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German Pages 156 [155] Year 2014
Philipp Thull / Hamid Reza Yousefi (Hrsg.)
Interreligiöse Toleranz Von der Notwendigkeit des christlich-islamischen Dialogs
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2014 by WBG (Wissenschaft liche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandabbildung: Multireligiöses Mannheim © KNA-Bild Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-26412-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73617-1 eBook (epub): 978-3-534-73618-8
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Einleitung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hamid Reza Yousefi Wie ist Kommunikation möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Böttigheimer Interreligiöse Toleranz aus christlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Klausnitzer Voraussetzungen des Dialogs aus christlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abdoldjavad Falaturi Voraussetzungen des Dialogs aus islamischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Philipp Thull Blasphemie und Häresie aus christlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Elhakam Sukhni Die islamisch-koranische Sicht auf Blasphemie und Häresie . . . . . . . . . . . . . .
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Ulrike Elsdörfer Das Menschenbild aus christlicher Sicht am Beispiel der Frau . . . . . . . . . . . . .
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Khola Maryam Hübsch Das islamische Menschenbild am Beispiel der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Schirrmacher Christentum und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mohammad Razavi Rad Menschenrechte aus islamischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reinhard Kirste Liebe aus biblisch-christlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Merdan Güneş Liebe aus islamisch-koranischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ahmed Ginaidi ,Heiliger Krieg‘ aus islamisch-koranischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hermann-Josef Scheidgen Dimensionen der fundamentalistischen Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Tamcke Islamische und christliche Mystik in trennender und einender Begegnung . . . . .
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Wolfgang Gantke Wege zu Theorie und Praxis der Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung der Herausgeber
Einleitung der Herausgeber
Christentum und Islam sind, neben Judentum, Hinduismus und Buddhismus, die zwei meistverbreiteten Weltreligionen, die seit ihrer Entstehung aus verschiedenen Perspektiven heraus diskutiert werden. Sie stehen historisch eng miteinander in Verbindung und sind von Gemeinsamkeiten und erhellenden Unterschieden geprägt. Historisch betrachtet sind in der Regel entweder ihre Differenzen oder ihre Gemeinsamkeiten betont worden. Es geht um Ereignisse wie Kreuzzüge und Begriffe wie ,Djihad‘ und ,Scharia‘, welche die geschichtlichen und gegenwärtigen Diskussionen beherrschen. Wenn wir diese dichotomisierenden Kontroversen, die einen stark apologetischen Charakter haben, beiseitelassen, so stellt sich die Frage nach Sinn und Zweck der Religion. Bezogen auf Christentum und Islam dürften die Antworten ähnlich sein: Liebe, Glaube, Hoffnung und Gerechtigkeit. Christentum und Islam sind zwei geistesverwandte Religionen. Sie wollen nicht gegenseitiger Entfremdung Vorschub leisten, sondern Brücken bauen und auf ihre je eigene Weise Zuversicht und Geborgenheit sowie Solidarität und Mitmenschlichkeit fördern. Eben weil es mittels zweifelhafter Verbiegungen der religiösen Botschaften des Christentums und des Islam sowie immer wieder aufkommender Instrumentalisierung der Heiligen Schriften, der Bibel und des Korans, zu Auseinandersetzungen kommt, wird es umso nötiger, den Dialog um gegenseitige Verständigung und Toleranz auf einer übergeordneten Ebene interkulturell und interreligiös neu zu entfachen. Die vorliegende Aufsatzsammlung möchte solche und ähnliche Bemühungen im christlich-islamischen Kontext fördern und dadurch einen Beitrag für Frieden und Verständigung leisten. Sie will keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern versteht sich als der Beginn eines langen und wendungsreichen Weges. Die Autorinnen und Autoren lassen durch ihre Beiträge ein innovativ-konstruktives und lebendig-kritisches Gespräch entstehen. Die Beiträge des Bandes bilden eine vielfältige Einheit, deren Inhalt im Folgenden überblickartig dargestellt ist: Hamid Reza Yousefi diskutiert die Möglichkeiten der Bedingungen der Kommunikation und stellt das Konzept einer kontextuellen Kommunikation vor. Ihm geht es darum, unterschiedliche Traditionen mit ihren jeweils eigenen Terminologien, Fragestellungen und Lösungsansätzen als gleichberechtigte Diskursbeiträge zur Sprache kommen zu lassen, um dadurch gemeinsame Perspektiven entwickeln zu können. Dem Thema nähert sich Yousefi in drei Schritten: In einem ersten Schritt begründet er kurz, was Kommunikation bedeutet und welcher Kulturbegriff zugrunde gelegt wird. Dieses Modell umfasst sieben ,Korrelatbegriffe‘, die er in gebotener Kürze zu umreißen versucht. Fünf Bereiche begleiten diese Korrelatbegriffe, die ebenfalls interkulturell-kontextuell verfahren. Es han-
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delt sich um Kultur-, Sozial-, Medien-, Berufs- und schließlich Erwachsenenpädagogik. Die Vermittlung dieses Wissensrepertoires erfordert eine solide Korrelationsdidaktik, die ebenfalls interkulturell-kontextuell orientiert ist. In einem zweiten Schritt diskutiert Yousefi die Gründe, die das Scheitern aller Formen der Kommunikation verursachen können. Das sind vor allem der exklusivistische Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, die Geographisierung des Denkens und die Kategorie der negativen Macht. Abschließend stellt er die Methode seines kontextuellen Kommunikationsmodells vor und formuliert das Konzept einer ablehnenden Anerkennung. Christoph Böttigheimer thematisiert in seinem Beitrag die Idee der interreligiösen Toleranz aus christlicher Sicht. Für ihn ist dem christlichen Glauben der Gedanke einer friedvollen Begegnung mit Menschen anderer religiöser Überzeugungen keineswegs fremd. Doch in der Neuzeit war es vor allem die säkulare Vernunft, die die Lehre von den Menschenrechten, denen zeitlich wie auch ideengeschichtlich das Toleranzprinzip vorausgeht, auf den Weg gebracht hat. Begründet werden die Menschenrechte, insbesondere durch das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit mit der unveräußerlichen Würde, die jeder menschlichen Person zukommt. Erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) fand nach Böttigheimer die katholische Kirche zur Billigung der modernen Menschenrechtsidee, verbunden mit einer Relativierung des eigenen Heilsund Wahrheitsanspruchs. Der Beitrag von Böttigheimer zeichnet die Entwicklungsstationen des libera listischen Toleranzprinzips nach und fragt nach den theologischen Voraussetzungen für seine Anerkennung. Die religionstheologische Begründung des christlich-islamischen Dialogs wird, wie Wolfgang Klausnitzer zeigt, aus der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ des II. Vaticanums in einem von Georg Wilhelm Friedrich Hegel inspirierten dialektischen Dreischritt abgeleitet. Die johanneische und altkirchliche Logos-Theologie beschreibt jene Weise, wie sich Gott in der Schöpfung und in der (Heils-)Geschichte offenbart, bis er sich dann – „in Fülle“ – in Jesus von Nazaret inkarniert. Daraus ergibt sich eine Kritik an allen Religionen (einschließlich des Christentums), insoweit sie Versuche menschlicher Selbsterlösung oder Apotheosen geschöpfl icher Wirklichkeiten darstellen. Religionskritik ist damit ein Wesensbestandteil des interreligiösen Dialogs. Klausnitzer zeigt, dass ein Weg zu einer Einheit der Religionen (und konkret der ,Abrahamsreligionen‘) einerseits durch das Vertrauen auf die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Vernunft in der Annäherung an Gott gewiesen, andererseits in der Überzeugung grundgelegt ist, dass es auch Elemente der Offenbarung Gottes außerhalb der jüdisch-christlichen Tradition gibt, die ,nicht selten‘ das Wirken des göttlichen Logos manifestieren. Ausgehend von der Überzeugung, dass der Dialog sich lediglich dort fruchtbringend gestaltet, wo die Gesprächspartner ihre jeweilige Religion aus Überzeugung vertreten und durch sie zu einem neuen Identitätsbewusstsein gelangen, diskutiert Abdoldjavad Falaturi die Voraussetzungen des Dialogs aus islamischer Sicht. Während Theologie – ob christlich oder islamisch –, seiner Ansicht nach, bislang in der Hauptsache auf apologetischen Grundlagen basierte, d. h. auf dem Negativen bei dem Anderen und auf dem Positiven bei sich, könne und solle nun auf der Grundlage des Selbstverständnisses des Anderen eine
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neue Ära der Theologie eingeleitet werden. Daraus könnten viele neue Ansätze, Anregungen, Thesen, Theorien und sogar Interpretationen der eigenen Religionsgeschichte hervorgehen; eine gegenseitige positive Befruchtung zählt sogar noch zu einer der kleineren Folgen eines so gearteten Dialoges. Erfahrungsgemäß begehe man – vor allem bei christlich-islamischen Zwiegesprächen – jedoch den Fehler, erstens die Verhaltensweisen der Anhänger der christlichen und islamischen Lehre mit der Lehre selbst zu verwechseln und zweitens – und das sei schwerwiegender – alle die genannten Strömungen und deren faktische Erscheinungen als christlich oder islamisch zu bewerten. Der Dialog könne, so Falaturi, dann nur in eine Sackgasse geraten. Nur ein Dialog als ,Versuch, den Anderen annähernd so zu verstehen, wie jener sich selbst versteht, und das Bemühen, von dem Anderen so verstanden zu werden, wie man sich selbst begreift‘, könne ein gegenseitiges Verständnis unter Bewahrung der eigenen Identität ermöglichen. In seinem Beitrag geht Philipp Thull auf die Frage nach Blasphemie und Häresie aus christlicher Sicht ein. Im ersten Abschnitt erläutert er den Umgang mit der Gotteslästerung im Alten und Neuen Testament. Während dem Gottesfrevler in vorchristlicher Zeit noch die Todesstrafe drohte, verlagerte die junge christliche Gemeinde das Problem dem evangelischen Anspruch entsprechend auf die eschatologische Ebene und überließ das Urteil allein Gott. Der Zorn Gottes trifft aber, wie Thull aufzeigt, am Ende jenen Menschen, der sich in seiner Freiheit von der göttlichen Liebe abwendet. Im zweiten Abschnitt bespricht Thull schließlich die Häresie aus christlicher Sicht und analysiert beispielhaft die christlichen Häresien des Gnostizismus, des Marcionismus und Montanismus. Elhakam Sukhni behandelt in seinem Beitrag die Frage nach Blasphemie und Häresie aus islamisch-koranischer Sicht. Er gibt einen allgemeinen Einblick in die Problematik der Häresie und Blasphemie im Islam. Dabei werden exemplarisch die bedeutendsten bzw. bekanntesten Fälle angeschnitten. Grundlegend sind die Aussagen im Koran zu dieser Thematik, wobei sich in vielen Fällen aus dem Koran nur indirekt ableiten lässt, was häretisch oder blasphemisch ist und tatsächlich zur Folge hat, dass jemandem der Glaube abgesprochen werden kann. So geht Sukhni exemplarisch auf Stellen im Koran ein, deren Auslegung unter Muslimen zu Meinungsverschiedenheiten geführt haben, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, eine vollständige Analyse zu liefern. In ihrem Beitrag zeigt Ulrike Elsdörfer, dass frühe Schichten der Bibel Vorstellungen vom Zusammenleben von Männern und Frauen beinhalten. Frauen haben ihre Rollen als Mutter und Ehefrau, manche treten öffentlich auf. Frauen sind Weggefährtinnen Jesu, sind Leiterinnen von Gemeinden – die Bibel beschreibt Frauen typologisch und als individuelle Personen. Elsdörfer weist nach, dass die frühe und mittelalterliche Kirchengeschichte durchzogen wird von spirituellen Bemühungen um eine jeweilige zeitnahe Interpretation der Botschaft Jesu: Die Welt durch eine bewusste geistliche Lebensweise vorbildhaft zu gestalten war ein Anliegen von Männern und Frauen. Katholische Orden prägten ihren religiösen Stil und ihre Theologie über Jahrhunderte. Frauen hatten und haben daran einen Anteil. In der Gegenwart gleichen Frauen in den Kirchen ihren Zeitgenossinnen in anderen gesellschaft lichen Umfeldern. Frauen arbeiten in den Kirchen oder sie gestalten sie ehrenamtlich mit. Fragen nach Rechten, Akzeptanz und Gleichstellung
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Einleitung der Herausgeber
von Frauen in zahlreichen Rollen und Arbeitsfeldern prägen das Bild. Einen eigenen theologischen Ansatz bietet nach Elsdörfer die feministische Theologie mit ihren verschiedenen Ausprägungen. Im vorliegenden Beitrag werden Erkenntnisse aus der Frauen-Forschung zur Bibel aufgenommen. Khola Maryam Hübsch beschäft igt sich mit dem Menschenbild im Islam und beschreibt, wie der Islam über die Entwicklung des natürlichen Zustands des Menschen zu einem moralischen Wesen eine Vervollkommnung des Menschen unabhängig seines Geschlechtes anstrebt. Es wird herausgearbeitet, dass der Koran immer wieder die Gleichwertigkeit von Mann und Frau betont und alle Menschen gleichermaßen auffordert, ein moralisch integeres Leben in Verantwortung vor Gott und der Schöpfung zu leben. Explizit werden Koranverse behandelt, die sich mit dem Verhältnis von Mann und Frau beschäftigen und deutlich machen, dass der Koran einen würdevollen, mitmenschlichen und respektvollen Umgang anmahnt. Betont wird die Wichtigkeit der historischen Kontextualisierung für die Interpretation bestimmter Koranverse, die als frauenfeindlich missverstanden werden. Argumentiert wird, dass die koranische Botschaft über die Egalität von Mann und Frau eine revolutionäre Umwälzung in der patriarchalischen Stammeskultur des Arabiens im 7. Jahrhundert darstellte und der Geist dieser progressiven Lehre der Geschlechtergerechtigkeit nicht vergessen werden darf, wenn man den Koran interpretiert. Abschließend wird auf die fruchtbare Bedeutung des islamischen Menschenbildes für den interreligiösen Dialog verwiesen, indem Koranverse und Überlieferungen des Propheten angeführt werden, die die Gleichheit und Verbundenheit aller Menschen herausstellen. Thomas Schirrmacher geht in seinem Beitrag auf das Verhältnis des Christentums zu den Menschenrechten ein. Es würde vielen religiösen Menschen weltweit helfen, wenn sie weniger den säkularen, und damit für sie eher bedrohlichen Charakter der Menschenrechte sehen würden, als mit dem Juden- und Christentum bei der Autorisierung der Menschenrechte durch den Schöpfer und der Verankerung der Menschenrechte im Geschaffensein durch Gott einzusetzen. Menschenwürde und Menschenrechte sind im Wesen des Menschen als Geschöpf Gottes begründet. Der Staat schafft die Menschenrechte deswegen nicht, sondern er formuliert und schützt sie nur. Schirrmacher vertritt die Auffassung, dass das Christentum – mit einer gewissen Ausnahme der großen orthodoxen Kirchen – sich am leichtesten von allen Religionen mit dem über den Religionen stehenden und säkularen Charakter der Menschenrechte tut. In drei Schritten thematisiert Mohammad Razavi Rad in seinem Beitrag die Frage nach den Menschenrechten aus islamischer Sicht. Während er zunächst die grundsätzliche Stellung des Menschen im Islam herausstellt, geht er in einem zweiten Abschnitt auf die Grundrechte des Menschen ein. Dabei analysiert er beispielhaft das Recht auf Leben, Freiheit und Bildung. Diese Rechte bilden seiner Ansicht nach die drei Säulen der Grundrechte insgesamt, die alle weiteren Rechte untermauern. Im letzten Abschnitt bespricht Razavi Rad schließlich das Wechselverhältnis zwischen Religion und Demokratie. Dabei vertritt er die Auffassung, dass beide, Religion und Demokratie, in einem dialogischen Verhältnis zueinander stehen und in Verbindung zu einem dialogischen Weg der Verständigung führen können.
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Die Liebe aus biblisch-christlicher Sicht wird in dem Beitrag von Reinhard Kirste behandelt. Unter den Gesichtspunkten einer von Gott zugesagten Liebe geben die ausgewählten Texte nach Kirste einen Einblick in unterschiedliche Liebesverständnisse. Diese unterliegen durchaus zeitlichen und gesellschaftspolitischen ,Gemengelagen‘. Das machen die jeweiligen biblischen Texte gerade in ihren jeweiligen Zuspitzungen deutlich. Bei aller Unterschiedenheit und großen zeitlichen Differenz aber gibt es eine gemeinsame Zielrichtung: Von Deuterojesaja bis zu den johanneischen Traditionen bedeutet ,Liebe‘ einen grundlegenden Zusammenhang, eine intensive Korrelation von Gott und Mensch. Am deutlichsten wird das nach Kirste bei Johannes: „Wo die Liebe ist, da ist auch Gott“ (1 Joh 4,16). Diese Liebe gilt es zu üben, weil Gott zuerst geliebt hat und den Menschen herausruft aus seinem bisherigen Leben. Das daraus erwachsende Handeln verbindet sich nach Kirste mit der Forderung nach Gerechtigkeit und der Suche nach der Wahrheit. Es ist ein glaubendes Gottvertrauen auf einem Weg, der im Tun der Liebe sinnliche Erfahrungen von Freude, Geborgenheit und innigem Zueinander bewusst mit einschließt. Merdan Güneş thematisiert in seinem Beitrag die Frage nach der Liebe aus islamischkoranischer Sicht. Dabei stellt er fest, dass die Liebe im islamischen Kontext immer einen Bezug zu Gott hat, dem Schöpfer, der alles mit Liebe und Barmherzigkeit erschaffen hat. Die Liebe sei daher die treibende Kraft und der Grund alles Seins im Universum. Güneş zeigt, dass das koranische Konzept den Anspruch hat, die gesamte Natur und die Beziehungen der Menschen unter den Gesichtspunkt der Liebe zu stellen. Nach Güneş ist die Liebe nicht nur ein zentraler Begriff im Koran und in der islamischen Glaubenslehre, sondern auch der Kern aller abrahamischen Religionen. In diesem Sinne ist Allah Gott der Liebe und Barmherzigkeit und Mohammad Prophet der Liebe und Barmherzigkeit. Seine Botschaft ist nach Güneş die Liebe, seine Aufgabe, den Menschen die Liebe zu Gott und seinen Geschöpfen nahe zu bringen. Im Islam sollen der Glaube und der Gehorsam demnach auf der Liebe basieren. Die Liebe ist daher nach Güneş nicht nur die Grundlage für die Beziehung zwischen Mensch und Gott, sondern für alle Beziehungen des Menschen. Der Vorrang von Respekt und Toleranz in jeder Lebenslage wird somit für den Verfasser als direkte Konsequenz aus einem solchen ganzheitlichen Konzept der Liebe angesehen. Dieser Ansatz trägt nach Güneş zum besseren Verständnis des Islams bei, bietet eine Orientierung im europäischen Kontext und leistet so einen Beitrag zum Dialog zwischen den abrahamischen Religionen. Ahmad Ginaidi geht in seinem Beitrag der Frage nach Begriff und Inhalt des Dschihad nach. Er moniert, dass dieser Ausdruck in europäisch-westlichen Hemisphären und in vielen interreligiösen Debatten eine Interpretation erfährt, die den Islam als kriegerische Religion darstellt. Auf dieser Grundlage analysiert Ginaidi das Konzept des Dschihad aus der Sicht des Korans. Er zeigt auf, dass dieser dem Inhalt nach Ausdruck des Wahren und Guten auf dem Wege der Selbstüberwindung und innerer Anstrengung bedeutet. Ginaidis Meinung nach handelt es sich um die Verfeinerung der Sittlichkeit im menschlichen Leben. In diesem Schlüsselbegriff sieht Ginaidi die Möglichkeit eines echten christlich-islamischen Dialogs, wobei der Dialog voraussetzt, Konvergenzen wie Divergenzen gleichermaßen in Betracht zu ziehen, ohne sie gegeneinander ausspielen oder aufeinander reduzieren zu wollen.
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Einleitung der Herausgeber
Hermann-Josef Scheidgen führt in die Dimensionen des Fundamentalismus ein. Dabei zeigt er, dass Fundamentalismus nicht allein ein religiöses Phänomen darstellt, sondern eine anthropologische Verankerung besitzt. Er unterteilt den Begriff des ,Fundamentalismus‘ in eine negative und eine positive Form, die sich ausschließen. Scheidgen zeigt, dass derartige Tendenzen in allen Wissenschaften und ihren Zweigen nachweisbar sind und ein erhebliches Hindernis der Kommunikation nicht nur innerhalb der Kulturen darstellen, sondern auch zwischen den Traditionen. Martin Tamcke beschäftigt sich mit dem Neben- und Beieinander christlicher und islamischer Mystik zunächst aus der Perspektive des beiden gemeinsamen Ursprungsraumes im Orient. Nach Benennung der bekannten parallelen Phänomene und gegenseitigen Wahrnehmungen, stellt er die Mystik beider Religionsgemeinschaften vor, die in vielfacher Weise die Tendenz zur Grenzüberschreitung entwickeln. Wie die Frage der Vereinbarkeit beider Wege sich stellte, so auch die, wie es beide Wege in ein und demselben Menschen miteinander aushielten, wenn etwa Thomas Merton in sein Lebenskonzept sowohl sufische als auch christlich-mystische Impulse aufnahm. Im Gegensatz dazu reagierten Vertreter beider Seiten ausgesprochen zurückweisend und die andere Seite herabsetzend, sofern sie deren Weg als in Konkurrenz zu dem eigenen empfand. Zuletzt zeigt Tamcke, dass sich der mystische Weg einerseits als Vertiefung exklusiv nur im Blick auf den religiösen Weg einer Seite erweist, andererseits auch als Beförderung der Gemeinsamkeit hinter dem Trennenden, also in der sowohl transkulturellen als auch interkulturellen Interaktion. Wolfgang Gantke unternimmt den Versuch, verschiedene Wege von der Theorie zur Praxis der Toleranz aufzuzeigen, wobei der Schwerpunkt auf das Scheitern vieler Toleranzkonzeptionen in der Praxis gelegt wird. Angesichts des tiefen Grabens zwischen Theorie und Praxis in der Toleranzfrage, insbesondere vor dem Hintergrund der gewaltförmigen Wiederkehr der Religion, wird gefragt, ob all die gutgemeinten Toleranz- und Dialogbemühungen nicht doch zum Scheitern verurteilt sind. Es gibt mächtige Kräfte in allen Kulturen, die offenbar keinerlei Interesse am Dialog, an gegenseitiger Toleranz und am Verstehen anderer Kulturen haben. Ohne eine Auseinandersetzung mit der politischen Machtfrage dürfte eine Lösung des Toleranzproblems nicht möglich sein. Der sich gegenwärtig fundamentalistisch zuspitzende ,Kampf der Kulturen‘ lässt die ,Machtvergessenheit‘ vieler rationalistischer Dialog- und Toleranzkonzeptionen deutlich vor Augen treten. Aber auch Beiträge, die sich kritisch mit der Machtfrage auseinandersetzen, bleiben wirkungslos, solange sich das Bewusstsein der wenigen mächtigen Verantwortungsträger, die letztlich über Krieg oder Frieden entscheiden, nicht ändert. Die jüngsten Entwicklungen im interkulturellen Kontext, etwa der unselige Karikaturenstreit, in dem sich die Fronten weiter verhärten, geben wenig Anlass zur Hoff nung. Was aber wäre die Alternative zum Dialog der Religionen, der für einige Kritiker alltagspraktisch bereits gescheitert ist? Trotz der unerfreulichen Entwicklungen kann immer wieder daran erinnert werden, wie eine ideale Dialogsituation aussähe und dass es durchaus eine gemeinsame Basis aller Religionen gibt, die als Ausgangspunkt für einen gelingenden Dialog dienen könnte: die Anerkennung des Heiligen. Es ist diese Übereinstimmung im Grund-
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sätzlichen, die gegenseitige Toleranz trotz der Anerkennung bleibender Differenzen ermöglichen könnte. Die interkulturelle Diskussion um das Heilige zeigt allerdings, wie schwierig es für Nichtgläubige ist, die Position von Gläubigen zu verstehen und umgekehrt. Hier könnte eine größere Toleranzbereitschaft einen Dialog ermöglichen, in dem nicht nur versucht wird, die eigene Position durchzusetzen.
Redaktionelle Anmerkungen Auf vielfältige Weise zeigen die verschiedenen Beiträge, die natürlich nicht immer mit der Meinung der Herausgeber übereinstimmen müssen, wie facettenreich der christlichislamische Dialog ist. Dieser erste Versuch möge mit allen seinen Unzulänglichkeiten eine Grundlage für weitere systematische Versuche bieten, um den kritischen und versöhnlichen Dialog zwischen den beiden Weltreligionen Christentum und Islam voranzutreiben. Auf diesem Wege möchten wir uns bei einigen Kollegen, Freunden und Studierenden sowie bei dem Kuratorium des Instituts zur Förderung der Interkulturalität bedanken, die uns bei der Durchsicht der Texte mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Nicht zuletzt geht unser Dank auch an die einzelnen Autorinnen und Autoren, die diesen Band durch ihre Beiträge bereichern sowie an die Wissenschaft liche Buchgesellschaft für die Aufnahme dieses Sammelwerkes in ihr Verlagsprogramm. Hamid Reza Yousefi und Philipp Thull
Koblenz und Münster im August 2013
Wie ist Kommunikation möglich?1 Neue Horizonte und alte Klischees von Hamid Reza Yousefi
Ziel und Aufgabe Hamid Reza Yousefi Wie ist Kommunikation möglich?
Kontextuell zu verfahren bedeutet, unterschiedliche Traditionen mit ihren jeweils eigenen Terminologien, Fragestellungen und Lösungsansätzen als gleichberechtigte Diskursbeiträge von ihren verschiedenen Positionen her zur Sprache kommen zu lassen, um gemeinsame Perspektiven entwickeln zu können. Dies bedeutet kultursensitiv vorzugehen und zugleich bereit zu sein, sich mit den Augen des Anderen zu sehen. Transkulturelles, d. h. kulturübergreifendes Denken und interkulturelles Handeln bilden das Wesen dieses Modells. Mein Ansatz ist interdisziplinär ausgerichtet, weil der Mensch, jenseits des Vorhandenseins diverser Disziplinen, stets interdisziplinär denkt und handelt. Die Frage nach der kontextuellen Kommunikation in interkultureller Absicht heißt die Frage zu beantworten, wie wir die „Verschiedenheit der Köpfe und die Mannigfaltigkeit der Wege“2 zusammenbringen können. In einem ersten Schritt begründe ich kurz, was Kommunikation bedeutet und welcher Kulturbegriff zugrunde gelegt wird. Dieses Modell umfasst sieben ,Korrelatbegriffe‘, die ich umreißen werde. In einem zweiten Schritt werde ich einige Gründe diskutieren, die das Scheitern aller Formen der Kommunikation verursachen können. Zu nennen sind vor allem erstens der exklusivistische Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, zweitens die Geographisierung des Denkens und drittens die Kategorie der negativen Macht. Abschließend werde ich das Konzept einer ablehnenden Anerkennung formulieren.
Was bedeutet Kultur? Kultur gibt uns Orientierung und beeinflusst unsere Wertvorstellungen und Normen. Sie bestimmt, was gut oder nicht gut ist, was normal oder nicht normal ist. Kultur bestimmt unsere Identität, unseren Glauben, unser Weltbild, unsere Sprache, nimmt Einfluss auf unser soziales Umfeld. Sie bestimmt auch unser Verhältnis zu Menschen, die aus anderen Kulturregionen kommen. Kultur schafft Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen. Sie erzeugen Kultur, von der sie beeinflusst werden. Kultur verbindet nicht
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nur unsere Seelen, sondern sie kann uns auch trennen, wenn Menschen unterschiedlich erzogen werden. Kultur bestimmt unsere Weltbeziehung. Sie lässt sich als Baum betrachten, der immer mehr wächst. Die Wurzeln werden lang und gehen tief in den Boden, auf dem wir als Mensch stehen. An den Ästen gibt es Früchte, die sehr unterschiedlich sind. Wo immer wir auch hingehen, nehmen wir die Wurzeln, also unsere kulturelle Vorprägung, mit. Sie sind sehr wichtig für unsere Begegnung mit Menschen, die andere kulturelle Wurzeln haben, ob christlich, jüdisch oder islamisch. Der Mensch trägt überall seine kulturellen und religiösen Wurzeln mit. Kultur wird diskutiert als Zivilisierungsprozess oder als menschliches Erzeugnis, als politisches Konzept oder als Gefüge von Symbolsystemen, als soziale Ordnung oder als Ergebnis diverser Anpassungsleistungen von Menschen oder als Substanz eines Volkes. Kultur lässt sich ferner auffassen als Ensemble von Texten oder Gedächtnis sozialer Systeme, als ein Bündel von Techniken und Alltagspraxen bzw. als Sphären von Erfahrungen oder als grenzenlose Phänomene mit spezifischen Charakteren.3 Diese Kulturauffassungen lassen sich in sieben Perspektivierungen unterteilen: normengebende, kugelhafte und symbolisch-strukturelle sowie intellektualistische, multikulturelle, transkulturelle und interkulturelle.4 Bei meinem Kommunikationsmodell gehe ich von einem praktischen Kulturbegriff aus, nach dem Kulturen als offene und dynamisch-veränderbare Sinn- und Orientierungssysteme verstanden werden.
Mensch und Kommunikation Zwischenmenschliche Kommunikationen unterscheiden sich grundlegend vom Informationsaustausch zwischen zwei oder mehreren Rechnern. Technische Standardisierung macht es kulturübergreifend möglich, dass der Code, in dem eine Nachricht verschlüsselt ist, genau dem Code entspricht, den andere Systeme verwenden, um die Nachricht exakt im Sinne des Senders zu lesen. Eine Waschmaschine oder ein technisches Gerät funktionieren ebenfalls nach einer bestimmten Anweisung; befolgen wir die Anweisungen beliebig, so werden diese nicht funktionieren. Eine solche Isomorphie lässt sich bei der Kommunikation zwischen Menschen kaum erfüllen. Denn: Menschen sind weder Rechner noch Waschmaschinen. Jedes Individuum besitzt eine eigene kognitive Landkarte, ein einzigartiges Repertoire interner Konstruktionen seiner Wirklichkeit. Das Wesen des Menschen ist unergründlich. Hieraus können wir folgende Hypothese gewinnen: Soziale, politische, kulturelle oder religiöse Konflikte konstruieren und entwickeln sich in der Begegnung divergierender Wirklichkeitsdeutungen der Individuen, die weittragende Konsequenzen für die soziale Matrix und damit auch für Kommunikationsprozesse haben. Wenn wir nach einer echten Kommunikation suchen, dann benötigen wir neue und damit situations- und kontextangemessene Methoden und Kompetenzen, die unsere Begegnungen, unsere wissenschaft lichen und politischen Diskurse erleichtern.5 Das Ver-
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ständnis von Recht und Unrecht oder Toleranz- und Integrationsgrad äußert sich bei jedem Menschen anders. Selten finden wir Menschen, deren Erkenntnis und Interesse völlig isomorph sind. Neben erhellenden Konvergenzen gibt es immer starke Divergenzen. Hiernach ist Kommunikation jenseits aller Kulturkreismalereien und Differenzsemantiken, als ein offener und vielschichtiger Prozess zu verstehen, in dem Menschen miteinander ins Gespräch kommen, die verschieden sind, im Denken, Reden und im Handeln. Die Forderung nach situations- und kontextangemessener Variabilität aller Kommunikationsmodelle hängt mit dieser Tatsache zusammen. Eine Kommunikationstheorie, die für alle Zeiten und Zonen verbindlich zu sein hat, kann nur durch organisierte Gewalt geplant und ausgeführt werden.
Momente einer kontextuellen Kommunikation Drei Momente sind für die theoretische und praktische Ausrichtung einer kontextuellen Kommunikation grundlegend: Die Situationsgebundenheit: Wo und in welcher Situation wird kommuniziert? Die Kontextgebundenheit: In welchem Kontext wird kommuniziert? Die Individualitätsgebundenheit: Wer kommuniziert? Wir sagen zwar ,Dialog der Kulturen‘, es sind aber ausschließlich Menschen, die sich mehr oder weniger mit unterschiedlichen kulturellen Kontexten identifizieren. Eine solche bewusste Vorgehensweise trägt dazu bei, Generalisierungen in Form von ,die Deutschen‘, ,die Türken‘ oder ,die Iraner‘ usw. vermeiden zu lernen. Drei Momente sind im Rahmen einer jeden Kommunikation zu beachten: Kontextualität, Situativität und Individualität. Die Beachtung dieser drei Notwendigkeiten hängt damit zusammen, dass die jeweiligen Situationen zu komplex, die jeweils handelnden Personen zu singulär und die kulturellen und traditionellen Kontexte zu unterschiedlich sind. Kontextuelle Kommunikation ist nicht differenzorientiert, sondern stets dialogisch. Dies darf nicht dazu verleiten, menschliche Handlungen kulturunabhängig zu betrachten. Im Gegenteil. Die kulturellen Vorprägungen und Einbettungen sind immer wirksam, während Abweichungen der Einzelnen festzustellen sind. Menschen sind im Gegensatz zur postmodernen Anthropologie keine Welten, die nur sich selbst wahrnehmen, sondern gehören stets einer Gemeinschaft an, die kulturelle Vorprägungen nicht leugnen können. Problematisch wird es, wenn sich diese Vorprägungen bewusst oder unbewusst verabsolutieren. Zu beachten sind vor allem soziokulturelle Hintergründe, Bildungsschichten und Berufsgruppen sowie Sozialisationen und Erziehungsformen. Wer diese Erfahrungswelten ernsthaft berücksichtigen will, wird einen denkenden, verstehenden und lernenden Umgang mit dem Anderen anzustreben bemüht sein.
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Korrelatbegriffe der Kommunikation Das Eigene und das Andere Im Kontext meines Modells vermeide ich den Begriff ,Fremd‘ konsequent, denn dieser ist meist mit negativen Konnotationen verbunden. ,Fremd‘ bedeutet im Deutschen ,andersartig, anders geartet, exotisch‘. Im Persischen bedeutet es bspw. ,bigane‘, d. h. Ausländer, Besatzer, unerwünschte Person. In beiden Sprachkulturen besitzt der Ausdruck einen stark abwertenden Charakter und eine negativ wertende Handlungsbedeutung, während das Wort ,Andere‘ als ,verschieden‘ aufgefasst wird. Wir sagen gewöhnlich nicht: Ich gehe mit Fremden essen, sondern vielmehr: Ich gehe mit anderen essen. Es wäre verwunderlich zu sagen: ,Ich arbeite mit Fremden in einem Büro‘, auch wenn es sich um ausländische Kolleginnen oder Kollegen handelt. Eine Fremdheitsbehauptung entsteht, wenn in uns Verunsicherung, Bedrohung oder Beunruhigung wirksam ist. Fremdheit ist nicht a priori da. Sie wird erzeugt. Es ist anzunehmen, dass es sich bei der Erfindung des Ausdrucks des ,Fremden‘ um ethnologische Kreationen handelt, die komplexe Sachverhalte in Begriffe kleiden, die dem Kern des Anliegens nicht Rechnung tragen. Durch diese Verwendung von pejorativen Begriffen wird einem Hindernis der interkulturellen Kommunikation unnötig Vorschub geleistet. Das Anders-Denken, – Handeln, – Fühlen oder – Gesinnt-Sein des Eigenen, beschreibt keinen schroffen Gegensatz zum kulturell oder religiös Anderen, sondern einen Unterschied, der durchaus kommensurabel ist. Wer von einer Inkommensurabilität der Divergenzen ausgeht, wird einen kugelhaften, geschlossenen Kulturbegriff zugrunde legen. Die Frage nach dem Eigenen und dem Anderen bildet somit die Bestimmungsgrundlage interkultureller Kommunikation.
Interkulturelle Kompetenz Eine Verhaltensform, die in einem Kulturraum oder einem Kontext erwartet wird, kann in einer anderen Kulturregion oder einem anderen Kontext als völlig unangemessen empfunden werden. Hier setzt die interkulturelle Kompetenz an. Sie wird erforderlich, wenn unterschiedliche Denkformen, Handlungsmuster oder Lebensentwürfe miteinander in Berührung kommen, ob intra-, interkulturell oder interpersonal. Sie beachtet immer, theoretisch wie praktisch, Situationen, Kontexte und Individualität der Personen. Drei Kernkompetenzen sind hierbei von Bedeutung: erstens die eigenkulturelle Kompetenz, zweitens die anderskulturelle Kompetenz und drittens die interkulturelle Sachkompetenz. Am Beispiel des Iran und Deutschlands lässt sich dies verdeutlichen: 1) Man hat es mit zwei unterschiedlichen Kulturräumen, Staatsformen und Sprachkulturen mit verschiedenen soziokulturellen und lebensweltlichen Hindergründen zu tun, die zwar Gemeinsamkeiten aufweisen, jedoch auch Divergenzen besitzen. 2) Gebote und Verbote differieren ebenfalls. Der Konsum von Alkohol ist in vielen
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islamisch geprägten Staaten ungewöhnlich, im Iran sogar verboten. Der Genuss von Schweinefleisch ist undenkbar, weil Schweine ,Allesfresser‘ sind und als unrein gelten, während diese Faktoren in Deutschland keine Rolle spielen. Das Schächten des Lammes wird hingegen in Deutschland teilweise als Tierquälerei zurückgewiesen, während dies wiederum im Islam religiös begründet ist. Zu wenig bewusst ist die Tatsache, dass es auch in Deutschland bestimmte Esstabus gibt. So werden bspw. Haustiere im engeren Sinne, wie Hunde, nicht verspeist, während diese in Südostasien verzehrt werden. Es handelt sich allerdings um Tiere (Hunde), die zu diesem Zweck gezüchtet werden. Angebracht ist, wie gesagt, eine kultursensible Vorgehensweise. Interkulturelle Kompetenz bedeutet, allen Lesarten das gleiche Recht einzuräumen, die die Würde des Menschen schützen. Dies setzt freiwillige Selbstbescheidung und Rücksichtnahme voraus. Wir müssen uns auch aufgrund der unterschiedlichen Höflichkeits- und Begrüßungsformen stets vergegenwärtigen, was wir wissen müssen, worauf wir im Dialog hoffen dürfen und worauf wir zu verzichten haben. Eine offizielle und für alle geltende Lesart gibt es nicht. Die Pluralität der Lesarten ist nicht reduzierbar, falls wir an einem echten Dialog interessiert sind.
Interkulturelle Semantik Interkulturelle Semantik befasst sich mit kulturell und kontextuell bedingten Äußerungsformen und daraus hervorgehenden Missverständnissen und bezieht sich insbesondere auf die Beschreibung kulturspezifischer Wortbedeutungen. Das Plädoyer für eine interkulturelle Semantik könnte als indirekte Forderung von Kulturessentialismus missverstanden werden, in dem das Verstehen allein durch Semantik gestaltet werden soll. Es geht um die Beachtung kultureller Kontexte und das Nachvollziehen der jeweiligen Ausdrucksformen, die je nach Situation und Wortwahl stark positive oder stark negative Emotionen hervorrufen. Besonders störanfällig sind die Bereiche der Höflichkeits- und Grußfloskeln und sogenannte Hotwords, Wörter wie ,Religion‘, ,Heimat‘, ,Moschee‘, ,Kopftuch‘, ,Familie‘. Solche Differenzsemantiken können Fundamentalkonflikte hervorrufen.
Interkulturelle Hermeneutik Sie ist deshalb bedeutsam, weil jede zwischenmenschliche Kommunikation mit individuellem Verstehen und Auslegen von Handlungen und Denkweisen zusammenhängt. Eine denkende, verstehende und lernende Umgangsform zwischen dem Eigenen und dem Anderen ermöglicht eine argumentative Methode, die darauf ausgerichtet ist, das beziehungslose Nebeneinander des Eigenen und des Anderen in ein interaktives Miteinander zu überführen. Interkulturelle Hermeneutik fragt bspw. danach, wenn ich mich mit Peter unterhalte; erstens wie ich mich selbst verstehe als ,Ali‘, zweitens wie ich ,Peter‘ betrachte, drittens wie sich ,Peter‘ selbst versteht und viertens wie ,Peter‘ mich sieht.
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Die interkulturelle Hermeneutik sucht nach diesem dialektischen Wechselverhältnis eine theoretische wie praktische Horizontenüberlappung. Sie besitzt einen responsiven Charakter und beschreibt einen Reflexionsweg zur Modifi kation von Einseitigkeiten. Ihre Responsivität artikuliert sich in der Bereitschaft, das Andere in seiner Andersheit wahrnehmen zu wollen. Hier liegt der responsive Ort, an dem sich das Verstehen-Wollen und Verstandenwerden-Wollen von ,Ali‘ und ,Peter‘ kommunikativ ergänzen. Für beide gilt es stets zu fragen, wie wir kommunizieren, verstehen und vergleichen, welche Methoden wir benutzen, welche Ziele wir verfolgen und wo wir das tertium comparationis, also den Vergleichsmaßstab, verankern.
Interkulturelle Komparatistik Interkulturelle Komparatistik setzt Sachverhalte aus kulturell unterschiedlichen Kontexten unter Berücksichtigung ihrer Terminologien, Fragestellungen und Lösungsansätzen miteinander in Beziehung. Der Vergleichsmaßstab wird nicht ausschließlich in einer bestimmten Tradition verabsolutierend verankert. In der Hauptsache geht es neben der Konstatierung von Unterschieden und erhellenden Differenzen um die Herausbildung von Interdependenzen, Überlappungen und Übergängen. Interkulturelle Komparatistik ist eng verbunden mit allen anderen Korrelatbegriffen, die das Bezugssystem des Eigenen und des Anderen gleichermaßen in Betracht ziehen. Diese Vorgehensweise vermeidet eine kommunikationshemmende Generalisierung. Reduktive Komparatistik reißt hingegen einen bestimmten Aspekt aus dem Zusammenhang heraus, der im ursprünglichen Kontext eine andere Bedeutung hatte und nun mit einem sachfremden Inhalt verbunden wird. Als Beispiel könnte man die Begriffe ,Djihad‘ und ,Scharia‘ nehmen, die hier bei uns im Westen ins Politische übersetzt und interpretiert werden. Reduktive Vergleichsanalysen gehen zentristisch vor, indem sie alles vom eigenen Standpunkt heraus betrachten, bewerten und interpretieren.
Interkulturelle Toleranz Interkulturelle Toleranz sucht Konvergenzen, Divergenzen sowie Überlappungen im Vergleich und Verständnis der Kulturen unter Berücksichtigung ihrer Kontexte, um gemeinsam ausgehandelte Regeln zu formulieren. Ihre Funktion ist sowohl die kritisch-dialogische Begegnung unterschiedlicher Denk- und Lebensformen als auch die aktive Förderung der interkulturellen Kommunikation. Die Grenze einer solchen Toleranz ist die Verletzung der Menschenwürde. Hierbei sind das Welt- und Menschenbild, die historische Bedingtheit vieler Gepflogenheiten und die religiösen Vorstellungen der Völker in einem argumentativen Dialog mit ihren Vertretern unter Berücksichtigung der Kontextualitäten und Individualität zu betrachten, um über-
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haupt urteilen zu können. Der Referenzmaßstab einer Grenzbestimmung der Toleranz im interkulturellen Kontext ist stets mit den jeweiligen Vertretern auszuhandeln. Wer nach eigener Auffassung eine allgemeinverbindliche Theorie der Toleranz und ihrer Grenzen formuliert, geht, wenn auch unausgesprochen, von einem essentialistischen Kulturbegriff, einem einheitlichen Menschenbild und einer einheitlichen Ethik aus. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die wirksamen Dogmatismen den Widerstand des Anderen herausfordern. Die meisten interkulturellen Dialogbemühungen sind von einer solchen selbstverabsolutierenden Einseitigkeit geprägt.
Interkulturelle Ethik Bei der interkulturellen Ethik geht es um den Versuch, die Stimme des Anderen aus dessen Bezugssystem heraus als einen Diskursbeitrag theoretisch wie praktisch zu Wort kommen zu lassen. Dies unabhängig von religiösen, politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen. Sie ist, wie die anderen sechs Korrelatbegriffe, kein Plädoyer für Werterelativismus, nach dem alles gleich gut und richtig ist und sein muss. Die interkulturelle Ethik unterscheidet sich von traditionellen Ethiken dadurch, dass sie Kulturen weder essentialistisch auffasst noch generalisierend verfährt. Sie geht der Frage nach, ob und inwiefern menschliche Handlungen als gut oder schlecht bzw. angemessen oder unangemessen beurteilt werden. Es geht um die Analyse der Gründe, die Individuen zu bestimmten Handlungen motivieren. Die Betrachtung der Ethik durch die interkulturelle Brille zeigt, wie Strukturen zusammenhängen und Entscheidungen kontextgebunden sind. Sie zeigt auch Gründe auf, warum es wesentlich ist, das Welt- und Menschenbild, die Bedingtheit vieler Gepflogenheiten der Völker denkend, verstehend und lernend zu studieren sowie bereit zu sein, die Belehrungskultur zugunsten einer kommunikativen Lernkultur aufzugeben.
Möglichkeiten und Hindernisse der Kommunikation Die Verwirklichung eines kontextuellen Kommunikationsansatzes benötigt eine pädagogisch angemessene Umgangsform, um aus dem ,Ich-Du-Bezug‘ des Eigenen und des Anderen eine dialogische ,Gemeinschaft des ,Wir‘ entstehen zu lassen. Wir haben eine Reihe weiterer Elemente für die Etablierung dieser Gemeinschaft zu berücksichtigen, wenn wir an einem lernenden und verstehenden Miteinander interessiert sind. Für die Vermittlung echter Verständigung benötigen wir eine solide und ebenfalls kulturübergreifende Korrelationsdidaktik, um dieses Wissen kompetent und kontextangemessen zu vermitteln. Damit ist eine dialektische Didaktik gemeint, die stets das Eigene und das Andere miteinander ins Gespräch bringen will, um diese ,Gemeinschaft des Wir‘ zu fördern. Drei Haupthindernisse der Kommunikation sind auf diesem Wege zu berücksichtigen: Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, Geographisierung des Denkens und die negative
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Macht. Zunächst zum exklusivistischen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch. Dieser Anspruch wird in der Regel von denjenigen erhoben, welche die eigene Einstellung oder Überzeugung verabsolutierend für eine Offenbarung halten und einen Universalitätsanspruch geltend machen wollen. Die Folgen sind, um einige Beispiele zu nennen, Kreuzzüge, die Vertreibung der Buddhisten aus Indien oder die Eroberungskriege der Moslems. Ein solcher Absolutheitsanspruch liegt praktisch in der alleinseligmachenden Maxime, die eigene Gesetzgebung, politische Meinung oder die eigene Religion für die ausschließliche Wahrheit und den einzig-vernünftigen Weg zu halten. Solche alleinseligmachende Maximen erliegen der Versuchung, alle Arten von Dyaden und Polaritäten auf einen einzigen fundamentalen Typ zu reduzieren. „Die Unifizierung des Wahren“ ist zwar ein Wunsch der Vernunft. Sie ist aber eine „erste Fehltat, eine erste Gewaltsamkeit“ schreibt Paul Ricœur zutreffend.6
Geographisierung des Denkens Diese Theorie geht von der Annahme aus, dass es Kulturregionen gibt, in denen Menschen holistisch denken und handeln, während zugleich vermutet wird, dass nur in manchen Kulturgebieten Menschen linear-analytisch denken und handeln. Ein gegenwärtig führender Vertreter dieser Auffassung ist der US-amerikanische Anthropologe Richard Nisbett. In seiner empirischen Studie ,Geographie des Denkens‘ kommt er zum Schluss, dass nur Europäer und US-Amerikaner logisch-analytisch denken, während Asiaten und andere von einem übergreifenden Ganzen und damit holistischen Denken ausgehen. Nisbett schlussfolgert, dass das westliche Denken vorwiegend analytisch, begrifflich stringent und sachlich ausdifferenziert ist, während östliches Denken vorwiegend ganzheitlich und schwärmerisch-exotisch verfährt, was an Kant und Hegel erinnert. Eine konstruierte Geographisierung des Denkens, die auch generalisiert wird, ist empirisch unangemessen. Rolf Arnold bezeichnet solche Myopien als „kulturbedingte Trugschlüsse“ und kritisiert den alleinigen Universalitätsanspruch der abendländischen Vernunft, welche die außereuropäische Denk- und Wahrnehmungsformen als defizitär marginalisiert. Dies hängt oft damit zusammen, dass es für viele von uns selbstverständlich geworden ist, die Welt unbeirrt durch die eigene Brille zu sehen, diese Sehenslogik zu verabsolutieren und strikte Kulturstandards zu entwickeln. Mit einer solchen Mentalität geht die Degradierung des Anderen zum Projektionsobjekt Hand in Hand. Beide Denkmodelle, sowohl das angeblich rein analytische wie auch das angeblich rein holistische, sind in allen Kulturräumen gleichzeitig anzutreffen. Analytisches und synthetisches, zergliederndes und zusammenführendes Denken sind Momente des Erkenntnisprozesses des Menschen, und dies jenseits seiner kulturellen Zugehörigkeit.
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Die Kategorie der negativen Macht Diese Ausübung der Machtform ist die dritte und damit zentrale Barriere der interkulturellen Kommunikation, die in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftritt. Die Frage ist, wann, wo und wie Macht Dialoge determiniert. Macht ist „jene Chance“, sagt Max Weber, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“7. Nach diesem Vorverständnis liegt der negativen Macht ein Weltbild zugrunde, alles – in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft – nach einer bestimmten Form von Selbstgesetzgebung, ohne Rücksicht auf Erkenntnis und Interessen des Anderen, zu beherrschen. Negative Macht verfährt nicht wie ihre positive Variante pluralistisch und dialogisch, sondern zentristisch, und damit monologisch. Sie ist per se dogmatisch und hochgradig eskalationsorientiert. Viele Konflikte, Kommunikationsbrüche und Kriege fußen auf einem negativen Machtbegriff, in dem die Macht des Eigenen die faktische Ohnmacht des Anderen zur Folge hat. Dadurch wird jeder Versuch, ernsthaft kommunizieren zu wollen, zerstört. Das Gespräch zwischen dem griechisch-baktrischen König Menandros und dem buddhistischen Mönchphilosophen Nagasena verdeutlicht die Folge einer negativen Macht: Der König sprach: „Ehrwürdiger Nagasena, wirst du weiter mit mir diskutieren?“ „Wenn du, großer König, in der Sprache eines Gelehrten diskutieren wirst, dann werde ich mit dir diskutieren. Wenn du aber in der Sprache des Königs diskutieren wirst, dann werde ich nicht mit dir diskutieren.“ „Wie, ehrwürdiger Nagasena, diskutieren denn die Weisen?“ „Bei einer Diskussion unter Weisen, großer König, findet ein Überzeugen und ein Zugestehen statt; eine Unterscheidung und eine Gegenunterscheidung wird gemacht. Und doch geraten die Weisen nicht darüber in Zorn. So, großer König, diskutieren die Weisen miteinander.“ „Wie aber, Ehrwürdiger, diskutieren die Könige?“ „Wenn Könige während einer Diskussion eine Behauptung aufstellen und irgendeiner diese Behauptung widerlegt, dann geben sie den Befehl, diesen Menschen mit Strafe zu belegen. Auf diese Weise diskutieren Könige.“8 Macht, wie sie Menandros besitzt, definiert Handlungsregeln und erklärt sie eigenständig für allgemeinverbindlich, dies unabhängig von toleranter Erkenntnisgesinnung des Nagasena. Diese Haltung definiert, wann, wo und mit welchen Methoden Macht Diskurse determiniert. Nagasena verfügt aber nicht über diese Variabilität der Möglichkeiten. Er kann ausschließlich auf die Macht seiner Argumente setzen und zugleich auf die Gnade des Königs hoffen, weil der König nach seinem Belieben belohnen und bestrafen kann. „Heute Freund, morgen Feind“. Dies hängt auch mit der beinahe unausrottbaren Selbstliebe und Habsucht des Menschen zusammen. Hier wird überdeutlich, dass die interkulturelle Kommunikation ohne politische Unterstützung in Theorie und Praxis nicht möglich ist.
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Ablehnende Anerkennung Ich schicke voraus, dass die reziproke Anerkennung der wechselseitigen Unverfügbarkeit der Menschenwürde das normative Prinzip meines kontextuellen Kommunikationsmodells ist. Diese Anerkennung wird eine ablehnende sein müssen. Ablehnende Anerkennung heißt den anderen als Person, als Teil der Gesellschaft oder als Diskursteilnehmer unter Bewahrung seiner Würde anzuerkennen, ohne damit die Pflicht zu verbinden, seine Einstellungen und Überzeugungen zu akzeptieren. Der Kern dieser Form von Anerkennung ist die Unverfügbarkeit der Menschenwürde auf jedwedem Gebiet. Ablehnende Anerkennung erfordert Standpunktbeweglichkeit und keine Preisgabe eigener Auffassungen, die Aufhebung von Unterschieden oder die Assimilierung in eine Gemeinsamkeit, sondern vielmehr die Anerkennung von Divergenzen und Konvergenzen, um eine ,Gemeinschaft des Wir‘ zu bilden. Ablehnende Anerkennung ist ein Weg, der sich auf vielen Ebenen der Politik, Wissenschaft und Gesellschaft wiederfindet. Dies hängt damit zusammen, dass das menschliche Verhalten immer aufgrund seiner Konfliktivität mit ablehnenden Komponenten verbunden ist. Ich toleriere bspw. den Heilsweg und den Anspruch des Judentums, Christentums oder Islam, obwohl ich diese Religionen für mich bewusst ablehne. Dabei räume ich den Anhängern dieser Religionen die Möglichkeit aktiv ein, dass sie für sich ihren Heilsweg als absolut behaupten und meine Anschauung als Agnostiker ablehnen, wenn auch mir zugestanden wird, dass diese Religionen mir als Agnostiker keine Lebenserfüllung bedeuten. Es geht um Selbstbehauptung und Anerkennung. Dies heißt, dass wir uns gegenseitig gleich behandeln, obwohl wir nicht gleich sind. Die ablehnende Form der Anerkennung erreicht ihre Grenze dort, wo Anhänger anderer Anschauungen mich gewaltsam durch eine exklusivistische Praxis bekehren wollen und mir meinen Freiheitsspielraum einschränken. Der Fall von Metin Kaplan, der sich zum ,Kalifen von Köln‘ ernannte, zeigt, dass eine bedingungslose Anerkennung von Überzeugungen den zivilgesellschaft lichen Ordnungen nicht förderlich ist.
Wann und wie scheitern Dialoge? Es gibt viele politische, religiöse, wirtschaft liche, individuelle und interpersonale Gründe, warum Dialoge scheitern. Im Allgemeinen scheitern sie, wenn wir mit dem Anderen nicht ernsthaft kommunizieren wollen, wenn wir Kulturen als statische, abgeschlossene Gebilde betrachten und behandeln, wenn wir das Umfeld, Situationen und Individuen nicht beachten, wenn wir die anderen verabsolutierend durch die eigene Brille sehen, wenn wir eigene Kategoriensysteme als Maßstab nehmen und generalisieren, wenn wir das Denken willkürlich geographisieren, wenn wir nicht bereit sind, unsere Vorurteile aufzugeben,
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wenn wir die Dominanz der negativen Macht walten lassen, wenn Medien und Politiker Unterschiede hervorheben und damit Ängste schüren, wenn wir nicht denkend, verstehend und lernend miteinander umgehen. Diese Liste ließe sich unendlich fortsetzen und über Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation ist viel zu sagen. Diese Aufzählung zeigt aber vor allem, dass die Kommunikation in interkultureller Absicht eine stark normative Basis hat, radikal interdisziplinär verfährt und ohne politische Unterstützung am Ansatz scheitern wird. Echte Kommunikation, wie ich sie zu formulieren versuche, ist möglich, wenn es uns gelingen würde, aus dem ,Ich-Du-Bezug‘ des Eigenen und des Anderen eine dialogische Gemeinschaft des ,Wir‘ zu entwickeln, ohne Unterschiede zu verdrängen oder zu leugnen. Was ich hier darstelle, ist die theoretische Beschreibung meines praktischen Lebens: Transkulturelles Denken und interkulturelles Handeln.
Weiterführende Literatur des Autors: Yousefi, Hamid Reza und Ina Braun: Interkulturalität. Eine interdisziplinäre Einführung, Darmstadt 2011. Yousefi, Hamid Reza: Interkulturelle Kommunikation. Eine praxisorientierte Einführung, Darmstadt 2014.
Anmerkungen 1 Dieses Konzept habe ich in zwei Studien eingehend untersucht, auf die hier grundsätzlich verwiesen sei: Vgl. Yousefi, H. R. und I. Braun: Interkulturalität. Eine interdisziplinäre Einführung (Darmstadt 2011) und Yousefi, Hamid Reza: Interkulturelle Kommunikation. Eine praxisorientierte Einführung (Darmstadt 2014). 2 Humboldt, W. v.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte (Werke in fünf Bänden), Bd. 1, Stuttgart 1980, S. 239. 3 Vgl. Treichel, D. und C.–H. Mayer (Hrsg.): Lehrbuch Kultur. Lehr- und Lernmaterialien zur Vermittlung kultureller Kompetenzen, Münster 2011. 4 Ansätze dieser Perspektivierungen habe ich an anderer Stelle eingehend untersucht. Vgl. Yousefi, H. R.: Interkulturalität als eine akademische Disziplin, in: Das interkulturelle Lehrerzimmer. Perspektiven neuer deutscher Lehrkräfte auf den Bildungs- und Integrationskurs, hrsg. von K. Fereidooni, Wiesbaden 2012, S. 177–192. 5 Vgl. Yousefi, H. R.: Interkulturalität und Geschichte. Perspektiven für eine globale Philosophie, Reinbek 2010. 6 Vgl. Ricœur, P.: Wahrheit und Geschichte, München 1974, S. 152. 7 Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Frankfurt am Main 2010, S. 38. 8 Mehlig, J. (Hrsg.): Weisheit des alten Indien, Bd. 2, Leipzig 1987, S. 347 f.
Interreligiöse Toleranz aus christlicher Sicht von Christoph Böttigheimer
Interreligiöse Toleranz aus christlicher Sicht Christoph Böttigheimer
Der Gedanke der Toleranz gewinnt in der gegenwärtigen Zeit, da sich die unterschiedlichsten Kulturen und Religionen so nahe kommen wie nie zuvor, eine ganz neue Relevanz. Aufgrund der Begegnung verschiedener Religionen auf engstem Raum wird jeder Religionenantagonismus obsolet und werden Toleranz und Kooperation unabdingbar. Hinzu kommt ein weiterer Grund: Infolge einer zunehmenden „religiöse[n] Aufladung von Politik“1 wird es keinen Weltfrieden ohne Religionsfrieden geben können. „Kein Frieden unter den Völkern dieser Welt ohne einen Frieden unter den Weltreligionen!“2 Zum friedlichen Miteinander unterschiedlicher Religionen ist eine gegenseitige Rücksichtnahme unentbehrlich. Eine friedvolle Begegnung mit anderen Religionen ist dem Christentum keineswegs fremd. Erschwert wurde sie aber über Jahrhunderte hinweg durch die Tatsache, dass die Hl. Schrift durchaus auch gewaltlegitimierende Aussagen enthält, die in der Geschichte zur Begründung kriegerischer Auseinandersetzungen tatsächlich auch in Anspruch genommen wurden. Daneben lässt sich in der christlichen Tradition aber ebenso der Gedanke der Rücksicht und des Verständnisses für Menschen anderer Religionen nachweisen. Daran soll im ersten Abschnitt erinnert werden. Zum Durchbruch gelangte die Idee der interreligiösen Toleranz in der katholischen Kirche freilich erst im Zweiten Vatikanischen Konzil, was im zweiten Teil auszuführen sein wird. Werden in nachkonziliarer Zeit interreligiöse Toleranz und Religionsfreiheit von der christlichen Mehrheit als weithin selbstverständlich angesehen, so treten dennoch in konkreten Einzelfällen offene Fragen zutage. Diese sollen im letzten Kapitel beleuchtet werden.
Hl. Schrift und Tradition Fragt man nach friedensstiftenden Ansätzen der christlichen Religion, richtet sich der Blick zunächst unweigerlich auf Jesus von Nazareth. An seiner Person wird deutlich, wie die Spirale von Rache und Gewalt durchbrochen werden kann. Nicht indem Gewalt mit Gegengewalt beantwortet wird, sondern indem der Weg der Deeskalation und des Verständnisses beschritten wird, wie Jesus ihn vor allem mit dem Gebot der Nächstenliebe und sogar Feindesliebe (Mt 5,43–48) aufgewiesen hat. Zudem wird angesichts des Kreuzestodes Jesu deutlich, dass Gott inmitten der Geschichte des Todes, des Hasses und der
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Gewalt bei den Opfern präsent ist, er den Menschen aus seiner Schuld erlöst und zum wahren Menschsein befreit, zum aufrechten Gang und zum Handeln nach dem Vorbild göttlicher Liebe befähigt. So erfährt die Nächstenliebe bis zum Extrem der Feindesliebe ihre tiefste Begründung. Während der Apostel Paulus vor dem Hintergrund seiner eigenen jüdischen Biographie das Verhältnis von Christentum und Judentum thematisiert (Röm 9–11) und im Gegenüber von Gesetz und Evangelium die christliche Freiheit (Gal 4,21–31) sowie die Bedeutung des Gewissens (Röm 2, 14–15) betont, gelangen manche frühchristlichen Apologeten zu noch weiter reichenden Gedanken im Sinne einer interreligiösen Toleranz. So prägte beispielsweise Justin der Märtyrer (gest. um 165) das Bild von den Samenkörnern des Logos, die bei den Heiden ausgestreut seien.3 Das erlaubte ihm, die christliche Wahrheit keimhaft in jedem Menschen, nämlich in seiner Vernunft, sowie in der griechischen Philosophie angelegt zu sehen.4 Wenn die Christen darum diesen Logos verkündeten, sprächen sie etwas an, was die Wahrheitsfähigkeit jedes Einzelnen ausmache. Mehr noch: Wer sein Leben mit Hilfe von Vernunftgebrauch gestalte, könne quasi als anonymer Christ gelten. Justin formulierte aus der Lage einer religiösen Minderheit heraus einen Anspruch, den eigentlich nur eine intellektuell mehrheitsfähige Gruppe stellen kann. Er geht programmatisch den Weg selbstbewusster und vor allem offen geführter Auseinandersetzung, anstatt sich ins Abseits abdrängen zu lassen. Die Konsequenz ist ein hohes Maß an religiöser Toleranzbereitschaft. Sie spiegelt sich auch bei dem lateinischen Kirchenschriftsteller Tertullian (um 160–220) wider. Dieser maß – dem Apostel Paulus folgend (Röm 1,19– 21) – dem Menschen die Fähigkeit bei, in der Welt Gott „als das höchste Große, von Ewigkeit her bestehend, ungeboren, ungeschaffen, ohne Anfang, ohne Ende“5 erkennen zu können. So prägte er das bekannte Wort vom „testimonium animae naturaliter christianae“.6 Demnach sind alle Menschen von Natur aus auf Gott hingeordnet, zur Gotteserkenntnis fähig und damit für die christliche Botschaft ansprechbar. Mehr noch: Aufgrund dieser natürlichen Gotteserkenntnis sprach er sich zudem für die Religionsfreiheit – er prägte den Begriff „libertas religionis“7 – aus: „Es ist ein Menschenrecht und natürliche Vollmacht für jeden Einzelnen, zu verehren, was er meint. […] Es liegt nicht in der Natur der Religion, die Religion aufzuzwingen“.8 Die religiöse Toleranzbereitschaft, wie sie bei den frühchristlichen Apologeten zum Ausdruck kommt, schwächte sich im Laufe der Geschichte zunehmend ab, nicht zuletzt infolge des Toleranzedikts (311), der sogenannten Konstantinischen Wende und der späteren Aufwertung des Christentums zur exklusiven Staatsreligion. Nun verschoben sich die Mehrheitsverhältnisse im Abendland für Jahrhunderte. Der Toleranzgedanke trat in den Hintergrund, ohne jedoch gänzlich vergessen zu werden. In der Theologiegeschichte findet sich fortan eine eigenartige Ambivalenz zwischen der Ablehnung von Glaubenszwang und der Befürwortung von aggressiver Intoleranz gegenüber kirchlichen Abweichlern und Andersglaubenden, zumal sich beides, Geduld (Mt 13,24–30 parr; 1 Kor 3,7) bzw. Freiheit (Gal 4,1–5,13) und Zwangsmaßnahmen (Lev 24,1–16; Dtn 13,6–16; 17,2–16; 13,2–6; Lk 14,23), biblisch begründen ließ. Nach Thomas von Aquin beispielsweise ist die Annahme
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des Glaubens Sache des Willens, während das Festhalten am Glauben so notwendig ist, dass auch gegenüber Abtrünnigen und Häretikern Zwangsmittel legitim sind.9 Eine rühmliche Ausnahme bildet Nikolaus von Kues (1401–1464), der gegen den religiösen Fanatismus und Religionenantagonismus seine Idee der Toleranz und der Verständigung setzte, basierend auf der allen Religionen zugrunde liegenden Gemeinsamkeit. Die Forderung nach Toleranz setzte sich im christlichen Abendland ab der Mitte des 16. Jahrhunderts umso entschiedener durch, als sich infolge der Kirchenspaltung eine kirchlich-religiöse Pluralität herauskristallisierte. Weil diese nicht zu beseitigen war, musste man nach einer pragmatischen Möglichkeit suchen, friedlich mit ihr auszukommen. Zur politischen und rechtlichen Anwendung kam eine pragmatisch gefasste Toleranz erstmals beim Augsburger Religionsfrieden (1555), dem Edikt von Nantes (1598) und nach dreißig Jahren Krieg beim Westfälischen Frieden (1648). Doch die Duldung verschiedener Konfessionen oder religiöser Weltanschauungen war lediglich eine pragmatische Art der Toleranz, die allein durch die Autorität gewährt wurde. Im Zuge der europäischen Aufk lärung entwickelte sich der Toleranzbegriff weiter fort. Weil das Christentum aufgrund von Spaltung und kontroverstheologischen Streitigkeiten nicht mehr als gesellschaft liche Einheitsgrundlage dienen konnte, musste für das fried liche Zusammenleben eine neue, allgemeinverbindliche Basis gesucht werden. Die neue Einheit wurde nun nicht mehr theonom, sondern autonom begründet, nämlich mittels der Vernunft. Sie diente fortan dank ihrer universalen Verbindlichkeit als Organ gemeinsamer Rechtsbildung. Ausgehend von der Autonomie des Menschen und seiner Vernunft wurde die Forderung nach gegenseitiger Toleranz grundgelegt, wobei „[i]m 18. Jh. […] die Begriffe Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit und Toleranz immer näher zusammen [rücken], so daß sie schließlich wechselseitig füreinander stehen können.“10 Beim Versuch, das Toleranzprinzip rational zu begründen, wurde Kants Verweis auf die Autonomie des Willens und der Vernunft des Menschen prägend: Jeder menschlichen Person gebühre Respekt, denn kraft der Selbstgesetzgebung der Vernunft sei jede menschliche Person ein Zweck an sich; sie besitze Würde und dürfe nicht instrumentalisiert werden. Toleranz bedeutet mehr als bloße Duldung des Anderen: Sie besagt Anerkennung des Anderen, Respekt und Achtung seiner Person aufgrund der ihm zukommenden Würde. So wird in der Moderne die Toleranz allgemein mit der Gleichwertigkeit aller Menschen begründet. Toleranz wird zu einer bürgerlichen Grundhaltung, die auf Gleichberechtigung und gegenseitigem Gewissensrespekt beruht und das nicht nur im individuellen Bereich, sondern ebenso im religiösen wie politischen. Weil im Zuge der Toleranz die religiösen Differenzen zivilisiert und nicht einfach harmonisiert bzw. nivelliert werden, wird die religiöse Überzeugung Anderer respektiert, ohne die eigene preiszugeben. Eigene Wahrheits- und Absolutheitsansprüche bleiben aufrechterhalten, ohne sie aber politisch oder rechtlich um jeden Preis durchsetzen zu wollen. Dem Anderen wird trotz seiner differierenden Weltanschauung, Identität und Lebenspraxis eine Existenzberechtigung zuerkannt. Interreligiöse Toleranz respektiert das Gegenüber mit der Andersartigkeit seiner religiösen Auffassungen und sucht den ernsthaften, von prinzipieller Anerkennung getragenen Dialog. Sie versucht den Wertekonflikt positiv zu lösen, indem sie sich bemüht, durch einen Perspekti-
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venwechsel den anderen und damit verbunden sich selbst besser zu verstehen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird die Religionsfreiheit endlich als grundlegendes Freiheitsrecht, das über die Toleranz hinausreicht und „den Kern der Menschenrechte“11 bildet, zum Bestandteil vieler demokratischer Verfassungsstaaten.
Toleranz und Zweites Vatikanisches Konzil Die katholische Kirche tat sich mit dem Toleranzprinzip, wie es vor dem Hintergrund der europäischen Aufk lärung in den bürgerlichen Gesellschaften der Neuzeit zur Anwendung kam, lange Zeit schwer. Da der Wahrheit gegenüber der Freiheit der Primat eingeräumt und das Heil exklusiv mit der katholischen Kirche in Verbindung gebracht wurde, kam es in der Vergangenheit nicht selten zu intoleranten Auseinandersetzungen mit anderen Religionen sowie zur eklatanten Missachtung der Religions- und Gewissensfreiheit. Noch im 19. Jahrhundert wurde das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit entschieden bestritten und abgelehnt. Doch die zur Religionsfreiheit weiterentwickelte religiöse Toleranz erfreute sich in der modernen Gesellschaft einer zunehmenden Wertschätzung und wurde Bestandteil der Europäischen Menschenrechtskonvention (4. November 1950). Das zwang die Kirche sich darauf zu besinnen, dass auch sie von der jesuanischen Botschaft her zu religiöser Toleranz verpflichtet ist, möchte doch das Freiheits- und Liebesevangelium von den Menschen in Freiheit beantwortet werden. Als weiterer Grund kam das Erschrecken über die Schoa hinzu. Es mussten die Hintergründe und theologischen Voraussetzungen, die solche Gewalt geistig legitimiert hatten, ausfindig gemacht und überwunden werden. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) wurde über die Religions- und Gewissensfreiheit mit am heftigsten debattiert. Am Ende wurden in der Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“, die den Untertitel „Das Recht der Person und der Gemeinschaften auf gesellschaft liche und bürgerliche Freiheit in religiösen Dingen“ trägt, eindeutige Aussagen zur Religions- und Gewissensfreiheit des Menschen getroffen. Die Erklärung beginnt mit einem Bekenntnis zur katholischen, apostolischen Kirche als der „einzige[n] wahre[n] Religion“ (DiH 1). Zugleich wird die grundsätzliche moralische Verpflichtung ausgesprochen, die Wahrheit zu suchen. So wird bereits zu Beginn deutlich, dass es bei der Frage der Religionsfreiheit nicht um eine Gleichberechtigung auf der sachlichinhaltlichen Ebene geht; nicht um eine Relativierung der Wahrheitsfrage, sondern um die gesellschaft lich-rechtliche Gleichberechtigung aller religiösen und weltanschaulichen Positionen. Das Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit ist auf der gesellschaftlichen Ebene angesiedelt. Der Akt der religiösen Ausübung ist ein rein innerlicher und kann von außen weder befohlen noch verhindert werden. Das Recht auf religiöse Freiheit wird mit der Würde der menschlichen Person begründet. Darum fordert das Konzil, dass die menschliche Gesellschaft die Religionsfreiheit als ein Recht respektiert, das jedem Menschen bzw. allen religiösen Gemeinschaften ohne Unterschied zuzugestehen sei, sofern „die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt bleibt“ (DiH 2,3,4).
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Der Respekt gegenüber Andersglaubenden lässt sich christologisch fundieren: Das Bekenntnis zu Christus impliziert das Bekenntnis zur Einmaligkeit des Menschen als Abbild Gottes, um dessentwillen sich der göttliche Logos inkarnierte (GS 22). Darum kann das einzigartige Christusereignis nur glaubwürdig bekennen, wer den Anderen aufgrund seiner ihm von Christus zukommenden Würde akzeptiert und wertschätzt. Der christliche Glaube rechtfertigt aber nicht nur eine formale Toleranz, sondern in bestimmter Hinsicht auch eine inhaltliche; das impliziert eine gewisse Relativierung des christlichen Absolutheitsanspruchs. Denn zum einen schließt die Offenbarung Gottes in Jesus Christus Spuren von Heil und Wahrheit in anderen Religionen nicht aus (NA 2), und zum anderen muss eingeräumt werden, dass Gott auch für Christen ein Mysterium bleibt.
Herausforderung des liberalistischen Toleranzprinzips Interreligiöse Toleranz ist heute für moderne, demokratische und rechtsstaatliche Ordnungen selbstverständlich geworden. Eine besondere Herausforderung des Toleranzprinzips besteht allerdings darin, dass es zwar in der Natur des Menschen begründet, seine Umsetzung aber der menschlichen Natur abzuringen ist. Es bedarf eines starken Ichs, um den eigenen Aggressionstrieb bzw. die Angst vor der Aggressivität des Anderen überwinden zu können. Ferner bedarf die Toleranz auf der erkenntnistheoretischen Ebene einer selbstrelativierenden, fallibilistischen Einstellung hinsichtlich der Begründung eigener metaphysischer Überzeugungen. Die liberalistische Toleranzidee weiß, dass es kein Wahrheitsmonopol gibt und darum eine gewisse Selbstrelativierung Not tut. Die liberalistische Toleranz westlicher Gesellschaften wird gegenwärtig durch die Intoleranz fundamentalistischer Strömungen massiv gefährdet. Dem Fundamentalismus mangelt es an einem fallibilistischen Bewusstsein. Er zeichnet sich stattdessen durch einen exklusiven Wahrheitsanspruch aus, verbunden mit einer kognitiven Intoleranz und einem prinzipiellen exklusivistischen Verhalten. Damit fehlt eine entscheidende Grundvoraussetzung für einen offenen, toleranten Dialog. Mangelnde Dialogbereitschaft kennzeichnet auch eine weitere gegenwärtige Herausforderung: der Indifferentismus, der die Wahrheitsfrage als unbeantwortbar ansieht, was einen argumentativen Diskurs verunmöglicht. Wird der Indifferentismus zudem mit dem Anspruch auf exklusive Gültigkeit vertreten, wohnt ihm ein latenter Hang zur Intoleranz inne. Gefährdet wird die Toleranz aber nicht nur von außen, sondern ebenso von innen, nämlich durch die Unbestimmtheit ihrer Grenzen. Darf beispielsweise in westlichen, offenen Gesellschaften die Toleranzidee an Wertmaßstäbe von Mehrheiten gebunden sein? Toleranz leidet „an einem inneren Widerspruch, der offensichtlich nicht aus der Welt zu schaffen ist und Toleranz zu einem ambivalenten Prinzip macht. Konsequent und ohne Einschränkung angewendet, droht Toleranz, sich selbst aufzulösen. Aus diesem Grunde bedarf eine tolerante Gesellschaft ,intoleranter‘ Absicherungen, um dadurch imstande zu sein, totalitäre Exklusivitätsansprüche ausgrenzen zu können.“12 Nur eine Toleranz, die auch intolerante Grenzen kennt, löst sich nicht auf, insofern sie sich ihrer Gefahren zu
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wehren weiß. Wer aber definiert den Referenzrahmen der Toleranz? Das Überschreiten der Toleranzschwelle kann nicht apriorisch bestimmt werden, sondern ist im konkreten Einzelfall auszumachen. Da Freiheitsräume einer toleranten, offenen Gesellschaft zunächst beansprucht, bei veränderten Mehrheitsverhältnissen aber negiert werden können („demokratisches Dilemma“), ist mitunter nicht erst bei Verstößen gegen Gesetzesbestimmungen einzuschreiten, sondern schon bei Zweifeln an der moralischen Zuverlässigkeit.
Ausblick Toleranz, Gewissens- und Religionsfreiheit sind zentrale Bestandteile der allgemeinen Menschenrechte. Zwar handelt es sich bei ihnen um Säkulariate christlicher Ideen wie etwa der universalen Gleichheit aller Menschen aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit, der Gottunmittelbarkeit oder Personalität eines jeden Menschen, doch konnten die positiven Momente der Aufk lärung (Toleranz, Menschenrechte, Religions- und Gewissensfreiheit etc.) von der Kirche zunächst nicht gewürdigt, geschweige denn fruchtbar darauf Bezug genommen werden. Erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil gelang es der Kirche, sich positiv zur Gewissens- und Religionsfreiheit zu positionieren, ohne den christlichen Wahrheitsanspruch preiszugeben. Dies provoziert angesichts einer „verbreitete[n] Pluralismuseuphorie“13, und doch ist es genau betrachtet die unabdingbare Voraussetzung für die Toleranz gegenüber anderen Religionen. Denn erst der Absolutheitsanspruch, den die Religionen erheben, nötigt zu einer interreligiösen Toleranz. Würden keine religiösen Überzeugungen miteinander konkurrieren, würde sich die Tugend der Toleranz erübrigen. Außerdem gefährdet das Bekenntnis zur Einzigkeit und Unvergleichlichkeit des Christusereignisses die christliche Toleranz nicht, sofern damit ernst gemacht wird, dass die Wahrheit nicht dem christlichen Religionssystem zukommt, sondern dem Christusereignis, das „die Fassungskraft des menschlichen Geistes schlechthin übersteigt“ (DV 5), sich die Offenbarung Gottes nicht exklusiv auf das Christentum bezieht und die Wahrheit nicht statisch ist, sondern dynamisch, kein Besitz, sondern eine Person und darum nur im Tun zu erlangen ist (Joh 3,21). Der Weg der Kirche zum Bekenntnis der Gewissens- und Religionsfreiheit war lang, schmerzlich und konfliktreich. Im Grunde aber war er bereits biblisch vorgezeichnet, sofern das Hauptgebot der Gottes- und Nächstenliebe einschließlich der Feindesliebe ernst genommen wird. Wie sehr die Religionsfreiheit heute das Bewusstsein der katholischen Kirche prägt, belegt u. a. das Abschlussdokument der Bischofssynode zum Nahen Osten (14. September 2012), in welchem die Religionsfreiheit nicht nur als „Gipfel aller Freiheiten“ bezeichnet wird, sondern darüber hinaus als ein „heiliges und unveräußerliches Recht.“14 Das Dokument betont außerdem, dass die Muslime mit den Christen die Überzeugung teilen würden, „dass in religiösen Dingen kein Zwang und erst recht keine Gewaltanwendung erlaubt sind“, ermutigt aber, von der religiösen Toleranz zur Religionsfreiheit fortzuschreiten.15 Gerade was eine Religionsfreiheit anbelangt, die auch das Recht auf Abwendung vom Islam mit einschließt, besteht in der islamischen Welt noch Diskussions-
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Christoph Böttigheimer
bedarf, hat doch die Debatte über Sinn, Inhalte und Grenzen der Menschenrechte, die in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts lebhaft geführt wurde, bislang zu keinem gesamtislamischen Konsens geführt.
Weiterführende Literatur des Autors: Böttigheimer, Christoph: Wahrheit und Toleranz. Gegensätze im interreligiösen Dialog? in: Stimmen der Zeit 225, 2007 (754–766). –: Toleranz-Prinzip und universales Ethos. Zur Bedeutung und Universalisierbarkeit der ToleranzIdee als Voraussetzung der Menschenrechte, in: Sein und Sollen des Menschen. Zum göttlichfreien Konzept vom Menschen, hrsg. v. Christoph Böttigheimer u. a., Münster 2009 (149–172).
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
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Spohn, W.: Politik und Religion in einer sich globalisierenden Welt, Wiesbaden 2008, S. 9 u. ö. Küng, H. u. a:, Christentum und Weltreligionen, München 1984, S. 621. Justin: Apol II, 8 13 (PG 6, 457. 465). Justin: Apol, I, 59 (PG 6, 416 f.). Tertullian: Adv. Marc. I III.2 (CCSL 1,443 f.). Tertullian: Apol. XVII.6 (CCSL 1,117). Tertullian: Apologeticum 24 (PL 1, 477). Tertullian: Liber ad Scapulam 2 (PL 1, 777). Aquin, T. v.: STh II–II, q. 10 a. 8. Stöve, E.: Toleranz I, in: TRE 33 (2002), S. 646–663, hier 656. Botschaft Papst Johannes Pauls II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. 1. 1999, Kap. 5, deutsche Übersetzung in: Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz vom 14.12.98.; zit. nach: Hilpert, K..: Die Entwicklung der Menschenrechte und die Anerkennung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit, in: Hoff mann, H. (Hrsg.): Religionsfreiheit gestalten, Trier 2000, S. 87–107, hier 106 f. Ebd. Neuhaus, G.: Christlicher Absolutheitsanspruch und interreligiöse Dialogfähigkeit, in: Theologie der Gegenwart 43, (2000), S. 92–109, hier 92. Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Ecclesia in Medio Oriente“. Über die Kirche im Nahen Osten, Gemeinschaft und Zeugnis (14. 09. 2012) (VApSt 192), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2012, Nr. 26. Ebd. Nr. 27.
Voraussetzungen des Dialogs aus christlicher Sicht von Wolfgang Klausnitzer
Voraussetzungen des DialogsWolfgang aus christlicher Sicht Klausnitzer
Das deutsche Wort „Dialog“, im Wörterbuch wiedergegeben mit Zwiegespräch, Wechselrede, stammt etymologisch aus dem Griechischen (dialogos = Unterredung, Gespräch) und ist ein Kompositum aus den griechischen Wörtern „dia“ (durch, auseinander) und „legesthai“ bzw. „legein“ (sich unterreden bzw. sagen, sprechen). Gemeint ist also ein wechselseitiges Sprechen, durchaus auch im Sinn einer Auseinandersetzung. Die Neubildung „Trialog“, die ein Gespräch von drei Parteien bezeichnen soll, d. h. im interreligiösen Dialog etwa der drei „Abrahamsreligionen“ Judentum, Christentum und Islam, ist wohl aus dem Missverständnis entstanden, dass der Dialog ein Gespräch von zwei (griechisch = „dyo“) Partnern sei, so wie der Monolog (griechisch „monos“ = einzig, allein) das Selbstgespräch eines Einzelnen meine. Von der Etymologie oder dem Inhalt her ist zunächst nicht festgelegt, wie viele Partner an dem Dialog im Sinne von Rede und Gegenrede beteiligt sind. Die Regeln eines Dialogs sind dieselben, denen jede gelingende Kommunikation im Alltag unterliegt: 앫 Kompetenz Ein Gesprächspartner muss die eigene Position, die er vertritt, auch kennen. Nicht alle Muslime oder Christen sind ipso facto Experten ihrer je eigenen Religion. Die katholische Theologietradition kennt die Gruppe der „rudes“, die im Glaubenswissen noch nicht so recht fortgeschritten sind, unterscheidet die „fides quae“ (den objektiven Glaubensinhalt, wie er etwa in den Glaubensbekenntnissen oder den Katechismen artikuliert ist) und die „fides qua“ (den je subjektiven Glaubensvollzug des Individuums) und spricht in diesem Zusammenhang vom „impliziten Glauben“1. Die Kompetenz schließt ein, dass ein Gesprächspartner in der Lage ist, den eigenen Glauben in einer verständlichen Weise auszudrücken. 앫 Gemeinsame Suche nach der Wahrheit Ein gelingender Dialog hat als Voraussetzung, dass ich ohne bewusste Täuschungsoder Betrugsabsicht die relevanten Informationen gebe und dass ich dem Gesprächspartner zutraue – falls nicht ein offenkundiger Gegenbeweis vorliegt –, dass er dies ebenfalls tue. Ein wesentliches Element der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit ist, dass jeder in seinen eigenen Worten seine je eigene Position erläutert und dass die Gesprächspartner sich immer vergewissern, ob sie die Darlegung des jeweils anderen auch verstanden haben.
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Wolfgang Klausnitzer
앫 Verstehen als Ziel des Dialogs Das Ziel des interreligiösen Dialogs ist nicht notwendig ein gemeinsam formulierter Kompromiss, die Aufgabe der eigenen Überzeugung oder die Bekehrung des anderen. Im ökumenischen Dialog zwischen Katholiken und Lutheranern haben die beteiligten Theologen in Deutschland die Ausgangsthese formuliert2: „Keiner der beiden Gesprächspartner kann vom anderen erwarten, dass dieser seinen Glaubensstandpunkt aufgibt.“ Unter Umständen kann ein Dialog selbstverständlich zu einer Umkehr oder gar Bekehrung führen. Allerdings ist diese Bekehrung weder eine Voraussetzung noch ein Indiz dafür, dass der Dialog gelungen ist. Was ist allerdings der theologische Grund, ausgerechnet in einen Dialog mit einer anderen Religion und zumal mit dem Islam einzutreten? Der katholische Referenzpunkt einer derartigen Überlegung ist die Erklärung über das Verhältnis (besser wohl: das Verhalten; im lateinischen Originaltext steht „habitudo“) der Kirche zu den nichtchristlichen Weltreligionen „Nostra Aetate“ des II. Vaticanum unter Einschluss der daraus sich allmählich entwickelnden (katholischen) Theologie der Religionen.
Vorschlag Wie lässt sich theologisch das Verhältnis von Christentum und anderen Religionen bestimmen3? Der Exklusivismus (meine Religion allein ist die wahre; alle anderen Religionen sind in toto ein Irrtum und vermitteln kein Heil) ist für einen katholischen Christen schon wegen der für das Christentum konstitutiven Existenz der jüdischen Religion, aber auch der Realität des Islam, den z. B. Karl Rahner (wegen des ausdrücklichen Bezugs des Korans „auf das Ganze der christlichen Offenbarung“) nicht zu den „nichtchristlichen Religionen“ zählen will4, keine theologisch zulässige Position5. Der Pluralismus (alle großen Weltreligionen sind gleichermaßen wahr und vermitteln in gleicher Weise das Heil) ist erkenntnistheoretisch schwierig und wird auch vom katholischen Lehramt konsequent abgelehnt6. Der Inklusivismus (meine Religion hat die Fülle der Wahrheit und der notwendigen Heilsmittel; die anderen Religionen haben unter Umständen gestuft Anteil daran) ist zwar die Position der meisten katholischen Theologen, aber er scheint in großen Teilen der christlichen Basis wenig konsensfähig7. Folgende Überlegungen, die inspiriert sind von den Aussagen der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ des II. Vaticanum, können vielleicht Eckpunkte markieren. Sie sind ebenso angestoßen von der Argumentationsmethode der Vermittlung menschlicher Suchbewegungen auf das Transzendente hin und dem grundsätzlichen Vertrauen in die Wahrheitsfähigkeit aller Religionen als Gestalten menschlichen Geistes, wie sie beide in der Philosophie Hegels zutage treten8. 앫 These: Die Offenbarung des Logos Gottes Im Neuen Testament geschieht eine Konzentration und Bindung der Gotteserfahrung an Jesus von Nazaret. Im Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1–14) wird der Logos Gottes, d. h. die Außenseite Gottes, mit Jesus von Nazaret (und damit einer historischen Person und einem konkreten Namen) identifiziert. Durch den Logos (als Gottes erstes
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Wort) ist die Schöpfung ins Leben gerufen worden (Joh 1,3). Durch denselben Logos, der sich nach christlichem Verständnis in endgültiger Vollendung und in der Fülle in Jesus von Nazaret zeigt und damit in dieser Gestaltwerdung „Gottes letztes Wort“9 an die Menschheit ist (vgl. DV 4), offenbart sich Gott in der Heilsgeschichte. Deswegen ist der Logos zunächst in der Schöpfung gegenwärtig und auffi ndbar (Joh 1,3; Röm 1,19f). Eine „reine“ Natur, also etwas Geschaffenes oder gar nicht durch Gott Veranlasstes, etwa im Sinn einer „ewigen“ Materie, das Gott bzw. dem Logos aus sich heraus fern- oder gar entgegensteht, gibt es nicht. In einer zweiten Weise teilt sich Gott mittels des Logos in einer Heilsgeschichte mit (Hebr 1,1)10. Die Heilsgeschichte setzt an bei den ersten Menschen und findet eine Konkretisierung im Bund mit Abraham und dem Volk Israel, bevor sich dann der Logos „in Fülle“ in Jesus Christus zum Ausdruck bringt. „Es gibt darum nur eine einzige, Schöpfung und (Hervorhebung W. K.) Erlösung umfassende Heilsordnung.“11 Das ist der Grund, warum Justin der Märtyrer Keime und „Samen“ des Offenbarungs- und damit auch des Erlösungsgeschehens, das in Jesus Christus endgültig und unüberholbar erschienen ist, in aller Welt (und auch außerhalb der jüdischchristlichen Tradition) aufzufinden meinte12. Aufgrund der Hinweise des II. Vaticanum13 ist festzuhalten, dass nach einer langen Debatte in der Christentumsgeschichte14 im katholischen Denken die Frage der Heilsmöglichkeit von Nichtchristen endgültig (im Sinne der positiven Affirmation) geklärt ist15. Die erlösende Gnade Gottes (durch Jesus Christus) wirkt (sehr oft verborgen) in den sozio-kulturellen Zusammenhängen und geschichtlich-konkreten Situationen der „conditio humana“. In diesem Zusammenhang ist wohl auch die mögliche soteriologische Qualität der großen religiösen Traditionen zu bedenken16. Eine damit zusammenhängende, gleichwohl aber davon zu unterscheidende Fragestellung bezieht sich auf die Wahrheitsfähigkeit der Religionen (unter Einschluss des Christentums) im Blick auf die göttliche Wirklichkeit. Eine Grundregel (in der Anerkennung der Gemeinsamkeit der Religionen und zugleich in der Ansage der bleibenden Verpflichtung des Christentums auf seinen Urgrund, der aber auch der kritische Bezugspunkt aller Weltanschauungssysteme ist und nicht von vornherein und unvermittelt mit dem institutionell verfassten Christentum – so wie es ist – identifiziert werden darf) formuliert NA 2: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unablässig aber verkündet sie und muss sie verkündigen Christus, der ist ,der Weg, die Wahrheit und das Leben‘ (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat.“ Die Verbindung von johanneischer Logoschristologie und paulinischer Rechtfertigungstheologie (auch im Sinne einer „maximalen Christologie“17) in diesem Text lässt durchaus die theologische Vermutung zu, dass der Logos Gottes in der Schöpfungs- wie in der Erlösungsordnung nicht der exklusive Besitz einer einzigen religiösen Tradition ist. Das bedeutet zugleich, dass auch nichtchristliche Weltanschauungssysteme (wegen der
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faktischen Anwesenheit des Logos Gottes in der Schöpfung) „nicht selten“ (!) die göttliche Wahrheit entdecken und formulieren können. 앫 Antithese: Die Verneinung und Entlarvung der Religionen durch das Christusgeschehen Neben dieser stets festzuhaltenden Affirmierung des Gemeinsamen und Positiven der Religionen steht eine zweite Aussagenreihe des Alten Testaments, des Neuen Testaments und der patristischen Tradition18. Die Religionen seien ein Widerspruch und eine Verkehrung der Schöpfungsordnung. „Der biblische Glaube erkennt keineswegs alles, was sich irgendwie als ,religiös‘ ausgibt, schon darum als heilsbedeutsam an.“19 Das Alte Testament bezeugt zumal ein entschiedenes Nein gegen die Religionen, in denen sich der Mensch mittels selbst verfertigter „Götzen“ gegen Gott absichert, statt sich seinem Anspruch auszuliefern20. Paulus sieht es ähnlich, aber etwas differenzierter (Röm 1,18–32): Die Menschen erkennen zwar die Wahrheit Gottes, aber sie erkennen sie nicht an21. Diese biblisch begründete Sicht hat in der Dialektischen Theologie eines Karl Barth noch einmal eine Zuspitzung erfahren. „Religion“ wurde in ihr (zusammen mit Ethik, Moral und „Gesetz“) als verfeinerte Form der Selbstrechtfertigung und der „Werkgerechtigkeit“ und als Versuch des Menschen dargestellt, von sich aus und allein mit seinen Kräften sich Gott zu nähern. „Religion“ erschien als der von Gott von Anfang an ausgeschlossene Versuch der menschlichen Selbsterlösung und der Verweigerung gegenüber der Göttlichkeit Gottes zugunsten der Apotheose des Geschöpflichen. Die Problematik dieser radikalen These der Dialektischen Theologie, die zumindest der späte Karl Barth in seiner „zweiten Wende“ etwas abmildert, ist offenkundig. Sie erinnert an die Radikalität der „absoluten Religion“ Georg Wilhelm Friedrich Hegels22, die im Grunde ebenfalls dem biblischen Denken und der neutestamentlichen Inkarnationstheologie fremd ist. Trotzdem hat die Dialektische Theologie wohl etwas Richtiges gesehen, das die erwähnten Aussagen des Alten Testaments und des Paulus ebenfalls unterstreichen: Das Phänomen „Religion“ (unter Einschluss des Christentums) ist durchaus von der Tendenz des Menschen zur Selbstverschließung und zur Sünde geprägt. Der religionskritische Anspruch des Christentums, der nicht einfach jede Erscheinungsform des Religiösen schon als positiven Ausdruck des Glaubens anerkennt, ist nicht nur eine zu bedauernde (und ad acta zu legende) Episode der Geschichte, sondern bleibender Ausdruck seines revolutionären Gottesverständnisses23. Nicht alles, was sich „Religion“ nennt, ist deswegen schon gut, so wenig wie sich alles, was sich da als christlicher Glaube darstellt, eo ipso ein Hören auf den christlichen Gott ist. Es wäre reichlich naiv und ein Rückschritt hinter den Erkenntnisstand eines Paulus, die Ideologieproblematik in der „Religion“ (unter Einschluss von Christentum und Kirche) nicht anerkennen oder gar leugnen zu wollen24. In dieser Hinsicht ist Religionskritik eine innere Notwendigkeit (zur Selbstreinigung) jeder Religion und bleibendes Thema des interreligiösen Dialogs. 앫 Synthese Was heißt das nun in der Vermittlung der beiden Aspekte? Eine gesellschaft liche Versuchung ist der Synkretismus, der alle Konturen verwischt und alles für gleichgültig (weil gleich gültig) deklariert25. Einflussreich (unterschwellig oder ausdrücklich) ist die Vision
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der „Ringparabel“ Gotthold Ephraim Lessings (der allerdings die Wahrheitsfrage noch stellt, wenngleich er ihre Beantwortung in eine eschatologische Zukunft verlegt) geworden, die nahe legt, man solle in seiner eigenen Religion bleiben, sie engagiert praktizieren und damit fruchtbar machen. Dadurch sei man grundlegend ohnehin mit allen solidarisch oder sogar im Glauben identisch, die religiös sind 26. Gibt es einen christlichen Weg zu einer Einheit der Religionen (und konkret der „Abrahamsreligionen“), der die beiden genannten Aspekte der christlichen Tradition miteinander vermittelt? Die katholische Theologie bietet dazu zwei Gedankengänge an. Zum einen betont die katholische Position traditionell die hohe Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Vernunft in der Annäherung an Gott. Papst Johannes Paul II. hat dies in der Enzyklika „Fides et Ratio“ (14. September 1998) noch einmal ausdrücklich bestätigt. Es geht auch nach der Meinung der Apostelgeschichte (Apg 17,22–31) nicht an, jedes menschliche Suchen nach Gott (und das Religiöse in diesem Sinn) a priori als Hybris des Unglaubens zu dämonisieren. Zum zweiten ist die Logostheologie vor allem des NT davon überzeugt, dass sich nicht nur der Mensch aus sich heraus (in der später sogenannten „natürlichen“ bzw. „philosophischen Theologie“) Gott annähern kann, sondern dass sich Gott auch in einer Form von Offenbarung den Menschen außerhalb der jüdisch-christlichen Tradition zuwendet. Es ist mit der christlichen Theologie durchaus vereinbar, zuzugestehen, dass Gott (in der allgemeinen Heilsgeschichte durch den Logos) außerhalb der speziellen Offenbarung in der jüdisch-christlichen Tradition Formen der Offenbarung angewendet hat27. Dass er durch den Logos in der Schöpfung eine Offenbarung seines Wesens gegeben hat, bezeugt ausdrücklich Paulus (Röm 1,19–21). Prägnant hat der Apostel das daraus abgeleitete Programm formuliert (1 Thess 5,21): „Prüfet alles, das Gute behaltet!“ Diese Prüfung geschieht durch die Unterscheidung der Geister, die ein Grundbegriff der christlichen Spiritualität ist28. Grundlegend – nach christlichem Verständnis – ist aber nicht das Verhältnis Christentum und andere Religionen. Maßgebend ist das Gegenüber von Gott (der sich in Jesus Christus geoffenbart hat) zur Welt insgesamt. Das Matthäusevangelium drückt das in der Erzählung vom Weltgericht (Mt 25,31–46) so aus, dass sich alle Menschen mittels des gleichen Maßstabes, nämlich der Orthopraxis, vor dem Weltenrichter verantworten müssen. Von daher ist die These Barths vom Gegenüber von Gottes Offenbarung in der Person Jesu Christi zu jeder Form von „Religion“ (einschließlich des Christentums), verstanden als ein Organisations- bzw. Systembegriff, auf ihren (christlichen) Wahrheitskern zu überprüfen29. Damit ist vielleicht ein Weg aus dem inklusivistischen Denken, das die Religionen nur im Maßstab ihrer inneren Konvergenz mit dem Christentum positiv bewertet, eröffnet, ohne in die erkenntnistheoretisch schwierige Position des Pluralismus verfallen zu müssen. Der Pluralismus postuliert eine allen Religionen vorausliegende Wahrheit, die als ein von keinem Menschen erreichbares Absolutum (bzw. eine Letztwirklichkeit) die Partialität der Religionen begründet. Das biblisch-neutestamentliche Bekenntnis spricht von der Unendlichkeit und Unermesslichkeit Gottes, die in einem Menschen anwesend ist30, ohne dass der menschliche Geist das Wesen dieses Gottes auch nur annähernd erfassen könnte.31
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Weiterführende Literatur des Autors. Klausnitzer, Wolfgang: Jesus und Muhammad. Ihr Leben, ihre Botschaft. Eine Gegenüberstellung, Freiburg 2007. –: Glaube und Wissen. Lehrbuch der Fundamentaltheologie für Studierende und Religionslehrer, Regensburg 2008.
Anmerkungen 1 Klausnitzer, W.: Glaube und Wissen. Lehrbuch der Fundamentaltheologie für Studierende und Religionslehrer, Regensburg 22008, S. 33–48. 2 Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, Paderborn (2000) 22003, 41 (= Nr. 68). 3 Vgl. Internationale Theologenkommission: Das Christentum und die Religionen (30. September 1996) (Arbeitshilfen 136), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1996; Das Christentum – eine Religion unter anderen? Zum interreligiösen Dialog aus katholischer Perspektive. Eröff nungsreferat von Karl Kardinal Lehmann bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda (23. September 2002) (Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz 23), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2002. 4 Rahner, K.: Über die Heilsbedeutung der nichtchristlichen Religionen, in: ders.: Schriften zur Theologie, Bd. 13, Zürich 1978, S. 351–350, hier 341. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, in: Moldenhauer, E. u. K. M. Michel (Hrsg.): Werke, 17 (stw 617), Frankfurt 1986, deutet den Islam als einen Rückfall in der Entwicklungsgeschichte der Religionen (und damit als geistesgeschichtliche Vorstufe zum Christentum), weil sich bei ihm keine Vermittlung des Geistig-Göttlichen und des (menschlich) Konkreten zeige. 5 Das müsste spätestens die Verurteilung der „Boston-Häresie“ gezeigt haben: DH 3866–3873. 6 Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Iesus (VApS 148), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2000, besonders Nr. 21. 7 Vgl. Müller, G. L.: Erkenntnistheoretische Grundprobleme einer Theologie der Religionen, in: Müller, G. L. u. M. Serretti (Hrsg.): Einzigkeit und Universalität Jesu Christi im Dialog mit den Religionen (SlgHor NF 35), Einsiedeln 2001, S. 17–48, hier 19. 8 Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, in: Moldenhauer, E. u. K. M. Michel (Hrsg.): Werke, 16 (stw 616), Frankfurt 1986, S. 82. 9 Vgl. Verweyen, J.: Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg 32000. 10 Söhngen, G.: Analogie und Metapher. Kleine Philosophie und Theologie der Sprache, Freiburg 1962, S. 100, hat auf die biblisch begründete Überzeugung der zweifachen Form der einen Offenbarung Gottes im geschichtlichen Wort (Hebr 1,18) und in der Schöpfung (Röm 1,19f) hingewiesen. 11 Lehmann, K.: Das Christentum – eine Religion unter anderen?, (Anm. 3), S. 14. 12 Apol. I 44, 10; 46, 2–4; II 7, 1–3; 10, 2; 13, 2–6. Der Sache nach formulieren einen ähnlichen Gedanken Klemens v. Alexandria und Irenaeus v. Lyon, in: Internationale Theologenkommission: Das Christentum und die Religionen (Anm. 3), 24 f. 13 Besonders LG 16, AG 7,1 und GS 22,5.
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14 Vgl. Klausnitzer, W.: Gott und Wirklichkeit. Lehrbuch der Fundamentaltheologie für Studierende und Religionslehrer, Regensburg 22008, S. 40–55 15 Internationale Theologenkommission: Das Christentum und die Religionen (Anm. 3), 39 (= Nr. 81): „Die Heilsmöglichkeit außerhalb der Kirche für diejenigen, die gemäß ihrem Gewissen leben, steht heute nicht mehr in Frage.“ 16 Vgl. Lehmann, K.: Das Christentum – eine Religion unter anderen? (Anm. 3), S. 14 f. 17 Siebenrock, R. A.: Theologischer Kommentar zur Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, in: Hünermann, P. u. B. J. Hilberath (Hrsg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 3, Freiburg 2005, S. 591–693, hier 657. 18 Vgl. Berger, K.: Ist Jesus der einzige Weg?, Stuttgart 1997, S. 75–79. 19 Lehmann, K.: Das Christentum – eine Religion unter anderen? (Anm. 3), S. 16. 20 Preuß, H. D.: Verspottung fremder Religionen im Alten Testament (BWANT, 5. Folge, Heft 12), Stuttgart 1971, S. 290. 21 Vgl. z. B. Schlier, H.: Der Römerbrief (HThK 6), Freiburg 31987, S. 47–66. 22 Vgl. Theunissen, M.: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970; Leuze, R.: Die außerchristlichen Religionen bei Hegel (SthGG 14), Göttingen 1975, S. 237–246 (in kritischer Resümierung). 23 Ratzinger, J.: Der christliche Glaube und die Weltreligionen, in: Ders.: Vom Wiederauffinden der Mitte. Grundorientierungen. Texte aus vier Jahrzehnten, hrsg. v. Schülerkreis, Redaktion: Stephan Otto Horn u. a., Freiburg 1997, S. 60–82, hier 64. 24 Vgl. Görres, A.: Pathologie des katholischen Christentums, in: HPTh2 II / 1, 277–343; Lehmann, K.: Die Herausforderung der Kirche durch die Ideologien, in: HPTh2 II / 2, 148–180. Auch (in diesem Zusammenhang): Bitter, W. (Hrsg.): Massenwahn in Geschichte und Gegenwart. Ein Tagungsbericht, Stuttgart 1965. Zur Verständigung: Kern, W.: Was ist Ideologie?, in: StZ 198 (1980) S. 89–97; Ist das Christentum eine Ideologie?, in: ebd., S. 244–256; Was hat Jesus mit Ideologiekritik zu schaffen?, in: GuL 55 (1982) S. 163–177. 25 Drehsen, V. u. W. Spam (Hrsg.): Im Schmelztiegel der Religionen. Konturen des modernen Synkretismus, Gütersloh 1996. Zur positiven Aufnahme des Synkretismusbegriffs in der Religionstheologie: Danz, C.: Einführung in die Theologie der Religionen (Lehr- und Studienbücher zur Theologie 1), Wien 2005, S. 107–117. 26 Zur Quellenlage dieses Textes, den Lessing selbst von Giovanni di Boccaccio (Dekameron, 3. Erzählung des 1. Buches) herleitet (in der Wirkungsgeschichte eines Gedankens von Moses Maimonides): Niewöhner, F.: Veritas sive Varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch von den drei Betrügern (Bibliothek der Aufk lärung 5), Heidelberg 1988. Vgl. Kuschel, K.–J.: Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam (Weltreligionen und Literatur 1), Düsseldorf 1998. Vgl. dazu die Bemerkungen v. Splett, J.: Denken vor Gott. Philosophie als Wahrheits-Liebe, Frankfurt 1996, S. 86–95 (= „2. Exkurs: Nathans Weisheit?“). 27 Vgl. Klausnitzer, W.: Glaube und Wissen (Anm. 1), 200–202. Grundlegend: Darlap, A.: Fundamentale Theologie der Heilsgeschichte, in: MySal 1, S. 3–156. 28 Lehmann, K.: Signale der Zeit – Spuren des Heils, Freiburg 1983, S. 58–82, besonders 68–74, hat folgende Merkmale angedeutet: „Gewähr der Förderung von Freiheit“, „Realitätserfahrung aus dem Glauben“, „Widerstandsfähigkeit aus der Hoff nung“, „Dienst und Sendung“. Paulus hat eine andere Liste (Gal 5,25f). Solche Aufzählungen von Kriterien sind sicher in verschiedenen geschichtlichen Situationen je neu zu formulieren und jeweils verschieden zu bündeln (vgl. Lehmann, K.: Das Christentum – eine Religion unter anderen? [Anm. 3], S. 39–43). Ein Krite-
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rium zur Unterscheidung der Geister ist nach christlichem Verständnis Leben und Lehre Jesu von Nazaret. 29 Ein erster Versuch: Waldenfels, H.: Christus und die Religionen, Regensburg 2002. 30 Vgl. Menke, K.–H.: Jesus ist Gott der Sohn. Denkformen und Brennpunkte der Christologie, Freiburg 2008. 31 Vgl. Stubenrauch, B.: Dialogisches Dogma. Der christliche Auft rag zur interreligiösen Begegnung (QD 58), Freiburg 1995, S. 46–51 (mit Belegen aus der Theologiegeschichte); auch DH 3001.
Voraussetzungen des Dialogs aus islamischer Sicht1 von Abdoldjavad Falaturi
Begriffserklärung Voraussetzungen des Dialogs Abdoldjavad aus islamischer Sicht Falaturi
Den folgenden Ausführungen liegt eine rund vierzigjährige Dialogerfahrung zugrunde, einerseits eine Dialogerfahrung mit den anderen Weltreligionen, insbesondere mit den abrahamischen Religionen, andererseits ein Dialog der Kulturen, insbesondere der islamischen und der westlichen, wobei sich der Autor als geistiges Produkt beider versteht. Nicht Religionen sind es, die miteinander Gespräche führen, sondern Religionskundige, die über die Religionen Zwiegespräche führen. Aber nicht jedes Zwiegespräch verdient es, Dialog genannt zu werden. Bestimmte Phänomene aus dem Kontext verschiedener Religionen herauszugreifen und miteinander zu vergleichen – wie dies in der Vergleichenden Religionswissenschaft geschieht – ist noch lange kein Dialog. Das kann auch ein Religionskundiger tun, der überhaupt keiner Religion angehört. Ein lebendiger, weiterführender Dialog kann ausschließlich dort stattfinden, wo jeder der Gesprächspartner aus Überzeugung und im Bewusstsein seiner Verantwortung seine Religion vertritt. Dennoch kann selbst unter solchen Gesprächspartnern nicht jedes Gespräch zu einem fruchtbaren Dialog werden. Aus islamisch-koranischer Sicht, verstärkt durch meine langjährigen Erfahrungen, erhält nur dasjenige Zwiegespräch den Dialogcharakter, bei dem zwei Komponenten gewährleistet sind: Zum einen hat sich jeder Dialogpartner die ganze Begegnungszeit hindurch zu bemühen, den Anderen annähernd so zu verstehen und zu begreifen, wie jener sich selbst versteht und seine eigene Religiosität empfindet. Zum anderen hat jeder Dialogpartner zu versuchen, sich auch insofern in die Lage des Anderen zu versetzen, als er sich stets zum Ziel setzt, von dem Anderen so verstanden und nachempfunden zu werden, wie er sich in seinem eigenen religiösen Bewusstsein begreift. Jeder muss sich also dem Anderen offenbaren können, und zwar nicht nur rein theoretisch; entscheidend ist dabei die Intensität der Pflege der eigenen Religion bzw. des eigenen Glaubens. Diese Begriffsbestimmung impliziert die für einen erfolgreichen Dialog notwendigen Bedingungen und Voraussetzungen. Sie schließt zugleich alles aus, was dem im Wege steht bzw. alles, was – wie nicht selten der Fall – nur einen Scheindialog zur Folge hat.
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Notwendige Bedingungen für einen erfolgreichen Dialog Die allerwichtigste Bedingung für einen echten Dialog ist, sich innerlich von dem Beharren auf den Besitz einer exklusiven Wahrheit zu distanzieren. Gehen die Dialogführenden – oder einer von ihnen – davon aus, dass nur sie selbst jeweils im Besitz der absoluten Wahrheit sind, und die Anderen sich auf dem Irrweg befi nden, so ist dem darauf folgenden Streitgespräch von vorne herein die Basis für einen Dialog im oben genannten Sinne entzogen. Die Vorstellung von alleiniger Seligkeit für die Anhänger seines eigenen Glaubens und von Verdammnis für alle anderen ist nichts als eine einäugige Einengung der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit und eine egozentrische Bevormundung Gottes; Himmel bzw. Paradies und Hölle unter den Menschengruppen zu verteilen, bzw. sich als Pförtner von Himmel und Hölle aufzuspielen, zeugt von einer naiven Vorstellung der Mensch-Gott-Beziehung. Die innere Haltung der Öffnung für die Wahrheit des Anderen hat eine weitere zur Folge, die als Bedingung für einen Dialog genauso unerlässlich ist, d. h. die Bereitschaft, selbstkritisch und differenziert mit den eigenen Glaubensinhalten umzugehen und den Mut zu haben, die Schwächen und Fehlentwicklungen in der Geschichte der eigenen Religion zuzugeben. Erfahrungsgemäß haben wir es andernfalls mit einem offenen oder latenten Schlagabtausch zu tun, der bei sich nur das Positive und bei dem Anderen nur das Negative sieht. Wir alle haben als Menschen, ob wir Buddhisten, Juden, Christen oder Muslime sind, ehrlicherweise zuzugeben, dass unsere Unzulänglichkeit nicht zulässt, dass wir die Ideale, die unsere Religionen uns vorschreiben, voll verwirklichen. Dieses Zugeständnis ist wichtig, damit man nicht nur die Fehler der Anderen sieht, sondern auch die eigenen Fehler. Dazu gehört, diese Fehlerhaftigkeit im Dialog als ein Thema mit aufzunehmen und sich in diesem Sinne zu offenbaren: Ich bin Muslim, ich kann aber nicht hundertprozentig gemäß den islamischen Anweisungen leben. Trotz der fürsorglichen Barmherzigkeit Gottes reichen meine Kräfte nicht aus, im komplizierten Alltag meiner Verantwortung gerecht zu werden. Auch der Buddhist, der Jude, der Christ hat dies einzugestehen, um zu vermeiden, dass sein religionswidriges Fehlverhalten in den Augen der Anderen für eine Praxis seiner Religion gehalten wird.
Durchführung eines Dialoges und dessen Voraussetzungen Die Erfüllung dieser Dialogbedingungen setzt in erster Linie die gleichberechtigte Partnerschaft unter den Dialogparteien voraus. Ansonsten liegt die Gefahr von Einseitigkeit aus Hochmut nahe, woraus sich – wie oft in christlich-islamischen Gesprächen erlebt – die Bevormundung eines Gesprächspartners durch den Anderen entwickelt. Damit ist eine weitere Voraussetzung eng verbunden, nämlich der gegenseitige Respekt. Jeder hat den Anderen in seiner Religiosität und seinem Festhalten an den eigenen Glaubensüberzeugungen zu respektieren bzw. zu tolerieren. Tolerieren aber nicht in dem Sinne,
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ihn nur zu dulden. Tolerieren als Duldung impliziert nämlich schon die Überzeugung, dass der Partner sich sowieso auf einer tieferen Stufe befindet, man lässt ihn nur großzügigerweise weiterexistieren. Gemeint ist also nicht Toleranz wie die Aufk lärung sie verstand, sondern im koranischen Sinne, nämlich im Sinne der Anerkennung des Partners in seiner vollen Identität; darauf werde ich noch genauer eingehen. Eine in diesem Sinne tolerante Haltung erfordert die Erfüllung einer dritten Voraussetzung, nämlich die Bereitschaft und sogar die Neugierde, von dem Gesprächspartner zu lernen, nicht nur von seinen positiven Lebenswerten, sondern auch von seinem Umgang mit Alltagsproblemen und seinen Lösungsversuchen. Trotzdem, ja gerade deshalb, gilt die Bewahrung der eigenen Identität als eine wichtige Voraussetzung für einen fruchtbaren Dialog im oben genannten Sinne. Die Unsicherheit in der eigenen Sache erzeugt eine strukturelle Verunsicherung auf beiden Seiten. Genauso sind Kompromissversuche mit der Absicht, dem Partner einen Gefallen zu tun, insofern irreführend, als sie bestenfalls rein individuellen Charakter haben und in keiner Weise die Ansicht der anderen Anhänger der jeweiligen Religionen repräsentieren.
Dialog in Verantwortung für alle Menschen Der eigentliche Garant für einen wirkungsvollen Dialog als Friedensinstrument ist heute und in der Zukunft die Überzeugung und das Bewusstsein der beiden Dialogpartner von einer gemeinsamen Verantwortung für die Welt und für alle Menschen ohne Unterschied. Dies ist – zugegeben – eine schwer erfüllbare, aber unerlässliche Anforderung. Wer kann als Christ, Muslim, als Jude oder als Buddhist von sich behaupten, dass er wirklich alle Menschen gleich behandele, alle Menschen gleich akzeptiere. Teilen sich die Christen nicht in Menschen erster, zweiter, dritter und vierter Klasse ein, wenn es um das Verhältnis von Christen aus verschiedenen Ländern oder Kontinenten geht, wenn also z. B. ein Nordeuropäer einem Afrikaner oder Lateinamerikaner gegenübersteht? Haben nicht auch die Muslime de facto solche Abstufungen unter sich? Werden Muslime unterschiedlicher Herkunft in einem ihnen fremden, nichtsdestotrotz aber islamischen Land gleich behandelt? Sorgt nicht die Nationalitätszugehörigkeit doch für eine Abstufung bis hin zur Diskriminierung? Gibt es bei den Juden in Israel nicht auch solche Unterschiede? Genießen Juden, die aus dem Orient kommen, wirklich das gleiche Ansehen wie diejenigen, die aus Europa stammen? Können wir wirklich mit Überzeugung behaupten, dass wir alle Menschen gleich behandeln? Ich weiß es nicht. Jedenfalls muss heute die gemeinsame Verantwortung für die Welt und alle Menschen in ihr ohne Unterschied der Farbe, der Religion oder der Herkunft sogar als Ziel des Dialoges unter den Religionen gelten, wenn es wirklich darum geht, Dialog als eine Friedensaufgabe anzusehen und nicht als ein Geschäft, d. h. als eine theologische oder sogar wissenschaft liche Beschäft igung.
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Scheindialoge Die hier explizit ausgeführten Anforderungen scheinen – mit einigen Ausnahmen, versteht sich – in der Praxis kaum berücksichtigt zu werden. Erfahrungsgemäß handelt es sich oft um eine vorbelastete Atmosphäre, unter der die religiösen Zwiegespräche leiden. Das liegt daran, dass sie von Motivationen getragen werden, für die der Ausdruck ,Dialog‘ lediglich als ein Legitimationsmittel benutzt wird. In folgenden Fällen hat man es häufig mit Scheindialogen zu tun: 앫 Fälle, wo von vornherein eine gegenseitige Skepsis unter den am Dialog Beteiligten herrscht; 앫 Fälle, wo eine negative Einschätzung des Glaubens des Partners den Ansatz für Fragestellungen liefert; 앫 Fälle, wo eine auf die eigene Sache bezogene Überheblichkeit von vornherein die Wahrnehmung des Partners und seiner Überzeugung unmöglich macht; 앫 Fälle, wo die Geringschätzung des Partners nicht zulässt, von ihm etwas Positives zu lernen; 앫 Fälle, wo die Gespräche dazu dienen sollen, bereits bestehende Voreingenommenheit und Vorurteile zu bestätigen; 앫 Fälle, wo negativ zu bewertende Erscheinungen (Gewalt, Lage der Frauen) im Überzeugungsbereich des Partners als Ausgangspunkt des Dialogs gewählt werden; ganz besonders indem man versucht, den Dialogpartner in die Enge zu treiben; 앫 Fälle, wo das Festhalten an herkömmlichen Feindbildern sowohl die Aufarbeitung der Vergangenheit als auch die Sicht auf eine hoffnungsvolle Gegenwart und Zukunft versperrt; 앫 Fälle, wo die Absicht besteht, den Gesprächspartner auf die Anklagebank zu setzen und ihn zu verurteilen, um sich auf seine Kosten zu profi lieren; 앫 Fälle, wo die Gesprächspartner nicht bereit sind, selbstkritisch über die eigene Religion, über die eigene Religionsgemeinschaft und über die Entwicklung der eigenen Geschichte zu reflektieren; 앫 Fälle, wo versteckte Absichten, etwa Missionierungshoff nungen, die Gespräche begleiten, bei denen de facto der Dialog als ein apologetisches Werkzeug unter Anwendung aller missionarischen Künste (latente Diffamierung der Religion des Gesprächspartners und unauff ällige Hervorhebung der Vorzüge der eigenen Überzeugung) benutzt wird; 앫 und schließlich Fälle, in denen extreme Ereignisse, wie z. B. aktuelle politische Anlässe verbunden mit Gewalt (Revolution, Golfk rieg, lokale kriegerische Auseinandersetzungen, Radikalismus usw.) als Anlass dienen, eine Veranstaltung nach der anderen anzuberaumen, ohne das mindeste Interesse an der gesamten, mit dem jeweiligen Ereignis verbundenen Problematik, bei denen der Dialog dazu dienen soll, bestimmte aktuelle Erscheinungen aus dem Kontext der Lehre, der Geschichte und dem Überzeugungsfeld herauszugreifen und ein verzerrtes und wahrlich verabscheuungswürdiges Bild von der
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Religion und der Kultur des Anderen zu konstruieren (das geschieht besonders häufig zum Nachteil des Islam). Der Dialog wird in diesen Fällen lediglich als ein politisches Mittel zur Herabwürdigung des Gegenübers missbraucht, und die Dialogveranstalter als bewusste oder unbewusste Werkzeuge, ja als Mitläufer der unberechenbaren Politik angesehen. Dialogthemen verkommen in solchen Fällen zu Schlagwörtern, die im Zuge der langwierigen politischen Auseinandersetzungen zwischen dem Westen und den orientalischen, insbesondere den muslimischen Ländern, entstanden sind und nie aufhören werden zu entstehen, solange es herrschende und beherrschte Länder gibt. Die Schlagwörter, so alt ihre Ursprünge auch sein mögen und so unterschiedlich sie auch formuliert sein mögen, dienen immer demselben Ziel: Sie sollen stets eine Gefahr, vorzugsweise eine mysteriöse Gefahr für den Westen suggerieren, um das Spannungsfeld zwischen den beherrschten und den herrschenden Ländern anzuheizen, und dadurch einschlägige, entsprechenden Interessen dienende Aktionen und Unternehmungen vor der Weltöffentlichkeit zu legitimieren. Wir wissen alle, dass unser Leben heute mehr als je zuvor von einer gewissen Politik vorgeplant und durch die Medien programmiert wird. Es ist eine Gewissensfrage, ob die für den christlichen und islamischen Glauben Verantwortlichen sich in diesen Strudel hineinziehen lassen dürfen. Sollen wir zusehen – und sogar mitmachen –, wenn die Religion mit allen modernen technischen Mitteln zu einem neuen, verfeinerten Instrument zur Befriedigung eines skrupellosen wirtschaft lichen und politischen Eigennutzes degradiert wird? Wäre der Gott der Bibel und des Korans als Gott der Armen und Unterdrückten mit uns, die wir im Namen unserer Religionen operieren, einverstanden? Ich weiß es nicht. Das ist eine Mahnung, die ich in erster Linie an mich selbst und erst dann an uns alle richte. Wenn ich hier ausführlicher auf gerade dieses Phänomen eingehe, so liegt das einfach an der Tatsache, dass ich in den letzten Jahren, ganz besonders nach dem Untergang der UdSSR , kaum ein Gespräch erlebt habe, bei dem dieser extreme Anlass, der weltpolitische, nicht dominierend gewesen wäre. Das zerschlägt alle Hoff nung auf Frieden durch Frieden zwischen den Religionen, und entspricht nicht im mindesten dem Thema dieses Artikels. In solchen Fällen bleibt kein Platz, über die Hermeneutik der Religionen nachzudenken. Es geht hier nicht darum – und das kann es auch nicht –, die Scheindialoge zu verurteilen oder zu verhindern. Hier geht es um die Hermeneutik des Dialogs; daher müssen die verdeckten, latenten und offenen Ziele analysiert werden, und es muss anhand dieser Analyse zwischen einem Dialog mit friedlicher Absicht und einem Scheindialog differenziert werden; es muss von vornherein klargestellt werden, welche legitimen Ziele mit dem Dialog angestrebt und welche verdeckten, latenten Ziele nur unter dem Deckmantel des Dialogs verfolgt werden. Dialog im oben genannten Sinne und unter den geschilderten Rahmenbedingungen soll heute die Anhänger verschiedener Religionen in die Lage versetzen, in ihrem je eigenen Glauben ein neues Identitätsbewusstsein zu erlangen. Davon kann auch die Theologie profitieren. Bislang basierte sie – ob christlich oder islamisch – in der Hauptsache auf apologetischen Grundlagen: auf dem Negativen bei dem Anderen und auf dem Positiven
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bei sich. Eine neue Ära der Theologie kann und soll jeweils auf der Grundlage des Selbstverständnisses des Anderen eingeleitet werden. Es lässt sich vorausahnen, wie viele neue Ansätze, Anregungen, Thesen, Theorien und sogar neue Interpretationen der eigenen Religionsgeschichte daraus hervorgehen könnten; eine gegenseitige positive Befruchtung zählt sogar noch zu einer der kleineren Folgen eines so gearteten Dialoges.
Inhaltliche Differenzierung Einen eigenen Problemkreis bildet die Undifferenziertheit der Ebenen, in die der jeweilige Dialoggegenstand integriert ist. Anders als bei den Rahmenbedingungen, die ganz und gar subjektiv, d. h. wie bereits erörtert, lediglich von der Einstellung, der Absicht und der Verhaltensweise der Gesprächspartner abhängen, handelt es sich bei diesem Punkt um inhaltliche Differenzen, die ein und dasselbe Wort, ein und denselben Terminus beinhalten, je nachdem, in welchem Kontext es gedacht und gebraucht wird. Dies ist eine Eigenheit allein der Hochreligionen, ganz besonders der das ganze Leben umfassenden monotheistischen Religionen, bei denen die reine Lehre in ihrem Verwirklichungsprozess allerlei Schattierungen und Modifi kationen unterworfen ist. Es handelt sich einerseits um die daraus entstandenen Spannungsfelder und andererseits um die über die Religionslehre hinausgehenden geistigen Strömungen, die zu unterschiedlichen Prägungen ein und derselben Religion führen. Die Dialogpartner reden aneinander vorbei, wenn sie nicht von vornherein eine gemeinsame Diskussionsbasis festlegen.
Spannungsfelder Was die Spannungsfelder anbelangt, so handelt es sich innerhalb der Religionen in erster Linie um das Spannungsfeld zwischen dem Anspruch der verkündeten Lehre und den alltäglichen Verhaltensweisen ihrer Anhänger. Ich vermeide hier bewusst, dieses Phänomen als Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit der jeweiligen Religion zu bezeichnen. Die Wirklichkeit einer Religion ist die vollständige Verwirklichung derselben. Die landläufige Formulierung „Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ ist unkorrekt, ja falsch, wenn man mit der Wirklichkeit die Abweichung von der Lehre im Auge hat. Wir sind bei Dialogveranstaltungen oft Zeuge dieser Verwechslung. Man redet vom Islam oder vom Christentum positiv oder negativ und begründet das mit Taten von Anhängern dieser Religionen, und zwar ausgerechnet mit Taten, die den Lehren des Islam oder des Christentums ganz deutlich entgegengesetzt sind. Es geht hier keineswegs um die Beschönigung der Religionen und deren Freisprechung von Problemen. Nein! Es geht lediglich um die Notwendigkeit der Einhaltung der gleichen Ebene bei jedem Dialog, wenn dieser von einer positiven Einstellung getragen wird. Ein weiteres Spannungsfeld, das nicht minder zum Vertausch verschiedener Ebenen führt, ist das zwischen der Lehre und dem sich daraus unvermeidlich entwickelnden
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Volksglauben. Es ist nicht gemeint, dass man den Volksglauben als falsch zurückweisen sollte. Nein! Es ist sogar interessant, über interreligiösen Volksglauben oder sogar Aberglauben Dialoge zu führen, um den Gründen und der Art dieser Phänomene nachgehen zu können, vorausgesetzt, dass sich dabei kein Ebenentausch bei dem einen oder dem anderen der Dialogpartner einschleicht. Ein weiteres, ebenso unvermeidbares Spannungsfeld ist das zwischen der Lehre und dem wissenschaft lichen Umgang damit. Jede Lehre – jüdische, christliche, islamische usw. – gibt von sich aus Anlass zu verschiedenen Ansätzen, Interpretationsansätzen. Das ist, im Unterschied zu einer Philosophie, die möglichst widerspruchsfrei sein soll, die positive Eigenart der Offenbarungstexte, die durch ihre konkrete, nicht abstrakt gedachte Lebensbezogenheit auf unterschiedliche Situationen situationsgemäß und situationsgerecht reagieren und sogar unterschiedliche Aussagen über das gleiche Phänomen machen. Der Dialog wird mehr Erfolg erzielen, wenn es den Dialogpartnern gelingt, um der Klarheit willen historische Bezugssituationen zu rekonstruieren, anstatt mittels theologischer Spekulationen und Spitzfindigkeiten die Lage zu verkomplizieren und den Dialog in eine Sackgasse zu führen. Ein recht störendes Spannungsfeld rührt von der aktuellen Weltpolitik her. Hier sind es die Anhänger dieser oder jener Religion, die im Einklang mit oder im Widerspruch zu dieser oder jener politischen Erscheinung im Namen der Religion auftreten. Wegen ihrer Aktualität tauchen solche Erscheinungen bei vielen Zwiegesprächen vordergründig auf. Durch Ebenenvertausch und Undifferenziertheit kommt das Gespräch auf eine verkehrte Bahn, vor allem dort, wo – wie angedeutet – eine ähnliche Absicht dahinter steckt. Die Pro- oder Kontraeinstellung von Muslimen zum Aufruf Saddams zum Dschihad brachte den Islam und die Gespräche darüber in eine solch komplizierte Situation, obwohl weder das Eine noch das Andere mit der Lehre des Islam oder mit dessen Praxis das mindeste zu tun hatte – es war ein rein politisches Phänomen im Rahmen der Beziehungen zwischen dem Westen und dem islamischen Orient.
Ansätze zum Dialog im Koran Es handelt sich um Ansätze, die meinen Ausführungen zugrunde liegen. Bedingt durch die Situation, in der Muhammad seine Botschaft verkündete, finden wir im Koran klare Positionen bezüglich der Möglichkeiten und der Hermeneutik eines rein religiösen Dialoges. Muhammad befand sich in der damaligen Weltsituation zwischen den Anhängern der Vielgötterei (hauptsächlich auf der Arabischen Halbinsel) und den Gläubigen an einen einzigen Gott: Juden, Christen, Sartoschti (Zarathustrier) in Byzanz, Iran und zum Teil auf der Arabischen Halbinsel. Wie Abraham entschied Muhammad sich in jener Situation eindeutig für den Ein-Gott-Glauben und wies Vielgötterei unmissverständlich zurück. Diese abrahamitische religiöse Haltung: Zuwendung zu dem einzigen Gott und Abwendung von allem, was außer diesem als Gottheit angenommen wird, nennt der Koran Islam, und bezeichnet Abraham als einen „aufrichtigen Muslim.“2
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Anders als bei Abraham jedoch hatte Muhammad noch drei unterschiedlich geprägte monotheistische oder am Monotheismus orientierte Religionen vor sich. Dazu kam noch die historische Tatsache, dass innerhalb der beiden Lager (Götzenanbeter und Monotheisten) jahrzehntelang, wenn nicht sogar jahrhundertelang, bis zu Muhammads Zeit kriegerische Auseinandersetzungen das Leben der Völker bestimmten. Dies gab Muhammad einen besonderen Anlass zum Gespräch sowohl mit Monotheisten wie auch mit Götzenanbetern. Die Letzteren bildeten die Hauptadressaten seiner Botschaft. Dies geschah im Grunde ausschließlich mittels der Gespräche, die er mahnend und verheißend, jedoch kompromisslos, mit ihnen führte. Interessant für die Hermeneutik des Dialogs sind die Fälle, in denen die Gespräche mit Anhängern der Vielgötterei in die Sackgasse gerieten. Dort heißt es: „Weder ich werde verehren, was ihr verehrt habt, noch werdet ihr verehren, was ich verehre. Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion.“3 Noch interessanter ist die Glaubensfreiheit, die diesen nach dem Koran zusteht, auch wenn sie sich nach der koranischen Überzeugung auf dem Irrweg befinden: „Es gibt keinen Zwang in der Religion. Der richtige Wandel unterscheidet sich nunmehr klar vom Irrweg. Wer also die Götzen verleugnet und an Gott glaubt, der hält sich an der festesten Handhabe, bei der es kein Reißen gibt. Und Gott hört und weiß alles.“4 Der Dialog mit den Götzenanbetern bedeutet hier einerseits, nie aufzuhören, diese zu mahnen und für die Gottgläubigkeit zu gewinnen, und sie jedoch andererseits als Menschen zu dulden, bzw. geltenzulassen. Von größerer Bedeutung ist die Tatsache, dass auch die an Götzenanbeter gerichteten Mahnungen und Verheißungen Muhammads von Anfang an Abraham orientiert waren. An sie gerichtet heißt es bereits in den ersten Phasen seiner Verkündigung in der Sure al-Aclā (wahrscheinlich die als vierte offenbarte Sure): „Dies (der verkündete EinGott-Glaube und dessen moralische Folgen) steht in den früheren Blättern, den Blättern von Abraham und Moses.“5 Was das Verhältnis Muhammads zu den Monotheisten betrifft, so dürfte es der Realität nach nicht ganz einfach gewesen sein, wegen der unterschiedlichen Ausprägung des monotheistischen Grundwertes und wegen der Verflochtenheit der herrschenden Religionen mit einer besonderen machtpolitischen Ausrichtung. Doch die abrahamitische Grundhaltung des ,Islam‘, hier verstanden als das Phänomen: Zuwendung zu einem einzigen Gott, ist es, die auch hier eine klare Basis für das Verhältnis Muhammads zu den Juden, Christen und anderen Monotheisten in Theorie und Praxis schaffen sollte, die die Hermeneutik des Dialogs aus der Sicht des ,Islam‘, hier verstanden als die von Muhammad bestimmte Lehre, bis heute bestimmt. In der spätmedinensischen Sure Al-Mācida heißt es: „Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die Juden sind, und die Sabier und die Christen, all die, die an Gott und an den Jüngsten Tag glauben und Gutes tun, haben nichts zu befürchten und sie werden nicht traurig sein.“6 In speziell an die Schriftbesitzer (Juden und Christen) schon in mekkanischer Zeit gerichteten Versen der Sure al-cAnkabūt legt der Koran die Dialogbasis mit den Ein-GottGläubigen fest: „Und streitet (genauer: führet dialektische Zwiegespräche oder Disputationen) mit den Leuten des Buches nur auf die beste Art, mit Ausnahme derer von ihnen, die Unrecht tun. Und sagt: ,Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt und zu euch herab-
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gesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist einer. Und wir sind ihm ergeben (muslimûn).‘“7 Festgelegt wird der abrahamitische Inhalt der Zwiegespräche noch deutlicher in der medinensischen Sure Ā l-clmran: Sprich: „Ihr Leute des Buches, kommt her zu einem zwischen uns und euch gleichen Wort, dass wir Gott allein dienen und Ihm nichts beigesellen, und dass wir nicht einander zu Herren nehmen neben Gott. Doch wenn sie sich abkehren, dann sagt: ,Bezeugt, dass wir gottergeben (muslimūn) sind.‘“8 Maßgebend ist – wie unermüdlich im Koran betont wird – der Ein-Gott-Glaube, der Islam, die einzig mögliche religiöse Haltung, sofern Gott in der Religion für den Gläubigen eine Rolle spielt, wie sie in den Worten: „Die Religion bei Gott ist die Gottergebenheit.“9, angedeutet wird. Der Koran unterstreicht eindeutig diese Überzeugung mit allen ihren Konsequenzen: demnach gilt der Islam und die Bezeichnung Muslim inhaltlich und phänomenologisch nicht nur für Abraham, sondern auch für Moses, Jesus und alle Propheten und Gesandten davor und danach, wie auch für ihre Anhänger, sofern diese dem Ein-Gott-Glauben anhängen. Es hatte sogar praktische Konsequenzen für die zeitgenössischen Juden und Christen auf der Arabischen Halbinsel. Diese wurden gelobt, und ihre religiöse Lebensweise fand bei Muhammad Anerkennung, sofern sie sich jeweils ganz und gar nach ihren Schriften, Thora und Evangelium, richteten. Getadelt und sogar aufs schärfste verurteilt wurden sie, wenn sie diesen eindeutig zuwider handelten. Getrübt wurden jedoch die Verhältnisse der Muslime zu den anderen durch die Machtkämpfe, die zunächst von Götzenanbetern ausgingen, die aber dann ganz besonders jüdisch-muslimische und in einzelnen Fällen christlich-muslimische Beziehungen betrafen. Trotz alledem und trotz der Tatsache, dass Muhammad es zweifelsohne gerne gesehen hätte, wenn die zeitgenössischen Juden und Christen seine Lehre als vollständigste Ausprägung der abrahamitischen religiösen Haltung angenommen hätten, bietet der Koran in seinem zuallerletzt verkündeten Vers – also nur einige Monate vor Muhammads Tod – „Tisch- und Ehegemeinschaft mit Juden und Christen an.“10 Das geschah zu einer Zeit, als die Muslime absolut die Oberhand besaßen und keinerlei Abhängigkeit von Juden und Christen vorlag, die zu dieser Haltung hätten führen können. Diese einmalige, praktisch einseitige, gesellschaft liche Anerkennung der Juden und Christen und nicht das Tolerieren derselben in dem Sinne, sie nur zu dulden bzw. gelten zu lassen, kann nie genug geschätzt und betont werden. Das bietet einen uneingeschränkten Ansatz für das Verstehen und Begreifen des Korans in seinem Selbstverständnis und eine uneingeschränkte Möglichkeit für den Dialog mit anderen Religionen.
Islamische Christologie versus christliche Christologie Dennoch zogen das koranische Verständnis vom Ein-Gott-Glauben und das strenge Festhalten daran ein großes theologisches Problem nach sich, das direkt das christlich-islamische Verhältnis betrifft. Gemeint ist die sich daraus ergebende islamische Christologie, die von der christlichen Christologie völlig verschieden ist. Bezogen auf den Dialog zwischen Christen und Muslimen entsteht daraus eine Schwierigkeit, die die meisten Zwiegespräche
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belastet, mit der Folge, dass die Gesprächspartner nicht selten aneinander vorbeireden. Kurz gesagt geht es im Koran nicht um die Überzeugung von Sünde-Erlösung als zentrales Moment, sondern um eine Überzeugung, die von der unmittelbaren Abfolge von SündeReue-Vergebung bestimmt ist, wie dies anhand der Geschichte Adams im Koran demonstriert wird.11 Das christliche Modell geht, anthropologisch gesehen, von einer permanenten Sündhaft igkeit des Menschen als dessen Wesensmoment aus; das koranische hingegen geht von der durchaus positiven Anlage des Menschen aus, nämlich von seiner gottausgerichtet geschaffenen Natur als einem nach dem Koran evidenten Wesensmoment. Wir haben es also mit zwei verschiedenen Glaubensmodellen, jeweils mit einem anderen anthropologischen Ansatz zu tun, von denen jedes in sich konsequent und abgeschlossen ist. Weder kann die christliche Theologie ihre strukturierte Christologie aufgeben, noch wird der Koran von seiner im Wesen des Phänomens ,Islam‘ begründeten Christologie abrücken. Darin können wir nun am klarsten die unterschiedlichen Wesensmerkmale und Grenzen zwischen Christentum und Islam sehen. Es sind – zumindest theologisch gesehen – unüberbrückbare Grenzen; kein Kompromiss kann überzeugend diese Kluft aufheben, weil diese Überzeugungen jeweils das gesamttheologische Gebäude bis in den letzten Baustein erfassen. Nur ein Dialog im eingangs genannten Sinne, nämlich ,der Versuch, den Anderen annähernd so zu verstehen, wie jener sich selbst versteht, und das Bemühen, von dem Anderen so verstanden zu werden, wie man sich selbst begreift‘, kann ein gegenseitiges Verständnis unter Bewahrung der eigenen Identität ermöglichen. Die eigentliche Schwierigkeit rührt meines Erachtens von den Theologien her, die man um beide heiligen Texte herum, um Bibel und Koran, entwickelt hat und auch in der dazu jeweils notwendigen Sprache. Ich habe z. B. neulich mit Wonne und großem Interesse die Ausführungen des Herrn Kollegen Otte über das Thema ,Dialektik zwischen Kreuz und Auferstehung‘ gehört und versucht, sie nachzuvollziehen. Als eine intellektuelle, spekulative Interpretation hat die gesamte Darlegung meine volle Bewunderung gehabt. Je mehr ich mir aber Mühe gegeben habe, die Feinheiten, die darin steckten, gefühlsmäßig nachzuvollziehen, umso weniger habe ich damit Erfolg gehabt. Die Theologie und die theologischen Ausführungen bauen auf Prinzipien und Voraussetzungen auf, die in der jeweiligen Gefühlswelt der Gläubigen tief verankert sind. Diese Gefühle sind aus der Sicht der Betreffenden reale Grundlagen, die den entsprechenden Spekulationen Sinn und Gehalt verleihen. Wenn man nicht im Besitz dieser emotionalen Grundlagen ist, wirken die klügsten Spekulationen wie ein leeres und hohles Gebäude. Ich bin sicher, dass einem Christen das Gleiche widerfährt, wenn er mit subtilen Spekulationen z. B. um das Wesen der Gesandtschaft und des Prophetentums – was, wie oben erwähnt, eine zentrale Bedeutung für den islamischen Glauben hat – konfrontiert wird, weil ihm von Anfang an die emotionalen Kanäle zu diesem Phänomen fehlen. Auch die Religionsphänomenologie, die im abendländisch-christlichen Raum einen beachtlichen Erfolg erzielt hat, konnte hier bislang keine Brücke bauen. Sie versucht nämlich hauptsächlich – anders war es auch nicht zu erwarten – die anderen Religionen von christlicher Begrifflichkeit her zu begreifen. Möglicherweise hat sie im Falle der anderen Religionen mehr Erfolg erzielt als im Hinblick auf den Islam. Das Übersehen von zweierlei
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Christologien und zweierlei Glaubensmodellen dürfte hier von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Eins könnte höchstwahrscheinlich hilfreich sein: Die Gründung einer neuen Theologie auf beiden Seiten auf der Grundlage eines gegenseitigen Verständnisses für das Selbstverständnis des Gegenübers. Langfristig kommen weder die Christen noch die Muslime darum herum, wenn sie es mit dem Dialog – im genannten Sinne – ernst meinen. Es gibt aber für Christen und Muslime jenseits ihrer spekulativen Theologien einen anderen, einfacheren Weg, sich als Gläubige näher zu kommen; einen Weg, den die heiligen Schriften beider Religionen vorgezeichnet haben. Ich meine den Weg, auf den oben hingewiesen wurde: Das gesamte christliche Glaubenssystem steht und fällt mit der Maxime ,Liebe‘. Parallel dazu haben wir gesehen, dass das islamische Glaubenssystem mit der Maxime ,Barmherzigkeit‘ steht und fällt. Denn – um das noch einmal zu betonen – nur Gottes Hilfe und Gottes Gnade und Barmherzigkeit sind es, die nach der koranischen Überzeugung dem Menschen helfen können, die Nähe Gottes zu erreichen, und nicht seine eigene Leistung, keineswegs sein eigenes Werk. So gesehen werden die Christen und Muslime, sofern sie es mit dem Dialog ernst meinen, gut daran tun, wenn sie in ihren Begegnungen und Gesprächen auf jeder Ebene und in jeder Situation von der gemeinsamen, funktionsgleichen Wurzel, Liebe und Barmherzigkeit, ausgehen würden, um die sich die Mensch-Gott- und Gott-Mensch-Beziehung dreht, und von dieser Basis aus füreinander Gefühle entwickeln würden mit dem Ziel, ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Welt und alle Menschen in der Gegenwart und der Zukunft in Frieden und Eintracht nachzukommen.
Weiterführende Literatur des Autors: Falaturi, Abdoldjavad: Zur Interpretation der kantischen Ethik im Lichte der Achtung. Mit einem Anhang: Vorarbeit zu Studien zu einem allgemeinen Kantwörterbuch, Bonn 1965. –: Der Islam im Unterricht. Beiträge zur interkulturellen Erziehung in Europa, Braunschweig 1996.
Anmerkungen 1 Der vorliegende Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung der „Institut für Humanund Islamwissenschaften“ in Hamburg und ist von den Herausgebern überarbeitet worden. 2 Koran 3:67 3 Koran 109:4–6 4 Koran 2:256 5 Koran 87:18–19 6 Koran 5:69 7 Koran 29:46 8 Koran 3:64 9 Koran 3:19 10 Koran 5:5 11 Koran 2:30 ff.
Blasphemie und Häresie aus christlicher Sicht von Philipp Thull
Blasphemie und Häresie aus christlicher Sicht Philipp Thull
Blasphemie und Häresie sind dem Christentum nicht fremd. Bewegt von der Sorge um den rechten Glauben, widmeten sich christliche Theologen bereits in den ersten Jahrhunderten der Abwehr innerer und äußerer Gefahren. Während der Kampf gegen Blasphemie bereits im Alten und Neuen Testament der Abwehr jeglichen schmähenden Gebarens gegenüber Gott galt, suchte die antihäretische Apologie der ersten beiden christlichen Jahrhunderte sämtliche Lehren fern des apostolischen Glaubens der Falschheit und Lüge zu überführen. Nachfolgend soll der Inhalt beider Begrifflichkeiten aus christlicher Sicht in gebotener Kürze zur Darstellung gebracht werden.
1. Blasphemie aus christlicher Sicht Paris im Jahr 1926, Salon des Indépendants. Unter der Enthüllung eines neuen Gemäldes voll Ungeduld zuwartenden Kunstliebhabern ,guten Geschmacks‘, macht sich hehres Entsetzen breit. Zutage gefördert wird eine, in ihren Augen unbeschreibliche, gotteslästerliche Provokation. In dem surrealistischen Werk aus der Hand des rheinländischen Malers Max Ernst (1891–1976) ist, wie es sein Titel ,Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen‘ verheißt, Maria verbildlicht, Mutter des Herrn, die Sanftmütige, die Gütige, sich selbst entzaubernd, indem sie ihre Hand gegen den nackten Hintern des Jesuskindes erhebt, kurz davor, ihm mit einem Schlag alle Heiligkeit und Unschuld zu nehmen. In Köln, wo das Bild nach Paris gezeigt werden soll, schreit die Masse Zeter und Mordio, der Erzbischof veranlasst gar die Schließung der vom Kölner Kunstverein organisierten Ausstellung. Das Befremden über die frech anmutende Inszenierung des Künstlers mag verständlich erscheinen. Wenn öffentlich abgewertet wird, woran man selbst glaubt, fühlt man sich verletzt, nicht selten persönlich betroffen und beleidigt. Innerer Widerspruch und das Verlangen nach einer Bestrafung des ,Täters‘ können die Folge sein. Während der deutsche Gesetzgeber durch § 135 des Preußischen Strafgesetzbuches (PStGB) noch die Gotteslästerung mit Strafe bedrohte, gibt seit 1966 nur noch die ,Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen‘ gemäß § 166 StGB Anlass zur Strafverfolgung, wenn es dadurch zur Störung des öffentlichen Friedens kommt. Ver-
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urteilungen nach dem sogenannten ,Blasphemie- oder Gotteslästerungsparagraphen‘ sind selten geworden. Auch wenn Ernsts Marienmotiv heute kaum noch so heftige Reaktionen hervorrufen, geschweige denn eine Strafverfolgung nach sich ziehen würde, haben wiederholte Schmähungen religiöser, vor allem christlicher und muslimischer Gemeinschaften und Symbole in den vergangenen Jahren1 das Problem öffentlich geäußerter und dargestellter Blasphemie zurück auf die politische und juridische Tagesordnung gebracht und den Ruf nach einem Verbot erstarken lassen.2
1.1 Blasphemie im Alten Testament Dabei ist der Kampf gegen die blasfhm2a, die Schmähung, Lästerung, Verspottung Gottes keineswegs neu. Sämtliche Vorschriften, ausgehend von alttestamentarischer Zeit bis in die Epoche der Aufk lärung, erhoben im Kampf gegen die öffentlich geäußerte Gotteslästerung die Ehre Gottes zum zentralen Schutzgut.3 Das Alte Testament charakterisiert JHWH mitunter als eifersüchtigen, von „Zorneswildheit“ 4 getriebenen Gott, der den Widerstand seiner Feinde gewaltsam zerschmettert wie der Töpfer den missratenen Topf (vgl. Jer 18,1–12), der den Missbrauch seines Namens und seines Volkes (vgl. Jes 52, 5), die Verletzung seiner Ehre (vgl. Ez 35, 12) und alles gottwidrige Tun (vgl. Jos 6–10; Ex 12, 18–19; Ex 21, 12–17; Ex 34, 7; Lev 24, 11; Jes 66, 3; 1 Makk 2, 6; 2 Makk 8, 4; 10, 34 ff.; 12, 14; Tob 1, 18) nicht ungestraft lässt. Jener, der gegen das dritte göttliche Gebot verstößt und den Namen des Herrn missbraucht (vgl. Ex 20, 7; Dtn 5, 11), soll wegen seiner Gotteslästerung „aus seinem Volk ausgemerzt werden“ (Num 15, 30) und nach dem mosaischen Gesetz (Lev 24, 15–16) mit der Höchststrafe belegt werden: „Und zu den Söhnen Israel sollst du reden: Wenn irgendjemand seinen Gott verflucht, dann soll er seine Sünde tragen. Und wer den Namen des HERRN lästert, muss getötet werden, die ganze Gemeinde muss ihn steinigen; wie der Fremde, so der Einheimische: Wenn er den Namen lästert, soll er getötet werden. Wenn jemand irgendeinen Menschen totschlägt, muss er getötet werden.“
1.2 Blasphemie im Neuen Testament Auch das Neue Testament kennt die Schmähung Gottes. Dem Bösen verfallen – personifiziert durch jenes, von „Namen der Lästerung“ gezierte siebenköpfige Tier, welches selbst Lästerungen wider Gott und jene, welche zu ihm gehören ausspricht (vgl. Offb 13, 1–6) – antworten die Menschen auf den Zorn Gottes mit Lästerungen wider ihn und seinen Namen (vgl. Offb 16, 9–11. 21). Der Verfasser der Offenbarung erblickt vor allem im Kaiserkult und den Gottesprädikaten des Kaisers, „gotteslästerliche Namen“ (Offb. 13, 1; 17, 3), Blasphemie. Weil das mosaische Gesetz der Lästerung Gottes und seines Namens mit aller Strenge entgegensteht, lautet auch das Urteil gegen Jesus mithin auf Tod. Mit dem Anspruch, der
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Sohn Gottes zu sein und Sünden vergeben zu können (vgl. Mk 2, 7), kann er in den Augen eines Juden nur als Gotteslästerer erscheinen. Als Jesus sich selbst als der Messias mit „eschatologische[r] Geschichtsvollmacht“5 bekennt, den man zur Rechten der Allmacht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen wird, ist er der Gotteslästerung vollends überführt (vgl. Mk 14, 64; Mt 26, 65). Auch Johannes berichtet von seiner mit dem Vorwurf der blasfhm2a begründeten Bedrohung, weil er sich „selbst zu Gott“ (Joh 10, 33) gemacht habe. Jesu Tod am Kreuz gilt den Juden als Beweis dafür, dass er nur ein von Gott verfluchter Gesetzesbrecher sein könne, stellt der Kreuzestod seit vorchristlicher Zeit doch selbst einen „Fluch Gottes“ (Dtn 21, 23) dar. Auch Jesu Zeugen, Träger der Offenbarung, werden wegen ihrer Worte, die aus jüdischer Sicht als „Lästerworte gegen Mose und Gott“ verstanden werden, beschuldigt und dem Tod ausgeliefert (vgl. Apg 6, 11). Andererseits muss jedoch der Zweifel am messianischen Anspruch Jesu, die Verspottung seiner Prophetengabe (vgl. Lk 22, 64 f.) oder seiner Gottessohnschaft (vgl. Mk 15, 29; Mt 27, 39; Lk 23, 39) für Christen ebenso zum Ausdruck von der Lästerung Gottes werden. Alles, was gegen die Predigt und messianische Verkündigung des Paulus vorgebracht wird, ist Lästerung wider Gott (Apg 13, 45; 18, 6). In gleicher Weise entspricht jedes liebeswidrige Verhalten einer Lästerung Gottes (vgl. Röm 14, 16). Dabei können die Lästerung Gottes und des Menschensohnes vergeben werden (vgl. Mk 3, 28–29; Mt 12, 32), nicht jedoch jene des Geistes. Dieser nämlich liegt die „duritia cordis“6 zugrunde, die von Sünde und Zweifel bewegte Zurückweisung Gottes und seiner heilenden Kraft und Gnade.7 Gegenüber der jüdischen Gemeinde vollzog das junge Christentum jedoch einen entscheidenden Wandel: das weltliche Urteil über die Gotteslästerer erfuhr in Anlehnung an das Gleichnis vom Weizen und Unkraut (vgl. Mt 13, 30) eine Eschatologisierung. Verbunden mit dem Verzicht auf jegliche Gewalt und der Hoff nung auf Bekehrung, sollte das Urteil über die Frevler allein Gott zustehen.8 Der Zorn Gottes aber, der sich gegen jede Zurückweisung der göttlichen Liebe wendet und von dem vor allem im Alten Testament so oft die Rede ist, bildet weder einen Widerspruch zur göttlichen Barmherzigkeit, noch ist er Beweis eines blutrünstigen und rachsüchtigen Gottes. Vielmehr ist es der Mensch selbst, der sich dem Pfingstgeschehen widersetzend in Sünde von Gott entfernt und seinen Namen und seine Taten (vgl. Lk 12, 11 f.; 24, 45 ff.; Apg 1, 8; 4, 31; 5, 32; 7, 51) dadurch verlästert. „So geht der Gottesname ohne Sinn durch die Menschensprache, wie ein Gespenst … Aber wir sagen wohl richtiger: wie ein Verbannter; wie ein Unbekannter durch fremdes Land.“9 Jener Mensch, der nur noch sich selber kennt und immer mehr in sich verschließt, in dessen Herz kein Platz mehr ist für die göttliche Liebe, der baut sich in Freiheit selbst das dunkle Verlies seines Verderbens, das wir Hölle nennen. „Christus teilt niemandem Verderben zu, er selbst ist reine Rettung, und wer bei ihm steht, steht im Raum der Rettung und des Heils. Das Unheil wird nicht von ihm verhängt, sondern es besteht da, wo der Mensch von ihm ferne geblieben ist; es entsteht durch das Verbleiben im Eigenen. Das Wort Christi als Angebot des Heils wird dann sichtbar machen, dass der Verlorene selbst die Grenze gezogen hat und sich vom Heil trennte.“10
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Die gesamte Heilige Schrift, das Alte und das Neue Testament, die in unverbrüchlicher Weise zusammengehören, zeugt von Gottes Heilsgeschichte mit dem Menschen, vom Anbeginn der Schöpfung bis zur Menschwerdung Gottes. „Kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat mehr gehört, solche Freude“11, so der Glaube der Christen, wie sie der Welt mit Jesus Christus geschenkt worden ist. Darum ist er Ausdruck und Verkörperung der unendlichen Liebe Gottes zum Menschen und seiner Schöpfung. Dass Jesus den Menschen zur letzten Entscheidung aufruft – so ist auch Jesu Aussage, er bringe Kampf (vgl. Mt 10, 34–39) zu lesen – steht seiner unermesslichen Liebe zu allen Menschen nicht entgegen. Er sucht durch Liebe, nicht Gewalt zu überzeugen. Als seine Jünger ihm vor der Verhaftung zwei Schwerter zum Kampfe reichen wollen, äußert sich im schlichten „Genug damit!“ (Lk 22, 38) Jesu Abscheu vor jeglicher Gewalt. Was schließlich das zu Anfang angesprochene ,Blasphemieverbot‘ betrifft, so sind es nicht nur verfassungsrechtliche Bedenken12 und der Schutz religiöser Minderheiten, die jegliches Bemühen um ein Verbot öffentlich geäußerter Blasphemie in Frage stellen, sondern am Ende auch der christliche Glaube selbst, der nicht mit dem vom Hass erhobenen Damoklesschwert der Strafe zu überzeugen sucht, sondern einzig durch das Beispiel tätiger Liebe.
2. Häresie aus christlicher Sicht Abzugrenzen von der schmähenden Rede, der Blasphemie, ist die falsche Rede von Gott, die Häresie13, aFresiw (Schule, Partei, Auswahl). Während der Kirche stets eine gewisse Vielfalt an „Teilkirchen“ und „Riten“ eigen war, die sich auf wunderbare Weise miteinander verbunden wissen und dadurch eine „Vielfalt in der Einheit“ aufzeigen14, gab es immer auch theologische Lehren und Strömungen in der Kirchengeschichte, die dem entgegen einer grenzenlosen Vielheit und einem Pluralismus das Wort redeten, bei denen „es sich nicht mehr um eine vielgestaltige Ausprägung des einen und selben, sondern um unversöhnliche Gegensätze handelt, wo die fruchtbaren, ja lebensnotwendigen Spannungen zu starren und unvereinbaren Gegensätzen werden.“15 Bereits das zweite Jahrhundert der frühen Kirche förderte solche Tendenzen „aufhebender Vielheit“16 zutage, die zwangsläufig zur Auflösung der pluralen Einheit geführt hätten, wären sie nicht als Häresien verworfen worden. Unglücklicherweise fällt die Enttarnung der Häresie auf den ersten Blick schwer. Ähnlich der Orthodoxie, müht auch sie sich vorerst um ein Fortschreiten, eine vollständige und unverfälschte Ergründung und Auslegung des geoffenbarten und von den Aposteln bewahrten Glaubensgutes. Ohne aber im rechten Glauben zu verharren, strebt sie weiter, vernachlässigt gleichsam wesentliche Glaubenssätze oder gibt sie gar auf. „Alle Ketzer“, wie Origenes (185–254) schreibt, „kommen zuerst zur Gläubigkeit; später weichen sie dann von der Glaubensregel ab“17, sie verdingen sich damit, „anderes zu lehren und sich mit Fabeleien … abzugeben“ (1 Tim 1, 4). Ihre Lehren sind „tödliches Gift mit Honigwein“18, das sie dem Unkundigen zu reichen versuchen, jede Häresie gleicht einer Schlange,
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gegen die ein entsprechendes Gegengift, ihre Widerlegung, bereitzuhalten ist.19 Die Häretiker sind, wie Basilius schreibt, „die vollständig Losgerissenen und bezüglich des Glaubens selbst Entfremdeten“20, die sich in ihrer willkürlichen Auswahl von der „Königsstraße“ (Num 20, 17) entfernen und in Gegensatz zur Wahrheit begeben21 und damit schon das Urteil über sich selbst gesprochen haben (vgl. Tit 3, 10 f.). In Abgrenzung zum orthodoxen Glauben liegt der Häresie mithin „eine nur selektiv akzeptierte Glaubenswahrheit, ihre Vereinseitigung oder radikale Überspitzung“22 zugrunde. Indem sie zum Entstehen neuer Gemeinschaften, „verderbliche[r] Sekten“ neben der ursprünglichen ekklhs2a, beiträgt, um derentwillen „der Weg der Wahrheit verlästert“ (2 Petr 1–2) wird, berührt sie das Fundament der Kirche in erheblichem Maße und wird zur Gefahr für ihre Lehre. Weil jedoch „alles Christentum, von einem bestimmten späteren Standpunkt aus betrachtet, ,häretisch‘ gefärbt ist“23 und es an einschlägigen Kriterien sowie einer zuständigen Instanz zunächst mangelte, bedurfte es zur Unterscheidung in Rechtgläubigkeit und Irrglaube eines ausgedehnten Klärungsprozesses. Zur „Substanz der Tradition“24 wurde die ,regula fidei‘, d. h. das im Alten Testament grundgelegte und von den Aposteln überlieferte Glaubensgut. Dabei garantierten gerade jene christlichen Gemeinden für die Treue zum Ursprung, die sich auf den ,ordo traditionis‘25 berufen durften, deren Bischöfe also in ununterbrochener Nachfolge der Apostel standen.26 Je öfter sie bei der Verkündigung des Glaubens auf Widerstände stießen und eine Unterscheidung geboten erschien, desto häufiger beriefen sie sich auf ihr gemeinsames Bekenntnis (O^molog2a) und griffen im Gebet und der Glaubensunterweisung auf bekenntnishafte Formeln zurück, die den Glauben an Jesus Christus bestärken sollten. Später flossen diese Lehrsätze in sogenannte ,Symbola‘ zusammen, die der Gemeinde Festigkeit im Glauben und eine gemeinsame Identität verliehen.
2.1 Gnostizismus Die in den Schriften der Kirchenväter als für die christliche Glaubenslehre am gefährlichsten gewertete Häresie ist die „fälschlich sogenannte Erkenntnis“ (1 Tim 6, 20), der Gnostizismus, der bereits in den neutestamentlichen Schriften (vgl. 1 Tim 1, 4; Tit 3, 9; 1 Tim 1, 19 f.; 2 Tim 2, 16 ff.; 1 Joh; Jud; 1 und 2 Petr) zur Diskussion steht. Genährt von Elementen vorchristlicher und zeitgenössischer Religionen, Mythologien, Philosophien und Astrologie, suchte die gnostische Erlösungslehre vor allem nach der Erklärung des Bösen, der Stellung des Menschen und seiner Erlösung sowie der Erzählung vom Aufstieg und Fall des Menschen. Ausgehend von einem kosmischen Dualismus zwischen böser irdischer Welt und gutem göttlichen Ursprung unterscheiden die Gnostiker zwischen dem Schöpfer dieser Welt, dem Demiurgen und dem unbekannten, transzendenten Gott, mit dem sich der Mensch durch den göttlichen Funken, die im Leib gefangene Seele, verbunden weiß. Befreiung aber sei dem Menschen allein durch die ,gnMsiw‘, die ,Erkenntnis‘ vergönnt, die ihm unmittelbar die Wahrheit über Gott, die Welt und das eigene Selbst offenbare und damit „vollkommen und [zum] Same[n] der Auserwählung“27 mache.
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Angeführt von ihren Gründern, später deren Schülern – meist Intellektuelle hellenistischer oder jüdischer Bildung – und aufgeteilt in ,Pneumatiker‘ und ,Psychiker‘, bildeten auch die Gnostiker in ihrer vorgeblichen Überlegenheit eigene, sich vor allem dem erlösenden Wort Gottes und seiner Weitergabe widmende Gemeinden. Auch rituelle Handlungen zur sinnenhaften Veranschaulichung des durch Erkenntnis bedingten Erlösungsgeschehens sowie ethisch bestimmte Handlungsmaximen waren den Gnostikern keineswegs fremd.
2.2 Marcionismus Anlass zur Sorge um den Glauben, bot auch der aus Sinope in Pontus stammende Schiffsreeder Marcion (ca. 85–160). Weil ihm sein zunächst orthodoxes Bemühen, den liebenden Gott Jesu Christi mit jenem gerechten und strafenden Gott des Alten Testaments in eins zu bringen, nicht gelingen will, lehnt er die Identität beider ab und trennt aus seiner Heiligen Schrift das gesamte Alte Testament sowie alle Bezugsstellen im Neuen Testament, sodass sie am Ende aus dem wiederum gekürzten Lukas-Evangelium und den Paulusbriefen besteht. Der Mensch, wie die Welt von einem Demiurgen erschaffen, müsse sich in strenger Askese und Weltflucht von ihr abwenden. Die Geburt Christi aus Maria leugnend, deutet er das Erlösungsgeschehen in der Weise um, dass Christus den Menschen nicht von der Sünde Adams befreit, sondern ihm vielmehr die neue Botschaft vom gütigen, der Welt noch unbekannten Gott, verkündet habe. Von der Gemeinde Roms im Jahre 144 wegen seiner unorthodoxen Lehren exkommuniziert, gründet Marcion schließlich eine eigene Kirche, die bis ins 5. Jahrhundert Bestand hat.
2.3 Montanismus Eine weitere, zur Häresie erklärte Bewegung entstand zwischen 157 und 172 in Gestalt des Montanismus im phrygischen Ardabau. Anknüpfend an die schwindende Naherwartung der Wiederkunft des Messias und entgegen einer sich anbahnenden Institutionalisierung von Kirche im 2. Jahrhundert, suchte Montanus die Euphorie der ersten Gemeinden durch das Verkünden des bevorstehenden Weltendes und der Aufforderung zur Weltflucht neu zu entflammen. Als Führer der ,Neuen Prophetie‘ bzw. der ,Phrygier‘ trat er mit dem Anspruch auf, der in Joh 14, 26 und 16, 7 verheißene Paraklet zu sein. Unterstützt von den Prophetinnen Maximilla und Prisc(ill)a, breitete die Bewegung sich rasch über ihre phrygische Heimat hinaus aus. Anfangs nicht als solche erkannt, verurteilten Synoden in Kleinasien Ende des 2. bzw. zu Beginn des 3. Jahrhunderts den strikten montanistischen Rigorismus, der sich zur einzigen Autorität aufspielte, viele Christen vom universalen Heilswillen ausschloss und die Autorität der Heiligen Schrift leugnete, als Häresie. Spätestens im Jahre 207 schloss sich auch der nordafrikanische Theologe Tertullian (n. 150n. 220) den Montanisten an.
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3. Schlusswort Zusammenfassend zeigt sich, dass sowohl die Blasphemie als auch die Häresie zwei, dem Christentum seit seiner Entstehung wohl vertraute und immer wieder auftretende Phänomene waren und sind, die weniger durch die Gewalt des Schwertes, als vielmehr durch die Stärke der Feder ihre Widerlegung erfuhren. Dass es im Laufe der gut zweitausendjährigen Geschichte des Christentums auch zu grausamen, menschen-, ja gottesverachtenden Verfehlungen gekommen ist, muss unser christliches Herz heute mit Bitternis und Gram erfüllen, ändert aber nichts daran, dass es am Ende die Liebe Gottes ist, die alle Gewalt in sich aufhebt und Christen dazu bewegt auch das Andere nicht nur zu (er-)tragen, sondern anzuerkennen und sich für ein friedvolles Miteinander zu verdingen, statt Krieg, Hass und Zerstörung zu säen.
Weiterführende Literatur des Autors: Thull, Philipp (Hrsg.): Lasst euch versöhnen mit Gott. Der Heilige Rock als Zeichen der ungeteilten Christenheit, Nordhausen 2012. –: Ermutigung zum Aufbruch. Eine kritische Bilanz des Zweiten Vatikanischen Konzils, Darmstadt 2013.
Anmerkungen 1 Erinnert sei beispielhaft an die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung ,JyllandsPosten‘ 2005 sowie das Mohammed-Video und die mit der entwürdigenden Darstellung auf einem Cover der Satirezeitschrift ,Titanic‘ 2012 einhergehende Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Papst Benedikt XVI. 2 Zuletzt forderte der Bamberger Erzbischof Dr. Ludwig Schick ein öffentliches Blasphemie-Verbot. 3 Vgl. Schwerhoff, G.: Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200–1650, Konstanz 2005, S. 135. 4 Miggelbrink, R.: Der zornige Gott. Die Bedeutung einer anstößigen biblischen Tradition, Darmstadt 2002, S. 14. 5 Hofius, O. in: Balz, H. u. G. Schneider (Hrsg.): Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Band I, Stuttgart fl ASfi21992, S. 530. 6 Augustinus, ep. 185, 49. 7 Vgl. Beyer, H. W.: blasfhmev, blasfhmia, blasfhmow, in: Kittel, G.: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Band I, Stuttgart 1933–1979, S. 623. 8 Vgl. Angenendt, A.: Gottesfrevel. Ein Kapitel aus der Geschichte der Staatsaufgaben, in: Isensse, J. (Hrsg.): Religionsbeschimpfung. Der rechtliche Schutz des Heiligen, Berlin 2007, S. 11 ff. 9 Guardini, R.: Das Gebet des Herrn, Mainz 91965, S. 43. 10 Ratzinger, J.: Eschatologie. Tod und ewiges Leben, Regensburg 61990, S. 169.
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11 Nicolai, P.: Kantate „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, 1599, in: Gotteslob (GL 110) / Evangelisches Gesangbuch (EG 147). 12 Vgl. Rox, B.: Schutz religiöser Gefühle im freiheitlichen Verfassungsstaat?, Tübingen 2012; Isensse, J. (Hrsg.), Religionsbeschimpfung. Der rechtliche Schutz des Heiligen, Berlin 2007. 13 Zur weiteren Vertiefung des Folgenden vgl. u. a. Frank, K. S.: Lehrbuch der Geschichte der Alten Kirche, Paderborn 32002, S. 139 ff.; Fiedrowicz, M.: Theologie der Kirchenväter. Grundlagen früh-christlicher Glaubensreflexion, Freiburg i. Br. 2007, S. 365 ff.; Drobner, H.: Lehrbuch der Patrologie, Frankfurt am Main 32011, S. 143 ff. 14 II. Vat., Dekrete über die katholischen Ostkirchen ,Orientalium Ecclesiarium‘, Nr. 2. 15 Katholischer Erwachsenen-Katechismus. Das Glaubensbekenntnis der Kirche, DBK, Bonn 1951, S. 281. 16 Ebd. 17 Comm. II in Cant. Tom XIV, S. 10. 18 Ignatius von Antiochien, epistula ad Trallianos 6, 1–2, 176 Fischer. 19 Vgl. Epiphanius von Salamis, panarion omnium haeresium. 20 Basilius von Cäsarea, Epistula 188, 1, CUFr 121. 21 Vgl. Clemens von Alexandrien, stromateis 7, 92, 7, SC 428, 282. 22 Drobner, H. Lehrbuch der Patrologie, Frankfurt am Main 32011, S. 143. 23 Bauer, W.: Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, Tübingen 21964, S. 63. 24 Irenäus von Lyon, Adversus haereses, I 10, 2. 25 Irenäus, Adv. haer., III 4, 1. 26 Vgl. Tertullian, De praescr. 36, 1: ecclesiae apostolicae. 27 Irenäus von Lyon, Adversus haereses, I 6, 4.
Die islamisch-koranische Sicht auf Blasphemie und Häresie von Elhakam Sukhni
Einleitung Die islamisch-koranische Sicht auf Blasphemie und Häresie Elhakam Sukhni
Häresie, die eher im innerislamischen Kontext eine Rolle spielt und Blasphemie, die auch Nichtmuslimen zum Verhängnis werden kann, wie die heft igen Reaktionen der islamischen Welt auf die dänischen Muhammad-Karikaturen (2006) und auf den von einem ägyptischen Kopten in den USA produzierten Muhammad-Schmähfilm (2012) zeigen, werden im Koran meist indirekt angesprochen und lassen darüber hinaus offen, wie eine weltliche Strafe bzw. Reaktion auszusehen hätte. Dieser Beitrag soll einen kurzen Einblick in den innerislamischen Diskurs geben und exemplarisch einige relevante Aussagen des Korans darstellen.
Häresie und Blasphemie im Islam Obwohl die islamische Geschichtsschreibung ein Verfahren wie das der Inquisition nicht kennt1 hat sich dennoch eine Reihe von islamischen Gelehrten intensiv mit häretischen Gruppen auseinander gesetzt und in theologischen Abhandlungen die „Irreleitungen“ dieser Gruppierungen aufgezählt. So kennt die islamische Literatur eine eigene Gattung, nämlich die der Häresiographie2, zu deren bekanntesten etwa das al-fisal fi al-milal wa al-nihal von Ibn Hazm (gest. 1064), talbis iblis von Ibn al-Dschauzi (gest. 1201) oder das Werk des Abu al-Hasan al-Aschari maqalat al-islamiyyin wa-ikhtilaf al-musallin zählen. Die Streitpunkte, die zur Unterteilung von Gruppen führen sind im Allgemeinen die Frage der Willensfreiheit, die Attribute Gottes, Glauben in Verbindung mit Taten und die Anführerschaft der Gemeinde.3 Problematisch wird es, wenn die Meinungen zu gewissen Glaubensbereichen so extrem sind, dass sie zum Unglauben (arab. kufr: Verleugnung, Ablehnung, Verdecken der Wahrheit) und somit zum Ausschluss aus dem Islam führen. Das Beleidigen des Propheten ist eine besonders schwere Tat, über deren Folgen sich Ibn Taymiya (gest. 1328) in seinem einflussreichen Werk „Das gezogene Schwert gegen den Schmäher des Gesandten“4 dem Titel angemessen auslässt. Die populäre Fatwa von 1989 gegen Salman Rushdie, das von den Medien als „Todesurteil“ übersetzte Rechtsgutachten, konfrontierte die westliche Welt zum ersten Mal direkt
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mit der muslimischen Reaktion auf die Beleidigung der Religion. Sie wurde vielen erneut ins Gedächtnis gerufen, als im Schatten des arabischen Frühlings dem 23-jährigen Saudi Hamza Kashgari im Februar 2012 aufgrund beleidigender Aussagen gegen den Propheten im Internet Blasphemie vorgeworfen wurde. Kashgari floh, nachdem er unerwartet heft ige Reaktionen auf seine angeblich unüberlegten Äußerungen auf der Internetplattform „Twitter“ erlebte, ausgerechnet nach Malaysia, wo er auf Bitten Saudi-Arabiens verhaftet und ausgeliefert wurde. Trotz der inhaltlichen Unterschiede kann ein Blasphemie- oder Häresievorwurf zum gleichen Ergebnis führen, nämlich zum takfir eines Muslims: Dem „Täter“ wird der Glaube abgesprochen, somit zum Ungläubigen (kafir5) erklärt und mit weitreichenden Konsequenzen konfrontiert, wie es der Fall des auch in Deutschland bekannten Ägypters Nasr Hamid Abu Zaid (gest. 2010) zeigt. Aufgrund einer umstrittenen Analyse des Korans warf man Abu Zaid Häresie vor, woraufhin gerichtlich über seine Apostasie entschieden wurde, die dazu führte, dass er sich von seiner muslimischen Frau scheiden lassen musste und sich gezwungen sah, das Land zu verlassen. Ägypten kennt eine Reihe von schweren Häresievorwürfen zu deren spektakulärsten Fällen die Vorwürfe gegen Faradsch Fouda (gest. 1992) gezählt werden müssen, der u. a. die Rolle des islamischen Rechts bzw. das gesamte Konzept eines islamischen Staates in Frage stellte. Nachdem er einem Mordanschlag zum Opfer fiel, erklärte der über die Grenzen Ägyptens hinaus angesehene Gelehrte Muhammad al-Ghazali (gest. 1996) die Ermordung Foudas für eine natürliche Konsequenz, da dieser abtrünnig geworden sei.6 Zu den wohl bekanntesten Häresievorwürfen der islamischen Ideengeschichte zählt der Fall des Mystikers Mansur al-Halladsch, der spätestens mit seiner provokanten Aussage „ana-l-haqq“ (Ich bin die Wahrheit) die Orthodoxie erschütterte und im Jahre 922 hingerichtet wurde.7 Doch nicht nur Individuen waren im Laufe der Zeit vom Urteil der Häresie oder der Blasphemie betroffen. Die von Mirza Ghulam Ahmad 1889 in Indien gegründete islamische Bewegung, aus welcher sich nach seinem Tod die Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) und die Ahmadiyya Anjuman Ischat-i-Islam Lahore (AAIIL) entwickelten, wurde im April 1974 von der Islamischen Weltliga für häretisch und ihre Anhänger zu NichtMuslimen erklärt. Zusätzlich wurde 1980 das pakistanische Strafgesetzbuch um zwei Absätze erweitert (§§ 298-B und 298-C), wonach ein Ahmadi, „who directly or indirectly, poses himself as a Muslim, or calls, or refers to, his faith as Islam, or preaches or propagates his faith, or invites others to accept his faith, by words, either spoken or written, or by visible representations, or in any manner whatsoever outrages the religious feelings of Muslims shall be punished with imprisonment of either description for a term which may extend to three years and shall also be liable to fi ne.“8
Häresie beschäftigte Muslime schon in sehr frühen Jahren; sei es der erste Kalif Abu Bakr, der nach dem Ableben des Propheten gegen neue selbsternannte Propheten zu kämpfen hatte, oder der vierte Kalif Ali, den die Vorwürfe der Kharidschiten, er sei vom Islam abgefallen, weil er „nicht nach dem richtet, was Gott offenbarte“ in eine militärische Auseinandersetzung mit letzteren führte. Einen aufschlussreichen Einblick in die
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dogmatischen Diskurse seiner Zeit bietet das Werk des großen Gelehrten al-Ghazali (gest. 111). Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und Gottlosigkeit, welches er „um das Jahr 110 als Reaktion auf die Bereitwilligkeit der Richter verfasst hat, abweichende Meinungen als Unglauben zu verurteilen.“9 Al-Ghazali selbst schreckte jedoch nicht davor zurück an anderer Stelle populären islamischen Philosophen wie Ibn Sina (Avicenna) und al-Farabi aufgrund ihrer, aus al-Ghazalis Sicht, häretischen Ideen Unglauben (kufr) vorzuwerfen.10 Schließlich sei die Kritik des Gelehrten Ibn Taymiyas (gest. 1328) gegen gewisse Praktiken des Sufismus, Schiiten und Philosophen erwähnt, dessen Methodik spätestens durch Muhammad Ibn Abdelwahhab (gest. 1792) wiederbelebt wurde, auf welchen wiederum die wahhabitisch-salafitische Richtung zurückgeht11, die bis heute für eine strenge und enge Auslegung häretischen und blasphemischen Verhaltens steht und auch auf bedeutende Reformer wie Raschid Rida oder Denker wie Sayyid Qutb Einfluss nahm.
Häresie im Koran Die Botschaft des Korans beinhaltet primär die Aufforderung an alle Menschen einen einzigen Gott als Schöpfer mit all seinen Eigenschaften anzuerkennen12, ihm demnach keine Gottheiten beizustellen und Muhammad als Propheten und Gesandten Gottes anzuerkennen.13 Neben der direkten Ablehnung Gottes (kufr bil-Lah) und seiner Botschaft, wonach sich jemand offensichtlich dazu bekennt, nicht an Gott zu glauben, steht der sogenannte schirk (dt. Polytheismus, d. h. Gott etwas beizustellen), der auch von jemandem begangen werden kann, der sich eigentlich selbst als Muslim bezeichnet. Hierzu heißt es im Koran: „Wahrlich, Allah wird es nicht vergeben, dass Ihm Götter zur Seite gestellt werden: doch Er vergibt, was geringer ist als dies, wem Er will. Und wer Allah Götter zur Seite stellt, der ist in der Tat weit irregegangen.“14 Und an anderer Stelle: „[…] Wer Allah Götter zur Seite stellt, dem hat Allah das Paradies verwehrt, und das Feuer wird seine Herberge sein […].“15 Die entscheidende Frage ist nun, in welchen Fällen man bereits davon sprechen kann, dass Gott etwas oder jemand beigestellt wird: „Sie verehren statt Allah das, was ihnen weder schaden noch nutzen kann; und sie sagen: „Das sind unsere Fürsprecher bei Allah.“16 Dieser Vers ist Teil einer Sure, die offenbart wurde, nachdem der Prophet Muhammad bei den nichtmuslimischen Mekkanern auf Ablehnung und Spott stieß. Deutlich wird in diesem Vers, dass die Mekkaner zwar zu Götzen beteten, diese jedoch als Fürsprecher zwischen ihnen und einer höheren Gottheit verstanden. Dass hier eben Götzen zu Fürsprechern gemacht und diese verehrt werden, ist Ausgangspunkt des Häresievorwurfs gegen Muslime sufischer Richtungen, die z. B. an Gräber gehen und von toten „Heiligen“ oder auch von lebenden Geistlichen Fürsprache bei Gott ersuchen. Besonders für Muhammad Ibn Abdelwahhab (gest. 1792) gilt es als großes Vergehen, Vermittler zwischen sich und Gott zu nehmen, diese anzurufen, bei ihnen um Fürbitte zu flehen und sich ausschließlich auf sie zu verlassen, da man somit Unglaube begehe.17
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Dabei verweist er in verschiedenen Schriften auf folgende Koranverse: „Und doch haben sie statt Allah Fürsprecher genommen? Sprich: „Selbst wenn sie keine Macht über irgendetwas besitzen und keinen Verstand?“ / Sprich: „Alle Fürsprache gehört Allah. Sein ist das Königreich der Himmel und der Erde. Und zu Ihm werdet ihr zurückgebracht.“18
Allerdings, und dies schließt auch Ibn Abdelwahhab nicht aus, kann Gott einem Fürsprecher die Erlaubnis erteilen, für eine andere Person bei Gott Fürbitte einlegen zu dürfen. Koranexegeten, wie z. B. Ibn Kathir (gest. 1373), beziehen sich dabei auf Vers 255 der zweiten Sure (al-Baqara):19 „Wer ist es, der bei Ihm Fürsprache einlegen könnte außer mit Seiner Erlaubnis?“
Als im Jahre 656 das Heer des vierten Kalifen Alis auf die Armee seines Rivalen Muawiya stieß, wollte man eine Schlacht unter Muslimen vermeiden und ließ ein Schiedsgericht darüber entscheiden, wer von beiden Anspruch auf das Kalifat haben sollte. Erbost darüber, dass Ali es zugelassen hatte, ein menschliches Gericht über etwas urteilen zu lassen, das ihrer Ansicht nach Gott alleine zustehe, spaltete sich eine Gruppe von Alis Anhängern ab. Nachdem Ali von dieser Gruppe, den sogenannten Kharidschiten, für abtrünnig erklärt wurde und sich bewaffnete Auseinandersetzungen mit ihnen leistete, wurde er 661 von einem ihrer Anhänger ermordet.20 1320 Jahre später, nämlich 1981, sollte der ägyptische Staatschef Anwar al-Sadat das gleiche Schicksal erleiden, als er während einer Militärparade von Anhängern einer militant-islamistischen Organisation erschossen wurde, nachdem er aufgrund seiner Politik, die nicht dem Gesetz Gottes entsprochen habe, für abtrünnig erklärt wurde.21 Die entscheidenden Koranstellen, auf die sich jene Gruppen berufen, welche Herrscher, die nach positivem und nicht nach göttlichem Recht herrschen, für abtrünnig erklären und somit die Legitimation der Herrschaft absprechen, sind folgende: „Die Entscheidung (hukm) liegt nur bei Allah.“22 „Doch nein, bei deinem Herrn; sie sind nicht eher Gläubige, bis sie dich zum Richter über alles machen, was zwischen ihnen strittig ist, und dann in ihren Herzen keine Bedenken gegen deine Entscheidung fi nden und sich voller Ergebung fügen.“23 „[…] und wer nicht nach dem richtet, was Allah herabgesandt hat – das sind die Ungläubigen.“24 „[…] und wer nicht nach dem richtet, was Allah herabgesandt hat – das sind die Ungerechten.“25 „[…]und die sich nicht nach dem richten, was Allah herabgesandt hat – das sind die Frevler.“26 „Und du sollst zwischen ihnen nach dem richten, was von Allah herabgesandt wurde; und folge nicht ihren Neigungen, und sei vor ihnen auf der Hut, damit sie dich nicht bedrängen und von einem Teil dessen, was Allah zu dir herabgesandt hat, wegtreiben. Wenden sie sich jedoch (von dir) ab, so wisse, dass Allah sie für etliche ihrer Sünden zu treffen gedenkt. Wahrlich, viele der Menschen sind Frevler.“27
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Die entscheidenden Begriffe, die sich hier herauskristallisieren, sind „die Ungläubigen“ (kafirun, Pl. von kafir)28 und „die Frevler“ (fasiqun, Pl. von fasiq). Unabhängig davon, wie Frevel (fisq) und Unglaube (kufr) im Laufe der islamischen Ideengeschichte durch unterschiedliche Gelehrte voneinander unterschieden wurden bleibt festzuhalten, dass das Wort fāsiq (Frevler) im koranischen Zusammenhang betrachtet als ein Synonym für kafir (Ungläubiger) verstanden werden kann.29 Folgende Koranverse verdeutlichen diese Feststellung: „Und Wir haben dir gewiss klare Zeichen herabgesandt und niemand leugnet30 sie (yakfur biha) außer den Frevlern (al-fasiqun)“31 „[…] sie glaubten nicht (kafaru) an Allah und an Seinen Gesandten, und sie starben als Frevler.“32
Diese sogenannten Frevler sind trotz allem nicht den kuffar (Ungläubigen bzw. Nichtmuslimen) zuzuordnen, sondern befinden sich immer noch innerhalb des islamischen Lagers und gehören in die Kategorie der Heuchler (munafiqun).33 Dies widerspricht nicht der Behauptung, dass fasiq (Frevler) ein Synonym für kafir (Ungläubiger) sein kann, da Handlungen, die als kufr bezeichnet werden, nicht sofort dazu führen, dass ein Muslim aus dem Islam ausgeschlossen wird, d. h. zum „Ungläubigen“, also Abtrünnigen erklärt werden kann. Der Grund dafür ist, dass kufr in zwei Kategorien aufgeteilt wird, nämlich in einen kleinen kufr und einen großen kufr.34 Der kleine kufr beschreibt Handlungen, die in ihrer Natur häretisch sind, jedoch nicht begangen werden, weil man Gott und die Botschaft des Propheten leugnet. Ein Beispiel ist das Pflichtgebet im Islam. Nach Ansicht des schafiitischen Gelehrten al-Ghazali ist das Unterlassen des Gebets ein Akt des kufr, aufgrund der Aussage des Propheten: „Wer absichtlich das Gebet unterlässt begeht kufr.“35 Aus Faulheit oder Vergesslichkeit das Gebet zu unterlassen ist gemäß der klassischen Orthodoxie zwar sündhaft, schließt jedoch noch nicht aus dem Islam aus. Erst das Unterlassen des Gebets, weil man die Pfl icht dessen nicht anerkennt oder gar aus Trotz oder Hochmut gegenüber Gott, zählt zum großen kufr, welcher zur Abtrünnigkeit führt.36 Dementsprechend interpretiert der bekannte Prophetengefährte Ibn Abbas den Vers „[…] und wer nicht nach dem richtet, was Allah herabgesandt hat, das sind die Ungläubigen“ und beschreibt diese Art von Unglauben als kleinen kufr, der nicht vergleichbar ist mit dem kufr, den man begeht, wenn man Gott, die Engel und die Offenbarungen der Propheten leugnet.37 Auch der o. g. Koranvers, auf den sich insbesondere die Kharidschiten berufen, „die Entscheidung (al-hukm) liegt nur bei Allah“, wird laut al-Schatibi (gest. 1388) ebenso missverstanden. Die Kharidschiten, so al-Schatibi, haben diesen Vers missverstanden, weil sie nicht erkannt haben, dass diese Worte allgemeiner und nicht konkreter Natur sind.38 Dass der Vers nicht auf jeden speziellen Fall anwendbar sei, erkenne man bereits an folgender Koranstelle: „Und wenn ihr einen Bruch zwischen beiden befürchtet, dann sendet einen Schiedsrichter von seiner Familie und einen Schiedsrichter von ihrer Familie.“39 Schließlich sei noch einmal die Gotteslästerung und die Beleidigung des Propheten erwähnt, die laut Ibn Taymiya zu Abtrünnigkeit führt und mit dem Tode bestraft werden
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müsse40: Als Beweis für die Abtrünnigkeit listet er einige Verse auf, so auch: „Und wenn du sie fragst, so werden sie gewiss sagen: Wir plauderten nur und scherzten. Sprich: Galt euer Spott etwa Allah und Seinen Zeichen und Seinem Gesandten? / Versucht euch nicht zu entschuldigen. Ihr seid ungläubig geworden, nachdem ihr geglaubt habt.“ Juden und Christen, sogenannte Dhimmis, die eigentlich unter Schutz stehen, sind von Ibn Taymiyas Urteil nicht ausgeschlossen, da sie den Schutzvertrag durch Beleidigen des Islams ungültig machen.41
Juden und Christen Als „Leute der Schrift“ (ahl al-kitab), die alle Propheten anerkennen, genießen Juden und Christen im Koran einen hohen Stellenwert, so dass z. B. ein Muslim eine Frau der ahl al-kitab ehelichen kann, ohne ihr die Ausübung ihrer Religion verbieten zu dürfen.42 Allerdings werden die ahl al-kitab dafür getadelt, Inhalte der heiligen Schriften verfälscht43 und vertauscht44 zu haben und dafür kritisiert Muhammads Prophetie zu leugnen45, sowie schließlich, besonders im Fall der Christen, der Blasphemie beschuldigt, weil letztere sagen „der Messias sei Gottes Sohn“46 bzw. „Gott ist der Messias, der Sohn der Maria.“47
Schlusswort In den islamischen Kulturen lässt sich während der letzten Jahrhunderte eine negative Entwicklung von einer hohen Toleranz hin zu einer starken Intoleranz gegenüber Vieldeutigkeit und Pluralität erkennen.48 Dennoch ist nicht zu verkennen, dass die islamische Welt im Laufe ihrer Geschichte Mechanismen entwickelt hat, die das Zusammenleben mit den ,häretischen‘ Gruppen, trotz aller theoretischer Kritik der Rechtsgelehrten, ermöglichen konnte. Trotz der theologischen Dispute und einzelnen Fälle von Verfolgung oder Bekämpfung von Sekten in einzelnen islamischen Gebieten spricht das Überleben der unterschiedlichsten islamischen Sekten oder auch arabisch-christlichen Gemeinden für eine Politik der Akzeptanz, ohne jedoch vom Wahrheitsanspruch des orthodoxen islamischen Dogmas abzuweichen. Diese Handhabung steht im absoluten Einklang mit Aussagen des Korans: Hätte Gott es gewollt, wären alle Menschen auf Erden gläubig geworden. Möchtest du etwa die Menschen zum Glauben zwingen?49 Sprich: „Das ist die Wahrheit von eurem Herrn. Wer glauben will, möge glauben, und wer ablehnen will, möge ablehnen.“50 Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit für alle Menschen herabgesandt. Wer zum rechten Weg findet, der tut es für sich selbst, und wer irregeht, der tut es gegen sich selbst. Du bist für sie nicht verantwortlich.51 Es gibt keinen Zwang im Glauben. Der richtige Weg ist nun klar erkennbar geworden gegenüber dem unrichtigen.52
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Weiterführende Literatur des Autors: Sukhni, Elhakam: Die ,Märtyreroperation‘ im Dschihad. Ursprung und innerislamischer Diskurs, München 2011.
Anmerkungen 1 Die als mihna (Prüfung) bekanntgewordene Regierungsphase zwischen den Jahren 827 und 849 kann als Ausnahme betrachtet werden, in welcher die amtierenden Kalifen die Lehren die Mutaziliten zum Staatsdogma erklärten; ausgerechnet jener Gruppe, die von der Orthodoxie selbst als häretisch eingestuft wurde. 2 s. auch Van Ess, J.: Der Eine und das Andere: Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten, Berlin 2011. 3 Lohlker, R.: Islam – Eine Ideengeschichte, Wien 2008, S. 79. 4 Arab. „as-Sarim al-maslul ala schatim ar-rasul“. 5 Trotz des hier verwendeten Begriffs Ungläubiger, muss darauf hingewiesen werden, dass diese oft verwendete Übersetzung umstritten ist. „Ungläubiger geht am koranischen Sprachgebrauch völlig vorbei […]. Innerhalb des koranischen Gebrauchs ist ein als kafir Bezeichneter jemand, der die islamische Lehre […] ablehnt, jedoch durchaus gläubig in Bezug auf eine andere Religion / Überzeugung sein kann.“, s. Klausing, K.: Zur Terminologie einer Islamischen Theologie in Deutschland (2010). In: Hikma – Zeitschrift für islamische Theologie und Religionspädagogik. Nr. 1, S. 44–56. 6 Kassab, E. S.: Contemporary Arab Thought: Cultural Critique in Comparative Perspective, New York 2010, S. 221–224. 7 Schimmel, A.: Sufismus, München 2003, S. 32 f. 8 Pakistanisches StGB, § 298-C. Die Schändung des Korans kann laut § 295-B mit lebenslanger Haft und die Beleidigung des Propheten Muhammads laut § 295-C mit der Todesstrafe bestraft werden. 9 Griffel, F.: Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz: Eine Übersetzung der Schrift „Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und Gottlosigkeit“ (Faysal at-tafriqa bayn alIslam wa-z-zandaqa), S. 8, Zürich 1998. 10 Al-Ghazali: Der Erretter aus dem Irrtum, Hamburg 1988, S. 24. 11 Vgl. Berger, L.: Islamische Theologie, Wien 2010, S. 107–113. 12 Vgl. Koran 59:22–24. 13 Vgl. Koran 33:40. 14 Koran 4:116. 15 Koran 5:72. 16 Koran 10:18. 17 Muhammad Ibn Abdelwahhab: Nawaqid al-islam; in: madschmuat at-tawhid, Kairo 2007. 18 Koran 39:43–44. 19 Vgl. Muhammad Ali as-Sabuni: Safwat at-tafsir, Band I, Beirut 1981, S. 163. 20 Ibn Kathir: al-Bidaya wan-nihaya , Band I, Beirut 2004, S. 1152 ff. 21 Vgl. Kepel, G.: Der Prophet und der Pharao, München 1995, S. 208 ff. 22 Koran 6:57.
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Koran 4:65. Koran 5:44. Koran 5:45. Koran 5:47. Koran 5:49. kafirun ist die gesunde Pluralbildung, der hier statt der bekannteren Form des gebrochenen Plurals kuffar verwendet wird. Izutsu, T.: Ethico Religious Concepts of the Quran, S. 157, Quebec 2002. Wie bereits erwähnt hat kufr, das üblicherweise als Unglaube übersetzt wird, linguistisch die Bedeutung von „Verleugnung“, „Ablehnung“ oder „Verdecken der Wahrheit“. Koran 2:99. Koran 9:84. Der Status, ob eine Person zur Gruppe der Muslime gehört oder zur Gruppe der Nichtmuslime spielt aus rechtlichen Gründen (Eherecht, Erbrecht etc.) eine wichtige Rolle. Vgl. Ibn al-Qayyim: Madaridsch as-salikin, Band I, Kairo 2004, S. 276. Al-Ghazali: Ihya ulum ad-din, Band I, Kairo 1996, S. 217. Vgl. Ibn Qudama al-Maqdisi: al-Mughnī, Band III, Riad 1997, S. 351. Bandar Ibn Nayif al-Utaybi: al-hukm bi-ghayri ma anzala-l-Lah, Riad 2006, S. 64 f. Die innerislamische Debatte um die Frage, wie weit der kufr eines Herrschers geht, der nicht nach Gottes Recht herrscht, bzw. wann dies überhaupt der Fall ist, sowie auch die Frage der parlamentarischen Demokratie aus islamischer Sicht bedarf einer separaten Ausarbeitung und würde hier den Rahmen sprengen. Abu Ishaq al-Schatibi: al-Itisam, Kairo 2006, S. 206. Koran 4:35. Ibn Taymiya: as-Sarim al-maslul ala schatim ar-rasul, Beirut 2009, S. 24 ff. Ebenda, S. 14. Koran 5:5. Koran 5:13. Koran 2:59, 7:162. Griffel, F.: Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz: Eine Übersetzung der Schrift „Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und Gottlosigkeit“ (Faysal at-tafriqa bayn alIslam wa-z-zandaqa), Zürich 1998, S. 59. Koran 9:30. Koran 5:17; s. auch 5:73. Bauer, T.: Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, S. 15. Koran 10:99. Koran 18:29. Koran 39:41. Koran 2:256.
Das Menschenbild aus christlicher Sicht am Beispiel der Frau von Ulrike Elsdörfer
1. Die Anfänge – Frauengestalten in der Bibel Das Menschenbild aus christlicher Sicht am Beispiel der Frau Ulrike Elsdörfer
Die bedeutendste Frau der Bibel ist zweifelsohne ,Maria‘, die Mutter Jesu; populäre katholische Frömmigkeit verleiht ihr einen göttlichen Charakter. Und doch kommt ihr, als der wichtigsten weiblichen Gestalt des Christentums, ebenso wenig wie ihren NamensSchwestern, nicht die ursprünglichste Rolle als Frau in der Bibel zu. Am Anfang steht nämlich ,Eva‘ – im Hebräischen: ,Chava‘, wie sich aus der Übersetzung des Wortes als ,Erde‘ oder ,aus Erde genommen‘, ergibt. ,Chava‘ ist der Gattungsname für einen bestimmten Teil der Menschen: die Frauen. Die Bibel erwähnt eine Reihe von ,Ur-Frauen‘ und kennt dabei nicht nur individuelle Personen, sondern einzelne Typen von Frauen. Die ,Urmutter Eva‘ spielt dabei eine ,UrRolle‘. Während andere Frauen als Beispiele für ,Mutter und Ehefrau‘, aber auch für ,Priesterin und Führerin‘ genannt werden, wird Eva unterschiedlich dargestellt: Sie ist erschaffen nach dem Mann als seine Gehilfin und erschaffen mit ihm als seine Partnerin. Indem Gott Adam in einen Tiefschlaf versetzt und eine Operation an ihm vollzieht, schafft er dem Mann eine Partnerin, von der dieser sagt: „Sie ist’s. Eine wie ich!“ Bald nach diesem ersten Schöpfungsbericht folgt der älteste Text der Bibel: „Darum verlässt ein Mann Vatewer und Mutter, um mit seiner Frau zu leben. Die zwei sind dann eins, mit Leib und Seele.“1 Hier führt matrilineares Recht dazu, dass ein Mann sich der Familie seiner Frau anschließt – und nicht umgekehrt, wie es in den Traditionen des Judentums und des Christentums praktiziert wurde. Mehr typologisch als individuell sind die Berichte über die Frauen Abrahams. Sara, die Frau Abrahams, reagiert ungläubig gegenüber der Nachricht, dass sie noch ein Kind bekommen soll, nachdem sie so lange darauf gewartet hatte. Gerade aus ,individueller‘ Sicht, spürt man ihre Verbitterung. Keine Kinder gebären zu können, bedeutete nämlich zu ihrer Zeit, als Frau schlicht wertlos zu sein. Es verlieh dem Mann sogar das Recht, mit einer anderen Frau einen Erben zu zeugen. Religionsgeschichtlich beschreibt die späte Geburt eines Erben in der Bibel ein spezielles Motiv: Besondere Geburten bedürfen besonderer Umstände. So kommt der erwartete, mitunter lang ersehnte Erbe erst im ,erwählten‘ Moment zur Welt. Gerade die Erzählun-
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gen über die Geburten der ,Helden‘ sind ,typologischer‘ Natur und überliefern doch auch individuelle Züge der jeweiligen Personen. So überkommt Sara das Gefühl des Neides, wenn sie erkennen muss, dass es die Dienerin Hagar ist und nicht sie selbst, die Abraham einen Sohn geboren hat. Es sind die Berichte über die Abkommenschaft Isaaks und Ismaels, die später Eingang in die Tradition sowohl von Christen als auch Muslimen fanden. Das Alte Testament kennt auch Frauen, die sich ,öffentlich‘ betätigen, so wie Mirjam, die mit Mose und Aaron vor dem Volk Israel durch das Rote Meer zieht. Sie, die ihren Bruder Moses im Schilf findet und ihn vor dem Tod bewahrt, hat eine weibliche, dienende Funktion für den männlichen Helden. Sie rettet das Kleinkind und übergibt es seiner leiblichen Mutter, die als Amme ihren eigenen Sohn aufzieht. Die Entwicklung des männlichen Helden sieht eine verborgene Bewahrung bis zu der öffentlichen Berufung des Mannes vor. Beim Auszug der Israeliten aus Ägypten wird Mirjam zu einer selbständigen Gestalt. Sie leitet den Zug des Volkes auf eine spezielle Weise. Entsprechend heißt es: „Die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, nahm ihre Handpauke, und alle Frauen schlossen sich ihr an. Sie schlugen ihre Handpauken und tanzten im Reigen.“2 Von Maria wiederum berichtet die Bibel zu Beginn des Lukas–Evangeliums, als diejenige, die sich in tiefer Demut zur Magd des Herrn erklärt, sich der göttlichen Gnade nicht verschließt und dem Heiland das Leben schenkt. Maria erschrickt über die Botschaft des Engels, der ihr die frohe Botschaft verkündet. Im ,Lobgesang Marias‘ beginnt die Marienverehrung des Christentums: „Jetzt werden die Menschen mich glücklich preisen in allen kommenden Generationen. Die geringe Dienerin wird erhöht, und die Stolzen und Mächtigen werden vom Thron gestoßen.“3 Eine maßstäbeverändernde Botschaft wird einer Frau eröffnet! Diese Frau ist wesentlich in ihrer Mutterrolle. Ihre Rolle wird noch einmal auf der Hochzeit von Kana deutlich, wo sie Zeugin des ersten Wunders Jesu wird. Hier ist sie es, die den Anwesenden sagt: „Was er euch sagt, das tut“4. Ein eindrückliches Beispiel für den Vorrang der göttlichen Gnade vor menschlichem Willen. Unter dem Kreuz schließlich wird sie von ihrem sterbenden Sohn dem Lieblingsjünger Jesu, Johannes, anvertraut. Überlieferte sich so die ,Ehrfurcht vor der Rolle der Mutter‘? Man liest von Geschwistern Jesu; Maria hatte eine Familie und musste nicht von Johannes aufgenommen werden. Jesus besucht (eine andere) Maria und deren Schwester Martha in ihrem Haus. Während Maria bei Jesus sitzt und seinen Worten lauscht, bewirtet Martha, die Hausfrau, die Gäste. Martha findet weniger Anklang bei Jesus, obwohl Jesus die Früchte ihrer Bemühungen sicher gerne angenommen hat.5 Die Schwestern stehen bildhaft für die Vorzüge von ,vita activa‘ und ,vita contemplativa‘. Viele Frauen im Evangelium tragen den Namen ,Maria‘: Die Frauen am Kreuz, Maria aus Magdala, Maria, die Mutter Jesu, und auch unbekannte Frauen. Die Frauen beweisen Mut gegenüber den Römern, indem sie es sind, die am Grab wachen und so zu den ersten Zeuginnen der Auferstehung werden. Maria aus Magdala ist ein geliebtes weibliches Gegenüber für Jesus. Auch dieser ,Typ‘ ist nicht eindeutig auf eine einzige Frau festzulegen, sie stellen vielmehr ,Gefährtinnen‘ dar.
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2. Frauen in den urchristlichen Gemeinden Bei den ersten Treffen der Christen, die oft im Verborgenen stattfinden mussten, waren es Frauen, die ihre Häuser zur Verfügung stellten. So etwa Lydia aus Thyatira, selbst Geschäftsfrau, die ihr Haus der Gemeindeversammlung zur Verfügung stellte.6 Priska und Aquila sind ein Ehepaar, in dessen Haus sich die Gemeinde traf.7 Hauskirchen gehörten zu den frühesten Begegnungs-Orten der Christenheit. In seinen Briefschlüssen erwähnt Paulus Frauen als Adressaten seiner Grüße. So grüßt er z. B. Apphia, die mit Philemon und Archippus eine Leiterin der Hauskirche in Kolossä war.8 Es ist anzunehmen, dass Frauen in den urchristlichen Gemeinden eine führende Rolle innehatten, die sie später einbüßen mussten.
3. Frauenorden Die Geschichte der Frauenorden der katholischen Kirche bietet eine Quelle kirchenund gesellschaftskritischer Positionen in vielen Jahrhunderten. Von Frauenorden gingen wesentliche Impulse für die Veränderung der Kirche in ihrer Zeit aus. Erste Traditionen einer weiblichen Spiritualität nach der Entstehung der Bibel sind im 4. und 5. Jhd. zu finden. In den ,Apophtegmata Patrum‘ ist die Weisheit der in der Wüste lebenden Einsiedlerinnen aufgezeichnet: „Die drei Wüstenmütter des 4. und 5. Jahrhunderts – Sarrha, Synkletia und Theodora –, deren Sprüche uns überliefert wurden, stehen für viele andere, deren Namen verborgen blieben. Sie waren Asketinnen und zugleich Lehrerinnen und Seelsorgerinnen in einer besonderen, uns bis heute berührenden Prägung. Im bewussten Abstand zur Luxusgesellschaft des unterdrückenden römischen Reiches gestaltete sich eine bodenständige koptische Lebensform, so etwas wie eine soziale Gegenwelt. Man zog aus der Tyrannis der Triebe und Bedürfnisse, des Luxus und der Unterdrücker-Mechanismen aus und in die Freiheit der Armut und Familienlosigkeit, schließlich auch in die Freiheit von römischer Bildung und Herrschaft ein. Nur die ständige Ausrichtung auf Gott, das Eingedenksein Gottes, der ,eine und einzige Kampf des Herzens‘ lieferte die Kräfte, den Kampf in der Einsamkeit, in der Wüste mit sich selbst, den Dämonen und der harten Natur zu bestehen und eine neue geistliche und soziale Identität zu gewinnen.“9 Trotz dieser gemeinsamen Ziele fühlten sich die Männer den Frauen meist dennoch überlegen: „Ein anderes Mal kamen zwei Altväter zu ihr. Und da sie fort gingen, sprachen sie zueinander: ,Wir wollen dieses alte Weib demütigen!‘ Und sie sprachen zu ihr: ,Schau zu, dass sich dein Denken nicht überhebt und du sprichst: ,Siehe, sie kommen zu mir, die ich ein Weib bin.‘ Amma Sarrha antwortete ihnen: ,Wohl bin ich der Natur nach ein Weib, nicht aber dem Denken nach.‘“10 So wurden offenbar geistige und religiöse Qualitäten als ,männlich‘ verstanden. Wenn eine Frau denken konnte, so galt sie als ,Mann‘. Fast in jeder Epoche der Kirchengeschichte gab es Gründe für einen neuen Weg der Nachfolge Jesu. Um den immer neuen Missständen begegnen zu können, bildete sich be-
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reits das frühe Mittelalter zu einer spirituell innovativen Zeit mit herausragenden Menschen wie Franziskus und Clara von Assisi. Clara, die Gründerin des Klarissen-Ordens, lebte in Verbundenheit mit Franz von Assisi. In eine adlige Familie geboren, verließ sie diese wie Franz unter einem erheblichen Bruch. Im Jahre 1211 kommt es zum Treffen zwischen ihr und Franziskus, woraufhin Clara sich seiner Bruderschaft anschließen möchte. Dies aber wirft Fragen auf: Ist einer Frau das Leben am Rand einer Stadt mit Härten und Schutzlosigkeit zumutbar? Gemeinsam finden beide ihren Weg. Clara verkauft ihren Anteil am Besitz ihrer Familie und verlässt die Verwandten. Sie gründet eine Gemeinschaft von Schwestern, die mit ihr in der Nähe von Franziskus in ähnlicher Form leben; die Schwestern ziehen aber nicht als Wanderpredigerinnen umher. Franziskus‘ Geisteshaltung verspricht Clara eine innere Freiheit im Gegenüber als Frau. Er war der ,Bruder‘, der andere Menschen mit gleichem Recht neben sich gelten ließ. Weibliche Spiritualität ergoss sich in zahlreichen Ordensgemeinschaften, wie beispielsweise den ,Franziskanerinnen‘. Sie zu erklären bedeutet zugleich, die ,Franziskaner‘ verstehen zu lernen: Der große Männerorden in der katholischen Kirche entwickelte sich aus der Bruderschaft um Franziskus von Assisi im 13. Jahrhundert. Armut und Wanderschaft waren Grundlagen seiner Spiritualität. Um die Franziskaner sammelten sich Gruppen, die in weniger radikaler Weise leben wollten. Für sie schrieb Franziskus die ,Regel vom Dritten Orden‘. Im 19. Jahrhundert entwickelten sich aus diesem Dritten Orden zahlreiche Kongregationen, besonders Frauengemeinschaften, darunter die Franziskanerinnen, die oft mals soziale Aufgaben wahrnahmen. Ein von der Verfasserin geführtes Gespräch mit der Franziskanerin und Exerzitienleiterin M. R.: Sie ist jung in den Orden eingetreten und hat ihr Studium zum Lehramt als Schwester absolviert. Es ist auch möglich, nach der Berufsausbildung in den Orden einzutreten. Die Aufnahme in den Orden geschieht schrittweise – wie bei den Mönchen. Diese können allerdings zum Priester geweiht werden. Schwester M. R. bedauert, dass Frauen in der katholischen Kirche nicht Priester(in) werden können. Ihrer Meinung nach gibt es keine theologischen Gründe dafür. Sie findet es schade, dass sie Menschen begleiten kann, aber am Ende – etwa für einen Abschlussgottesdienst – einen Priester bestellen muss. Sie erachtet aber die Frage der Priesterweihe für Frauen für nicht so relevant, als dass sie ihre grundsätzliche Loyalität zur Kirche berühren würde. Ein Exkurs über die Marienverehrung: Wichtig erscheint M. R. das Wort Marias in der Bibel: „Was er euch sagt, das tut“.11 Maria weise auf Jesus hin. Wenn sie diese Rolle spiele, hätte Aberglaube in der Marienverehrung keine Chance. Schwester M. R. versteht, dass Betende sich an Maria wenden; man spricht lieber mit einer Frau als mit Gott selbst. Dies hat aber nichts mit einer Anbetung Marias zu tun. Zwischen 1470 und 1475 wurde Angela Merici in Desenzano del Garda geboren. Sie verlebte eine glückliche Kindheit, lernte lesen und schreiben und sogar Latein. Ihre Eltern starben früh und sie wechselte in die Familie ihres Onkels in Salo, der ein in gesellschaftlichen Umgangsformen gewandtes Haus führte. Angela lernte das kulturelle Leben ihrer Epoche kennen und grenzte sich bald davon ab. In Salo kam sie in Kontakt mit dem Fran-
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ziskanerkloster. Sie wurde Mitglied des Dritten Ordens, hielt sich an dessen Regeln, ohne zugleich abgeschieden leben zu müssen. Durch die Zugehörigkeit zum Orden entwickelte sie ihre Vorstellung von gemeinschaft lichem Leben. Der Dritte Orden widmete sich der Begleitung von Menschen; Angela war Ratgeberin für viele. Als Seelsorgerin wurde sie im Alter von 40 Jahren nach Brescia entsandt, um dort einer trauernden Frau beizustehen. Dort blieb sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1540. Ihr Lebenswerk bestand darin, Frauen aus armen Familien einen Platz für ein würdevolles Leben anzubieten. Mangelnde Aussteuer hinderte diese Frauen, ihre Würde zu bewahren. Sie mussten in fremden Familien arbeiten oder zu Prostituierten werden. Dies zu verhindern, war das ,revolutionäre‘ Anliegen Angelas. Sie versammelte die Frauen zu Gebet, Schrift lesung und zur Eucharistie. Sie wollte keinen Orden hinter Mauern, so gründete sie am 25. November 1535 mit 28 Frauen die ,Gemeinschaft der Heiligen Ursula‘, zu der sich alle mit ihrer Unterschrift verpflichteten. Als Angela 1540 starb, war ihre Gemeinschaft auf 150 Mitglieder gewachsen. Zeitgleich mit den Jesuiten wollten die Ursulinen sich als eine Gemeinschaft verstehen, die zwar nach den apostolischen Vorgaben lebt, aber ,weltlich‘ ist. Leider war eine freie Lebensweise in dieser Zeit für Frauen zu ungewöhnlich. So hat die Ursulinen-Gemeinschaft den Angeboten der Kirche, sich als Orden zu etablieren, schrittweise zugestimmt und wurde über die Jahrhunderte weltweit zu einem Schulorden für die Ausbildung von Mädchen. In der Epoche der Aufk lärung wurde die Unterrichtstätigkeit untersagt und die Klöster geschlossen. Eine zweite große Herausforderung für das Überleben des Ordens lag in Deutschland in der Zeit zwischen 1933 und 1945. Die Schulen wurden geschlossen, die Klöster enteignet oder gar zerstört. Immer wieder haben Frauen auf den gelegten Fundamenten aufgebaut: Ob Scholastika von Nursia, Hildegard von Bingen, Teresa von Avila, Elisabeth von Thüringen, Gertrud von Helfta oder Mechthild von Magdeburg, sie alle haben ihre authentische Spiritualität gelebt, im Widerstand zu eigenen Lebensumständen.
4. Frauen unter dem säkularen Einfluss des Christentums Die greifbarsten Grunddaten für das Leben von Menschen in jeder Gesellschaft liefert ihre ökonomische Situation. Diese hat sich im letzten Jahrhundert in den Ländern, in denen das Christentum die vorherrschende Religion ist, grundlegend geändert. Männer und Frauen müssen für den Unterhalt der Familie gemeinsam aufkommen, – oft gerade dann, wenn mehrere Kinder da sind. Ökonomie und Religion treten in eine Spannung, weil von der einen nahe gelegt wird, was die andere auch im Christentum weitgehend verhindert hat: Die ökonomische Selbständigkeit der Frau durch die Ausübung eines Berufes mit gleichen Rechten wie der Mann. Das Christentum hat viele Traditionen, die Frauen an Haus und Herd fesselten und ihnen die Übernahme gesellschaft licher Verantwortung verweigerten.
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Heute sind in den christlich geprägten Ländern Frauen durch Berufe und gleichzeitige Familienarbeit doppelt belastet und dennoch gegenüber den Männern oft in der beruflich schlechteren Position. Viele Ursachen sind dafür zu nennen; das Nachdenken über diese Situation der Frauen mit Beruf und Familie gehört nicht zu den vorherrschenden Trends der Gesellschaften. Hier können Frauen kritische Solidarität entwickeln: Sie können eine Sachlage angehen, die in Geschichte und Gegenwart nachteilig für sie definiert ist. Sie können christliche spirituelle Traditionen entdecken und zum Dialog in multikultureller und multireligiöser Lebenspraxis beitragen.
5. Frauen in den Kirchen Frauen finden ihren Berufsalltag heute wie damals auch in den Kirchen. Als sich im ,Dritten Reich‘ Mitglieder der evangelischen Kirche zum Widerstand gezwungen sahen, nahmen auch die Frauen eine gewisse Position ein: „In den historischen Aufzeichnungen über die Zeit der Bekennenden Kirche erscheinen überwiegend Männer. Die illegalen Gremien der Leitung setzten sich aus Männern zusammen, und die Beschlüsse und die Abkündigungen der Bekenntnissynode waren von Männern verfasst worden. Dennoch spielten die Frauen auch in jener Zeit in der Kirche eine große Rolle, aber als ,Fußvolk‘. Sie traten nicht nach außen in Erscheinung.“12 Hier werden Sekretärinnen, Oberschwestern und Pfarrfrauen für ihre Zu-Arbeit für die Männer in der Kirche gewürdigt. Andere Frauen waren Vikarinnen geworden (ohne Ordination), die im Falle einer Heirat jedoch ihren Beruf aufgeben mussten. Im 2. Weltkrieg wurden Frauen im Pfarrberuf mit gleichen Pflichten wie Männer eingesetzt. Nach 1945 wurde dies zunächst rückgängig gemacht. Seit 60 Jahren ordinieren die Kirchen Pfarrerinnen – zunächst nur unverheiratete. Mit der Eheschließung verloren die Frauen ihre Ordinations-Rechte. Heute werden in der evangelischen Kirche alle Ämter von Frauen und Männern in gleicher Weise wahrgenommen. Die Zahl der Pfarrerinnen hat zugenommen und in einigen Regionen etwa ein Drittel der PfarrerInnen erreicht. Heute arbeiten Frauen in den Kirchen als Kindergärtnerinnen oder Krankenschwestern, als Sekretärinnen, als Sozialarbeiterinnen, als Juristinnen, als Gemeinde- oder Pastoral-Referentinnen sowie als Pfarrerinnen. Frauen sind in Gremien und in sozialer Arbeit ehrenamtlich tätig. Die feministische Theologie – in den 70er und 80er Jahren in Deutschland populär geworden –, sucht neue Wege gegenüber den noch immer existenten Diskriminierungen von Frauen in den Kirchen. Sie sieht biblische und christliche Traditionen aus der weiblichen Perspektive. Ihre Kritik an Benachteiligungen der Frauen ist nicht erschöpft, wird aber durch die sich wandelnde Welt der Männer korrigiert – und dadurch, dass ökonomische Prozesse Frauen und Männer ähnlich treffen. Obwohl die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter hierzulande weitgehend erreicht ist und das Grundgesetz jeder Frau gewährleistet, ihr Leben selbst zu gestalten, frei zu sein in der Wahl ihres Partners oder ihrer Partnerin, selbst zu entscheiden, welcher Religion sie angehören bzw. wie sie ihr spirituelles Leben gestalten und welchen Beruf sie ergreifen
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möchte, bietet sich in der katholischen Kirche ein noch unfertiges Bild dieser Rechte. Eine Frau kann zwar als Pastoral- oder Gemeinde-Referentin an der Leitung einer Gemeinde teilhaben, geweiht werden kann sie aber nicht. Die evangelischen Kirchen hingegen ordinieren seit mehr als einem halben Jahrhundert Männer und Frauen zum Pfarrdienst. Lange Zeit waren evangelische Frauen auch als Diakonissen tätig – in einer Lebensform, die katholischen Ordensfrauen vergleichbar ist. Die Nichtzulassung von Frauen zu den Weihen der katholischen Kirche wird u. a. durch eine bestimmte Auslegung biblischer Tradition begründet. Im Kirchenrecht wird unterschieden zwischen dem ,Dienst‘ in der Kirche, den viele ausüben können, und einem ,Amt‘, weil das in der Regel an die Weihe gebunden ist. Während ein Dienst nach den Vorgaben eines Gremiums ausgeübt wird, ist das Amt göttlichen Ursprungs, sakramentalen Charakters, Männern vorbehalten und kann nicht beliebig modifiziert werden. Frauen kommen über wahrgenommene Aufgaben der Seelsorge in Dienste der Kirche, die sie an die Funktionen der Amtsträger (Priester) heranführen. Hierbei handelt es sich nicht nur um Frauen, sondern auch um männliche ,Laien-Theologen‘. Es gibt aber auch katholische Rechtsauslegungen, die sich auf das ,Wesen der Frau‘ berufen, das zu Aufgaben der Seelsorge und Caritas geschaffen ist. Über diese spezialisierten Tätigkeiten der Laien, die in Zusammenarbeit mit Priestern geschehen, wird der Grad des Unterschieds zwischen ,Dienst‘ und ,Amt‘ praktisch in Europa und anderen westlichen Ländern geringer – etwa für Pastoral-ReferentInnen. Unter den Überschriften ,Nicht nur Seelsorgerin, sondern auch Amtsträgerin‘ sowie ,Der gestufte Zugang zum Amt als rechtliche Konsequenz seiner sakramentalen Verankerung‘ behandelt die Kirchenrechtlerin Sabine Demel Fragen, die sich in der Diskussion um die Priesterweihe der Frauen ergeben.13
Weiterführende Literatur der Autorin: Elsdörfer, Ulrike: Frauen in Christentum und Islam. Dialoge – Traditionen – Spiritualitäten, Königstein 2006. –: Menschenbilder Menschenrechte. Kontroversen in Bahá‘i, Christentum und Islam, Sulzbach 2009.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8
1. Mose 2,23 u. 24. 2. Mose 15,20. Lk 1,48. Joh 2,5. Lk 10,38 -42. Apg 16,14. 1. Kor 16,19 u. Röm 16,5. Phil 2.
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9 Zitiert aus einem unveröffentlichten Vortrag von Jürgen Ziemer (Prof. für Seelsorge an der Universität Leipzig), gehalten am 1. Mai 2006 auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) in Gelnhausen: Sarrha, Synkletia und Theodora. Mütter der Wüste, 2005, S. 18. 10 Ebenda, S. 26. 11 Joh 2,5b. 12 See, W. u. R. Weckerling: Frauen im Kirchenkampf, Berlin 1984, S. 7. 13 Vgl. Demel, S.: Frauen und kirchliches Amt. Vom Ende eines Tabus in der katholischen Kirche, Freiburg 2004.
Das islamische Menschenbild am Beispiel der Frau von Khola Maryam Hübsch
Das islamische Menschenbild am Maryam Beispiel der Frau Khola Hübsch
Der Islam strebt die Vervollkommnung des Menschen an. Alle Gebote und Weisheiten, die im Koran erwähnt sind, haben das Ziel, den Menschen zu vervollkommnen, indem er die Attribute Gottes in sich verwirklicht und Gott erkennt. Öff net sich der Mensch für Gott und befreit sich von egoistischen Motiven, wirkt der Wille Gottes durch ihn. Dann manifestiert sich die Liebe und Barmherzigkeit des Schöpfers im Menschen und er wird zu einem Gottergebenen (arabisch: Muslim) und in der Konsequenz zu einem Diener der Schöpfung Gottes. Im Koran werden die Propheten Abraham, Lot und Noah als Muslime bezeichnet, ebenso die Gefolgschaft des Propheten Jesu1, da alle von Gott gesandten Propheten „Gottergebene“ waren, die im Kern dieselbe Botschaft brachten. Sie wollten den Menschen zur Liebe und Barmherzigkeit Gottes einladen und Frieden verbreiten. Auf dem Weg zu dem Zustand des inneren Friedens in Einklang mit Gott (nafs-e-mutmainna)2 kämpft der Mensch den großen Jehad (arabisch: Anstrengung), d. h. er strebt danach, sich von Üblem zu lösen. Der Prophet Muhammad bezeichnete den Kampf gegen das Schlechte in einem selbst als den großen und eigentlichen Jehad.3 Der Mensch hat von Gott dabei die Freiheit (und damit Verantwortung) erhalten sich für das Böse oder Gute zu entscheiden, da dies die Voraussetzung für eine wirkliche Überzeugung ist, ohne die der Mensch keine wirkliche spirituelle Entwicklung machen kann.4 Wenn der Koran den Menschen als ,abd (arabisch: Diener Gottes) bezeichnet, bedeutet dies nicht, dass der Mensch keinen freien Willen hätte, sondern dass er sich selbst erst vervollkommnen kann, indem er zu einem Medium des göttlichen Willens wird und frei davon ist, bloß Spielball seiner Triebe und egoistischen Wünsche zu sein. Das Wort Islam bedeutet „Frieden finden durch die Unterwerfung in den Willen Gottes“. Der Mensch erreicht demgemäß vollkommenen Frieden erst dadurch, dass er Gott erkennt und annimmt und all sein Handeln auf Gott hin ausrichtet. Die Liebe zu Gott verzehrt dann wie ein brennendes Feuer alle niederen Wünsche des Menschen und erhebt ihn zu einem Zustand des Friedens.5 Der Koran bezeichnet den Menschen weiterhin als khalif (arabisch: Nachfolger oder Verwalter). Jeder Mensch hat demnach eine moralische Verantwortung für Mitmenschen, Tiere und die Umwelt und muss Rechenschaft für seine Taten ablegen. Der Glaube an Gott muss sich in den Taten des Menschen widerspiegeln. Im Koran wird beschrieben, dass
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diejenigen, die versäumt haben, menschlich und gerecht zu handeln und ihren Mitmenschen Gutes zu tun, ein böses Erwachen erleben werden.6 Der Prophet Muhammad sagte programmatisch: „Keiner ist gläubig, wenn er seinem Bruder nicht das wünscht, was er sich selbst wünscht“.7
Die Zustände des Menschen nach dem Tod Der Koran geht davon aus, dass es der fitra, also der natürlichen, ontologischen Veranlagung des Menschen entspricht, seine Vervollkommnung anzustreben und nach Gott zu suchen.8 Findet der Mensch Gott, dann spricht der Koran davon, dass er als beruhigte und befriedigte Seele „zurückkehrt“ zu seinem Schöpfer, was ihm bereits im Diesseits gelingen kann.9 Der Zustand des Menschen nach dem Tod hängt davon ab, wie weit der Mensch in seinem Streben vorangekommen ist und ob er in der Lage war, die vielfältigen Opfer und Liebesbeweise zu erbringen, die ihn in seiner Erkenntnis über Gott voranschreiten lassen. Entsprechend ist „der Zustand des Menschen nach dem Tod nicht ein völlig neuer; er ist vielmehr eine vollkommene Wahrnehmung und ein volles und klares Abbild der Zustände im irdischen Leben.“10 Der innere Zustand des Menschen wird offenkundig und die geistigen Zustände werden physisch sichtbar. Die im Koran gebrauchten „Gleichnisse“11 zur metaphorischen Beschreibung des Jenseits veranschaulichen die Manifestation der menschlichen Taten. Der Zustand im Jenseits, der als „Paradies“ oder „Hölle“ erfahren wird, spiegelt das Abbild menschlicher Taten wieder und verkörpert die Entwicklungsstufe des Menschen in seinem Streben nach Gott. Die Hölle ist somit das schmerzliche Erfahren der eigenen Unreife und das Nachholen von moralischer und spiritueller Entwicklung. Seine höchste Vollkommenheit erlangt der Mensch, indem er Eins wird mit Gott, ihn erkennt und sein Wohlgefallen erlangt: „O die ihr glaubt, fürchtet Allah und suchet den Weg der Vereinigung mit Ihm und strebet auf Seinem Weg, auf dass ihr Erfolg habt“ (5:36).12 Es wird deutlich, dass diese Form der Vervollkommnung für Mann und Frau gleichermaßen gilt und es von einem kurzsichtigen Koranverständnis zeugt, wenn behauptet wird, die im Koran verwendeten Bilder für die Schönheiten des Paradieses seien allein auf Männer gemünzt. So heißt es auch ausdrücklich etwa: „Allah hat den gläubigen Männern und den gläubigen Frauen Gärten verheißen, die von Strömen durchflossen werden, immerdar darin zu weilen, und herrliche Wohnstätten in den Gärten der Ewigkeit. Allahs Wohlgefallen aber ist das Größte. Das ist die höchste Glückseligkeit.“ (9: 72, Vgl. auch 40:41).
Das Prinzip der Egalität von Mann und Frau Bezüglich der oben skizzierten Vorstellung über das Menschenbild des Islams macht der Koran keinerlei Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die Frau kann ebenso wie der Mann die höchsten Stufen der Vollkommenheit erlangen und die Liebe und Nähe Gottes erfahren. Der Koran erwähnt Frauen, die Empfänger göttlicher Offenbarung wurden,
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etwa die Mutter des Propheten Moses oder Maria, die Mutter Jesu.13 Er spricht grundsätzlich die menschliche Seele (nafs, ruh) an, die weder männlich noch weiblich ist. Über die Gleichbehandlung von Mann und Frau heißt es aber auch immer wieder explizit: „Wer aber gute Werke tut, sei es Mann oder Frau, und gläubig ist; sie sollen in den Himmel gelangen, und sie sollen auch nicht so viel Unrecht erleiden wie die kleine Rille auf der Rückseite eines Dattelkernes.“ (4:125; Vgl. auch 40:41).14 Die Vielzahl an Koranversen, die sowohl Männer als auch Frauen als moralisch verantwortliche Akteure hervorheben15, machen deutlich, dass der Mensch unabhängig von seinem Geschlecht in der Lage ist zwischen Gut und Böse sowie gerecht und ungerecht zu unterscheiden und entsprechend seiner Absichten für seine Taten einstehen muss. Der Koran betont, dass „keine Seele wirkt, es sei denn gegen sich selbst, und keine lasttragende (Seele) trägt die Last einer anderen.“16 Jeder Mensch ist selbst für sich und sein Handeln verantwortlich, dies ist integraler Bestandteil des freien menschlichen Willens.
Über das Verhältnis zwischen den Geschlechtern Die ausdrückliche Betonung des Umstandes, dass Männer und Frauen vor Allah völlig gleichwertig sind ist bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass die Frau in der präislamischen arabischen Gesellschaft als dem Manne gegenüber minderwertig galt und über keinerlei Rechte verfügte.17 Sie wurde als Besitz und Sklavin ihres Mannes gesehen und als unheilbringend diskriminiert. Die Stellung der Frau im vorislamischen Arabien (die sogenannte Zeit der Unwissenheit, arab. Jahiliya) wird im Koran immer wieder thematisiert, indem frauenverachtende Praktiken und Traditionen scharf angeprangert werden, etwa wenn das Töten weiblicher Neugeborener oder der ungerechte Umgang mit weiblichen Waisen verurteilt wird.18 Die im Koran festgelegte absolute Gleichheit von Mann und Frau auf religiöser Ebene kam vor diesem historischen Kontext einer geistigen Revolution gleich, die von Reformen auf sozialer Ebene begleitet wurde. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen wurde durch die koranische Lehre grundlegend umgewälzt. Der Koran hebt hervor, dass Mann und Frau denselben Ursprung haben und eine Einheit darstellen: „O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, Der euch aus einem einzigen Wesen erschaffen hat“ (4:2). Ontologisch gesehen sind Mann und Frau demzufolge ebenbürtig, da Gott sie aus derselben Essenz (nafs wahida) aus „einem einzigen Wesen“ entstehen ließ.19 Der Koran betont immer wieder, dass Allah selbst die Dualität der Schöpfung angelegt hat: „Und von jeglichem Ding haben Wir Paare erschaffen, auf dass ihr euch vielleicht doch besinnen möchtet.“ (51:50).20 Das Prinzip der Ebenbürtigkeit von Mann und Frau wird im Koran darüber hinaus zementiert, wenn es heißt: „Ihr Herr antwortete ihnen also: „Ich lasse das Werk des Wirkenden unter euch, ob Mann oder Frau, nicht verloren gehen. Die einen von euch sind von den anderen.“ (3:196). Diese Lehre veränderte die Position der Frau grundlegend und betonte ihr Recht auf eine würdevolle Identität. Der Koran forderte darüber hinaus, die Würde der Frau als
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eigenverantwortliches Wesen anzuerkennen und sprach ihr eine Vielzahl an Rechten zu, die nicht nur aus historischer Perspektive vor dem Hintergrund der damaligen Stammesstrukturen als außergewöhnlich progressiv zu bezeichnen sind.
Einführung von Frauenrechten durch den Islam Die Einführung von Rechten für die Frau durch den Islam stieß teilweise auf vehementen Widerstand der Zeitgenossen des Propheten Muhammad, da diese eine schrittweise soziale Reform der gesellschaft lichen Ordnung des präislamischen Arabiens einleiten wollte, die der Willkürherrschaft der Männer ein Ende setzten sollte. Die Frau bekam ein Selbstbestimmungsrecht und galt nicht länger als Besitz des Mannes, vielmehr erhielt sie selbst ein Erbrecht und ein Recht auf eigenes Vermögen und Eigentum, das sie frei und ohne Einmischung ihres Mannes verwalten durfte. Sie erhielt weiterhin das Scheidungsrecht und ein einklagbares Recht auf finanzielle Versorgung durch den Mann sowie die Möglichkeit, eine Ehe zu verweigern. Der Prophet Muhammad annullierte Zwangsehen und erklärte sie für ungültig.21 Weiterhin erklärte er es zu einer obligatorischen Pflicht eines jeden Muslims, sei es Mann oder Frau, nach Wissen zu streben 22 und betonte angesichts der verbreiteten frauenfeindlichen Praktiken: „Wer zwei Töchter hat und sie gut erzieht, ihnen Bildung gewährt und keinen Unterschied zwischen ihnen und den Söhnen macht, wird mir im Paradies so nahe sein, wie zwei Finger“23. Die neue Wertschätzung, die der Islam für die Frauen einforderte bedeutete eine deutliche Verbesserung ihrer gesellschaft lichen Position. Wenn aus heutiger Sicht Koranverse herangezogen werden, um die unterstellte Nachrangigkeit der Frau im Islam zu belegen, wird dieser historische Kontext ausgeblendet und einer buchstäblichen Auslegung gefolgt, die dem Geist (ruh-at-tasri) der koranischen Botschaft nicht gerecht wird. Im Folgenden sollen einige solcher Koranstellen exemplarisch vorgestellt werden.
Häufig missverstandene Koranverse bezüglich der Frau Der Koran beansprucht für sich ein Buch ohne Widersprüche zu sein.24 Dies zu berücksichtigen ist wichtig, angesichts der oben dargelegten Ausführungen, die den Rahmen dafür bieten, wie vermeintlich frauenfeindliche Verse den Gesamtkontext berücksichtigend widerspruchsfrei zu interpretieren sind. Besonders häufig wird der Vers 4:35 angeführt, über den behauptet wird, dass er die Voranstellung des Mannes und Gewalt gegen Frauen legitimiere. Durch unterschiedlichste Übersetzungen des arabischen Verses wird seitens muslimischer Reformisten der Versuch unternommen, die Aussage „schlagt sie“ (daraba) zu relativieren, indem etwa erklärt wird, daraba könne auch mit „sich trennen“ oder ähnlichem übersetzt werden. Konfrontiert werden diese mit dem Vorwurf der Beliebigkeit und Arbitrarität. Sinnvoller erscheint es auch hier den Gesamtzusammenhang zu betrachten. Der Koran selbst spricht davon, dass Allah „Liebe und Zärtlichkeit“ zwischen die Ehe-
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partner gesetzt hat, auf dass sie Frieden finden mögen.25 Er bezeichnet sie weiterhin gleichwertig als Gewand füreinander und drückt in dieser Metapher die gleichrangige Bedeutung der Ehepartner füreinander aus.26 Aus der Sunna (der Praxis des Propheten), die als Maßstab für die Interpretation des Korans gilt, da der Prophet im Koran als „ein schönes Vorbild für jeden“ (33:22) bezeichnet wird, ist überliefert, dass Muhammad weder verbale noch physische Gewalt gegen Frauen praktizierte, obwohl Gewalt gegen Frauen damals üblich war. Vielmehr lehnte er diese Form des Umgangs für sich strikt ab. Vor dem Hintergrund, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet war, ist die Darstellung des Verses 4:35 eine Beschreibung von Maßnahmen der gewaltfreien Konfliktlösung, indem Männer dazu aufgefordert werden, zunächst das Gespräch zu suchen sowie Intimitäten zu meiden. Diese Methoden der Mediation werden vorangestellt, was Gewalt als Mittel abwertet. Wenn zudem beachtet wird, dass der Prophet selbst erklärte, dass mit daraba („schlagen“) die symbolische Berührung mit einem miswak (ein kleines Holzstäbchen zur Zahnreinigung) gemeint sei, wird deutlich, dass in diesem Vers präventive Maßnahmen beschrieben werden, die dem weit verbreiteten Phänomen der häuslichen Gewalt Einhalt gebieten sollen.27 Ähnliches gilt für die häufig unterstellte Überlegenheit des Mannes, die durch diesen Vers abgeleitet wird. Der arabische Begriff qawwamun bezieht sich darauf, dass der Mann als physisch stärkerer die Verantwortung übertragen bekommen hat, für seine Familie zu sorgen. Diskutiert wird mitunter, ob die Frau diese Rolle einnimmt, wenn sie das Familieneinkommen erwirtschaftet.28 Der Koran legt zwar keine spezifischen Arbeitsbereiche für die Geschlechter fest und lässt somit Raum für individuelle Lebenskonzepte, macht aber folgendes deutlich: „Und bei der Erschaff ung von Mann und Frau, fürwahr, eure Aufgabe ist in der Tat verschieden.“29. Wenn somit der Mann verpflichtet wird für seine Frau zu sorgen, geht damit keine Wertung einher, vielmehr dient diese Maßnahme dem Schutz der Frau, die vor allem in der Schwangerschaft und in der vom Koran empfohlenen Stillzeit besondere Rechte genießt. Eine Einschränkung des Einflussbereiches der Frau auf den häuslichen Kontext ist aus dem Koran nicht abzulesen. Dies zeigt auch die Rolle zentraler Frauenfiguren im Islam, wie Khadija, der wesentlich älteren Frau des Propheten, die eine erfolgreiche Geschäftsfrau war oder Aisha, eine der wichtigsten Gelehrten des Islam, die als junge Frau auch Männer unterrichtete und religiös wie politisch sehr einflussreich war, oder aber auch Umm Ammara, die als eine der besten Kämpfer an den frühislamischen Schlachten beteiligt war.30 Wenn weiterhin moniert wird, dass der Islam die Polygamie befürworte, muss beachtet werden, dass die in der präislamischen Zeit übliche Praktik der Mehrehe im Koran deutlich eingeschränkt und mit strengen Auflagen belegt wird. Gleichzeitig wird die formale Empfehlung ausgesprochen, monogam zu leben, um „das Unrecht eher vermeiden“ zu können.31 Manche Koraninterpreten lesen gar eine Ablehnung der Polygamie aus dem Koran heraus, da der Koran die Gerechtigkeit als Bedingung für eine solche Beziehung erklärt und gleichzeitig davor warnt, eine vollkommene Gleichbehandlung sei nicht möglich. Üblicherweise gilt die Polygamie als eine Regelung für individuelle Ausnahmesituationen oder Kriegszeiten, da sie im unmittelbaren Kontext der Waisen erwähnt wird
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und der Koran die soziale Notlage der Waisen als Ausgangsbedingung der Polygamie formuliert.32 Die Kontextualisierung der vermeintlich frauenfeindlichen Koranverse ist äußerst wichtig, um die ursprünglich frauenfreundliche Maxime der Verse verstehen zu können. Dies wird auch deutlich, wenn es um die Zeugenaussage der Frau geht. Grundsätzlich ist die Zeugenaussage einer Frau der eines Mannes völlig gleichwertig.33 Die Zeugenaussage der Frau überwiegt in bestimmten Fällen sogar gegenüber der Aussage des Mannes.34 Der häufig kritisierte Vers (2: 283) beschäftigt sich dagegen mit finanziellen Transaktionen und hat das Ziel die Rechte aller Vertragspartner zu wahren. Auch hier ist die Zeugenaussage einer Frau der eines Mannes äquivalent, allerdings spricht der Vers davon, dass die Frau durch eine zweite Frau begleitet werden solle, die ihr ggf. zur Seite stehen mag, falls sie etwas vergessen habe. Die Erwähnung dieses Umstandes darf jedoch nicht missverstanden werden in dem Sinne, dass zwei Frauen den Wert eines Mannes hätten. Die Berücksichtigung des gesellschaft lich-historischen Kontexts zeigt, dass die Analphabetenrate v. a. unter Frauen damals weit verbreitet war, so dass sie sich eher auf ihr Gedächtnis verlassen mussten. Da sich dieser Vers zudem auf finanzielle Transaktionsgeschäfte bezieht, die männerdominiert sind, ist zu beachten, dass gerade in patriarchalischen Kulturen Frauen leicht unter Druck geraten können, eine falsche Zeugenaussage zu treffen. Die zweite Frau gilt somit als beratende Unterstützung ohne jedoch Zeugin zu sein.35 Der Koran etabliert ethische Maßstäbe und beansprucht eine zeitlos gültige Botschaft zu beinhalten. Die Berücksichtigung des historischen Kontexts im beginnenden 7. Jahrhundert und der damals weit verbreiteten Misogynie machen deutlich, welcher befreiende und progressive Geist von der koranischen Lehre über die Geschlechterstellung ausgeht. Die gesellschaft liche Realität in der sogenannten islamischen Welt hat sich von der koranischen Ethik der Geschlechtergerechtigkeit jedoch weit entfernt und ist größtenteils zu vorkoranischen patriarchalen Traditionen zurückgekehrt. Unter dem Einfluss der vorislamischen Stammeskultur wird die koranische Lehre mitunter ignoriert oder ihrem Geist völlig widersprechend instrumentalisiert und missinterpretiert. Deutlich wird, dass die ursprünglich spirituelle Lehre des Islam zu einer diskriminierenden und religiösen Ideologie verkommen ist. Es scheint daher geboten, die koranische Lehre ganzheitlich zu verstehen. Der Prophet Muhammad selbst erklärte: „Die besten unter euch werden die sein, die am besten zu ihren Frauen sind“ und mahnte die Männer in seiner berühmten Abschiedsrede drei Mal eindringlich: „Ich lege euch ans Herz, seid fürsorglich mit euren Frauen!“36
Die Bedeutung des islamischen Menschenbilds für den interreligiösen Dialog Allah offenbart im Koran: „Wahrlich, Wir erschufen den Menschen, und Wir wissen was er in seinem Innern hegt; denn Wir sind ihm näher als (seine) Halsschlagader“.37 Gott ist allen Menschen unabhängig von ihrer Weltanschauung und formalen Religionszugehörig-
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keit näher als sie sich selbst. Das Tor zu Gott ist damit für jeden Menschen offen oder wie Ahmad es formulierte: „Das wahre Ziel des menschlichen Lebens liegt also darin, dass sich das Fenster seines Herzens gegen Gott öff net.“38 Wenn Gott darüber hinaus verkündet: „Euer Herr hat Sich Selbst Barmherzigkeit vorgeschrieben“39 und betont „Meine Barmherzigkeit umfasst jedes Ding“40, dann geht von diesem Menschenbild ein wichtiger, vereinender Impuls für das gemeinsame Zusammenleben aus. Alle Menschen sind Gottes Geschöpfe und von Gott gewollt, Gott begegnet ihnen mit Barmherzigkeit und Güte und offenbart sich Seiner Schöpfung. Er lädt den Menschen ein, Ihm zu begegnen und schließt keine Gruppe von Menschen davon aus. Es gilt alle Menschen in friedlichem Miteinander zu respektieren und Mitmenschlichkeit zu zeigen, da Gott selbst dem Menschen als Teil der Schöpfung Barmherzigkeit verspricht. Die Verschiedenartigkeit der Menschen und Schöpfung des Weiblichen und Männlichen ist dem Koran zufolge ein Teil des göttlichen Heilsplans: „O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Frau erschaffen, und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möchtet. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Allah der, der unter euch der Gerechteste ist. Siehe Allah ist allwissend, allkundig.“ (49:14). Jenseits des Geschlechts, der Nationalität oder der Herkunft legt der Koran damit die Gerechtigkeit als universales, humanistisches Prinzip fest. Alle Menschen sind gleich vor Allah, sie unterscheiden sich nur durch ihre Rechtschaffenheit und moralische Integrität (taqwa) über die Gott allein urteilen kann. Dies macht deutlich, dass Pluralismus im Islam als Möglichkeit der Bereicherung verstanden wird, indem die Menschen unterschiedlicher Herkunft dazu aufgefordert werden sich gegenseitig kennen und verstehen zu lernen und vorurteilsfrei der Bedeutung der Brüderlichkeit und Gleichheit der Menschheit gewahr zu werden.
Weiterführende Literatur der Autorin: Hübsch, Khola Maryam: Selbst- und Fremdbilder der muslimischen Frau, in: Als Mann und Frau schuf er sie. Religion und Geschlecht, hrsg. v. Barbara Stollberg-Rilinger, Würzburg 2013. –: Menschenrecht in der Ahmadiyya Muslim Jamaat, in: Menschenrechte im Weltkontext: Geschichten – Erscheinungsformen – Neue Entwicklungen, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi, Wiesbaden 2013 (153–161).
Anmerkungen 1 2 3 4
Vgl. Koran 3:68 sowie 51:37; 10:73; 5:112. Koran 89:28–31, vgl. Ahmad, M. G.: Philosophie der Lehren des Islams, Frankfurt 2008, S. 19 ff. Hadith, Al-Bayhaqi. Vgl, Koran 10:100: „Und hätte dein Herr Seinen Willen erzwungen, wahrlich, alle, die auf der Erde sind, würden geglaubt haben insgesamt. Willst du also die Menschen dazu zwingen, dass sie Gläubige werden?“ 5 Vgl. Ahmad, S. 105.
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Vgl. Koran 89: 17–30. Hadith, Al-Bukhari. Vgl. Khorchide, M.: Islam ist Barmherzigkeit. Freiburg 2012, S. 97. Vgl. Koran 89:28 f. Ahmad, S. 111. Vgl. Koran 39:28; 47:16; 18:55; 17:90. Vgl. Koran 51:57. Koran 20:38 f. und 3:43. Vgl. auch Koran 16:98. Vgl. v. a. Koran 33:36. Koran 6:165 sowie 17:16; 35: 19. Vgl. Ahmad, B. M.: Muhammad the Liberator of Women, Tilford 2008. Vgl. Koran, 16:59 f. sowie 81: 9 f. und 4:3, vgl. auch: „Du weißt, dass ich die Verletzung der Rechte der beiden Schwachen, der Waisen und der Frauen, für schwere Sünde erkläre“ (Hadith An-Nasai). Koran, 6:99. Vgl. Koran, 36:37; 43:13. Hadith, Musnad. Hadith, Ibn Majah. Hadith, Muslim. Vgl. Koran 4:38. Koran 30:22. Koran 2:188. Vgl. Khorchide (2012), S. 177. Vgl. Abu Zaid, N. H.: Der Koran und die Zukunft des Islam, Freiburg 2011, S. 159. Koran 92:4f. Vgl. Al-Waqidi: „Ghazwa Uhud“ in: Kitab al-Maghazi, Dar Al-Kutub Al-ilmiyah, Vol.1, Beirut 2004, S. 237. Koran 4:4, vgl. auch 4:130. Vgl. Koran 4:4. Vgl. Koran 24:7–10. Vgl. ebd. Vgl. Khorchide (2012), S. 179. Hadith, Ibn Hischam. Koran 50:17. Ahmad (2008), S. 133. Koran 6:13; 6:55. Koran 7:157.
Christentum und Menschenrechte von Thomas Schirrmacher
1. Zur Geschichte der Menschenrechte Mittelalter ChristentumThomas und Menschenrechte Schirrmacher
Viele lassen die Geschichte der Menschenrechte mit der englischen „Magna Charta Liberatum“ von 1215 beginnen. Hier handeln Untertanen – wenn auch nur ein kleiner Teil von ihnen – der Regierung konkrete Freiheiten ab, die rechtlich verbindlich sind. Kurze Zeit später begründet der bedeutendste mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin (1225– 1274) in einer Mischung aus griechischer Philosophie und christlicher Theologie unüberhörbar die Menschenwürde mit der Vernunftbegabung und der Freiheit des Menschen. Der Dominikanermönch Bartholomé de Las Casas spricht 1552 von den „Prinzipien der Rechte der Menschen“, als er die Unterdrückung der peruanischen Ureinwohner durch Sklaverei und Ausbeutung anprangert. Selbst der Papst gab ihm inhaltlich Recht, wenn sich dann auch die katholischen Kolonialmächte durchsetzten. Erstmals scheinen hier die mit dem Menschsein an sich verbundenen Würde und Rechte über allen Staaten zu stehen. Josef Punt ist zuzustimmen, dass die christliche Lehre im Mittelalter die universalen Menschenrechte nur deswegen nicht kannte, weil man statt dessen eine universale Gerechtigkeit lehrte, die über dem Staat stand und auf die alles öffentliche Handeln abzielte1. Staat und Kirche unterstanden Gott und der universalen Gerechtigkeit und wurden an diesen gemessen. Erst Nicolo Machiavelli (1469–1527) löste das souveräne staatliche Recht aus seiner Bindung an göttliches Recht oder an das Naturrecht 2 und erklärte, dass der Staat selbst oberster Gesetzgeber und oberste Macht sei und sich an niemandem ausrichten müsse. Ähnlich sieht es Gerhard Ritter. Er fasst zusammen: „Das christliche Naturrecht der mittelalterlichen Scholastik hat vor allem darin seine geschichtliche Bedeutung, dass es eine sittliche Norm, die Idee einer ewigen Rechtsordnung über dem Staat, aufstellt – die Idee der Gerechtigkeit und des Friedens, der alle irdischen Machthaber zu dienen haben.“3
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Die ,Stiefk inder‘ der Reformation In der Mitte des 17. Jahrhunderts kommen im radikalprotestantischen Flügel in England erstmals Forderungen nach Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, Pressefreiheit und allgemeinem Männerwahlrecht auf. Michael Farris hat dazu eine umfangreiche Untersuchung zu den frühen Quellen der Religionsfreiheit in den USA vorgelegt, darunter ungezählte Predigten und Traktate.4 Nachdem Sebastian Castellio als ehemaliger Calvinschüler 1554 gegen Johannes Calvin für eine noch recht rudimentäre Religionsfreiheit eingetreten war, stammt das erste bekannte Traktat, das völlige Religionsfreiheit fordert, von dem englischen Baptisten Thomas Helwys5 (1550–1616) aus dem Jahr 1611, das zweite des englischen Baptisten Leonard Busher folgte 1614.6 Es war der Baptist und Spiritualist Roger Williams (1604–1685), 1639 Mitbegründer der ersten amerikanischen Baptistengemeinde mit kongregationalistischer Struktur (alle Mitglieder sind gleichberechtigt und wählen Leitung und Pastor), der 1644 die völlige Religionsfreiheit forderte7 und 1647 Rhode Island mit der ersten Verfassung mit völliger Trennung von Kirche und Staat und Religionsfreiheit und Menschenrechten – sogar für Juden und Atheisten – errichtete. Der evangelische Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch8 hat vertreten, dass die Menschenrechte nicht dem Protestantismus der etablierten Kirchen, sondern den in die Neue Welt vertriebenen Freikirchen, Sekten und Spiritualisten – von den Puritanern bis zu den Quäkern – zu verdanken seien. „Hier haben die Stiefk inder der Reformation überhaupt endlich ihre weltgeschichtliche Stunde erlebt.“9 In den USA verbanden sich jedenfalls die von tief gläubigen Vorkämpfern wie Williams und Penn erkämpfte Religionsund Gewissensfreiheit und Trennung von Kirche und Staat, mit den von Puritanern und anderen Reformierten ausgebauten Verfassungsstaatsentwürfen (zunächst ohne Religionsfreiheit) mit der von aufk lärerischen und deistischen Politikern umgesetzten Demokratie für Flächenstaaten, die die frommen Vorgaben in säkulares Recht umsetzten. So war etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – John Locke (1632–1704) ein vom Puritanismus herkommender aufgeklärter Philosoph.10 Das Zusammenspiel von Christentum und Aufk lärung funktionierte, was die Entstehung der Demokratie betraf, in Amerika wesentlich reibungsloser, während es in Europa erst am Ende zahlreicher, oft sogar gewalttätiger und blutiger Auseinandersetzungen stand.
2. Zur Begründung der Menschenrechte Begründungsdefizit „Menschenrechte sind ewig, unabänderlich und gelten überall.“11 „Amen“, will man da ob der religiösen Sprache sagen. „Als Naturrecht steht das Menschenrecht dabei über dem Staat.“12 Auch das ist religiöse Sprache oder zumindest metaphysische und erstaunlich angesichts des Umstandes, dass allerorten das Naturrecht als überholt gilt.
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Doch wer solche Sprache ablehnt, übersieht, dass die Existenz überstaatlicher, alle Menschen verpflichtender Normen erst einmal begründet werden muss. In der Realität wird darauf entweder oft einfach verzichtet, die Begründung steht auf wackeligen Füßen oder sie gilt nur für bestimmte Religionen oder Weltanschauungen. Von daher ergibt sich das unglaubliche „Begründungsdefizit“ der UNO -Menschenrechtserklärung13. Nirgends findet sich eine Herleitung oder Begründung der Menschenrechte, die halbwegs universal akzeptiert ist. „Eine universell akzeptierte Theorie der Menschenrechte ist nicht gegeben. Das ist allgemein sichtbar und erfahrbar.“14 Wenn es aber keine Rückbindung der Menschenrechtskataloge an irgendeine höhere Instanz gibt, sind die Menschenrechte eben nur das Ergebnis einer Abstimmung und gelten nur solange, solange ihnen zugestimmt wird. Auch die den Menschenrechten zugrunde liegende Idee der Menschenwürde ist merkwürdig vage und ohne universal akzeptierte Begründung, zugleich aber eine der wirkungsvollsten Ideen der Weltgeschichte. Einerseits müssen die Menschenrechte natürlich nicht nur allen Staaten, sondern auch allen Religionen und Weltanschauungen vorgeordnet sein, sonst funktionieren sie nicht. Auch die christlichen Kirchen dürfen sie nicht für sich vereinnahmen. Immerhin sind die Menschenrechte nicht immer weitgehend mit den Kirchen zusammen durchgesetzt worden, wie in den USA, sondern oft eben auch gegen die Kirchen erstritten worden, wie in Frankreich. So sehr ich als christlicher Theologe und Religionssoziologe wiederholt eine christliche Begründung der Menschenrechte vorgelegt habe15 und so sehr ich davon überzegt bin, dass geschichtlich gesehen zentrale Elemente der Menschenrechtsidee aus der jüdischchristlichen Tradition stammen, wenn auch oft säkularisert, ja so sehr ich das Begründungsdefizit der Menschenrechtsidee immer wieder anmahne, so sehr gilt doch auch: 1. Niemand kann daran interessiert sein, dass der andere die Menschenrechtsidee ablehnt, weil er die eigene Religion oder Weltanschauung ablehnt. 2. Pragmatismus im Sinne der Berufung auf die Menschenrechte aus einem allgemein menschlichen Gefühl und der immer stärker werdenden positiven Erfahrung mit der Menschenrechtspraxis ist nicht das Schlechteste, wenn es ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. 3. Und schließlich: Mir ist lieber, dass jemand die Menschenrechte begrüßt, ja einhält, und nicht genau weiß, wieso, als dass ihn seine Ablehnung einer bestimmten Begründung dazu bringt, dass er sich zu Menschenrechtsverletzungen berechtigt glaubt.
Der Schöpfer will Menschenrechte Es würde vielen religiösen Menschen weltweit helfen, wenn sie weniger den säkularen, und damit für sie eher bedrohlichen Charakter der Menschenrechte sehen würden, als mit dem Juden- und Christentum bei der Autorisierung der Menschenrechte durch den Schöpfer und der Verankerung der Menschenrechte im Geschaffensein durch Gott einzusetzen. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt es: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass
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sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten …“ In der amerikanischen ,Bill of Rights‘ von 1776 heißt es in Artikel 1 und 16: „Alle Menschen sind von Natur gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachung berauben oder zwingen können.“ „Religion oder die Ergebenheit, die wir unserem Schöpfer schuldig sind, und die Art, wie wir sie erfüllen, kann lediglich durch Vernunft oder Überzeugung bestimmt werden, nicht durch Zwang oder Gewalt, und deshalb haben alle Menschen einen gleichen Anspruch auf freie Ausübung der Religion nach den Geboten des Gewissens. Und jeder hat die Pflicht, christliche Vergebung, Liebe und Barmherzigkeit zu üben.“ Solange die katholische Kirche die Menschenrechte als ein reines Produkt der kirchenfeindlichen Aufk lärung sah, konnte sie mit ihrer Einführung hier und da einverstanden sein, wenn sie Vorteile davon hatte, sah aber immer einen Konflikt zwischen Glauben und Menschenrechten. In Russland wird die Chance auf Menschenrechte eigentlich erst dann eröffnet, wenn die russisch-orthodoxe Kirche sie zu ihrer ureigensten Sache macht. Die großen protestantischen Kirchen in den USA (und zunehmend darüber hinaus) dagegen sahen Menschenrechte als Inbegriff ihrer christlichen Ethik an und die Menschenrechte waren bei Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam zentraler Bestandteil – bei der Standesvertretung der Evangelikalen, der Weltweiten Evangelischen Allianz, galt dies sowieso. Kein Wunder, dass es lange so aussah, als seien protestantische Länder für die Demokratie prädestiniert. Als aber nach einem mit der päpstlichen Enzyklika „Rerum Novarum“ von 1892 einsetzenden Prozess das Zweite Vatikanische Konzil 1965 mit seiner Erklärung zur Menschenwürde „Dignitatis Humanae“ und zeitgleich der Papst mit der Enzyklika „Pacem in Terris“ die Menschenrechte mit dem kirchlichen Glauben versöhnte und sie mehr und mehr ins Zentrum der päpstlichen Agenda rückten, zogen nach und nach praktisch alle katholischen Länder in puncto Demokratie und Menschenrechte nach.
Christliche Wurzeln? Dass die Menschenrechte als Schutzrechte christliche Wurzeln haben, ist immer wieder vertreten worden16. Für Wolfgang Fikentscher „kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Menschenrechte, so wie wir sie heute verstehen, christlichen Ursprungs sind, unbeschadet ihrer – politisch labilen – tragischen Vorformen“17. Georg Jellinek hat in seinen bahnbrechenden Untersuchungen zur Vorgeschichte der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte18 von 1789 die Auffassung vertreten, dass sich die modernen Menschenrechte aus den Verfassungen der calvinistisch und christlich geprägten frühen amerikanischen Staaten entwickelten und dass sich alle Menschenrechte
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aus dem Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit entwickelt haben, das sich von der Reformation her allmählich anbahnte. Die Diskussion um diese Thesen ist bis heute im Gange, wobei es bis heute deutliche Befürworter wie Gegner dieser Sichtweise gibt. Damit soll nicht gesagt werden, dass Christentum habe in der Geschichte die Menschenrechte stärker beachtet und umgesetzt oder dass es eine gradlinigen Weg von Jesus zu den Menschenrechten gäbe. Aber Christian Starck schreibt zu Recht in der ,Juristenzeitung‘: „Verfehlungen der christlichen Kirche gegen die Menschenrechte … widerlegen nicht die Herkunft der Menschenwürde aus dem Christentum.“19 Und das Christentum – mit einer gewissen Ausnahme der großen orthodoxen Kirchen – tut sich am leichtesten mit dem über den Religionen stehenden und säkularen Charakter der Menschenrechte.
3. Eine christliche Begründung der Menschenrechte Menschenwürde und Ebenbild des Schöpfers Die christliche Grundlage der Menschenrechte20 ist zuerst einmal: Menschen, und zwar alle Menschen, nicht nur die Christen, sind Geschöpfe Gottes und Ebenbilder Gottes und haben deswegen eine unglaubliche Würde, die allem anderen vorausgeht. Diese Würde ist davon unabhängig, wie der einzelne Mensch zu Gott steht, also auch davon, ob er Christ ist oder nicht. Der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu schrieb: „Das ist die Grundlage des Gleichheitsgedankens in der Bibel: alles gehört Gott. Und vor ihm sind alle Menschen gleich. Das ist eine berauschende Aussage. Keine politische Ideologie könnte radikaler sein.“21 Dem Gedanken der Menschenrechte liegt der Anspruch zugrunde, dass alle Menschen das gleiche Recht darauf haben, als Person behandelt zu werden ungeachtet ihrer Unterschiede in Rasse, Religion, Geschlecht, Politik oder sozialem und ökonomischen Status. Doch worin ist die Gleichheit der Menschen begründet, wenn nicht darin, dass Gott sie alle gleichermaßen geschaffen hat? Deswegen beginnt jede christliche Begründung der Menschenrechte mit dem Schöpfungsbericht in den ersten beiden Kapiteln der Bibel, in denen es heißt: „Und Gott sprach: Lasst uns Menschen in unserm Bild machen, uns ähnlich! … Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie“ (1 Mose 1,26–27). Menschenwürde und Menschenrechte sind im Wesen des Menschen als Geschöpf Gottes begründet. Der Staat schafft die Menschenrechte deswegen nicht, sondern er formuliert und schützt sie nur. Das Recht auf Leben hat der Mensch also beispielsweise an sich. Er erhält das Lebensrecht nicht erst durch den Staat. Und der Staat kann nicht einfach beschließen, dass seine Bürger kein Recht auf Leben mehr haben, sondern beliebig umgebracht werden dürfen. Wäre dies nicht der Fall, so würde der Mensch seine Rechte erst durch den Staat erhalten. Jeder Mensch hätte dann nur die Rechte und den Anspruch auf Schutz, den ihm der
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jeweilige Staat zugestehen würde. Das war die Sicht der sozialistischen Staaten. Hier kann der Staat nicht mehr aufgrund einer höheren Ordnung kritisiert und korrigiert werden, sondern ist sich selbst Gott geworden. Jürgen Moltmann hat gut die jeweilige Begründung der Menschenrechte in den verschiedenen christlichen Konfessionen gegenübergestellt 22. Die katholische und die reformierte Theologie gründen die Menschenrechte in der Gottesebenbildlichkeit, die lutherische Theologie hält sie dagegen für eine säkulare, politische Angelegenheit, zu der die Kirche nichts unmittelbar beizutragen hat. Die katholische Theologie geht dabei aber von dem Grundschema ‘Natur und Gnade‘ aus und verwurzelt die Menschenrechte im Naturrecht, während die reformierte Theologie von dem Grundschema ‘Sünde und Gnade‘ ausgeht und die Menschenrechte gerade darin verankert, dass die Menschen böse sind und deswegen voreinander und vor Machtmissbrauch geschützt werden müssen. Martin Kriele hat dabei zu Recht darauf hingewiesen, dass die Lehre, dass der Mensch böse ist, sowohl vor der Anarchie der bösen Masse, als auch vor dem Tyrannen als bösem Einzelnen schützt.23
Rechtsstaatlichkeit Dazu kommt, dass im Judentum und im Christentum durch das ganze Alte und das Neue Testament hindurch das gesamte Denken für die irdische Welt ein Denken in Rechtsstrukturen ist. (Das können Muslime nachvollziehen, Hinduisten oder Buddhisten dagegen viel weniger.) Der Staat ist ein Rechtsstaat, die politische Ordnung ist eine Rechtsordnung. Was der liberale Protestantismus einst eher belächelte oder kritisierte, weil er ein gesetzesfreies Christentum wünschte, bestimmt heute längst unseren Alltag: das gemeinsame Leben wird vom Recht und Gesetz zusammengehalten. Jede Macht, die irgendwo eingesetzt wird, wird aus dem Recht abgeleitet. Das galt in Israel schon zu Zeiten, wo andere Kulturen so etwas noch kaum kannten. Grundlage ist die häufige Aussage des Alten und Neuen Testamentes, dass Gott kein Ansehen der Person kennt. Das gilt zwar auch im Bereich der Kirche und des Glaubens, gilt aber vor allem für den Staat und seine Gerichtsbarkeit. Die Richter haben unabhängig und unbestechlich zu prüfen, was war, und nicht nach dem Ansehen der Person und damit auch nicht nach seinem Glauben zu urteilen. Ein Mord wird nicht besser, weil ihn ein Christ begeht. Das Alte Testament lehrt, dass der Richter weder den Reichen bevorzugen soll noch den Armen bevorzugen soll, nur weil er arm ist. Er soll ohne Ansehen der Person Recht sprechen. Das Menschenrecht auf ein gerechtes Gerichtsverfahren findet sich schon seit Jahrtausenden im Alten und Neuen Testament. Um entscheiden zu können, was Recht ist, bedarf es eines gerechten Richters. Gott aber ist der gerechte Richter schlechthin (z. B. 5 Mose 10,17–18; Ps 7,9+12; 9,5; 50,6; vgl. Ps 75,3+8), „denn der HERR ist ein Gott des Rechts“ (Jes 30,18). „Er ist der Beschützer des Rechtes“24. Wer immer gerechtes Recht spricht, handelt im Auftrag Gottes (z. B. 2 Chr 19,6–7; Klgl 3,35–36).
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Dementsprechend kennt die Bibel viele Anweisungen für ein menschenwürdiges und gerechtes Gerichtsverfahren. Für die Anklage waren zum Beispiel „zwei oder drei Zeugen“ (z. B. 5 Mose 17,6; 19,15; Mt 18,16; Hebr 10,28; 1 Tim 5,19; ähnlich 4 Mose 35,30; Joh 8,17) notwendig. Im Urteil sollte „kein Ansehen der Person“ (5 Mose 1,17; 2 Chr 19,7; Spr 18,5; 24,23; Hiob 13,10; Kol 3,25; Eph 6,9) gelten, denn auch Gott selbst kennt kein Ansehen der Person (z. B. 5 Mose 10,17–18). Nur böse Richter „sehen die Person an“ (Jes 3,9). Das Urteil sollte auch „ohne Vorteil“ oder „vorurteilsfrei“ (1 Tim 5,21) gefällt werden und alles muß man „genau untersuchen“ (5 Mose 17,4). Es heißt nämlich: „Fällt einen zuverlässigen [oder: vertrauenswürdigen] Rechtsspruch“ (Sach 7,9), also einen Rechtsspruch, der nicht bei nächster Gelegenheit widerrufen werden muß und den andere nachvollziehen können.
Bundesverfassung Daraus ergibt sich auch, dass jeder, und das hieß im Alten Testament vor allem der König und heute der Staat, diesem Recht untersteht. Wir lesen heute fast beiläufig, dass der Prophet Nathan im Namen des Rechtes zu David kommt, nachdem dieser einen Offi zier auf vornehme und scheinlegale Weise hat beseitigen lassen, damit er an dessen Frau herankam. In der damaligen Zeit war das aber ein Fanal. Der oberste Herrscher unterstand nicht dem Recht. Er war das Gesetz. Noch Kaiser Wilhelm II. hat ins goldene Buch von Nürnberg hineingeschrieben: „Ich bin das Gesetz.“ Sein Großvater Kaiser Wilhelm I. hatte gesagt, als es um eine Verfassung ging: „Ich lasse doch zwischen Gott und mich kein Stück Papier kommen.“ Der Gedanke einer Bundesverfassung ist eigentlich aus dem Alten Testament vom Gedanken der ,Torah‘ entlehnt und findet sich seit dem 17. Jahrhundert zunehmend säkularisert in der Rechts- und Staatssprache („Bundesrepublik“, „Eidgenossenschaft“, „Bundesverfassungsgericht“). Denn eigentlich ist der Gedanke ja zunächst absurd, dass die höchste Instanz eines Landes nur ein Stück Papier ist. Papier ist geduldig, Papier kann sich nicht wehren. Nur aus der jüdisch-christlichen Tradition heraus kann man verstehen, dass dieses Stück Papier für das Recht steht, dem jeder untersteht und das die Gesellschaft zusammenhält, und dass tatsächlich nicht der König, nicht der Kaiser, nicht der Papst die letzte Instanz sind, sondern das schrift lich verbriefte Recht. Die Autorität der Macht ist im obersten Recht verankert.
Römer 13 Der Staat selbst untersteht nach biblisch-christlichem Verständnis dem Recht. Römer 13 hat mit den Menschenrechten aus christlicher Sicht zu tun, weil der Staat seine Legitimität daraus ableitet, dass er für Gerechtigkeit zu sorgen hat und Ungerechtigkeit zu
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bekämpfen hat. Christen werden deswegen verpflichtet, sich von einer nicht-christlichen Obrigkeit regieren zu lassen. Denn der Staat, über den Paulus hier in Römer 13 spricht, ist ja der römische Kaiser. Paulus sieht vor allen Dingen zunächst einmal im Römischen Reich die Herrschaft des Rechtes, die er selbst fleißig genutzt hat. Christen unterstehen in Sachen weltlicher Gerechtigkeit dem Staat, ja Paulus kann den nichtchristlichen Staat geradezu als „Diener Gottes“ beschreiben, wenn er Christen bestraft, die Böses tun (Röm 13,1–7). Dass Christen das in der Geschichte oft ganz anders gehandhabt haben, ändert nichts daran, dass ein Christ seinen Glauben nicht verbiegen muss, wenn er heute in einem säkularen Rechtsstaat lebt. Daraus ergibt sich natürlich automatisch auch die Trennung von Kirche und Staat. Als Jesus sagt: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ – er wusste ja auch, dass der römische Kaiser kein Christ ist – „und gebt Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22,21), überträgt er automatisch die Loyalität der Juden ihrem Staat gegenüber auf einen nichtjüdischen Staat. Die Trennung von Kirche und Staat setzt eigentlich eine Religion voraus, die das will und die deutschsprachigen Länder können froh sein, dass die Mehrheitsreligion diese Trennung befürwortet, nicht bekämpft.
Weiterführende Literatur des Autors: Schirrmacher, Thomas: Menschenrechte, Anspruch und Wirklichkeit, Holzgerlingen 2012.
Anmerkungen 1 Punt, J.: Die Idee der Menschenrechte: Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung. Abhandlungen zur Sozialethik 29, Paderborn 1987, S. 33–36. 2 Ebd. S. 70. 3 Ritter, G.: Ursprung und Wesen der Menschenrechte (1958), S. 202–237. In: Schnur, R. (Hrsg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte. Wege der Forschung 11, Darmstadt 1964, S. 205; vgl. auch Schockenhoff, E.: Naturrecht und Menschenwürde: Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz 1996. 4 Farris, M.: From Tyndale to Madison, Nashville (TN) 2007. 5 Helwys, T.: A Short Declaration of the Mystery of Iniquity, o. V: London. 1611, reprint: London 1935. 6 Busher, L.: Religious Peace. o. V.: Amsterdam 1614, reprint: London 1644. 7 Williams, R.: The bloody tenent, for cause of conscience. London 1644; Williams, R.: The bloody tenent yet more bloody. London 1652; Williams, R.: Christenings make not Christians, London 1645. 8 Vgl. Graf, F. W: Puritanische Sektenfreiheit versus lutherische Volkskirche: Zum Einfluss Georg Jellineks auf religionsdiagnostische Deutungsmuster Max Webers und Ernst Troeltschs, Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 9 (2002), S. 42–69.
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9 Troeltsch, E.: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München – Berlin 1911, S. 62. 10 So ebd. S. 63, insgesamt S. 57–65. 11 Schulz-Reich, C.: Nachgefragt: Menschenrechte und Demokratie, Bindlach 2008, S. 15. 12 Ebd. S. 21. 13 Punt, a. a. O., S. 222–226, hier: 222. 14 Volker Gerhardt in: Brunkhorst, H., W. R. Köhler u. M. Lutz-Bachmann (Hrsg.): Recht auf Menschenrechte, Frankfurt 1999, S. 43. 15 Z. B. Schirrmacher, T.: Ethik, Bd. 6. Nürnberg 2011–5, S. 9–172; Schirrmacher, T.: Menschenrechte, Holzgerlingen 2012. 16 Warwick Montgomery, J.: Human Rights & Human Dignity. Edmonton: Canadian Institute for Law, Theology, and Public, 19952; zahlreiche Aufsätze in Böckenförde, E. W. u. R. Spaemann: Menschenrechte und Menschenwürde, Stuttgart 1987. 17 Fikentscher, W. in ebd. S. 58. 18 Jellinek, G.: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, Leipzig 18951, 19042, 19193, ebd.: München, 19274. Am leichtesten zugänglich in Jellinek, G.: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 1–77, in: Schnur, R. (Hrsg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Wege der Forschung 11, Darmstadt 1964. 19 Ebd. S. 460 (mit weiterer Literatur). 20 Vgl. dazu folgende Entwürfe: Johnson, T. K.: Human Rights: A Christian Primer, Bonn 2008; Link, C.: Der Einfluss christlicher Werte auf die deutsche Verfassungsordnung, S. 95–104, in: Resch, I. (Hrsg.): Mehr als man glaubt: Christliche Fundamente in Recht, Wirtschaft und Gesellschaft. Gräfelfing 2000; Newlands, G.: Christ and Human Rights, Theology and Religion in Interdisciplinary Series 1, Aldershot 2006; Nurser, J.: For All Peoples and All Nations: Christian Churches and Human Rights, Georgetown 2005; Warwick Montgomery, J.: Human Rights and Human Dignity, a. a. O.; Th ielicke, H.: Theologische Ethik, 2 Bd., 2. Teil: Ethik des Politischen, Tübingen 19581, S. 82–85; Moltmann, J.: Christlicher Glaube und Menschenrechte, S. 15–35, in: Lorenz, E.: ,… erkämpft das Menschenrecht‘ Wie christlich sind die Menschenrechte? Lutherisches Verlagshaus, Hamburg 1981 (vgl. das ganze Buch); Tutu, D. D.: Religiöse Menschenrechte in der Bibel, Gewissen und Freiheit 23 (1996) Nr. 46 / 47, S. 36–42. 21 Tutu, D.: Religiöse Menschenrechte in der Bibel, Gewissen und Freiheit 23 (1996) Nr. 46 / 47, S. 36–42, hier S. 41. 22 Moltmann, J.: Christlicher Glaube und Menschenrechte, a. a. O., S. 26–31. 23 Kriele, M.: Einführung in die Staatslehre, Opladen 19945, S. 106–112, Abschnitt „Der Mensch ist böse“. 24 Quervain, A. d.: Die Heiligung, Ethik Erster Teil, Zollikon (CH) 19462, S. 263.
Menschenrechte aus islamischer Sicht von Mohammad Razavi Rad
Menschenrechte aus islamischer Mohammad RazaviSicht Rad
Im Folgenden geht es um den Versuch, die Frage nach den Menschenrechten aus islamischer Sicht darzustellen. Meine Überlegungen gliedern sich in drei Schritte. Im ersten Schritt diskutiere ich die Stellung des Menschen im Islam überhaupt. In einem zweiten Schritt gehe ich auf die Grundrechte des Menschen ein und analysiere das Recht auf Leben, Freiheit und Bildung. Diese sind drei Säulen der Grundrechte, aus denen sich eine Reihe weiterer Rechte speisen. Abschließend erläutere ich das Wechselverhältnis zwischen der Religion und Demokratie. Meine Auffassung ist, dass Demokratie und Religion ein dialogisches Verhältnis miteinander eingehen und gemeinsam einen dialogischen Weg der Verständigung ermöglichen können.
1. Die Stellung des Menschen im Islam Jede Weltanschauung enthält ein gewisses Menschenbild, ja gründet wohl wesentlich auf Annahmen, die über Wesen und Stellung des Menschen gemacht werden. Im Qur’ân, der Offenbarungsschrift des Islam, werden zahlreiche Aussagen über das Verhältnis des Menschen zu Gott, zu Allah, seinem Schöpfer, gemacht – wie ja die Offenbarung als solche dies Verhältnis richten soll. So z. B. in 17:70: „Und wahrlich, Wir haben die Kinder Adams geehrt und sie über Land und Meer getragen und sie mit guten Dingen versorgt und sie ausgezeichnet – eine Auszeichnung vor jenen vielen, die Wir erschaffen haben.“ So erscheint der Mensch als das Beste der Geschöpfe. Dabei ist wichtig, dass vom Menschen allgemein, nicht von einzelnen die Rede ist. Bei Gott bestehen Würde und Rechte des Menschen unabhängig davon, welcher Religion, Rasse, Kultur usw. er angehört. Die Botschaft ist demnach universal, der Mensch in der Lage, die Wahrheit über das Universum zu erfassen, seine Kenntnisse in allen Bereichen des Lebens zu erweitern. Er kann die schönsten moralischen Eigenschaften darstellen oder die Ursache für die übelsten Taten und Eigenschaften sein, und weil er diese beiden Gegensätze in sich trägt, ist er wertvoll und das vollkommenste Geschöpf des Universums: „Wahrlich, Wir haben den Menschen in bester Form erschaffen.“ (95:4) Wenn ein Mensch in bestimmten Bereichen oder im Hinblick auf Moral und Ethik besondere Fertigkeiten entwickelt, gewinnt er eine besondere Stellung und einen höheren Rang als andere. Das Grundprinzip des Islam und das Wesen der Religion ist die Ein-
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ladung zur Menschlichkeit! Deshalb muss man den Menschen erst erkennen und seine Fähigkeit fördern, damit er seinen hohen Rang als Mensch erreichen kann. Imam Ali (Ali ibn Ali Talib, Schwiegersohn und Vetter des Propheten Mohammad) äußerte über das Edelste der Geschöpfe einmal: „Sie sind von zweierlei Art: entweder sind sie deine Geschwister im Glauben oder sie sind Geschöpfe wie du“1 und dann fügt er nicht im Sinne einer ethischen Empfehlung, sondern als Befehl zur Staatsführung hinzu, dass die Rechte eines jeden Menschen beachtet werden müssen. Er ging sogar so weit, zu sagen: „Wer im islamischen Staat einen Nichtmuslim unterdrückt oder beleidigt, der hat mich unterdrückt und beleidigt.“2 Dies findet auch Bestätigung durch den Propheten Mohammad: „Gott liebt die Menschen mehr, die im Dienste der Menschen sind.“ Entsprechend heißt es im Qur’ân: „Wahrlich, vor Allah ist von euch der angesehenste, welcher der Gottesfürchtigste ist.“ (49:13) In der westlichen Welt versuchte man, durch eine Erklärung der Menschenrechte solchen Vorstellungen von Würde und der durch sie geforderten Duldsamkeit Vorschub zu leisten.
2. Grundrechte des Menschen Ich beschränke mich in meiner Besprechung des Themas auf die drei wichtigsten Grundrechte, weil eine erschöpfende Behandlung hier den Rahmen sprengen würde.
Das Recht auf Leben Nach islamischer Auffassung ist das Recht auf Leben eine allen Menschen gewährte Gnade Gottes. Keiner darf ein Leben zerstören: „Wenn jemand einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen hätte, oder ohne dass ein Unheil im Lande geschehen wäre, soll es so sein, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, soll es so sein, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.“ (5:32) Jede Art der Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit käme einer Unterstützung der Ungerechtigkeit gleich. Der Qur’an bezeichnet die schönste Form der Existenz als „reine Existenz“, ein Leben, in dem die Würde und der Rang des Menschen geachtet werden. Gott gewährt dem gläubigen Menschen, der nur gute Taten beabsichtigt, ein solches Dasein. Tötet man nicht die Seele des Menschen, wenn man ihn in seinem Bewusstsein beschränkt? Und geht nicht einer militärischen Auseinandersetzung zumeist eine ideologische „Gewalttat“ voraus? – Die geistigen und seelischen Werte in der menschlichen Existenz sollen aber nicht ignoriert werden! Es soll grundsätzlich jeder Angriff auf einen Menschen oder die Menschheit insgesamt verurteilt werden, damit die Wurzel der Zwietracht (fitna) beseitigt wird. Aus qur’ânischer Sicht ist „fitna“ die Vergiftung der reinen spirituellen menschlichen Existenz, die Verbreitung unmenschlicher Gedanken und unmoralischer Ideen, eine Unterteilung in erste und zweite Klasse oder zivilisiert und unzivilisiert usw., womit oft mals ein Angriff
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auf das menschliche Leben gerechtfertigt werden soll. Gott sagt im Qur’ân: „Und die Verführung ist schwerwiegender als Töten.“ (2:217) Die Auswirkungen von Aufruhr und Zwietracht sind viel gefährlicher als das Töten eines Individuums. Im Islam geht man von einem engsten Zusammenhang von Geist und Körper aus. Jede Spur der Seele wird sich auch im Leib manifestieren. In der vom Qur’ân geprägten Kultur gilt: „Und tötet euch nicht (gegenseitig)! Allah verfährt barmherzig mit euch. Wenn einer dies in Übertretung und in frevelhafter Weise tut, werden Wir ihn im Feuer brennen lassen, und das ist Allah ein leichtes.“ (4:29, 30)
Das Recht auf Freiheit Nach meinem Verständnis vom Qur’ân kann ich Freiheit nicht allein als ein menschliches Recht verstehen, sondern der Mensch selbst ist Freiheit. Wenn man den Menschen seiner Freiheit beraubt, hat man ihm seine Identität genommen, weil die Grenze der menschlichen Identität im Vergleich zu anderen Lebewesen diese Freiheit ist. Wenn dies so nicht im Qur’ân erwähnt und sein vermeintlicher Despotismus verurteilt wurde, dann deshalb, weil Freiheit etwas schlechthin Vorauszusetzendes ist, wie die Luft zum Atmen oder das Leben selbst. Freiheit ist keine politische Errungenschaft, sondern eine Notwendigkeit, die mit der menschlichen Identität einhergeht. Man kann die Freiheit des Menschen einschränken, wenn die Gründe dafür schwerwiegender wiegen als der Schutz seiner individuellen Identität. Ich kenne aber keinen derartigen Grund! Wir lesen im Qur’ân: „Und kein Prophet darf (etwas von der Beute) unterschlagen. Und wer (etwas) unterschlägt, soll das, was er unterschlagen hat, (zu seiner eigenen Belastung) am Tag der Auferstehung bringen.“ (3:161) Ebenso darf kein Prophet einen Menschen zu einer bestimmten Idee zwingen und damit dessen Freiheit in Ketten legen, denn im Qur’ân wird dazu gesagt: „Und er nimmt ihnen ihre Last hinweg und die Fesseln, die auf ihnen lagen.“ (87:157) Das bedeutet, Gott hat die Propheten entsandt, damit die Rechte und die Freiheit des Menschen gedeihen können und bewahrt werden. Es war nicht die Absicht der göttlichen Botschaft, dass die Menschen untätig dasitzen und ihre innovativen Gedanken in Ketten liegen. Ganz deutlich wird gesagt: „Und du hast keine Gewalt über sie“ (50:45), d. h. du bist nicht Herrscher über den Willen der Menschen, sodass sie annehmen müssen, was du sagst. Du bist nicht nur kein Herrscher, du bist auch kein Vertreter der Menschen, sodass du für sie wählst oder nicht wählst: „Wir haben dich weder zu ihrem Hüter gemacht, noch bist du ihr Wächter.“ (6:107) Sie leben ja selbst und haben ihren eigenen Verstand. Du kannst ihnen die göttliche Botschaft kundtun, aber sie müssen sich für oder gegen sie entscheiden! Was aber geschieht wenn sie ablehnen? „Kehren sie sich (vom Glauben) ab, so haben Wir dich nicht als deren Wächter entsandt“ (42:48), d. h. du kannst sie nicht bevormunden. „Willst du also die Menschen dazu zwingen, Gläubige zu werden?“ (10:99) – niemals heißt der Qur’ân Zwang gut, und es ist nicht die Absicht Gottes, dass Menschen um jeden Preis gläubig werden: „Und hätte dein Herr es gewollt, so hätten alle, die insgesamt auf der Erde sind, geglaubt.“ (10:99)
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Ferner: „Und sprich: ,Es ist die Wahrheit von eurem Herrn.‘ Darum lass den gläubig sein, der will, und den ungläubig sein, der will.“ (18:29) Stellt man dies in Rechnung, hat die Einschränkung der Freiheit des Menschen im Islam keine vernünft ige Rechtfertigung, vielmehr verurteilt der Qur’ân jeglichen Despotismus. Wie sollte man also die Ansicht vertreten, der Qur’ân oder der Prophet, dem Offenbarung gegeben wurde, würde die Freiheit des Menschen beeinträchtigen? Wie könnten wir religiös rechtfertigen, als religiöse Menschen über Akzeptanz oder Ablehnung der anderen wachen zu müssen? Wenn es eine reine Wahrheit gibt – und die gibt es –, wie kann man dann mit eingeschränkter Freiheit zu dieser Wahrheit gelangen? Wäre die menschliche Freiheit beim Beschreiten des Weges zur Selbsterkenntnis und Menschwerdung eine Gefahr, sollte uns Gott durch die großen spirituellen Persönlichkeiten davor warnen. Hierzu gibt es jedoch keine Anhaltspunkte im Qur’ân oder in den Überlieferungen. Dazu heißt es vielmehr: „Gib denn die frohe Botschaft Meinen Dienern; es sind jene, die auf das Wort hören und dem besten von ihm folgen.“ (39:17–18) Auch Imam Ali hat betont: „Der Mensch ist nicht als Gefangener auf die Welt gekommen, und die Menschen sind alle frei.“ Von Imam as-Sadiq (Abū ‘Abd Allāh Dscha‘far ibn Muhammad as-Sādiq) ist überliefert3: „Die Menschen sind alle frei, außer jenen, die die Freiheit nicht wollen.“ Imam Ali hat seinem Sohn einen Rat für alle Zeiten gegeben: „Sei niemals der gefangene Diener der anderen, denn Gott hat dich frei erschaffen!“ Wenn der Islam den Muslimen empfiehlt, die Kaaba zu umkreisen, das „Haus der Freiheit“ (22:29), dann ist diese rituelle Zeremonie eine Übung für den Muslim, dessen Gedanken einzig und allein um dieses Symbol der Freiheit kreisen sollen, wie es heißt: „Die Kaaba ist nur ein Zeichen, damit der Weg zum Ziel führt und das Ziel nicht verloren geht.“ Die Abweichung vom Weg der Freiheit führt notwendig zur Gefangenschaft. Jeder Fortschritt im wissenschaft lichen, künstlerischen, ökonomischen, moralischen oder jedem anderen Bereich kann nur im Einklang mit Freiheit realisiert werden. Wer dem Menschen Freiheit vorenthält, verhindert, dass die göttliche Veranlagung des Menschen realisiert wird. Die mangelnde Gedankenfreiheit in den religiösen Gesellschaften zerstört allmählich den Glauben der Menschen und wandelt Werte wie Reinheit, Tapferkeit, eine harmonische Identität usw. in Unwerte wie Zweigesichtigkeit, Heuchelei usw. um. In der Gemeinschaft gilt es, verantwortlich mit der Freiheit umzugehen, damit sie nicht missbraucht oder zur Gefahr wird. Nach Alexis de Tocqueville ist die Religion ein Garant der Freiheit, wie auch die Freiheit eine notwendige Bedingung für eine lebendige Religion ist. Wenn der Mensch die von der Gesellschaft und den Religionen anerkannte Freiheit ignorieren will, wird er sich bald ernsthaften Problemen gegenübersehen.
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Das Recht auf Bildung und Gedankenfreiheit Ein weiteres Grundrecht des Menschen ist das Recht auf Bildung, die Voraussetzung für die Wirksamkeit gemäß seiner Autonomie. Man sollte von einem Menschen mit rudimentärer religiöser Bildung nicht erwarten, dass er sein Leben religiös gestaltet. Ebenso kann man von einem Menschen, der die Gesetze nicht kennt, kein zivilrechtlich verantwortliches Verhalten erwarten. Der Qur’ân sagt: „Und verfolge nicht das, wovon du keine Kenntnis hast.“ (17:36) Diese Betonung der Kenntnis und des Verstandes unterscheidet den Islam von anderen Weltanschauungen. Dieser Aspekt wird auch im Verhalten der großen Persönlichkeiten, allen voran des Propheten, deutlich. Imam Ali sagte z. B. zu seinem Gefährten Kumayl, dass er sich von einer Sache fernhalten solle, wenn er keine Kenntnis darüber habe. Ohne Kenntnis kann man keine richtige Entscheidung treffen. Deshalb möchte der Prophet, dass ihm Gott die Wahrheit der Phänomene deutlicher macht. Wie jeder Mensch verpflichtet ist, Kenntnisse und Wissen zu erlangen, sind auch die für Kultur und Bildung Verantwortlichen in einer Gesellschaft verpflichtet, den Menschen entsprechende Möglichkeiten bereitzustellen. In unserer Epoche sind nicht jedem Informationen zugänglich, woraus eine gesellschaft liche Ungerechtigkeit resultiert. Umso wichtiger ist es für jeden Einzelnen, informiert zu sein, da Wissensunterschiede immer auch Machtunterschiede sind. Bewusstsein wird durch Wissen bestimmt. In der Religion verhält es sich ebenso. Wenn unsere religiöse Kenntnis den Möglichkeiten ihrer Zeit entspricht, wird sie den Menschen zu einem engagierten religiösen Menschen wachsen lassen; ist die Kenntnis von der Religion hingegen oberflächlich, von Irrtümern durchsetzt oder gar unzeitgemäß, resultieren Isolation, Rückschrittlichkeit und geistige Stagnation – letztlich sogar der Untergang einer Gesellschaft.
Gedankenfreiheit Suche nach der Wahrheit ist dem Menschen ein Grundanliegen. Denken und Reflektieren sind seine besonderen Fähigkeiten. Wenn diese der Logik folgen, werden sie wertvolle Ergebnisse hervorbringen. Im Qur’ân lesen wir: „Wahrlich, als die schlimmsten Tiere gelten bei Allah die tauben und stummen, die keinen Verstand haben.“ (8:22) Entsprechend ist vor Gott der schlechteste Mensch jener, der nicht nachdenkt. Ein persischer Dichter sagte, dass eine Stunde Nachdenken über den Sinn der Religion wertvoller sei als das jahrelange blinde Ausführen religiöser Rituale. In einer prophetischen Überlieferung heißt es, dass der Mensch erst durch Denken seine menschliche Persönlichkeit entwickelt, oder wie es in einem persischen Gedicht heißt: „O Mensch, du bist reiner Gedanke, sonst bestehst du aus Knochen und Haut; wenn dein Gedanke einer Blume gleicht, bist du wie ein Garten, und wenn dein Gedanke einem Dorn gleicht, bist du wie Brennholz für den Ofen.“ Der Prophet hat treffend gesagt: „Wer keine Vernunft hat, hat keine Religion.“ Aber auch die Religion selbst darf nicht unvernünftig sein. Im Qur’ân wird deshalb der Weg betont, der zu ratio-
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nalem Denken und Vernunft führt. Je mehr die Religion diskutiert wird, desto mehr wird die göttliche Wahrheit manifest. Der Prophet sagte: „Wehe denen, die den Qur’ân lesen“, denn der aus einem problematischen Qur’ân verständnis resultierende Schaden ist für den Gläubigen groß. Leider ist die Denkkultur in gegenwärtigen islamischen Gesellschaften nicht vorbildlich. Wie kann man auf eine bessere Zukunft für den Islam hoffen, wenn Muslime die Nachahmung der Nachforschung vorziehen? Dschalal ad-Din ar-Rumi dichtete: „Schön gesagt hat es der Prophet: ein wenig Verstand ist besser als Fasten und Gebet; denn das Wesentliche ist der Verstand, und die anderen zwei vervollständigt der Verstand.“ Grundlage der Offenbarung und der Entsendung von Propheten ist die Idee, dass Menschen von ihrer Vernunft Gebrauch machen. Mit welchem Recht wird also das Denken unter Strafe gestellt? Einen Widerspruch zwischen Vernunft und Religion haben jene verursacht, die mit wissenschaft lichen Erkenntnissen unverantwortlich umgegangen sind. Vernunft und Religion ergänzen sich und verwunderlich sind jene, welche die Macht der Vernunft ignorieren. Die Stellung der Vernunft ist so hoch, dass einige jede Tat, die von der Vernunft gutgeheißen wird, als gut ansehen. Wenn der Mensch keine neuen Fragen stellen würde, würden wir keinen Fortschritt erzielen. Dies gilt insbesondere in der Philosophie, denn Philosophieren fordert zunächst Infragestellen, ein Stück weit ist es eine Notwendigkeit auch des alltäglichen Lebens. Die Vernachlässigung jener zutiefst menschlichen Fähigkeit kommt einer Isolierung der menschlichen Existenz gleich. Letztlich beweist jede gründliche Auseinandersetzung mit der Existenz der Vernunft letztlich ihre eigene Notwendigkeit. Es gibt keine rationalen Argumente gegen die Rationalität. Heute ist in der Philosophie die Bereitschaft zur geistigen Auseinandersetzung so groß wie nie zuvor. Wenn damit verantwortlich umgegangen wird, wird das Ergebnis der Menschheit dienlich sein. Problematisch wird es jedoch, wenn die Haltung in Feindseligkeit übergeht, dann ist an Überzeugung ohnehin nicht mehr zu denken. Al-Kindî hat sich als erster islamischer Philosoph mit den Grundprinzipien der Philosophie beschäftigt, seine und die in der Zeit von Alghazali geführten Debatten hätten den Muslimen die beste Gelegenheit zur Vertiefung der jeweiligen Thematik bieten können. Doch Schriften wie ,Tahafut al-falasifa‘ und die unvollständige Antwort von Ibn Ruschd darauf bewirkten Unsicherheit und generelle Ablehnung der Philosophie unter den Muslimen. Sicherlich spielte die Einflussnahme damaliger Herrscher eine wesentliche Rolle, dass es zur generellen Ablehnung kam. Später wurden die Philosophen in der islamischen Welt isoliert und unterdrückt, denn die politischen Akteure im 3. und 4. Jh. hatten keinerlei Interesse an einer Aufk lärung in der islamischen Zivilisation. Ein solch engstirniges Verhalten der Potentaten, egal wann es geschieht, vernichtet gleichsam das Lebenselement der Philosophie, führt zu einer geistigen Verarmung und kann Erneuerungen stark behindern. Der Fortschritt der heutigen Philosophie ist das Ergebnis von freien Diskussionen. Ibn Sina versuchte mit seinem Werk ,Al ischarat wa Al Tanbihat‘, Mystik und Shariyah miteinander zu verbinden. Auch Molla Sadras Philosophie ist ausgesprochen pluralistisch. Jeglicher Dogmatismus und erzwungene Begrenzungen sind mit wissenschaft lichem Denken unvereinbar.
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Wir sehen heute, wie wir zur Erforschung der Wahrheit auf alle wissenschaft lichen Disziplinen angewiesen sind. Wenngleich die Wissenschaften sehr unterschiedliche Sprachen haben, helfen sie doch, den Schleier zu heben. Ebenso könnte der Mystiker niemals ohne Zuhilfenahme der Vernunft das Wesen des Universums verstehen; und wie sollte etwa der Philosoph ohne Iman, ohne Qur’ân zu vollständiger Gotteserkenntnis gelangen? Die Wissenschaften sind eng miteinander verbunden – warum sollte also ein vernünft iger Gedankenaustausch unter Denkern und Glaubenden ausgeschlossen sein? Solange aber unterschiedliche Meinungen nicht geäußert werden, können wir die Wahrheit auch nicht prüfen, geschweige denn beweisen. Meinungsfreiheit ist daher Voraussetzung freien, wissenschaft lichen Denkens. Rumi sagt: „Der Mensch ist unter der Zunge versteckt, und diese Zunge ist für den Menschen ein Vorhang.“ Sprache birgt viele Geheimnisse der Menschheit in sich, und wie ein offenes Fenster kann sie den Blick auf Gedanken freilegen. Sie kann aber auch, wenn sie unverantwortlich oder gar manipulativ genutzt wird, großen Schaden bewirken. Mit dem Recht auf Meinungsfreiheit sollte daher stets vernünftig und gerecht umgegangen werden. Rumi sagt weiter: „Die Sprache ist wie ein Stein, ein Stück Eisen. Was sie verursacht, gleicht einem Feuer, und ein Wort kann eine Welt vernichten.“ Wird das Wort ein Pfeil, der Menschen verletzt, wäre keinem vernünft igen Zweck gedient. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass nach Belieben und ohne alle Bedenken alles ausgesprochen werden kann, um das Weitere dem anderen zu überlassen. Der Mensch ist ja kein Gott, der die geheimen Absichten der Menschen kennt. Wie also die Meinungsfreiheit das Unterpfand der Wissenschaft ist – so bleiben Takt und gute Manieren erforderlich. Am Ende stehen zwei Pflichten des Menschen: der Mensch soll seine Wünsche äußern und seine Rechte beanspruchen, dabei jedoch die Wünsche und Rechte der Gesellschaft nicht verletzen.
3. Islam und Demokratie Athen gilt als Modell für die Kulturleistung der Demokratie, obgleich die beiden größten Denker jener Zeit, Aristoteles und Platon, davon nicht überzeugt schienen. Platon hatte Bedenken aufgrund der Naivität der Massen, Aristoteles sah in der Demokratie eine defiziente Regierungsform. Die Gründer der Vereinigten Staaten betrieben die Demokratie mit Misstrauen als ein System, in dem nur die (vermeintlich vernünftigeren) Männer wählen und das Schicksal der Gesellschaft bestimmen konnten. Einstein berichtet, er habe einmal mit einem klugen Amerikaner gesprochen und ihn vor der Gefahr des Krieges und der daraus resultierenden Vernichtung der Menschheit gewarnt, woraufhin jener ihn fragte, warum er dagegen und um die Menschheit besorgt sei? Will Durant stellte in der Blüte der Demokratie die Frage, ob die Demokratie verloren habe, und er erklärte: Je mehr ich die Demokratie untersuche, desto bewusster wird mir deren Unfähigkeit und Heuchelei. Die Unwissenheit der Masse und deren Instrumentalisierung durch die politischen Akteure sieht er als Ursache für das Scheitern der Demokratie. Für Spengler nützt Demokratie nur den Reichen.
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Wie Pluralismus stets unterschiedlich definiert wurde, gibt es auch verschiedene Definitionen von Demokratie. Insgesamt kann gesagt werden, die Welt bestehe aus Menschen mit verschiedenen individuellen, eigenständigen Identitäten, die nicht aufeinander zu reduzieren sind. Schließlich führte jedoch die rechtfertigende Verteidigung der Demokratie im 17. und 18. Jh. zu gesellschaft licher Akzeptanz und institutionalisierten Entwicklungsformen, die eine Verbreitung der Kultur der Demokratie bewirkten. Heute propagiert Jürgen Habermas die Verwirklichung einer Demokratie, an der die Masse mehr Anteil hat; er sieht den freien Vernunftgebrauch als notwendige Voraussetzung für Demokratie und eine friedliche Machtübertragung und Machtausübung. Letztere ist Grundlage für die Zufriedenheit der politisch so Organisierten. In seinem Sinn kann man die modernste und am weitesten entwickelte Form der ,Demokratie als legitime Partizipation der Masse‘ verstehen. Es gibt aber auch andere Interpretationen von Demokratie, die oft mals gar widersprüchlich sind und die in einer möglichen Instrumentalisierung resultieren können. Dieses Problem sehen jene, die einen Missbrauch der Demokratie befürchten. Deshalb soll jede Instrumentalisierung der Demokratie verhindert werden. Die schlimmste Form einer solchen Instrumentalisierung zeigt sich etwa in einer „demokratischen Erzwingung“: in Amerika z. B. waren die Menschen mehrheitlich gegen den Irakkrieg – dennoch wurde er gegen diese Mehrheit beschlossen und in fataler Weise geführt. Diese Schwäche der Demokratie ist eine bittere Erfahrung, die verdeutlicht, wie menschliche Gesellschaften Demokratie brauchen. In gleicher Weise werden Verbrechen im Namen des Islam keinen Verzicht der Muslime auf den Islam bewirken. Es gibt keine einheitliche Erscheinungsform oder Handhabungsweise der Demokratie, über die Konsens herrscht. Sind die Demokratien in Frankreich und Irland, Italien und England oder den USA und Indien gleich? Wurzelt die Demokratie eines Landes nicht in der Denkart, in der Kultur der jeweiligen Bevölkerung? Wenn dem so ist, muss es diesen Menschen erlaubt sein, eine für sie geeignetere Definition von Demokratie zu finden. Ist es kein Widerspruch in sich, von einem einzigen Demokratiemodell auszugehen? Darf man schließlich jemanden kritisieren, der für ein bestimmtes Demokratiemodell eintritt? So erscheint die humane Demokratie schlimmstenfalls als Instrument weltpolitischer Machthaber. Die Demokratie erscheint wie ein Messer zum Schälen köstlicher Äpfel; stattdessen wird es aber zum Schälen der Haut von Menschen missbraucht! Deshalb muss der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der Demokratie überwunden werden, damit die Menschen fest an sie glauben! Man sollte aber auch nicht meinen, die Demokratie sei so etwas wie das „Ende der Geschichte“, als sei mit ihr alles beendet. Es darf nur nicht ,die kreative Kraft des Menschen‘ versagen! Warum sollte der fortschrittliche Mensch unserer Zeit, der sich vom Dogmatismus befreit hat, von anderen Konzepten als der Demokratie beunruhigt werden? Die Demokratie resultiert aus Pluralismus, Vielfalt, Mannigfaltigkeit. Toleranz ist ein Merkmal des Pluralismus, wohingegen Dogmatismus damit unvereinbar ist. Stärke kennzeichnet die Demokratie, die niemals vom Dogmatismus bestimmt werden kann. Einen Vergleich die Religion gegen die Demokratie ins Feld zu führen – oder umgekehrt – halte
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ich für sachlich nicht richtig, dennoch will ich versuchen, den relevanten Punkt hier kurz zu klären: Die Geschichte im Sinne eines Zeugnisses menschlichen Bemühens vergangener Generationen lehrt uns, wie auch Soziologen und Historiker bestätigen, dass Gedanken, die nicht auf reiner Vernunft und Gedankenfreiheit basieren, früher oder später dogmatisch und absolut werden und Gedanken zerstören. Der Islam belegt seine Wahrheit mit Beweisen, und folglich kann man keine argumentativen Theorien ablehnen. Ich halte die Demokratie trotz aller Mängel für eine für die Menschen glückliche, erfolgreiche Erfahrung, die Machtkonzentration und Machtmissbrauch verhindert. Alvin Toffler meint, Macht basiere auf drei Säulen: Herrschaft, Besitz, Wissen. Ich glaube, dass vernünft ig gelebter Pluralismus jede Art von Despotismus, ob einheimisch oder fremd, verhindern hilft, und wir haben mit eigenen Augen den Untergang des Despotismus und der Unfreiheit sowie den Sieg der Demokratie beobachten können. Wie die Demokratie impliziert auch der Islam Prinzipien wie Ablehnung von Rassenund Geschlechterdiskriminierung, die Notwendigkeit der Beteiligung des Volkes an der Macht, die Geltung von Menschenrechten und freien Wahlen. Im Qur’ân heißt es dazu: „Sprich: ,O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem gleichen Wort zwischen uns und euch, dass wir nämlich Allah allein dienen und nichts neben Ihn stellen und dass nicht die einen von uns die anderen zu Herren nehmen außer Allah.‘“ (3:64). Die Anerkennung anderer Religionen und Gedankenfreiheit ist wie die Distanzierung von Dogmatismus und Despotie ein Zeichen der Vollkommenheit im Islam. Imam Ali brachte dies mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Jede dogmatische Stimme bedingt Untergang.“ Der Gebrauch bestimmter Begriffe wie z. B. „religiöse Herrschaft der Masse“, „Zivilgesellschaft“, „religiöser Pluralismus“ usw. geht in bestimmten islamischen Gesellschaften mit dem Bestreben kluger Menschen einher, ein neues Demokratiemodell zu entwickeln, das mit der Kultur, Gesellschaft und Politik dieser Gesellschaften kompatibel ist. Eine Kopie schon etablierter westlicher Demokratien wäre jedoch unvernünftig; vielmehr sollten die Erfahrungen der Menschen in der westlichen Welt mit der Demokratie berücksichtig werden – sodass die Menschen andernorts ihre Probleme besser und selbstbewusst lösen lernen. Unter Berücksichtigung aller Stärken und Schwächen der Demokratie steht fest: 1. Demokratie ist für den heutigen Menschen eine Notwendigkeit, trotz ihrer Schwächen. 2. Die Betonung freier Wahlen in der Demokratie als beste Methode zur Verhinderung von Anarchie und Machtkonzentration bei einer Partei oder Person widerspricht nicht den islamischen Prinzipien. 3. Demokratie kann in verschiedenen Ländern unterschiedlich geprägt sein. 4. Die Gestalt und Inhalte der Demokratie müssen offen bleiben. 5. Die internationale Gemeinschaft muss Garant der Demokratie sein, damit diese nicht von einzelnen Supermächten missbraucht werden kann. 6. Die praktische Verwirklichung von Demokratie und die Beteiligung der Mehrheit der Menschen an ihrem Schicksal bedarf einiger Voraussetzungen, die von vielen Staaten absichtlich oder aus Nachlässigkeit unberücksichtigt bleiben. Praktisch entscheidet eine bestimmte Gruppe für alle anderen.
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7. Jeder Gesellschaft muss eine ihren Verhältnissen entsprechende Interpretation von Demokratie zugestanden werden.
Weiterführende Literatur des Autors: Razavi Rad, Mohammad: Islam interkulturell gelesen, Nordhausen 2005. –: Ihr habt Euren Glauben, ich indes habe meinen. Der Lebensweg Mohammads, Nordhausen 2005.
Anmerkungen 1 Mostadrak Alwasael B13., S. 160. Überlieferung Nr. 15018. 2 Sahih Bochari B2. S559. 3 Mohammad Mohammadi Reyshahri. Mizanolhikmah. Maktab Alilamo Alislami. 1362. B2., S. 351. Überlieferung Nr. 3556.
Liebe aus biblisch-christlicher Sicht von Reinhard Kirste
Einleitendes Liebe aus biblisch-christlicher Sicht Reinhard Kirste
Die biblischen Texte insgesamt setzen mit ihrem Verständnis von Liebe gewissermaßen wie in einem Fährboot von der zwischenmenschlichen Ebene auf das Gottesverhältnis über.1 Liebe als Korrelationsbegriff bezieht den Gedanken einer innigen Verbindung mit ein, dazu gehören verwandtschaft liche und freundschaft liche Bindungen, das Vater-KindVerhältnis, das Auserwähltsein, Barmherzigkeit und Gnadenzusage, aber ebenso die Verantwortlichkeit füreinander. Erotische Elemente der Libido und gar der Eifersucht werden keineswegs ausgeblendet. Die im Alten Testament (AT) gebrauchten Wörter sind in ihren Sprachwurzeln allerdings nicht immer eindeutig definierbar und geben mehr eine Richtung an: BEA – OHK – WUH – XZH – EWK = lieben, barmherzig sein, begehren, liebend anhängen, Gefallen haben. Insgesamt entsteht ein auf das Volk Israel bezogener Liebesbegriff, gerade in der Gottesbeziehung, der sich bereits in den Traditionen der Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob zeigt. Dieses Verständnis in der Spannbreite von innigster Zusammengehörigkeit und zugewandter Barmherzigkeit setzt sich bei den Propheten fort. Dies hat offensichtlich dazu geführt, dass auch das eindeutig erotisch geprägte Hohelied in den Kanon der hebräischen Bibel aufgenommen wurde.2
I. Beispiele göttlicher Liebesbeziehung in prophetischen Texten: Deuterojesaja und Tritojesaja Deuterojesaja Der geschichtliche Hintergrund des anonymen oder gar hypothetisch angenommenen Propheten oder einer Art Prophetenschule, zusammengefasst als Deuterojesaja (Jesaja 40–55), führt in die Zeit des Babylonischen Exils etwa zwischen 550 und 539 v. Chr. Die Prophezeiungen bewegen sich damit in einer sich ankündigenden Wende, die durch die Siege des Perserkönigs Kyros das Neubabylonische Reich mit der Eroberung Babylons 538 v. Chr. endgültig zu Fall brachten. Berühmt geworden, gerade für die christliche Auslegung, sind die sogenannten Gottes-
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knechtlieder (Jes 42,1–4.(7); 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12). Dort wird die Liebe des Beauftragten Gottes, des Knechtes JHWH dadurch besonders zum Ausdruck gebracht, dass er in seiner liebenden Barmherzigkeit Licht und Gerechtigkeit für alle Völker bringt. Wer diese Person im Einzelnen sein mag, bleibt offen und wurde in der christlichen Tradition auf Jesus hin gedeutet. Unabhängig davon bleibt die Situation bedrohten Lebens maßgebend, allerdings nicht für Verzweiflung, sondern als Hoff nungslicht (vgl. Jes 42,1–9). Dem Dunkel wird die Hoffnung des Herausgerufenseins im Sinne von Erwählung zu neuem Leben entgegensetzt:
Liebende Erwählung (Jesaja 43,1–7) Dieser Textabschnitt bewegt sich noch deutlicher zwischen Vertreibung und Heimkehr, heilsgeschichtlich gesprochen: zwischen Gericht und Gnade. Der Prophet formuliert dies im Stile eines „Heilsorakels“, das einem einzelnen Menschen oder einer Gruppe für die weitere Lebensorientierung gesagt wird. Der Gesamtzusammenhang dieses Textabschnittes (zweigeteilt in V.1–4 und 5–7) setzt den Aufruf zur Furchtlosigkeit in den Begründungszusammenhang des Herausrufens: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen … von Norden und Süden, ja von den Enden der Erde.“ Damit ist Rettung und Heimkehr nach Jerusalem für die im Babylonischen Exil Lebenden angesagt. Die Namensgebung ist ein schöpferisches Tun: jemand wird zur eigenständigen Person gemacht und aus der Anonymität in die Individualität herausgeholt. Der Einzelne bleibt jedoch eingebunden als ein Teil des erwählten Volkes. Diesem Herausgerufensein gilt die unbedingte Zusage der Begleitung durch Gott. Mit der Erwählung wird die eigene Geschichte zur Heilsgeschichte, die in der liebenden Erwählung Gottes begründet ist. Diese nimmt die Ängste und hat einen umfassenden Frieden zum Ziel. Dabei gehören Schöpfung (V.1) und Erlösung (V.7) zusammen. In dieser Spannung bewegt sich das Heilswerk der Gottesliebe zum Menschen. Der Prophet erinnert also daran, dass Menschen viel Kraft bei überflutenden Bedrohungen brauchen (V. 2), aber es gilt auch: Die Zuflüsse göttlicher Gnade müssen ,offengehalten‘ werden, damit ein Mensch nicht verkümmert. Im Text mischen sich zwei Bilder von Wasserquelle und Lichtquelle: Die Lichtquelle wird als erleuchtend und wärmend verstanden (kein Flammenmeer, V.2b) und nimmt den Lichtgedanken von Jes 42,6 wieder auf. Wasser gilt insgesamt als Lebenselixier.
Tritojesaja Mit Tritojesaja (dem ,dritten Jesaja‘) begegnet nach den Erkenntnissen der exegetischen Forschung wiederum ein unbekannter Autor bzw. eine Sammlung von Worten unterschiedlicher Propheten, denen man die Kapitel 56–66 zugeschrieben hat. Zeitlich dürfte ,Tritojesaja‘ in nachexilischer, persischer Zeit, also nach 538 v. Chr. gelebt haben. Da es um
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die Zukunft Jerusalems und den Neubau des Tempels geht, bietet sich die schwierige Situation der aus dem Exil Heimgekehrten im letzten Viertel des 6. Jh. v. Chr. als Zeitrahmen an. Sachlich lassen sich eine Reihe von Bezügen zum übrigen Jesajabuch erkennen.3
Jesaja 62, 1–12: Verheißungen der Liebe Exegetische und historische Details aufzuhellen, dürfte gerade für das 62. Kapitel schwierig sein. Von daher sind angesichts der unsicheren Textlage Entscheidungen zu fällen, die sich einmal auf den Gesamtkomplex Tritojesaja Kapitel 56–66 und auf den offensichtlich zusammenhängenden relativ geschlossenen Zusammenhang von Kapitel 60–62 beziehen. Dieser Zusammenhang zeigt sich in einem Dreischritt, der die Klage über die Feinde mit dem Völkerzug nach Jerusalem verbindet. Dem folgt die Heilsverheißung in Kapitel 61, die zu unermesslicher Freude Anlass gibt, während im 62. Kapitel mit einem retardierenden Element (Wachsamkeit und sich Gottes erinnern!) der Aufbruch zum Heil dokumentiert und Jerusalem zum Symbol der neuen Welt Gottes wird. Mir scheint bei aller textlichen Unsicherheit jedoch die Intention auf den Liebesverheißungen zu liegen. Das Wachen und Erinnern spielen eine entscheidende Rolle: Die Gottesbeziehung gibt den Gott Anrufenden einen extrem starken Persönlichkeitscharakter. Sie benehmen sich als ,Nervensägen Gottes‘, die Gott wie im Chor an seine Verheißungen erinnern und sich einfach nicht zum Schweigen bringen lassen, sondern die Vision der ,neuen Stadt‘ Jerusalem, des neuen Zusammenlebens und der friedvollen Gestaltung immer wieder einfordern. Diese ,Anmahnungen‘ setzen sich solange fort, bis das Heil endlich für Jerusalem da ist. Jerusalem ist geografisch gesehen die irdische Stadt. Sie wird jedoch entgrenzend und spirituell ,himmlisch‘ zur Heilshoffnung für die Völker. Und was überschreitet mehr die gesteckten Grenzen als die Liebe? ,Wie ein junger Mann ein junges Mädchen umwirbt, so umwerben dich [Gott] deine Erbauer‘ (V. 5, abweichend von der Lutherübersetzung, vgl. schon Jesaja 61,4–6). Der Sprachstil ist dabei der der erotischen Liebe, wofür es in der hebräischen Bibel zahlreiche weitere Belege gibt (vgl. Hosea, Jeremia, Ezechiel). Damit gewinnt das Verhältnis Gott – Jerusalem geradezu sinnlich-intimen Charakter im Sinne eines umfassenden Liebeserweises: Gott hat sein Volk wieder angenommen. Darin steckt m. E. die keineswegs verdeckte Intention, das Heil auf alle Völker auszudehnen, die nach Jesaja 60 bereits zu ,Kooperationspartnern‘ beim Wiederaufbau Jerusalems, der ,Tochter Zion‘, und damit Teilhaber an der eschatologischen Heilszeit geworden sind. Tritojesaja wagt eine innere Verbindung von irdischem und himmlischem Jerusalem herzustellen. Jerusalem wird als neue Stadt verstanden, in der die unmittelbare Liebesbeziehung im Vater-Tochter-Verhältnis aber zugleich wie in einer erotischen Partnerbeziehung zur Sprache kommt.
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II. Altes Testament – Neues Testament: Der gemeinsame Grundgedanke Deuteronomium 6,5 und Leviticus 19,18 bilden faktisch den Übergang vom ,Alten‘ ins ,Neue‘ Testament. Das kommt am Klarsten in einem Streitgespräch zum Ausdruck, das in das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10,25–37) mündet. Diese Verse sind Verbindungsbrücke und Schlüsseltext zugleich in der konsequenten Korrelation von Gottes- und Nächstenliebe, und zwar vom Menschen aus gesehen. In ,der Liebe wird die Frage nach dem Nächsten umgewendet in die Frage: Wem bin ich der Nächste?‘ Ein Gesetzeslehrer stand auf, um Jesus auf die Probe zu stellen und fragte ihn: „Lehrer, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erhalten?“ Jesus sagte zu ihm: „Was steht denn in der Tora, im Gesetz, geschrieben? Was liest du denn da?“ Er antworte daraufhin: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben – von ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit deinem ganzen Willen, mit all deiner Sinnenkraft und mit deinem vollen Verstand – und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Jesus sagte zu ihm: „Du hast recht geredet. Handle so und du wirst leben.“ (Lk 10, 25–27, eigene Übersetzung)
III. Der Apostel Paulus Im griechischen Neuen Testament bieten die Begriffe für Liebe eine Reihe von Bedeutungsvarianten, die sich hauptsächlich in drei Bereiche aufteilen und die ag/ph (Agape) an die Spitze bringen. Nicht Xrvw (Eros) mit dem Schwergewicht auf dem erotischen, leidenschaft lichen Begehren, auch nicht die freundschaft liche Liebe fil2a (Philia), sondern ag/ph (Agape) – im Sinne von bedingungslos schenkend – wird zum Leitbegriff.
1. Korinther 13: Das ,Hohelied der Liebe‘ Der Apostel Paulus, nicht mehr Zeitzeuge Jesu, ist der erste nach Jesu Tod und Auferstehung, der eine eigenständige Theologie entwickelt. Seine Briefe an verschiedene Gemeinden in Kleinasien und Griechenland sowie nach Rom sind zum einen auf die jeweilige Situation bezogen und stellen zum andern grundsätzliche Überlegungen zu Jesus Christus als Heilsereignis dar, und zwar in der Zuspitzung auf Kreuz und Auferstehung Jesu. Die Briefe an die Gemeinde in Korinth spiegeln in einmaliger Weise die Herausforderungen und die Problemlage von neu zum christlichen Glauben bekehrten Menschen dar, die in einer Stadt an der Schnittstelle zwischen dem Ost- und Weströmischen Reich leben. Korinth ist im 1. Jahrhundert n. Chr. als Handelsmetropole im wirtschaft lichen Wachstumsfieber. Man muss daran erinnern, dass inzwischen erst 30 Jahre nach der Jünger-Erfahrung von Tod und Auferstehung Jesu vergangen sind. In Korinth verkündet Paulus das Ärgernis erregende ,Wort vom Kreuz‘ als eine Gotteskraft, eine andere Weis-
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heit als die der antiken Philosophen und zugleich ein Skandal für jeden ,normal‘ denkenden Menschen (1 Kor 1, 18–30). In diesem Zusammenhang unterbricht das Kapitel 13 den Gesamtduktus. Dieser auf Vorformen zurückgreifende Abschnitt4 geht konsequent auf die Vorordnung der Liebe (agÀph) zu, im Sinne einer triadischen Klimax: Glaube (pistiw), Hoff nung (‰lpÝw), Liebe (agÀph). Erst am Ende der Zeiten werden alle erkennen, dass nur in diesen aufsteigenden Erfahrungsschritten – zur Liebe hin – der Tod besiegt und Gott als allumfassende Liebe verstanden werden kann (1 Kor 15,26f).
2. Korinther 4: Licht der Liebe durchscheinen lassen Es lässt sich erahnen, dass Paulus mit seiner Predigt und ihren rigoristisch-moralischen Zügen in Korinth Schwierigkeiten bekam. Denn: gegen eine religiös und auch sonst sehr liberale, geradezu libertinistische Situation der damaligen Weltstadt Korinth setzt er die Offenbarung der Wahrheit, die er allein im gekreuzigten Christus sieht. Ist das noch ein Dienst der Barmherzigkeit, wie es in 2 Kor 4,1 heißt oder zeigt sich hier nicht vielmehr der erhobene Zeigefinger eines, der seinen absoluten Glaubensanspruch gegen den religiösen und ethischen Pluralismus einer hektischen Stadt durchsetzen will? Spielt da einer etwas vernebelt auf sexuelle oder spirituell-ekstatische Ausschweifungen an, um dann sein reines Licht des Evangeliums dagegen zu setzen? Aber Paulus will nicht irgendjemandem etwas vermiesen. Er sieht die Schattenseiten einer so weltoffenen Stadt, er sieht die gestrandeten Existenzen, aber auch diejenigen, die in ihrer Gier nach Leben alle Möglichkeiten meinen auskosten zu müssen und sich dabei selbst ruinieren. Die Schönheit der korinthischen Stadtanlage, die hinreißenden Fassaden verbergen die Schwierigkeiten mit denen diese Stadt auch zu kämpfen hat: Menschenhandel, Prostitution, Kriminalität, Geldwäsche. Bei aller Liebe zum schönen Leben, bei allem Verständnis für eine Spaßgesellschaft, die offensichtlich in Korinth zu Hause war, von der Magie dieser Art schönen Lebens möchte Paulus weder sich, noch die Menschen gefangen nehmen lassen, die ihm täglich begegnen. Der Missionar kämpft für ein Ziel, das jenseits der schönen Fassaden liegt: Einen Schatz zwar unter irdischen Bedingungen, der aber Lebensenergien der besonderen Art freisetzt. Nicht schöner Schein, sondern neues Sein! Die Magie des schönen Lebens kann eine Zeit lang verblenden. Aber es sind Lebensbedingungen nötig, die nicht nur ein paar Privilegierten ermöglichen, ,Glück zu kaufen‘ oder zumindest materiellen Wohlstand zu erreichen. Es geht vielmehr darum, angesichts der Schattenseiten des Lebens einen Sinn jenseits des schönen Scheins zu suchen. Lebensorientierung an diesem Christus, der Gott so menschlich nahe brachte, scheint ein Lösungsweg zu sein, für den sich Paulus unerbittlich einsetzt. Manchmal tut er dies jedoch mit einem fanatischen Unterton, der der tief menschlich gewordenen Wahrheit Gottes gar nicht so gut tut. Denn vergessen wir nicht, bei allem, was wir an Korinth auszusetzen haben, bot diese Stadt auch die Möglichkeit und Freiheit an, dass jeder ,nach seiner Fasson‘ selig werden
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konnte. Die Mensch gewordene Wahrheit Gottes wird nicht durch ethischen Rigorismus gegen andere glaubwürdig, sondern durch bewusstes Vorleben, durch die Liebe. Es ist die Liebe Gottes an uns, die uns ,dringt‘ wie Luther übersetzt (2. Kor 5,14). Diese Liebe verschweigt keineswegs die üblen Machenschaften, die ,schändlichen Heimlichkeiten‘, wie Paulus sagt, aber der helle Schein ,überschwänglicher Erfahrungen von Gnade‘, die der Geist Gottes vermittelt (2 Kor 3,17; 4,14) gibt einen Mut frei, nicht die eigenen egoistischen Triebe weiter zu füttern, sondern sich zu freuen, dass mit diesem Jesus Christus die eigenen Unzulänglichkeiten und Schwachheiten überwunden werden können. Der Geist gibt eine Schubkraft, die die Fragwürdigkeit einer – und nicht nur der korinthischen Spaßgesellschaft – umso deutlicher hervortreten lässt. Was bleibt also? ,Licht leuchtet hervor‘. Es lässt sich nicht hindern und mehr noch: Das Licht beleuchtet ein verfinstertes Herz (2 Kor 4,6). Das heißt Menschen wirken in ihrem Verhalten auf andere wie ein Prisma, nicht wie eine schwarze Wand, also durchscheinend und das Licht in vielen Farben brechend. Glaubwürdig Christsein heißt, das göttliche Licht im Prisma des alltäglichen Tuns und Erleidens brechen. Die Gemeinde in Korinth könnte so zum ein-leuchtenden Beispiel für Spätere werden mit Christus als Identifi kationssymbol, denn: „Wenn jemand in Christus ist, dann ist er eine Neuschöpfung. Das Alte ist fortgegangen, siehe, es ist Neues geworden“ (2. Kor 5,17, eig. Übersetzung).
IV. Das Liebesvorbild Jesu nach den synoptischen Evangelien Die in den Evangelien niedergelegten Jesus-Erfahrungen spannen sich zwischen beginnendem Wirken, Passion, Kreuzigung und Auferstehung. Die Osterereignisse setzen neue Lebensenergien frei (vgl. die Erlebnisse der beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus in Lukas 24). Der Gedanke der Nachfolge im Sinne von ,imitatio‘ als Blick auf den ,Meister‘ Christus gewinnt nun neue Schubkraft. So geht es bei Jesus und in den gesamten synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) um eine Vervollkommnung, die nicht im Persönlichen, sondern in der Erwartung des Reiches Gottes liegt. Dieses will sich in der Menschlichkeit wahrer Nächstenliebe konstituieren und beginnt in Jesu eschatologischer Heilspredigt und durch sein (wundertätiges) Handeln. Jesus lebte damit exemplarisch vor, was die NachfolgerInnen Jesu nun im Sinne einer durch Jesus geprägten Identität verinnerlichen (vgl. Mk 1,13–15). Die Differenz zwischen Schüler und Meister bleibt dabei bestehen: Die JüngerInnen werden gegenüber dem Meister Jesus nicht selbst zum Meister, aber sie leben diesem Verhalten Jesu nach im Sinne des Knechtes und der Magd. Dies zeigt zugespitzt die Handlung der Fußwaschung (vgl. Mt 10,24f mit Joh 13,1–17). Ein solches ,Vorbild Christi‘ zu übernehmen, setzt ein Selbstverständnis voraus, das mit Konsequenzen für das verknüpft ist, was im Sinne einer Vor-Gabe Gottes – Vor-Bild – den Menschen erst in dieser Weise ,instand‘ setzt, das Alte hinter sich zu lassen und neu zu beginnen. Diese Vor-Gabe ermöglicht überhaupt erst neues Leben, eine zweite wirklich realistische Chance. Kriterium des eigenen nachfolgenden Verhaltens ist das ,Aufsehen auf Jesus‘, wie dies der Hebräerbrief präzise ausdrückt (Hebr 12,2). Notwendigerweise ent-
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wickelt sich so ein Gespür für die ,Stimmigkeit‘ von innerer Haltung und äußerem Verhalten. Als Leitlinie dient die Bergpredigt Mt 5–7 in ihrer Zuspitzung der Nächstenliebe bis hin zur Feindesliebe (Mt 5,40–48). Das ist der weite Weg zur Vollkommenheit im Reich Gottes, wo die Liebe keinerlei Bedingungen mehr stellt. Nachfolge Jesu schafft allerdings keinen leidensfreien Raum, weil solches Liebesvorbild durch eine veränderte Lebensweise auch erhebliche Widerstände hervorruft. Es geht aber nicht um die eigenen persönlichen Leiden, sondern um die Leiden in der Nachfolge dessen, der die Liebe vorgelebt hat. Nächstenliebe aber bedeutet damit, Schwierigkeiten und Leiden ,um Gottes Willen‘ auf sich zu nehmen. Liebende Nachfolge und Herrschaft über andere widersprechen sich damit grundsätzlich, wie Jesus an dem Wunsch der beiden Zebedäussöhne verschärfend deutlich macht: Das Kreuz des Märtyrers werden sie tragen, sie werden es sogar ertragen – und trotzdem ist noch nichts darüber ausgesagt, wie sich das auf ihren Rang, ihre Bewertung in der Gottesherrschaft, im Reiche Gottes, auswirkt (Mk 10, 35–45 par). Nach Paulus gibt es darum nur eine rühmliche Sache, das ist unsere Schwachheit, die angesichts des Liebesgebotes Christi unser Verhalten trotz allem Bemühen bestimmt. So können wir uns überhaupt nur unserer Schwachheiten rühmen (2 Kor 12,5) und in dem täglichen Tragen des Kreuzes Jesu Christi.
5. Wo die Liebe ist, da ist auch Gott: Das Johannes-Evangelium und die Johannesbriefe Das Evangelium nach Johannes als dem vierten kanonischen Evangelium gilt als eines der späteren christlichen Zeugnisse des 1. Jahrhunderts. Sein Autor bzw. seine Autoren haben bereits eine eigenständige Theologie entwickelt. Die Unterschiede zu den Synoptikern sind teilweise erheblich, dennoch gibt es zahlreiche Passagen mit ähnlichen Inhalten und Strukturen. Ohne auf die exegetischen Probleme der Autorschaft hier einzugehen, sei aber angemerkt, dass offensichtlich johanneisches Gedankengut weiter tradiert wurde, so dass man auch von einer johanneischen Schule spricht, die sich etwa in den Johannesbriefen wiederspiegelt.5 Im Zusammenhang des biblischen Verständnisses von Liebe als Leben im Licht (1 Joh 1) hat ,Johannes‘ entscheidende Marksteine gesetzt, die in der gegenwärtigen (nicht nur theologischen) Diskussion wieder an Bedeutung gewinnen. Hier sei als Beispiel die enge Verbindung von Wahrheit und Liebe im menschlichen Verhalten zueinander wie im Blick auf die göttliche Wahrheit herausgehoben. Die mit Joh 13 einsetzenden Abschiedsreden Jesu von seinen Jüngern bereiten diese auf die Stunde der Wahrheit vor: Die der Welt zugewandte Liebe Gottes (Joh 3,16), die Zweifel und Unglauben hervorruft, ermöglicht schlussendlich, den Nachfolgern in der Gemeinschaft der Liebe zusammenzuwachsen und so zur Vollendung zu kommen. Allerdings ist der Weg dorthin noch weit. Aber der Weg ist bereits das Ziel, weil sich Jesus als den Weg, die Wahrheit und das Leben bezeichnet. Der Abschied Jesu von den Seinen bringt neue Gefahren mit sich, die mit Hilfe des neuen Gebots des gegenseitigen Liebens besiegt werden sollen
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(Joh 13,34). In diesem Gebot kommen alle anderen Verhaltensmaßregeln zusammen. Angesichts des bewussten Sicheinlassens auf die Liebe und der daraus erwachsenen Verhaltensweisen erleben die Jünger die Trennung von Jesus zwar als Abschiedsschmerz. In diesem Kummer taucht jedoch der Geist als Tröster auf, dessen göttliche Wahrheit sich im liebevollen menschlichen Umgang miteinander erweist. Die Wahrheit der Liebe realisiert sich im Halten der Liebesgebote (14,16f), die nicht theoretisch beschrieben, sondern praktisch gelebt werden.6 Die Liebe wird zum Motor (14,15), den Alltag zu bestehen. Das ,Triebmittel‘ in diesem Motor ist der Geist der Wahrheit, der den Jüngern als Tröster zugesagt wird (14,16f). Jesus erläutert dies weiter im Bild der Liebesbeziehung aber auch des Abschieds eines Vaters von seinen Kindern (14,18). Die Atmosphäre lässt Traurigkeit, Kummer, Verständnislosigkeit, Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit und Verzweiflung durchschimmern. In einer solch beunruhigenden Situation wird nun die verantwortlich handelnde und die Wort führende Liebe der Maßstab für Wahrheit, und zwar durch den verheißenen Tröster und Beistand, den heiligen Geist.7 Nur wer Liebe übt, scheint überhaupt die Wahrheit zu erkennen, die qualitativ anders ist, als was üblicherweise oder mehr oder minder philosophisch ummantelt als Wahrheit angeboten wird. Wenn Liebe das Kriterium für Wahrheit ist, muss die Pilatusfrage: ,Was ist Wahrheit?‘ im Glauben offensichtlich neu aufgerollt werden, denn die Wahrheit darf nicht auf Kosten der Liebe gehen. Die Wahrheit der Liebe realisiert sich im Halten der Liebesgebote, die nicht theoretisch beschrieben, sondern praktisch gelebt werden.8 Darum sagt Jesus: „Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde“ (15,10–11). Angesichts des Todes Jesu bekommt das Liebesband zwischen ihm und seinen Jüngern den Charakter der Freundschaft, für die Jesus sein Leben einsetzt. Und die Jünger bleiben seine Freunde, wenn sie tun, was ihnen ihr Abschied nehmender Freund empfiehlt (15,13). Nicht alles lässt sich sofort und zu gleicher Zeit ertragen, besonders, dass Jesus weggeht, aber die Wahrheit ist, dass dies Weggehen gut ist, weil dann der Tröster, der geistige Beistand kommt: „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in die gesamte Wahrheit leiten“ (16,12).
Weiterführende Literatur des Autors: Kirste, Reinhard: ,Vorurteilsfreie Liebe‘ als wesentliche Zielvorstellung interreligiösen Lernens, in: Religionsunterricht interreligiös. Festschrift für Folkert Rickers, hrsg. v. Gottwald, Eckhard / Mette, Norbert, Neukirchen 2003 (37–55). –: Viele Wohnungen. Interreligiöses Geistzeugnis im Johannesevangelium, in: Moderrne Religionsgeschichte im Gespräch. Interreligiös, Interkulturell, Interdisziplinär. Festschrift für Christoph Elsas zum 65. Geburtstag am 1. August 2010 dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen, hrsg. v. Adelheid Herrmann-Pfandt, Berlin 2010 (94–114).
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Anmerkungen 1 Vgl. dazu den Artikel agap/v in: Kittel, G. (Hrsg.):, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Stuttgart 1957, S. 20–55. 2 Vgl. Schwienhorst-Schönberger, L. in: Zenger, E. u. a.: Einleitung in das Alte Testament. Studienbücher Theologie, Band 1,1. Stuttgart 1995, S. 274 f. Dass im christlichen Verständnis diese ursprünglich profanen Liebeslieder im Sinne der Christusmystik allegorisiert wurden, zeigt besonders eindrücklich Bernhard von Clairvaux (1090–1153). 3 Vgl. Hans-Winfried Jüngling zu Jesaja, in: Zenger (1995), S. 313. 4 Vgl. schon Conzelmann, H.: Der erste Brief an die Korinther. KEK V, Göttingen 111969, S. 256 f. 5 So schon Rudolf Bultmann in: Die Johannesbriefe. KEK XIV, Göttingen 81969, S. 9–11. 6 Vgl. dazu: Kirste, R.: Die Bibel interreligiös gelesen, Nordhausen 2006, S. 115–120 und S. 126– 128. 7 Vgl. Bultmann, R.: Das Evangelium des Johannes. KEK II.2 (17. Aufl.), Göttingen 21969, S. 475 f. 8 Vgl. dazu: Kirste (2006), S. 115–120 und S. 126–128.
Liebe aus islamisch-koranischer Sicht von Merdan Güneş
Einleitung Liebe aus islamisch-koranischer Sicht Merdan Güne
Die Liebe ist vom Wesen her abstrakt, aber von der Erscheinung und Wirkung her etwas Konkretes, etwas Reales. Ohne die Liebe zu Gott oder die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen sind wir nicht in der Lage, die Liebe im religiösen Sinne überhaupt zu verstehen.1 Deswegen hat die Liebe im islamischen Kontext immer einen Bezug zu Gott, dem Schöpfer, der alles aus dem Nichts durch und mit Liebe erschaffen hat.2 Hierauf baut die Erkenntnis auf, dass das Universum ohne die Liebe keinen Bestand hätte, da die Liebe ein Hauptgrund für die Erschaff ung der Welt ist.3 Ateş stellt hierzu fest: „Die Liebe zwischen dem Schöpfer und den Geschöpfen, insbesondere die Liebe zwischen dem Schöpfer und dem Menschen, [ist] eines der Grundprinzipien des Universums.“4 Sie ist die treibende Kraft im Universum.5 Takim erklärt dies folgendermaßen: „Das heißt, die Liebe wird hier als ein Fundament und als Prinzip angesehen, das im Universum vorherrscht und sich auch im menschlichen Leben abbildet. Die Liebe ist also das, was die ,Welt im Innersten zusammenhält‘, sie ist der Grund alles Seins.“6 In diesem Beitrag soll die Liebe aus islamisch-koranischer Sicht dargestellt werden. Es wird herausgestellt, wie die Liebe im Koran Verwendung findet und welches Konzept der Liebe darin entworfen wird. Ein solches Konzept ist von grundlegender Bedeutung für die Beziehung der Menschen zu Gott, zur gesamten Schöpfung und der Menschen untereinander. Diese Arbeit soll zeigen, dass das koranische Konzept den Anspruch hat, die gesamte Natur und die Beziehungen der Menschen unter den Gesichtspunkt der Liebe zu stellen.7 Der Vorrang von Respekt und Toleranz in jeder Lebenslage wird somit als direkte Konsequenz aus einem solchen ganzheitlichen Konzept der Liebe angesehen. Ein Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei bei Ghazali8, der als Erster systematisch ein ganzheitliches Konzept der Liebe im Islam entworfen hat.9 Aus dieser Untersuchung wird man leicht schließen, dass ein solches Liebesverständnis sehr förderlich für die Beziehungen mit anderen Religionen ist und dies für die Muslime stets im Vordergrund stehen sollte.10 Die Liebe ist ein zentraler Begriff im Koran und in der islamischen Glaubenslehre. Nach Ibn Taymiyya ist die Liebe der Kern aller abrahamischen Religionen.11 Dieser Ansatz trägt zum besseren Verständnis des Islams bei, bietet eine Orientierung im europäischen Kontext, und leistet so einen Beitrag zum Dialog zwischen den abrahamischen Religionen.
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Liebe im Islam Wenn man die Frage stellt, was für eine Religion der Islam ist und welche Merkmale typisch für ihn sind, hört man im Diskurs häufig, dass er als Gesetzesreligion12 bezeichnet wird. Die Allmacht und Gerechtigkeit Gottes werden hervorgehoben. Hingabe und Frömmigkeit bauen in diesem Verständnis in erster Linie auf der Furcht vor Gott auf. Aus diesem Grund wurde die Liebe, abgesehen von der sufitischen Tradition, nicht als Kerngedanke des islamischen Glaubens und der Frömmigkeit wahrgenommen. Trotz dieser Wahrnehmung gibt es nicht wenige Gründe, die Liebe als ein wichtiges, ja vielleicht als das zentrale Element des Islams zu betrachten. So heben jüngere Tendenzen immer mehr die zentrale Bedeutung der Liebe und Barmherzigkeit für die islamische Religion hervor.13 Weiterhin ist die Liebe, im Besonderen die Gottesliebe, ein Kernthema im Sufismus14, besonders nach Rabia al-Adawiyya (717–801).15 Der Sufismus wird auch als das „Bekenntnis zur Liebe“ bezeichnet.16 Das bedeutet jedoch nicht, dass nur die Sufis oder Gelehrte mit sufistischen Tendenzen sich mit diesem Thema beschäftigt haben. Auch recht nüchterne Gelehrte, wie Ibn Taymiyya und sein Schüler Ibn Qayyim und Ibn al-Jawzi, die den Sufismus sehr kritisch betrachteten, konnten der Liebe eine hervorragende Bedeutung zuschreiben.17 Nach Raşit Küçük bietet der Islam der Welt eine „Zivilisation der Liebe“18 an. Nach Recep Şentürk und Ibn Arabi ist der Islam die Religion der Liebe19, da der Prophet Mohammad als Geliebter Gottes (habib Allah) bezeichnet wird20, und laut Abdoldjavad Falaturi und Mouhanad Khorchide ist der Islam die Religion der Barmherzigkeit.21 Gott schreibt sich selbst die Barmherzigkeit vor22 und hat sein Buch und seinen Gesandten aus Barmherzigkeit für alle Welten gesandt.23 In diesem Sinne ist Allah Gott der Liebe und Barmherzigkeit und Mohammad Prophet der Liebe und Barmherzigkeit.24 Seine Botschaft ist die Liebe, seine Aufgabe, den Menschen die Liebe zu Gott und seinen Geschöpfen nahe zu bringen.25 Nach Ghazali ist Liebe das Wohlgefallen an etwas.26 Ibn Hazm zufolge ist die Liebe in der Seele selbst begründet. Daher gibt es keine Liebenden ohne innere Verwandtschaft und ohne Harmonie der angeborenen Eigenschaften.27 Nach Ibn Qayyim gibt es „keine Eigenschaft und keine Definition, die Liebe deutlicher und besser zu beschreiben, als die Liebe selbst.“28 Al-Qushayri, al-Hugwiri, Ibn Arabi, Sumnun – um nur einige Gelehrte zu nennen – sind der Meinung, dass sich Liebe nicht definieren lässt: „Man kann einen Begriff immer nur durch einen feineren und zarteren Begriff erklären. Nichts aber ist feiner und zarter als die Liebe. Wie sollte man also die Liebe erklären können?“29 Ghazali hat in seiner Ihya diesem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet. Unter den Autoren, die über die Liebe geschrieben haben, ist er vielleicht der bedeutendste. Er hat nicht nur alle Werke zu diesem Thema gelesen und gesammelt, sondern seine große Leistung bestand in der Systematisierung dieses Fundus, und dies in einer äußerst verständlichen und gleichzeitig literarisch hochwertigen Sprache. Diese Systematik fand große Anerkennung bei den muslimischen Autoren und ihr wurde weitgehend gefolgt.
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Wie weit die Gottesliebe gehen kann oder wie die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen und besonders zum Menschen, möglich ist, wurde im Islam kontrovers diskutiert. Einige islamische Gelehrte vertreten die Meinung, dass wir nur etwas lieben können, was von der gleichen Art ist wie wir selbst.30 Da es schwierig ist, das Wesen Gottes zu erkennen, haben sie die Liebe zu Gott als Gehorsam interpretiert.31 Al-Cahmiyya32, die Mutaziliten und einige Gelehrte (Mutakallimun), unter denen sich auch Sufis befinden, lehnen ein wortwörtliches Verständnis der Liebe im Koran strikt ab. Sie interpretieren die Liebe mit Gehorsam, Segen, Gnade, Nähe oder mit der Barmherzigkeit Gottes. Ghazali kritisiert diese Gelehrten, da sie die Liebe ablehnen würden. Wer solch eine Meinung vertrete, der wisse nichts vom Wesen der Religion.33 Er ist der Ansicht, die islamische Gemeinschaft (umma) sei sich einig darüber, dass die Liebe des Menschen zu Gott und seinem Gesandten eine Pflicht ist.34 Er fragt: „Wie kann etwas verpflichtend sein, was es nicht gibt, und wie kann man die Liebe als Gehorsam auslegen, wo doch der Gehorsam der Liebe nachgeordnet und deren Frucht ist! Die Liebe muss unbedingt vorausgehen, erst dann gehorcht derjenige, der liebt.“35 Ghazali zitiert als Beleg die beiden Koranverse: „Er liebt sie, und sie lieben Ihn“36 und „Doch die Gläubigen lieben Gott mehr“.37 Auch der folgende hadith bestätigt ein solches Verständnis der Liebe: „Keiner von euch glaubt, ehe Gott und sein Gesandter ihm lieber sind als alles andere.“38 Im Islam sollen der Glaube und der Gehorsam demnach auf der Liebe basieren. Die Gottesdienerschaft (al-ibada) umfasst die Liebe und die Demut in vollkommener Weise39, und ohne Glauben und Gehorsam gibt es keine Liebe. Die Liebe ist daher nicht nur die Grundlage für die Beziehung zwischen Mensch und Gott, sondern für alle Beziehungen des Menschen.40 Die Gottesliebe, die Gottesgnade und die Barmherzigkeit Gottes hängen davon ab, inwieweit der Mensch in seinen Beziehungen die Liebe verwirklichen kann.41 Es ist zu beachten, dass die Liebe im Islam von dem Prinzip der Gerechtigkeit bestimmt wird.
Die Liebe im Koran Auf den ersten Blick könnte man denken, im Koran würde die Betonung auf dem Glauben und der Gottesfurcht (taqwa) oder auf der Gerechtigkeit Gottes liegen. Bei näherer Betrachtung sieht man jedoch, dass die Liebe auch im Koran eine zentrale Stellung hat, denn vor allem der Glaube an Gott und an den Propheten definiert sich durch die Liebe.42 So kann man behaupten, dass die Liebe nicht nur ein zentraler Begriff, sondern der wichtigste Begriff und das wichtigste Phänomen im Koran ist.43 Darauf gründend ist es möglich, den ganzen islamischen Glauben auf die Liebe zurückzuführen. Das heißt, wer an Gott glaubt, der liebt ihn auch. Wer ihn nicht liebt, der glaubt auch nicht an ihn.44 Diese Gedanken findet man ausdrücklich auch bei Ghazali. Den tawhidAusspruch „Es gibt keinen Gott außer Allah“ hat er als „Es gibt in Wirklichkeit keinen wahren mahbub außer Allah“ interpretiert.45 Die Wörter hubb, rahma und wudd und ihre Ableitungen werden im Koran für die Liebe am häufigsten verwendet.46 Die Liebe taucht im Koran häufig als eine Variante von
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hubb auf, wird jedoch mit bis zu 70 Synonymen wiedergegeben.47 Das Wort hubb wird im Koran mit all seinen abgeleiteten Formen 95 Mal verwendet, wobei in 49 Fällen das Subjekt Gott ist, d. h. der Liebende ist Allah.48 Das Wort rahma wird für Gottes allumfassende Liebe gebraucht, da die Barmherzigkeit die Frucht der Liebe Gottes, seiner Gnade und seines Segens im Alltag ist. Durch seine rahma zeigt Allah, wie Er in der gesamten Schöpfung liebevoll wirkt: „Er hat Sich Selbst Barmherzigkeit vorgeschrieben.“ 49 Das Wort rahma kommt im Koran 114 Mal, das Wort rahman 57 Mal und das Wort rahim 115 Mal vor. Im Koran wird das Wort rahma nur im Zusammenhang mit Allah gebraucht, während das Wort rahim auch als eine Eigenschaft der Menschen verwendet wird. Das Thema der Liebe im Koran kann nicht nur auf die Untersuchung von Bezeichnungen wie hubb und rahma reduziert werden, sondern muss als Phänomen betrachtet werden. Der Koran zählt die Merkmale derjenigen auf, die Gott lieben. Sie sind gegenüber den Gläubigen sehr bescheiden und demütig, gegenüber den Ungläubigen aber standhaft und tapfer.50 Sie strengen sich für die Sache Gottes an.51 Sie haben keine Furcht vor dem Tadel des Tadelnden.52 Allah liebt die Reuevollen, die sich Reinhaltenden53, die Wohltätigen und Rechtschaffenen54, die Geduldigen55, die Gottesfürchtigen56, die auf Gott Vertrauenden57 und die Gerechten.58 In folgendem Vers sind die wichtigsten Merkmale der Rechtschaffenen (muhsinun) aufgezählt: „Das sind jene, die Spenden geben, ob es ihnen gut oder schlecht geht, die ihren Groll unterdrücken und den Menschen verzeihen. Gott liebt diejenigen, die das Gute tun.“59 Der Koran zählt auch auf, wer von Gott nicht geliebt wird: die Angreifer60, die Unheilstif61 ter , die Frohlockenden62, die Übertreter63, die Verräter64, die Undankbaren65, die Sünder66, die Betrüger67, die Übeltäter68, die Unterdrücker, die Ungerechten69, die Eingebildeten70, die Menschen, die schimpfen und fluchen71, die Verschwender72, die Hochmütigen73 und Prahler74, die Ungläubigen75. Bei diesen Bezeichnungen geht es jedoch nicht um die Menschen als Personen, sondern um die schlechten Eigenschaften und Taten dieser Menschen, denn es sind diese schlechten Eigenschaften, die Allah nicht liebt. Im Koran ist die Beziehung des Menschen zum Schöpfer eine Beziehung zwischen Herr und Diener (rabb und abd), wobei diese Beziehung auf Liebe basiert.76 Der Mensch liebt Gott entweder aufgrund Gottes Wesens oder aufgrund seiner Gaben und Gnade. Die Menschen dienen Gott nur um seiner Liebe willen, alles andere wäre Heuchelei oder Unterdrückung, was der Koran auch ablehnt. Im folgenden Vers, dem sogenannten Vers der Liebe, wird dies so verdeutlicht: „Sprich: ,Liebt ihr Allah, so folget mir; (dann) wird Allah euch lieben und euch eure Fehler verzeihen; denn Allah ist allverzeihend, barmherzig.‘“77 Wer also Gott liebt, soll dem Propheten in seinen Worten, Taten und Charaktereigenschaften folgen. Der folgende Vers spricht dies deutlicher aus: „Sprich: ,Gehorchet Allah und dem Gesandten‘; doch wenn sie sich abkehren, dann (bedenke), dass Allah die Ungläubigen nicht liebt.“78 Dies bedeutet, dass die Liebe des Menschen zu Gott abhängig davon ist, inwieweit er Gott und seinem Gesandten gehorcht. Ein weiterer Vers weist auf die Wichtigkeit der Liebe zwischen Gott und den Menschen hin: „O ihr Gläubigen! Wer von seinem Glauben abkommt, schadet nur sich selbst. Gott
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wird andere Menschen bringen, die Er liebt und die Ihn lieben, die bescheiden gegenüber den Gläubigen, unverzagt gegenüber den Ungläubigen sind, die für Gottes Sache kämpfen und keine Rücksicht auf Tadelnde nehmen. Das ist Gottes Gnade, die Er gewährt, wem Er will. Gottes Gnade und Wissen sind unendlich.“79 Ein Merkmal der wahrhaft Gläubigen ist, dass ihre Liebe zu Allah größer ist als die Liebe der Andersgläubigen zu ihren Göttern: „Und es gibt unter den Menschen einige, die sich außer Allah Seinesgleichen (zum Anbeten) nehmen und lieben, wie man Allah lieben soll. Die aber, die glauben, lieben Allah noch mehr.“80 Die Überlieferungen und hadithe über die Liebe sind größtenteils Auslegungen dieses Koranverses. Der nachfolgende Vers zeigt uns, welche Priorität der Mensch bezüglich der Liebe setzen sollte: „Sprich: ,Wenn eure Väter und eure Söhne und eure Brüder und eure Frauen und eure Verwandten und das Vermögen, das ihr euch erworben habt, und der Handel, dessen Niedergang ihr fürchtet, und die Wohnstätten, die ihr liebt, euch lieber sind als Allah und Sein Gesandter und das Kämpfen für Seine Sache, dann wartet, bis Allah mit Seiner Entscheidung kommt; und Allah weist den Ungehorsamen nicht den Weg.‘“81 Die Liebe wird im Koran aus verschiedenen Blickwinkeln thematisiert, nicht nur im Hinblick auf die Liebe zwischen Gott und Mensch. Unter der Voraussetzung, dass diese vielen Arten der Liebe die Liebe des Menschen zu Gott nicht in den Hintergrund rücken, sind sie allesamt gut und auch wünschenswert: „Es zieht die Menschen an, alles Begehrenswerte zu lieben: Frauen, Söhne, große Mengen Gold und Silber, edle Pferde, Viehherden und ertragreichen Boden. Das sind die Freuden des Diesseits. Gott bereitet aber im Jenseits die schönste Bleibe für die Gläubigen, die zu Ihm zurückkehren.“82 Aus islamischer Sicht erfordert die Gottesliebe gleichzeitig die Liebe zu Gottes Geschöpfen, insbesondere zum Menschen. Der Mensch wird im Koran als Ansprechpartner, als Nachfolger und Statthalter83 Gottes bezeichnet. Somit ist die Liebe zum Menschen unabdingbar. Nicht nur die Beziehung des Menschen zu Gott, sondern alle seine Beziehungen, z. B. zu seinen Mitmenschen oder zu seiner Umwelt, sollen auf der Liebe basieren. Im folgenden Vers wird das sehr deutlich ausgesprochen: „Zu Seinen Zeichen gehört, dass Er euch aus eurer Art Gattinnen erschaffen hat, damit ihr bei ihnen Ruhe findet, und Er hat zwischen euch Liebe und Barmherzigkeit bewirkt. Darin sind Zeichen für Menschen, die nachdenken können.“84 In diesem Vers wird die Liebe und die Barmherzigkeit unter den Menschen als Beweis für die Existenz Allahs erwähnt. In einem anderen Vers wird gesagt, dass die Liebe in den Herzen der Menschen auf Gott zurückgeht: „Und Er hat Liebe in ihre Herzen gelegt. Hättest du auch alles aufgewandt, was auf Erden ist, du hättest doch nicht Liebe in ihre Herzen zu legen vermocht, Allah aber hat Liebe in sie gelegt. Wahrlich, Er ist allmächtig, allweise.“85 In einem hadith wird die Liebe unter Glaubensbrüdern als Voraussetzung des Glaubens genannt.86
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Schlusswort Der Kern der Botschaft der drei abrahamischen Religionen ist Frieden und der Weg dazu, den sie aufzeigen, ist die Liebe. Jeder Mensch trägt die Fähigkeit zu lieben in sich, aber es erfordert Mut und Willen, davon Gebrauch zu machen. Der erste Schritt ist es, die Liebe in der Familie zu entfalten. Das entwickelt sich zur Liebe zwischen Glaubensbrüdern und vervollkommnet sich, wenn diese Liebe alle Geschöpfe umfasst. Der Glaube an den liebenden und barmherzigen Schöpfer erfordert es von den Gläubigen, alle seine Geschöpfe zu lieben. Das zu verwirklichen ist nicht immer einfach und setzt ein lebenslanges Bestreben voraus. Es ist aber dieses Bestreben, das zählt, den Menschen vervollkommnet und die nötige Kraft für den Frieden in der Welt ausmacht. Falaturi hat in seinem Appell unsere innige Überzeugung ausgesprochen: „Zweifelsfrei bildet das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden und in diesem Sinne die Bewahrung und der Schutz der Rechte der Menschen den Kern der Botschaft der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam. Dieser Wert bleibt unberührt, selbst dann, wenn er immer wieder von Anhängern jeder dieser Religionen verletzt wurde. Es ist die Aufgabe der heutigen Generationen von verantwortungsbewussten Juden, Christen und Muslimen, sich gegenseitig im Sinne der Verwirklichung der Verantwortung für den Frieden in Europa und in der Welt zu bestärken, statt die Verletzung dieser Kardinalwerte zum Anlass für neue Streitigkeiten zu nehmen. Ansätze für diese gemeinsame Verantwortung gibt es zahlreich in den Schriften der Religionen. Es gibt keinen Frieden in der Welt, ohne den bewussten Einsatz der Anhänger der großen Religionen für den Weltfrieden.“87 Die koranische Empfehlung gegen das Böse lautet: „Gut und Böse sind nicht gleich. Wehre (das Böse) mit dem ab, was das Beste ist. Und siehe, der, zwischen dem und dir Feindschaft war, wird wie ein warmer Freund werden.“88 In einem weiteren Vers appelliert Allah an die Gläubigen: „O ihr Gläubigen! Nehmt alle den Frieden an! Seid friedlich miteinander, und folgt nicht den Fußstapfen des Teufels, denn er ist euer offenkundiger Feind!“89
Weiterführende Literatur des Autors: Güneş, Merdan: Gottesliebe in der Vorstellung Al-Ghazalis, in: Journal of Religious Culture, Nr. 159 hrsg. v. Edmund Weber, Frankfurt / Main (1–10). –: Über die Grundlagen der islamischen Mystik, in: Hikma Zeitschrift für Islamische Theologie und Religionspädagogik, Universität Osnabrück. Jg., 3, Heft 4, 2012 (61–73).
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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8
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Ibni Teymiyye: Takva Yolu, Istanbul 2002, S. 73. İbnul-Kayyim: Âşıklar Kitabı, Istanbul 2002, S. 61 f. Ibn Arabi, M.: Der verborgene Schatz, Hrsg. von Bommer, S., Zürich 2006, S. 124 f. Takim, A.: Koranexegese im 20. Jahrhundert: Islamische Tradition und neue Ansätze in Süleyman Ateş’s ,Zeitgenössischem Korankommentar‘, Istanbul 2007, S. 123. Behrens-Abouseif, D.: Schönheit in der arabischen Kultur, München 1998, S. 31. Takim (2007), S. 123; Ibn Qayyim: al-Ğawāb al-kāfī, tagqīq Agmad az-Zabī, Bayrūt o. J, S. 227. Ibn Taymiyya, at-Tugfa al-irāqiyya fī al-amāl al-qalbiyya, tagqīq von Yagyā b. Mugammad al-Hunaydī, ar-Riyād 2000, S. 426. Weitere wichtige Autoren in diesem Zusammenhang sind Abū Tālib al-Makkī (386 / 996), al-Mugāsibī (243 / 857), Ibn Gazm (456 / 1063), Ibn Sīnā (980–1037), Ibn Qayyim (751 / 1350), Ibn al-Ğawzī (510–597). Çubukcu, Hatice: Sûfîlerde Muhabbet Yolu, Ebû Tâlib el-Mekkî ve Gazzâlî’de Muhabbet Anlayişı, Istanbul 2011, S. 16, 285. Gezgin, A. G.: Kur’ân’da Sevgi, Isparta 2003, S. 19. Ibn Taymiyya: at-Tugfa, S. 426. Vgl. Falaturi, A. u. U. Tworuschka: Der Islam im Unterricht. Beiträge zur interkulturellen Erziehung in Europa, Braunschweig 1996, S. 14. Vgl. Ein offener Brief und Aufruf von mehr als 350 weltbekannten muslimischen religiösen Führern an Papst Benedict XVI., The Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought, Jordan 2007; vgl. auch Khorchide, M.: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg 2012. Schimmel, A.: Mystische Dimensionen des Islam, Frankfurt am Main 1995, S. 17 f. Schimmel, A.: Im Namen Allahs des Allbarmherzigen. Der Islam, Düsseldorf 2002, S. 130 f. Shah, I.: Die Sufis – Botschaft der Derwische, Weisheit der Magier, München 2002, S. 254. Ibn Taymiyya: at-Tugfa, S. 373 ff.; Ibn Qayyim, Madāriğ as-sālikīn, tagqīq: Imād Āmir, alQāhira 1996, Bd. 3, S. 13–18; Ibn al-Ğawzī, Abū al-Farağ Abd ar-Ragmān, Kayd al-hātīr, Bayrūt 2003, S. 77. Küçük, R.: Sevgi Medeniyeti, Istanbul 2002, S. 37. Şentürk, R.: İslam Sevgi Dinidir, Köprü Dergisi 101, Istanbul 2008, S. 36. Nicholson, R. A.: Mystik of Islam, World Wisdom 2003, S. 79. Vgl. Khorchide (2012); Falaturi u. Tworuschka (1996), S. 14. Koran 6:12; 6:54. Koran 6:157; 7:52, 203; 10:57; 12:111; 16:64, 89; 17:82; 45:20; 21:107. Koran 3:159; 9:128; Izutsu, T.: Kur’an‘da Tanrı ve İnsan, Istanbul 2012, S. 340. Şentürk (2008), S. 39. Ghazali: Das Elixier der Glückseligkeit, München 1996, S. 181. Ibn Gazm, Abū Mugammad Alī: Halsband der Taube. Über die Liebe und die Liebenden, Brill 1942, S. 20. Ibn Qayyim: Madāriğ, Bd. 3, S. 11. Meier, F.: Die al-Fawāig al-Kubrā wa-Fawātig al-Ğalāl des Nağm ad-dīn al-Kubrā, Wiesbaden 1957, S. 223; al-Huğwīrī: Kašf al-magğūb – The oldest persian Treatise on Sufism, hrsg. v. R. A. Nicholson, London 1967, S. 137; İbn Arabî: İlâhî Aşk, Istanbul 2006, S. 30.
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30 Bell, J. N.: İslâm‘da Aşk Tasavvuru-Hanbelîlik Örneği, Istanbul 2010, S. 120. 31 Gramlich, R.: Mugammad al- Ġazālīs Lehre von den Stufen zur Gottesliebe, Wiesbaden 1984, S. 631, 719. 32 Ibn Taymiyya: at-Tugfa, S. 409f; Die Anhänger von Cahm b. Safwān. Als Vertreter des Determinismus behauptete er, dass der Mensch keinen freien Willen hat. Er sprach Gott faktisch alle Attribute ab. 33 Ghazali: Das Elixier, S. 177. 34 Mâtürîdî, Ebû Mansur: Kitâbü’t-Tevhîd Tercümesi, Ankara 2002, S. 207. 35 Ghazali: Igyā, Bd. 4, S. 393; Gramlich (1984), S. 632. 36 Koran 5:54. 37 Koran 2:165. 38 Muslim, gadīt-, Nr. 44; In einem anderen ?adī? heißt es: Anas berichtete, dass der Prophet sagte: „Wer immer die (folgenden) drei Eigenschaften besitzt, findet Freude am Glauben: Wenn seine Liebe zu Allah und Seinem Gesandten stärker ist als seine Liebe zu allem anderen, wenn seine Liebe zu einem Menschen nur Allah gewidmet ist, und wenn er den Rückfall zum Unglauben (kufr) genauso verabscheut, wie er es verabscheut, ins Feuer geworfen zu werden.“ al-Buhārī, gadīt-, Nr. 15. 39 Ibn Qayyim: Iġāt-at al-lahfān min marāyid aš-šayt-ān, Bayrūt o. J. Bd. 2, S. 100. 40 Ibn Taymiyya: al-Istiqāma, tagqīq von Mugammad Rašād Sālim, al-Qāhira 1409, S. 439. 41 al-Gawšānī, Maryam bint Alī, Magabbat Allāh inda ahl as-sunna wa al-ğamā wa muhālifīhim wa ar-radd alayhim, al-Makka 2006, S. 72. 42 Koran 3:31; 9:24; al-Buhārī, gadīt- Nr. 15. 43 Ibn Qayyim: al-Ğawāb al-kāfī, S. 224. 44 Koran 2:165; 9:24; Muslim, gadīt-, Nr. 44. 45 Schimmel, A.: Mystische Dimensionen, S. 212; Elmalılı, M. H. Y.: Hak Dini Kur’an Dili, Istanbul 1992, Bd. 1, S. 472. 46 Koran 7:151; 11:90; 23:109; 19:96; 85:14. 47 Chebel, M.: Die Welt der Liebe im Islam, Eine Enzyklopädie, Wiesbaden 2003, S. 252. 48 Çubukcu (2011), S. 42. 49 Koran 6:12; 6:54. 50 Koran 48:29. 51 Koran 61:4. 52 Koran 5:54. 53 Koran 2:222; 9:108. 54 Koran 2:195; 3:134, 148; 5:13, 93. 55 Koran 3:146. 56 Koran 3:76; 9:4, 7. 57 Koran 3:159. 58 Koran 5:42; 49:9; 60:8. 59 Koran 3:134. 60 Koran 2:190. 61 Koran 5:64; 28:77. 62 Koran 28:76. 63 Koran 5:87; 7:55. 64 Koran 8:58; 22:38. 65 Koran 22:38.
120 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
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Koran 2:276; 4:107; 16:23; 22:38. Koran 4:107. Koran 2:276. Koran 3:57, 140; 42:40. Koran 4:107; 57:23. Koran 4:148. Koran 6:141; 7:31. Koran 4:36; 16:23. Koran 4:36; 31:18. Koran 3:32; 30:45. Ibn Taymiyya: at-Tugfa, S. 389; Khorchide (2012), S. 73 f. Koran 3:31. Koran 3:32. Koran 5:54. Koran 2:165. Koran 9:24. Koran 3:14. Koran 38:26. Koran 30:21. Koran 8:63. al-Muslim, gadī5 Nr. 54: „Ihr werdet nicht ins Paradies kommen, solange ihr nicht glaubt, und ihr werdet nicht glauben, solange ihr euch nicht einander liebt. Soll ich euch erzählen, wie ihr euch einander liebt? Verbreitet den Friedengruß unter euch.“ 87 Falaturi u. Tworuschka, S. 11. 88 Koran 41:34. 89 Koran 2:208.
,Heiliger Krieg‘ aus islamisch-koranischer Sicht von Ahmed Ginaidi
,Heiliger Krieg‘ aus islamisch-koranischer Sicht Ahmed Ginaidi
Zur Vergegenwärtigung, was das Abendland in weiten Teilen mit den Muslimen macht, kehre ich die Situation kurzerhand um. Man muss sich einmal vorstellen, dass die Medien in den islamischen Ländern behaupten würden, politisch motivierte Handlungen seien ausschließlich religiös motivierte, christliche Machenschaften, was würde man im christlichen Abendland dazu sagen? Kaum einer wird behaupten, dass jemand, der ein durch seine Religion motiviertes Verbrechen begeht, ein ,Christianist‘, analog zu der Bezeichnung ,Islamist‘, sei. Im Heiligen Buch der Muslime, dem Koran, heißt es: „Sagt: ,Wir glauben an Gott und [an das], was [als Offenbarung] zu uns, und was zu Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen [Israels] herabgesandt worden ist, und was Mose und Jesus und die Propheten von ihrem Herrn erhalten haben, ohne dass wir bei einem von ihnen [den anderen gegenüber] einen Unterschied machen. Ihm sind wir ergeben.“1 Jesus verkörpert für die Muslime die Liebe Gottes. Jesus ist als Jesus koranisch 27 Mal und als der Sohn Marias 19 Mal koranisch manifestiert. Er ist die einzige Offenbarung Gottes in Menschenform. Josef, der Mann Marias, existiert bei den Muslimen in der islamischen Theologie nicht. Muslime sind vor Gott verpflichtet, zwischen der Religion eines Menschen und seinem Verhalten zu unterscheiden. Die Vorstellung eines „heiligen“ Kriegs im Sinne von ,sacrum bellum‘– diese Wortbildung – gibt es im Islam nicht. Diesen Begriff gibt es nur im Alten Testament und zwar im Prophetenbuch Joel des Alten Testaments in Kapitel 4,9. Dort heißt es: „Rufet dies aus unter den Heiden! Bereitet euch zum heiligen Krieg! Bietet die Starken auf! Lasst herzukommen und hinaufziehen alle Kriegsleute!“ Doch so leicht darf man es sich nicht machen; denn das Phänomen, das von westlichen Orientalisten mit „heiligem Krieg“ falsch bezeichnet worden ist, gab es im Islam eben doch: religiös motivierte Kriegsführung gegen Heiden. Zur Lösung der damit verbundenen, sehr ernsten Frage nach der möglichen strukturellen Aggressivität und Gewaltbereitschaft des Islams könnte ich es mir auch durch Verlagerung des Problems auf die Ebene der Linguistik leicht machen, nämlich durch den Hinweis auf die Bedeutungsvielfalt des im Koran für „Kampf“ verwandten Wortes „Dschihad“.
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Doch was ist damit gewonnen, wenn ich beweisen kann, dass unter der Formel „dschihad fi-s-sabil Allah“ (Anstrengung auf dem Wege Gottes) auch – wie von den Sufis – das Bemühen um moralische Läuterung verstanden wird; dass heute als „großer Dschihad“ der Kampf gegen den eigenen inneren Schweinehund gilt, nicht gegen Heiden und sonstige Götzendiener. Denn diese Wahrheiten räumen nicht aus dem Weg, dass „Dschihad“ im Laufe der islamischen Geschichte auch, und zwar vorwiegend, als militärischer Kampf verstanden worden ist, und das auf koranischer Grundlage. Mit dieser Bedeutung ist „Dschihad“ im Mittelalter von manchen sogar als eine zusätzliche sechste Säule des Islam, nach den fünf kanonischen Grundpflichten, gesehen worden. Daraus kann für die Muslime eine Zwickmühle entstehen: Wer den Dschihad nur als Verteidigungskrieg oder als persönliche moralische Anstrengung interpretiert, leugnet sowohl die koranischen Aussagen als auch die orthodoxe, sunnitische Lehrentwicklung. Mit anderen Worten: Wenn sich ein zeitgenössischer Muslim gegen den Angriffskrieg zur Verbreitung des Islam ausspricht, ist er zwar friedlich, aber kein Muslim. Ist er andererseits ein Muslim, dann muss er auch die angeblich kriegslüsternen Verse des Korans mittragen: Folgende koranische Beispiele stehen nur im Zusammenhang mit historischen Ereignissen und zwar in der Phase nach der Auswanderung des Propheten aus Mekka nach Medina im Jahr 622, in der er mit seinen wenigen Anhängern um das eigene Überleben gegen die Mekkaner kämpfen musste. Im Koran heißt es: „tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf“2 oder „O Prophet, kämpfe gegen die Ungläubigen und die Heuchler und sei hart gegen sie!“3 […] „Wenn ihr auf die stoßt, die ungläubig sind, so haut ihnen auf den Nacken.“4 Diese Methode, einzelne Koran-Verse ohne Rücksicht auf ihren Zusammenhang und ihre Offenbarungsgeschichte herauszulösen, um so eine islamische Pflicht zum Angriffskrieg zu beweisen, mutet so an, als würde man aus dem Jesus-Zitat „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert“5 die Kriegslüsternheit des Christentums herleiten. Wie aber verhält es sich in Wirklichkeit mit dem islamischen Kriegsvölkerrecht auf rein koranischer Basis? Den ganzen Koran durchziehen Verse, aus denen sich eine Friedenspflicht ergibt, die nur Verteidigungskriege zulässt. Die früheste dieser Offenbarungen lautet: „Die Erlaubnis (sich zu verteidigen) ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah – und Gott hat fürwahr die Macht, ihnen zu helfen.“6 Dem folgte die noch grundsätzlichere Normierung: „Und kämpft auf dem Weg Gottes gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch überschreitet nicht das Maß.“7 Erst im Anschluss daran fährt der Koran fort: „Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo immer sie euch vertrieben haben; denn die Verführung zum Unglauben ist schlimmer als das Töten.“8 Das Verbot des Angriffskriegs wird in einer späteren Offenbarung erneut bestätigt und verfestigt: „Und wenn Gott es gewollt hätte, hätte Er ihnen Macht über euch geben können; dann hätten sie sicherlich gegen euch gekämpft. Darum, wenn sie sich von euch fernhalten und nicht gegen euch kämpfen, sondern euch Frieden bieten; dann hat Gott euch keinen Grund gegen sie gegeben.“9 Um das Maß vollzumachen, sei schließlich auch noch der 8. Vers der 60. Sure im Wortlaut zitiert: „Gott verbietet es euch nicht, gegen jene, die
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euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus den Heimstätten vertrieben haben, gütig zu sein.“10 Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Friedenspflicht und grundsätzlichen Missbilligung des Angriffskriegs verstehen sich die oben erwähnten kriegerischen Verse ganz anders: Sie beziehen sich auf das Verhalten in einem bereits in Gang befindlichen Krieg, d. h. nicht auf das Recht zum Krieg (ius ad bellum), sondern auf das Recht im Kriege (ius in bello). Die Vorstellung, dass der Koran widersprüchliche Handlungsanweisungen für die Kriegsfrage geben könnte, ist also abwegig. Abwegig ist auch die Vorstellung, dass der Koran die Muslime dazu auffordern würde, sozusagen ständig mit dem Messer zwischen den Zähnen mitten im Frieden blutrünstig auf Heidenjagd herumzuschleichen. Abwegig aber ist auch die Vorstellung, dass der Koran, der die Individualbekehrung zum Islam laut der Aussage: „In der Religion gibt es keinen Zwang“11 mit Gewalt ablehnt, die Massenbekehrung mittels Krieg anstrebe. Angesichts dieser eindeutigen Aussagen des Korans erübrigt es sich, sich mit Irrungen und Wirrungen der islamischen Rechtswissenschaft des Mittelalters auf diesem Gebiet herumzuschlagen. Wo der Koran so klar gesprochen hat, ist selbst für auf Hadithe aufbauende Argumente kein Platz. Im Übrigen hat der Krieg im Zeitalter der ABC-Waffen und der Hochtechnologie einen Charakter angenommen, der alle früheren theoretischen Erörterungen dazu – sei es durch katholische Scholastiker (Lehre vom gerechten Krieg / justum bellum), sei es durch islamische Rechtsgelehrte – im Zweifel obsolet gemacht hat. Niemand wird im Übrigen leugnen, dass es sowohl in der islamischen Geschichte als auch auf der Gegenseite Angriffskriege mit viel Barbarei und Welteroberungsgelüsten gegeben hat, obwohl es nicht zutrifft, dass die riesigen Anfangserfolge der islamischen Expansion ausschließlich oder in erster Linie ,Feuer und Schwert‘ zu verdanken sind. Der Prophet des Islam allerdings hat seine Kampagnen bzw. Razzien, auch wenn sie im taktischen Sinne offensiv waren, korangerecht aus einer Situation der strategischen Defensive heraus geführt. Die übrigen Elemente des islamischen Verteidigungsrechts sind schnell dargestellt: – Es ist eine Verpflichtung der muslimischen Gemeinschaft, sich zum Zwecke der Abschreckung von einem Angriff in Friedenszeiten ausreichend gerüstet zu halten. Diese Grundhaltung wird im Koran bestätigt: „Und rüstet für sie, soviel ihr an Kriegsmacht und Schlachtrossen (?) [aufzubringen] vermögt, um damit Gottes und eure Feinde einzuschüchtern“12, – selbst wenn befreundete Staaten in Krieg geraten, ist doch die Vertragstreue zu wahren, selbst gegenüber nichtmuslimischen Staaten13; dies war eine geradezu revolutionäre Neuerung des Korans. – Muslime sind wehrpflichtig und zur Selbstverteidigung verpflichtet14; – Krieg zwischen Muslimen ist absolut untersagt. Im Koran heißt es: „Kein Gläubiger darf einen [anderen] Gläubigen töten, es sei denn [er tötet ihn] aus Versehen. In diesem Fall ist [als Sühne] ein gläubiger Sklave in Freiheit zu setzen und [außerdem] Wehrgeld [zu bezahlen], das seinen Angehörigen auszuhändigen ist – es sei denn, sie zeigen sich mildtätig.“15
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– zum Verteidigungskrieg im Sinne des „Dschihad“ kann nur vom Amir al-Mu’minin, d. h. dem jeweiligen Kalifen, aufgerufen werden; – im Krieg ist die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren16; – Nichtkämpfende sind zu schonen; destruktive Wirtschaftskriegsführung (z. B. Vernichtung von Palmenhainen als Existenzgrundlage) ist zu unterlassen; – auf den Friedenswunsch des Gegners ist einzugehen: „Und wenn sie [d. h. die Feinde] sich dem Frieden zuneigen, dann neige [auch du] dich ihm zu [und lass vom Kampf ab]! Und vertrau auf Gott! Er ist der, der [alles] hört und weiß.“17 – dem Märtyrer ist das Paradies verheißen.18 Bis jetzt haben wir es nur mit Krieg zu tun aus islamischer Sicht. Wie sieht es aber mit der Grundhaltung dieser Glaubenslehre gegenüber menschlichem Leben aus? Ja, wie ist allgemein das ethische Fundament bezüglich des menschlichen Lebens überhaupt? Folgende Koranstellen sollen uns ein exemplarisches Bild von diesem ethischen Fundament zeigen.
Leben Was das Leben anbetrifft, so steht im Koran: „Deshalb haben wir den Kindern Israels verordnet, dass, wenn jemand einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen hätte, oder ohne dass ein Unheil im Lande geschehen wäre, es sein soll, als hätte der die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, es so sein soll, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.“19 Der darin erwähnte Bezug auf das Alte Testament befi ndet sich im Mischna-Traktat Sanhedrin (M. Sanh. IV,5). Die Mischna ist die Grundlage des Talmud (vollendet in zwei Rezensionen, dem Jerusalemer und dem Babylonischen Talmud im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr.; insgesamt 63 Traktate). Die Mischna ist eine Sammlung von rabbinischen Lehrdisputationen, etwa um 200 n. Chr. kodifiziert. Weitere Ergänzungen durch die folgenden Rabbinergenerationen, die Gemara, führen letztendlich zum Talmud. Dort heißt es: „Deshalb ist nur ein einziger Mensch [d. i. Adam] erschaffen worden, um dich zu lehren, dass jedem, der eine Person vernichtet, die Schrift [d. i. Gott] es so anrechnet, als hätte er die ganze Welt vernichtet, und jedem, der eine Person erhält, die Schrift es ihm anrechnet, als hätte er die ganze Welt erhalten.“
Gewissens- und Religionsfreiheit Zu diesen Themen finden sich folgende Koranstellen: „Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion.‘“20 Über Asyl: „Und wenn einer der Götzendiener bei dir Schutz sucht, dann gewähre ihm Schutz.“21 Über Toleranz in einem islamischen Staat: „Und wenn Gott gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Er wollte euch aber in
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alledem, was Er euch gegeben hat, auf die Probe stellen. Darum sollt ihr um die guten Dinge wetteifern.“22 Aus diesem Pluralismus folgt dann die Verpflichtung zur religiösen Toleranz: Im Koran heißt es: „Und sprich: ,Es ist die Wahrheit von eurem Herrn.‘ Darum lass den gläubig sein, der will, und den ungläubig sein, der will.“23 Auch Muhammad wurde vor aggressiver Missionierung zur Zeit seiner Sendung gewarnt. Im Koran heißt es: „Und sprich zu jenen, denen die Schrift gegeben wurde, und zu den Unbelehrbaren: ,Werdet ihr Gläubige?‘ Und wenn sie gläubig werden, sind sie geleitet; kehren sie sich jedoch ab, so obliegt dir nur die Verkündung.“24 Kernstück dieser aktiven Toleranz ist in einer weiteren Kern der Religionsfreiheit: „Es gibt keinen Zwang im Glauben.“ Private Äußerungen Mohammeds über den Krieg und die Gewalt lassen folgendes Bild entstehen: „Seid menschlich und gerecht untereinander und anderen gegenüber! Das Leben und das Vermögen des Menschen sollen euch heilig und unverletzlich sein. Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes; verflucht, wer es zerstört.“25
Fundamentalismus Im Folgenden möchte ich auf die Genese des islamischen Fundamentalismus in theologischer und historischer Hinsicht eingehen. Der Fundamentalismus im Islam mit seinen endogenen und exogenen Faktoren ist eine Folge der islamischen Ausbreitung.
Endogene Faktoren Betrachtet man die endogenen Ursachen, so zählt als erstes, „dass der Hang zur fundamentalistischen Haltung im Islam aus dem ,Totalitätsanspruch‘ des Islam selbst abzuleiten ist. Dieser Totalitätsanspruch hat zur Folge, dass die islamische Religion die gesamten individuellen und gesellschaft lichen Lebensbereiche erfasst und sich damit als ein ,integrales System‘ und als eine ,allumfassende Lebensform‘ versteht. Es wird davon ausgegangen, dass der Islam eine natürliche ,göttliche Ordnung‘ darstellt und dass demzufolge der islamische Staat die Verkörperung einer solchen Ordnung schlechthin ist“26. Dies ist das Ziel der fundamentalistischen Bewegungen innerhalb des Islam. Die Realisierung der gesellschaft lichen Form der medinensischen Zeit ist der endogene Motor des islamischen Fundamentalismus: „Diese Ordnung existierte aus fundamentalistischer Sicht in der Anfangszeit des Islam, wobei in der Zeit des Propheten als weltlichem und religiösem Führer die Handlungen der Mitglieder der Gemeinde nach den von ihm festgelegten Prinzipien überschaubar und kontrollierbar blieben. Aber auch die vier rechtgeleiteten Kalifen verkörperten diese Einheit der weltlichen und religiösen Führung.“27 Die aktuelle Meinung über den islamischen Fundamentalismus als ein Prozess der Identitätsfindung in der postkolonialen Zeit stellt nur eine weitere Facette in seiner Vielfältigkeit dar. Um diese Problematik konkretisieren zu können, muss man auf seine Entstehungsge-
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schichte und die theologischen Umwälzungen eingehen. Es hat mit der Rückkehr zu den Ursprüngen und Wurzeln der islamischen Glaubenslehre angefangen und dieser Prozess stellt eine Analogie zu den Offenbarungsreligionen dar. „Die christliche Reformation des 16. und 17. Jahrhunderts ist nur ein Beispiel für diese Erscheinung.“28 Dieses Zitat sollte nicht ein Beweis für eine Parallele zur Reformationsbewegung im Christentum aufzeigen, sondern vielmehr geistige Strömungen, die den Islam gegenüber der vorherrschenden verderbten Struktur der Religion wieder in seine ursprüngliche reine Form bringen wollten. Diese religiösen Bestrebungen und Bewegungen werden gewöhnlich unter dem Sammelbegriff Fundamentalismus zusammengefasst. Während im Christentum Fundamentalismus sich vor allem als ausgeprägte Schrift frömmigkeit und in der Zurückweisung der Bibelkritik zeigt, so geht der islamische Begriff des Fundamentalismus über dies hinaus, indem er der Authentizität und der Einheit des Islam eine große Bedeutung beimisst und von außen kommenden Einflüssen Widerstand leistet. Außerdem wird eine theologische Hierarchie unter den Menschen abgelehnt.
Exogene Faktoren Die Hauptmotivationen dieses islamischen Fundamentalismus verdankt der Islam den Mystikern, die Gott in seiner Schöpfung innewohnend ansehen. Diese „glauben an die Möglichkeit, durch mystische Erfahrung unmittelbar mit ihm in Verbindung treten können.“29 Diese Abweichung von der eigentlichen Glaubenslehre durch Einbezug von Mystikern als Heilige, sind die ersten exogenen Faktoren, die den Fundamentalisten eine zusätzliche Schubkraft verliehen. Dadurch wurden die ersten Bewegungen dazu gezwungen, die reine Lehre des Islam vor schleichenden mystischen Elementen zu bewahren. Das Spannungsfeld besteht „zwischen jenen, die das Anderssein Gottes und seiner Existenz getrennt von der Schöpfung betonen und jenen, die sagen, die Schöpfung sei Teil Gottes selbst und Gott manifestiere sich überall“30. Durch die Sichtweise derjenigen, die Gott von seiner Schöpfung getrennt sehen, wird eine Notwendigkeit für die Offenbarung Gottes erzeugt, was tatsächlich durch die Sendung des Propheten mit der Offenbarung des Korans geschehen ist. Den anderen Mystikern mit ihrem Mystizismus gebührt die Heiligenverehrung. „Die Gründer und bedeutenden Scheichs der meisten Orden werden von vielen Muslimen als heilige Männer (arab. wali) betrachtet, d. h. man glaubt, Gott habe ihnen wegen ihrer Frömmigkeit die Macht zum Wunderwirken gegeben, um sie auf diese Weise zu ehren. Weiterhin wird geglaubt, dass Gläubige jene Heiligen darum bitten können, Mittler bei Gott zu sein. Dies geht einher mit bestimmten Ritualen wie dem Besuch ihrer Grabstätten, dem Abbrennen von Kerzen und anderen frommen Handlungen.“31 Diese Tatsache wird zu einer menschlichen Hierarchie innerhalb des Islam führen, was man zum Teil bis heute noch bei den Sufisten mit ihren Orden erkennen kann. Diese Ein-
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stellung widerspricht den islamischen Grundsätzen, die Verehrung gehört nur Gott allein. Wie es bei der Ausbreitung des Christentums auch der Fall war, wurde die neue Lehre mit örtlich vorherrschenden kulturellen Gebräuchen und Überlieferungen übernommen. Dieser Mechanismus hat sich ebenfalls im Islam breitgemacht: „Doch abgesehen von diesen gebietsmäßigen Unterschieden gibt es auch lehrspezifische: Es gibt Sunniten und Schiiten, bei den Sunniten die vier verschiedenen Rechtsschulen (arab. madhahib) und innerhalb der mystischen Richtung die verschiedenen Orden. Die Fundamentalisten streben danach, die Unterschiede und Teilungen zu überwinden und alle Muslime in einem Glauben zu vereinen, in einer Lehre und Glaubensausübung. Dies aber kann nur geschehen, wenn man an der authentischen Überlieferung des Islams (arab. sunna) festhält und fremde Einflüsse (arab. Bid‘a) zurückweist.“32 Eine wichtige Lehre für die Mystikerkreise ist die der Einheit des Seins, die Ibn al-‘Arabi (gest. 1240) formuliert hat. Sie beinhaltet, „dass außer Gott nichts bestehe und dass demzufolge das ganze All – den Menschen eingeschlossen – wesensgleich mit Gott sei. Eine solche Auffassung konnte zu polytheistischen Vorstellungen führen und stand natürlich dem Konzept der Fundamentalisten von der göttlichen Transzendenz ganz entgegen.“33 Nach der Meinung der Fundamentalisten würde das dazu führen, dass derjenige, der das Endziel des mystischen Weges erreicht hat und mit Gott eins geworden war, sich nicht mehr daran gebunden fühlt, dem religiösen Gesetz zu folgen, „das nur für normale Sterbliche verbindlich ist“.34 Ein weiterer Dorn im Auge der Fundamentalisten sind sowohl die Heiligenverehrung als auch die Rituale und Praktiken der mystischen Orden, in denen man einen Widerspruch zur Sunna sah. „Das schloss auf der einen Seite ekstatische Rituale ein, wie etwa Tanzen in Verbindung mit Musik – was nach der Auffassung vieler Muslime verboten ist – auf der anderen Seite Praktiken wie das Verschlingen lebender Schlangen und brennender Kohle sowie das Durchbohren des Körpers mit Messern und anderen scharfen Gegenständen.“35 Diesen Mechanismus, bzw. den Willen, an etwas Fassbares zu glauben, hat es unmittelbar nach dem Ableben des Propheten Mohammed im Jahr 632 gegeben. Man sah in seinem Ableben den Tod Gottes und damit wäre die islamische Glaubenslehre beendet gewesen, wenn der erste Kalif sich nicht dagegen eingesetzt hätte. Er bekämpfte diejenigen, die geglaubt haben, dass mit dem Tod des Propheten Gott gestorben sei. Man könnte jeden, der dieser Glaubenslehre angehört, als Fundamentalisten bezeichnen. In Wahrheit aber geht es um die Bewahrung des Wesens der islamischen Botschaft Gottes. Dass jede individuelle persönliche Beziehung zu Gott im Islam nicht nur erwünscht ist, sondern auch eine Bedingung darstellt, bildet einen wichtigen Teil der Glaubensfreiheit eingebettet im Islam. Die Grenze ist erst da zu sehen, beispielsweise für einen Naturwissenschaft ler, wo er die göttliche Ordnung in jedem materiellen Gegenstand erkennt, aber er darf darin nicht Gott selbst sehen. Die Gefahr der Beigesellung, ,schirk‘, wäre dann mit der Gleichsetzung zwischen dem Gegenstand und Gott vollzogen. Das Hauptziel der Fundamentalisten dieser Zeit lag in der Bewahrung der islamischen Struktur von der Offenbarung Gottes. Sie waren gezwungen, erkennbare Grenzen zwischen dem Kern der islamischen Offenbarung im Koran und der Sunna als prophetische
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Ergänzung und der Auswüchse der menschlichen Freiheit innerhalb dieser Religion in Form von Mystizismus zu ziehen.
Der politische Fundamentalismus Der Fundamentalismus will den Wandel im Sinne einer Gestaltung der Gesellschaft nach dem Grundprinzip der Sunna des Propheten. An diesem Punkt beginnt der Unterschied zum politischen Fundamentalismus. „Der Ruf nach der Anwendung der wahren islamischen Vorschriften ausschließlich auf der Grundlage des Korans und der Sunna übt Anziehungskraft auf diejenigen aus, die die bestehenden politischen und sozioökonomischen Verhältnisse missbilligen und die bestehende Ordnung zum Besseren hin verändern wollen.“36 Dieser politische Fundamentalismus gerade in der postkolonialen Situation der islamischen Länder stellt ein zweischneidiges Schwert dar. Auf der einen Seite beinhaltet dies einen Missbrauch der Religion für eigene politische Machtziele sowie das Aufhalten einer modernen gesellschaft lichen Entwicklung, was nicht im islamischen Sinne ist, als auch eine Harmonisierung zwischen dem Individuum und der gesamten Gesellschaft nach dem islamischen Motto: Der Staatspräsident, in dessen Land Mundraub begangen werden muss, ist abzusetzen. Zusammenfassend kann man den islamischen Fundamentalismus in drei Hauptkategorien klassifizieren: a) in einen endogenen theologischen Fundamentalismus, der die Reinheit der Glaubenslehre, die Ausübung von qiyas – Analogieschluss bzw. Gewohnheitsrecht, dessen ergänzende Quellen und Interpolationen und Anwendungen auf aktuelle gesellschaft liche Situationen realisiert sehen will. b) in einen soziokulturellen Fundamentalismus, der die Bewahrung der islamischen Identität in sozialer und kultureller Hinsicht gewährleisten soll, wobei hier ein großes Maß an Freiheit in ethnokultureller Hinsicht garantiert werden soll. Diese Freiheit findet ihre Grenzen da, wo das Islamische in Mitleidenschaft gezogen wird. c) in einen politischen Fundamentalismus, der die Einheit von Religion und Staat herbeiführen will, um den Boden für die Punkte a) und b) vorzubereiten.
Beistand für befreundete Staaten „Diejenigen, die glauben und ausgewandert sind und mit ihrem Vermögen und in eigener Person um Gottes willen Krieg geführt (w. sich abgemüht) haben, und diejenigen, die (ihnen) Aufnahme gewährt und Beistand geleistet haben, die sind untereinander Freunde. Zu denen aber, die glauben und nicht ausgewandert sind, steht ihr in keinem Freundschaftsverhältnis, solange sie nicht (ebenfalls) ausgewandert sind. Doch wenn sie euch im Hinblick auf die Religion (des Islam, zu der sie sich ebenso bekennen wie ihr)
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um Beistand bitten, seid ihr verpflichtet, Beistand zu leisten, es sei denn (sie bitten euch um Hilfe) gegen Leute, mit denen ihr in einem Vertragsverhältnis steht. Gott durchschaut wohl, was ihr tut.“37
Wehrpflicht „Und kämpft um Gottes willen gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen! Aber begeht keine Übertretung [indem ihr den Kampf auf unrechtmäßige Weise führt]! Gott liebt die nicht, die Übertretungen begehen.“38
Pflicht zur Selbstverteidigung „Und kämpft gegen sie, bis niemand [mehr] versucht, [Gläubige zum Abfall vom Islam] zu verführen, und bis nur noch Gott verehrt wird! Wenn sie jedoch [mit ihrem gottlosen Treiben] aufhören [und sich bekehren], darf es keine Übertretung geben [d. h. dann sind alle weiteren Übergriffe untersagt], es sei denn gegen die Frevler.“39 „Euch ist vorgeschrieben, [gegen die Ungläubigen] zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist. Aber vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch ist, und vielleicht liebt ihr etwas, während es schlecht für euch ist. Gott weiß Bescheid, ihr aber nicht.“40 „Diejenigen Gläubigen, die daheim bleiben [statt in den Krieg zu ziehen] – abgesehen von denen, die eine [körperliche?] Schädigung [als Entschuldigungsgrund vorzuweisen] haben –, sind nicht denen gleich[zusetzen], die mit ihrem Vermögen und mit ihrer eigenen Person um Gottes willen Krieg führen [w. sich abmühen]. Gott hat diejenigen, die mit ihrem Vermögen und mit ihrer eigenen Person Krieg führen, gegenüber denjenigen, die daheim bleiben, um eine Stufe höher bewertet [w. ausgezeichnet]. Aber einem jeden [Gläubigen, ob er daheim bleibt oder Krieg führt] hat Gott das [Aller]beste [d. h. das Paradies] versprochen. Doch hat Gott die Kriegführenden gegenüber denen, die daheim bleiben, mit gewaltigem Lohn ausgezeichnet.“41 „Denjenigen, die [gegen die Ungläubigen] kämpfen, ist die Erlaubnis [zum Kämpfen] erteilt worden, weil ihnen [vorher] Unrecht geschehen ist. – Gott hat die Macht, ihnen zu helfen.“42
Weiterführende Literatur des Autors: Ginaidi, Ahmed: Jesus Christus und Maria aus koranisch-islamischer Perspektive. Grundlagen eines interreligiösen Dialogs, Stuttgart 2002. –: Voraussetzungen für einen interreligiösen Dialog zwischen Christen und Muslimen. Islamische Perspektiven im Blick, Stuttgart 2002.
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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
Koran 2:137. Koran 9:5. Koran 9:73. Koran 47:4. Mt 10,34. Koran 22:39. Koran 2:190. Koran 2:191. Koran 4:90. Koran 60:8. Koran 2:256. Koran 8:60. Koran 8:72. Koran 2:190, 193, 216; 4:95 f.; 22:39. Koran 4:92. Koran 2:193 f.; 22:60. Koran 8:61. Koran 4:73. Koran 5:32. Koran 109:6. Koran 9:6. Koran 5:48. Koran 18:29. Koran 3:20. Koran 2:256. Meyer, T.: Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Hamburg 1989, S. 85. Ebd., S. 85. Ende, W. u. U. Steinbach (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München 1991, S. 91. Ebd., S. 92. Ebd., S. 91. Ebd., S. 94. Ebd., S. 92. Ebd., S. 94. Ebd., S. 94. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95. Koran 8:72. Koran 2:190. Koran 2:193. Koran 2:216. Koran 4:95. Koran 22:39.
Dimensionen der fundamentalistischen Einstellung von Hermann-Josef Scheidgen
Worum geht es? Dimensionen der fundamentalistischen Hermann-JosefEinstellung Scheidgen
Fundamentalistische Strömungen gibt es nicht nur in den Religionen, sondern auch in atheistischen Weltanschauungen, in der Politik, Psychologie, Ästhetik sowie in der Philosophie und wissenschaft liche Richtungen unterschiedlicher Provenienz. Die Fundamentalismusformen unterscheiden sich je nach Formation der jeweiligen kulturellen Zugehörigkeiten und Identitätsvorstellungen. Die Geschichte der Menschheit hat häufig gezeigt, dass Dualismen gewaltgeladen sind: Soll die von der Heterogenität gekennzeichnete Welt traditionalisiert werden, wie dies z. B. im Islamismus erfolgt, so muss die Moderne bis zur Unkenntlichkeit verändert werden. Im umgekehrten Fall muss der Traditionalismus bis zur Selbstaufgabe gezwungen werden. Im Folgenden verfolge ich das Ziel, unterschiedliche Perspektiven des Fundamentalismus in gebotener Kürze herauszuarbeiten. Damit wird die Frage zu beantworten versucht, warum Fundamentalismus nicht ausschließlich ein religiöses Phänomen darstellt, sondern eine anthropologische Verankerung besitzt, die es überall beheimaten lässt. Dabei werde ich in Anlehnung an das Theorem von Hamid Reza Yousefi zwischen einem negativen und einem positiven Fundamentalismus unterscheiden.
Fundamentalismus in der Religion Religionsgeschichtlich wurde der Begriff Fundamentalismus erstmals um 1920 für die Baptisten in den USA benutzt und war anfangs durchaus eine Selbstbezeichnung. Hiermit verbunden war das Verharren auf die Verbalinspiration im Neuen und im Alten Testament und die Verwerfung der Evolutionslehre Charles Darwins. Es ist auffallend, dass der hieraus entstandene Kreationismus in den letzten Jahren über den Kreis der Evangelikalen hinaus Einfluss genommen hat. Der religiöse Fundamentalismus hat häufig eine politische Stoßrichtung und ist eine Reaktion auf gesellschaftspolitische Prozesse. Der positive Fundamentalismus in der Religion ist nach Yousefi darauf ausgerichtet, den Ursprung der jeweiligen Religion mit ihren Glaubensgrundsätzen zu verstehen und zu den Wurzeln zurückzukehren. Der negative Fundamentalismus in den Religionen propagiert hingegen eine naiv-dualistische Weltanschauung und artet häufig in eine gewaltorientierte
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Ideologie aus. Ihm zu eigen ist ein exklusivistischer Absolutheitsanspruch, der Wahrheit in den anderen Religionen ausschließt. Er erhebt nicht selten territoriale Gebiets- und Machtansprüche, womit die eigene Religion letzten Endes instrumentalisiert wird. Ein Beispiel hierfür sind die orthodoxen Juden, die aus dem Alten Testament Gebietsansprüche für sich ableiten und sich an der Westbank ansiedeln. Bei den Buchreligionen, dem Judentum, Christentum und Islam ist für viele Religionswissenschaft ler die Gefahr eines negativen Fundamentalismus durch einen exklusivistischen Offenbarungsanspruch gegeben. Auch im Hinduismus können religiöse und politische Anschauungen, wie z. B. in Teilen Indiens, derart zusammenfallen, dass sich ein zu Gewalt neigender negativer Fundamentalismus ausbildet. Die Geschichte des Buddhismus zeigt, dass er sich teilweise, so z. B. in Japan, entgegen seiner eigenen Maximen mit Gewalt ausgebreitet hat. Im afrikanischen Animismus, der für den deutsch-niederländischen Philosophen Heinz Kimmerle die sechste Weltreligion bildet, hat es solche fundamentalistischen Strömungen hingegen nie gegeben. Wenn sich viele Religionswissenschaft ler oder Theologen gegen eine solche Anerkennung sträuben, so liegt dies darin begründet, dass hier die Vorstellungen von Hexerei oder Besessenheit noch weit verbreitet sind. Ein aktueller Fall ist die Tötung eines Albinos in Afrika, dessen Körper man zerteilte, um damit einen Zauberkult auszuüben. In Absetzung von der katholischen Kirche hat Martin Luther drei Prinzipien für die protestantische Konfession festgestellt: ,sola fide‘, ,sola gratia‘, ,sola scriptura‘: alleine der Glaube, alleine die Gnade, alleine die Schrift. Das diese Grundsäulen die Bedingungen der Möglichkeit für eine fundamentalistische Glaubensauffassung bilden können, ist z. B. die Theologie Karl Barths, dessen Engagement für die Bekennende Kirche und der damit verbundene Widerstand gegen den Nationalsozialismus nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Barth unterscheidet jedoch zwischen Offenbarung und Religion. Sein Offenbarungsbegriff ist stark gebunden an seinen Begriff der Gnade. Zu glauben ist ein Akt der göttlichen Gnade. Religionen sind bei ihm hingegen negativ konnotiert. Ein interreligiöser Dialog ist somit aus der Perspektive dieser Theologie nicht möglich. Dem Religionswissenschaft ler Gustav Mensching, der ursprünglich Evangelische Theologie in Marburg studiert hatte, war dieser theologische Ansatz Barths und seiner Schüler zu eng und er wechselte daher zur Philosophischen Fakultät. In der katholischen Kirche gibt es ebenso fundamentalistische Gruppierungen. Am bekanntesten ist die Piusbruderschaft, die sich auf den letzten heiliggesprochenen Papst Pius X. bezieht, der mit der Enzyklika Pascendi dominici gregis (1907) und seinem Dekret Lamentabili (1907) gegen den sogenannten Modernismus vorging. Mit seiner Einführung des Anitmodernismuseides, der bis zum Zweiten Vatikanum seine Gültigkeit hatte, mussten katholische Priester den modernen Wissenschaften, so z. B. der historisch-kritischen Methode, abschwören. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils war es insbesondere der französische Erzbischof Marcel Lefevbre, der dessen Beschlüsse nicht umsetzen wollte. Insbesondere sprach er sich gegen die Liturgiereform mit der Abschaff ung der Tridentinischen Messe und die Religionsfreiheit aus. Hierin sah er eine Nichtbeachtung des Beschlusses des Konzils von Florenz aus dem Jahre 1442, das im Rekurs auf die
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Kirchenväter den Grundsatz verabschiedet hatte: ,Außerhalb der [katholischen] Kirche kein Heil‘. Wenn man im deutschen Volksmund sagt, in jedes gute katholische Haus gehört ein Katechismus und in jedes gute evangelische Haus gehört eine Bibel, so zielt diese Weisheit darauf ab, welche zentrale Rolle das Alte und das Neue Testament in der protestantischen Theologie hat. Nicht nur bei den protestantischen Freikirchen, sondern auch in den beiden großen protestantischen Konfessionen, den Lutheranern und den Calvinisten, war im 19. Jahrhundert der Glaube an die Verbalinspiration der Heiligen Schriften verbreitet. Den Gläubigen war vorgegeben, an die Inspiration eines jeden Wortes der Bibel durch den Heiligen Geist zu glauben. Man verwickelte sich daher in Widersprüche, da es zwischen den einzelnen Evangelien und auch innerhalb der einzelnen zahlreiche Widersprüche gibt. Eine besondere Form des protestantischen Fundamentalismus ist der Pietismus, der eine rigoristische Ethik vertritt. Ähnlich wie bei vielen Freikirchen sind hier der Genuss von Alkohol, die Teilnahme an geselligen Veranstaltungen, insbesondere an Tanzveranstaltungen, verboten. Darüber hinaus ist es Frauen verboten, aufreizende Kleider zu tragen. Manche Religionssoziologen sehen hier bereits die Kriterien für eine Sektenbildung gegeben. Jenseits dieser und ähnlicher Auseinandersetzungsformen mit dem Phänomen des Fundamentalismus innerhalb der einzelnen Religionen, ist festzuhalten, dass die positive Ausrichtung des Fundamentalismus für den Erhalt der Religionen und unterschiedlichen Lehrmeinungen von Bedeutung ist, weil es stets darum geht, religiöse Inhalte, also das Fundament der Religionen, immer erneut zu verstehen und zu interpretieren, was in der Regel faktisch geschieht, während eine negative Praxis des Fundamentalismus in der Religion dazu verleitet, sich selbst im Besitz der Wahrheit zu betrachten, welche die faktische Falschheit aller anderen Religionen zur Folge hat. Solche gegenseitige Positionen, die stets einer Belehrungskultur immanent sind, dokumentieren bspw. eine Reihe von christlichislamischen Dialogen seit der ersten Koranübersetzung oder christlich-jüdische Gespräche, in denen sie sich gegenseitig aufeinander zurückführen lassen. In diesem Selbstwahrnehmen und dieser Religionspraxis ist eine praktische Gewalt verankert, die jeder Form der Verständigung im Weg steht.
Fundamentalismus in der Philosophie Prinzipiell dürften philosophische Entwürfe, die keine geschlossenen Systeme darstellen, wie die Reflexionen der Vorsokratiker, die Philosophien Sören Kierkegaards, Friedrich Nietzsches oder Max Schelers, weniger empfänglich sein für fundamentalistische Tendenzen wie die geschlossenen Systeme Gottfried Wilhelm Leibniz’, Georg Wilhelm Friedrich Hegels, Friedrich Schleiermachers oder Martin Heideggers. Die oft mals nur scheinbar tolerante Epoche der Aufk lärung, die mittels der Vernunft die Autonomie des Individuums begründen will, bringt verschiedene Formen des Fundamentalismus mit sich. Hier wird auf der Grundlage einer fundamentalistischen Vernunft versucht, die Dogmatik aller Religionen aufzuheben. Diese Dialektik der Vernunft konnte schließlich
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Auschwitz nicht verhindern. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in eindrucksvoller Weise darauf hingewiesen. Ein Beispiel für den Fundamentalismus in der Philosophie sind auch die in sich geschlossenen Systeme der Philosophien des deutschen Idealismus, der mit seinem Hauptvertreter Hegel vorgibt, alleine mit seinen vorgegebenen Kategorien alles erklären zu können. In der Findung zu sich selbst durchschreitet der Weltgeist die unterschiedlichen Kulturen, wobei Hegel alle außereuropäischen Kulturen pejorativ zur Darstellung bringt. Erst mit der griechischen Geschichte ist er im Jünglingsalter, in der römischen im Mannesalter und im christlichen im Weisenalter angelangt. Wie wir heute wissen, sind wichtige Quellen, auf die sich Hegel beruft, Fälschungen von Missionaren gewesen. André Glucksmann hat eindrucksvoll darauf verwiesen, dass bevor ein totalitäres System entsteht, bereits das Totale gedacht werden muss. Auch die deutsche kritische Philosophie am Ausgang der Epoche der Aufk lärung ist nicht frei von Fundamentalismen. So muss sich Kant z. B. die Frage stellen lassen, wie er rechtfertigen kann, immer die Wahrheit zu sagen, wenn dadurch z. B. ein Menschenleben gefährdet wird. Bei Kant ist zu hinterfragen, wie der christliche Gott, den er in der ,Kritik der reinen Vernunft‘ für nicht erkennbar hält, in der ,Kritik der praktischen Vernunft‘ schließlich als Postulat durch die Hintertür wieder hereingeholt wird. Ist diese Position nicht mit Rücksicht auf den preußischen Staat erfolgt, der einen agnostischen Professor nicht als Beamten akzeptiert hätte? In der Wissenschaftstheorie, die als ein Teilgebiet der Philosophie angesehen werden kann, bietet Karl Popper eine Möglichkeit, Fundamentalismen zu entlarven. Aussagen müssen prinzipiell falsifizierbar sein, sonst bilden sie eine Ideologie, da deren Prinzipien nicht überprüfbar sind. Wie diese Beispiele deutlich machen, ist festzustellen, dass eine philosophische Position erst dann eine negativ-fundamentalistische Dimension bekommt, wenn sie nicht für eine streitbare These, sondern für eine Erkenntnis gehalten wird, die stets mit einem Wahrheits- und Absolutheitsanspruch verbunden ist. Das Studium der Wissenschaft s- und Philosophiehistoriographie dokumentiert, dass solche Systeme usurpatorisch verfahren und stufentheoretisch vorgehen.
Fundamentalismus in der Erziehungswissenschaft In der Geschichte gab es immer wieder Erziehungskonzepte, denen es nicht um die Mündigkeit des Schülers ging. Der freie Wille wurde hier ausgeschaltet. Beispiele hierfür sind die Jesuitenschulen oder die Lateinschule des Philipp Melanchthon. Ihnen ging es nicht darum, Schüler zu erziehen, die sich in Freiheit für das Christentum entscheiden konnten, sondern um Indoktrination im Zeitalter der Konfessionalisierung, wobei die jeweilig andere Konfession als das Feindbild dargestellt wurde. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Kind in den Mittelpunkt der Erziehung gestellt. Ellen Key rief das neue Jahrhundert als das des Kindes aus. Von ihr gingen zahlreiche Impulse auf die gerade im Entstehen begriffene Reformpädagogik aus. Doch auch in
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der Reformpädagogik gab es vereinzelt fundamentalistische Ansätze, wobei hier zwei angeführt werden sollen. In den Erziehungswissenschaften lassen sich in der Waldorfpädagogik fundamentalistische Strukturen aufspüren. Während sich die Schulen aufgrund ihrer starken Förderung der musischen Fächer, der handwerklichen Fertigkeiten und ihres ganzheitlichen Ansatzes großer Beliebtheit erfreuen, ist nur wenigen bekannt, dass dieser Konzeption eine Weltanschauung zugrunde liegt, die auf einem geschlossenen dogmatischen System basiert, das auf Rudolf Steiner zurückgeht. Steiner selbst war ein von der Fachwelt anerkannter Goethe- und Nietzsche-Forscher. Auf ihn geht nicht nur die Waldorfpädagogik zurück, sondern ebenso der biodynamische Anbau, die anthroposophische Medizin sowie eine bestimmte Heilpädagogik unter der Hinzuziehung der sogenannten Eurythmie. Wenig bekannt ist, dass Steiners Anthropologie auf einem gnostischen Weltbild basiert und seine ,Jünger‘ ihn als Hellsichtigen verehren. So wird behauptet, er habe in der Akasha-Chronik gelesen und sei somit allwissend. In seinem Spätwerk hat er Reinkarnationsketten aufgestellt. So gibt er z. B. vor, Nietzsche sei in seinem früheren Leben katholischer Priester gewesen und Richard Wagner sogar Merlin. Bei seinen Mysterienspielen muss Wagners Parsifal Pate gestanden haben. Eine Form des Fundamentalismus ist auch die auf A. S. Neill zurückgehende Reformbewegung in Summerhill. Sie wird häufig als der Idealtypus der antiautoritären Erziehung angesehen. Es handelt sich hierbei um ein nahezu anarchistisches Erziehungskonzept, in dem jede Form von normativer Pädagogik abgelehnt wird. Eine Erziehung, die keine Werte vermitteln oder als Maßstab voransetzen kann, ist letzten Endes eine Antierziehung. Im Grunde genommen haben alle totalitären Regimes die Schulen gleichgeschaltet und als einziges Erziehungsziel die Anpassung an die Gewaltherrschaft propagiert sowie die „Luft hoheit über den Kinderbetten“ eingeklagt. Dies gilt im 20. Jahrhundert für den Faschismus, den Nationalsozialismus und für den Kommunismus. Am stärksten ausgeprägt war dieser Fundamentalismus im chinesischen Maoismus. Der Kulturrevolution untersagte den Chinesen z. B. Werke von Bach oder Beethoven auf dem Klavier zu spielen. Am eklatantesten fand diese Indoktrination in den Elementarschulen Chinas statt. So mussten die Schüler akklamieren, sie liebten den Parteivorsitzenden Mao Tse Tung mehr als ihre eigenen Eltern. Eine Gleichschaltung der Pädagogik war für das maoistische Weltbild wuchtiger als z. B. Fortschritte in der Ökonomie. Wie Wolfgang Kubin nachweist, hat dies bis in die Gegenwart Auswirkungen. Kindgerechte Erziehungskonzepte wie die Ellen Keys, Maria Montessoris oder Peter Petersens sind im Sinne Yousefis hingegen positiv fundamentalistisch.
Fundamentalismus in der Historiographie Die Anfänge der Geschichtsschreibung können als fundamentalistisch angesehen werden, da lediglich die Sieger die Geschichte schrieben. Dies trifft zum Beispiel auf die Perserkriege zu. Hier finden sich lediglich griechische Darstellungen und keine persischen. Herodot, der griechische Historiograph der Perserkriege, nimmt darüber hinaus Wertungen
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vor, die andere Kulturen ausgrenzt. Wer nicht Helene ist, wird als ,Barbar‘ abqualifi ziert. Ähnlich ist die Geschichtsschreibung der punischen Kriege zu bewerten. Livius und Polybios schildern den Verlauf des Krieges aus römischer Sicht. Hingegen gibt es keine Darstellungen aus der Perspektive der Karthager. Fundamentalistisch ist auch eine Historiographie, die a priori eine Einteilung der Geschichte in Epochen mit einem vorgegebenen Ziel vornimmt. Ein Beispiel hierfür ist die chiliastische Geschichtsvorstellung des kalabresischen Zisterzienserabtes Joachim von Fiore aus dem 12. Jahrhundert, der die Geschichte in drei Epochen einteilte, wobei er die heilige Dreifaltigkeit als Kategorien nahm. Von mehreren Päpsten wurde er dazu aufgefordert, seine Geschichtsvorstellungen aufzuschreiben, schließlich wurde seine Lehre jedoch von der Kirche als Irrlehre verurteilt. Wenn die Geschichtswissenschaften heute an den Universitäten in Alte Geschichte, Mittelalterliche und Neuere Geschichte unterteilt werden, wobei die letzte Einheit noch einmal in frühe Neuzeit, neueste – und Zeitgeschichte aufgeteilt wird, so hat dies lediglich einen pragmatischen Charakter im Hinblick auf die Studienordnung und die Einteilung der Lehrstühle. Fundamentalistisch ist jedoch eine Geschichtswissenschaft , die mit Athen beginnt und außereuropäische Kulturen außer Acht lässt. So finden sich in den meisten Studienordnungen an europäischen Hochschulen lediglich Aspekte der nord- und der iberoamerikanischen Kultur. Islamwissenschaften, Afrikanistik, Indologie und Sinologie werden hingegen als eigenständige Disziplinen angesehen, die nicht für den Studienplan des Geschichtsstudenten vorgesehen sind. Viele Historiker sehen bereits im Beginn der modernen Geschichtsforschung, im Historismus, eine Form des Fundamentalismus. Sein Begründer, Leopold von Ranke, hatte sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte so darzustellen wie sie gewesen ist. Dabei müsse der Historiker bei seiner Darstellung der Ereignisse von jeglicher Herkunft abstrahieren: von seiner nationalen, religiösen und sozialen Herkunft. Dann sei eine objektive Geschichtsschreibung möglich. Der Historismus führte zu einer Fetischisierung der Quellen. Man war bestrebt, möglichst viele Quellen zu untersuchen, wobei man bisweilen sehr unkritisch mit ihnen umging. Nicht erst seit Jürgen Habermas weiß man, dass jede Erkenntnis interessengeleitet ist, was auch für die des Historikers gilt. Thomas Nipperdey hat sehr deutlich aufgezeigt, dass der Weg des Historismus in die Irre führen und eine Quelle von den unterschiedlichsten Perspektiven aus gesehen werden muss, um eine möglichst genaue Rekonstruktion des Vergangenen zu ermöglichen, wobei die Erreichung der Objektivität schlechthin lediglich ein Grenzwert ist. Ein positiver Fundamentalismus in den Geschichtswissenschaften würde eine Methoden- und Perspektivenvielfalt ermöglichen. Unter Hinzuziehung möglichst vieler Hilfswissenschaften und Einzeldisziplinen der Historiographie wie etwa der Institutionen-, Ideen-, Mentalitäts- und Sozialgeschichte sollten die Quellen untersucht werden.
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Fundamentalismus in der Politik Fundamentalismus lässt sich auch in der Politik in unterschiedlichen Formen beobachten, und nicht nur in der Dimension des Rechts- und des Linksradikalismus, sondern auch bei demokratischen Parteien. Politischer Fundamentalismus ist insbesondere bei den Faschisten, den Nationalsozialisten, den Kommunisten, im ,real existierenden Sozialismus‘ und bei allen (Militär-)Diktaturen zu finden. Ihn gab es z. B. in Deutschland als Selbstbezeichnung bei der Partei der Grünen als die ,Fundis‘ den ,Realos‘ gegenüberstanden. Diesen Gegensatz könnte man im Sinne Max Webers idealtypisch als den zwischen Gesinnungsund Verantwortungsethik ansehen. Die ersten verfolgen unerbittlich ihre Ziele und führen nicht im Hinblick auf eine mögliche Koalitionsbeteiligung mit anderen Parteien Sondierungsgespräche, denn dabei müssten sie Kompromisse machen. Es geht ihnen nicht darum, kurzfristig und vorübergehend Einfluss zu nehmen, sondern ihre ökologischen Positionen uneingeschränkt in der Öffentlichkeit zu propagieren. Ein radikaler Vertreter dieser Richtung war Rudolf Bahro, der sich von einem Marxisten zu einem fundamentalistischen Ökologen entwickelt hatte. Er beurteilte die Politik alleine aus dieser Perspektive. Als fundamentalistisch können auch diejenigen Parteien angesehen werden, die ausschließlich zur Erreichung eines einzelnen Zieles gegründet wurden, so z. B. solche Vereinigungen, die lediglich die Nichteinführung des Euros, die Interessen der Senioren, den Schutz der Tiere usw. vertreten. Während die freiheitlich-demokratische Grundordnung zwar unveräußerliche Grundrechte kennt, ist sie erkenntnistheoretisch eher als skeptisch einzuordnen. Eine absolute Wahrheit in der Politik kennt sie theoretisch nicht. Ganz im Gegenteil zum Nationalsozialismus, der diesen Anspruch verbrämt mit Vernunft feindlichkeit und einem Romantizismus kombiniert mit einem ,Neoheidentum‘ vertrat. Politischer Fundamentalismus sieht stets ein Ziel der Geschichte vor Augen, insbesondere trifft dies für die Formen des ,realexistierenden Sozialismus‘ zu. In orthodoxer marxistischer Sicht müssen Individuen geopfert werden, um dieses Ziel, die klassenlose Endgesellschaft, zu erreichen. Dass es negativ-fundamentalistische Tendenzen auch in demokratischen Gesellschaften gibt, haben die acht Jahre der Präsidentschaft Georg W. Bushs in den Vereinigten Staaten von Amerika gezeigt. Der von ihm erzwungene Irak-Krieg war ein Bruch des Völkerrechts sowie eine Missachtung der UNO, und die Behandlung der Gefangenen in Guantanamo ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Der Hegemonialanspruch der Vereinigten Staaten und die Übernahme der Rolle des ,Weltpolizisten‘ ist Ausdruck einer Ideologie, die negativ-fundamentalistisch vertreten wird. Es ist bezeichnend, dass auch oft von einer Form von ,Demokratur‘ die Rede ist. Eine Politik, die an den bürgerlichen Grundrechten bzw. an den unveräußerlichen Menschenrechten ausgerichtet ist und eine Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus befolgt, kann hingegen als positiv-fundamentalistisch bewertet werden.
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Weiterführende Literatur des Autors: Scheidgen, Herman-Josef: Philosophie und Theologie in der Begegnung der Kulturen am Hofe Kaiser Friedrichs II. von Hohenstaufen, in: Schneider, Notker u. a. (Hrsg.): Philosophie aus interkultureller Sicht. Philosophy from an Intercultural Perspective, Amsterdam 1997 (235–249). –: Jenseits von Kreuzzug und Dschihad. Interkulturelle Begegnungen zwischen Christentum und Islam im Mittelalter, in: Orthafte Ortlosigkeit der Philosophie. Eine interkulturelle Orientierung, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi u. a., Nordhausen 2007 (499–510).
Islamische und christliche Mystik in trennender und einender Begegnung von Martin Tamcke
1. Erste Beobachtungen Islamische und christliche Mystik Martin Tamcke
Wie es sich um die historische Zuordnung des Phänomens der Mystik im Christentum und im Islam verhält, ist heute noch ein zur Klärung anstehendes Forschungsfeld, jedenfalls was das historische Verhältnis beider zueinander betrifft.1 Interessant aber ist die Beobachtung, dass in einem von den Mystikern beider Seiten stark geprägten Raum, Mesopotamien (heute großenteils Irak), von beiden Seiten und teilweise gleichzeitig sich die jeweilige Mystik entwickelte und entfaltete. Schon im 6. Jahrhundert erstand hier die ostsyrische Mönchsmystik, die in der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts besonders von dem von der Halbinsel Qatar im Persischen Golf stammenden Isaak von Ninive zu einer ihrer höchsten Blüten geführt wurde.2 Hier aber finden sich auch die großen Sufis ein, die diese Form islamischer Mystik ebenso zu einem international beachteten Phänomen machten, wie schon die Mystiker der Ostsyrer dies bewirkt hatten.3 Der ostsyrische Mystiker Isaak von Ninive übersprang mit Leichtigkeit mit seiner Form der Spiritualität alle konfessionellen Grenzen und Gegensätze innerhalb des Christentums.4 Seine Texte finden sich in dem grundlegenden Werk aller ostkirchlichen Mystiker, der griechischen Philokalie5, bzw. deren russischer Variante, der Dobrotoljubie6, den grundlegenden Sammlungen von Anleitungen, die Autoren der orthodoxen Tradition zur Methode des Herzensgebetes und der sie tragenden mystischen Lehre versammeln und verfügbar machen.7 Von daher verwundert es nicht, wenn der gegenwärtige Chef des Außenamtes der Russischen Orthodoxen Kirche in Moskau, Metropolit Hilarion, seine Dissertation zu ihm anfertigte.8 Und von daher erklärt sich auch, dass der orthodoxe Mönch Seraphim Seppilä, der zugleich als Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Joensuu in Finnland lehrt, einer der ersten Pioniere war, die sich komparatistisch der Frage des Verhältnisses beider Gestalten der Mystik näherten und auf der Ebene der feststellbaren Phänomene anhand der Texte Isaaks von Ninives die Parallelen in der Mystik der Sufis erhob.9 Was mit solchen ersten Untersuchungen begann, ist heute ein intensiv bearbeitetes Forschungsfeld.10 Der Gipfelpunkt in der Gebetspraxis bei Isaak ist das wortlose Gebet, wo der Beter nichts mehr sagen kann. Da blickt er in das Innerste der Geheimnisse. „Dort gibt es kein Gebet mehr und auch keinen Gedanken, denn sowohl in seinem Körper als auch in seiner Seele ist der
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Mensch völlig zum Schweigen gekommen.“11 Der Mensch ist im Herzen der Dinge, in ihrem jeweiligen Heiligtum. Es gibt weder Tätigkeit noch „Bewegung der Sinne“ in diesem Zustand.12 Jenseits der Grenze gibt es kein Gebet mehr, nur noch bloßes Erstaunen. Alle Namen und Beschreibungen sind hinfällig.13 Es bleibt nur „ein waches Bewusstsein“.14 Andere Mönche der Frühzeit fielen durch außergewöhnliche Praktiken wie den ekstatischen Tanz auf. Ihre Gegner mokierten sich darüber, dass sie in Verzückung die Augen zu verdrehen schienen. Vielfältig sind die Parallelen dieser christlichen Mystik zu der im Islam. Wie selbstverstverständlich forderte Hasan al-Basri (643–728) Askese nicht weniger unerbittlich als es die christlichen Asketen taten.15 Den christlichen Mystikern war die Gabe der Tränen zu eigen16, nicht weniger den muslimischen wie etwa Abd al Wahid ibn Zayd († 793)17 und auf beiden Wegen geht zuletzt alles verloren, was man zunächst fand, wie Rabi’a sagt, dass sie „alles was ich gefunden hatte, in IHM verlor“.18 Wie Isaak erkennt auch sie ohne alle Art und Weise.19 Das Herz des Mystikers, meint al Harith ibn al Muhasibi (781–857) ist erfüllt vom Gefühl der Gegenwart des Geheimnisses.20 Und mit ebensolcher Klarheit beschreibt der Bagdader Abu’l-Qasim Muhammad Dschunaid (825–910) das Wesen des Sufismus, wie mit den gleichen Worten der ostsyrisch-christliche Mystiker das Wesen seines Weges hätte beschreiben können: „Sufismus heißt, dass Gott dich dir selbst sterben lässt, um dich in Ihm leben zu lassen.“21 Später, als sich die Mystiker beider Religionen wahrnahmen, reagierten sie auch aufeinander. So etwa der christliche Ostsyrer Barhebräus auf Ibn Sina, dessen Ansatz er schätzt, aber doch für zu theoretisch erachtet, wenn er in Anerkennung des Ansatzes von Ibn Sina abschließt: „Wer auf eigenen Füßen stehen kann bei diesem Kampf der Liebe, soll ihn bestehen. Wer aber nicht stark genug ist, möge für seine Nahrung sorgen, so gut er kann. Er soll soweit seinen Fuß setzen, wie sein Mantel reicht.“22 Es ist Barhebräus, bei dem schließlich auch deutlich wird, wie nah ihm in der Tradition des Herzensgebetes die Praxis des dikhr kommt, der Anrufung des Namens unter muslimischen Mystikern, die ihre Entsprechung in der Namenstheologie auf dem Boden des christlichen Herzensgebetes hat.23
2. Zeugnis zweier Kulturen oder eines Grundes? Mystiker und ihre Tendenz zum Überschreiten der kulturellen Grenzen Aber die Begegnung zwischen mystischen Sufis und christlichen Mystikern erschöpft sich natürlich nicht im Feld der Forschung. In der realen Begegnung setzten schon bald Prozesse der Anziehung und Abstoßung in beide Richtungen ein. Sufis fanden den Weg zu einer erstaunlichen Offenheit für das Christentum und es gab Konversionen von Sufis zum Christentum wie etwa die von Mehmet Nesimi und Ahmed Kessaf.24 Solche Konversionen stehen möglicherweise bereits jenseits des interkulturellen Paradigmas und gehören wohl schon dem transkulturellen Paradigma an.25 Das wird nicht nur angesichts der durch die äußeren Notwendigkeiten bei Mehmet Nesimi und Ahmed Kessaf erforderlichen Übersiedlung nach Deutschland ersichtlich26, es wird auch im Namenswechsel des ebenfalls aus sufischer Tradition stammenden Mehmet Sükri deutlich, der sich nach seiner Konver-
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sion bewusst einen armenischen Namen gibt, um an eine christlich-orientalische Tradition und Kultur in seiner Umwelt anknüpfen zu können.27 Es versteht sich, dass auch die umgekehrte Richtung eingeschlagen werden kann: Christen mit Interesse für Mystik, die aufgrund ihrer innerlich gewachsenen Zugehörigkeit zum Sufismus sich dem Islam anschließen und als Ausdruck ihres Wechsels entweder den bürgerlich-europäischen Namen ganz ablegen oder aber einen orientalischen, der der mystischen Tradition der Sufis sich verpflichtet fühlt, hinzunehmen. Peter Hüseyin Cunz ist so ein Repräsentant dieser Konversionsrichtung.28 Der in St. Gallen geborene ehemalige Protestant entfernte sich von der Kirche, beschäftigte sich mit fernöstlichen Lehren und Theosophie, ehe er über die Begegnung mit dem Islam sich mit der islamischen Mystik zu beschäft igen anfing, dem MevleviOrden beitrat (dieser führt sich auf Intentionen des Mevlana Celaleddin Rumi zurück, einer der international wirksamsten Mystiker des Islam), erhielt die Lehrerlaubnis im Range eines Scheichs und leitet heute verschiedene Gruppen des Mevlevi-Ordens. Trotz Konversion wandert womöglich von der alten Lebensform Grundsätzliches in die neue Lebensform mit ein. Wie er einst Mühe gehabt hätte mit Jesus als dem Gottessohn, hat er heute als konvertierter Muslim seine Vorbehalte gegen die „Überhöhung Mohammeds zum letzten Propheten, zum Licht der Welt, das schon vor der Schöpfung da war“. Letztlich sei ihm ein christlicher Mystiker näher als ein dogmatischer Muslim, der nur die islamischen Grundregeln einhalte, „ohne weiter zu denken“, unterstreicht Peter Cunz – und sagt mit einem Augenzwinkern: „Vielleicht hab ich ja den freien und nachdenklichen Umgang mit der Tradition einer Religion aus dem Protestantismus in den Islam hinübergenommen.“ 29 Idries Schah vertrat gar die Ansicht, dass der Sufismus nicht vom Koran abhängig sei, obwohl er zum Islam gehöre.30 Auch Idries Schah verkörpert das Leben auf der Grenze oder im Zwischenraum (schon äußerlich als Sohn eines Afgahnen und einer Schottin). Es sind diese Unschärfen, die das Misstrauen der dogmatisch Rechtgläubigen in beiden Religionen immer wieder gegen die Mystiker auf den Plan rief. Nicht nur, dass Mystiker als solche immer wieder von ihren Widersachern in beiden Religionen schon äußerlich verfolgt wurden – al-Halladsch wurde als Ketzer hingerichtet31 und Meister Eckart der Ketzerprozeß gemacht32 –, sie riefen und rufen mit ihrer Religiosität immer noch heftige Reaktionen im eigenen Umfeld hervor. So wurden ihre außerordentlich einflussreichen Orden aufgrund des säkularistischen Kurses der Kemalisten in der türkischen Republik verboten, ihre religiösen Versammlungen verschwanden aus dem Zentrum türkischer Religiosität für lange Zeit und erstehen erst heute langsam wieder.33 Aber auch der Protest gegen einen Minister aus den Reihen der Sufis in Libyen nach dem Sturz Gaddafis im Kontext des Arabischen Frühlings dokumentiert das tiefe Misstrauen vieler eher dogmatisch-„fundamentalistisch“ ausgerichteter Muslime gegenüber diesem Phänomen.34 Noch der dialektische Theologe Emil Brunner wandte sich mit einer Monographie ausdrücklich gegen die Mystik und bestritt, dass sie rechtmäßig zum Christentum zu rechnen sei.35 Und die beiden erwähnten Konvertiten aus den Reihen der Sufis stießen in Bethel auf so starke Zweifel an ihrem Christsein, dass der Versuch, dort beruflich im religiösen Kontext Fuß zu fassen, schlicht abgebrochen werden musste. Man glaubte ihnen ihr Christsein nicht. So wenig, wie die Muslime in den öffentlichen Diskussionen mit ihnen bereit
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gewesen waren, sie noch als Muslime zu akzeptieren. Offenbar waren sie über ihre mystische Religiosität in eine religiöse Freiheit gewachsen, die sie nun innerlich zu gar keiner der verfassten Religion mehr gehören ließ, was auch die äußerliche Konversion zum Christentum eher verdeckte denn entschieden hätte im Sinne nur einer Religion. Diesem stehen fortgesetzt Bemühungen derer zur Seite, die meinen, gerade über die Mystik ließe sich überwinden, was in der Dogmatik trennt. So verwundert es nicht, dass der unermüdlich für die Annäherung zwischen Christentum und Islam werbende Louis Massignon den Weg über das gemeinsame Gebet und die Beschäftigung mit der islamischen Mystik suchte und auf diesem Weg wichtige Werke zu al-Halladsch schuf36, mit denen er im Kontext des christlich-islamischen Dialoges zur Alternative wurde zu jenen, die – wie Anawati – eher einen kulturellen Dialog suchten als eine religiöse Gemeinsamkeit.37 Und wie sich schon im Fall Cunz andeutete: immer wieder haben sich spirituell suchende Menschen der Frage der Vereinbarkeit der Wege zu stellen. Der wohl bedeutendste spirituelle Theologe der katholischen Kirche Nordamerikas im 20. Jahrhundert, Thomas Merton38, nahm neben Impulsen aus den mystischen Traditionen der katholischen Kirche und denen der unterschiedlichen asiatischen Wege eben auch Impulse der Sufis39 und des orthodoxen Hesychasmus auf.40 Wie aber können so tief in die eigene Seele und das eigene religiöse Repertoire aufgenommene Impulse es miteinander in ein und demselben Menschen aushalten?
3. Mystiker als religiöse und kulturelle Grenzen verstärkende Repräsentanten einer vertieften Religiosität Die Technik mystischer Versenkung, das besondere Gebet im Kreis islamischer und christlicher Mystiker, das bewegte etwa den Katholiken Louis Massignon41 oder auch den Protestanten Tor Andrae.42 Aber genau an dieser Methodik setzte auch schon früh das Befremden ein. Dabei war dieses Befremden nicht nur dasjenige von Menschen, die sich nicht im mystischen Sinn als religiös definieren mochten oder sich davon bewusst und kritisch absetzten, es erwuchs geradezu auch aus der Mitte der beiden Wege da, wo sie sich gegenseitig zur Kenntnis nahmen. Wenn schon in einem der wichtigsten Werke zum Herzensgebet als dem Königsweg ostkirchlicher Mystik im russischen Raum diese Praxis der christlichen Mystiker von einem literarisch fi ktiv außerhalb dieser Wege stehenden Beobachter verdächtigt wird, in Wahrheit mit der etwas zu tun zu haben, die in den Zentren sufischer Religiosität Zentralasiens geübt werde43, so zeigt sich, dass die Ähnlichkeit nicht erst für religiös Suchende wahrnehmbar wurde und wird, sondern auch aus den Wegen selbst, so sie die Wege mystischer Religiosität in der anderen Religion wahrnehmen und sich dazu ins Verhältnis zu setzen suchen. Das Verhältnis zwischen christlicher und islamischer Mystik scheint also geradezu danach zu rufen, es durch Ähnlichkeiten zu markieren, Gemeinsamkeiten darin aufzuspüren oder es als aus einer Wurzel kommend zu verstehen. Und natürlich sind die großen christlichen Mystiker ebenso Vertreter orientalischer Kulturen wie die muslimischen. Erst
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dem 21. Jahrhundert scheint es vorbehalten zu sein, die christlich-orientalischen Kulturen zu marginalisieren oder ganz verschwinden zu lassen. Da beide Formen der Mystik sich im gemeinsamen orientalischen Raum entwickelten, stellen sie umso dringlicher die Frage danach, ob sie Zeugnisse der Trennung oder der Einheit sind. Dokumentieren sie eher die seit Becker beschworene Zusammengehörigkeit der christlichen, jüdischen und muslimischen Welt in so etwas wie einem Kulturkreis oder belegen sie die Trennung, Verschiedenheit und Unversöhnlichkeit der Wege.44 In den jüngeren Texten christlicher Tradition, in denen auf den parallelen Weg der Muslime geschaut wird, stellen sich Töne ein, die auf Trennung insistieren, die zu betonen scheinen, wie verschieden beide Wege sind und wie wenig achtenswert und akzeptabel der Weg der anderen Seite sei. In deutlich abweisender Form wird da von widernatürlicher und unfrommer Wirksamkeit der muslimischen Mystiker, von den Derwischen als von Pseudo-Mönchen gesprochen. Diese islamischen Mystiker seien „Derwische, die sich im Kreise drehten, indem sie mit der Zunge schnalzten, geiferten und wie ihr Lehrer Mohamed alle möglichen Blasphemien ausstießen.“45 Das hört sich nun nach einem unüberwindbaren Graben an. Oder doch nur wie das Angefaßtsein eines, der weiß, wie nahe ihm das steht, was den anderen treibt oder was der andere praktiziert? Jean Gouillard meinte schon: „aber es fällt schwer, sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, dass ein gemeinsames psychologisches Gesetz besteht, das sich nach den gegebenen Umständen ganz natürlich auswirkt.“46 Mag sein, dass solche Annahme eines gemeinsamen psychologischen Gesetzes ebenso müßig ist wie die unablässige Suche nach gemeinsamen historischen Wurzeln oder das Bedenken der Kontakte beider Traditionen mit Indien. Wahr bleibt doch, dass die Mystik einerseits stets sich nur aus der Kultur erklären lässt, aus der sie erwächst, andererseits in ihrem Wesen die Gebundenheit an eine Kultur immer wieder hinter sich lässt und scheinbar wesensmäßig überflüssig macht. So ist Mystik hier wohl ebenso inter- wie transkulturell, Vertiefung regional gewachsener Religiosität wie Weitung ins Entgrenzte.
Weiterführende Literatur des Autors: Tamcke, Martin, Gotteserlebnis und Gotteslehre, Christliche und islamische Mystik im Orient, Göttinger Orientforschungen, Syriaca Band 38, Wiesbaden 2010. –: Im Geist des Ostens leben. Orthodoxe Spiritualität und ihre Aufnahme im Westen. Eine Einführung, Frankfurt und Leipzig 2008.
Anmerkungen 1 Ich beschränke mich in diesem Beitrag auf einige Auff älligkeiten im Blick auf das Phänomen in beiden Religionen, wobei zugleich mit Nachdruck darauf verwiesen werden muss, dass beide Religionen zahlreiche Kulturen in sich fassen (ein Christ in den USA hat auch wegen seines kulturellen Kontextes einen anderen Zugang zum Christentum als ein Christ im Iran oder Äthiopien, wie auch die Muslime Saudi-Arabiens deutlich anders geprägt sind als die im chine-
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24 Zu ihnen enthält wesentliches Material: Goltz, G.: Eine christlich-islamische Kontroverse um Religion, Nation und Zivilisation: Die osmanisch-türkischen Periodika der Deutschen OrientMission und die Zeitung Balkan in Plovdiv 1908–1911, Münster 2002. 25 Grundsätzliche Positionen nimmt der Sammelband zu einer entsprechenden Thematik für Europa als transkulturellem Raum auf, dem die diesbezügliche Konferenz des Euroculture-Konsortiums zugrunde liegt: Tamcke, M., de Jong, J., Klein, J. u. M. van der Wal: Europe – Space for Transcultural Existance?, Göttingen 2013; vgl. auch die Arbeiten von Jungwissenschaft lern in diesem Bereich: Tamcke, M. und L. Klein: Europeans in Between: Identities in a (Trans-) Cultural Space, Groningen 2012. 26 Tamcke, M.: On the Path to Transculturality, in: Tamcke, M.; de Jong, J., Klein, J. u. M. van der Wal: Europe – Space for Transcultural Existance?, Göttingen 2013, S. 143–151. 27 Vgl: Tamcke, M.: Christian Orientals in Conversation with Islam. Two Examples from German Mission History in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Toronto Journal of Theology 26.1, Toronto 2010, 3–20. 28 Zur Person: Ebert, A. u. C. Lopu: Hesychia, Das Geheimnis des Herzensgebets, München 2012, S. 274. 29 [Zugriff: 13. 11. 2013]. 30 Malik, J. u. J. R. Hinnells: Sufism in the West, London – New York 2006; Westerlund, D.: Sufism in Europe and North America, New York 2004. 31 Schimmel, A.: Al-Halladsch – Märtyrer der Gottesliebe, Köln 1968. 32 Stirnimann, H.: Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozess gegen Meister Eckhart. Freiburg 1992. 33 Ich bin meinen Freunden aus den Kreisen der mystischen Orden in der Türkei dankbar, dass sie mich so ohne Komplikationen in ihr religiöses Leben einbezogen. 34 Exemplarisch für die massiven Auseinandersetzungen sei genannt: [Zugriff : 13. 11. 2013]. 35 Die Kontroversen bis heute bestimmt dabei sein strittiges Werk: Brunner, E.: Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben, Tübingen 1924. 36 Massignon, L.: La passion de Husayn ibn Mansûr Hallāj, 4 vol, Paris 1922; Gallimard ; neu herausgegeben bei Gallimard, Paris 2010; Massignon, L.: Akhbar Al-Hallaj, recueil d’oraisons et d’exhortations du martyr mystique de l’Islam, J. Vrin 1975; Keryell, J.: Jardin Donné, Louis Massignon à la recherche de l’Absolu, Paris 1993. 37 Pérennès, J.–J.: Georges Anawati (1905–1994). Ein ägyptischer Christ und das Geheimnis des Islam (Schriftenreihe der Georges-Anawati-Stiftung; Bd. 7), Freiburg im Breisgau 2010. 38 Zu ihm und überhaupt der westlichen Rezeption des Hesychasmus vgl. Tamcke, M.: Im Geist des Ostens leben, Orthodoxe Spiritualität und ihre Aufnahme im Westen, Eine Einführung, Frankfurt und Leipzig 2008. 39 Griffith, S. H.: Mystics and Sufi Masters. Thomas Merton and Sufism; Merton and the Christian Dialogue with Islam, [Zugriff: 13. 11. 2013]. 40 Vgl. Tamcke (2008). 41 Massignon, L.: Essai sur les Origines du Lexique technique de la mystique musulmane, éditions J. Vrin, Paris 1954. 42 Graham, W. A.: Andrae, Tor Julius Efraim, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 1, Tübingen 1998, Sp. 469 f. 43 Vgl. Tamcke (2007), S. 52. 44 Haridi, A.: Das Paradigma der „islamischen Zivilisation“ – oder die Begründung der deutschen
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Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876–1933). Eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung (= Mitteilungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der islamischen Welt. Bd. 19), Würzburg 2005. 45 Gouillard, J.: Gebet des Herzens, Kleine Philokalie, Eingeführt von Gebhard Frei, Zürich 1957, S. 228. 46 Gouillard (1957), S. 237.
Wege zu Theorie und Praxis der Toleranz Eine interkulturelle Orientierung von Wolfgang Gantke
Die Fragestellung Wege zu Theorie und Praxis der Toleranz Wolfgang Gantke
In meinem Beitrag werde ich bewusst zeit- und praxisnah argumentieren, auf abstrakte philosophische Überlegungen verzichten und ein hermeneutisches Kreisdenken bevorzugen, das auch Wiederholungen in Kauf nehmen muss, weil es gleichsam ein Sinnzentrum, die Toleranzfrage, umkreist und in verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Ich habe im Laufe meines Studiums und auch während meiner über zwanzigjährigen Forschungs- und Lehrtätigkeit als Religionswissenschaft ler viel über diese, für eine friedliche Zukunft der Menschheit so bedeutsame Thematik nachgedacht und mir dabei auch immer die Frage gestellt, wie sich die in meinen Studien gewonnenen theoretischen Einsichten in die Praxis umsetzen lassen.
Toleranz als Grundlage des Dialogs der Religionen – eine Illusion? Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen nicht immer harmlos verlaufenden Begegnung der Kulturen und der damit zusammenhängenden, leider oft gewaltförmigen „Wiederkehr der Religion“ wird die Forderung nach interkultureller Kompetenz immer lauter. Durch verstärkte Bemühungen um den Dialog der Religionen soll der befürchtete Kampf der Kulturen verhindert werden. Muss sich eine engagierte, praxisorientierte Religionswissenschaft da nicht angesprochen fühlen? Im Rückblick auf meine eigenen Bemühungen um den Dialog der Religionen lässt sich angesichts all der jüngsten unerfreulichen Entwicklungen im interkulturellen Kontext, insbesondere auf dem praktischen Felde der Realpolitik, der Gedanke nicht länger verdrängen, dass all die gutgemeinten Plädoyers für gegenseitige Toleranz als Grundlage des unvermeidlichen Dialogs der Religionen vergeblich gewesen sein könnten. Obwohl von fast allen Seiten zugestanden wird, dass angesichts der heutigen Begegnung der Religionen endlich Wege zu Theorie und Praxis der Toleranz und zu einem friedlichen Zusammenleben gefunden werden müssen und obwohl der Begriff der Toleranz geradezu inflationär verwendet wird, ist man bisher, wenn man ehrlich ist, über Appelle,
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die sich alltagspraktisch kaum bewähren konnten, nicht hinausgekommen. In der Theorie scheint die Lösung des Toleranzproblems, etwa in Orientierung an Gotthold Ephraim Lessing1 oder Gustav Mensching2, gar nicht so schwierig, aber in der rauen Alltagspraxis in Politik und „multikultureller“ Gesellschaft ergeben sich immer neue Schwierigkeiten, die nicht zuletzt damit zusammenzuhängen scheinen, dass die Toleranzfrage den Rahmen rationaler Problemlösungsverfahren, innerhalb dessen sie zumeist behandelt wird, transzendiert. Der garstige Graben zwischen Theorie und Praxis scheint gerade in der Toleranzfrage kaum überbrückbar. Im Zusammenhang mit der Toleranzproblematik muss auch über sittliche Voraussetzungen, über Stimmungen, Be- und Empfi ndlichkeiten, existentielle Grundeinstellungen und Stilfragen nachgedacht werden, für die bedauerlicherweise im Rahmen einer streng empiristisch ausgerichteten Religionswissenschaft kein Platz vorgesehen ist. Genau in diesem Bereich scheinen aber die eigentlichen Schwierigkeiten, insbesondere die Kommunikations- und Vermittlungsprobleme, zu liegen. Für das Toleranzproblem gibt es ohnehin keine einfache und eindeutige Lösung, die zwingend verallgemeinbar ist. Wer glaubt, im Besitz einer solchen eindeutigen Lösung zu sein, bezieht sogleich eine intolerante Position, die alle anderen Lösungsmöglichkeiten ausschließt. Das Verstehen fremder Kulturen ist eben nicht nur eine intellektuelle Angelegenheit, denn in diesen Kulturen wird nicht nur anders gedacht, sondern auch anders gefühlt. Da die Wirklichkeit anders wahrgenommen wird, muss verstärkt über die Grenzen des Fremdverstehens nachgedacht und prinzipiell auf unbescheidene Universalitätsansprüche verzichtet werden. Es könnte also gerade der Verzicht auf den Anspruch des Allesverstehenkönnens und Bescheidwissens sein, der eine glaubwürdigere Toleranz gegenüber dem beunruhigend Fremden ermöglicht. Es gibt in der heutigen Auseinandersetzung der Kulturen freilich nicht nur das intellektuelle Nichtverstehenkönnen, sondern auch das bedrohlichere, wohl nur tiefenpsychologisch erhellbare Nichtverstehenwollen. Wo man den Fremden nicht verstehen will, müssen auch die überzeugendsten Argumente, mithin alle rationalen Konsens- und Kommunikationstheorien, an eine unüberwindbare Grenze stoßen. Viele Menschen wollen sich auf fremde Erfahrungswelten gar nicht erst einlassen und es kann auch nicht ernsthaft bestritten werden, dass einige Menschen in unfreiwilliger Weise so schlechte Erfahrungen in der Fremde bzw. mit Fremden gemacht haben, dass ihre Xenophobie und Abwehrhaltung gegenüber der Unheimlichkeit des Fremden durchaus verständlich wird. Auch die Bedrohlichkeit und Unheimlichkeit des heute weltweit allgegenwärtigen Terrorismus wird heute vorschnell mit „den Fremden“ assoziiert. Das latent vorhandene Grundmisstrauen gegenüber den Angehörigen fremder Kulturen in einer multikulturell geprägten Stadt ist m. E. in dem Film „L. A. Crash“ in trefflicher Weise ins Bild gesetzt worden. Eine Botschaft der vielen überraschenden Wendungen dieses Filmes lautet sicherlich: Vorsicht vor vorschnellen Verallgemeinerungen im Hinblick auf Fremde und Vorsicht vor festgezurrten Feindbildern. Alltagspraktisch gelebte Toleranz und selbstlose Hilfsbereitschaft über die Kulturgrenzen hinweg ist selbst unter schwierigsten Bedingungen
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möglich. Zuweilen kann sich sogar eine offenbar kultur- und religionsunabhängig dem Menschen innewohnende „einfache Sittlichkeit“ (Otto Friedrich Bollnow) bewähren, die sich in Extremsituationen über all die rationalen Güterabwägungsargumente und sogar den natürlichen Selbsterhaltungstrieb hinwegzusetzen bereit ist. Eine derartige „konkrete Humanität“ kann die Menschen über die Kulturgrenzen hinweg verbinden und sie bewährt sich gerade in Ausnahme- und Grenzsituationen, etwa in Katastrophenfällen, in denen die Selbstlosigkeit, Hilfs- und Opferbereitschaft der Menschen ungeahnte Ausmaße annehmen kann. Leider gibt es auch hier wieder Gegenbeispiele, denn einige Menschen sind durchaus fähig, das Unglück der von Katastrophen heimgesuchten Menschen schamlos auszunutzen. Auch bei Verallgemeinerungen über „die“ menschliche Natur sollte man also vorsichtig sein. Der Mensch, auch der einzelne Mensch, besitzt offenbar ein „Doppelgesicht“, weshalb man sich kein festes, unverrückbares Bild von ihm und seinen kulturellen Hervorbringungen machen sollte. Jedenfalls können durch positive oder negative Begegnungen mit dem Fremden Vorurteile sowohl überwunden als auch gefestigt werden. Es gibt unbestreitbar auch Begegnungen mit dem Fremden, etwa auf dem Felde der Kriminalität, die äußerst unangenehm sind. Dennoch gilt es offen zu bleiben für die angenehmen und bereichernden zwischenmenschlichen Begegnungen, die es auch gibt. Mit den herkömmlichen rationalistischen Betrachtungs- und Verfahrensweisen ist den heute sich verstärkenden diff usen Ängsten vor dem Fremden jedenfalls nicht beizukommen. Diese nicht nur unbegründeten Ängste können, wie die schrecklichen Ereignisse im Zusammenhang mit dem weltweit verbreiteten Terrorismus und mit den militanten Auseinandersetzungen im Nahen Osten, im Irak, in Afghanistan und Tschetschenien tagtäglich beweisen, von interessierter Seite jederzeit für die eigenen politischen Ziele instrumentalisiert werden. Es gibt heute offenbar uneinsichtige Zeitgenossen in allen Kulturen, die Freude daran haben, die Aggressionen zwischen den Kulturen immer wieder von neuem zu schüren und neues Öl ins Feuer zu gießen. Angesichts der durch die Medien gezielt gesteuerten und verstärkten öffentlichen Wirkungsmacht, die kürzlich einige dümmliche MohammedKarikaturen zu erzielen vermochten, stimmt es nachdenklich, wie vergleichsweise wenig Beachtung dagegen die seit Jahren unermüdlich Toleranz und Verständnis fordernden Initiativen der leisere Töne bevorzugenden Brückenbauer und Friedensstifter in allen Kulturen fanden. So wird z. B. an Gandhis politische Ethik der Gewaltlosigkeit in der Theorie immer wieder gerne erinnert, aber in der Praxis geschieht genau das Gegenteil, übrigens auch in Indien, wie die bis heute andauernden Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen beweisen. Auffallend ist gerade in jüngster Zeit wieder die Ohnmacht der Friedfertigen, Sanft mütigen und Toleranten in allen Kulturen, wenn man sie mit der Macht, auch der Medienmacht, derjenigen unerleuchteten Menschen vergleicht, die ihren Selbstbehauptungswillen mit Gewalt glauben, weltweit durchsetzen zu können. Dies zeigt, dass ein praxisorientierter Beitrag zur Toleranzproblematik sich nicht um die Thematisierung der politischen Machtfrage herumwinden darf. Es gibt auf der weltpolitischen Bühne Kräfte, die trotz anderslautender Beteuerungen keinerlei Interesse daran haben, dass die Menschen in den verschiedenen Kulturen zu größerer gegenseitiger Tole-
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ranz und Friedfertigkeit befähigt werden und die bewusst Hass, Neid und Ressentiments schüren. Ohne einen Bewusstseinswandel der Mächtigen, die, wenn sie denn wollten, die Verhältnisse durchaus zum Besseren wenden könnten, werden alle Dialog- und Toleranzanstrengungen der trotz ihres guten Willens letztlich Ohnmächtigen scheitern. Angesichts ausgesprochen ungerechter sozialer Verhältnisse wäre es zynisch, von den vielen Schlechtweggekommenen auf dieser Erde ein Einverstandensein mit dem Gegebenen zu erwarten. Wer könnte leugnen, dass es im sich gegenwärtig zuspitzenden Kampf um die letzten, übriggebliebenen Ressourcen auf unserem Planeten eine Intoleranz der wenigen Mächtigen gibt, die die vielen Ohnmächtigen, übrigens in allen Kulturen, fraglos und klaglos tolerieren sollen. Der vielbeschworene Kampf der Kulturen findet als Kampf zwischen den Mächtigen und Ohnmächtigen, zwischen Traditionalisten und Modernisten, zwischen Gewaltbefürwortern und den Mahnern zu Toleranz und Friedfertigkeit auch innerhalb der einzelnen Kulturen statt, übrigens auch innerhalb der westlich- christlichen und innerhalb der islamischen Kultur. Es gibt auch einen ausgesprochen vielstimmigen intrakulturellen Kampf um größere politische und gesellschaft liche Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten, der gleichsam quer zu den globalen interkulturellen Auseinandersetzungen verläuft. Angesichts der wachsenden antiwestlichen Stimmung in den islamischen Ländern und der wachsenden antiislamischen Stimmung im Westen stellt sich in aller Radikalität die Frage: Ist der vielbeschworene Dialog der Religionen und die damit verbundene Hoff nung auf größere gegenseitige Toleranz nur eine Illusion? Ist es nicht sinnlos, einen weiteren theoretischen Beitrag zur Toleranzfrage zu verfassen, der in der Praxis kaum Wirkung erzielt? So konnte beispielsweise keiner der interessanterweise von Deutschland ausgehenden idealistischen Beiträge zu einem friedlichen Miteinander der Religionen, etwa zum „religiösen Menschheitsbund“ (Rudolf Otto), zum „Weltgewissen“ (Gustav Mensching) und zum „Projekt Weltethos“ (Hans Küng) eine Wende zu größerer Toleranz bewirken und überwunden geglaubte Übel wie den Terrorismus und den Krieg endlich aus der Welt schaffen. Stattdessen wird unsere Welt immer friedloser. Vor dem Hintergrund der heutigen fundamentalistischen Zuspitzung des „Kampfes der Kulturen“ kann der Optimismus, mit dem Otto einst das kommende „Riesenringen“ der Religionen prognostizierte, nur erstaunen: „Ein Riesenringen bereitet sich vor […]. Das wird der höchste und feierlichste Moment in der Geschichte der Menschheit werden, wenn nicht mehr politische Systeme, nicht wirtschaft liche Gruppen, nicht soziale Interessen, wenn die Religionen der Menschheit gegeneinander aufstehen werden, und wenn nach den Vor- und Scheingefechten um die mythologischen und dogmatischen Krusten und Hüllen, um die historischen Zufälligkeiten und Unzulänglichkeiten, zuletzt einmal der Kampf den hohen Stil erreichen wird, wo endlich Geist auf Geist, Ideal auf Ideal, Erlebnis auf Erlebnis trifft, wo jeder ohne Hülle sagen muss, was er Tiefstes, was er Echtes hat und ob er etwas hat.“3 Das Riesenringen der Religionen hat Rudolf Otto zwar richtig vorausgesehen, aber trifft in dieser interkulturellen Auseinandersetzung wirklich Geist auf Geist und Ideal auf Ideal? Ist es nicht vielmehr so, dass in den gegenwärtigen inter- und intrakulturellen Auseinandersetzungen in der Regel auf Gewalt mit Gegengewalt reagiert und dass z. B. im gegenwärtigen Karikaturenstreit eine Geschmacklosigkeit mit einer anderen Geschmacklosig-
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keit beantwortet wird? Soll der vorausgesagte edle Wettstreit der Religionen um die höchsten Ideale der Menschheit wirklich in einer derartig dunklen Sackgasse enden? Was verrät diese traurige Entwicklung eigentlich über unser Menschenbild? Was ist das Tiefste, das Echteste, das das christliche Abendland in diesen Wettstreit der Kulturen einzubringen hat? Die Verabsolutierung einer Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit, für die nichts mehr heilig ist und die sich fast alles erlauben darf? Werden nicht auch in der zeitgenössischen Ästhetik des Schrecklichen, Hässlichen und Unmenschlichen die Grenzen des Tolerierbaren immer häufiger deutlich überschritten? Wie christlich ist unser heutiges Bild vom Menschen? Handelt es sich wirklich um Selbstzensur, wenn man darauf verzichtet, Andersgläubige, Andersdenkende, „Ungläubige“ und „Unwissende“ um eines friedlichen Miteinanders willen nicht zu provozieren und nicht zu beleidigen. Hier geht es auch um Fragen des guten Geschmacks und Stils und um selten gewordene Tugenden wie Gelassenheit, Ehrfurcht, Demut, Bescheidenheit, Rücksicht, Höflichkeit, Gastfreundschaft und eben auch Toleranz. Gerade in der interkulturellen Diskussion um das Heilige fällt auf, wie gering doch die Bereitschaft ist, die eigene Position „mit fremden Augen“ wahrzunehmen und wie stark auf allen Seiten das Bedürfnis ist, sich in geradezu fundamentalistisch abgesicherte, unverrückbare Positionen zu versteifen. Gegenseitige Toleranz kann sich auf diese Weise gar nicht entwickeln. Gehört aber nicht auch die Bergpredigt und die Botschaft der bedingungslosen Feindesliebe zum Tiefsten und Echtesten, was das Christentum der Welt schenken kann? Und sollte nicht auf der Basis dieser gewiss „unrealistischen“ Liebesbotschaft eine inhaltliche Toleranz ermöglicht werden können, die über eine bloße Duldung aus pragmatisch-funktionalistischen Verstandesgründen weit hinausgeht? Ist aber nicht eine solch idealistische Botschaft, die gleichsam eine Selbstentsicherung, eine „Entrüstung“ voraussetzt, um eine Offenheit und Empfänglichkeit für Fremdes allererst zu ermöglichen, in einer immer friedloser werdenden Welt zum Scheitern verurteilt? Die von den Beatles geprägte Kurzformel „All you need is Love“ ist eine immer wieder zu hörende und gewiss auch gutgemeinte Botschaft, die sich mit den heiligen Schriften aller Religionen und auch der meisten innerweltlichen Ideologien problemlos vereinbaren lässt und dennoch scheint die Idealvorstellung einer auf Liebe und gegenseitiger Toleranz gegründeten multikulturellen Weltgesellschaft „in dieser Welt“ nicht realisierbar. Alle bisherigen historischen Versuche, das Gottesreich bzw. das Paradies auf Erden zu verwirklichen, sind gescheitert. Und auch die Kräfte all derer, die immer noch an die innerweltlichen Heils- und Freiheitsversprechungen der Moderne glauben, könnten angesichts eines sich vermutlich weiter verdüsternden Zukunftshorizontes allmählich erlahmen. Eine Zukunftschance der Religion könnte dann darin liegen, dass sie angesichts der unheilsschwangeren Weltveränderungsdynamik wieder stärker als Hüterin des traditionellen, sicherheits- und schutzgewährenden Weltbewahrungswissens in Erscheinung tritt. Die These, dass der wissenschaft liche und wirtschaft liche Fortschritt zwangsläufig zur Überwindung der Religion führen wird, kann inzwischen als eindeutig widerlegt gelten. Es führt also kein Weg am Dialog mit den Religionen und auch mit der religiösen Weltmacht Islam vorbei und dies scheint mir auch für eine engagierte Religionswissenschaft zu
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gelten, die sich nicht auf eine wert- und kulturneutrale Position zurückzieht, sondern die den Mut zu klaren, begründeten Stellungnahmen besitzt. Noch einmal: Sind die zahllosen idealistischen Versuche, unter Berufung auf „die tiefsten und echtesten“ Lehren der Religionen die Menschen zu einem liebesförmigeren, rücksichtsvolleren, toleranteren Umgang miteinander zu bekehren, vergeblich? Lehrt nicht auch die Geschichte, dass die großen Friedensstifter von Jesus bis Gandhi in dieser Welt zumeist gescheitert sind? Ist es daher nicht sinnlos, immer wieder von neuem einen ehrlichen Dialog der Religionen und Kulturen zu fordern, der auf gegenseitigem Respekt und inhaltlicher Toleranz basiert? Was aber wäre die Alternative? Resignation? Fatalismus? Nihilismus? Die Einsicht in die Sinnlosigkeit aller menschlichen Weltverbesserungsversuche? Der Rückzug auf eine wertneutrale Beschreibung des Schrecklichen, weil der nüchterne Wissenschaft ler sich nicht in einen Endzeitpropheten und Moralapostel verwandeln darf? Trotz all der unbestreitbaren Rückschritte auf dem Weg zu größerer Toleranz, die den humanen Fortschrittsglauben fragwürdig erscheinen lassen, scheint es mir notwendig, daß es auch in der gegenwärtigen Situation Menschen gibt, die in einem „trotzigen Dennoch“, der Gefahr mutig ins Auge blickend, daran erinnern, wie es sein könnte, wenn die Menschen in den verschiedenen Kulturen sich um ein tieferes gegenseitiges Verstehen ernsthaft bemühen würden. Sie brauchten eigentlich nur die höchsten Ideale und Werte ihrer eigenen Kultur und Religion wirklich ernstzunehmen. Wenn dies nicht in dem erforderlichen Maße geschieht, dann liegt es nicht an den überwiegend edlen, in der Regel das Gute im Menschen fördernden Lehren der Religionen, sondern vielmehr an den unedlen, eigennützigen Motiven von Menschen, die sich diese Lehren gerne in selbstgerechter Weise zurechtlegen. Gott „will“ dann, was diese Menschen wollen. So können dann Selbstmordattentäter „um Gottes willen“ auch unschuldige „Opfer“ in Kauf nehmen. Religion verwandelt sich auf diese Weise in eine gewaltförmige politische Ideologie. Dass terroristische Handlungen und das Foltern und Töten von „Ungläubigen“ unter keinen Umständen toleriert werden können, liegt auf der Hand. Hier gibt es unüberschreitbare Grenzen der Toleranz, wobei die Grenzen der Toleranz nach Mensching dort liegen, wo die Intoleranz des Anderen beginnt. Toleranz darf keinesfalls in willenlose Selbstaufgabe einmünden. Die Offenheit für das Fremde muß die Standhaft igkeit im Eigenen, die Offenlegung des eigenen Standpunktes in der geistigen und religiösen Welt, nicht ausschließen. Ein wirklicher Dialog kann nur dort stattfinden, wo die eigenen Überzeugungen klar erkennbar sind und offen ins Spiel gebracht werden. Spätestens seit den furchtbaren Ereignissen vom 11. 09. 2001 ist auch vielen säkularisierten Menschen, Atheisten und Agnostikern im Westen die nach wie vor kulturprägende und damit wirklichkeitsbestimmende Bedeutung der Religion bewusst geworden. Die Rückkehr der Religion in die Weltpolitik hat viele Menschen im weitgehend säkularisierten Westen völlig unvorbereitet getroffen, rechnete man doch mit dem Untergang der Religion in einer immer moderner und westlicher werdenden Welt. Unter Globalisierung konnten sich viele säkularisierte Menschen nichts anderes als eine weltumgreifende Verwestlichung vorstellen. Die gedankenlose Verabsolutierung des modernen westlichen Begriffs- und Wertesystems schien lange Zeit unproblematisch.
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Der aufk lärerische Glaube, dass sich durch die Aufk lärung der noch unaufgeklärten, hinter dem wissenschaft lichen Fortschritt zurückgebliebenen, immer noch religiös gebundenen Menschen gleichsam von selbst eine größere Toleranzbereitschaft erzielen ließe, hat in jüngster Zeit viel von seiner ehemaligen Überzeugungskraft eingebüßt. Vielleicht wird er deshalb in jüngster Zeit zuweilen selbst in jener fundamentalistischen und intoleranten Weise verkündet, die er im Namen der Vernunft bei religiösen Menschen kritisieren zu müssen glaubt. Für viele vorgeblich aufgeklärte Menschen ist die Religion eigentlich eine überwundene Angelegenheit und der religiöse Fundamentalismus gleichsam ein letztes Aufbäumen eines noch unreifen religiösen Bewusstseins, das endlich erwachsen werden muss und vor einer radikalen Selbstaufk lärung zurückschreckt. Diese typisch „westliche“ Sicht der Dinge ist sicher nicht ganz falsch, aber wenn ernsthaft versucht wird, gangbare Wege zu Theorie und Praxis der Toleranz aufzuzeigen, dann darf die Forderung nach Selbstaufk lärung und Selbstrelativierung nicht nur an die religiösen, sondern sie muss auch an die „aufgeklärten“ nichtreligiösen Menschen gestellt werden, seien sie nun Atheisten, Agnostiker oder Menschen, in deren Leben die religiöse Frage nach eigenem Bekunden so gut wie keine Rolle spielt. Bei vielen Menschen scheint die Bewusstseinssäkularisierung bereits so weit fortgeschritten zu sein, dass sie die Verletzung religiöser Gefühle gar nicht mehr nachvollziehen können und nicht mehr wahrnehmen, dass eine Position religiöser Überzeugungslosigkeit von religiösen Menschen, auch von Christen, als inhaltliche Intoleranz und Geringschätzung ihrer heiligsten Überzeugungen empfunden werden kann. Ist es wirklich zu viel verlangt, wenn man säkularisierten Menschen empfiehlt, auf dem schwierigen religiösen Felde besonders vorsichtig und behutsam zu formulieren und gerade nicht zu provozieren? Ist diese Mahnung zur Vorsicht und Einsicht wirklich schon eine Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit? Mir scheint dies eher ein erster, kleiner Schritt auf dem Weg zu Theorie und Praxis gegenseitiger Toleranz. Es ist schon seltsam, wie vehement gegenwärtig auch die Freiheit der Geschmacklosigkeit in den Medien und in der Kunst verteidigt wird. Die moderne Kultur scheint das religiöse Gefühl der Ehrfurcht nicht mehr zu kennen und dies gilt nicht nur für die Ehrfurcht vor den fremden Göttern. Die derzeit zu beobachtende Freude an der Provokation, die sich in der Islam-Diskussion in besonders unerfreulicher Weise austobt, ist ein sicherer Weg zu größerer Intoleranz, auch auf Seiten der Provozierten. Man überbietet sich in Geschmacklosigkeiten und Tabuverletzungen und die Fronten verhärten sich. Es geschieht dann in der Praxis genau das, was durch viele theoretische Beiträge zum Problem der Begegnung der Religionen verhindert werden sollte: Statt eines Dialoges der Religionen mit dem Ergebnis eines tieferen gegenseitigen Verständnisses und größerer Toleranz bewegen wir uns alltagspraktisch eben doch auf einen Zusammenprall der Kulturen zu, wobei dann wiederum erstaunt, wie groß die Unkenntnis über fremde Kulturen trotz der Wissensglobalisierung im Internet nach wie vor ist. Zahlreiche oberflächliche und undurchdachte Beiträge in den Medien werden immer wieder zur Quelle von Missverständnissen. Auch dies spricht wieder für die Annahme, dass wir es mit einem Problem zu tun haben, das allein auf der Ebene intellektueller Erkenntniswahrheit nicht lösbar ist.
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Als ein Ergebnis dieses Überlegungsdurchganges kann festgehalten werden, dass eine problemorientierte Auseinandersetzung mit der Toleranzproblematik nicht zu eindeutigen Ergebnissen führen kann. Die Orientierung an dem auf Eindeutigkeit zielenden Wissenschaftsverständnis der Naturwissenschaften ist ungeeignet für die Behandlung eines Themenfeldes, in dem heute die Pluralität unterschiedlicher religiöser und profaner Wahrheitsansprüche berücksichtigt werden muss. Für die Lösung des Toleranzproblems gibt es ohnehin keine Patentrezepte. Wohl aber können im Rahmen einer problemorientierten Religionswissenschaft besondere Schwierigkeiten und Empfindlichkeiten deutlich beim Namen genannt und unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten dargestellt und diskutiert werden.
Weiterführende Literatur des Autors: Gantke, Wolfgang: Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaft liche Untersuchung, Marburg 1998. –: Aurobindos Philosophie interkulturell gelesen, Nordhausen 2007.
Anmerkungen 1 Für den Aufk lärer Lessing können bekanntlich zufällige Geschichtswahrheiten der Beweis von notwendigen Vernunft wahrheiten nie werden. Darin liegt eine bleibende Herausforderung für alle Offenbarungsreligionen, für die einmalige historische Ereignisse eine zentrale Rolle spielen. Auch seine berühmte Ringparabel lässt sich mit dem Wahrheitsanspruch der drei abrahamitischen Religionen nicht vereinbaren und setzt den Durchgang durch den Zweifel immer schon voraus, denn die wahre Religion lässt sich nicht erkennen. Für Gläubige ist dies eine unbefriedigende Botschaft. 2 Zu Menschings Toleranzkonzeption vgl. Mensching, G.: Toleranz und Wahrheit in der Religion, Heidelberg 1955. Weiterhin: Yousefi, H. R.: Der Toleranzbegriff im Denken Gustav Menschings. Eine interkulturelle philosophische Orientierung, Nordhausen 2004. In Orientierung an Mensching entwickelt Yousefi das Programm einer (interkulturellen) „Angewandten Religionswissenschaft“ (vgl. 83 ff.) und zielt dabei auf eine „Angewandte Toleranz als regulatives Prinzip“ (S. 265 ff.). Dies zeigt, dass in der Toleranzfrage durchaus ein Brückenschlag von der Theorie zur Praxis möglich ist. In dieser Perspektive sind auch alle anderen Bände der von Yousefi herausgegebenen „Bausteine zur Mensching-Forschung“ beachtenswert. Mensching ist für Yousefi der erste Vertreter einer „Angewandten Religionswissenschaft“. 3 Zitiert nach: Mensching, G.: Buddha und Christus, Ein Vergleich, Stuttgart 1978, S. 268.
Autorinnen und Autoren
Böttigheimer, Christoph, geb. 1960, ist Professor für Fundamentaltheologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Elsdörfer, Ulrike, geb. 1953, ist Doktor der Evangelischen Theologie. Von 1979–2008 und von 2004–2012 war sie ev. Pfarrerin; derzeit arbeitet sie als freiberufl iche Supervisorin und Mitglied im Vorstand des International Council on Pastoral Care and Counselling (ICPCC). Falaturi, Abdoldjavad, 1926–1996, hatte den Lehrstuhl für Islamwissenschaft in Köln inne und gilt als einer der führenden Vermittler zwischen Christentum und Islam des 20. Jahrhunderts. Er ist Begründer der Schia-Bibliothek am Orientalischen Seminar der Universität zu Köln. Gantke, Wolfgang, geb. 1951, ist Professor für Religionswissenschaft und Religionstheologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Ginaidi, Ahmed, geb. 1943, ist Doktor der Islamwissenschaften. Er ist Lehrbeauft ragter für Islamische Theologie an der PH Karlsruhe. Güneş, Merdan, geb. 1947, ist Doktor der Philosophie. Er ist Mitinitiator, Lehrkraft und Mitglied der fachdidaktischen Kommission des islamischen Religionsunterrichts in Rheinland-Pfalz. Hübsch, Khola Maryam, geb. 1980, M. A., ist als freie Journalistin und Referentin in Frankfurt am Main tätig. Kirste, Reinhard, geb. 1942, ist Doktor der Evangelischen Theologie. Er wirkt als Gemeindepfarrer in Berlin und Hildesheim und ist Mitbegründer und Koordinator der Interreligiösen Arbeitsstelle (INTR°A) in Nachrodt / Westfalen. Klausnitzer, Wolfgang, geb. 1950, ist Professor für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Razavi Rad, Mohammad, geb. 1963, ist Doktor der Philosophie und Theologie und Leiter des Instituts für Human- und Islamwissenschaften e. V. in Hamburg. Scheidgen, Hermann-Josef, geb. 1957, ist Privatdozent für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Rheinischen Friedrich Wilhelms-Universität Bonn. Schirrmacher, Thomas, geb. 1960, ist Rektor und Professor für Ethik und Menschenrechte und Missions- und Religionswissenschaften am Martin-Bucer-Seminar und Sprecher für Menschenrechte sowie Vorsitzender der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz. Sukhni, Elhakam, geb. 1982, M. A., ist wissenschaft licher Mitarbeiter am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück. Tamcke, Martin, geb. 1955, ist Professor für Ökumenische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der orientalischen Kirchen- und Missionsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Thull, Philipp, geb. 1987, ist Diplom-Theologe und Lizentiat des Kanonischen Rechts, zur Zeit Studierender der Rechtswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie Promovend im Fach Kirchenrecht.
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Wolfgang Gantke
Yousefi, Hamid Reza, geb. 1967, ist Privatdozent für Geschichte der Philosophie und Interkulturelle Philosophie an der Universität Koblenz. Zudem ist er Gründungspräsident des Instituts zur Förderung der Interkulturalität in Trier sowie Initiator und Herausgeber der Schriften ,Interkulturelle Bibliothek‘, ,Studien zur Weltgeschichte des Denkens‘ sowie ,Philosophische Perspektiven‘.