEINRICH HusMANN

Hymnus und Troparion können einstrophig oder mehrstrophig sein: das Gloria in excelsis und das Sub tuum praesidium sind ebenso ein Hymnus wie Veni redemptor gentium, und eine Magnificat-Antiphon ist ebenso ein Troparion wie das dreiteilige Hodie cantandus est vor dem weihnachtlichen Meßintroitus. Treten zu mehreren Versen oder Verstellen eines Psalms jeweils verschiedene Troparien (vgl. HusMANN 1959), so betrachtet das Lateinische die Troparien als Teil eines Ganzen, das daher in der Einzahl Tropus heißt (dagegen setzen die Handschriften aber oft die Mehrzahl, etwa Tropi ad introitum ... u.ä.), während das Byzantinische stets den Plural Troparia verwendet, auch wenn die verschiedenen Troparien musikalisch so gleich sind wie die Strophen eines Hymnus (s. die MusikbeispieleinHusMANN1972b). Im letzten Fall spreche ich daher dann von einer Troparienkette oder Troparienreihe. Ein Hymnus kann auch aus metrisch verschiedenen Teilen bestehen wie das Kontakion, das seinen Strophen ein anders gebautes Prooimion (oder Koukoulion) vorausschickt. Die vorliegende Studie beschränkt sich auf die ein- und mehrstrophigen Hymnen und Troparien. Von den Hymnen betrachte ich auch nur die allerälteste Schicht (d. h. die Gruppen I und II in Paul MAAS 1910) und ihre Überlieferung in den ältesten Handschriften. Ich gehe nicht auf die Kontakien ein, denen Constantin FLOROS (1960 und 1964) zwei grundlegende Studien gewidmet hat. Die Grenze zwischen Ein- und Mehrteiligkeit ist fließend, da eine Troparienreihe sich auf das Anfangstroparion verkürzen kann, wie es z. B. beim Pentekostarion vorkommt. Der Sinn des Tropierungsverfahrens ist deutlich erkennbar (HusMANN 1959): die Troparien erläutern entweder die Psalm- oder Kantikumverse, auf die sie sich beziehen, wie es im Byzantinischen die Anabathmoi und die Troparien der Kanones tun, oder sie bringen den Charakter des jeweiligen Festes, des Sonntags, usw., zum Ausdruck, wie es die Art der Stichera ist. Es ist sehr merkwürdig, daß im Lateinischen jeder Tropusteil seinem Psalmvers bzw. Psalmversteil, ihn einführend, vorausgeht (HusMANN 1959), während er ihm im Byzantinischen (und Syrischen) immer nachfolgt. Entstehung und Entwicklung des Tropierens lassen sich mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten: am Anfang dürfte nur ein Troparion als Refrain auf jeden Vers gefolgt und dem 1. Vers vorausgegangen sein, ehe man auf die Idee kam, jedem Vers ein eigenes, individuelles Troparion zu geben, wobei man im Westen vom Refrain vor dem 1. Vers aus voranschritt, so daß die Troparien vor ihren Vers zu stehen kamen, während man im Byzantinischen von dem den Schluß bildenden Refrain aus zurückging, wie es an den Stichera des Ps. 140 besonders deutlich erkennbar ist, so daß hier die Troparien ihrem Vers nachfolgten. Dem Verfahren, ein neu geschaffenes, kommentierendes Troparion als Refrain zu verwenden, geht eine noch ursprünglichere Methode voraus, einen - für Psalm bzw. Kantikum oder Fest bzw. Sonntag - besonders charakteristischen Vers des Psalms bzw. Kantikums als Refrain zu benutzen. Die Entwicklung

HYMNUS UND TROPARION

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des Refrains vom Psalmvers über den neutestamentlichen Evangelienvers zum freigedichteten Vers läßt sich sehr gut im Lateinischen sowohl an den Antiphonen wie bei den Alleluia verfolgen (HusMANN 1964/65). Endlich kann auch der Unterschied von Hymnus und Troparion bedeutungslos werden, wenn ein einstrophiger Hymnus später als Antiphon, Responsorium oder Troparion benutzt wird, wie es z.B. bei dem Hymnus S11b 11111111 praesidi11m der Fall ist (s. I., 1. Abschnitt). Der Kern der vorliegenden Studie sollte ursprünglich meinen beiden Stichera-Aufsätzen (HusMANN 1970a und b) als eine Art terminologischer Einleitung vorausgehen und war für den Byzantinischen Kongreß in Grottaferrata 1968 unter dem Titel »Tropus und Troparien« angekündigt, wobei ich besonders den Schlußcharakter des Troparions, entsprechend dem syrischen 'Eqbä, herausarbeiten wollte. Nachdem dienstliche Pflichten mich hinderten, an diesem Kongreß teilzunehmen, konnte ich inzwischen die Sinai-Filme in der Library of Congress studieren, was die entsprechenden Abschnitte über die Tropenhandschriften ergab. Um einen musikalischen Teil über die Kontrafakturtechnik, der einen Ausgangspunkt meines Aufsatzes bildet (HusMANN 1972b), und den ersten Abschnitt über die ältesten Hymnen erweitert, wurde das Ganze dann am 8. 10. 1970 im Department of Music der University of Chicago unter dem Titel Problems of byzantinc musicology vorgetragen. Ich danke dem Department und seinem Chairman, Professor Howard Brown, herzlich für diese Einladung, die mit zum Anlaß wurde, meine Untersuchungen in der vorliegenden Form auszuarbeiten.

I. DER HYMNUS 1. Der »älteste christliche Hymnus« Sub t11u1J1 praesidi11m in Vesper und Orthros

Die lateinische (gregorianische wie ambrosianische) Antiphon S11b t11111n praesidiu1J1, auch als Responsorium benutzt (s. CECCHETTIS erschöpfenden Artikel von 1953), wird in der Literatur gern als »der älteste christliche Hymnus« oder »das älteste Mariengebet« bezeichnet. Sicherlich dürften andere Hymnen, wie die des nächsten Abschnitts oder wenigstens einige von ihnen, ebenso alt sein - He asö111atos physis ist auf einem Papyrus des 6. Jh. erhalten (s. MAAS 1908); jedenfalls aber ist die griechische Urform von Sub t1111m praesidi11m, Hypo ten sen e11splanchnian, der frühest überlieferte christliche Hymnus, - besitzen wir ihn doch schon auf einem Papyrus des 4. Jh. der John-Rylands-Bibliothek in Manchester (s. CECCHETTI 1953, Sp. 1468), und es ist wahrscheinlich, daß er schon vor Ambrosius ins Ambrosianische kam (s. ebd., Sp. 1471). Wird der lateinische Text als Antiphon oder Responsorium benutzt, so ist das griechische Original des Papyrus ein reines Gebet, in gesungener Form also ein Hymnus. Aber nicht nur im Lateinischen, sondern auch im Byzantinischen erscheint der Hymnus später mit Psalmtext assoziiert, hier mit der die Psalmen abschließenden Kleinen Doxologie. Bezeichnenderweise hat er sich in der Form in der konservativsten Periode des Kirchenjahres, in der Fastenzeit, erhalten, und zwar am Schluß der Vesper. An dieser Stelle steht heute zuerst das Tropairon Theotoke parthene, in das das Ave Maria verwoben ist, nach ihm

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HEINRICH HusMANN

das Troparion Baptista tou Christou auf Johannes den Täufer, dann folgt das Doxa patri ( = Gloria patri) mit dem Troparion Hiketeusate auf die Apostel und Kai nyn ( = Sicut erat) eben mit dem der Gottesmutter, gr. theotokos, gewidmeten »Theotokion« Ypo tin sin eusplanchnian.

Das Triodion, das die Liturgie der Fastenzeit enthält, notiert die Tropariengruppe in dieser Form in der Vesper des Sonntags »Tyrines«, die den Beginn der griechischen Quadragesima bildet; es steht mit einer entsprechenden, auf den Fastencharakter bezogenen Rubrik auch in den Horologien, die den Aufbau des Stundengebets enthalten. Ein kurzes Schema mag den Aufbau der byzantinischen Vesper (gr. »Hesperinos«) zeigen: Ps. 103 (»Prooimiakos« = »als Vorwort, Einleitung«) Friedenslitanei (»Eirenika«) Lesung eines Psalterabschnittes (»Kathisma«), - fällt Sonntagabend aus Ps. 140, 141, 129, 116 (Kyrie ekekraxa) mit Stichera (vom Ende aus rückwärts, s. oben) Abendlichthymnus Phös hilaron Prokeimenon oder Alleluia (an Festen u. a. mit Lesungen) Ektenie ( = »angespannte« Litanei) Kataxiöson, kyrie ( = »Würdige uns, Herr . . . « aus Ps. 32, 64, 118 und 137) Litanei der Bitten (»Aiteseis«) Ps. 122 mit Stichera (»Aposticha« oder »Stichera eis stichon«) Canticum Simeonis (Lukas 2, 29-32) Apolytikion (»Entlassungs«-Troparion) mit Theotokion; stattdessen in der Fastenzeit die Tropariengruppe mit dem Hypo tin sen eusplanchnian Schlußgebete und Entlassung

Betrachtet man die älteren Horologien, so tritt Hypo tin sin eusplanchnian noch nicht im Sinai gr. 863 aus dem 9. Jh. (s. MATEOS 1964, S. 58) auf; andererseits steht die heutige Anordnung schon im Sinai gr. 866 aus dem 13. Jh. Wie es zu dieser Folge mit der unregelmäßigen Zweizahl der Troparien am Anfang kam, kann vielleicht der Sinai gr. 904 aus dem Jahre 1211 erklären: er hat die Troparienreihe Theotoke parthene, Doxa Baptista tou theou (sie!), Kai nyn - Hiketeusate, die zwar regelmäßig ist, aber dadurch auffällt, daß sie nach dem Kai nyn noch nicht, wie es auch im 13. Jh. schon die Regel war, ein Theotokion bringt, was freilich auch nicht unbedingt notwendig erscheint, da das erste Troparion ja der Theotokos gewidmet ist. Man kann sich vorstellen, daß man, um dieser Unregelmäßigkeit abzuhelfen, das Hypo tin sin eusplanchnian als Theotokion anfügte und das zweite und dritte Troparion um eine Stelle vorschob, so daß vor das Doxa nun zwei Troparien zu stehen kommen. Um die Handschrift auf den neuesten Stand zu bringen, hat eine spätere Hand dann den Anfang Hypo tin sin eusplanchnian am Rand (f. 186v) nachgetragen. Eine andere Lösung zeigt das Triodion Sinai gr. 756 vom Jahre 1205, das im Tyrine-Orthros (s. S. 11) die Folge Theotoke parthene, Doxa - Baptista tou Christou, Kai tryn - Hypo tin sin eusplanchnian aufweist, also das 3. Troparion unterdrückt hat. Aus der geschilderten Sachlage könnte man schließen, daß die Anfügung des Hypo ten sin eusplanchnian eben gerade in dieser Zeit, im 13. Jh. oder um 1200, geschah. Das ist

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aber nicht der Fall, wie eine andere Handschrift, Universitätsbibliothek Erlangen 1234 (früher 96) zeigt. Diese Handschrift stammt aus dem Jahr 1025 und besitzt schon alle vier Troparien (das dritte mit der Anfangsvariante Presbeusate). Sie setzt aber nicht Doxa und Kai '!Yn zwischen die Troparien - doch ist dies vielleicht zu ergänzen; sonst ständen alle vier Stücke hier noch als »Hymnen«, nicht als »Troparien«. Das J!ypo tin sen eusplanchnian kommt in der heutigen byzantinischen Liturgie noch an einer zweiten Stelle vor: als Theotokion nach Doxa patri ... kai '!)'n ... der Aposticha des Morgengottesdienstes (»Ürthros«) der Sonnabende der Wochen, die im 1. plagalen Kirchenton stehen. Das folgende Schema erläutert den Aufbau des Orthros: a. Ps. 3, 37, 62; 87, 102, 142 (»Hexapsalm«) Friedenslitanei Theos kyrios (aus Ps. 117) mit Schlußtroparien oder Alleluia (mit Versen aus Jes. 26) mit triadischen »Hymnen« (Troparien). Lesung von zwei oder drei Psalterabschnitten mit Troparien sonntags: Hypakoe, Anabathmoi (= Gradualpsalmen mit Troparien), Prokeimenon, Evangelium (»der Morgenröte«, »heöthinon«) b. Ps. 50, in Fastenzeit u. a. mit Troparien (»Pentekostaria«) Biblische Oden mit Kanon Ps. 148/149/150 (»Ainoi« = »Laudes«, sonn- und festtags um Aposticha verlängert, - sonntags aus Ps. 9) mit Stichera rückwärts Gloria in excelsis, Kataxiöson, Kataphyge (aus Ps. 35, 40, 89 und 142), Trisagion, Troparien, verkürzte Ektenie, Litanei der Bitten, Schlußgebete; wochentags: Gloria in excelsis, Kataphyge, Kataxiöson, Litanei der Bitten, Aposticha (aus Ps. 89), Apolytikion/Theotokion, Ektenie, Schlußgebete.

Daß die heutige Anordnung nicht die einzige ist, zeigt etwa die Handschrift Sinai gr. 756, die (s. S. 10) die Ifypo-tin-sen-eusplanchnian-Gruppe in den Orthros setzt, und zwar an Stelle des Apolytikions, so wie es im heutigen Gebrauch in der Vesper der Wochentage der Quadragesima geschieht. In diesen hat Sinai gr. 756 wiederum gerade nicht das Hypo tin sen eusplanchnian, sondern das Theotokion des für die Woche gültigen Psalmtones. Daß das J!ypo tin sen eusplanchnian auch um die Jahrtausendwende noch als selbständiges Stück lebte - während es an anderer Stelle vielleicht durchaus schon zur gleichen Zeit als Troparion benutzt wurde -, zeigt auch die syrische Überlieferung des Textes. Igino CECCHETTI (1953, Sp. 1471) verweist für diese auf Paul Hrnoo (1943, S. 307, Anm. 1). Hindo bringt an dieser Stelle ohne Quellenangabe die Übersetzung eines syrischen Textes, die indessen zwar eine Umschreibung des J!ypo tin sen eusplanchnian ist, aber keineswegs die direkte Übersetzung dieses Stückes darstellt. Da nicht ersichtlich ist, ob Hindo paraphrasierte oder schon sein Original eine Erweiterung ist, zeigt es sich als notwendig, auf dieses zurückzugehen. Tatsächlich findet man im Missale von Sharfeh (1922, S. 273 und 278) zwei Mariengebete, von denen das zweite (S. 278) der von Hindo übersetzte Text ist. Es zeigt sich, daß Hindo wörtlich übersetzte und daß

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HEINRICH HUSMANN

das Gebet des Sharfenser Missale bereits eine Paraphrase ist und nicht die Übersetzung des griechischen Hymnus. Indessen gibt es auch das Hjpo tin sen eusplanchnian im Syrischen in genauer Übertragung, möglicherweise nicht in modernen Drucken, aber jedenfalls in älteren (und wohl auch heutigen) Handschriften, und es läßt sich sogar die Zeit seiner Einführung ins Syrische einigermaßen angeben. Ich stieß auf das syrische Original im Vat. syr. 325, wo es als Nr. 418 im Anhang der Ma'niata des Severus steht. Der Vat. syr. 325 ist, wie ich zeigen werde, eine Abschrift des Vat. syr. 94, und in diesem haben die beiden AssEMANI das Stück schon identifiziert und in ihrem Katalog der vatikanischen syrischen Handschriften (1758, I, 2, S. 509) den syrischen Text zugleich mit einer lateinischen Übersetzung abgedruckt. Der Vat. syr. 94 ist aber zwischen 1010 und 1033 geschrieben (ebd., S. 511), und man sieht, daß das Stück um die Jahrtausendwende schon ins Syrische übertragen war. Andererseits enthalten die ältesten Handschriften des Severianischen »Üktoechos«, BM add. 17134 aus dem 7. Jh. und add. 18816 aus dem 9. Jh., diesen Anhang noch nicht (s. die Ausgabe von E. W. BROOKS 1910/11), so daß man die syrische Übersetzung des Hjpo !in sen eusplanchnian ins 9./10. Jh. zu setzen versucht ist, zumindest ihre Aufnahme in liturgische Handschriften. In der Literatur findet sich demgegenüber die Angabe, daß Hypo tin sen eusplanchnian im »Üktoechos« des Severus von Antiochien steht. So liest man bei ALTANER (7/1966, S. 506; schon 1938, S. 329) folgenden Absatz in dem die Werke des Severus behandelnden Abschnitt:

»d) Liturgische Schriften. Der Oktoechos, das in der griechischen Kirche noch heute gebräuchliche Kirchengesangbuch, enthält zahlreiche Hymnen des Severus; ihm gehört das älteste, dem Morgen- und Abendland gemeinsame lvlariengebet Sub tuum praesidium. Auch eine Anaphora trägt seinen Namen.« Es ist aus dem sich ebenfalls auf Severus beziehenden letzten Satz deutlich, daß Sub tuum praesidium Severus zugeschrieben wird und aus dem Zusammenhang, daß es zu den Stücken des Severus gehört, die in der griechischen Oktoechos stehen (ich benutze »Üktoechos«, wie im Griechischen, weiblich, wenn das »Kirchengesangbuch« gemeint ist, aber männlich, wenn das System der acht Kirchentonarten damit bezeichnet werden soll, und ebenso, wenn das fälschlich so genannte Werk des Severus zur Sprache kommt, wegen der Irrigkeit der Bezeichnung dann in Gänsefüßchen). Daß das Stück auf Severus zurückgeht, ist schon deshalb unmöglich, weil es in dem über 100 Jahre älteren Papyrus (s. S. 9) steht, in dem es von Feuillen MERCENIER (1939) identifiziert wurde. Daß sich aber zahlreiche Hymnen des Severus in der griechischen Oktoechos finden sollen, ist eine gemilderte Form des - auch weiter verbreiteten (s. S. 53 f.) Irrtums, daß griechische Oktoechos und severianischer »Üktoechos« identisch seien.

Die syrische Übersetzung des Hjpo ten sen e11Splanchnian im späteren Anhang des Ma 'niataWerkes des Severus ist nun nicht mit einem vorangehenden Psalmvers, Doxa oder Kai tryn, verknüpft, - das Stück steht daher hier noch um die Jahrtausendwende in seiner ursprünglichen Form als reiner Hymnus. Während des Severus' Ma'niata mit vorangehenden Psalmversen verbunden sind, also griechischen Troparien entsprechen, enthält dieser Anhang (und ein im »Üktoechus« eingeschobener Teil von Phosphorika, Nr. 211 - 244 des Registers) nur reine Hymnen. Noch merkwürdiger ist, daß der Anhang, wie seine Überschrift besagt (s. St. u. J. AssEMANI 1758, I, 2, S. 509), Stücke bringt, deren Kirchenton nicht bekannt ist, - in den Handschriften vom 9. Jh. an sind

HYMNUS UND TROPARION

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den Stücken des »Üktoechos« stets die Angaben ihrer Kirchentöne am Rande beigefügt, die erste Handschrift mit Tonangaben ist der add. 14514, 9. Jh. (s. WRIGHT 1870, S. 341-343). Es ist merkwürdig, daß gerade Hypo tin sin eusplanchnian zu diesen Stücken gehört; denn die byzantinischen Handschriften bezeichnen es stets als im 1. Plagalton stehend. Da ins Syrische übernommene Hirmen und Kanontroparien auch die griechischen Tonartbezeichnungen mit übernehmen, darf man vielleicht vermuten, daß die syrische Übersetzung des Hypo tin sin eusplanchnian nach einer reinen Textvorlage angefertigt worden ist, oder aber, daß die griechische Melodie den Syrern so fremd vorkam, daß sie sie nicht in ihr eigenes Tonsystem einzuordnen wußten.

2. Die alten Hymnen von Komplet und Mesonyktikon a) Der Hymnus Hi elpis mo11 ho patir

Hypo tin sin e11splanchnian ist, wenn man den Text betrachtet, ein Gebet; denn der Text, sich an Maria wendend, drückt eine Bitte aus. Ich gebe hier die lateinische (römische) Fassung: »Sub tuum praesidium confugimus, sancta dei genitrix; nostras deprecationes ne despicias in necessitatibus, sed a periculis cunctis libera nos semper, virgo gloriosa et benedicta.«

Aber das Gebet ist als liturgisches Gebet gesungen worden und damit ein Hymnus geworden, ein »Gebetshymnus«. Nicht genug damit, es ist, mit weiteren Gebeten kombiniert und mit der Kleinen Doxologie verbunden, Glied einer Troparienreihe geworden. Mag es dem modernen Europäer noch so merkwürdig vorkommen, daß man Gebete singt, die orientalischen - syrischen - Liturgien singen noch heute sämtliche Gebete; das Lateinische hat seine Orationstöne und das Byzantinische singt in der Fastenzeit spezielle Gebete mit besonderer Festlichkeit. Was das Sub tuum praesidiun1 von diesen Gebeten aber prinzipiell unterscheidet, ist seine poetische Textstruktur. Es ist also von Anfang an als Hymnus konzipiert. So ist die Grenze zwischen Hymnus und Gebet (gr. euche) fließend. Tatsächlich kann man auch den umgekehrten Vorgang wie beim Hypo tin sin eusplanchnian verfolgen, die Rückentwicklung eines Hymnus mit Gebetstext zum gesprochenen Gebet. Der Hl. Auxentios, ein kleinasiatischer Eremit des 5. Jh., flocht in seine Predigten von ihm selbst gesungene und geschaffene »Troparien« (d. h. Hymnen) ein, wie uns seine Biographie berichtet. Wie S. PETRIDES (1904) feststellte, findet eines von ihnen, Elpis mo11 ho patir, noch heute als Hi elpis mou ho patir in der byzantinischen Liturgie Verwendung, und zwar in der Komplet (»Apodeipnon«) und im Mitternachtsgottesdienst (»Mesonyktikon«). Schlägt man das heutige Horologion auf, so stellt man mit Erstaunen fest, daß es dort aber weder als Troparion noch als Hymnus fungiert, sondern als e11chi bezeichnet wird, zudem einem anderen

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HEINRICH HusMANN

Autor, dem HI. Joannikios (9. Jh.), zugeschrieben wird. Noch erstaunlicher ist aber, daß der Text überhaupt kein Gebet ist, sondern eine trinitarische Doxologie. Ich gebe die Übersetzung: Meine Hoffnung der Vater, meine Zuflucht der Sohn, mein Schutz der Heilige Geist. Heilige Dreiheit, Ehre Dir. Die letzte Zeile fehlt in dem Manuskript des Leimon-Klosters zu Lesbos (11. Jh.), das Man. Gedeon veröffentlichte und in dem S. Petrides He elpis mou ho patir identifizierte.

Im Horologion steht He elpis mou ho pater nicht allein, sondern es folgt eine Strophe an die Gottesmutter, also ein Theotokion, Tin pasan elpida mo11, mit dem Wort elpida an das elpis von He elpis mou anknüpfend und in der Präzision der Formulierung ihm verwandt. Ich übersetze: Meine ganze Hoffnung setze ich auf Dich, Mutter Gottes; behüte mich unter Deinem Schutz. Auch in der Schlußzeile greift diese Strophe mit dem Wort skepe, »Schutz«, auf das gleiche Wort der Schlußzeile des 1. Liedes zurück. Dieses Theotokion ist nun wirklich ein Gebet, wie es auch Hypo tin sen eusplanchnian war. Geht man dem weiter nach, so findet man, daß sehr viele Theotokia zum Schluß in eine Bitte auslaufen und sehr viel mehr Lieder die Theotokos bitten als preisen. Tin pasan elpida mou ist ein sehr beliebtes Theotokion, das an vielen Stellen der byzantinischen Liturgie benutzt wird (s. E. FoLLIERI 1963, S. 83). So bildet es z.B. den Abschluß des Kleinen Bittkanons zur Theotokos. Im Gegensatz zur Verwendung als Gebet wie in Apodeipnon und Mesonyktikon wird das Stück hier aber gesungen, - es trägt eine Tonangabe: 2. Kirchenton. Ihm geht voraus ein ebenso kurzes Theotokion, und man wäre versucht anzunehmen, daß dieses die Melodie von Tin elpida mou benutzt, wie es in vielen anderen Fällen geschieht (vgl. E. FoLLIERI ebd.), wenn es nicht im 4. Plagalton stünde, wie die Überschrift angibt (falls sie richtig ist, - 2. und 4. Ton sind sehr verwandt). Den Anfang der Vierergruppe bilden zwei Stücke auf die Melodie Hole ek 1011 xy/011 se nekron, wieder im 2. Kirchenton. Alle vier Stücke sind als Troparia bezeichnet, aber Hole ek lou xy/011, dessen Melodie für sehr viele Kontrafakta benutzt wird (s. E. FoLLIERI 1962, S. 180/81; vgl. auch HusMANN 1972b), ist ein Sticheron, - über das Verhältnis Troparion-Sticheron handelt ein eigener Abschnitt (s. S. 70). Zum Überfluß fehlen Psalmverse und Doxologie, so daß nach der in der Einleitung gegebenen Definition diese Stücke weder Troparien noch Stichera, sondern

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Hymnen wären, aber auch solche jüngeren Stücke werden im Byzantinischen normalerweise als Troparien bezeichnet, was im folgenden noch öfter begegnet. Während im Kleinen Bittkanon die beiden Theotokia De.rpoina pro.rdexai und Ten pa.ran elpida mo11 auf zwei Troparien, also Gesangstücke, folgen, geht He elpi.r mo11 ho pater und Ten pa.ran elpida in Apodeipnon und Mesonyktikon ein Text J!yperendoxe, aeiparthene, eulogemene theotoke, also wieder ein Theotokion, voraus, und diese Dreiergruppe folgt auf ein (jeweils verschiedenes) langes Gebet, - beide Gebete an Christus gerichtet. J!yperendoxe aeiparthene bezeichnet sich selbst im Text als pro.reuche und ist bei E. Follieri nicht als »hymnus« belegt; aber man darf vermuten, daß es ebenso wie des HI. Auxentios He elpi.r n1011 einmal eine Melodie besessen hat. Dann entspricht die Dreiergruppe J!yperendoxe - He elpi.r mou - Tin pa.ran elpida mou der Vierergruppe Theotoke parthene / Bapti.rta - Hiketeu.rate - J!ypo ten .ren eu.rplanchnian, die auch am Anfang ein Theotokion hat. Sie entspricht ihr auch in der Funktion. Um das einzusehen, muß man wieder den Aufbauplan der Stunden betrachten, in denen die He-elpi.r-mou-Gruppe steht. Apodeipnon und Mesonyktikon sind aus mehreren Stunden zusammengesetzt, deren jede wie eine selbständige Stunde durch Deute pro.rk:Jne.rön1en eingeleitet wird. Das (Große) Apodeipnon ist dann folgendermaßen aufgebaut: I. Ps. 4, 6, 12; 24, 30, 90; Jes. 8/9 3 Troparien Hymnus He asömatos physis Credo, Litanei an Theotokos, Engel, Propheten usw. Troparien Nr. 1, 2, 3 »andere« Troparien Nr. 4, 5, 6, 7 Gebet Basilius' d. Gr. II. Ps. 50, 101, Gebet des Königs Manasse 3 Troparien Gebet III. Ps. 69, 142, Gloria in excelsis, Kataphyge, Kataxiöson Ps. 150 mit Refrain und 2 Troparien Gebet, Segen Gebete des HI. Ephräm, des Mönchs Paulus, des Mönchs Antonius He-elpis-mou-Gruppe Schlußgebete Das Gebet des Manasse steht in den alten Psalmenhandschriften unter den Kantika. Auch hier fungiert es als solches: es entspricht dem Jesaias-Kantikum der ersten Teilstunde.

Das Mesonyktikon besteht nur aus einer bzw. zwei Teilstunden. Es hat drei verschiedene Formen für Montag - Freitag, Sonnabend und Sonntag. Während das SonntagsMesonyktikon - aus nur einer Stunde - mit dem Dreieinigkeitskanon einen besonderen Aufbau zeigt, unterscheidet sich das aus zwei Teilstunden bestehende Sonnabends-Mesonyktikon von dem der Wochentage nur dadurch, daß an Stelle des Ps. 118, dem 17. der 20 byzantinischen Psalterabschnitte (»Kathismata«), die Psalmen 64-69, das 9. Kathisma, treten. Der Aufbau des Mesonyktikons für Montag-Freitag ist der folgende:

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I. Ps. 50 als Einleitungspsalm Ps. 118, Credo 3 Troparien Gebet, Segen, Gebete des HI. Ephräm und des HI. Mandarios Gebete Basilius' d. Gr. I und II II. Ps. 120, 133 4 Troparien Gebet Mne.rtheti

He-elpi.r-mou-Gruppe Schlußgebete Hier nimmt faktisch das Credo die Rolle eines Kantikums ein, wie es das Gloria in excelsis in der dritten Teilstunde des Apodeipnons tut.

Wie in der Vesper und in Handschriften im Orthros die Tropariengruppe mit dem Hypo ten sen eusplanchnian vor den Schlußgebeten das Entlassungstroparion (»Apolytikion«) mit seiner Troparienreihe darstellt, so die He-elpis-mou-Gruppe ebenso in Apodeipnon und Mesonyktikon. Das Apolytikion ist das für einen Tag oder ein Fest typische Troparion, Hypo ten sen e11splanchnian und He elpis mou dagegen sind also die für einen Stundengottesdienst charakteristischen Apolytikia, die nur verdrängt werden, wenn ein Fest stärker zum Ausdruck kommen soll. Als solche dürften sie einen wesentlich älteren Ursprung haben als jene, sind doch die Heiligenfeste erst später nach und nach entstanden. Betrachtet man den Zusammenhang, in dem die beiden Gruppen mit dem Vorangehenden stehen, so zeigt sich sofort der entscheidende Unterschied. Die Hypo-ten-seneusplanchnian-Gruppe schließt sich in der Vesper an das Kantikum des Symeon, im Orthros an die Stichera und Troparien des Ps. 89 (»Apostichä«) an, beide Male also an Gesangstücke; die He-elpis-mo11-Reihe dagegen folgt in Apodeipnon und Mesonyktikon beidemal auf ein langes, eindrucksvolles Gebet. Hinter Kantikum und Psalm hat die erstere Gruppe Doxa patri und Kai nyn angenommen, nach einem Gebet die zweite nicht. Trotzdem ist damit nicht gesagt, daß die zweite Gruppe deshalb auch zum gesprochenen Vortrag verdammt war; denn da die großen Schlußgebete gesungen wurden und im Apodeipnon der Fastenzeit auch heute noch sehr feierlich gesungen werden, hätten auch die auf sie folgenden Troparien durchaus ihren Gesangscharakter bewahren können. Es fällt auf, daß Hypo ten sen ettsplanchnian als letztes Troparion in seiner Gruppe steht, He elpis mou aber als vorletztes. Das entspricht ihrem Charakter; denn Hypo ten sen eusplanchnian ist ein Theotokion, He elpis mou mit seinem Doxa-soi-Schluß dagegen ein Doxastikon. Dementsprechend geht Hypo ten sen eusplanchnian das Kai nyn voraus, He elpis n1011 würde Doxa patri vorangehen, wenn es als Troparion und nicht als Gebet fungierte, und daß es vorher als Troparion benutzt wurde, zeigt sich eben noch deutlich in seinem Doxa-soi-Schluß; daß es aber ursprünglich Hymnus war, geht daraus hervor, daß der doxologische Schluß im Kodex des Leimon-Klosters noch fehlt. Diesem ursprünglichen Hymnuscharakter entsprechend tritt He elpis mo11 zudem noch in einer

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anderen Funktion, nämlich als Schlußgebet, auf. Es steht nicht nur im Horo/ogion, sondern auch, sowohl von S. Petrides wie von E. Follieri nicht entdeckt, im Triodion, und zwar ebenfalls am Schluß des Apodeipnons (am 1. Montag der Quadragesima für die ganze Quadragesima), aber mit einer leichten Abweichung sowohl im Text wie in der Anordnung. Hier steht es nicht vor den Schlußgebeten (s. das obige Schema), sondern erst nach dem letzten Gebet dieser mit dem Gebet Tois misousi kai adikousin hemas beginnenden Gruppe. Auf dieses folgt zuerst ein Gebet Panagia despoina theotoke apodiöxon, das sich im Horo/ogion nicht findet (ich benutze die Ausgabe Venedig 1851), und nun kommen Endoxe aeiparthene und He elpis 1J1ot1 ohne Ten pasan elpida. Die Anfangszeile hat die Variante He elpis 1J1ou ho theos, - dieses theos ist wohl die ursprüngliche Fassung, da es den Dreieinigkeitscharakter noch nicht so schematisch ausdrückt wie pater. Die trinitarische Schlußzeile aber ist keine Doxologie, sondern ebenfalls eine Bitte: »Heilige Dreiheit, errette mich«. Das zeigt wieder deutlich, auch wenn wir keine Kenntnis von der die Schlußzeile nicht aufweisenden Handschrift hätten, daß die Schlußzeile später angefügt wurde, und der Vergleich mit der Form »Ehre Dir«, daß diese Formulierung speziell der Stellung als Doxastikon (an zweiter Stelle einer Troparien-Dreiergruppe) angepaßt wurde, während die andere Form dem Bußcharakter der Fastenzeit entspricht. Daß das Schlußtheotokion fehlt, weist darauf hin, daß die vorliegende Zweiergruppe älter ist als die später obligatorische Dreiheit der Troparien. b) Die Hymnen des Er/angensis 1234 (olim 96) Im Jahre 1909 erschien eine Ausgabe der gleichzeitigen Hy11Jnen in der byzantinischen Liturgie, der ältesten christlichen Dichtungen in griechischer Sprache überhaupt (Hypo ten sen eusplanchnian und He elpis mou stellen ein noch älteres, noch nicht silbenzählendes Stadium dar), an der drei Gelehrte, Paul MAAS, Giuseppe Silvio MERCATI und Sofronio GAssrsr, zusammengearbeitet hatten. Paul Maas edierte und behandelte die sechs Abendhymnen der Handschrift 96 (jetzt 1234) der Universitätsbibliothek Erlangen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

He asömatos pbysis tön Cheroubim Deute pantes pistoi proskynesö11Jen ton despoten Deute proskynesö11Jen, de11te hiketet1söv1en Tes sarkos so11, Christe, 111ete/abo111en To11 staurou sou pagentos epi tes ges Dexai phönas ouranie, trisagie söter he!llön,

Gius. Silvio Mercati widmete sich dem Hymnus:

Hös enöpion, fi:yrie, tou phoberou, Sofronio Gassisi brachte drei Hymnen mit alphabetischem Akrostichon: 1. Achrante meter Christo11, tön orthodoxön 2. Anarchos theos katabebeken 3. Anka/izetai chersin ho presbytes Sy11Jeön,

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denen P. Maas noch einen weiteren hinzufügte: Archontes Ebraiön, Pharisaioi paranomoi. Seine sechs Abendhymnen veröffentlichte P. MAAS (1910) nochmals in handlicher Form, zusammen mit dem Gebet des Romanos: Deute pantes pistoi prosft:ynesömen ton sötera und vier ungleichzeitigen Hymnen: 1. Chara 111ega/e gegonen 2. Theou gegonen oikos 3. Tou deipnou sott tott 11rystiko11 4. Hoi ta Cheroubin1

Hös enöpio11, Achrante meter, Deute . . . ton sötera finden sich nicht in den liturgischen Büchern, Anarchos theos und Archon/es Ebraiön nur in Grottaferrata; Chara mega/e und Theou gegonen sind Inschriften; Tou deipnou sou ist der bekannte Abendmahlshymnus (auch »Troparion« - ohne Vers oder Doxa - am Gründonnerstag), dem K. LEVY (1963) eine eigene Studie gewidmet hat, Hoi ta Cheroubi111 ist das Cherubikon und Ankalizetai sind Verse zum Magnificat am 2. Februar (Mariae Lichtmeß), - das Interesse konzentriert sich hier daher auf die sechs Abendhymnen des Erlanger Manuskriptes. Die Hymnen in dieser Handschrift hatte schon Wilh. Meyer gefunden, der P. Maas auf sie aufmerksam machte. P. MAAS bezeichnete die Handschrift richtig als Horologion (1909, S. 310) und teilte mit, daß die sechs Hymnen »in der gleichen Reihenfolge, ohne Unterbrechung«, also als geschlossene Gruppe, »in der Liturgie des Apodeipnon der Fastenzeit« stehen, - letzteres nicht ganz genau, da das Große Apodeipnon nicht nur in der Fastenzeit, sondern auch bei einigen anderen Gelegenheiten, Vorfasten vor Weihnachten u.ä., gefeiert wird. Mercati hatte die Hymnen oder einzelne von ihnen in Handschriften der Biblioteca Vaticana festgestellt, Gassisi Nr. 6 in einer Handschrift von Grottaferrata; drei Hymnen stehen auch in einer Münchener Handschrift, und Nr. 1 steht normalerweise in jedem Horologion und ist noch heute in Gebrauch, s. das obige Schema des Apodeipnon, - sie ist bereits in einem Papyrus des 6. Jh. überliefert (MAAS 1908 - s. hierzu S. 9). Man könnte meinen, daß das Studium der ältesten Hymnen für die Musikwissenschaft ohne Belang sei, da uns ihre Melodien ja nicht mehr erhalten sind. Aber diese Hymnen stehen in einem liturgischen Zusammenhang, und da die ganze Liturgie von Musik so durchdrungen war, daß selbst Lesungen und Predigten gesungen wurden, können die ältesten Hymnen uns die Frage beantworten, wo die reine Musik im Gottesdienst stand; denn alle anderen Formen der liturgischen Musik - s. die Einleitung - schließen sich kommentierend an Psalmen, Kantika und Lesungen an. Durch diese jüngeren tropischen Formen sind die alten echten Hymnen fast ganz zurückgedrängt worden, auch von diesen sechs Hymnen lebt heute und lebte schon im Mittelalter mit Ausnahme weniger Kirchen nur noch einer, Nr. 1, He asömatos physis.

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Hypo tin sen eusplanchnian und He elpis 11Jou waren Hymnen am Schluß eines Gottesdienstes, - die Erlanger Abendhymnen aber stehen innerhalb eines Gottesdienstes und können uns daher ein neues, prinzipiell wichtiges Resultat liefern. In der Erlanger Handschrift, die, wie das Kolophon angibt, im Jahre 1025 geschrieben wurde, stehen die sechs Hymnen an derselben Stelle, wo heute nur ihr erster Hymnus He asö11Jatos physis übriggeblieben ist, - nach den drei gleich beginnenden Troparien Tin himeran dielthö11, Doxa - Tin bemera11 parelthön, Kai tryn - Tin himeran diabas. Aber das Apodeipnon besteht in dieser Handschrift - nach Art des Kleinen Apodeipnons - nur aus einer einzigen Stunde. Im einzelnen ist die Anordnung folgende: Ps. 4, 6, 12; 24, 26, 30, V. 2 - 6, 90, 120, ]es. 8/9 3 Troparien Hymnus Nr. 1, 2, 3, 4, 5, 6 Litanei Troparien r. 4, 5, 6, Oi111oi, Ho pota111os, Doxa Kai l!Jll - Se to aporthiton, Se dysopou111en, r. 7, Tin 111etera 1011 theou

Diese Anordnung gibt offensichtlich nur die Hauptstücke - Credo und Schlußgebete fehlen -, dagegen ist die Psalmgruppe am Anfang reicher besetzt. Dieselben Hymnen - ohne die fünfte, die durch eine Lücke in der Handschrift verloren gegangen ist - stehen auch in einer weiteren Handschrift (MAAS-MERCATI-GAssrsr 1909, S. 310), im Barb. gr. 307, einer späteren Handschrift (15. Jh.) der Biblioteca Vaticana. Die Reihenfolge ist aber verschieden: Nr. 1, 2, 6, 3, 4, [5], - so Maas. Nicht nur dies, sondern, womit sich die Herausgeber nicht befassen, die Anordnung der Stücke innerhalb des Gottesdienstes ist auch verschieden. Es folge daher das Schema des Aufbaus des Apodeipnons des Barb. gr. 307: Ps. 4, 6, 12; 24, 30, V. 2- 4, 120, V. 8, ]es. 8/9 3 Troparien Hymnus Nr. 1 Credo, Litanei Hymnus Nr. 2 und 6 Troparien Nr. 4*, 5, Despoina ab Mitte Quadragesima »die anderen Troparien«: Hymnus Nr. 3 und 4 Troparien r. 1, 2 [unvollständig] [Lücke] [Theotokion] Adiodeute pyle Gebet des Manasse Segen »Ende des Großen Apodeipnon«

Im Horologion Barb. gr. 307 sind die Stücke, einzeln oder zu zweien, gleichmäßig über das Apodeipnon verteilt. Da Troparion Nr. 2 am Seitenende f. 313v abbricht, ist möglicherweise Hymnus Nr. 5 in der Lücke verloren gegangen, ja man hat fast den

* Die Nummern beziehen sich hier und im folgenden Apodeipnons, s. das Schema auf S. 15.

auf die Troparien

r. 1-7 des heutigen

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Eindruck, als ob auch noch mehr Hymnen eingefügt gewesen wären. Jedenfalls zeigt sich, daß die beiden Tropariengruppen, die in völlig sinnloser Weise im heutigen Horologion (s. das Schema oben) nebeneinanderstehen, hier logisch auf je ein Hymnenpaar folgen. Will man eine Rekonstruktion versuchen, so ist es am folgerichtigsten, Hymnus Nr. 5 hinter die defekte Troparienreihe zu setzen, so daß immer Troparien mit Hymnen abwechseln. Das ergibt folgendes Schema: [!.] Ps. 4, 6, 12; 24, 30, V. 2-4, 120, V. 8, Jes. 8/9 3 Troparien Hymnus Nr.1 Credo, Litanei Hymnus Nr. 2 und 6 Troparien Nr. 4, 5, Despoina ab Mitte Quadragesima: Hymnus Nr. 3 und 4 Troparien Nr. 1, 2, [x] [Hymnus r. 5] [3 Troparien] [II. Ps. 50 usw.] [III. Ps. 50, Gloria in excelsis] [Troparion y, z,] Adiodeute Gebet des Manasse Segen

Da das Apodeipnon des Barb. gr. 307 wie alle folgenden Handschriften am Schluß das Gebet des Manasse enthält, ist nicht auszuschließen, daß es nur aus einer Stunde bestand, wie es beim Barb. gr. 321 der Fall ist (s. S. 21). Dann brauchte nur ein Blatt in der Handschrift zu fehlen, und man könnte so ergänzen: Troparien Nr. 1, 2, [Theotokion] [Hymnus Nr. 5] [Troparion x, y,] Adiode11te pyle

Drei weitere Handschriften bringen nur die Hymnen Nr. 1, 2 und 6. Die älteste von ihnen ist aus dem 13. Jh., München, Bayerische Staatsbibliothek, codex graecus 320. In diesem Horologion hat das Apodeipnon folgende Gestalt: I. Ps. 4, 6, 12; 24, 30, V. 1-6, 90; Jes. 8/9 3 Troparien Hymnus r. 1 Credo, Litanei Hymnus Nr. 2 und 6 Troparien Nr. 4, 5, 7 II. Ps. 50, [ ?], Gloria i11 excelsis ( !) Troparien des Tages; »andere«: Troparien Nr. 1, 2, Endoxe aeiparthene III. Ps. 50, Gloria in excelsis Troparien des Tages Gebet des Manasse Gebet Despota kyrie

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Mit der Münchener Handschrift ist der Pal. gr. 265 der Biblioteca Vaticana aus dem Jahre 1476 nahe verwandt, wie das folgende Aufbauschema zeigt: I. Ps. 4, 6, 12; 24, 30, 90; ]es. 8/9 3 Troparien Hymnus Nr. 1 Credo, Litanei Quadragesima: Hymnus Nr. 2 und 6 II. Ps. 50 3 Troparien je für Montag bis Freitag: Mo: Nr. 1, 2, Endoxe Di: ... Mi: Nr. 4, 5, 7 Do: Oimoi, Nr. 6, De.rpoina Fr: Ho potamo.r ... , .. „ ... III. Ps. 50, Gloria in excel.ri.r Troparien des Tages Gebet des Manasse Gebet Euchari.rtoumen

Die letzte der drei, nur die Hymnen 1, 2 und 6 überliefernden Handschriften, der Barb. gr. 321 aus dem 14./15. Jh„ gibt dem Apodeipnon die Überschrift Apodeipnon der Quadrage.rir11a (s. hierzu oben) und baut es wieder, wie wahrscheinlich der Erlanger Kodex, nur aus einer Stunde auf: Ps. 4, 6, 12, 24, 30, 90; Jes. 8/9 3 Troparien Hymnus r. 1 Credo, Litanei Hymnus Nr. 2 und 6 Troparien Nr. 4, 5, De.rpoina Troparien r. 1, 2, Adiodcute Gebet des Manasse

Die Handschriften scheiden sich also in zwei Gruppen: die erste, nur die Erlanger Handschrift enthaltend, fügt alle sechs Hymnen als geschlossene Gruppe in das Apodeipnon ein, die zweite Gruppe - alle anderen Handschriften - verteilt die Hymnen in kleineren Gruppen über die ganze Stunde, wobei immer Hymnen und Troparien abwechseln. Dabei folgt stets eine dreiteilige Tropariengruppe auf einen Hymnus bzw. eine Hymnengruppe, wenn man die erste Tropariengruppe (s. unten) als Abschluß der Psalmen- und Kantikumlesung auffaßt. Die in den Handschriften, außer Erlangensis 1234, folgenden Gruppen Hymnus (Hymnen) - Troparien sind dann dieser ersten Gruppe gleichgebaut. Entsprechend stehen alle Hymnen in der ersten Teilstunde des Apodeipnons, obwohl es ebenso möglich gewesen wäre, die Hymnen in der zweiten und dritten Teilstunde an die die beginnende Psalm-Kantikum-Gruppe beschließende Troparienkette anzufügen. Die Multiplikation der Troparien-Hymnen-Gruppe ist dabei komplizierter als das Verfahren, alle Hymnen an die eine Troparienkette anzugliedern. Jedenfalls ergibt sich im Apodeipnon die Struktureinheit:

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HEINRICH HUSMANN Psalmen/Kantikum-Troparien, Hymnus-Troparien,

wobei die zweite Hälfte - Hymnus-Troparien - bis zu viermal (wie im Kodex Barb. gr. 307) nacheinander auftreten kann. Da lateinisch canticum griechisch öde entspricht - ich spreche meist von den biblischen »Kantika« und reserviere »Ode« überwiegend für die neun Teile des Kanons - und die Troparien, wie gesagt, nur einen Tropus des Vorangehenden darstellen, erinnert die Folge: Psalmen, öde, Hymnen nur allzusehr an die beiden bekannten Paulusstellen - Epheser 5, V. 19 und Kolosser 3, V. 16 -, die gleichlautend von »Psalmen, Hymr:en und geistlichen Oden« sprechen, wobei man sich freilich möglicherweise unter den »geistlichen Oden«, vielleicht ebenfalls unter den »Psalmen«, Hymnen vorzustellen hat. Die Gruppierung des Apodeipnons - Psalm, Kantikum, Hymnus - ist dabei logischer als die der Paulusbriefe, da sie eine schrittweise Steigerung darstellt: das biblische Kantikum ist feierlicher als die Psalmlesung und der freimelodische Hymnus wieder musikalisch hochstehender als der durch rezitativische Formeln gebundene Psalmen- und Kantikumvortrag. c) Die Hymnen des Sinaiticus gr. 864 Die Handschrift Sinai gr. 864, vielleicht noch aus dem 9. Jh., ist nach dem Sinai gr. 863 (s. MATEOS 1964) das älteste Horologion, das uns erhalten geblieben ist. Der noch ältere Sinai gr. 863 scheidet für die vorliegenden Untersuchungen aus, da er vom Apodeipnon nur den Anfang enthält und das Mesonyktikon ganz verloren ist. Auch der Sinai gr. 864 ist sehr defekt: nach dem Rest einer Stunde (Ps. 83 und 114) folgt f. 2v die Non. Da sie nicht weniger als 19 Psalmen enthält, darf man in der Annahme, daß die andern Stunden ähnlich reich besetzt waren, vermuten, daß der ganze Psalter hier an einem einzigen Tag gelesen wurde. Auf f. 25 beginnt dann das Mesonyktikon; es hört f. 78v auf, möglicherweise unvollendet. Dann folgen Nachträge und f. 91 v beendet sie, wie so oft, die fromme Bitte des Schreibers für die Leser der Handschrift und ihn selbst. Der zweite Teil, f. 92 bis 116, enthält Kanones und Stichera ohne ersichtliche Ordnung. Der Sinai gr. 864 ist hier von fundamentalem Interesse, da er im Gegensatz zu den liturgischen Drucken und allen bisher bekannten Handschriften im Mesonyktikon Hymnen einschiebt, darunter Nr. 5 und 6 aus dem Erlangensis. Die übrigen Hymnen sind sämtlich, soweit ich sehe, noch unbekannt. Einige nur z. T. in Versmaß, andere in den von den Byzantinisten so gesuchten »gleichzeitigen« Maßen, sie verdienen die besondere Aufmerksamkeit der Byzantinistik. Ich kann diese Hymnen hier nur unter der vorliegenden Fragestellung, welchen Platz sie als freigeschaffene Musik in der Liturgie einnehmen, behandeln. Ich habe aber Herrn Professor Const. TRYPANIS, den Betreuer der Maasschen Romanosausgabe (MAAS/TRYPANIS 1963 und 1970) und Herausgeber der ältesten Kontakia (1968), auf die Hymnen aufmerksam gemacht, und er will sich ihrer annehmen.

HYMNUS UND TROPARION

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Der Inhalt dieses Teils der Handschrift ist folgender: f. 25 f. 32 f. 38

f. f. f. f.

40 41v 44 45v

f. 59v

f. 60

Kanön tön mesonyktikön, echos pl. 2., Heirmos: Boethos kai skepastis (Eustratiades Nr. 240), 1. Troparion: Akatalepte thee ou lrypodeixas. Heteros kanön, echos pl. 2, derselbe Heirmos, 1. Troparion: Polyelee Christe. Sticheron Panta haper enJarton (E. FOLLIERI 1962, s. 268) mit fünf (ungedruckten) Homoia zu Stichen aus Ps. 6 und einem aus Ps. 118 (V. 109), der mit einem anderen aus Ps. 6 aber gleich beginnt. Gebet des Hiskia (Jesaias 38, V. 9-20). Gebet des Manasse. Ps. 90. Alleluia - Bk nyktos orthrizei (aus Jes. 26), »Triadika«. Troparion Idou ho nymphios erchetai (E. FoLLIERI 1961, S. 173). Ps. 118. Kai-leg[ei]: Kath[isma] echos 2.: Exegeiron nJe k:Jrie mit Stichos Ps. 56, V. 2; f. 60: Kai doxazei kai !egei theotok[ion]: Epi soi gar, theotoke nJi paridis. Kai eithoutös legei: Es folgt der Hymnus mit alphabetischem Akrostichon aus gleichzeitigen Elfsilblern :

Ana111artite 111one demiourge apo pantön me 1ysai anomiön Basi!e11s gar lryparcheis kai anarchos usw. f. 62 f. 63v f. 65v f. 67

f. 67v f. 73 f. 73 f. 75v f. 77 f. 77v f. 79 - 91v

Arch[etai]: To11 stat1rot1 sou pagentos (Erlangen Nr. 5). Ti poiiseis mot1 otan melleis ekei, gleichzeiliger Hymnus aus Elfsilblern. Apothou psychi fflOtl /in ratlrymian sou, gleichzeiliger Hymnus aus Zwölfsilblern. Kath[isma] echos pl. 1.: Threneson psyche mou tis heautis rathymian (E. FoLLIERI 1961, S. 141); f. 67v Kai doxazeis kai leg[eis] theotokion hoion theleis. Doxa soi ho theos ... to panagion onoma mit Schluß Soi gar prepei, vgl. P. MAAS (1910) Nr. 2, 4, 5. Kath[isma] echos pl. 2.: Egregoreite logis!llö. Arch[etai]: Doxa soi ho theos ... Tin lampada ... mit Schluß Soi prepei. Th[eotokion]: Anymno11nta tin charin sot1, despoina, ein Hymnus (aus Elfsilblern ?). Dexai phönas ouranie ( = Erlangen Nr. 6). lleö sott OfflfJJati 1J1akrotlryme (Melodie: Tön agiön ho choros eure = Eulogetaria nekrosima des Orthros), = Troparion mit acht Homoia. Nachträge: Kanon parakletikos und Stichera parakletika.

Der Aufbau dieses Mesonyktikons ist so unregelmäßig, daß man fast geneigt ist zu glauben, daß die Handschrift fehlerhafte Veränderungen oder Umstellungen vorgenommen hat. Der Vergleich mit der vorangehenden Non, in der die Handschrift nur Psalmen und zwei Troparien notiert, zeigt, daß sie nur wesentliche Lesungen und

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HEINRICH HusMANN

Gesangstücke aufschreibt, Gebete und kleinere Formen wegläßt. Ebenso könnten hier zweite und dritte Teilstunde mit Absicht fehlen, - oder vielleicht überhaupt der Rest des Mesonyktikons verloren gegangen sein. Denn als erste Teilstunde des Mesonyktikons betrachtet, macht das Ganze eher einen geschlossenen Eindruck. Um das beurteilen zu können, muß man aber noch den Aufbau des abweichenden Sonntagsmesonyktikons (s. S. 15) betrachten, den ich im folgenden Schema veranschauliche: Ps. 50 Trinitätskanon des zuständigen Kirchentones Triadika Hypakoe Segen Entlassung Da oben auch Triadika erscheinen (aber wohl nicht die des heutigen Mesonyktikons, s. unten), handelt es sich im Sinai gr. 864 also um ein Sonntagsmesonyktikon. Dazu paßt weiter, daß dieses Mesonyktikon mit einem Kanon (und einem zweiten Kanon, vielleicht nur zur Auswahl) beginnt. Dann aber ist es komplett, da ja auch das heutige sonntägliche Mesonyktikon nur eine Stunde umfaßt. Um zu einer besseren Übersicht zu gelangen, gebe ich ein Kurzschema des Mesonyktikons des Sinai gr. 864 in derselben Art, wie ich es bisher schon für die übrigen Stundengottesdienste getan habe: (a.] 2 Kanones Verse aus Ps. 6 mit Stichera Gebet des Hiskia (]es. 38, V. 9-20) Gebet des Manasse (b.] Ps. 90 Verse aus Jes. 26 mit Alleluia Hymnoi triadikoi (3 Troparien), Troparion (c.] Ps. 118, Kathisma 4 Hymnen, Kathisma Hymnus, Kathisma Hymnus, [Hymnus:] Theotokion, Hymnus, 9 Troparien Ps. 118 steht heute in der ersten Teilstunde des Wochentagsmesonyktikons von Montag bis Freitag. Aber das ist nicht das, was hier als wesentlich in Frage kommt. Ps. 118 steht nämlich auch Samstag und Sonntag im Stundengebet, und zwar als letzter der Psalterabschnitte der fortlaufenden Psalterlesung des Orthros, - sonnabends liest man das 16. Kathisma (Ps. 109-117) und Ps. 118, das 17. Kathisma; sonntags erscheinen Kathisma 2 (Ps. 9-16), 3 (Ps. 17-23) und 17 (eben Ps. 118), - das 1. Kathisma (Ps. 1-8) wird schon Samstagabend vorher in der Vesper gelesen. Auf Ps. 118 folgen dann Troparien, die als Refrainvers Ps. 118, V. 12, besitzen (der auch im Kataxiöson vorkommt) und sich daher besonders eng dem Psalm anschließen. Nach dem Anfangswort Eulogetos des Refrains heißen sie Eulogetaria, - die nekrösima ( = für die Toten) am Samstag enthalten 8 Troparien, die anastasima ( = für die Auferstehung) am Sonntag 6 Troparien; dazu vergleiche man die Troparienhäufung im Apodeipnon des Erlangensis (s. S. 19).

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Andere Handschriften zerlegen den Ps. 118 entsprechend seiner Teilung in drei Staseis oder Antiphona in drei Teilstunden und lassen auf jedes Drittel drei Troparien und ein Gebet folgen, - so Sinai gr. 865 aus dem 12. Jh. Jeden der drei Teile leitet die Handschrift mit Deute proskynesömen ein. Die Troparien stehen auch z. B. in Sinai gr. 903 und 904.

Die Psalterlesung mit Ps. 118 und den Eulogetaria folgt im Orthros dem Theos kyrios, das bußtags durch Jes. 26 und die Triadikoi ersetzt wird, genau so, wie Ps. 118 hier im Sinai gr. 864 hinter Jes. 26 und den triadischen Hymnen steht. Man darf vermuten, daß die Jes. 26-Triadikoi-Gruppe das ursprüngliche Formular war, das später durch das Theos kyrios mit seinen Troparien ersetzt wurde und sich nur an den Wochentagen der Quadragesima und an Bußtagen außerhalb der Quadragesima erhielt. Die heutigen Kleinen Stunden können ebenso wie das moderne Mesonyktikon (s. S. 16) eine zweite Teilstunde anschließen, die dann »Mesorion« (»Mittelstunde«) heißt. Das Große Apodeipnon enthielte somit zwei solche Mesorien. Die Non des Sinai gr. 864 hat folgenden Aufbau: Ps. 83, 84, 85, 68, 112, 110, 120 [Schlußgebete u.ä.] Ps. 74, 29, 54, Doxa-Kai ny11 Ps. 5, 7, 40, Doxa-Kai nyn Ps. 31, 80, 81, Doxa-Kai nyn Ps. 93, 104, 56 2 Troparien

Da hier offenbar Gebete und Troparien fehlen, sind an die eigentliche Non sogar vier Mesorien gefügt. Nun hatte ich aber oben von Teilstunden verlangt, daß sie wie selb:;tändige Stunden mit Deute prosk:Jnisömen eingeleitet werden. Das ist bei der Non des Sinai gr. 864 nicht sicher, da diese Handschrift zwar all Derartiges wegläßt, so daß sie dort durchaus vorhanden gewesen sein könnten, aber es wäre auch möglich, daß sie gefehlt hätten. Nun ist aber Ps. 50, wie die Schemata des Apodeipnons in den verschiedenen italienischen Handschriften (s. S. 19 ff.) zeigen, ein typischer Einleitungspsalm, - er beginnt gleichfalls das moderne Mesonyktikon. Betrachtet man unter diesem Blickwinkel das Schema des heutigen Orthros (s. S. 11), so sieht man, daß auch er aus zwei Teilstunden besteht, von denen die zweite aber nicht durch Deute prosk:Jnisömen, sondern durch den 50. Psalm eingeleitet wird, - Teilstunden, denen das Deute proskynisömen fehlt, will ich mit kleinen arabischen Buchstaben bezeichnen. In der zweiten Teilstunde des Orthros steht dann der Kanon (nach dem einleitenden Ps. 50) ebenso am Anfang wie im Mesonyktikon des Sonntags und des Sinaiticus gr. 864. Ein Vergleich von Apodeipnon und Mesonyktikon, der hier nicht eingehender durchgeführt werden soll, zeigt, daß beide eine Reihe von Gebeten gemeinsam haben, ebenso das Credo. Das Mesonyktikon des Sinai gr. 864 weist zudem noch sehr viel weitergehende Gemeinsamkeiten auf, nicht nur mit dem Apodeipnon, sondern auch mit dem Orthros: Ps. 6 steht in der ersten Dreipsalmgruppe des Apodeipnons, Ps. 90 ist der letzte Psalm der zweiten Dreipsalmgruppe des Apodeipnons, und dort wie hier folgen Verse aus J esaias-Kantika; die J esaias-26-Verse mit dem Alleluia-Refrain und den

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Hymnoi triaclikoi aber finden sich ebenso im Orthros. Die Hymnoi triadikoi - ein griechischer Plural wie Troparia - bilden im Orthros dreigliedrige Troparienketten normalster Art mit Doxa bzw. Kai nyn dazwischen; sie folgen auf das Alleluia mit den Jesaias-26-Versen und werden nur mit ihm gesungen, wenn dieses an die Stelle des normalen Theos k:Jrios tritt, - in der Quadragesima und an Bußtagen außerhalb der Quadragesima. Nach den zwei Kanones folgen im Mesonyktikon des Sinai gr. 864 zwei Gruppen Psalm-Kantikum-Gebetskantikum (das Gebet des Manasse schon im Apodeipnon stets am Ende) und Psalm-Kantikum-Troparien. So darf man hier wohl auch zwei Teilstunden unterscheiden. Dann aber zeigt sich, daß die Sechs-Psalm-Reihe am Anfang des Apodeipnons, die Ps. 6 in der ersten Hälfte, Ps. 90 in der zweiten enthält, aus zwei Teilstunden mit je drei Psalmen kontaminiert ist. Dasselbe wird man dann von dem Sechserpsalm des Orthros annehmen müssen. In beiden Sechsergruppen werden beide Hälften jeweils durch Doxa - Kai nyn und Alleluia (dreimal) Doxa soi beschlossen und so bereits zu gleichberechtigten Einheiten gemacht, - ohne daß die zweite Hälfte eine eigene Einleitung in Form von Deute proskynesömen oder Ps. 50 erhält. Eine Besonderheit des Mesonyktikons des Sinai gr. 864 bildet das Kantikum Jesaias 38, das Gebet des Hiskia (gr. Ezechia). Der moderne griechische Orthros setzt den Kanon aus neun Oden zusammen. Diese stammen aus: Exodus 15, Deuteronomium 32, 1. Könige 2, Habakuk 3, Jesaias 26, Jonas 2, Daniel 3 I, Daniel 3 II und Lukas 1 (V. 46 ff. und V. 68 ff.). Dieser Neunodenreihe geht aber eine ältere Vierzehnodenreihe voraus, die bereits im Codex Alexandrinus des 5. Jh. steht (s. H. SCHNEIDER 1949, S. 52/53). Die Reihenfolge der 14 Oden (Kantika) in dieser Handschrift ist: Exodus 15, Deuteronomium 32, 1. Samuel 2 (Kantikum der Anna), Jesaias 26, Jonas 2, Habakuk 3, Jesaias 38 (Kantikum des Hiskia), Gebet des Manasse, Deuteronomium 3 (Kantikum des Azarias), Daniel 3, Lukas 1, V. 46 ff. (Magnificat), Lukas 2, V. 29 ff. (Kantikum des Simeon), Lukas 1, V. 68 ff. (Kantikum des Zacharias) und das Gloria in excelsis. Im byzantinischen Gottesdienst haben sich außer den neun Oden nur noch erhalten das Canticum Simeonis in der Vesper und das Gebet des Manasse im Apodeipnon. Das Mesonyktikon des Sinai gr. 864 hat mit dem Kantikum Jesaias 38 also ein weiteres Glied dieser alten Vierzehnodenreihe bewahrt. Im heutigen Gebrauch folgt dem Ps. 118 des Mesonyktikons gleich das Credo. Im Orthros dagegen, der zwei oder drei solcher Psalterabschnitte (»Kathismata«, s. S. 11) enthält, folgt auf jeden Teil eine Reihe von drei Troparien, die wiederum Kathisma heißt, - diesen Kathismata ist ein eigener Abschnitt gewidmet (s. S. 71). An Sonntagen steht nach Ps. 118 als 3. Abschnitt die erweiterte Reihe der Eulogetaria (s. S. 24 f. ). Im Mesonyktikon des Sinai gr. 864 folgt dem Ps. 118 ebenso ein Kathisma wie heute noch den Psalterkathismata (so will ich die Psalterabschnitte bezeichnen) des Orthros.

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Die Hymnen des Sinai gr. 864 sind in drei Gruppen geteilt, den beiden ersten folgt wieder ein Kathisma, der dritten eine Reihe von neun Troparien. Da Kathismata nichts anderes als Gruppen von drei Troparien sind, entspricht die Anordnung der Hymnen im Mesonyktikon des Sinaiticus graecus 864 also durchaus meiner Rekonstruktion des Apodeipnons des Barb. gr. 307, die ich noch einmal im Kurzschema hierher setze, die aber vier Hymnengruppen an Stelle der vorgenannten drei besitzt: [a.] Psalmen [b.] Psalmen, Jesaias, 3 Troparien [c.] Hymnus Nr. 1, Credo (statt 3 Troparien), Litanei Hymnus Nr. 2 und 6, 3 Troparien Hymnus Nr. 3 und 4, 3 Troparien [Hymnus Nr. 5], (3 Troparien] Die einzige Unregelmäßigkeit ist die, daß statt der Tropariengruppe nach dem ersten Hymnus das Credo eingesetzt ist - dies ist bekanntlich überall erst später geschehen-, so daß auch hier vielleicht ursprünglich drei Troparien gestanden haben. Möglicherweise sind ebenso drei Troparien nach der Litanei ausgefallen. Die Litanei ist in Ordnung, - meist auf die »Kleine Ektenie« zusammengeschrumpft, stehen nach Psalterkathismata heute noch Litaneien. Betrachtet man nunmehr nochmals den Erlangensis 1234 (s. S. 19), so fehlt dort das Credo, und die Litanei ist vorhanden, die Troparien folgen dann auf diese, - da es sich hier um den Schluß der ganzen Stunde handelt, ist die Zahl der Troparien erhöht; es sind verblüffenderweise genau neun wie am Ende des Mesonyktikons des Sinai gr. 864. Die Hymnen des Mesonyktikons stehen wie die des Apodeipnons also am Ende der Stunde oder, wenn Mesorien angefügt werden, am Ende des ersten Hauptteils, der dann die ursprüngliche Stunde repräsentiert. Im Gegensatz zu Vesper und Orthros, wo die alten, einstrophigen Hymnen sich in die Troparien-Dreiergruppe eingegliedert haben, bleiben in Apodeipnon und Mesonyktikon mehrstrophiger Hymnus und Troparien selbständig, und der Hymnus bzw. die Hymnengruppe wird durch die Tropariendreiheit beschlossen. Da auch die Psalm-Kantikum-Gruppe des Anfangs aller Stunden durch eine solche Trias beendet wird, sieht man deutlich, daß Psalm bzw. Kantikum und Hymnus gleich behandelt werden, obwohl der Hymnus Psalm und Kantikum gegenüber das musikalisch höhere Gebilde ist.

II. DAS TROPARION A. Die Handschriftentypcn 1. Das Tropologion

Die Bezeichnung »Tropologion« für eine Gattung liturgischer byzantinischer Handschriften war der älteren Forschergeneration des 19. Jh. seit PrrRA (1867 und 1876) geläufig. J. L. ]ACOBI sagt (1882, S. 182):

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))Dahin gehört T:{JO:no~, ursprünglich so viel als die tJJusikalische Weise; davon abgeleitet rgonagiov, Lied. Eine Sa111mlung kirchlicher Lieder heißt, wie Pitra ertJJittelt hat, T{Jo:noJ.6yiov.(( Ganz ähnlich drückt sich auch Wilh. MEYER (1886, S. 327) aus, wenn er das Tropologion mit folgenden Worten charakterisiert:

.»Pitra hat ein altes, doch schon frühzeitig wieder außer Gebrauch gekommenes liturgisches Buch, das T go:noJ.6yiov, eine Sammlung von Liedern, von denen sonst teils garnichts, teils nur einzelne Strophen erhalten sind, wieder gefunden.Menäen< entsprechen, enthält die unbeweglichen Feste vom Septer11ber bis August, ein anderes, das Triodion, 1vozu später noch das Pentekostarion kam, die beweglichen Feste.« Das ist eine präzisere, aber falsche Vorstellung; zwar hat PrTRAS Haupthandschrift, der Corsinius 366 (s. die Beschreibung 1876, S. 663-673), von späterer Bibliothekarshand auf dem Vorsatzblatt (ebd. S. 663) den Titel Menäu111 graecutJJ, aber die Handschrift ist, wie Jakobi und Meyer durchaus richtig sagen, eine »Liedsammlung«, nämlich ein Kontakarion, das dann KRUMBACHER selbst fortlaufend benutzte (s. z.B. 1909, S. VII, und viele andere Stellen in fast allen seinen Publikationen). Die Handschrift ist am Anfang defekt, aber auf f. 100 (s. PrTRA 1876, S. VII, XII und 669) steht eine Bemerkung, daß man »das andere Kontakion«, eis archin tropologio11, »am Anfang des Tropologions« suchen soll. PrTRA führt als zweite Quelle (S. VIII) zwei ähnliche Verweise aus dem Vat. gr. 771 an, - und dieser ist sogar ausgerechnet ein Triodion, wie aus Pitras Erwähnung des Großen Kanons des Hl. Andreas einwandfrei hervorgeht (s. auch LEVY 1963, S. 132, Anm. 22). Weiter hatten CHRIST/PARANIKAS (1871, S. LXX) schon den Wiener theol. gr. 146, eine Oktoechos, die sich ebenfalls »Tropologion« nennt (s. S. 31), mit Abdruck des vollen Titels der Handschrift als Beleg angeführt, und der Titel »Tropologion« des Parakletikons von Grottaferrata fand sich schon im Katalog von Roccm (1883, S. 372). So war damals schon die Verwendung des Titels »Tropologion« für ein Triodion, eine Oktoechos, ein Parakletikon und ein Kontakarion bekannt. Bei der eben erwähnten Handschrift aus Grottaferrata handelt es sich um den Kodex tiy XII aus dem Jahr 970, - ein Faksimile der das Kolophon enthaltenden Seite dieser Handschrift findet man jetzt als Tafel 711 bei K. und S. LAKE (1934 ff.). Der Verfasser des Grottaferrataer Handschriftenkataloges, A. Roccm (1883), äußert sich zu der Selbstbezeichnung der Handschrift folgendermaßen:

JJDeinde Tropologium, vocabufum novum, censeo, adhibet cafligraphus,forte pro :nagaxA'Y)nxov (paracletimm). Hoc atttem verbum innuit quod aliquem aliquid consolatur, T:l)o:noJ.6yiov vero indicat quod de moribus vel de ingenio ( a vocibus -rg6:no~ et J.6yo~ ) agitur. Quidquid porro consolat11r, ingeni11tJJ, mores, ani1m1m ajjicit, et quidquid de rebus consolatoriis nagaxA'Y)nxoi~ dicitur, idem de moribus ( -re6:not~) dicitur, sermo ( J.6yo~) instituitur.Tropen der Lateiner« (S. VIII). Die Bezeichnung »Tropologion« ist in der Wissenschaft nie heimisch geworden, z. B. führt sie E. WELLESZ in seiner Aufzählung der liturgischen Bücher und Handschriften (1949, S. 113 - 118 und 2/1961, S. 129-145) überhaupt nicht auf; lediglich erklärte sie STEFANOVIC (1965), und Chr. HANNICK (1969) brachte einige Belege für das Vorkommen des Terminus. Ich gehe wieder von den Sinai-Handschriften aus, die ich systematisch durchgesehen habe, da der Katalog GARDTHAUSENS (1886) und die Checklist K. W. CLARKS (1952) zwar einige Male den Titel »Tropologion« einer Handschrift anführen, aber nicht konsequent jedesmal. Ich habe »Tropologion« im Titel folgender Handschriften gefunden: Sinai gr. 556, 11. Jh.: Tropologion syn theö 111enos Septembriou. Sinai gr. 579, 11. Jh.: MEN SEPTEMBRIOS. Tropologion syn theö periech[ön] ta stich[era] kai kath[ismata] kai [tous] kanonas tön despotikön heortön kai tön [kathe]merinön hagiön. Für den Monat September enthält die Handschrift also die Stichera, die Kathismata und die Kanones für die Herrenfeste und für die Tagesheiligen. Sinai gr. 607, 9./10. Jh.: Tropologion syn theö menön dyön Martiou kai Apriliou. Sinai gr. 759, 11. Jh.: Tropologion syn theö archömenon apo tön baiön heös tön hagiön pantön. Dieses Tropologion beginnt also Palmsonntag und geht bis zum Sonntag Allerheiligen, der im Byzantinischen der Sonntag nach Pfingsten und der Abschluß des Pentekostarions ist, das von Ostern bis eben zu diesem Sonntag reicht. Den Tagen der Osterwoche ist der 1., 2., 3. und 4. authentische sowie der 1., 2. und 4. plagale Kirchenton zugeteilt, den folgenden sechs Sonntagen vor Pfingsten der 1. bis 4. authentische sowie der 1. und 2. plagale Kirchenton, Pfingsten der 3. plagale und dem Sonntag Allerheiligen der 4. Plagale. Das Pentekostarion umfaßt also die Osterwoche und die erste Periode der acht Kirchentöne. Für die weiteren Wochen werden die Gesangstücke dann der Oktoechos bzw. Parakletike entnommen.

Sinai gr. 777, 11. Jh.: Tropologion syn theö periechön kanonas parakletikous: asöt1Jatiko11s, katatryktikous, staurösi11Jous, apostoiiko11s, anapausimo11s kai tes theotoko11. Dieses Tropologion enthält also parakletische Kanones, d. h. Bittkanones, und zwar für die einzelnen Wochentage: die asomatischen für die »Körperlosen«, d. h. die Engel, deren man am Montag gedenkt, die katanyktischen, »büßenden«, für Dienstag, die staurosimen für die Kreuzverehrung am Mittwoch und Freitag, die für die Apostel am Donnerstag, die anapausima (für die »Ausruhenden«) oder nekrosima (für die Toten) für die Entschlafenen, für die man am Sonnabend betet, endlich die für die Gottesmutter, die man wieder Mittwoch und Freitag verehrt. Sinai gr. 784, 12. Jh.: Tropoiogio11 syn theö periechön stichera, kathis11Jata tön oktö echön kai kanonas homoiös. Das Tropologion Sinai gr. 784 enthält also Stichera, Kathismen und Kanones in den acht Tönen.

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Sinai gr. 789, 12. Jh.: Tropologion syn theö periechön ta stichera, kathismata kai kath' hekastin hemeran kanonas. Dieses Tropologion bringt also Stichera, Kathismen und Kanones für jeden Tag. Es ist immer gut, die Gegenprobe zu machen, in diesem Falle zu sehen, ob andere Handschriften gleichen Aufbaus nicht andere Titel tragen. Die ersten beiden Tropologien sind »Menäen«, d. h. Bücher, die meist einen, öfter auch zwei oder mehrere Monate umfassen und einen Tag um den anderen die festliegenden, unbeweglichen Feste enthalten, ähnlich dem lateinischen Proprium sanctorum. Sinai gr. 556 enthält September und Oktober, 579 September. Betrachtet man die anderen Septembermenäen, so schreibt Sinai gr. 552 nur Men Septembriott, ebenso 580, das September und Oktober enthält. Alle anderen, 551, 553, 554, 555, 562 und 638, sind am Anfang defekt. Ähnlich fällt das Ergebnis der Betrachtung der anderen Menäen aus: den meisten fehlen am Anfang ein oder mehrere Blätter, oft ganze Lagen. Wo ein Titel vorhanden ist - wenn nicht »Tropologion« -, steht nur einfach die Angabe des Monats. Die defekten Anfänge erklären, warum wir so wenige Titel, insbesondere solche mit dem Gattungsbegriff »Tropologion«, haben. Die einfache Angabe men oder meni führt zu menaion. Aber Menaion ist kein Substantiv, sondern ein Adjektiv: es ist eben »Tropologion« als Substantiv zu ergänzen. Die »Monatlichen« sind nicht »Monatliche«, sondern »monatliche Tropologien«. In der Gruppe der Triodien und Pentekostarien bezeichnet sich Sinai gr. 759, die Karwoche und die Osterzeit (diese stets bis zum Sonntag nach Pfingsten gerechnet) enthaltend, als Tropologion, - ebenso wie das Triodion Vat. gr. 771 (s. S. 28). Nur wenige Triodien sind am Anfang defekt; einige bringen im Titel nur die Zeit, die sie überstreichen; die übrigen - die meisten - bezeichnen sich mit Ausnahme von Sinai gr. 759 als Triödion. Aber auch Triödion ist ein substantiviertes Adjektiv, und es handelt sich also richtig um ein »dreiodiges Tropologion«. Die letzten drei Sinai-Tropologien haben folgenden Inhalt: Sinai gr. 777 Bittkanones für die Wochentage, 784 Stichera und Kathismen für Sonntag und Wochentage, weiter Stichera für die Toten, - da die Kanones im Titel (s. S. 29) genannt sind, ist wohl der zweite Teil der Handschrift verloren gegangen (unter den Kanoneshandschriften des Sinai paßt keine zu 784) -, 789 Stichera und Kathismen für Sonntag und Wochentage, sodann die Kanones für Sonntag und Wochentage. Heute bezeichnet man das Buch, das die Formulare der Sonntage des 1. bis 8. Kirchentones enthält, als »Oktoechos«. Der Titel etwa der Ausgabe Venedig 1852 lautet (übersetzt): »Oktoechos unsers bei den Heiligen Vaters Johannes des Damaszeners«. Das Buch, das die ganzen Wochen von Sonntag bis Samstag in den acht Tönen enthält, trägt in der Ausgabe Venedig 1850 den Titel (übersetzt): »Parakletike oder die Große Oktoechos«. Die Handschrift Sinai gr. 777 zeigt aber, daß es noch eine dritte Handschriftengattung gibt, diejenige nämlich, welche nur Wochentage enthält. Diese ist die wirkliche, eigentliche Parakletike; denn nur die Wochentage haben Bittcharakter, - der Sonntag ist als anastasimos dem Gedenken an die Auferstehung gewidmet. »Anastasimatarion« bezeichnet heute

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eine Oktoechos mit musikalischer Notation. »Oktoechos« dürfte ursprünglich nur den Handschriften zugekommen sein, die ausschließlich für den Sonntag bestimmte Stücke enthielten. Die Parakletike Sinai gr. 789 ist auch gar nicht nach den acht Tönen, sondern nach Gattungen - erst Stichera und Kathismata (nach acht Tönen), dann Kanones (nach acht Tönen) - geordnet, würde den Titel Oktoechos also nur sekundär verdienen. Um zu klaren Kennzeichnungen ohne Veränderung bestehender Definitionen zu kommen, bezeichne ich im folgenden Handschriften, die nur die Sonntage enthalten, als Oktoechos, Kleine Oktoechos oder Sonntagsoktoechos, Handschriften, die nur die Gesangstücke der Wochentage bringen, als K l e i n e P a r a k l e t i k e , Wo c h e n t a g s p a r a k 1e ti k e oder F e ri a l p a r a kletike, Handschriften, die den Sonntag und die Wochentage enthalten, als Parakletike, Große Parakletike oder Große Oktoechos. Die Handschrift Sinai gr. 789 ist dann also eine Große Oktoechos, Sinai gr. 784 die erste Hälfte einer Großen Oktoechos und Sinai gr. 777 die zweite Hälfte einer Kleinen Parakletike. Eine Parallele zum Kodex Sinaiticus gr. 777 ist die sich (s. S. 28) im Kolophon als Tropologion bezeichnende Handschrift Grottaferrata ßy XII des 10. Jh., nur 65 Blätter, die »katanyktische«, d. h. parakletische, Kanones enthalten. Eine Große Parakletike mit der Bezeichnung »Tropologion« ist die Handschrift Wien theol. gr. 146. Ihr Titel lautet: Tropologion itoi oktoechos periecho11sa ta te stichera kathismata ton okto echon, 10111 makarismo11s, ta heothina kai loipen pasan akolouthian vnethos psallomenen, und ihm entsprechend enthält sie, nach den acht Kirchentönen geordnet, innerhalb jedes Kirchentones in liturgischer Folge Stichera, Kathismata und Kanones. Dann folgen - wie oft - Ergänzungen, die Makarismen usw. Auf sie folgt hier - in Oktoechoi ganz ungewöhnlich, dagegen in Horologien sehr oft - eine Auswahl aus den Menäen.

Überblickt man die übrigen Sinaihandschriften dieser drei Handschriftengattungen, so nennen sie sich Oktoechos oder Parakletikon (!),was im nächsten Abschnitt genauer diskutiert wird. Jedenfalls bezeichnen sich also auch Oktoechoi und Parakletikai als Tropologien. Sogar eine Teilhandschrift wie Sinai gr. 777 mit nur Wochentagskanones nennt sich Tropologion. Menäen, Triodien und Pentekostarien, Oktoeche und Parakletiken sind also nur Untergliederungen der Gattung Tropologion. Die drei Untergruppen decken mit ihrem Inhalt gerade das ganze Kirchenjahr: die Menäen enthalten die unbeweglichen Feste, das Pentekostarion die Osterzeit, die Große Parakletike den auf diesen folgenden Zeitraum bis zur Fastenzeit, das Triodion die Fastenzeit, wenn man das Jahr der beweglichen Feste mit Ostern beginnt. Das Tropologion enthält alle diese Teile zugleich. Horologien ist manchmal ein »Menologion« beigegeben, das nur Apolytikien und Kontakien enthält. Hier läßt sich die Anordnung der Teile des Jahres der beweglichen Feste studieren: es fängt immer mit der Fastenzeit an. Die ideelle Anordnung des Tropologions dürfte dann dieselbe sein: Menäen, Triodion, Pentekostarion, Große Parakletike.

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2. Oktoechos und Parakletike Wenn die acht Kirchentonarten ganz allgemein das harmonische System einer liturgischen Musikkultur bilden, ist es stets, wenn man die Handschriftentypen betrachtet, eine wichtige Frage, wie weit sich dieses harmonische System im Aufbau der Handschriften ausdrückt und ihn beeinflußt. Im Lateinischen z. B. ist das nur in sehr geringem Maße der Fall, - wenn etwa im Anhang der modernen Antiphonarien die Formeln der antiphonalen Psalmodie nach Kirchentonarten geordnet vorkommen oder wenn in mittelalterlichen Handschriften die Venite exultemus in den acht Kirchentönen nacheinander erscheinen. Im Syrischen ist der Einfluß der Kirchentonarten schon sehr viel stärker. Hier gibt es einen Handschriften- bzw. Buchtyp, der die Mustertexte enthält, nach denen man die Melodien des musikalischen Repertoires auswendig lernt, den Beil Gazä (das »Schatzhaus«). Die erste Hälfte dieses Buches nehmen die Texte der Qale ein, - zu jedem Mustertext aber gehören acht Memoriertexte, da jeder Mustertext acht je nach den acht Kirchentönen verschiedene Melodien besitzt (manchmal sogar noch ein oder zwei zusätzliche für besondere Gelegenheiten); für jede Melodie benutzt man zumeist einen eigenen Memoriertext (s. HusMANN 1971a). Auch im zweiten Teil des Beit Gazä sind die meisten Musikgattungen nach Tonarten angeordnet, z. B. Ba 'oätä, Ququlia u. a„ aber z. B. die Madrasche nicht. Eine entscheidende Bedeutung besitzt diese Fragestellung vollends im Byzantinischen, wo eine ganze Handschriftengattung den Namen des Achttonsystems, Oktoechos (oder Oktaechos), trägt. Oktoechos und Parakletike (s. die Definition im vorigen Abschnitt) sind heute beide nach den acht Tonarten geordnet. Die klassischen Definitionen von CHRIST /P ARANIKAS (1871, S. LXX) lauten: »'Oxu.h nxoq sc. ßißfoq

nomen inde accepit, quod carmina secundum octo tonos (nxovq) musicae ecclesiasticae disposita continet;«

bzw.: »llagaxÄ'Y)rtxi} sc. ßiß!.oq et ipsa carmina secundum octo tonos digesta habet, sed praeter diei dominicae aliorum quoque dierum hebdomadis carmina continet.«

Innerhalb jedes Kirchentons geht es in zeitlicher Folge vom Samstagabend - der Sonntag beginnt ja am Samstag mit der Vesper und schließt schon am Sonntagnachmittag mit der Non, usf. - bis zum folgenden Samstagnachmittag. Auch innerhalb eines jeden Tages folgen sich Vesper, Kornplet, Mesonyktikon usf. in der zeitlichen Anordnung. Dem übergeordneten Prinzip der Tonart tritt also nur ein weiteres zur Untergliederung an die Seite, das der zeitlichen Aufeinanderfolge. Das ist in den Handschriften grundlegend anders, da hier, wie einige oben zitierte Titel bereits zeigen, die Musikgattungen, vor allem Stichera, Kathismata und Kanones, eine so ausschlaggebende Rolle spielen, daß sie im Titel zitiert werden. Das hat zur Folge, daß sich auch die Rangfolge der Prinzipien ändert. Hieraus resultiert eine ziemliche Gleichwertigkeit der Prinzipien, die eine Fülle verschiedenster Kombinationen entstehen läßt. Ich

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stütze mich wieder auf die Sinai-Handschriften und gebe kurze Inhaltsangaben der in Frage kommenden Kodizes, wobei ich mich auf die älteren Handschriften bis zum 12. Jh. einschließlich beschränke. Sinai gr. 776 - Sinai gr. 1593 - London add. 26113. Diese drei Handschriften, in einer herrlichen Unziale des 9. Jh. geschrieben, sind, wie man seit einiger Zeit weiß, Bruchstücke einer einzigen Handschrift, - man vgl. die (unvollständige) Literaturzusammenstellung bei Chr. HANNICK (1969), der in seiner Arbeit einen Teil der singulären Texte dieser Handschriftengruppe, nämlich die noch nicht edierten singulären Kanones, herausgibt. Zu ergänzen wären u. a. K. LEVY (1963) S. 172, Anm. 80, und STEFANOvrc/VELIMIRovrc (1966, im Abschnitt von D. Stefanovic) S. 72, Anm. 4.

Den Anfang der drei Handschriftenteile bildet Sinai gr. 1593. Das Fragment beginnt in den Kathismata apostolika des 3. Tones. Innerhalb der Kathismata ist die Reihenfolge: anastasima, katanyktika, staurosima, apostolika, martyrika, eis hosio11s, nekrosima, triadikoi, theotokia. f. 6 beginnen die Stichera des 3. Tones, - es sind anastasima (eis to Kyrie ekekraxa, tott sticho11, d. h. für die Aposticha der Vesper; eis tous ainous, tou sticho11, d. h. für die Aposticha des Orthros), katanyktika, staurosima, apostolika, martyrika, hierarchika, nekrosima, theotokia. f. 13 Kathismata Ton 4, f. 22 Stichera Ton 4, f. 34 Kathismata pl. 1, f. 41 Stichera pl. 1, f. 51 Kathismata pl. 2, f. 59 Stichera pl. 2, f. 68v Kathismata Barys, f. 76v Stichera Barys, f. 85 Kathismata pl. 4, bricht f. 97v in den Theotokia ab. Der London BM add. 26113 beginnt in der 5. Ode der Kanones des 2. Tones und läuft bis kurz vor das Ende des 3. Tones, Sinai gr. 776 schließt mit der 9. Ode direkt an und führt bis zum Ende des 4. Plagaltones. In diesem Teil der Handschrift stehen in jedem Ton jeweils die Makarismoi und zwei Kanones, der erste als anastasin1os bezeichnet, der zweite als koinos; dieser koinos beginnt als sta11roa11astasit11os, da die ersten beiden Troparia dem Kreuz, die nächsten beiden der Auferstehung gewidmet sind, und enthält darauf je zwei Troparien für die Apostel, die Märtyrer, Heilige/Hierarchen, Buße, Tote und zum Schluß eines für die Theotokos, was eben den Charakter des Kanons als koinos ( = lat. communis, vgl. »Commune« sanctorum) ausmacht. Die Handschrift hat viele falsche Vokalschreibungen, - hier schreibt sie kynor (in der itazistischen Aussprache mit koinor gleichlautend). Diesen Generaltitel hat Chr. HANNICK (1969) wohl nicht erkannt und deshalb überhaupt nicht erwähnt; aber auch die am Anfang jeder Tropariengruppe in der Handschrift am Rand stehenden Bestimmungen, an = anartarimon, po = aportolikon, mr = marryrikon, ro = horiour, ich = hierarchar, ka = katanyktikon, nek = nekrorimon und th = theotokion übergeht er, so daß der wirkliche Charakter dieser Kanones in seiner Ausgabe gar nicht zum Ausdruck kommt.

f. 47 folgen dann die »parakletischen Kanones der Theotokos« in den acht Tönen, f. 104 die acht Kanones für die Engel; ab f. 129 bis zum Schluß, f. 164v, stehen ganz unregelmäßig parakletische Kanones für Tote (Ton 1), Apostel (Ton 3), Theotokos (pl. 4), Nikolaus (Ton 4), Täufer (Ton 4), Alle Heiligen (pl. 4), Johannes den Täufer (pl. 4) und Kreuzerhöhung, worin die Handschrift abbricht.

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Der Sinai gr. 777 aus dem 11. Jh., der sich selbst (s. S. 29) als »Tropologion« bezeichnet, ordnet seinen Inhalt, nur die Kanones, nach Kirchentönen. Im 1. Ton enthält er: f. 1 Montag, Kanon der Engel, f. 3v Dienstag, Kanon katanyktikos, f. 7 Mittwoch, Kanon staurosimos, f. 10v »am selben Tag«, Kanon enkömiastikos ( = parakletikos) der Theotokos, f. 12v Donnerstag, Kanon der Apostel, f. 15 Freitag, Kanon staurosimos, f. 18v »am selben Tag« Kanon der Theotokos, f. 20v Sonnabend, Kanon für die Entschlafenen. Mit jeweils demselben Inhalt folgen dann die einzelnen Kirchentöne: f. 24 Ton 2, f. 45 Ton 3, f. 65 Ton 4, f. 85 pl. 1, f. 103 pl. 2, f. 123 Barys, f. 142 pl. 4. f. 155 kommt ein Kanon staurosimos für Freitag und f. 159 ein »anderer« Kanon für die Theotokos, der f. 160v in der 9. Ode abbricht. Die Handschrift Sinai gr. 778 aus dem 10./11. Jh. beginnt ihren 1. Abschnitt mit der Überschrift (übersetzt): »Anfang mit Gott der Stichera und Kathismata der acht Töne«. f. 1 beginnt mit Ton 1; er enthält Stichera anastasima (zu Kyrie ekekraxa, tou stichou, eis tous ainous, tou stichou), katanyktika, staurosima, apostolika, martyrika (zu Kyrie ekekraxa, tou stichou, eis tous ainous, tou stichou), nekrosima, theotokia, Kathismata anastasima, Hypakoe, Hymnoi triadikoi, Kathismata katanyktika, staurosima, apostolika, martyrika, nekrosima, theotokia. Es folgen f. 8 Ton 2, f. 15 Ton 3, f. 21 Ton 4, f. 27v pl. 1, f. 35v pl. 2, f. 41 v Barys und f. 47-54v pl. 4. Der auf f. 55 beginnende zweite Teil ist wieder nach den acht Tönen geordnet. Der 1. Ton enthält: die Anabathmoi (zu Troparion 1 und 2 je zwei Stichoi, vgl. dazu 0. STRUNK 1960), die Makarismoi, das Prokeimenon (das aber in anderen Tönen z. T. fehlt) und die Kanones von Sonntag bis Sonnabend. An jedem Tag stehen ein, zwei oder drei Kanones. An Tagen mit zwei oder drei Kanones stehen diese nicht nacheinander, sondern die Oden jeweils zusammen - am Anfang die 1. Ode des 1. Kanons, die 1. Ode des 2. Kanons, die 1. Ode des 3. Kanons; die 2. Ode fehlt normalerweise; die 3. Ode des 1., 2., 3. Kanons usf. -, so wie die heutigen Oktoechos und Parakletike ebenfalls verfahren. Solche Kanones will ich als »verschachtelt« oder »kontaminiert« bezeichnen. Die Handschrift nennt einen aus zwei Kanones kontaminierten Kanon einen kanön dieirmos, einen aus drei Kanones verschachtelten einen kanön trieirmos. Entsprechend kann man von »dihirmischen« und »trihirmischen« Kanones sprechen. Auch die Handschrift 1593-776-26113 (s. S. 33) setzt schon ihre jeweils zwei Kanones odenmäßig zusammen, während Sinai gr. 777 die geschlossenen Kanones aufeinander folgen läßt. Mit entsprechendem Inhalt folgen im Sinai gr. 778 dann f. 90v Ton 2, f. 130 Ton 3, f. 173 Ton 4, f. 215 pl. 1 - da das Repertoire der acht Kirchentöne ja die Wochen nach dem 1. Sonntag nach Pfingsten wochenweise bestimmt, zählt die Handschrift z. T. auch die Wochen bzw. die am Anfang stehenden Sonntage, schreibt hier z. B. nicht »pl. 1.«, sondern »5. Sonntag«, und ebenso verfahren andere Handschriften -, f. 253 pl. 2, f. 296 Barys, f. 336v-380v pl. 4. Dann folgen Ergänzungen bis zum Schluß auf f. 391v. Der Sinai gr. 779 aus dem 10. Jh. ist am Beginn falsch zusammengebunden. Der wirkliche Anfang der Handschrift ist das Blatt, f. 18, mit der Überschrift (übersetzt): »Mit Gott Stichera [und] Kathismata der Oktaechos«. Die richtige, weitere Reihenfolge

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der Blätter ist f. 12-17, dann f. 11, weiter f. 19ff„ - das Doppelblatt f. 11/18 ist also verkehrt gefaltet eingesetzt worden. Obwohl der Titel Stichera und Kathismata gemeinsam nennt, trennt die Handschrift diese und bringt zuerst die Stichera (f. 18 Ton 1, f. 13 Ton 2, f. 15 Ton 3, f. 17v Ton 4, f. 19v pl. 1, f. 22 pl. 2, f. 24 Barys, f. 26 pl. 4) und dann die Kathismata (f. 28v Ton 1, f. 30 Ton 2, f. 32 Ton 3, f. 33v Ton 4, f. 35v pl. 1, f. 37v pl. 2, f. 39 Barys, f. 40v pl. 4). Der Anfang der Handschrift f. 1-10 enthält die Makarismoi der acht Töne und ist - von anderer Hand geschrieben - der eigentlichen Handschrift später vorangesetzt worden, wobei innerhalb eines jeden Tones die Makarismoi von Sonntag bis Samstag stehen, während die Handschrift selbst (s. gleich) nur die Sonntagsmakarismen enthält. Innerhalb der Stichera stehen die anastasima (zu l(yrie ekekraxa, Stichos, Ainoi, Stichos), katanyktika, staurosima, apostolika, martyrika (wie anastasima), nekrosima und theotokia. Die Kathi.smata sind die anastasima, katanyktika, staurosima, apostolika, martyrika, anapausima ( = nekrosima) und theotokia. Die Kathismata anastasima tragen den Zusatz »zum Theos Kyrios« (vgl. S. 71 den Abschnitt über die Kathismata). Nach den Kathismata bringt die Handschrift f. 42v die »Hymnoi triadikoi der acht Töne«, f. 43 die »Exaposteilaria der acht Töne« und f. 44-46v die »Sonntäglichen Auferstehungsmakarismen der acht Töne«. Da es in diesen drei Gruppen immer tön oktö echön, »der acht Töne«, heißt, könnte man erwägen, ob dies auch im Anfangstitel der Handschrift so gemeint ist. Dann würde tis oktaicho11 (s. oben) nicht das Buch, also »die Oktoechos«, bedeuten, sondern das System der acht Kirchentonarten, also »den Oktoechos«. Aber die Handschrift Sinai gr. 795 (s. S. 40) nennt sich: »Oktoechos mit ihrer ganzen Ordnung«; entsprechend hier also nur die Stichera und Kathismata der Oktoechos, - genau so wie Sinai gr. 793 »Kanones des Parakletikons« enthält. Auf f. 47 beginnt der zweite Teil der Handschrift mit den Kanones, - leider ist der für die Überschrift und ihre Ausschmückung bestimmte freie Platz leergeblieben. Die acht Kirchentöne beginnen f. 47, f. 79v, f. 112, f. 143, f. 172v, f. 198, f. 227v und f. 254, ein im Hauptteil vergessener Kanon zum Dienstag des pl. 4 folgt f. 285v-286v. Innerhalb eines jeden Tones erscheinen die Kanones von Sonntag bis Sonnabend, wobei innerhalb eines Tages die geschlossenen Kanones aufeinanderfolgen. Der Schluß der Handschrift enthält ab f. 287v bis 294v verschiedenerlei Nachträge. Der Sinai gr. 780, 10./11. Jh„ bringt in seinem ersten Teil innerhalb eines jeden der acht Töne (Beginn f. 1, 6v, 10v, 15, 20, 24v, 29v, 33v) erst die Stichera (Inhalt wie Sinai gr. 779), dann die Kathismata, wobei hinter den anastasima die triadischen Hymnen eingeschoben sind wie im Sinai gr. 778. Der zweite Teil enthält in jedem der acht Töne (Beginn f. 40v, 58v, 76, 93v, 111, 127, 146v, 165v, Schluß f. 185v) zuerst den Kanon stauroanastasimos und die Makarismen des Sonntags, dann die parakletischen Kanones der Wochentage, im 1. Ton z.B. je einen Kanon für die Engel, katanyktisch, Johannes, Theotokos, Apostel, Kreuz und Tote. Besonders auffällig ist, daß der Hauptkanon des Sonntags, der anastasimos, hier als »stauroanastasimos« bezeichnet wird, offenbar nur ein Versehen. Die Nachträge ab f. 186 brechen f. 188v schon ab.

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Die Kodizes Sinai gr. 781 (Gardthausen: 11. Jh.) und 782 (Gardthausen: 10./11. Jh.) sind Teile einer Handschrift, noch dazu stark verbunden. Der Anfang der Gesamthandschrift ist verloren, 782 setzt im Donnerstag des 1. Kirchentones ein, der bis f. 20v läuft, worauf 781, f. 1-4, folgt. Im Sinai gr. 781 steht der 2. Ton f. 5-87v, der 3. Ton f. 88, der 4. Ton f. 160; f. 237-242 enthalten Nachträge, - die Handschrift bestand also wohl ursprünglich aus zwei Halbbänden, deren erster die vier authentischen, deren zweiter die vier plagalen Tonarten enthielt. Beim Neubinden der Handschrift geriet dann der defekte Anfang der ersten Hälfte versehentlich an den Beginn der am Anfang defekten zweiten Hälfte. Da am Beginn der zweiten Hälfte pl. 1 fehlt, scheint es fast, als ob der Buchbinder den 1. Ton mit dem 1. Plagalen verwechselte. Während vom Anfang des ersten Teiles wenigstens ein Rest des Donnerstags, der Freitag und der Sonnabend des 1. Tones erhalten blieben, fehlt am Anfang des zweiten Teiles der 1. Plagale bis auf die zwei Blätter des Sinai gr. 782, f. 21 und 22, ganz, f. 23 und 24 kann ich im Moment nicht identifizieren, 782, f. 25, beginnt dann der 2. Plagale, f. 102 der Barys, f. 174 der 4. Plagale, der vorzeitig f. 253v abbricht. Die Doppelhandschrift Sinai gr. 781/782 ordnet also ihren gesamten Inhalt nach den acht Kirchentönen an. Innerhalb der Kirchentöne geht es vom Samstagabend die ganze Woche durch zur abschließenden Sonnabendliturgie, - die Handschrift 781/782 zeigt damit die Anordnung der modernen Großen Parakletike. Freilich fehlt öfter etwas, was später eingeschoben oder nachgetragen wurde, so daß die moderne Präzision noch nicht überall ganz erreicht ist. Als Beispiel des Inhalts der Handschrift nenne ich die Stücke des Sonntags des 2. Tones, Sinai gr. 781, f. 5-25. Dieser Sonntag enthält zur Vesper des vorangehenden Sonnabends die Stichera anastasima zum Kyrie ekekraxa, die Stichera anatolika ebendazu, die hier jetzt zum ersten Male erscheinen, die Aposticha; zum Orthros des Sonntagmorgens, die Kathismata anastasima, den Kanon anastasimos mit den Anabathmoi nach der 6.( 1) Ode, Stichera anastasima und anatolika zu den Ainoi, Theotokion anastasimon zum Gloria in excelsis, Apolytikion, erst jetzt den Kanon [stauro-]anastasimos und den Kanon für die Theotokos nacheinander, die beide in der modernen Parakletike mit dem ersten Kanon anastasimos odenweise kontaminiert sind; zum Sonntagabend die Stichera katanyktika, die Prosomoia für die Theotokos, die im Orthros versehentlich ausgelassenen Hymnoi triadikoi, die Kathismata katanyktika und die Kathismata der Engel; endlich den Kanon triadikos für das Mesonyktikon, der oben zwischen Vesper und Orthros gehört. Etwas Bemerkenswertes bietet jeweils der Sonnabendorthros, der einen Kanon koinos enthält: die fünf Troparien jeder Ode sind der Reihe nach den Märtyrern, den Hierarchen, den Heiligen, den Toten und der Theotokos gewidmet. Diese Commune-Kanones stehen noch heute in der Paraklctike. Der letzte - für den 4. Plagalton - gibt in seinem Akrostichon Tes octaechon tes neas theion telos ponoi de Jöseph den Titel des Buches als »neue Oktaechos« und den Autor Joseph an. Der Titel >Oktaechos< ist damit bereits für das 9. Jh. sicher belegt und das vorangehende »alte« Buch hieß gewiß auch schon »Oktaechos«.

Der Sinai gr. 783, 11. Jh., enthält nur parakletische Kanones, die er nach den acht Tönen ordnet (1. Blatt fehlt, Beginn 2. Ton f. 33v, 3. Ton f. 63v, 4. Ton f. 95v, 1. Pl. f. 127, 2. Pl. f. lSOv, Barys f. 178, 4. Pl. f. 198v, Schluß f. 223v, Nachtrag f. 224 bricht ab), von denen jeder die Kanones von Montag bis Samstag enthält, der Kanon der Samstage wieder den Kanon koinos der Handschrift Sinai gr. 781/782.

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Von der sich »Tropologion« nennenden Handschrift Sinai gr. 784, 12. Jh., ist (s. S. 29) nur der erste Teil mit den Stichera und Kathismata erhalten. Dieser Teil ist für sich nach den acht Tönen angeordnet, Beginn jeweils f. 1, f. 8, f. 17, f. 27, f. 37v, f. 48, f. 57 und f. 65v. Es folgen als Anhang f. 77-82 Stichera in den acht Tönen für die Toten. In jedem Ton folgen auf die Stichera die Kathismata, die wie im Sinai gr. 778 nach den Kathismata anastasima Hypakoe und Hymnoi triadikoi enthalten. Der Sinai gr. 785, 12. Jh., bringt im ersten Teil parakletische Stichera für die Vesper von Samstagabend bis Freitagabend in den acht Tönen (vom 1. Ton fehlt das erste Blatt, Beginn 2. Ton usf. auf f. 4v, 10v, 15v, 21v, 29, 35 und 39v); f. 45v folgen die Kanones für den Täufer in den acht Tönen, f. 69 ein Kanon auf Petros und einige Stichera; f. 71v steht das Kolophon des Schreibers Nikolaus, das besonders interessant ist, weil es einen neuen Buchnamen bringt: »Gedenke, Herr, Deines demütigen, sündigen und unwürdigen Dieners Nikolaus, der mit Sehnsucht und Fleiß dies heilige Katanyktikon schrieb«. »Katanyktikon« ist also ein anderer Titel, der hier gleichbedeutend mit »Parakletike« benutzt wird. Die Stichera dieses ersten Teils sind gewidmet am Abend von Samstag der Theotokos, Sonntag den Engeln, Montag dem Täufer, Dienstag Nikolaus, Mittwoch den Aposteln, Donnerstag dem Kreuz, Freitag den Toten. Der zweite, f. 72 beginnende Teil enthält, wie der Titel angibt, parakletische Kanones für die Theotokos »nach den acht Tönen«, in jedem Ton (Beginn jeweils f. 72, 90, 109, 128, 147, 164, 182 und 201, Schluß f. 223; unvollständiger Nachtrag auf f. 223v), für jeden Tag, von Sonntag bis Sonnabend einen Kanon. Hier stehen also Marienkanones für jeden Tag der Woche, während die Parakletike solche nur am Mittwoch und Freitag hat. Es ist bemerkenswert, daß sich unter den süditalienischen Handschriften auch ein Buch findet, ebenso für jeden Tag mit Mariengottesdiensten, das »Parakletikon«, - 1738 als Teil der Ausgabe erschienen, die die gesamte Liturgie von Grottaferrata enthält, gedruckt nach der Handschrift C 15 = ßy XXXVI des 13. Jh., wie ein Vergleich ergibt. Dieses Neutrum »Parakletikon«, leicht mit »Parakletike« zu verwechseln, kann seine Berechtigung also aus dem »Katanyktikon« des Sinai gr. 785 herleiten. Freilich sind im süditalienischen Parakletikon auch alle Stichera der Theotokos gewidmet, was im 785 nicht der Fall ist. Der Sinai gr. 787, 12./13. Jh., hat eine noch andere Anordnung. Er gliedert, ebenso wie die heutige Parakletike, seinen gesamten Inhalt nach den acht Kirchentönen (Anfang fehlt; Beginn im Montag des 2. Tones; Anfänge 3. Ton f. 18, 4. Ton f. 42, 1. Pl. f. 67, 2. Pl. f. 96, Barys f. 115, 4. Pl. f. 140-167v; f. 167v Nachtrag, f. 168/168v Schriftproben); aber innerhalb eines jeden Kirchentones geschieht die Untergliederung nach Gattungen in der Reihenfolge Stichera-Kathismata-Kanones. Als Beispiel folge der Inhalt des 3. Tones: Stichera anastasima usw. wie Sinai gr. 778; dann f. 19v »andere Stichera anatolika zu singen an Stelle des Menaions«, sonst als »prosomoia« bezeichnet, sonntags für die Theotokos, montags für die Engel usf., jeweils drei Stichera; f. 21 Kathismata anastasima eis to Theos l?Jrios wie Sinai gr. 779, Hymnoi triadikoi, Kathismata katanyktika usw.; f. 22: je zwei Kanones nacheinander für Sonntag (anastasimos

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und für die Theotokos), Montag katanyktikos und für die Engel, Dienstag katanyktikos und für den Täufer, Mittwoch staurosimos und für die Theotokos, Donnerstag für die Apostel und für den Hl. Nikolaus, Freitag staurosimos und für die Theotokos, Samstag für Propheten, Märtyrer und die Toten. Das ist die Anordnung der Kanones, wie sie auch die moderne Parakletike zeigt (die am Sonntag noch einen 3. Kanon besitzt, den Stauroanastasimos). Als Ergänzung folgen nun f. 169-178v die vier Stichera ta ogdoekonta (»die 80«) oder - bei Ton 2 bis 7 - anatolika zum Kyrie ekekraxa, drei alphabetika zu den Aposticha (die Handschrift sagt: »zum Kataxiöson«) mit einem, nicht in das alphabetische Akrostichon einbezogenen Theotokion (die Theotokia der sieben ersten Töne und die Zeilen des achten für sich ergeben das Akrostichon löannou - Amen, s. L. TARDO 1955, S. XII-XIII; vgl. auch STRUNK 1967), vier anato/ika zu den Ainoi und drei anato/ika (so nur im 1. Ton) zum Sonntagabend. Zum Schluß nennt sich der Schreiber (f. 178v): ieromonachos Iöseph; von f. 179-184v folgen Nachträge. Der Sinai gr. 789 ,12. Jh., nennt sich wieder »Tropologion« (s. S. 30) und enthält in seinem ersten Teil jeweils Stichera (anastasima usw. wie 778) und Kathismata (anastasima »zum Theos kyrios«, Hymnoi triadikoi, usw.) in den acht Tönen (nach einem vorangesetzten Quaternio Ton 1 f. 9, Ton 2 f. 14v, Ton 3 f. 20, Ton 4 f. 25, pl. 1 f. 30v, pl. 2 f. 35v, Barys f. 40 und pl. 4 f. 44v), im zweiten Teil Kanones der einfacheren Serie (Sonntag anastasimos und für Theotokos, Montag Engel, Dienstag Täufer, Mittwoch Theotokos, Donnerstag parakletikos, Freitag staurosimos, Samstag für die Toten) in den acht Tönen (Beginn f. 50, 67, 85, 103, 119v, 134v, 151 und 166v, Schluß f. 183v). Hinter Nachträgen ab f. 184 folgt f. 190-210v die Vita des Hl. Dimitrianos, des Bischofs von Chytri (Zypern), woraus man vielleicht entnehmen darf, daß die Handschrift in Zypern geschrieben wurde, - auch andere Handschriften des Sinai stammen aus Zypern, wie der Sinai gr. 813, 1507 und 1510, die in Nikosia entstanden. Der Sinai gr. 790, 11. Jh., ordnet bereits die Anatolika in den Hauptteil ein, wie schon der Sinai gr. 781/782, gleichfalls aus dem 11. Jh., ebenso die Stichera alphabetika, die er mit poiema lö[annou] [mon]ach[ou] Johannes Damaszenus zuteilt (vgl. TARDO 1955, S. XXI; STRUNK 1967). Die Kathismata anastasima eis to Theos ~rios, Hymnoi triadikoi, Kathismata katanyktika usf. folgen stets sofort auf die Stichera. Die Kirchentöne dieses ersten Teils der Handschrift beginnen Ton 1 f. 2, Ton 2 f. 17, Ton 3 f. 32, Ton 4 f. 46, pl. lf. 61v, pl. 2 f. 77, Barys f. 90, pl. 4 f. 100v bis Schluß f. 117. Der zweite Teil mit den Kanones beginnt f. 118 (1. Ton f. 118, 2. Ton f. 149v, 3. Ton die Handschrift: »3. Sonntag« und ähnlich öfter wie schon Sinai gr. 778 - f. 176v, 4. Ton f. 203, 1. Pl. f. 231, 2. Pl. f. 255v, Barys f. 283, 4. Pl. f. 310, Schluß f. 343v). Dann folgen Nachträge bis zum Schlußblatt f. 347. Im 1. Ton stehen folgende Kanones: Sonntag: anastasimos, stauroanastasimos, für die Theotokos (wieder Johannes Damaszenus zugeschrieben), Montag Engel, Dienstag Täufer, Mittwoch Theotokos, Donnerstag Apostel, Freitag Kreuz, Samstag Tote. Die Handschrift Sinai gr. 791 aus dem 12. Jh. ist zwar nur ein Fragment von 88 Blättern, aber sie ist aus dem Grunde interessant, als sie eine noch wieder andere Ordnung zum

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Grundprinzip erhebt. Sie enthält nur Kanones, und diese sind nach den Wochentagen geordnet, innerhalb eines jeden Wochentages aber stehen acht Kanones in den acht Kirchentönen. Die Handschrift setzt erst im Donnerstag ein und auch hier erst in der 8. Ode des 4. Tones. Es folgen dann f. 1v der 1. Pl., f. 4v der 2. Pl., f. 7v Barys und f. 10v der 4. Pl. Sodann kommen f. 14, ebenfalls für Donnerstag, die Kanones für den Hl. Nikolaus mit der Zuweisung an »Joseph«, das ist Joseph von Thessalonike, gestorben 832, Bruder des berühmten Abtes des Studios-Klosters in Konstantinopel, Theodor Studites, gestorben 826. Sodann erscheinen für Freitag f. 40 die acht Kanones staurosimoi und f. 61 die acht parakletischen Kanones für die Theotokos. Der Samstag beginnt f. 81 mit den Kanones für die Toten, aber im Kanon des 3. Tones bricht die Handschrift mit f. 88v ab. Ob die ursprüngliche Handschrift nur Kanones enthalten hat oder ob dieses Fragment von Kanones aus dem zweiten Teil einer Handschrift stammt, deren erster Teil Stichera und Kathismata enthielt, läßt sich naturgemäß nicht sagen. Was das Ordnungsprinzip diesesKanonteils betrifft, so ist es das dem dichterischen Standpunkt angemessenste: der damalige Komponist schuf für eine bestimmte liturgische Gelegenheit stets acht Stücke in den acht Kirchentonarten: Stichera anastasima für das Kyrie ekekraxa, Stichera anatolika für die Ainoi, die Stichera alphabetika für die Aposticha usf. Dabei verbindet oft ein Akrostichon die Strophen durch alle acht Töne hindurch, z. B. das Alphabet mit seinen 24 Buchstaben die alphabetischen Stichera (s. oben). Die Kanones haben dagegen nur jeder für sich ein Akrostichon, das häufig die Nummer des Kirchentones angibt, zu dem sie gehören. So hat der obige Nikolauskanon des 1. Tones (ohne die Hirmen) folgende Anfangsbuchstaben in den je vier Strophen seiner acht Oden: SOIN AEPR OTON EISPh EPOM ELOS EGOI OSEPh. Darin hat man NAE als die paläographische Abkürzung von Ntx6J..ac aufzufassen und es ergibt sich: Soi, N[ikol]ae,pröton eispherö (lange und kurze Vokale dürfen füreinander eintreten) egö Jöseph, übersetzt: »Dir, Nikolaus, überbringe (oder »entrichte«) ich, Joseph, das erste (sc.ynmon, >LiedWagner ist doch der Obergott, wenn er seinen Anbetern vielleicht auch mehr Furcht, oder 111enn Sie wollen, Ehrfurcht als Liebe einflößt« (1903, S. 104). Im Vergleich zu Wagner wirkte der zeitlich ferner stehende Beethoven auf ihn - zumindest zeitweise - geradezu befreiend: )>Nach der berauschenden Narkose Wagner' scher Kunst diinkt mich Beethoven'sche Musik wie Himmelsäther 11nd Waldesluft. Jene benimmt mir den Atem und schmettert mich z11 Boden, diese aber eriveitert die Lungen 1md befreit den Geist, und macht einen förmlich zum guten Menschen, wie die Wagner'sche Kunst in ihrer Ueberfiille einen zum Wur111 degradiert (WOLF 1903, S. 104). Diese Worte kennzeichnen sehr drastisch die historische Wirklichkeit, in die sich Wolf gestellt sah. Sie sind zugleich Zeichen einer Krise des Komponisten zu Beginn der 90er Jahre, die sich in einer mehrjährigen Schaffenspause äußerte. Diese Krise hatte ihre Ursache nicht nur in einer Auseinandersetzung mit Wagner und dessen Werk, sondern lag vor allem auch in Wolfs besonderer Situation begründet, damals als Liederkomponist zu gewisser Anerkennung gelangt zu sein, aber noch immer nicht das ihm vorschwebende Ziel einer Oper erreicht und verwirklicht zu haben. Er befürchtete, damit den Anschein zu erwecken, )>nur ein kleines Genre« zu beherrschen, in dem sich )>nur Ansätze z11111 dramatischen Schaffen fänden ... « (WOLF 1903, S. 55-56). Es sind jene Jahre, in denen sich Wolf erneut und intensiver als vorher nach geeigneten Opern2

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DIE OPER BEI HUGO WOLF

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stoffen umsah und sich schließlich im Jahre 1895 zur Komposition der Oper Der Corregidor entschloß. II

In der Novelle des spanischen Dichters und Politikers Pedro Antonio de ALARCoN (1833-1891) EI sombrero de tres picos (Der Dreispitz), die auf eine altspanische Romance zurückgeht und durch mündliche Überlieferung fahrender Sänger wechselnd unter den Titeln »El Corregidor y la Molinera« oder »El Molinero y la Corregidora« dargeboten wurde, sah Wolf schließlich einen für ihn geeigneten Vorwurf für eine komische Oper. Doch ist diese Novelle, die zu den bedeutendsten Werken der spanischen erzählenden Literatur des 19. Jahrhunderts gehört, nicht durchgehend heiter angelegt und daher eher als tragikomisch zu bezeichnen. Auf dieses tragikomische Element weist der Dichter in der vom Juli 1874 stammenden »Prefacio« zu seiner Novelle hin. Es heißt dort: »EIfondo de/ asunto remlta identico: tragi-cotJJico, zumbony terriblemente epigra111dtico, cotJJO todas las lecciones dramaticas de tJJoral de q11e se enatJJora nuestro p11eblo« (OBRAS CoMPLETAS 2/1954, p. 444). Wolf war sich durchaus dieses tragikomischen Moments der Novelle bewußt, das in dem von RosaMayreder-Obermayer im Jahre 1890 entworfenen Libretto gewahrt blieb. Es bestimmte ihn, dem Corregidor keine JJLustspiel-Ouvertiire«, sondern J>ein kurzes, aber inhaltvolles Vorspiel« beizugeben, da Jjür eine Lustspiel-Ouvertüre ... der Stoff denn doch zu groß und zu ernstEra, enfin, un Otelo de Murcia, con alpargatas Y montera, en elprif!Jer acto de u11a tragedia posible ... « (OB RAS COMPLETAS 2/1954, p. 449) 3• In keiner Weise gewahrt blieb hingegen in dem von Rosa Mayreder entworfenen Libretto der geistesgeschichtliche Hintergrund der Novelle, der von dem Dichter sehr klar herausgearbeitet wurde, wie die Librettistin überhaupt die dichterische Vor3

Cap. VII: EI Fondo de Ja Feli&idad.

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IMOGEN FELLINGER

Jage stark simplifiziert und zum Teil vergröbert hat. Wolf lehnte im Jahre 1890 diesen Textentwurf - wie überliefert - hauptsächlich wegen »Banalität der Sprache« ab (LANG 1904b), bezeichnete ihn aber im Januar 1895 als »äußerst Jl)irkungsvolles OpernbuchEifersüchtig auf den Alten?« Die Motive werden entsprechend den Situationen, in denen sie vorkommen, rhythmisch, melodisch (Veränderung von Intervallschritten) oder auch harmonisch variiert. Dies gilt vor allem für das Corregidor-Motiv als beherrschendem Motiv der Oper. Beim

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lMOGEN F E LLINGER

ersten Auftritt des Corregidor in der vierten Szene des ersten Aktes, während Frasquita die letzten Takte des Fandango tanzt, begrüßt sie der Corregidor mit seinem, dem Fandango-Rhythmus angeglichenen Motiv: Corregidor

lß!l

1 Gott

be - hü - te

Fras-qui - ta!

dich,

Die rhythmische Gestalt eines Motivs kann innerhalb eines musikalischen Abschnittes in rascher Folge verändert werden, um beispielsweise einen bestimmten Textinhalt zu verdeutlichen. An einer späteren Stelle der gleichen Szene des ersten Aktes werden die an Frasquita gerichteten Worte des Corregidor »Sche11 f!Jachst du fllich « von den nachfolgenden Worten »kiihn zugleich Hans Rycardt« (RoMBOUTs/van LERIUS 1872 - 76, I, s. 268). Nach STELLFELD (1942, s. 86/87) handelt es sich um Hans Ruckers d. Ä„ was aber in Anbetracht der Tatsache, daß eine Rechnung für Arbeit an der Orgel der Liebfrauenkirche auf die Jahre 1597 - 99 lautet, etwas unwahrscheinlich ist. Der Erwerbsakt des Hauses beweist, daß Hans Ruckers 1597 noch am Leben war. LAMBRECHTs-DourLLEZ (1968, S. 245) hat nun eine Eintragung gefunden, nach der Hans in )>de eet1111e 1500 in de jaren van 90«, also in den 90er Jahren,

1 2 3 4

GENARD (1859), S. 458 - 459; RoMBOuTs/van LERIUS (1872 - 76), 1, S. 206; RusSELL (1959), s. 146 - 148. De BuRBURE (1863), S. 24; LAMBRECHTs-DourLLEZ (1968), S. 244. Die in dieser Schrift enthaltenen biographischen Daten auch bei LAMBRECnTs-DourLLEZ (1969, 1971a und 1971b). Vgl. GE.NARD (1859), S. 459; ROMBOUTS/van LERIUS (1872-76), I, S. 268. Nach GtNARD (1859), S. 458; ROMBOUTS/van LERIUS (1872-76), I, S. 268.

CEMBALO-BAU DER FAMILIE RUCKERS

103

gestorben ist. Sein Todesjahr liegt somit zwischen 1597 und 1599. Wenn man annimmt, daß die oben erwähnte Zahlung Hans Ruckers betrifft, muß als Todesjahr 1599 angenommen werden. Das Eigentum des Hauses von »wijlen Janne R11ekaerts hennen vader ende van henne fl/oeder« wurde am 31. Oktober 1608 unter die beiden Söhne Joannes und Andreas verteilt. JoANNES RuCKERS d. J. wurde 1578 als ältester Sohn von Hans Ruckers geboren. Er wurde in der Antwerpener Liebfrauenkirche am 15. Januar 1578 getauft (de BuRBURE 1863, S. 24). Am 14. November 1604 heiratete er Maria Waelrant, eine Verwandte des Komponisten Hubert Waelrant (GENARD 1859, S. 460). 1608 erwarb er das Haus seines Vaters de c/ein clavesingel. Man wird annehmen müssen, daß die erhaltenen Instrumente mit Signatur HR zwischen 1599oder1600 und der Aufnahme von »Hans Rukers, sone, claversigfllaker« in die St. Lukaszunft im Jahre 16115 - diese Aufnahme betrifft also nicht Andreas Ruckers d. Ä., wie de BuRBURE (1863, S. 26) und nach ihm andere behaupten - von Joannes Ruckers gebaut wurden, der nur deshalb die Signatur seines Vaters verwendete, weil er als Nichtmitglied der Zunft noch keine eigene gebrauchen durfte. Das früheste erhaltene, zweifelsohne von J oannes Ruckers gebaute Instrument mit Signatur IR ist das zweimanualige Cembalo mit eingebautem Oktav-Virginal aus dem Jahre 1619 im Brüsseler Conservatoire. Etwas rätselhaft bleibt dann die Signatur HR in einem 1620 datierten Doppelvirginal im Conservat6rio in Lissabon. Von 1615 bis zu seinem Tode hat Joannes Ruckers die Clavichorde und Spinette am Brüsseler Hof des Prinzen Cardinael Ferdinand gestimmt und unterhalten (STELLFELD 1945). In den Jahren 1615-23 bekam er Gehalt für Stimmen und Reparatur der Orgel der Antwerpener St. Jakobskirche (de BuRBURE 1863, S. 23). Es wurde oben schon erwähnt, daß »Hans Ruckerur zwischen 1591 und 1643 als Orgelreparateur in den Rechnungen der Liebfrauenkirche erscheint. Von 1600 an ist da ohne Zweifel Joannes gemeint. Die letzte Zahlung an die Erben fand am 13. September 1643 statt (ROMBOUTS/van LERIUS 1872-76, I, S. 476). Nach den Rechnungen der Liebfrauenkirche wurden am 24. April 1643 Stipendien für den verstorbenen »]an Ruckersrr gezahlt und am 1. Oktober für »Johannis Ruccartsrr6. Eine der beiden Zahlungen bezieht sich auf den Instrumentenbauer. Es scheint nicht gewagt anzunehmen, daß er Anfang 1643 gestorben ist. Joannes Ruckers war der Lehrer von J oannes Couchet, dem Sohn von Carolus Couchet und Joannes' Schwester Catharina Ruckers. ANDREAS RucKERS d. Ä. wurde 1579 in Antwerpen als zweiter Sohn von Hans Ruckers geboren und in der Antwerpener Liebfrauenkirche am 30. August 1579 getauft (de BuRBURE 1863, S. 24). Am 25. Januar 1605 heiratete er Catharina de Vriese (GE.NARD 1859, S. 461), vielleicht eine Verwandte des Cembalobauers Dirck de Vries, jedenfalls aber eine Schwägerin des Malers Jacob Jordaens: Catharinas Bruder Zacharias war mit Jordaens' Schwester Anna verheiratet. Über das Jahr der Aufnahme in die St. Lukaszunft ist nichts Sicheres bekannt, aber es wird wohl kurz vor der Herstellung seines 5 6

Vgl. Vgl.

G:ENARD G:ENARD

(1859), S. 459; (1859), S. 458;

ROMBOUTS/van LERIUS ROMBOUTS/van LERIUS

(1872-76), I, S. 476. (1872-76), I, S. 476.

104

JOHN HENRY VAN DER MEER

ersten datierten Cembalos, das erhalten ist (1608; Edinburg, Sammlung Russell), liegen, es sei denn, daß die Angabe bei de BRIQUEVILLE stimmt, nach der 1760 ein 1601 von Andreas Ruckers gebautes Cembalo verkauft wurde. Damit wäre die Aufnahme in die St. Lukaszunft spätestens 1601 erfolgt. Ein 1604 datiertes Virginal mit HRRosette, daher von J oannes Ruckers gebaut, im Brüsseler Conservatoire hat eine Dockenleiste mit Aufschrift IOANNES ET ANDREAS RVCKERS FECERVNT (MAHILLON 2/1893-1922, Nr. 2927; RussELL 1959, Tafel26). Die Dockenleiste gehört allerdings nicht zum Virginal von 1604, doch erbringt sie den Nachweis, daß die beiden Brüder eine - wohl nur kurze - Zeit zusammengearbeitet haben, vielleicht während der Periode, in der Andreas schon zur St. Lukaszunft zugelassen worden war, J oannes aber noch nicht und daher nicht selbständig signieren durfte, somit etwa zwischen 1608und1611. Im Jahre 1619 bestellte die Zunft bei Andreas Ruckers ein Cembalo, für das die Zahlung in den Zunftrechnungen von 1622-23 vermerkt ist (de BuRBURE 1863, S. 26). 1635 trat er als Mittelsmann in der Schlichtung des Streits über die Aufstellung der neuen Orgel von Langhedul in der Antwerpener Liebfrauenkirche auf (STELLFELD 1942, S. 94). Auf einer Versteigerung bei SeelhoE im Haag 1759 wurde ein zweimanualiges Cembalo aus dem Jahre 1643 von Andreas Rucker.r den oudere zum Verkauf angeboten (STELLFELD 1942, S. 95), während das Museum Vleeshuis in Antwerpen ein einmanualiges Cembalo von 1644 besitzt, das auf dem Abschlußbrett ANDREAS RVCKERS DEN OVDEN ME FECIT ANTVERPIAE signiert ist7. In den Jahren 1643-44 baute Andreas d. Ä. also immer noch, während sein Sohn Andreas schon selbständig geworden war. Nun sind weder Rosette noch sonstige Signatur von Vater und Sohn zu unterscheiden, außer daß der Vater sich 1643/44 als »den Ouden(( bezeichnete. Es ist daher wahrscheinlich, daß die nach 1644 mit »Andreas Ruckers« signierten Instrumente vom Sohn hergestellt worden sind. Über das Todesjahr Andreas d. Ä. ist nichts Genaues bekannt. Es muß aber nach 1644 liegen, nach LAMBRECHTS-DOUILLEZ (1968, s. 246) zwischen 1644 und 1651 oder gar 1654. ANDREAS RucKERS d. J. wurde 1607 in Antwerpen als zweites Kind von Andreas d. Ä. geboren und in der Antwerpener Liebfrauenkirche am 31. März 1607 getauft (GENARD 1859, S. 461). Um 1637 heiratete er Johanna HechtsB. In den Rechnungen der St. Lukaszunft kommt 1637-38 »Rickart, claver.ringelmaker, wijmnee.rterclavicembalo cro1J1atico con d11e testadt1re« im Estensischen Inventar aufgeführt wird. Es ist aber wahrscheinlich, daß Joannes, oder gar Hans Ruckers, die zwei Manuale - sowohl zur Transposition als auch zum Kontrast - in den flämischen Cembalobau eingeführt hat. In diesem Zusammenhang sei noch an HüLLMANDEL erinnert, der schreibt: »Hans R11ckers donne a cet instrmnent 1111 son plus fort et pl11s at1i1J1e, en joignant atlX detlX cordes a /'11nisson 1111 troisieme rang de cordes pl11s fines et pl11s courtes q11e /es atttres, et accordees a /' octave s11perie11re. On l'appelle petite octave« (nach DmEROT, Encyclopedie). Auch diese Behauptung, Hans Ruckers sei der Erfinder des 4' beim Cembalo, trifft in keiner Weise zu. Im Verzeichnis von Fuggers Musikkammer (1576) wird ein Instrument mit drei Registern genannt; das kurbrandenburgische Inventar (1582) verzeichnet eine J>SytJJphoney 11Jit vier Registern«; das Estensische Inventar führt ein J>clavicetllbalo di tre registri« und zwei 05

Vgl. CuouQUET (1875), (1971), s. 78-80.

r. 222, und (1884), Nr. 327;

HIRT

(1955), S. 8-11; de

CHAMBURE

128

JOHN HENRY VAN DER MEER

))instru!llenti in ottava da dui registri« an. Alle diese Instrumente haben wohl ein 4' -Register gehabt. Es trifft ebensowenig zu, daß Hans Ruckers das 4'-Register in den flämischen Cembalobau eingeführt hat, da schon das 1579 im Jahr der Zulassung von Hans Ruckers in die St. Lukaszunft gebaute Cembalo des in London wohnhaften Flamen Lodewijk Theeuwes (London, Victoria and Albert Museum) ein 4'-Register besitzt.

3. Einmanualige Cembali mit Oktav-Virginal Es handelt sich bei dieser Gruppe um Instrumente mit einem viereckigen Gehäuse, das dadurch entsteht, daß der durch die Hohlwand eines einmanualigen Cembalos ausgesparte Raum von einem Oktav-Virginal eingenommen wird. Es sind zwei Instrumente dieser Gattung erhalten: HANS RUCKERS, 1594. Schloß Köpenick, Kunstgewerbemuseum, Eigentum der Staatlichen Kunstsammlungen in Ostberlin; RH 6, B 7 (KREBS 1892, S. 125-126). Das Cembalo besitzt den Umfang C-ca, aber der Klavierrahmen, die Tasten und die Dockenrechen entstammen einem späteren Umbau, wie auch aus zugesetzten Wirbelund Stegstiftlöchern hervorgeht. Die zugesetzten Löcher führen nicht zu einem eindeutigen Ergebnis bezüglich des Originalzustandes, aber es ist möglich, daß der ursprüngliche Umfang CJE-c3 war. Die Disposition ist 8'8'4'. Die Temperabemalung des Resonanzbodens ist bei den Dockenrechen teilweise weggeschnitten, so daß anzunehmen ist, daß im Originalzustand nur für zwei Rechen Platz war. In dem Fall wird die ursprüngliche Disposition 8'4' gewesen sein. Das Ottavino hat ebenfalls Tasten aus der Umbauzeit, der Klavierrahmen erscheint aber ursprünglich. Danach hatte das Ottavino im Originalzustand, so wie jetzt, den Umfang CJE-a2 ohne gis2. Dieser Umfang scheint der älteste bei einem Instrument von Hans Ruckers zu sein. Wir werden ihn an einem Virginal von 1583 nochmals finden. JoANNES RucKERS, ohne Jahreszahl. Berlin, Musikinstrumenten-Museum; RI 23, B 70. Mit einem Deckelgemälde, das die Bekehrung Sauls darstellt56. Hauptinstrument und Ottavino mit Umfang CJE-c3. Obwohl dieser Umfang normal zu sein scheint, kann er doch insoweit in Frage gestellt werden, als die Klaviaturen nicht die ursprünglichen sind und ein Dreioktavenmaß (48,3 bzw. 47,5 cm) aufweisen, das beträchtlich schmaler ist als das bei den Ruckers übliche (50 cm). Da sämtliche Stege und der Stimmstock des Cembalos ersetzt worden sind, lassen sich aus Stift- bzw. Wirbelspuren keine Schlüsse auf den Originalumfang ziehen. Disposition des Hauptinstruments 8'4'. hierzu SACHS (1922), Nr. 2232 und Abb., ebenso Abb. 1 in MGG, Bd. 11, 1049 f.; (1967), S. 68 und Abb.; BERNER (1971), S. 61-62 und Abb.

56 S.

ERNST

Tafel 8: Virginal, Andreas Ruckers zugeschrieben, 1617 (J\Iünchen, Deutsches J\Iuseum)

Tafel 9: KlaYierrahmen 'on dem Andreas Ruckers zugeschriebenen \ ' irginal, 1617 (:\Iünchen, Deutsches :\Iuseum)

CEMBALO-BAU DER FAMILIE RUCKERS

129

4. Zweimanualige Cembali mit Oktav-Virginal Die Instrumente sind grundsätzlich wie die der 3. Gruppe gebaut, nur besitzt das Cembalo zwei Manuale. Im Brüsseler Conservatoire wird ein solches Instrument von Joannes Ruckers von 1619, leider stark umrestauriert, aufbewahrt57. Das Ottavino hat den Originalumfang CJE-c3, das Hauptinstrument in beiden Manualen G1/H1 -c 3. Nach Russell war das Hauptinstrument ursprünglich ein Transpositions-Cembalo, was auch mit dem Vorhandensein von vier Dockenreihen übereinstimmt. Die jetzige Saitendisposition des Hauptinstruments ist 8'8'4'. De BRIQUEVILLE (1908) erwähnt drei weitere derartige Ruckers-Instrumente, die bei Versteigerungen im 18. Jahrhundert zum V er kauf angeboten wurden. Eines dieser Klaviere stammte aus der Werkstatt von Andreas Ruckers und soll mit 1606 datiert gewesen sein. Auf jeden Fall geht daraus hervor, daß auch Andreas solche Instrumente gebaut hat, wenn auch kein Stück von seiner Hand erhalten ist. Der Herzog von Chandos soll zu Cannons ebenfalls ein zweimanualiges Cembalo mit eingebautem Oktav-Virginal von Joannes Ruckers, 1625, besessen haben (RussELL 1959, S. 149). Ein späteres zweimanualiges Cembalo mit eingebautem Virginal von J oannes J osephus CoENEN, Roermond, 1734/35, befindet sich im Museum Plantin-Moretus in Antwerpen (RussELL 1959, Tafel 39-40). Die drei Manuale besitzen den Umfang G1/H1-c 3. Disposition: 4' Obermanual; 8' mit getreppten (abgesetzten) Docken, vom Ober- und Untermanual aus spielbar; 4'8' Untermanual. Das Instrument hat somit ein 4' -Register im Untermanual und eines im Obermanual, jedoch nur eine Reihe 4'-Saiten, die von beiden Registern gezupft werden kann.

5. Virginale Rechteckige Virginale der Familie Ruckers blieben in verhältnismäßig großer Zahl erhalten. Sie waren sozusagen die »Kleinklaviere« des späten 16. und des 17. Jahrhunderts. Offensichtlich wurde der Klang dieser Instrumente geschätzt, denn sie erhielten manchmal im 18. Jahrhundert, als sie nicht mehr den Erfordernissen des Cembalospiels genügten, einen erweiterten Umfang der Klaviatur. In solchen Fällen ist der Originalzustand meist leicht rekonstruierbar. Mit ganz wenigen Ausnahmen haben oder hatten diese Virginale ursprünglich den Vieroktaven-Umfang C/E-c 3, den sie noch heute besitzen, soweit nichts anderes verzeichnet ist. C/E-c3 ist also der Normalumfang, obwohl Varianten wie CJE-d3 gelegentlich vorkommen. Das Familienbild von Gottfried von Wedig aus dem Jahre 1616 (Köln, Wallraf-Richartz-Museum) zeigt ein flämisches Virginal mit dem Umfang C-ca, also mit langer Baßoktave. Soweit 67

Vgl. MAHILLON (2/1893-1922), r. 2935; JAMES (1930), TafelXXXVII; POLS (1942), Tafel 10; LYR (1952), S. 16; HIRT (1955), S. 290-291; CoLLAERfVander LINDEN (1961), Abb. 261; RussELL (1959), S. 45 und 149.

130

JOHN HENRY VAN DER MEER

nicht anders angegeben, sind alle unten erwähnten Virginale in der charakteristischen flämischen Manier mit einspringender Klaviatur gebaut. Bei den kleinsten Exemplaren dieser Gattung ist das Instrument so breit wie die Klaviatur oder nur ganz wenig breiter. Das früheste erhaltene große Virginal wurde von JOHANNES GRAUWELS gegen 1580 gebaut (Umfang C/E - a2, reichte aber von CfE-c3) und hat die Klaviatur in der Mitte (MAHILLON 2/1893-1922, Nr. 2929). Es folgen Virginale von Hans Bos sowie Doppelvirginale von Martinus van der BIEST und LuDovrcus GRAUWELS mit der Klaviatur an der linken Seite. Bei solchen Instrumenten zupfen die Kiele die Saiten näher am Steg an, der Ton ist hell und rauschend. Van BLANKENBURG (1739, s. 142), DouWES (1699, s. 105) und VERSCHUERE REYNVAAN (1795, S. 111) bezeichnen solche Virginale als >>Spinetten«. Sie werden ebenfalls von den Ruckers gebaut, wenn auch ziemlich selten. Eine Erfindung von Hans Ruckers ist das Virginal mit der Klaviatur an der rechten Seite. Bei solchen Instrumenten zupfen die Kiele die Saiten weiter vom Steg entfernt an, der Ton ist hohler und dunkler, etwas topfig. Douwes nennt diese Instrumente >>!lntselars«, Verschuere Reynvaan »Vierkanten«. Nach van Blankenburg sind sie weniger leicht zu spielen, weil die Saiten in der Mitte zu weit ausscheren. Ruckerssche Muselars sind in verhältnismäßig großer Zahl erhalten. Auch von Joannes Couchet ist vor einigen Jahren ein solches Virginal aufgetaucht (LEONHARDT 1971). a) Virginale mit Klaviatur links Unter den Instrumenten mit der Klaviatur an der linken Seite (»spinetten«) hat eine Gruppe eine Breite von etwa 170 cm und die schwingende Saitenlänge des c2 (pitch c) von etwa 36 cm, nach DouwEs (1699, S. 106 und 120 - 122) »klavecimbels«, d. h. Virginale, »ses voeten lang>Unausgeglichen« oder »nicht stimmig«. Die Varianzanalyse für die Einschätzungen auf der Skala »ausgeglichen - unausgeglichen« (vgl. Tabelle 6) zeigt keine signifikanten Unterschiede, die auf die Interaktionen der drei musikalischen Variablen »Tempo«, »Melodik« oder »Harmonik« zurückzuführen wären. Es scheint allerdings, als ob diese Skala untauglich wäre, um mögliche Widerspri.iche aufzudecken. Signifikante Unterschiede ergeben sich nämlich

172

HELGA DE LA MOTTE-HABER Quelle der Variation

Quadratsumme

Tempo (T)

105,06

Melodik (M) Harmonik (H)

Varianzschätzung

F

Signifikanz

1

105,06

18,93

ss

41,18

1

41,18

16,60

ss

73,68

1

73,68

223,27

ss

233,72

17

13,75

TxM

2,49

1

2,49

0,51

ns

TxH

24,16

1

24,16

3,45

ns

MxH

8,50

1

8,50

1,79

ns

TxVpn

94,30

17

5,55

MxVpn

42,18

17

2,48

HxVpn

5,68

17

0,33

TxMxH

0,59

1

0,59

2,36

ns

TxMxVpn

82,40

17

4,85

TxHxVpn

119,23

17

7,01

MxHxVpn

80,39

17

4,73

4,27

17

0,25

917,83

143

Vpn

TxMxHxVpn total

df

Tabelle 6: Ergebnis der Varianzanalyse über die Skala »ausgeglichen - unausgeglichen«

bei den Beurteilungen von langsamem und schnellem Tempo, einfacher und komplizierter Harmonik wie Melodik. Unabhängig davon, ob es sich um eine originale oder künstlich erstellte Version handelte, wurde langsameres Tempo als ausgeglichener bewertet, kompliziertere Harmonik und Adagiomelodik als unausgeglichener. Die Skala »ausgeglichen - unausgeglichen« wurde dazu benutzt, dem Komplizierteren oder Erregteren größere Unausgeglichenheit zuzubilligen, ähnlich wie man einen schwierigeren oder temperamentvolleren Menschen für unausgeglichen, einen simplen, trägen für ausgeglichen hält. Diese Skala besaß für die Beurteiler einen mehr metaphorischen Sinn; es ist anzunehmen, daß sie nicht zur Feststellung des Zusammenpassens verschiedener musikalischer Bedingungen gebraucht wurde.

173

BEDINGUNGSVARIATION Quelle der Variation

Quadratsumme

df

Varianzschätzung

F

Signifikanz

0,17

1

0,17

0,07

ns

Melodik (M)

19,50

1

19,50

7,12

ss

Harmonik (H)

68,06

1

68,06

16,80

ss

215,36

17

12,67

TxM

0,74

1

0,74

0,15

ns

TxH

0,89

1

0,89

0,26

ns

MxH

45,56

1

45,56

6,37

ss

TxVpn

39,21

17

2,31

MxVpn

46,63

17

2,74

HxVpn

68,82

17

4,05

9,57

1

9,57

6,51

ss

TxMxVpn

85,88

17

5,05

TxHxVpn

58,98

17

3,47

MxHxVpn

121,56

17

7,15

25,06

17

1,47

805,99

143

Tempo (T)

Vpn

TxMxH

TxMxHxVpn total

Tabelle 7: Ergebnis der Varianzanalyse über die Skala »in sich stimmig - nicht in sich stimmig« Die Varianzanalyse für die Beurteilungen der Musikbeispiele hinsichtlich »in sich stimmig - nicht in sich stimmig« (vgl. Tabelle 7) legt eine ähnliche Interpretation nahe. Ein Effekt des Tempos zeigt sich zwar nicht, aber man billigte größere Stimmigkeit auch hier dem Einfacheren zu, wie sich an den signifikanten Unterschieden der Beurteilung von Harmonik und Melodik zeigt. Diese Skala besaß aber eine für verschiedene Beispiele variierende Bedeutung. Sie wurde auch auf die Verhältnisse innerhalb einer musikalischen Phrase bezogen, worauf die Formulierung »in sich« eigentlich nachdrücklich hinwies. Signifikant ist die Wechselwirkung von Melodik und Harmonik, und signifikant ist ebenfalls die Tripelinteraktion von Melodik, Harmonik und Tempo. Manche Kombinationen von Harmonik und Melodik wurden als stimmiger empfunden

174

HELGA DE LA MOTTE-HABER

als andere. Dies betrifft die Koppelung einer einfachen Melodie mit einer einfachen Harmonik (Phrase II und III). Als unstimmiger wird insbesondere die Verknüpfung einer komplizierten Harmonik mit einer einfachen Melodie angegeben (Phrase VI und VII). Diese Art der Verknüpfung wurde mit einem Mittelwert von M = 4,50 genau durch den neutralen Punkt der Skala bewertet und damit nicht eigentlich als unstimmig empfunden, sondern nur als weniger stimmig als andere Beispiele. Aus der signifikanten Tripelinteraktion geht hervor, daß die Kombination einer gewissen Harmonik mit einer gewissen Melodik in einem gewissen Tempo stimmiger wirkt als andere. Sie betrifft also ohne zusammenfassende Gesichtspunkte die Beispiele im einzelnen. In sich stimmig wirken vor allem das originale Allegretto (M = 2, 17) und seine langsame Version (M = 1,83). Ebenfalls als sehr stimmig wird auch Phrase VIII (M = 3,44) empfunden. Im Verhältnis hierzu wurden die Phrasen IV, VI und VII unstimmiger beurteilt, jedoch lassen auch hier die Mittelwerte (M = 4,44; 4,55 und 4,44) erkennen, daß sie nur Unterschiede zu den übrigen Beispielen anzeigen, nicht aber Unstimmigkeit in einem engeren Sinne, da sie dem neutralen Punkt der Skala entsprechen. Was die direkte Befragung erbrachte, müßte sich indirekt auch aus der Beschreibung der musikalischen Phrasen mit Hilfe der 15 Substantive ablesen lassen. Als stimmig wäre ein Beispiel dann zu bezeichnen, wenn keine einander widersprechenden Charakterisierungen gewählt worden wären. Um dies zu prüfen, wurden zunächst die Ähnlichkeiten als Produkt-Moment-Korrelationen der 15 Substantive an Hand ihrer Einstufungen mit dem Polaritätsprofil ermittelt; eine Faktorenanalyse (vgl. Tabelle 8) zeigte die üblichen vier Dimensionen des semantischen Raumes, der fünfte Faktor i5t, wie häufig, nur schwach ausgeprägt. Der erste Faktor ist identisch mit der zuweilen als »Ausgeglichenheit« bezeichneten Dimension, deren Pole »Ruhe« einerseits, »Aggression«, »Angst«, »Widerwille« andererseits darstellen. Der zweite Faktor mit positiven Ladungen von »Intelligenz« und »Gesundheit«, negativen von »Langeweile« entspricht dem »Aktivitätsfaktor«. »Gemüt«, »Genuß« und »Liehe« charakterisieren im Gegensatz zu »Askese« den dritten Faktor, der eindeutig den »Weiblich-Faktor« früherer Untersuchungen repräsentiert, obwohl der benennende Begriff in diese Arbeit nicht mit aufgenommen wurde. Der vierte Faktor ist durch »Trauer« und »Einsamkeit« definiert. Durch diese Aufschlüsselung der semantischen Bezüge wäre es möglich, die Beurteilungen der Musikbeispiele auf den Gebrauch widersprüchlicher Begriffe hin zu überprüfen. Eleganter ist es, die Beurteilungen der Musikbeispiele in den semantischen Raum hineinzuprojizieren. Im Gegensatz zu den anderen hier benutzten statistischen und mathematischen Verfahren, die in Lehrbüchern ausführlich dargestellt sind, bedarf es dazu technischer Erläuterungen: Für jedes musikalische Beispiel wurde eine in der Häufigkeit unterschiedliche Auswahl der Substantive angeführt, deren Lage im semantischen Raum bestimmt wurde. Gewichtet man die Ladungen der Substantive auf einem Faktor des semantischen Raumes durch den aus den Häufigkeiten zu bestimmenden prozentualen Anteil, mit dem sie zur Charakterisierung einer musikalischen Phrase beitragen, und addiert diese prozentual gewichteten Ladungen, so erhält man damit

BEDINGUNGSVARIATION

175

Gewichtszahlen der Faktoren Objekt

1

Intelligenz

0,125

5

h2

0,005

0,915

0,010

0,909

0,517 -0,145

0,937

0,237

0,195

0,922

0,316 -0,048 -0,083 -0,220

0,937

0,128 -0,100

0,921

2

3

4

0,933 -0,005 -0,168

Langeweile

-0,205 -0,812 -0,113

Ruhe

-0,719

0,009

0,354

Ungewißheit

0,619 -0,665 -0,028

Aggression

0,875

0,435

Gemüt

-0,232 -0,046

0,914

Genuß

-0,015

0,223

0,950 -0,046

0,020

0,955

0,140

0,457

0,835

0,045

0,932

-0,173

0,801

0,312 -0,291 -0,280

0,933

Liebe Gesundheit

0,053

Trauer

0,150 -0,468 -0,037

0,805 -0,025

0,893

Angst

0,820 -0,376 -0,081

0,338 -0,028

0,948

0,045

0,931

0,408 -0,135 -0,255

0,944

Einsamkeit Triebhaftigkeit

- 0,009 -0,319 -0,061 0,783 -0,061

Askese Widerwille

0,274

0,285 -0,802

0,778 -0,316 -0,140

0,907

0,436

0,010

0,919

0,085 -0,435

0,932

Tabelle 8: Die Faktorenanalyse der 15 Substantive (rotiert)

eine Ladungszahl für das betreffende musikalische Beispiel auf diesem Faktor. Entsprechend lassen sich die Ladungen auf den anderen Faktoren bestimmen. Der Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, daß die Ladungszahlen der projizierten Objekte, obwohl sie theoretisch bis 1,0 ansteigen können, meist sehr klein sind. Die spezielle Absicht dieser Untersuchung beeinträchtigt dies wenig, da für sie vor allem die Zusammensetzung der Ladungszahlen wichtig ist. Die Ladungszahl eines musikalischen Beispiels auf einem Faktor stellt die Summe der durch Prozentwerte gewichteten Ladungen jener Substantive dar, durch die es beschrieben wurde. Laden zwei Substantive auf einem Faktor an entgegengesetzten Polen und werden diese beiden Substantive als charakteristisch für eine musikalische Phrase empfunden, so entspricht der musikalischen Phrase auf diesem Faktor eine Ladung nahe Null, die aber von einer

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HELGA DE LA MOTTE-HABER

sehr niedrigen Gewichtszahl zu unterscheiden ist, da sie aus zwei Komponenten mit entgegengesetzten Vorzeichen resultiert. Es wäre nicht von Irrelevanz einer Dimension für ein Urteil zu sprechen, sondern von Widerspruch, da gegensätzliche Attribute den Eindruck bestimmten.

Objekt

1

2

Gewichtszahlen der Faktoren 3 4

5

I

-0,101

-0,064

0,461

0,250

-0,023

II

-0,102

0,438

0,326

-0,030

-0,154

III

-0,172

-0,151

0,387

-0,049

IV

0,574

0,217

0,159

-0,061

-0,165

-0,157

-0,156

0,274

0,383

-0,040

0,619

0,200

0,128

-0,060

-0,203

-0,143

-0,074

0,407

0,395

-0,048

0,255

-0,015

-0,191

V VI VII VIII

0,330

0,213*

0,178*

*Die Gewichtszahlen ergeben sich für Beispiel VIII auf F 2 aus 0,356 - 0,143 = 0,213, für Beispiel III auf F 3 aus 0,309 - 0, 131 = 0, 178 Tabelle 9: Die Projektion der musikalischen Phrasen !-VIII in den semantischen Raum Die Projektion der Beurteilungen der acht musikalischen Phrasen (vgl. Tabelle 9) zeigt dasselbe Ergebnis wie die beschriebene Faktorenanalyse, der die Korrelationen dieser Beurteilungen zugrunde lagen. Die erste Dimension des semantischen Raumes, die sich als maßgeblich für die Einschätzungen der Phrasen IV und VI erweist, ist mit der zweiten der Faktorenanalyse von Tabelle 5 identisch. Die Differenz dieser beiden Phrasen zu Phrase VIII ist klarer ausgeprägt (vgl. Faktor 3). Würde man die Ebene 3/4 des semantischen Raumes rotieren, so ergäbe sich ein Faktor, den die langsamen Beispiele kennzeichneten; die Phrasen III und V würden sich vor allem durch »Langeweile« und größere »Ruhe« (man vergleiche ihre negativen Ladungen auf Faktor 1 und 2 des semantischen Raumes) von Phrase I abheben. Durch eine anschließende Rotation der Ebene 2/3 ließe sich ein Faktor gewinnen, auf dem Phrase II hoch lädt. Identität der beiden Räume ist gegeben; welche Rotation man bevorzugt, hängt davon ab, ob die Interpretation von musikalischen Gesichtspunkten oder der begrifflichen Semantik geleitet ist. In Tabelle 9 ist zweimal ein Zwischenergebnis festgehalten, dessen Summe die Ladungszahl ergibt. Phrase III, die langsame Version des Allegrettos (Phrase II), besitzt auf Faktor 3 des semantischen Raumes eine positive Ladung, die sich aber durch

BEDINGUNGSVARIATION

177

ein recht großes negatives Glied ( -0, 131) von +0,309 auf +o, 178 erniedrigt. Bezüglich dieser Dimension erweist sich die Beurteilung als wenig einheitlich; durch »Gemüt« und »Liebe«, die am positiven Pol laden, wird dieses Beispiel gedeutet, und andererseits variiert die Einschätzung auch etwas zum entgegengesetzten Pol, wo »Askese« liegt. Einander ausschließende Begriffe wurden zwar nicht so gebraucht, daß positive und negative Momente sich aufheben, jedoch deutet sich ein Widerspruch an. Dieser läßt nicht unbedingt auf Sinnlosigkeit von Phrase III schließen. Im langsamen Tempo gerät dieses Beispiel sehr dünn, es ist jenen »Sätzchen« aus der Anfängerliteratur vergleichbar - etwa dem Trällerliedchen in Schumanns Album für die Jugend -, deren Sterilität nicht recht zu einem Adagio paßt. Für Phrase VIII deutet sich eine Inkonsequenz des Urteils hinsichtlich des Aktivitätsfaktors an, die aus der gleichzeitigen Charakterisierung durch »Gesundheit« und »Ungewißheit«, zwei Begriffe mit konträrer Bedeutung, resultiert. Es ist merkwürdig, daß eine Differenz, wie der Vergleich mit Phrase V zeigt, zwischen Oberstimme und Begleitung nur bei schnellerem Tempo bemerkt wird, obwohl auch die Oberstimme bei diesem Tempo (vgl. Phrase IV) nicht als verzerrt empfunden wird. Es fragt sich, ob die widersprüchliche Beurteilung von VIII weniger aus Sinnentstellung resultiert als vielmehr aus einem Moment von Ambivalenz des Ausdrucks. Ein Mangel an kompositorischer Stimmigkeit wäre nämlich sowohl für Phrase III wie VIII schwer zu begründen, da beide bei der Einstufung von Experten im Vergleich mit den übrigen Beispielen als weitaus stimmiger beurteilt wurden. Die sonderbare Diskrepanz zwischen dieser Beurteilung und dem ausgebleichten Affektgehalt einerseits wie dem uneindeutigen Charakter andererseits könnte auch auf ein methodisches Artefakt hinweisen. Durch die Einstufung mit dem Polaritätsprofil ist die Bedeutung eines Substantivs festgehalten. Unberücksichtigt bleibt, daß Begriffe, je nach Kontext, eine Anderung ihrer Bedeutung erfahren können und ein Begriff in Abhängigkeit vom Gebrauch enger oder weiter gefaßt wird. Es ist also möglich, daß die Phrasen III und VIII durchaus sehr stimmig sind, sich bei ihrer Charakterisierung aber eine etwas anders gefärbte Auffassung von Begriffen zeigt als bei jener, die das semantische Differential erbrachte. Eine Bedingungsvariation bei musikalischen Reizen kann vorgenommen werden, wenn die Variationsbreite eingeschränkt ist. Das Kriterium für diese Einschränkung ist allerdings schlecht definiert, es bemißt sich am musikalischen Sinn. Präzisere Bestimmung ist nur schwer zu erreichen. Zwar deutet sich in dieser Untersuchung an, daß man mit einer mehr als 50 %igen Tempoveränderung an die Grenze vorgestoßen ist. Diese Aussage gilt jedoch nur im Hinblick auf die konkret gegebenen anderen musikalischen Eigenschaften der Beispiele. Sicher lassen sich generelle Prinzipien finden wie etwa, daß mit größerer Komplexität die Variationsbreite für die Veränderung eines musikalischen Merkmals kleiner wird; höheren Graden von Verallgemeinerungen steht aber die gegenseitige Abhängigkeit der zur Beschreibung von Musik benutzten Kategorien entgegen. Und es scheint, daß es solche, die als unabhängige Variable betrachtet werden können, nicht gibt. Vordergründig gesehen, besteht die Besonderheit von Experimen-

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HELGA DE LA MOTTE-HABER

ten, mit denen der Zusammenhang zwischen Urteil und Musik ausgewiesen werden soll, darin zu prüfen, inwieweit die dargebotenen Beispiele kompositorisch stimmig sind oder nicht. Die Einschränkungen, die dadurch der Gestaltung der Reizsituation auferlegt sind, engen aber nicht nur die Fragestellung ein, sondern auch die Ergebnisse und vor allem deren Generalisation. In der Psychologie ist man es gewohnt, bei Aussagen ohnehin nur eine Generalisierung mittlerer Reichweite vorzunehmen; für manche musikpsychologischen Untersuchungen aber gilt es, auch diese noch zurückzuschrauben. Die Bescheidung resultiert aus der Komplexität der zu behandelnden Probleme.

ZUSAMMENFASSUNG Für die Bestimmung einer funktionalen Beziehung zwischen einzelnen musikalischen Bedingungen wie Tempo, Rhythmus, Melodik, Harmonik oder Dynamik und Urteil ist deren Variation notwendig. Nur wenn Bedingungen geändert werden und die gleichzeitige Veränderung des Urteils beobachtet wird, kann man schließen, worauf sich Urteile gründen. Bisherige Experimente zeigen, daß bei der Variation eines musikalischen Faktors Sinnentstellung eintritt, die sich auch im Urteil spiegelt. Die vorliegende Untersuchung weist nach, daß trotz des Zusammenhangs zwischen den musikalischen Kategorien, der sich solchem widersetzt, eine Bedingungsvariation möglich ist, wenn man diese Einschränkungen unterwirft.

LITERATUR Hevner, K.: Experimental Studies of the Elements of Expression in Music. 1936 In: Am.]. Psychol. 48, 246-268. Huber, K.: Der Ausdruck musikalischer Elementarmotive. Leipzig. 1923 Reinecke, H.-P.: Über den Zusammenhang zwischen Stereotypen und Klangbeispielen ver1971 schiedener musikalischer Epochen. In: Kgr.-Ber. Leipzig 1966, 499-509. Rigg, M.: Speed as a Determiner of Musical Mood. 1940 In: J. Exp. Psychol. 27 (5), 566-571. Wellek, A.: Das Experiment in der Psychologie. 1955 In: Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie, 181-214. Bern. Wundt, W.: Grundriß der Psychologie. Leipzig. 1896

ERNST BLOCHS PHILOSOPHIE DER MUSIK WAGNERS CARL DAHLHAUS

Daß eine Philosophie der Musik existiert, in der die Musik nicht einen zufälligen und peripheren Gegenstand aphoristischer Reflexionen bildet, sondern eng mit den wesentlichen Interessen der Philosophie verknüpft erscheint, ist nichts weniger als selbstverständlich und eher erstaunlich. Reminiszenzen an die Antike, an Platon und die Pythagoreer, sollten nicht täuschen. In der griechischen Philosophie war es weniger die Musik selbst - als tönendes Faktum -, die zum Objekt der Philosophie erhoben wurde, als vielmehr die mathematische Struktur, die dem musikalischen Tonsystem zugrunde lag, und die seelische Wirkung, die von den Tonarten und Rhythmen ausging. Daß die Musik als Kunst, als Inbegriff musikalischer Werke von der Philosophie ernst genommen oder gar ins Zentrum gerückt wurde, wäre vor dem 19. Jahrhundert undenkbar gewesen. Noch in der Epoche des Barock und des Rokoko, deren Adelskultur um die Oper kreiste, galt die Musik als sekundäre, periphere Kunst im Schatten der Dichtung. Von Kant stammt das Verdikt, daß sie »freilich mehr Genuß als Kultur« sei. Durch Beethoven aber und durch E. T. A. Hoffmann, der Beethovens Prophet war, wuchs der Musik eine Bedeutung und geistige Relevanz zu, die sie nie zuvor gehabt hatte. Die Wiener Klassik und die romantische Musikästhetik, eine Asthetik, die gleichzeitig mit der musikalischen Klassik als deren norddeutsch-theoretischer Widerpart entstand, bildeten zusammen die Grundlage für das Musikbewußtsein des 19. Jahrhunderts: für die Überzeugung, daß Musik eine Wahrheit ausdrücke, die der Sprache, sogar der poetischen, unzugänglich sei. Schopenhauer verlieh der Musik, und zwar dem tönenden Phänomen, nicht den verborgenen mathematischen Implikationen, geradezu metaphysische Würde. Geschichtswirksam wurde Schopenhauers Metaphysik der Musik allerdings nicht unmittelbar nach 1819, sondern erst Jahrzehnte später, und zwar durch Wagner, der sie sich - in modifizierter Form - seit 1854 zu eigen machte. Umgekehrt war es, neben Beethoven, gerade Wagner, der immer wieder zu philosophischer Reflexion herausforderte. Philosophie der Musik ist bei Nietzsche, der den Tristan als das ;;op11s n1etaphysict1m der M11sik« bezeichnete, und ebenso ein halbes Jahrhundert später bei Ernst Bloch eine Philosophie der Musik Wagners. Und sie ist es nicht zufällig. Wie kein anderer repräsentiert vielmehr Wagner das 19. Jahrhundert, die Epoche also, in der die Musik zu einem Organon der Philosophie wurde. Und daß sie es, wenn auch in geringerem Maße, bis heute geblieben ist, außer bei Bloch vor allem bei Theodor W. Adorno, verdankt sie dem 19. Jahrhundert. Ohne die Veränderung des musikalischen Bewußtseins in der Romantik wäre es undenkbar, daß Musik im gleichen Sinne wie Dichtung den Anspruch auf Kunst-

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CARL DAHLHAUS

charakter erhöbe. Die Gegenwart zehrt demnach, sofern sie der Musik Bedeutung zuerkennt, von der Erbschaft einer vergangenen Metaphysik.

1 Ernst Bloch, Philosoph und Theologe, Historiker und Marxist, ist ein Ketzer. Ihn trifft das Wort Jakob Burckhardts, der Geist sei J>ein Wühler«. Den Philosophen ist er als Schwärmer, den Theologen als Mystiker, den Historikern als spekulativer Geschichtsphilosoph, den Marxisten als Metaphysiker verdächtig. Und zweifellos ist es sein Stolz, verdächtig zu sein. Denn gerade das Geschmähte und Beargwöhnte, die Ketzergeschichte, stellt für Bloch den Teil der historischen Überlieferung dar, der es wert ist, gerettet zu werden. Die Utopie, die Bloch beschwört und deren Begriff er in seiner philosophischen Würde wiederhergestellt hat, stützt sich auf die fehlgeschlagenen Hoffnungen der Vergangenheit. Und das »wühlende« historische Bewußtsein, ein Bewußtsein, das sich unersättlich enzyklopädisch gebärdet, weil es jedes geschichtliche Dokument als Zeugnis in einem Prozeß begreift, der noch nicht entschieden ist, trennt Bloch von denen, die das Wort Utopie zu einem Schlagwort ausmünzen und als Entschuldigung und Rechtfertigung für Gedächtnisschwäche und Erfahrungsarmut mißbrauchen. Blochs Entwurf der Zukunft ist zugleich und in eins ein Sammeln der verstreuten Funken aus dem Schutt der Vergangenheit. Die Musik, zu der er reflektierend immer wieder zurückkehrt, versteht Bloch als J>tönende Ketzergeschichte«: ein überschwenglicheres Lob ist aus seinem Munde kaum vorstellbar. Und es ist demnach in der Sache begründet, um die Blochs Denken kreist, nicht in einer zufälligen Sympathie oder Caprice, daß eine Philosophie der Musik das Zentrum des Geistes der Utopie bildet, des Buches, das nach dem ersten Weltkrieg Blochs Ruhm begründete, einen Ruhm, der jahrzehntelang esoterisch war, bis er sich schließlich weithin ausbreitete. Die Musik, deren Ausdruck ebenso beredt wie ungreifbar ist, erscheint als Organon und Sinnbild eines utopischen, die Zukunft entwerfenden Denkens, das einerseits zwar nicht auflösbar ist in rationale Futurologie, aber andererseits auch nicht als bloßer Wachtraum und Fabel, als Konstruktion im Leeren abgetan werden kann. Die Utopie ist nicht haltlos, aber ungewiß und gefährdet. In der Ketzergeschichte, der realen und der tönenden, die Bloch zu entziffern und deren Gehalt er zu retten versucht, ist vorgezeichnet, was er unter Utopie versteht, aber eher negativ als positiv. Die Entwürfe eines Reiches der Zukunft, die sich zu Plänen verfestigen oder in Bildern, gemalten und tönenden, ausbreiten, sind fast immer hoffnungslos verstiegen, wenn nicht Schlimmeres. Um so triftiger aber ist die Negation des bestehenden Zustands, die Unbeirrbarkeit in der Überzeugung, daß eine tief eingreifende Veränderung notwendig sei. Historie, wie Bloch sie praktiziert, ist ein Plädoyer für das geschichtsphilosophische Recht von Hoffnungen und Unternehmungen, die damals, als sie entstanden, vergeblich waren, also geschichtlich ins Unrecht gerieten.

BLOCHS PHILOSOPHIE DER MUSIK WAGNERS

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Der utopische Gehalt der Musik ist von Jean Paul, den Bloch zitiert, als »Heitmnh nach einer Zukunftmnbetretene Land«, in dem der Ursprung nicht nur wiederkehrt und bewahrt ist, sondern überhaupt erst zu sich selbst kommt. Der Utopiker ist der eigentliche Konservative; denn wir sind, sagt Bloch, noch gar nicht wir selbst, sondern sollen es erst werden. Und ebenso ist die Musik, als J>tönende Ketzergeschichte«, noch nicht sie selbst. Es wäre ein Mißverständnis, Blochs Idee einer utopischen Musik auf die banale Formel zu reduzieren, daß die musikalische Harmonie das Symbol und die tönende Antizipation einer versöhnten Welt sei. Der musikalische Ausdruck ist vielmehr, nicht anders als das Subjekt, dessen Ausdruck er ist, noch unvollendet, noch getrübt oder unzulänglich. So unleugbar es einerseits ist, daß er sich in bedeutender Musik nicht darin erschöpft, Reflex der Gegenwart, des bestehenden Zustands zu sein, über den er vielmehr hinauszielt, so verfehlt wäre es andererseits, ihn unmittelbar als Bild und unverzerrte Antizipation einer utopischen Ferne zu rühmen, also zu verkennen, daß auch die reinste Anstrengung in die Gegenwart und ihre Schuld verstrickt ist, und sei es dadurch, daß sie über sie hinwegtäuscht. Wenn Bloch den utopischen Gehalt musikalischer Werke zu bestimmen oder zu umschreiben versucht, so ist es gerade das Verwirrte, das Nebenund Ineinander des >>oberen« und »tmteren Tones«, wie er es nennt, das Zwiespältige der Musik, was er kenntlich macht. Bloch, dem die Wege der Dialektik kaum verschlungen genug sein können, ist andererseits schroff in seinen Sympathien und Antipathien. Unangekränkelt durch historische Skepsis fällt er Urteile und Verdikte, denen er geschichtsphilosophische Relevanz zuerkennt. Und der Riß, von dem er fühlt, daß durch ihn die Musik zerspalten sei, geht mitten durch Wagners Werk hindurch. Über Tristan und !so/de stehen im Geist der Utopie einige Seiten, die zum Bewegendsten gehören, was über Musik - nicht nur über Wagner - geschrieben worden ist. Den Ring des Nibelungen aber, und zwar die Musik, nicht die Handlung und die Dichtung, schmäht Bloch als J>Tier(yrik«, deren befangener, beengter Ton hinabsinke unter das Menschliche, über das er hinausstrebe, und die durch Getöse, durch J>halbmilitiirischen Tamtamschlag«, das Bewußtsein zu übertäuben trachte, daß der Gott, dessen Tragik das Werk zelebriert, kein Gott und der Held kein Held sei. J>Hier driingt sich, 1vie 1vir sagten, der Ton fast völlig ins Leere und triibgeworden Tierische hinüber. Es gibt in diesefJJ Werk keinen Durchblick, der anders aus der Enge der Person herausführen könnte als dadurch, daß er eine Welt von Pappe, Schfllinke und heilloser Heldenpose auftut«. Das entscheidende Wort ist »heillos«: Für Bloch, den Mystiker,

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CARL DAHLHAUS

bedeutet der Mythos, der eine Welt auswegloser Verstrickungen zeigt, eine »heillose« Gegenwelt. Als Wagners »opus metaphysicum« dagegen rühmt Bloch, im Widerspruch zu Nietzsche, den Parsifal, dessen Theaterreligion, das Extrem der Kunstreligion des 19. Jahrhunderts, den Mystiker nicht stört. Auch im Parsifal aber, dessen Ton, wie Bloch es ausdrückt, ;;durchaus nach oben 11Jeist«, ist die Musik noch nicht zu sich selbst gekommen. ;>Daß sie nicht ausspricht, sondern bestenfalls nur aufschließt, daß das metaphysische Adagio immer noch bloße, undeutlich feierliche Musiksphäre bleibt ohne alle Kategorien, erweist von neuem, in dieser aufsteigenden Polemik aus Bewunderung, aus dem Maß des Absoluten, wie weit Wagnersche Musik doch von dem letzten heiligen Stand, von der Erfüllung der Musik als Verkündigung, als über alle Worte hinaus beginnender Lösung unserer geheimen Natur, noch geschieden ist«. Blochs »Polemik aus Bewunderung«, eine Polemik, die Wagnerscher Musik überhaupt erst die Ahnung dessen verdankt, was als utopische Musik geschichtsphilosophisch über sie hinausgehen könnte, mag verwirrend wirken. Denn der Vorwurf - falls er einer ist -, daß die »Parsifal«-Musik bloße Sphäre oder Stimmung bleibe, »ohne alle Kategorien«, bezeichnet offenbar eine Grenze, mindestens eine vorläufige, die der Musik schlechthin, nicht nur der Wagnerschen, gezogen ist. Die Idee einer »kategorialen« Musik - »kategorial« in einem genauen, nicht bloß vage metaphorischen Sinne - ist kaum faßlich. Auch scheint es, als gerate Bloch in Widersprüche, von denen nicht feststeht, ob sie zu den dialektischen oder den ausweglosen gehören. Einerseits postuliert er eine Musik, die den Gehalt, den sie in sich schließt, nicht bloß andeutet und in Stimmungen einhüllt, sondern deutlich, kategorial geformt, ausspricht. Andererseits erklärt er, mißtrauisch gegen das Prinzip des Gesamtkunstwerks, den Text, also das rationale Moment, zu einem Zusatz und einer eher störenden als klärenden Beimischung; die utopische Musik müsse eine »absolute«, losgelöste Musik sein. Blochs Urteile über Wagner jedoch, die Verwerfung des Ring und das Lob des Parsifal, richten sich nicht auf die abstrahierte Musik für sich, sondern auf das Ganze der Werke, das aus Musik, Sprache und szenischer Aktion zusammengesetzt ist, ohne daß in der ästhetischen Wirkung das eine Moment vom anderen zu trennen wäre. Der »Ton«, den Bloch als nach »oben« oder nach »unten« tendierend empfindet, ist der musikalisch-dichterische, nicht der musikalische für sich, den zu isolieren gewaltsam wäre. Das Gegen- und Ineinander der Argumente ist jedoch nicht unentwirrbar. Die »absolute« Musik, die Bloch meint oder zu deren Idee er sich reflektierend vortastet, ist eine Musik nicht diesseits, sondern jenseits des Wagnerschen Musikdramas, das sie voraussetzt und in sich aufgehoben hat. Sie ist nicht die reale, existierende »Tristan«- und »Parsifal«Musik, abstrahiert vom Drama als Dichtung und Handlung, sondern eine aus Tristan und Parsifal als Konsequenz hervorgehende Musik, die sich vom Text emanzipiert, aber nicht, um in die Unbestimmtheit der Stimmungsparaphrase zurückzufallen, sondern weil sie die Deutlichkeit, die ihr früher einzig ein Text geben konnte, aus sich selbst hervorzubringen vermag. Was Bloch sucht und wovon er glaubt, daß die Musik selbst es sucht, ist ein »Ton«, der »beredt« ist ohne Text und über jeden denkbaren Text hinaus.

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2 Der Trieb, mit dem Bloch die Geschichte durchstöbert, als sei sie ein Arsenal, em Trieb, in dem antiquarische Neigungen sich mit den philosophischen verflechten, zielt in letzter Instanz auf Rettung von Vergangenem für die Zukunft und umgekehrt, weniger auffällig, auf Rettung der utopischen Zukunft durch einen Halt am Vergangenen. Gerade als Philosoph der Utopie ist Bloch Historiker, und als Historiker, der von der Vergangenheit betroffen ist, statt sie bloß zu registrieren, ist er Philosoph der Utopie. Weniges allerdings bleibt unverwandelt; verändernde, »rettende« Interpretation, bis hin zur »Polemik aus Bewunderung«, zu der sich Bloch durch Wagners Parsifal herausgefordert fühlte, ist eine Grundform seines Denkens. Die Idee einer Philosophie der Musik, die sich nicht, in ängstlicher Bescheidenheit, auf bloße Phänomenologie beschränkt, sondern sich in Metaphysik hinauswagt, ist Bloch vor allem durch Schopenhauer vermittelt worden, mit Wagners Musik als Gegenstand und Anschauungsmodell. Ein Einfluß Hegels ist kaum erkennbar. Aber auch Schopenhauers Metaphysik der Musik bedarf, um jn den »Geist der Utopie« aufgehoben zu werden, der »Rettung« durch »Polemik aus Bewunderung«. \'V'as Bloch an Wagners Musik, am »Ton« des Ring, als »Tierlyrik« empfand und verabscheute: daß sich Musik ans »Untere« verliere, ist nichts anderes als die Affinität der Musik zum »Willen«, zu dem blinden Trieb und Drang, in dem Schopenhauer, der Metaphysiker des »Willens«, das metaphysische Wesen der Musik sah. Schopenhauers Lehre, daß die Musik »keinmvegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst(( sei, ein Dogma, von dem man geglaubt hat, daß es die Musik ins Unermeßliche erhöhe, spricht ihr zwar metaphysische Würde zu, aber eine Würde durchaus zwielichtigen Charakters. Die ähe der Musik zum Wesen hinter den Erscheinungen, zum »Willen« hinter den »Vorstellungen«, bedeutet eher Verstrickung als Erhebung. Denn so oft Schopenhauer Platon erwähnt, mit dem er die Tendenz zur Bestimmung des unveränderlichen Wesens der Dinge teilt, so radikal unterscheidet er sich dadurch von der Tradition der Metaphysik, daß er das Ding an sich in düsteren statt in leuchtenden Farben malt. Das Wesen der Dinge, wie es sich philosophischer Betrachtung zeigt, ist nicht die Idee des Guten, des Wohlgeordneten, um die Platons Denken kreiste, sondern ein blinder, sich verstrickender Drang, der sich im Wechsel zwischen der Unruhe und dem Schmerz des Mangels und der Langeweile erreichter Ruhe verzehrt. Der höchste Grad an Realität ist bei Schopenhauer, der damit Platon schroff widerspricht, der unterste an Vollkommenheit. Und es sind die niederen Sinne, in denen sich der Wille, das Ding an sich, am deutlichsten manifestiert. )>TöneSchev1en«, die als dialektische und zugleich als mystische Stadien erscheinen. )>Das Erste ist das endlose vor sich Hi11singen, der Tanz und schließlich die Kammermusik«, an der Bloch die Kontinuität der musikalischen Fortspinnungstechnik pointiert. )>Das z1JJeite nimmt einen größeren Anlauf: es ist das geschlossene Lied, Mozart oder die Spieloper, weltlich kleinbewegt, das Oratorium, Bach oder die Passionen, geistlich klein bewegt, und zuoberst die Fuge, die freilich hinsieht/ich ihrer unendlichen Melodie schon in die Ereignisform übergeht . . . Das Dritte ist das offene Lied, die Handlungsoper, Wagner oder die transzendente Oper, das große Chorwerk und Beethoven-Brt1ckner oder die Symphonie als den losgebrochenen, JJJeltlich, 1JJenn auch noch nicht geistlich großen, d11rchaus dramatisch bewegten, durchaus transzendental gegenständlichen Ereignisformen«. Die Schemata aber, die Bloch nebeneinanderstellt, sind zugleich ineinander verflochten. Die zweite Stufe erscheint nicht als bloße Negation der ersten, sondern als deren Aufhebung: lm »geschlossenen Lied«, wie Bloch die Formen des 18. Jahrhunderts nennt, ist der Tanz, also ein Moment der ersten Stufe, enthalten; in der »unendlichen Melodie«, der ungebrochenen Kontinuität der Bachsehen Fuge kehrt das »endlose vor sich Hinsingen« wieder. Und bei Wagner, dem Repräsentanten des »offenen Liedes«, der Ereignis- und Entwicklungsform des 19. Jahrhunderts, kommt die Dialektik der drei Stufen beinahe zur Klarheit über sich selbst: In der »traurigen Weise«, der Hirtenmelodie des dritten »Tristan«-Aktes erinnert sich gleichsam Wagners »unendliche Melodie« ihres archa-

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ischen Ursprungs im »endlosen vor sich Hinsingen«; und daß in Bachs Fugen die »unendliche Melodie« antizipiert sei, ist bereits von Wagner selbst, nicht erst von Bloch ausgesprochen worden. Was andererseits noch aussteht und worin für Bloch, den Mystiker und Theologen, die Utopie der Musik sich erfüllen würde, ist eine ;>große geistliche Ereignisfor1JJ«, also - wie von Blochs Andeutungen ablesbar ist - eine Wiederkehr der Musik Bachs aus dem Geiste des Wagnerschen J>Parsifal«: ein »Karfreitagsza11ber«, der als absolute Musik alles Textgebundene und Theaterhafte von sich abstreift. Das von Bloch Gemeinte muß allerdings eher erraten werden, als daß er es ausspräche. Er malt den musikalischen Wachtraum - so deutlich er dem Nicht-Musiker, und gerade ihm, vorschweben mag nicht aus, sondern hält sich, wie Marx, an das Gebot, daß man sich von der Utopie kein Bild machen solle. Unverkennbar ist Blochs Abhängigkeit von August Halm, dessen entscheidendes, in das Musikdenken tief eingreifendes Buch 1911, wenige Jahre vor dem Geist der Utopie, erschienen ist. Hatte Halm von »z1vei K11lt11ren der M11sik« gesprochen, die er durch Bach und Beethoven, durch die Fuge und die Sonate, repräsentiert sah, und eine dritte, zusammenfassende Kultur postuliert, deren Grundzüge sich in Bruckners Symphonien abzeichneten, so ist es bei Bloch eher Wagner als Beethoven, der die »zweite Kultur«, die der »Ereignisform«, ausprägt, und Halms Bruckner-Apotheose wird von Bloch zwar reproduziert, aber in matteren Farben. Andererseits ist der Wachtraum von einer »großen geistlichen Ereignisform«, über Bruckner hinaus, dem es nach Bloch am >>Intelligiblen« mangelt, in der Musik des 20. Jahrhunderts nirgends Wirklichkeit geworden: Geistliches ist in der Neuen Musik peripher, und die Ereignis- oder Entwicklungsform ist spätestens um 1950 zerbröckelt. Nicht, daß Bloch sich widerlegt fühlen müßte. Der Behauptung, daß seine Geschichtsphilosophie an der Realität, der niederen Empirie, zuschanden geworden sei, könnte er, bei genügendem metaphysischem Hochmut, entgegensetzen, daß sich gerade umgekehrt die Realität vor der Geschichtsphilosophie blamiert habe. An der Tatsache aber, daß Blochs Musikphilosophie quer zur Neuen Musik steht, einer Tatsache, die vielleicht die unzulängliche Rezeption dieser Musikphilosophie zu erklären vermag, ändert die Differenz der Auslegungen oder Akzentsetzungen nichts. 4

Der Geist der Utopie, ein Buch, das Linien in die Zukunft zu ziehen versucht, ist als Musikphilosophie eher rückwärtsgewandt: Die Philosophie der Wagnerschen Musik faßt, trotz utopischer Einschläge, ein Stück Vergangenheit in Begriffe, das die Neue Musik hinter sich zurückgelassen hat. Bei Wagner ist Bloch, ungeachtet des geschichtsphilosophischen Ungenügens, musikalisch sozusagen bei sich selbst. Und so wenig er sich im allgemeinen auf musikalisch Technisches, auf eine Rechtfertigung ästhetischer Urteile durch Analysen, einlassen

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mag, so nachdrücklich zeichnet er dort, wo er sich unmittelbar betroffen fühlt, die Umrisse einer Theorie: einer »Bautheorie des Wagnerstiis«, wie er sie nennt. Deren entscheidende Kategorie, um die sich die übrigen gruppieren, ist die des »dramatisch formbildenden Kontrapunkts«. Einern Musiktheoretiker, der sich ans Gewohnte klammert, an die klaren Begriffe, die so klar gar nicht sind, mag Blochs Kategorie als bloße Metapher, wenn nicht als Schlimmeres, als terminologisches Monstrum, verdächtig sein. Was besagt es - sofern es überhaupt etwas besagt -, daß Bloch den Begriff des Kontrapunkts - zweifellos nicht ohne Gewaltsamkeit - vom Nebeneinander oder übereinander der Stimmen auf das Nacheinander der Themen oder Wagnerschen Leitmotive überträgt? Oder umgekehrt: Ist es irgend sinnvoll, die Differenz oder Antithetik der Themen in einem symphonischen Satz oder in einer musikdramatischen Szene als »Kontrapunkt« zu bezeichnen - genauer und mit Blochs eigenen Worten: als JJbeziehungsreiches Nacheinander des ne11en harmonischen Kontrapunkts?« Die These, die der scheinbar bloß ausschweifend metaphorische Begriff des »dramatisch formbildenden Kontrapunkts« in sich schließt, wird erst verständlich, wenn man sie als Konsequenz aus Blochs zentralem Impuls begreift, dem Impuls, V ergangenes zu »retten«. Es widerstrebt Bloch, etwas preiszugeben und als tot und abgetan hinter sich zurückzulassen, was einmal groß und bedeutend gewesen ist. Er beharrt darauf, daß der »Kontrapunkt«, der musikalisch technische Inbegriff für den Geist der Musik Bachs, bei Beethoven und Wagner verwandelt, nämlich ins Nacheinander übertragen, weiterwirke. Und zwar ist es das antithetisch-dialogische Moment, das der »Kontrapunkt des Nebeneinander