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German Pages [280] Year 2008
Alexander Thomas (Hg.)
Psychologie des interkulturellen Dialogs Mit 9 Abbildungen und 9 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40302-0
© 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Daniela Weiland, Göttingen Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Alexander Thomas Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alexander Thomas Bedingungen zum interkulturellen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Ulrich Hößler Qualifizierung zum interkulturellen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . 33 Stefan Kammhuber Psychologie interkultureller Rhetorik als Grundlage des interkulturellen Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Eva Maria Stögbauer und Henriette-Muriel Müller Interreligiöse Kompetenz im interkulturellen Dialog . . . . . . . . 68 Anna Ehret Diagnose und Förderung der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog am Beispiel interkultureller Assessment-Center . . . . . . 80 Ulrike de Ponte Von der interkulturellen Begegnung über den interkulturellen Dialog zur interkulturellen Kompetenz. »Dialog-Räume« in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . 90 Verena Stengel Kooperatives Lernen als Triebfeder und Drehscheibe interkulturellen Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
6 Inhalt Juliana Murnyati Tjaya und Anna Ehret Vertrauensaufbau durch interkulturellen Dialog . . . . . . . . . . . 123 Monika Eigenstetter und Rüdiger Trimpop Verantwortung und interkultureller Dialog in Organisationen 135 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza Interkultureller Dialog in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Sylvia Schroll-Machl Interkultureller Dialog als wirtschaftlicher Erfolgsfaktor . . . . . 175 Julia Bürger Interkultureller Dialog in bi- und multikulturellen interkulturellen Trainings . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Stefan Schmid Interkultureller Dialog und Migration. Psychologische Analyse eines angespannten Dialogs . . . . . . . 211 Heike Abt Interkultureller Dialog mit Migranten in sozialen und öffentlichen Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Celine Chang Interkultureller Dialog in internationalen Jugendbegegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Astrid Utler Interkultureller Dialog in der europäischen Jugendbegegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
Alexander Thomas
Einführung
Die europäische Kommission hat 2008 als »Europäisches Jahr des interkulturellen Dialogs« definiert und das nicht zufällig. Die Begründung seitens des zuständigen Kommissars Ján Figel lautet: »In den letzten Jahren hat sich in Europa viel geändert: Mehrere Erweiterungen, eine größere Mobilität durch den Binnenmarkt und ein stärkerer Austausch von Menschen und Waren mit außereuropäischen Ländern haben ihre Wirkung gezeigt. Dadurch kam es zu Interaktionen zwischen den Europäern und anderen Kulturen, Sprachen, Völkern und Religionen inner- und außerhalb des europäischen Kontinents. Der Dialog zwischen den Kulturen ist also unverzichtbar, wenn sich die europäischen Völker und ihre verschiedenen Kulturen annähern sollen« (2005). Beabsichtigt ist mit dieser Aktion: »– den interkulturellen Dialog zu fördern, der es den europäischen Bürger und allen, die in der Europäischen Union leben, ermöglichen soll, sich die Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, um die zunehmend offene und komplexe Umgebung meistern zu können; – den europäischen Bürgerinnen und Bürgern und allen, die in der Europäischen Union leben, deutlich zu machen, wie wichtig es ist, eine aktive und weltoffene Unionsbürgerschaft zu entwickeln, welche die kulturelle Vielfalt respektiert und auf gemeinsamen Werten gründet« (2005). Schon aus diesem Text wird deutlich, dass sich der interkulturelle Dialog nicht auf Europa beschränkt, sondern ein globales Thema ist und dass, so wichtig der interkulturelle Dialog auch angesehen wird, er doch nicht so ohne Weiteres gleichsam von selbst zustande kommt. Mindestens zwei Bedingungen müssen gegeben sein, damit überhaupt ein interkultureller Dialog erfolgen kann: Es muss eine Dialogbereitschaft auf Seiten aller am Dialog beteiligten Personen vorhan-
8 Alexander Thomas den sein; es sollte also eine eher intrinsische Motivation zum Dialog vorliegen. Zudem muss bei allen Beteiligten eine Fähigkeit zum interkulturellen Dialog gegeben sein, also eine Kompetenz, die nicht schon mit einer vorhandenen Bereitschaft unterstellt werden kann. Der Begriff »Dialog« hat in der Europäischen Literatur und Philosophie eine weit zurückreichende Tradition. In dem immer wieder zitierten sogenannten Sokratischen Dialog »[…] führt der Fragende den Partner stufenweise, im Wechselspiel von Frage, Antwort und Widerlegung zur Bewusstmachung vermeintlichen Wissens und zur Erkenntnis […] In der Aufklärung diente der Dialog in Philosophie und Literatur häufig als Instrument zur Auseinandersetzung mit philosophischen, moralischen, literarischen und wirtschaftlichen Problemen.« In der dialektischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, die sich als Gegensatz zur Transzendentalphilosophie verstand, »[…] ist der Mensch als Ich nur in einer unableitbaren Du-Beziehung gegeben, und seine Welt ist die gemeinsame Welt des menschlichen Miteinanders, das sich besonders im Dialog, in der Sprache vollzieht, die alles menschliche Sich-Begegnen und deshalb auch alles menschliche Weltverhalten prägt […] Die dialogische Philosophie (nimmt) ihren eigentlichen Ausgangspunkt vom religiös-philosophischen Denken Martin Bubers, für den die dialogische Beziehung als ›Sphäre des Zwischen‹, die Ursituation ist, aus der das Ich und Du auseinander und zueinander ins Verhältnis treten können«, was in der Existenzphilosophie eine zentrale Rolle spielt (Brockhaus, 1988, S. 447 f.). Etymologisch gesehen kommt Dialog vom griechischen Wort »dialegesthai«, was soviel bedeutet wie »Zwiegespräch« und »Wechselrede«. Ganz im Sinne der dialektischen Philosophie wird Dialog im »Wörterbuch der Philosophie« definiert als: »Gespräch zwischen gleichberechtigten Partnern mit der Absicht, durch These und Antithese die ›Wahrheit‹ zu entdecken« (Häcker u. Stapf, 2004, S. 201). Entsprechend der neueren Philosophie wird die Wahrheit als das Resultat eines dialogischen Prozesses und nicht apodiktisch verstanden. So geht es beispielsweise in der Gesprächspsychotherapie nicht darum, den Patienten zu etwas zu überreden, von dem der Therapeut überzeugt ist, es könne ihm helfen. Es geht nicht einmal um die Interpretation von psychischen Prozessen durch den Therapeuten, sondern das konfrontative Spiegeln, das Vergleichen
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und Gegenüberstellen sind die Methoden der Wahl mit dem Ziel, im dialogischen Prozess die Selbstständigkeit, Selbstannahme und Selbstwirksamkeit des Klienten zu erhalten und zu stärken. In der gesellschaftspolitischen Diskussion der letzten Jahre, besonders unter der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, aber auch der wachsenden Furcht vor der Internationalisierung und Globalisierung vieler Bereiche der Gesellschaft und ihrer Folgen, von der noch keiner so recht weiß, wohin diese rasante Entwicklung führen wird, hat das Thema Dialog der Kulturen als Alternative zum Kampf der Kulturen stark an Bedeutung gewonnen. Es geht darum, sich intensiv mit den Bedingungen und Folgen des Zusammenstoßens, Kollidierens, Widersprechens, der Disharmonien, mit den Meinungsverschiedenheiten und dem Widerstreits zwischen den Kulturen respektive den Vertretern der Kulturen zu befassen und das im Kontext wissenschaftlicher Forschung und politischen Handelns. Unter diesen Aspekten ist »Dialog der Kulturen« eine erfolgversprechende innovative Form der Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, die zwar recht anspruchsvoll ist, aber auch höchst erfolgversprechend sein kann. Aus psychologischer Sicht müssen jedoch ein paar Grundvoraussetzungen erfüllt sein, damit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen über ihre kulturellen Selbstverständlichkeiten und damit über ihre Kulturgrenzen hinweg einen wirksamen kulturellen Dialog führen können: 1. Es müssen sich Dialogpartner finden, die bereit und qualifiziert sind, einen Dialog zu führen. 2. Es muss ein gemeinsames Interesse am Dialog bestehen. 3. Der Dialog muss erkennbaren Nutzen für beide Partner haben. 4. Jeder Partner muss etwas in ihn einbringen und etwas aus ihm mitnehmen können. 5. Es muss eine Kompetenz, eine Qualifikation für den Dialog vorhanden sein. 6. Das soziale, gesellschaftliche und politische Umfeld muss dialogförderlich sein, es muss also eine soziale Unterstützung für den Dialog geben. Weiterhin sind diese Grundvoraussetzungen eingebunden in einen Ablauf aufeinander aufbauender Stufen, die charakteristische Merkmale aufweisen:
10 Alexander Thomas 1. Wertorientierung: Es muss ein Motiv im Sinne einer hochgeneralisierten Wertungsdisposition zur Ausführung entsprechender dialogbereiter Handlungen vorhanden sein beziehungsweise entwickelt werden. Es muss um etwas gehen und der Gegenstand des Dialogs muss als wichtig wahrgenommen werden. 2. Bereitschaft: Das Motiv, also die hochgeneralisierte Wertungsdisposition, muss einmünden in eine Motivierung, das heißt, die Bereitschaft und das Interesse müssen entstehen, bestimmte Situationen aufzusuchen oder zu schaffen, in denen ein Dialog der Kulturen möglich und sinnvoll ist. 3. Zielorientierung: Der Dialog der Kulturen muss mit einer erstrebenswerten Ziellage im Sinne eines Sollwertes verbunden sein, und zwar auf der Seite beider Partner. An der Soll-Lage müssen sich die Pläne und Handlungen zur Durchführung des Kulturdialogs orientieren, damit sich über eine Sollwert-Istwert-Diskrepanz-Abschätzung die jeweils erreichte Qualitätsstufe beurteilen lässt. 4. Qualifikation: Zur Aufnahme des Dialogs bedarf es nicht nur eines Motivs, einer Motivation und einer Zielorientierung, sondern auch bestimmter Grundfähigkeiten und Fertigkeiten auf Seiten der Dialogpartner, damit ein Kulturdialog überhaupt zustande kommt, geführt werden kann und auf einem erstrebenswerten Qualitätsniveau mit entsprechenden nachhaltigen Konsequenzen betrieben werden kann. Dazu gehören Offenheit, Neugier, Selbstständigkeit, Toleranz (Ambiguitätstoleranz), Kommunikationskompetenz, Reflexivität, Empathie und Perspektivenwechsel und, ebenso wichtig, partnerorientiertes Wissen. 5. Qualifizierung: Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Qualifikation bei allen Partnern gleichsam naturgegeben vorliegt, müssen Möglichkeiten vorhanden sein, die zum Kulturdialog erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben beziehungsweise mit dem Ziel einer interkulturellen Handlungskompetenz auf hohem Qualitätsniveau zu entwickeln. Genau hier setzt der Bildungsauftrag der Schule an. 6. Kontextualisierung: Da die Dialogpartner, so motiviert und qualifiziert sie auch sein mögen, immer nur in einem sozialen Umfeld tätig werden können, muss auf die besonderen Qualitäten dieses sozialen Umfeldes im Sinne der für einen Dialog förderlichen ge-
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sellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Gegebenheiten Rücksicht genommen werden. Es müssen zur Dialogförderung optimale Kontextbedingungen geschaffen werden. Notwendig ist zur Erfüllung dieser Anforderungen die Herausbildung interkultureller Kompetenz. Allgemein kann man feststellen, dass interkulturelle Kompetenz sich in der Fähigkeit zeigt, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei fremden Personen: – zu erfassen – zu würdigen/respektieren – produktiv zu nutzen im Sinne einer: a) wechselseitigen Anpassung b) Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten c) Entwicklung synergetischer Formen des Zusammenlebens und der Wertorientierung. Weiter ausdifferenziert ist interkulturelle Kompetenz folgendermaßen zu definieren: 1. Interkulturelle Kompetenz ist die notwendige Voraussetzung für eine angemessene, erfolgreiche und für alle Seiten zufriedenstellende Kommunikation, Begegnung und Kooperation zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. 2. Interkulturelle Kompetenz ist das Resultat eines Lern- und Entwicklungsprozesses. 3. Die Entwicklung interkultureller Kompetenz setzt die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit fremden kulturellen Orientierungssystemen voraus, basierend auf einer Grundhaltung kultureller Wertschätzung. 4. Interkulturelle Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, die kulturelle Bedingtheit der Wahrnehmung, des Urteilens, des Empfindens und des Handelns bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen. 5. Ein hoher Grad an interkultureller Kompetenz ist dann erreicht, wenn a) differenzierte Kenntnisse und ein vertieftes Verständnis des eigenen und fremder kultureller Orientierungssysteme vorliegen,
12 Alexander Thomas b) aus dem Vergleich der kulturellen Orientierungssysteme kulturadäquate Reaktions-, Handlungs- und Interaktionsweisen generiert werden können, c) aus dem Zusammentreffen kulturell divergenter Orientierungssysteme synergetische Formen interkulturellen Handelns entwickelt werden können, d) in kulturellen Überschneidungssituationen alternative Handlungspotenziale, Attributionsmuster und Erklärungskonstrukte für erwartungswidrige Reaktionen des fremden Partners kognizierbar sind, e) die kulturspezifisch erworbene interkulturelle Kompetenz mit Hilfe eines generalisierten interkulturellen Prozess- und Problemlöseverständnisses und Handlungswissens auf andere kulturelle Überschneidungssituationen transferiert werden kann, f) in kulturellen Überschneidungssituationen mit einem hohen Maß an Handlungskreativität, Handlungsflexibilität, Handlungssicherheit und Handlungsstabilität agiert werden kann. Dabei sind Persönlichkeitsmerkmale und situative Kontextbedingungen so ineinander verschränkt, dass zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen eine von Verständnis und gegenseitiger Wertschätzung getragene Kommunikation und Kooperation möglich wird. Inzwischen liegen zu verschiedenen Themen wie Vertrauen, Verantwortung, interkultureller Kommunikation und Konfliktmanagement sowie zu Praxisfeldern, in denen interkultureller Dialog eine zentrale Rolle spielt wie Migration, Jugendaustausch und multikulturelle Teams, wissenschaftlich gesicherte psychologische Erkenntnisse über Bedingungen und Wirkungen des interkulturellen Dialogs vor, die in diesem Werk zusammengetragen sind. Wenn die einzelnen Beiträge auch recht unterschiedliche Themen behandeln, so verbindet sie das Bemühen aufzuzeigen, wie jeweils angemessene Formen des interkulturellen Dialogs geeignet sind innovative Lösungen beim Aufeinandertreffen kulturell bedingter Widersprüchlichkeiten zu entwickeln. Die ersten sechs Beiträge befassen sich mit Bedingungen und Grundlagen zum interkulturellen Dialog, der Ausbildung zum in-
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terkulturellen Dialog, Kommunikationsprozessen im interkulturellen Dialog, interreligiösen Aspekten des interkulturellen Dialogs, der Qualifizierung und der Entwicklung von interkulturellem Dialog. Es folgen drei Beiträge, die sich mit spezifischen Aspekten befassen, die in enger Verbindung mit Formen des interkulturellen Dialogs stehen, wie kooperatives Lernen, Vertrauen und Verantwortliches Handeln in Organisationen. Schließlich wird noch über Forschungsbefunde aus sieben Handlungsfeldern berichtet, in denen interkultureller Dialog eine zentrale Rolle spielt, wie interkulturelle Dialogprozesse in Organisationen und als wirtschaftlicher Erfolgsfaktor, multikulturelle Teams, Migration sowie der Umgang mit Migranten und internationale und europathematisch zentrierte Jugendbegegnung. So wird ein breites Spektrum an Perspektiven aufgefächert, unter denen die Bedingungen, Verlaufsprozesse und Wirkungen interkulturellen Dialogs aus psychologischer Sicht zu betrachten sind. Zudem wird deutlich, welchen Beitrag die Psychologie zur Qualifizierung des interkulturellen Dialogs leisten kann, denn gerade diese wissenschaftliche Disziplin verfügt über einen reichhaltigen Fundus an Theorien, Methoden und Erkenntnissen aus der allgemeinpsychologischen Forschung und der angewandten Psychologie, die geeignet sind, die kulturellen Determinanten im interkulturellen Dialog auf den kognitiven, motivationalen, emotionalen und aktionalen Ebenen vergleichend zu analysieren und zu bewerten, um daraus Optimierungsvorschläge zu generieren und wirksame Interventionskonzepte abzuleiten.
Literatur Europäische Kommission (2005). Europäisches Jahr des interkulturellen Dialogs. Zugriff am 15.05.2007 unter http://europa.eu.int/comm/culture/ portal/index_de.htm Brockhaus Enzyklopädie (1988). (19. Aufl.). Mannheim: F. A. Brockhaus. Häcker, H. O., Stapf, K.-H. (2004). Dorsch Psychologisches Wörterbuch. (14. Aufl.). Bern u. a.: Huber. Huntington, S. P. (1996) Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München u. Wien: Europa.
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Bedingungen zum interkulturellen Dialog
1 Interkultureller Dialog als spezifische Form zwischenmenschlicher Kommunikation Ein interkultureller Dialog ist zweifelsohne eine unverzichtbare Notwendigkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts, auch wenn es gegenwärtig in vielen Weltgegenden nicht danach aussieht, dass er zustande kommt, und keiner so recht weiß, wie er zustande gebracht werden könnte. Für Deutschland als Exportnation, als Land mit einer weit in die europäische Geschichte zurückreichenden Kulturtradition, Land der Dichter, Denker, Erfinder und Unternehmer, als eine Nation mit einer schwer zu (er)tragenden Bürde aus der jüngeren Geschichte und nicht zuletzt als ein Land im Herzen eines vereinten Europas, ist der Dialog der Kulturen eine unverzichtbare Voraussetzung zur Schaffung von gegenseitigem Vertrauen, zur Friedenssicherung und zur Steigerung der Lebensqualität.Vielfach wird in Anspielung auf die provokante Schrift von Samuel P. Huntington (1996) »Clash of Civilizations« – in deutscher Sprache irreführender Weise mit »Kampf der Kulturen« übersetzt – vom Dialog der Kulturen als Alternative zum Kampf der Kulturen gesprochen. Kulturen führen aber keinen Dialog, sondern nur Menschen untereinander und unter besonderen Umständen und eben auch als Repräsentanten bestimmter Kulturen. Wenn im Folgenden Bedingungen zum interkulturellen Dialog behandelt werden, dann sind damit Grundlagen des Zustandekommens, Einflussfaktoren und Arten des Verlaufsprozesses sowie Kontextbedingungen in Bezug auf die erzielten Wirkungen von Dialogen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen gemeint. Dabei ist es unerheblich, ob die Dialogpartner sich immer der kulturellen Bedingtheit ihrer dialogischen Bemühungen bewusst sind oder nicht. Dialogbereitschaft und Dialogfähigkeit sind Leistungen auf Gegenseitigkeit. Sie
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werden von all denen verlangt, die zu uns reisen und die durchreisen, von denjenigen, die aus beruflichen oder privaten Gründen im Ausland zu tun haben, und ebenso von allen, die im Heimatland mit Menschen aus anderen Kulturen zusammenkommen und für die Menschen aus anderen Kulturen bedeutsam werden. Internationale und interkulturelle Begegnung bedeutet in zunehmendem Maße viel mehr, als nur Fremdes wahrzunehmen, zur Kenntnis zu nehmen und zu tolerieren, sondern erfordert vorrangig Kooperation und Partnerschaft zum Erreichen gemeinsamer Ziele, aber auch zum Genießen gemeinsam erbrachter Leistungen und erarbeiteter Produkte. Respekt und eine irgendwie tolerante Haltung gegenüber dem, was Menschen aus anderen Nationen/Kulturen in die Zusammenarbeit und das Zusammenleben einbringen, reichen nicht aus. Die kulturellen Divergenzen bedürfen der Wertschätzung, wenn sie als bereichernde Ressourcen und Potenziale zur Wirkung kommen sollen. Dialogbereitschaft und Dialogfähigkeit mit Menschen aus anderen Kulturen sind nicht angeboren oder plötzlich vorhanden, sondern das Resultat eines Lern- und Entwicklungsprozesses. Interkulturelle Kompetenz ist dabei sicher als eine zentrale Grundqualifikation zum Dialog zwischen Vertretern unterschiedlicher Kulturen anzusehen. Wer einen Dialog führen will und soll, muss aufnahmebereit sein für das, was der Partner zu sagen hat, muss zuhören können und muss selbst etwas zu sagen haben. Dazu bedarf es eines Mindestmaßes an Wissen, Kenntnissen und Erfahrungen sowie einer ausreichenden Motivation zum Dialog. Hinzukommen muss die verlässliche Erwartung, dass der Dialog zu etwas führt, was bereichernd, bestärkend und bestätigend zu wirken verspricht. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass der interkulturelle Dialog für beide Partner oder alle beteiligten Personen gewinnbringend und zufriedenstellend verläuft. Dazu müssen alle aktiv beitragen. Kurz gesagt: Einen interkulturellen Dialog zu führen, stellt spezifische Anforderungen, beinhaltet eine spezielle Qualifikation der zwischenmenschlichen Kommunikation und erfordert ein unterstützendes soziales Umfeld.
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2 Kommunikationspsychologische Grundlagen Die Kommunikationspsychologie ist eine noch junge Wissenschaft, die sich mit den Grundlagen, den Formen und Verlaufprozessen ebenso wie den Wirkungen des kommunikativen Austauschs zwischen zwei Menschen (Dyade), in Gruppen, Organisationen und makrosozialen gesellschaftlichen Bezügen befasst. Dabei greift sie zurück auf das, was zum Thema Kommunikation in der Sozialpsychologie, der Organisationspsychologie, der Pädagogischen Psychologie, aber auch in benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen wie der Allgemeinen Kommunikationswissenschaft, der Medienwissenschaft und der Soziologie an Theorien, Methoden und Forschungsergebnissen vorliegt. Inzwischen gibt es eine Fülle von psychologischen Kommunikationstheorien, die zum Teil auf allgemeine Theorien der Kommunikation aufbauen, die zwar im Folgenden kurz erwähnt werden, auf die hier aber nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Die Ausführungen orientieren sich dabei an Frindte (2001), »Einführung in die Kommunikationspsychologie«. Allgemeine Kommunikationstheorien: – Theorien des symbolischen Interaktionismus (Mead, 1968): Nicht sogenannte objektive Gegebenheiten beeinflussen die Kommunikation, sondern die subjektive Art und Weise, wie Kommunikatoren und Kommunikanten Gegenstände, Personen und Situationen definieren. – Simulus-Response-Modell (Lasswell, 1927): Kommunikatoren senden gezielt Informationen aus, um Massen zu beeinflussen. – Lasswell-Formel (Lasswell, 1948): Wer sagt was, zu wem, womit, durch welches Medium, mit welcher Absicht und welchem Effekt? – Zweistufiges Einflussmodell (Lazarsfeld, Berelson u. Gaudet, 1944): Kommunizierte Informationen wirken aufgrund ihres Inhaltes und zudem durch das soziale Umfeld, zum Beispiel durch vertrauenswürdige Bezugspersonen. – Theorien des kommunikativen Handelns (Habermas, 1981): Sprachliche Kommunikation erhält dann ihren eigentlichen Sinn, wenn sich die Kommunikanten wechselseitig auf etwas
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Gemeinsames verständigen. Dabei geht Habermas von vier als universell anzusehenden Ansprüchen aus: »1. Den Anspruch der ›Verständlichkeit‹: Das heißt, der Sprecher/die Sprecherin muss wissen, dass er/sie sich dem grammatikalischen Regelsystem seiner/ihrer Sprache entsprechend ausdrückt, um von seinem Kommunikationspartner verstanden zu werden. 2. Den Anspruch der ›Wahrheit‹: Das heißt, der Sprecher/die Sprecherin muss wissen, dass er/sie über etwas sprechen muss, dass auch vom Kommunikationspartner als existierend angesehen wird. 3. Den Anspruch der ›Wahrhaftigkeit‹: Das heißt, der Sprecher/ die Sprecherin muss im Gespräch seine/ihre tatsächlichen Absichten ausdrücken, um den Kommunikationspartner nicht zu täuschen. 4. Den Anspruch der ›Richtigkeit‹: Das heißt, der Sprecher/die Sprecherin muss sich vor dem Hintergrund anerkannter sozialer Normen und Werte äußern« (Frindte, 2001, S. 36). – Theorie selbstreferenzieller Systeme (Lohmann, 1981): Nicht das wechselseitige Schaffen einer Gemeinsamkeit ist entscheidend, sondern Kommunikation zwischen Menschen lässt soziale Systeme entstehen, in denen Verstehen immer nur als eine selbstreferenzielle Entscheidung auftritt, erkennbar allein am Anschlussverhalten als Fortsetzung der Kommunikation. Psychologische Kommunikationstheorien: – Encoder-/Decoder-Modell (Krauss u. Fussel, 1996): Encoder-/ Decoder-Modelle betrachten Kommunikation als Prozess, in dem ein Sender eine interne Repräsentation (eine individuelle Absicht oder Wirklichkeitsvorstellung) in einen Code (eine Sprache, ein Signal etc.) transformiert (encodiert), die so codierte Information über einen Kanal zu einem Empfänger transportiert, der diese Information, um sie zu verstehen, decodieren muss (Frindte, 2001, S. 41). – Intentionale Modelle (Grice, 1975): Ein Sender ist bemüht, einem Empfänger seine Absichten zu vermitteln und zwar so, dass dieser sie so empfängt, wie sie gemeint sind. Nach Grice (1975) sind dazu vier Maxime der Konversation zu beachten:
18 Alexander Thomas »1. Die Qualitätsmaxime: Nachrichten sollen ein Maximum an Qualität aufweisen (Sei wahrhaftig!). 2. Die Quantitätsmaxime: Nachrichten sollen nicht mehr und nicht weniger Informationen als nötig enthalten. Das heißt, man soll so informativ wie notwendig sein, aber nicht informativer als nötig. 3. Die Relevanzmaxime: Nachrichten an die Kommunikationspartner sollen relevant und bedeutungsvoll sein. Themen, die nicht Gegenstand des laufenden Gesprächs sind, sollten vermieden werden. 4. Die Klarheitsmaxime: Nachrichten sollen klar, deutlich und knapp sein. Mehrdeutige Ausdrücke, unklare Formulierungen sollten vermieden werden« (Frindte, 2001, S. 44 f.). Wirksam werden können diese Konversationsmaximen nur dann, wenn nach Lyons (1977) folgende soziale Kontexte beachtet werden: Rolle der Kommunikationspartner, soziale Rollen und Status, formelle und informelle Strukturen der Kommunikation, Zeit und Ort, Angemessenheit des Sprechstils, Gesprächsthemen und Situation, in der das Gespräch stattfindet. – Modelle der Perspektivenübernahme (Rosemann u. Kerres, 1986): Kommunikationspartner müssen versuchen, die Kommunikationssituation aus Sicht des Partners zu erfassen. Dazu sind vier Komponenten zu beachten: 1. Die kognitiv-prozedurale Komponente bezieht sich auf die Fähigkeit des Sichhineinversetzens. 2. Die affektiv-intentionale Komponente betrifft die Empathiefähigkeit, die Fähigkeit zum Mitleiden und generell die Fähigkeit, auf Gefühle des Partners reagieren zu können. 3. Die kommunikative Komponente zielt auf die Fähigkeit zur Wechselseitigkeit und zum Rückmeldung-Geben in der Kommunikation, damit Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkannt werden. 4. Die kognitiv-strukturelle Komponente beinhaltet ein Bewusstsein von den eigenen Einstellungen, Schemata, Skripts und Überzeugungen sowie das Wissen über die Wirksamkeit eigener Vorurteile und Stereotype gegenüber dem Kommunikationspartner.
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– Dialog-Modelle (Watzlawick u. Beavin, 1972; Krauss u. Fussel, 1996): Im Mittelpunkt des Interesses stehen die soziale Situation und die Interaktion der Kommunikationspartner. Die Kommunikation selbst erzeugt erst die Bedeutung einer Mitteilung, so dass sie verständlich und interpretierbar wird. In der Kommunikation muss Intersubjektivität herausgestellt werden, worunter der von den Interaktionspartnern gemeinsam geteilte Bedeutungsgehalt von Handlungen und Symbolen verstanden wird. Erst durch die Wechselseitigkeit von Beziehungen zwischen den Kommunikationspartnern werden die Bedeutungen erzeugt. Als Beispiel für diesen Prozess benennt Frindte (2001, S. 48 ff.) die Theorie der menschlichen Kommunikation nach Watzlawick und Beavin (1972) mit seinen bekannten fünf Axiomen: 1. Axiom: Man kann nicht nicht kommunizieren; 2. Axiom: Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt; 3. Axiom: Kommunikationsabläufe werden unterschiedlich strukturiert; 4. Axiom: Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten und 5. Axiom: Kommunikation verläuft entweder symmetrisch oder komplementär.
3 Qualitätsmerkmale des interkulturellen Dialogs Die bisher berichteten Ergebnisse zu allgemeinen und psychologischen Kommunikationstheorien lassen schon einige markante Merkmale der zwischenmenschlichen Kommunikation erkennen, die für den Dialog als eine spezifische Form der Kommunikation und dann auch für den interkulturellen Dialog relevant werden können: 1. Die Art und Weise, wie die Kommunikationspartner den Dialoggegenstand, die beteiligten Personen und den situativen Kontext definieren, beeinflussen den Kommunikationsverlauf und bestimmen die Ergebnisse. 2. Der Dialog ist gekennzeichnet durch Wechselseitigkeit zwischen den Partnern.
20 Alexander Thomas 3. Der Dialog zielt auf gegenseitiges Verstehen ab, wozu spezifische Leistungen von beiden Seiten zu erbringen sind. 4. Perspektivenübernahme durch Aktivierung von Empathie ermöglicht das Erschließen und Sichhineinversetzen in den Partner als Voraussetzung für einen auf Verstehen abzielenden Dialog. 5. Die Herstellung von Intersubjektivität als der zwischen den Dialogpartnern geteilte Bedeutungsgehalt von kommunikativen Handlungen und Symbolen ist für den Dialog von zentraler Bedeutung. 6. In jedem Dialog ist zwischen Inhalts- und Beziehungsaspekt der Kommunikation zu unterscheiden und eine Passung zwischen beiden Aspekten herzustellen. Hierbei spielen verbale (Sprache) und nonverbale (Mimik, Gestik, Paralinguistik) Kommunikationszeichen in ihren unterschiedlichen Funktionen und im Prozess des kommunikativen Austauschs eine zentrale Rolle. 7. In jedem Dialog ist zwischen formellen Kommunikationselementen bedingt durch externe Strukturvorgaben (z. B. Rolle, Status, Aufgabe, Zugehörigkeit) und informellen Kommunikationselementen bedingt durch die Eigendynamik der beteiligten Personen (Stimmungen, Sympathie, Antipathie, Motivation, Offenheit versus Verschlossensein gegenüber dem Partner, soziale Attraktivität, sozialer Vergleich u. Ä.) zu unterscheiden. Bei der Analyse der Bedingungen für den interkulturellen Dialog und seiner Qualifizierungsmerkmale ist aus psychologischer Sicht nicht wie bisher nur der Dialog zwischen zwei Personen zu betrachten, sondern auch der Dialog in Gruppen und zwischen Gruppen. Dazu liegen aus der Kommunikations- und Sozialpsychologie beachtenswerte Erkenntnisse vor. Die bereits berichteten Kommunikationstheorien konstatieren, dass soziale Gruppen in eigendynamischer Weise einerseits als soziale selbstreferenzielle Systeme aufzufassen sind und andererseits soziale Wirklichkeiten konstruieren. »Durch die fortlaufenden Interaktionen, das gemeinsame Schaffen sozialer Konstruktionen, das sich entwickelnde Zusammengehörigkeitsgefühl und die identitätsstiftende Funktion ihrer gemeinsamen Interaktionen etc. unterscheiden sich die Interaktionspartner zunehmend als Gruppe von ihren nicht zur Gruppe
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gehörenden Umwelten. Die betreffenden Interaktionspartner, die zu Gruppenmitgliedern geworden sind, grenzen sich damit von ihren Umwelten ab. Nach innen, in der Gruppe, funktioniert diese Grenzbildung im Sinne von Normsetzungen, Sanktionierungen, Konformitätsgeboten etc.; nach außen kann sich die Grenzbildung als symbolische Abgrenzung von anderen Gruppen, Abwertung, Stigmatisierung etc. manifestieren« (Frindte, 2001, S. 118). Soziale Gruppen sind als Deutungsgemeinschaften zu verstehen, die gleiche oder ähnliche Sichtweisen und Bewertungen in Bezug auf gesellschaftliche Themen und Probleme konstruieren und damit ein hohes Maß an interindividueller Übereinstimmung schaffen. Entscheidend für den dialogischen Prozess in Gruppen sind dabei das gruppenspezifische Wissen, die Gruppennormen und -standards, die Rangstrukturen, das Wir-Gefühl, die Kohäsion, eine extreme Kommunikationsverdichtung (Groupthink; Janis, 1972) und erhöhte Risikobereitschaft, bedingt unter anderem durch Verantwortungsverteilung und sozialen Vergleich. Beim Dialog zwischen den Gruppen spielen die von Tajfel (1982) und Turner, Hogg, Oakes, Reicher und Wetherell (1987) entwickelten Theorien der Sozialen Identität und Selbstkategorisierung eine zentrale Rolle. Folgende Prozesse sind beim Intergruppenvergleich wirksam: – soziales Kategorisieren (Bilden von Klassen und Strukturen) zur Reduzierung von Komplexität; – Herstellen von sozialer Identität durch soziale Selbstzuordnung und Identifikation zum Beispiel mit Gruppen; – der soziale Vergleich zwischen der eigenen Bezugsgruppe und anderen relevanten Gruppen stärkt die soziale Identität; – Herstellung positiv bewerteter sozialer Distinktheit zwischen Eigen- und Fremdgruppe erhöht und sichert eine positive Selbstkategorisierung. Die bislang angesprochenen Bedingungsmerkmale und Prozesse des interpersonalen, gruppenspezifischen und intergruppalen Dialogs sind zunächst auf den monokulturellen Kontext bezogen. Im plurikulturellen und interkulturellen Dialog kommen noch zusätzliche Anforderungen hinzu, die im Folgenden einer genaueren Analyse unterzogen werden. Wer von einer sozialen Gemeinschaft
22 Alexander Thomas in eine andere wechselt, beispielsweise mit einer Person kommuniziert, die für ihn von Bedeutung ist, die aber in einer anderen Kultur sozialisiert wurde, in der andere Werte, Regeln, Rituale, Traditionen, Gebote und Verbote vorherrschen als in der eigenen Kultur, oder der in einer Gruppe mit Personen aus anderen Kulturen kommuniziert, wird dann, wenn er sich auf die gewohnten und erprobten Kommunikations- und Interpretationsmuster seiner eigenen Kultur verlässt, erfahren, dass zu vieles zu oft anders verläuft als erwartet. Der Kommunikationspartner verhält sich eben erwartungswidrig und das ohne erkennbaren Grund. Um die damit verbundenen Irritationen und den drohenden Orientierungsverlust zu vermeiden, wird der Kommunikator die Ursache für diese Erfahrungen der Persönlichkeit des Kommunikationspartners zumessen. Er vermutet, dass der Partner unfähig oder unwillig ist, ihn zu verstehen, oder dass er bewusst ein »abweichendes« Verhalten zeigt. Diese subjektive Ursacheninterpretation ist meist nicht das Resultat einer genaueren Analyse und von daher mit Unsicherheiten behaftet, aber sie liefert zumindest vorläufig Sicherheit und schützt vor Kontrollverlust: »Ich weiß, woran ich bin!« In eher seltenen Fällen wird der Kommunikator auf die Idee kommen, die Ursache für seine Irritation in den spezifischen kulturellen Bedingtheiten seines Partners zu vermuten. Noch seltener wird er die Ursache darauf zurückführen, dass er nur auf das zurückgreift, was er selbst für richtig hält und eben keine Perspektivenübernahme in Bezug auf seinen Kommunikationspartner vornimmt. Neben der Sprache als Mittel der Verständigung zwischen Menschen und den nonverbalen Kommunikationsmitteln wie Mimik, Gestik, Taktilität, Blickkontakt, paralinguistische Signale und olfaktorisch vermittelte Signale sind besonders im interkulturellen Dialog die Körpersprache als Ausdrucks- und Verständigungsmittel von großer Bedeutung. So unterscheidet Apelthauer (1997) gestenreiche (z. B. Italien) und gestenarme (z. B. Deutschland) Kulturen, kulturspezifische Darstellungsregeln (z. B. Maskierung und Dramatisierung von Gefühlen), Embleme als konventionalisierte Ausdrucksformen (z. B. Kopfnicken, Kopfschütteln), Hinweisgesten (z. B. Zeigefingerstellungen), Demonstrationsgesten und pantomimische Darstellungen (z. B. Bewegungen, die auf Trinken, Essen oder Schlafen hinweisen) und Körperhaltungen sowie Körper-
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bewegungen (z. B. respektvolle Haltung, Verbeugen, Vortritt lassen). Allerdings ist auch zehn Jahre nach der Publikation seiner Forschungsergebnisse dem Autor zuzustimmen, dass immer noch zu wenige Kenntnisse über kulturelle Varianten in der Körpersprache vorliegen. So kann nach zunächst vielen Misserfolgen erst allmählich durch Beobachtung, Prüfung, Vergleich und Reflexion des unerwarteten körpersprachlichen Ausdrucks in der Interaktion mit Partnern aus spezifischen Kulturen gelernt werden, wie die Körpersprache funktioniert und den kommunikativen Prozess und die Verständigung beeinflusst.
4 Bedingungen und Wirkungen des interkulturellen Dialogs Der interkulturelle Dialog ist ein Prozessgeschehen, das von Voraussetzungen, Intentionen und Motivationen beeinflusst ist, die von den Dialogpartnern in den Dialog eingebracht werden. Hinzukommen Beeinflussungen durch das Dialoggeschehen selbst, wenn man zum Beispiel an Lernvorgänge, Aha-Erlebnisse, kognitiven Perspektivenwechsel und Leistungserfahrungen denkt. Schließlich wirken die Resultate und Konsequenzen auf das Dialoggeschehen ein, wenn auch zunächst nur in Form von Erwartungen, Intentionen, also Absichten, und Gerichtetsein auf ein Ziel und Einstellungen auf Seiten der Interaktionspartner, aber auch aus dem sozialen Umfeld, zum Beispiel der indirekt beteiligten Personen. Alle die hier angesprochenen dialogwirksamen Voraussetzungen, Begleit- und Folgeprozesse werden in ihrer Komplexität deutlich, wenn man versucht, die allgemeinen Voraussetzungen kommunikativen Handelns nach Habermas (1996) in Verbindung mit seiner Theorie der idealen Sprechsituation (Habermas, 1971) auf den interkulturellen Dialog anzuwenden. Voraussetzung für jede Interaktion mit dem Ziel der Verständigung ist die Erfüllung der bereits dargestellten vier universellen Geltungsansprüche: Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit, wobei ein Hintergrundkonsens zwischen den Kommunikationspartner bestehen muss in Bezug auf folgende Forderungen:
24 Alexander Thomas 1. das wechselseitige Wissen der Kommunikationspartner, das jeder die Geltungsansprüche erhebt, 2. die gegenseitige Unterstellung, dass die Geltungsansprüche zu Recht bestehen, 3. die gemeinsame Überzeugung, dass die erhobenen Geltungsansprüche eingelöst sind oder 4. grundsätzlich eingelöst werden können. Als Beispiel für die Bedeutung der vier Geltungsansprüche und des erforderlichen Hintergrundkonsens wird im Folgenden ein Beratungsgespräch im interkulturellen Dialog zwischen einer deutschen Fachkraft im städtischen Ausländeramt und einem afghanischen Familienvater, der um eine Aufenthaltserlaubnis nachsucht, angenommen: 1. Verständlichkeitsanspruch: Die deutsche Fachkraft und der afghanische Familienvater müssen sich gegenseitig die Bereitschaft und Fähigkeit zuerkennen, sich um eine verständliche Ausdrucksweise zu bemühen, bestehend aus Sätzen und Ausdrücken, die den Regeln der von beiden gemeinsam beherrschten Sprache folgen. Schon hier sind erhebliche Zweifel angebracht, ob das überhaupt gelingen kann, wenn die deutsche Fachkraft neben Deutsch als Muttersprache nur Englisch als Fremdsprache eher rudimentär beherrscht und der afghanische Familienvater neben Pashtun nur ein paar Brocken Deutsch und Schulenglisch beherrscht. Ohne Dolmetscher wird hier die sprachliche Verständigung lediglich auf einem Niveau möglich sein, das weit unter dem liegt, was für ein Beratungsgespräch im Sinne eines interkulturellen Dialogs erforderlich ist, trotz aller Bemühungen auf beiden Seiten. Es geht nämlich hier um Rechtsfragen und darum, das Anliegen des Familienvaters vor dem Hintergrund seiner speziellen Lebenssituation und seiner Familie sowie der vorhandenen und auf ihn anwendbaren Rechtsgrundlagen zu prüfen, zu beurteilen und das Ergebnis überzeugend und nachvollziehbar (verständlich) zu kommunizieren. Gelingt die Verständigung nicht, kann dieser Geltungsanspruch nicht eingelöst werden – mit womöglich fatalen Folgen für beide Seiten. Der afghanische Familienvater fühlt sich ungerecht behandelt, die deutsche Fachkraft hat den Eindruck
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in ihrer fachlichen Kompetenz nicht ernst genommen worden zu sein. 2. Wahrheitsanspruch: Jeder Kommunikationspartner weiß, dass die sprachlichen Bezeichnungen, die er verwendet, einen real existierenden (wahren) Sachverhalt betreffen, der auch von dem Partner als existent anerkannt wird. Dies trifft zu, solange die Kommunikation auf den Sachverhalt »Beratungsgespräch zur Anerkennung des Bleiberechts« zentriert ist und nicht auf Themenfelder ausweicht, die dem Wahrheitsanspruch nicht mehr entsprechen. 3. Wahrhaftigkeitsanspruch: Die deutsche Fachkraft und der afghanische Familienvater müssen so kommunizieren, dass beide den Sprecher-Interaktionen vertrauen. Beide müssen die Überzeugung gewinnen, dass Fragen der Realitätsergründung und Wissenserweiterung dienen und dass Antworten als zutreffende Auskünfte über den Realitätsausschnitt zu gelten haben und nicht der Provokation oder Irreführung dienen. Hier ist die Vertrauensthematik relevant, die zwischen den Kommunikationspartnern unterschiedlich behandelt werden kann. Die deutsche Fachkraft geht womöglich davon aus, dass der afghanische Familienvater ihren Aussagen vertraut, weil sie in der Rolle als behördlich legitimierte Beraterin agiert. Der afghanische Familienvater hat aber womöglich ein in seinen bisherigen Erfahrungen verankertes Misstrauen gegen jede Art staatlicher Institutionen und gewinnt erst allmählich Vertrauen zur deutschen Fachkraft und dies nicht aufgrund ihrer Position, sondern ihrer individuellen überzeugenden Art der Kommunikation und ihrer Persönlichkeit, oder er versucht, mit Rückgriff auf seine bisherigen Erfahrungen im Heimatland durch Geschenke und Geldzuwendung das Wohlwollen der Fachkraft zu »erkaufen«. 4. Richtigkeitsanspruch: Fachkraft und Familienvater müssen in Bezug auf den Realitätsausschnitt »Beratungsgespräch zur Anerkennung der Aufenthaltsgenehmigung« übereinstimmend konstatieren, dass die gemachten Äußerungen entsprechend den gesellschaftlichen und inter-individuell anerkannten Werten und Normen »richtig« sind. Nur so kann der Hörer die Aussagen des Sprechers vor dem geteilten normativen Hintergrund akzeptieren und als »richtig« einschätzen. Im hier vorliegenden Fall kann nun davon ausgegangen werden, dass beide Partner völ-
26 Alexander Thomas lig unterschiedliche Vorstellungen davon mitbringen, was gesellschaftlich und inter-individuell anerkannte Werte und Normen sind. Allein schon die absolute Gültigkeit gesetzlicher Vorgaben wird vom afghanischen Familienvater womöglich nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber sehr wohl in Bezug auf ihre Auslegung und Handhabung, normativ oder pragmatisch und dazu noch mit Blick auf die Besonderheiten seines speziellen Falls. Wie sich aus diesen Ausführungen ergibt, muss im interkulturellen Dialog schon allein aufgrund der kulturspezifischen Unterschiede der kommunizierenden Partner mit Störungen gerechnet werden, die durch Nachfragen, wie das Gesagte gemeint ist, oder durch zusätzliche Erklärungen nur bedingt zu beheben sind. Über problematisch gewordene Geltungsansprüche muss dann ein Konsens herbeigeführt werden, was nach Habermas über den sogenannten Diskurs passiert. Im Diskurs wird eine ideale Sprechsituation unterstellt, die weder durch äußere Einflüsse noch durch Zwänge an den Kommunikationsprozess selbst beeinträchtigt wird. Diese ideale Sprechsituation wird von Habermas auch als die »Utopie herrschaftsfreier Kommunikation« bezeichnet, in der Chancengleichheit bezüglich der Dialogrollen feststeht und systembedingte Verzerrungen der Kommunikation ausgeschlossen sind. In der realen Alltagskommunikation gehört es »zur Struktur möglicher Rede, dass wir im Verzug der Sprechakte […] kontra faktisch so tun, als sei die Sprechsituation nicht bloß fiktiv, sondern wirklich« (Habermas, 1971, S. 140). In interkulturellen Dialogen treten nicht nur Störungen der »idealen Sprechsituation« auf, die – wie auch im monokulturellen Dialog – durch den Diskurs behoben werden können, sondern die Kommunikationspartner versuchen, eine gegenseitige Annäherung an die Kultur des jeweils anderen Partners, um zu einer Verständigung zu kommen. Dadurch verändern sie ihre eigenkulturellen Kommunikationsgewohnheiten und entwickeln im Zusammenhang mit dem interkulturellen Dialoggeschehen eine eigene, durchaus neue Form des Kommunizierens, die sie aus dem monokulturellen Kontext in dieser Art und Weise nicht kennen und auch nicht praktizieren (müssen). Zugrunde liegt dieser Entwicklung ein interkultureller Lernprozess, der dann erfolgreich ist, wenn die Anpassungsleistungen von den Partnern wechselseitig er-
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widert und honoriert werden. Hier wirken sich persönliche Fähigkeiten aus, wie sie sich in einschlägigen Forschungsarbeiten und in der Literatur (Thomas u. Simon, 2007; Stahl, 1998) immer wieder als förderlich zur Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz erwiesen haben: – Neugier/Offenheit; – Perspektivenübernahmefähigkeit; – Reflexionsfähigkeit; – Flexibilität; – Ambiguitätstoleranz, – Empathie und – physische und psychische Belastbarkeit. Hinzukommen situative Komponenten, die den interkulturellen Dialog fördern wie symmetrische Macht- und Einflussbeziehungen, ein dialogförderliches soziales Umfeld, gemeinsame Merkmale in der biographischen Entwicklung, Ziel- und Erwartungsähnlichkeit und interaktive Komponenten wie Kommunikations- und Dialogerfahrungen, Empathiebereitschaft und -fähigkeit, flexibles Reagieren auf unerwartete neue Situationen. Knapp-Potthoff (1997) hat Interaktions- und Lern-/Forschungsstrategien identifiziert, die geeignet sind, einen interkulturellen Dialog zu unterstützen. Sie geht dabei von Kommunikationsgemeinschaften aus, die nicht mit Nationen identisch sein müssen, sondern auch regionale, soziale oder professionelle Subgruppen umfassen können. Kommunikationsgemeinschaften schaffen ein gemeinsam geteiltes (Hintergrund-) Wissen, bilden Subgruppen, etablieren sich quer zu anderen Kommunikationsgemeinschaften, sind dynamisch und weisen oft scharfe Grenzen auf und Individuen gehören immer mehreren Kommunikationsgemeinschaften an. Wenn von interkulturellem Dialog gesprochen wird, ist häufig ein Dialog zwischen Personen aus unterschiedlichen Kulturen mit einer spezifischen kulturellen Identität gemeint, die den Dialog bestimmt, stört, zu Missverständnissen führt, die dann kulturell verankert werden. Unabhängig davon, dass mit einer solchen Auffassung ein eher nationengebundenes, homogenes Kulturverständnis verbunden ist, obwohl in der Neuzeit eine homogene kulturelle Prägung von Mitgliedern einer Nation nicht mehr unterstellt werden kann, ist jeder interkulturelle
28 Alexander Thomas Dialog bestimmt von Mikrokulturen respektive subkulturellen Einflüssen, aus denen sich Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede im Dialogprozess erklären lassen. In Anlehnung an Renger (1994) lassen sich folgende Mikrokulturen unterscheiden, die einen erheblichen Einfluss auf den Dialogprozess ausüben, wobei diese Liste keineswegs vollständig ist: 1. Kommunikation zwischen Ethnien unterscheidet sich besonders in Bezug auf den sprachlichen und kulturellen Hintergrund, aus dem heraus Sitten, Etiketten, Brauchtümer, Verhaltensgewohnheiten und Ähnliches resultieren (z. B. Bayern und Rheinländer). 2. Konterkulturelle Kommunikation findet statt, wenn Personen einer Stammkultur mit Personen einer Subkultur aus der Stammkultur kommunizieren. Hierbei entstehen Konflikte zwischen der dominierenden Stammkultur und davon entfremdeten Subkulturen (z. B. Deutsche und Gastarbeiter). 3. Kommunikation zwischen sozialen Klassen, die sich durch Einkommen, Bildung und Beruf unterscheiden. 4. Kommunikation zwischen demographischen Gruppenmitgliedern unterschieden nach Religionszugehörigkeit, familiärer Herkunft (adelig/bürgerlich), geographischer Herkunft (Flachland/ Gebirgsregion), Wohnsitz (ländlich/städtisch), Geschlecht, Generationen und Ähnliches. 5. Ländliche versus urbane Kommunikation ist geprägt durch Unterschiede im Lebensstil, Lebensgeschwindigkeit, Gestaltung sozialer Beziehungen. 6. Regionale Kommunikation betrifft die kommunikative Verständigung zwischen Bewohnern unterschiedlicher Bundesländer (Bayern und Schleswig-Holsteiner) und Landstriche (Niederbayern und Franken). 7. Kommunikation zwischen Geschlechtern zeigt, dass Männer und Frauen unterschiedliche Kommunikationsstile aufweisen und Kommunikationsprozesse unterschiedlich strukturieren. 8. Kommunikation in Organisationskulturen ist stark geprägt von Normen, Werten, Sitten und Gebräuchen, die sich in Organisationen so verfestigt haben, dass sie das interaktive und kommunikative Verhalten ihrer Mitglieder prägen. 9. Kommunikation zwischen Angehörigen unterschiedlicher Berufsgruppen unterscheiden sich so erheblich, dass die Verstän-
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digung selbst innerhalb eines Unternehmens zwischen Technikern und Vertriebs-/Kaufleuten schwerfällt – und das nicht aufgrund fachsprachlicher Unterschiede, sondern aufgrund der unterschiedlichen Bedeutung und des spezifischen Hintergrundverständnisses, das sich mit dem gesprochenen und geschriebenen Wort verbindet. 10. Familienkulturen beeinflussen über den Prozess des sozialen Lernens respektive der familiären Sozialisation den individuellen Kommunikationsstil in erheblichem Maße. Um nun innerhalb von Kommunikationsgemeinschaften einen interkulturellen Dialog führen zu können, sind bestimmte Regeln zu beachten, damit ein Dialog überhaupt zustande kommen kann und ein für beide Seiten zufriedenstellendes Ergebnis liefert, das heißt, als Bereicherung erlebt wird, wechselseitiges Verstehen fördert, Vertrauen zwischen den Kommunikationspartnern schafft und festigt und im Vollzug des interaktiven Geschehens eine Vertiefung der Partnerbeziehungen stattfindet. Die folgenden Regeln, die zur Führung eines interkulturellen Dialogs zu beachten sind, entsprechen den Ausführungen von Knapp-Potthoff (1997, S. 202) und dem SPATEN-Modell interkulturellen Lernens nach Thomas, Layes und Kammhuber (1998): 1. Beim interkulturellen Dialog, besonders beim Auftreten kultureller Divergenzen, erwartungswidriger Partnerreaktionen gilt die Regel: Stoppe den automatischen Bewertungs- und Reaktionsprozess! 2. Reflektiere das bisherige Geschehen und präzisiere die aufgetretenen Irritationen! 3. Thematisiere deine eigenen Erwartungen an den Partner und den Dialogprozess und seine Ergebnisse! 4. Reflektiere deine eigenen kulturellen Standards, soweit sie im Dialoggeschehen relevant werden! 5. Relativiere deine Standards, indem du sie als eine Möglichkeit des Verstehens, der Sinn- und Bedeutungszuschreibung sowie des Reagierens und Interagierens im Dialogprozess neben anderen interpretierst! 6. Bemühe dich die Dialogbereitschaft im interkulturellen Dialog aufrechtzuerhalten! Das kann gelingen durch:
30 Alexander Thomas – das Vermeiden von Tabuverletzungen, – partielle Annäherung/Anpassung an die fremdkulturelle Kommunikationsgemeinschaft, – Suche nach einem gemeinsamen Hintergrundverständnis, – Kommunizieren der Wünsche und Erwartungen in einer für den Dialogpartner adäquaten, nachvollziehbaren, verständlichen und überzeugenden Art und Weise. 7. Suche nach Gemeinsamkeiten! So beispielsweise: – gemeinsame Teilhabe an Kommunikationsgemeinschaften, – gemeinsamen Erfahrungshintergrund, Status, soziale Rollen, Netzwerke oder Ähnliches. 8. Achte auf Missverständnisse seitens des Dialogpartners und suche nach Erklärungen! Nationalkulturelle und mikrokulturelle Erklärungen liefern dafür Anhaltspunkte. 9. Verwende und bemühe dich um den Einsatz von Verfahren zur Vermeidung und Behebung von Missverständnissen, so dass der Kommunikationspartner sein Gesicht wahren kann! 10. Entwickle Strategien zur gezielten Befragung und Beobachtung, zur Erweiterung, Differenzierung und Revision von spezifischem Wissen über handlungswirksame kulturelle Kontextbedingungen, die das Verhalten des Dialogpartners prägen!
5 Fazit Die internationale Forschungsliteratur über die Bedingungen, Verlaufsprozesse und Wirkungen zwischenmenschlicher Kommunikation aus dem Blickwinkel der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen ist umfangreich und vielfältig. Der Erkenntnisreichtum ist entsprechend seiner Bedeutung zur Erklärung, wie ein produktiver und für alle befriedigender interkultureller Dialog in den vielen Handlungsfeldern, von denen einige in diesem Buch beleuchtet werden, zustande kommen kann, noch keineswegs erschlossen. Die Internationalisierung und Globalisierung zwingt die Menschen in die Teilnahme am interkulturellen Dialog. Sie erzwingt zudem, Formen des interkulturellen Dialogs zu entwickeln, die kreative und innovative Elemente enthalten und damit deutlich den gewohnten national-kulturellen Rahmen vertrauter Kommunikation sprengen.
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Die Qualifizierung von Fach- und Führungskräften, die beruflich zum interkulturellen Dialog gezwungen sind hin zur Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz, ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass dieser kreative Prozess zur Weiterentwicklung des interkulturellen Dialogs überhaupt zustande kommt. Zugleich werden so die Motivation, der Mut und das Engagement sowie die erforderlichen Fähigkeiten zum interkulturellen Dialog entwickelt, gefördert und gestärkt. Begleitet werden müssen diese Initiativen und Entwicklungen, die aus der Bewältigung der interkulturellen Herausforderungen heraus entstehen durch gezielt wissenschaftliche Forschungen zum interkulturellen Dialog und zu dessen Bedingungen und Wirkungen, wobei diese Forschungen selbst des interkulturellen Dialogs bedürfen, da sie von ihrem Gegenstand her nur in und mit plurikulturellen Forscherteams durchzuführen sind.
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Ulrich Hößler
Qualifizierung zum interkulturellen Dialog
Wie in der Einführung und in Kapitel 1 (vgl. Beiträge von Thomas in diesem Band) bereits erläutert wurde, bedarf es zum interkulturellen Dialog neben der Bereitschaft auch einer spezifischen Qualifikation aller beteiligten Dialogpartner, die als interkulturelle Kompetenz bezeichnet werden kann. Es gibt zahlreiche Definitionen, Theorien und Modelle, wie interkulturelle Kompetenz beschaffen ist, wozu sie dient und wie sie entsteht. Im Folgenden wird dargestellt, worin die verschiedenen Forschungsergebnisse übereinstimmen, um darauf aufbauend anhand eines Beispiels die Notwendigkeit und Möglichkeiten der Qualifizierung zum interkulturellen Dialog aufzuzeigen.
1 Interkulturelle Kompetenz Nach einer unter interkulturellen Forschern weit verbreiteten Meinung ist interkulturelle Kompetenz generell die Fähigkeit, in kulturellen Überschneidungssituationen erfolgreich und angemessen agieren zu können (Thomas u. Simon, 2007). Eine kulturelle Überschneidungssituation ist dann gegeben, wenn unterschiedliche kulturelle Orientierungssysteme gleichzeitig und an demselben Ort wirksam werden und dadurch kulturelle Differenzen hervortreten (Thomas u. Simon, 2007). Dies kann eine Geschäftsbesprechung zwischen deutschen und italienischen Kooperationspartnern oder eine Begegnung zwischen französischen und polnischen Studenten sein, aber auch der Unterricht eines deutschen Lehrers vor deutschen Schülern mit russischem Familienhintergrund oder ein Gespräch zwischen einem 16-Jährigen und einem Pensionär. Entscheidend ist, dass bei mindestens einem der Interaktionspartner ein Diskrepanzerlebnis auftritt, das auf die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Kollektiven zurückzuführen ist.
34 Ulrich Hößler Oft werden solche Kollektive, zwischen denen kulturelle Differenzen bestehen – ob bewusst oder unbewusst – mit Nationen gleichgesetzt. Das ist mehr als verständlich, stellen Nationen doch sehr markante, eindeutige und relativ gut abgrenzbare soziale Kollektive dar, die durch eine Reihe von starken Symbolen definiert werden wie zum Beispiel amtliches Zugehörigkeitsdokument (Personalausweis, Reisepass), geographische Grenzen, gewähltes Parlament, Staatsoberhaupt, oftmals eine von allen Bürgern gesprochene Sprache. Innerhalb dieser nationalen Kollektive existiert ein hohes Maß an Heterogenität, bedingt durch eine Vielzahl von Untergruppen, die eigene Kulturen ausbilden, zum Beispiel Regional-, Geschlechter-, Fach-, Unternehmens-, Generationenkulturen sowie Kulturen ethnischer Minderheiten. Jeder Bürger ist ein Vertreter durchaus sehr unterschiedlicher Kulturen, die sich auch über die Nationalgrenzen hinaus erstrecken können. Die zunehmende Globalisierung und Internationalisierung führt zu einer sich stetig erhöhenden Anzahl an kulturellen Überschneidungssituationen, ob nationalkultureller oder sonst wie kultureller Art, innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Die Auseinandersetzung mit kultureller Andersartigkeit beginnt dann zum Beispiel bereits mit dem Einkauf beim türkischen Gemüsehändler und endet noch lange nicht bei der Arbeitsbesprechung mit dem spanischen Kollegen. Kriterien erfolgreichen und angemessenen Handelns in kulturellen Überschneidungssituationen konnten in der Austauschforschung identifiziert werden. Die Austauschforschung befasst sich mit den Bedingungen, Prozessen und Konsequenzen des Lebens in einem fremden Land zum Beispiel bei Auslandsentsandten von Unternehmen und Organisationen – sogenannte Expatriates –, Schülern und Studenten sowie Migranten. Die folgenden drei Kriterien erfolgreichen und angemessenen Handelns in fremdkultureller Umgebung lassen sich gut auf den interkulturellen Dialog zur gelungenen Bewältigung kultureller Überschneidungssituationen übertragen: – effektive Aufgabenerfüllung (z. B. Durchführung des vom Unternehmen erteilten Auftrags, erfolgreicher Besuch von Universitätskursen, Berufsausübung im Aufnahmeland), – Wohlbefinden und minimaler Stress sowie – Aufbau und Pflege positiver, tragfähiger sozialer Beziehungen
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zu fremdkulturellen Partnern (Thomas u. Simon, 2007; Thomas, Chang u. Abt, 2007). Erfolgreiches und angemessenes Handeln in kulturellen Überschneidungssituationen ist hochgradig abhängig von situativen Einflussgrößen. Die unterschiedliche kulturelle Prägung der Interaktionspartner, deren individuelle Persönlichkeit, Fähigkeiten, Vorerfahrungen und Lebenssituation sowie externale Faktoren wie Wetter, Lärm, Zeitdruck, Anzahl der Anwesenden und Machtverhältnisse beeinflussen das Verhalten aller Beteiligten (Hatzer u. Layes, 2003). Sind die Kontextfaktoren besonders günstig, gelingt ein interkultureller Dialog mühelos – beispielsweise, wenn sich eine deutsche Französischlehrerin bei einem Essen in entspannter Atmosphäre mit Kollegen der französischen Partnerschule, die ihr bekannt und sympathisch sind und die gleichen Ziele wie sie verfolgen, über die Besonderheiten der deutschen und französischen Küche unterhält. Sind die äußeren Umstände besonders widrig, tun sich auch interkulturell kompetente Personen schwer, den interkulturellen Dialog erfolgreich zu gestalten, zum Beispiel wenn ein deutscher Lehrer einem aus Kasachstan stammenden, schlecht Deutsch sprechenden Vater in dessen Wohnung bei lautstark laufendem Fernseher erklären muss, dass sein Sohn mehrmals durch Gewalttätigkeit an der Schule auffiel und ohne kostspielige Nachhilfestunden das Klassenziel nicht erreichen wird. Bereits die Aufgabe, dem Vater die prekäre schulische Situation seines Kindes verständlich zu machen, ist schwer zu erfüllen. Selbst wenn dem Lehrer dies gelingt, fühlt er sich nicht wohl in der Situation, im Gegenteil, er ist massivem Stress ausgesetzt; und dass er mit dem Vater eine positive tragfähige soziale Beziehung aufbaut, ist kaum vorstellbar. Um unvermeidbar auftretende kulturell bedingte Missverständnisse und Konflikte produktiv im Dialog lösen zu können, bedarf es bei allen Beteiligten entsprechender Voraussetzungen in Bezug auf Wissensstrukturen und Informationsverarbeitungspotenziale (kognitive Dimension), Einfühlungsvermögen, Belastbarkeit, Einstellungen und Motive (emotionale Dimension) sowie Umsetzungsvermögen und Handlungspotenziale (aktionale Dimension) (Thomas u. Simon, 2007). Tiefgehende Kenntnisse des eigenen und fremden kulturellen Orientierungssystems, sensible Wahrnehmung
36 Ulrich Hößler und Wertschätzung der Motive und Befindlichkeiten des anderen und besonnener Umgang mit belastenden und uneindeutigen Ereignissen sind essenzielle Voraussetzungen für einen interkulturellen Dialog. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die zum interkulturellen Dialog nötige interkulturelle Kompetenz ist die aus kognitiven, emotionalen und aktionalen Potenzialen bestehende Fähigkeit eines Individuums zur Bewältigung unterschiedlicher und neuartiger Situationen, die durch kulturelle Differenz gekennzeichnet sind. Diese Relevanz für unterschiedliche Anwendungskontexte macht interkulturelle Kompetenz zu einer Schlüsselqualifikation. Schlüsselqualifikationen können definiert werden als Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten eines Individuums zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen, Anforderungen und Aufgaben (Kaiser, 2001). Sie sind damit kontextübergreifend, überfachlich und im Falle interkultureller Kompetenz nicht an spezifische Kulturräume gebunden. Eine interkulturell kompetente Person ist zum Beispiel in der Lage, sowohl berufsbedingte Verhandlungssituationen mit japanischen Geschäftspartnern als auch eine Diskussion mit einem iranischstämmigen Mitbürger über die Einführung islamischen Religionsunterrichts in Deutschland produktiv zu bewältigen. Schlüsselqualifikationen beinhalten die Fähigkeit zur Reflexion eigener Denkprozesse und Erfahrungen und die Fähigkeit zur Analyse eigenen Lernens (»Lernen lernen«) (Kaiser, 2001). Ihre Entwicklung erfordert Wechselwirkungen zwischen Kenntniserwerb zur Bewältigung spezifischer Aufgabenanforderungen und allgemeiner Persönlichkeitsentwicklung (Greif, 2004). Zum Aufbau der Schlüsselqualifikation »interkulturelle Kompetenz« muss die betreffende Person ein Bewusstsein dafür entwickeln, welchen Einfluss auf menschliches Wahrnehmen, Empfinden, Denken, Entscheiden und Handeln internalisierte und unbewusste kulturspezifische Werte, Normen und Verhaltensstandards ausüben, die durch die Sozialisation in spezifischen kulturellen Orientierungssystemen (man spricht hierbei von Enkulturation) vermittelt wurden. Sie muss lernen zu differenzieren, welche irritierenden Verhaltensweisen auf kulturspezifische, individuenspezifische und situationsspezifische Einflüsse hin interpretiert werden können. Sie muss sich Wissen über das eigene und fremde kulturelle Orientierungs-
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system aneignen und lernen, dieses Wissen in verschiedenen Kontexten einzusetzen. Und sie muss eine Persönlichkeitsentwicklung in relevanten Bereichen wie Kontaktfreudigkeit, Offenheit, Flexibilität, Selbstbewusstsein, Reflexionsfähigkeit, Empathie, Ambiguitätstoleranz und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel durchlaufen (Hatzer u. Layes, 2003). Diese zur Befähigung zum interkulturellen Dialog nötigen Entwicklungsprozesse werden durch interkulturelles Lernen aktiviert und angetrieben (vgl. Stengel in diesem Band).
2 Interkulturelles Lernen Interkulturelle Handlungskompetenz wird im Prozess des interkulturellen Lernens erworben. Aus psychologischer Sicht bedeutet Lernen eine stabile Veränderung des Verhaltens oder Verhaltenspotenzials durch Erfahrung (vgl. Weidemann, 2007). Interkulturelles Lernen ist demnach eine stabile Veränderung des Verhaltens oder Verhaltenspotenzials in der Bewältigung kultureller Überschneidungssituationen aufgrund von Erfahrungen kultureller Differenz. Doch es »gelten keineswegs alle aus Erfahrungen kultureller Differenz resultierende, auf den Umgang mit kultureller Differenz bezogene Lerneffekte als ›interkulturelles Lernen‹«, sondern nur jene, die zur Entwicklung interkultureller Kompetenz führen (Weidemann, 2007, S. 496). So spricht man nicht von interkulturellem Lernen, wenn aufgrund von Erfahrungen kultureller Differenz Vorurteile, Misstrauen oder Rassismus verstärkt oder künftige kulturelle Überschneidungssituationen gemieden werden (vgl. Weidemann, 2007). Wie sich der interkulturelle Lernprozess vollzieht, wird anhand des folgenden Beispiels erläutert: Sabine und Carolin, zwei deutsche Studentinnen, die sich über ihr Studium kennen gelernt haben, gründen zusammen eine Wohngemeinschaft (WG). Da sie fremden Kulturen gegenüber aufgeschlossen sind und Interesse an internationalen Kontakten haben, nehmen sie Jana, eine Tschechin, die in Deutschland studiert, als dritte Mitbewohnerin auf. Es ist ihnen sehr wichtig, dass sich Jana wohlfühlt und gute Erfahrungen in Deutschland macht. Als erfahrene WG-Bewohnerinnen wissen Sabine und Carolin, dass es für ein harmonisches Zusammenleben unerlässlich ist, die anfallenden Tätigkeiten und nötigen finanziellen Aufwendungen von Anfang an genau auf-
38 Ulrich Hößler zuteilen und zu planen. Sie achten darauf, Jana gleichberechtigt in die Haushaltsplanung mit einzubeziehen, alle Aufgaben und Ausgaben genau mit ihr durchzusprechen und stets ihr Einverständnis zur Arbeitsteilung einzuholen. Obwohl bei diesen Besprechungen von Jana selten Beiträge oder Fragen und nie Einwände kommen, erledigt sie ihre Aufgaben auch nach einer angemessenen Eingewöhnungszeit nur unzureichend. So wird die Telefonrechnung nicht rechtzeitig überwiesen, das Bad nicht regelmäßig geputzt und Einkäufe, die nicht abgesprochen sind, aus der Gemeinschaftskasse bezahlt. Wenn Sabine und Carolin Jana darauf ansprechen, wobei sie sich stets um einen bestimmten, aber nicht allzu autoritären Ton bemühen, reagiert sie sehr zurückhaltend und einsilbig. Sie rechtfertigt sich nicht und gibt auch keine Erklärungen ab, sondern zieht sich schnell zurück. Trotz des Ärgers ist Jana sehr bemüht und erledigt auch immer wieder Aufgaben, die ihr nicht explizit übertragen wurden. Wenn gemeinsam gekocht wird, rechnen Sabine und Carolin aus, wie viel jede für das Essen anteilig bezahlen muss, während Jana, wenn sie allein für die WG kocht, sich weigert, Geld für die entstandenen Kosten anzunehmen. Den anderen beiden ist das stets peinlich, doch Jana lässt nicht mit sich reden und wechselt dann schnell das Thema. Obwohl sich alle ursprünglich auf Anhieb gut verstanden haben, wird die Stimmung in der WG wegen der Unstimmigkeiten immer gereizter. Jana zieht sich mehr und mehr zurück und Sabine und Carolin sind verärgert, dass sie kein klärendes Gespräch mit Jana führen können.
Die Lernprozesse, die aufgrund der Erfahrungen im Zusammenleben in der Wohngemeinschaft bei allen Beteiligten ausgelöst werden, können impliziter oder expliziter informeller oder formeller Art sein (nach Kaiser, Kaiser u. Hohmann, 2007).
2.1 Implizites interkulturelles Lernen Ein impliziter und damit auch informeller Lernprozess ist unreflektiert, unbewusst und nicht zielgerichtet (Kaiser, Kaiser u. Hohmann, 2007). Im geschilderten Fall besteht er zum Beispiel darin, dass sich die WG-Bewohnerinnen irgendwie mit der Situation arrangieren, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen: Sabine und Carolin entwickeln bezüglich der Aufgabenerledigung und Kostenverteilung eine größere Gelassenheit und Jana hält sich genauer an vereinbarte Arbeitspläne. Derartige Verhaltensänderungen können durchaus zur Entwicklung interkultureller Kompetenz beitragen, wenn sie auf zukünftige kulturelle Überschneidungssitua-
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tionen produktiv übertragen werden können. Allerdings ist eine solch positive Entwicklung eher zufällig und keineswegs selbstverständlich. So könnte es durchaus passieren, dass Sabine und Carolin diese im Kern kulturelle Überschneidungssituation gar nicht als solche wahrnehmen, sondern Janas Verhalten ihrer Persönlichkeit zuschreiben und sie als faule, schlampige oder lernunwillige Person bewerten, die nicht mit Geld umgehen kann. Auch ist es denkbar, dass diese Einschätzung auf alle Personen aus Tschechien (oder sogar ganz Mittel- und Osteuropa) verallgemeinert wird im Sinne von »Tschechen sind faul, schlampig, unwillig zu lernen und können nicht mit Geld umgehen«. Sabine und Carolin könnten ihr Verhalten dann dahingehend ändern, dass sie die in ihren Augen unzureichende Aufgabenerledigung bestrafen, noch genauere Anweisungen geben oder Jana kündigen und nie wieder eine tschechische Mitbewohnerin aufnehmen oder gar generell nichts mehr mit Personen aus Tschechien zu tun haben wollen. In diesen Fällen ist der interkulturelle Dialog gescheitert oder zumindest stark gefährdet. Die durch die Erfahrung kultureller Differenz ausgelösten Verhaltensänderungen haben nicht zum Aufbau interkultureller Kompetenz geführt, sondern eher vorurteilsbehaftetes Verhalten erzeugt. Der interkulturelle Lernprozess kann als gescheitert beurteilt werden (vgl. Weidemann, 2007). Da implizites interkulturelles Lernen nicht bewusst gesteuert wird, führt es nur zufällig zu positiven Ergebnissen (Kammhuber, 2000).
2.2 Explizites informelles interkulturelles Lernen Ein expliziter Lernprozess zeichnet sich dadurch aus, dass er im Unterschied zu impliziten Lernprozessen reflektiert, bewusst und zielgerichtet abläuft. Er kann informeller oder formeller Art sein. Explizite informelle Lernprozesse werden anders als formelle von den lernenden Personen selbstständig und eigenverantwortlich gesteuert und kontrolliert (Kaiser, Kaiser u. Hohmann, 2007). Im geschilderten Fall können die Beteiligten einen expliziten informellen interkulturellen Lernprozess initiieren, wenn sie beim Versuch, ein für alle befriedigendes Zusammenleben zu etablieren, bewusst nach den Gründen für die schwierige Situation forschen
40 Ulrich Hößler und dazu die gemachten Erfahrungen reflektieren. Das bedeutet, die irritierend erlebten Situationen rückblickend zu analysieren, um ein Verständnis für das eigene Verhalten und das der anderen zu entwickeln. Im vorliegenden Fall können Sabine und Carolin dazu ein Gespräch vereinbaren und sich beispielsweise folgende Fragen stellen: Welche konkreten Verhaltensweisen Janas haben uns irritiert? Warum haben sie uns irritiert? Können wir ihr Verhalten nachvollziehen? Liegt es an ihr persönlich, ist sie in einer schwierigen Situation oder hat es womöglich kulturelle Gründe? Würde sich eine deutsche Mitbewohnerin anders verhalten? Was versprechen wir uns davon, so viel Zeit und Energie auf die Erstellung von Plänen und Abrechnungen und deren Umsetzung aufzuwenden? – Jana kann ihre Erfahrungen in ähnlicher Weise zum Beispiel mit anderen in Deutschland lebenden tschechischen oder ausländischen Studenten besprechen. Der interkulturelle Lernprozess entwickelt sich erfolgversprechend, wenn sich durch die Reflexion einer kulturellen Überschneidungssituation die Erkenntnis einstellt, dass das irritierende Verhalten der Interaktionspartner in entscheidendem Maße kulturell bedingt ist. Ausgehend von dieser Erkenntnis müssen die Beteiligten aktiv nach Informationen über das eigene und das fremdkulturelle Orientierungssystem suchen, um das Verhalten der fremdkulturellen Interaktionspartner korrekt interpretieren und angemessen und produktiv damit umgehen zu können. Die Informationssuche kann sich recht aufwändig gestalten, zum Beispiel in Form von Internetrecherche, Lektüre von Büchern, Gesprächen mit erfahrenen Personen im deutsch-tschechischen Kontakt (z. B. Kommilitonen, die bereits in Tschechien studiert haben oder andere tschechische Studenten in Deutschland) oder Experten der deutschen oder tschechischen Kultur (z. B. ein Slawistik-Professor, ein Soziologe oder Kulturpsychologe). All diese Bemühungen erfordern viel Zeit, Energie und Disziplin, die die Beteiligten zu investieren bereit sein müssen. Wahrscheinlicher ist es deshalb, dass im Laufe eines expliziten informellen interkulturellen Lernprozesses zunächst das Gespräch mit dem fremdkulturellen Interaktionspartner gesucht wird, um die jeweiligen kulturell bedingten Vorstellungen, Einstellungen und Verhaltensstandards sowie die bestehenden Unterschiede zwischen den kulturellen Orientierungssystemen zu ergründen.
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Sabines und Carolins Verhalten verändert sich aufgrund des expliziten informellen interkulturellen Lernprozesses dann dahingehend, dass sie ein Gespräch mit Jana nicht dazu nutzen, ihr Vorwürfe zu machen oder ihre eigenen Forderungen und Vorstellungen durchzusetzen, sondern um Janas kulturell bedingten Motive und Befindlichkeiten zu erfahren und ihre eigenen zu kommunizieren. Janas Verhaltensänderung besteht darin, dass sie sich einem solchen Gespräch stellt, Sabines und Carolins kulturell bedingte Beweggründe wertschätzend aufnimmt und ihre eigenen thematisiert. Die Verhaltensänderung setzt sich fort, wenn auf einer Basis des besseren gegenseitigen Verstehens gemeinsam eine für alle zufriedenstellende Lösung generiert wird, die die Besonderheiten beider Kulturen berücksichtigt. Wenn deutsche und tschechische Studenten gemeinsam und unter Berücksichtigung kultureller Faktoren einen Weg des Zusammenlebens finden, den alle als bereichernd empfinden, dann findet interkultureller Dialog statt. Das Verhaltenspotenzial wird ebenfalls erweitert, da die Beteiligten in zukünftigen kulturellen Überschneidungssituationen sensibilisiert sind für die kulturelle Bedingtheit menschlichen Verhaltens, über neu erworbenes Wissen über das eigene und ein fremdkulturelles Orientierungssystem verfügen und auf erprobte Möglichkeiten zum Auffinden kulturspezifischer Informationen und zum produktiven Umgang mit fremdkulturellen Partnern zurückgreifen können. Der eben geschilderte explizite informelle interkulturelle Lernprozess verläuft reibungslos und ist idealtypisch: durch selbstständige Reflexion, Wissensaneignung und Verhaltenserprobung wird interkulturelle Kompetenz und damit interkulturelle Dialogfähigkeit aufgebaut. Allerdings erfordert ein solcher Lernprozess von den Beteiligten ein hohes Maß an Motivation, Reflexionsfähigkeit, Sensibilität, Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen. Der Erfolg dieses Lernprozesses ist von den auf sich allein gestellten beteiligten Individuen abhängig und stellt sich somit keineswegs automatisch ein. Sabine, Carolin und Jana könnten beim Aufbau interkultureller Kompetenz sehr gut professionelle Unterstützung gebrauchen. Diese wird durch formelle interkulturelle Lernprozesse bereitgestellt.
42 Ulrich Hößler
2.3 Formelles interkulturelles Lernen Im Unterschied zum expliziten informellen interkulturellen Lernen, wird ein formeller und damit expliziter interkultureller Lernprozess von Bildungsinstitutionen entsprechend theoretischer Grundlagen geplant, unter professioneller Anleitung durchgeführt und dient dem erklärten Ziel, interkulturelle Kompetenz aufzubauen (nach Kaiser, Kaiser u. Hohmann, 2007). Die planende und die durchführende Institution können dabei auch in der Person eines Seminarleiters oder Trainers vereint sein. Neben der Vermittlung kulturallgemeinen und kulturspezifischen Wissens beinhalten formelle interkulturelle Lernprozesse ebenfalls die Reflexion bereits im Alltag erworbener oder während des Lernprozesses induzierter interkultureller Erfahrungen. Ein formeller interkultureller Lernprozess kann als interkulturelle Qualifizierung bezeichnet werden. Der Begriff Qualifizierung bezeichnet generell einen formellen Lernprozess zum Erwerb von Fach- oder Berufsqualifikationen, aber auch von Schlüsselqualifikationen (z. B. Hochschulstudium, Berufsausbildung, betriebliche Fortbildungsseminare, Sprachkurse, Kommunikationstraining) (Greif, 2004). Eine interkulturelle Qualifizierungsmaßnahme kann zum Beispiel ein interkulturelles Training sein (vgl. Bürger in diesem Band), ein Integrationskurs für Migranten (vgl. Abt sowie Schmid in diesem Band), ein Jugendbegegnungsprogramm (vgl. Chang sowie Utler in diesem Band) oder ein Studienprogramm an der Hochschule. Die Universität und Fachhochschule Regensburg bieten gemeinsam ein solches Studienprogramm als kooperativ durchgeführte studienbegleitende Ausbildung in interkultureller Kompetenz den Regensburger Studierenden aller Fachrichtungen bereits seit mehreren Jahren an. Die Rückmeldungen aktueller und ehemaliger Teilnehmer zeigen, dass die darin vermittelten Kenntnisse und erworbenen Fähigkeiten produktiv zum Führen interkultureller Dialoge im Arbeits- und Privatleben eingesetzt werden (Thomas u. Hößler, 2007). Wenn Sabine, Carolin und Jana an einem solchen oder ähnlichen Programm während ihres Studiums teilgenommen haben, sind sie bereits interkulturell dialogfähig, wenn Jana in die WG einzieht. Der für alle belastende Konflikt um Putzpläne und Kostenabrechnung kann vermieden werden, energie- und zeitraubende infor-
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melle Lernprozesse mit ungewissem Ausgang können umgangen, verkürzt oder erleichtert werden und ein gelungener interkultureller Dialog ist von Beginn an möglich. Denn Sabine und Carolin wissen dann, dass »Personbezug«, »Abwertung von Strukturen«, »Improvisationsliebe«, »Indirektheit« und »Konfliktvermeidung« in der tschechischen Kultur eine wichtige Rolle spielen (Nový u. Schroll-Machl, 2003). Jana wiederum weiß, dass Deutsche mehr als Tschechen dazu tendieren, sich stärker an Regeln zu orientieren, großen Wert auf Selbstverantwortung legen und direkter und sachorientierter kommunizieren, selbst wenn persönliche Befindlichkeiten dabei vernachlässigt werden (Schroll-Machl, 2003). Anstatt kurz nach Janas Einzug in die WG die Aufgaben zu verteilen und Finanzpläne zu erstellen, laden Sabine und Carolin sie zum Essen ein und erkundigen sich, wie es ihr in Deutschland gefällt, wie es bei ihr zu Hause in Tschechien ist, ob sie mit dem Studium zurechtkommt, Freunde hat, ihre Familie vermisst. Dabei erzählen sie auch von sich, über ihre Lebenssituation, Familie und Freunde. Jana wiederum bringt nach einiger Zeit selbst das Gespräch auf das Thema Haushaltsführung, weil sie davon ausgeht, dass es für Sabine und Carolin wichtig ist, dies zu klären. Gemeinsam besprechen die drei, wie sie Haushalts- und Finanzangelegenheiten handhaben wollen, wobei sie sich immer wieder gegenseitig erkundigen, wie die Verhaltensmaßstäbe im jeweils anderen Land sind und wie sie in ihrer Planung darauf eingehen können. Dieser gelungene interkulturelle Dialog kann im weiteren Zusammenleben fortgesetzt werden und zur Lösung von in einer Wohngemeinschaft unvermeidbar auftretenden zwischenmenschlichen Konflikten fruchtbar eingesetzt werden. Implizite, explizite informelle und formelle Lernprozesse schließen nicht einander aus, sondern greifen ineinander. In der Auseinandersetzung mit der komplexen Umwelt macht der Mensch stetig Erfahrungen, auf die er zur Bewältigung neuer Situationen zurückgreift (Dewey, 1938/1963). Dass der Mensch sein Verhalten aufgrund neuer Erfahrungen verändert, ist demnach ein alltäglicher Prozess. Lernen findet im Leben eines Menschen also immerzu statt. Allerdings ist es ungewiss, ob die Konsequenzen des veränderten Verhaltens vom Individuum als produktiv, hilfreich und positiv oder aber als schmerzhaft, verwirrend und negativ bewer-
44 Ulrich Hößler tet werden. Formelle Lernprozesse bilden die Grundlage dafür, dass informelle Lernprozesse vom Lernenden so gestaltet werden können, dass sie im erhöhten Maße zu Ergebnissen führen, die vom Individuum selbst und seiner sozialen Umwelt als erwünscht und positiv beurteilt werden (Kammhuber, 2000). Sabine, Carolin und Jana konnten sich durch die studienbegleitende interkulturelle Qualifizierungsmaßnahme interkulturelle Kompetenz erwerben, die sie zum interkulturellen Dialog befähigt und dazu führt, dass die Erfahrung des Zusammenlebens mit fremdkulturellen Personen positiv und bereichernd erlebt wird. Diese positive Erfahrung kultureller Differenz wiederum können sie in informellen interkulturellen Lernprozessen zur Weiterentwicklung und Vertiefung der interkulturellen Dialogfähigkeit und zur produktiven Bewältigung weiterer kultureller Überschneidungssituationen nutzen. Im Folgenden wird erläutert, wie interkulturelle Qualifizierung umgesetzt werden kann, damit die durch den formellen Lernprozess erworbenen Wissensbestände, Einstellungen und Fähigkeiten für zukünftiges informelles interkulturelles Lernen ideal genutzt werden können.
3 Interkulturelle Qualifizierung Zur Umsetzung interkultureller Qualifizierungsmaßnahmen eignen sich besonders gut erfahrungsorientierte Lehr-/Lernformate (Fowler u. Blohm, 2004; Kammhuber, 2000). In erfahrungsorientierten Lernumgebungen dienen konkrete Erfahrungen der Lernenden als Ausgangspunkt für den Lernprozess. Dadurch sind die komplexen Anforderungen authentischer Anwendungssituationen zentraler Bestandteil des Lernprozesses und der Transfer in die reale Lebens- und Berufswelt wird erleichtert. Die grundlegende Didaktik erfahrungsorientierter Lernumgebungen im Rahmen interkultureller Qualifizierung ist in Abbildung 1 dargestellt, die sich am Lernzyklus von Kolb (1984) orientiert und die Entwicklungsphasen interkultureller Handlungskompetenz nach Thomas (2003) integriert. Zunächst müssen Erfahrungen kultureller Differenz bei den Lernenden vorliegen, um damit einen formellen interkulturellen Lern-
Qualifizierung zum interkulturellen Dialog Interkulturelle Konfrontation: TN machen Erfahrungen kultureller Differenz (im Alltag, in Simulationsübungen, Rollenspielen, Fallstudien etc.)
Konkrete Erfahrungen
Handeln Interkulturelles Verstehen: Erfahrungen der TN werden an Modelle, Forschungsergebnisse, Theorien etc. angebunden
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Interkulturelle Erfahrungsbildung: Erfahrungen der TN werden präsentiert (Präsentation im Plenum, Bericht, Text, Video etc.)
Reflexion
Wissen Erklärungen
Interkulturelles Lernen: Erfahrungen der TN werden analysiert und reflektiert (Gruppenarbeit, Diskussion im Plenum etc.)
Abbildung 1: Didaktik erfahrungsorientierter Lernumgebungen im Rahmen interkultureller Qualifizierung
prozess einzuleiten. Man kann davon ausgehen, dass die meisten Menschen bereits über Erfahrungen kultureller Differenz verfügen, wenn sie an einer interkulturellen Qualifizierungsmaßnahme teilnehmen, beispielsweise durch Kontakt mit fremdkulturellen Mitschülern, Nachbarn und Arbeitskollegen oder im Urlaub. Das Wahrnehmen und Erfahren kultureller Differenz bezeichnet Thomas als interkulturelle Konfrontation (2003). Interkulturelle Erfahrungsbildung beschreibt die Einbindung dieser Erfahrungen in den vorhandenen Erfahrungsschatz, in die eigene Motivlage und in die momentane Situation. Die neue Erfahrung wird mit bisherigen verglichen, emotional bewertet, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Interaktionspartner werden gesucht, erwünschte Zielzustände werden definiert und Handlungsoptionen geprüft (Thomas, 2003). Die in einer Teilnehmergruppe bereits vorhandenen Erfahrungen kultureller Differenz sind sehr wahrscheinlich höchst heterogen in Bezug auf Qualität, Häufigkeit, Intensität, Bewusstheit und Kontext. Um sie für den formellen interkulturellen Lernprozess nutzen zu können, müssen sie durch mündliche Präsentation oder schriftliche Ausarbeitung allen anderen Teilnehmern zugänglich gemacht werden. Durch das Hineinversetzen in medienvermittelte, nicht selbst erlebte kulturelle Überschneidungssituationen findet ebenfalls interkulturelle Konfrontation und Erfahrungsbildung statt (Kammhuber, 2000). Auf diese Weise profitieren die Teilnehmer ge-
46 Ulrich Hößler genseitig von ihren Erfahrungen kultureller Differenz. Die interkulturelle Konfrontation in der Unterrichtssituation kann auch durch ein vorbereitetes Fallbeispiel, einen Videofilm, ein Rollenspiel oder eine Übung geschehen, die kulturelle Überschneidungssituationen darstellen oder simulieren. Durch die interkulturelle Konfrontation entstehende Unsicherheiten und Orientierungsdefizite werden in der sicheren, kontrollierten Umgebung der Unterrichtssituation aufgefangen, als weniger bedrohlich erlebt und nehmen vergleichbare belastende Reaktionen in realen Situationen vorweg (Kammhuber, 2000). Interkulturelles Lernen im Sinne der angestrebten Verhaltensänderung, die zum Aufbau interkultureller Kompetenz führt, wird durch einen professionell angeleiteten und moderierten Reflexionsprozess initiiert. Hierbei ist ein Austausch, ein Dialog, mit den Mitlernenden und den Lehrpersonen wichtig, zum Beispiel in Form einer Plenumsdiskussion oder Gruppenarbeit, damit verschiedene Perspektiven eingeholt und mit den eigenen verglichen und integriert werden können (kooperatives interkulturelles Lernen, vgl. Stengel in diesem Band). Haben sich die Lernenden einige Zeit mit den thematisierten Erfahrungen beschäftigt, selbstständig Erklärungs- und Lösungsalternativen generiert und die Ergebnisse präsentiert, werden wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse, Methoden, Modelle und Theorien angeboten. Die Lernenden können ihre Reflexionsergebnisse mit diesen Informationen vergleichen und integrieren und nützliche Strategien zur Interpretation und Bewältigung kultureller Überschneidungssituationen erwerben. Indem die Teilnehmer abstrahiertes Wissen auf konkrete kulturelle Überschneidungssituationen anwenden, entwickeln sie das zum Führen eines interkulturellen Dialogs nötige Verständnis für die Besonderheiten, Dynamiken und Herausforderungen interkultureller Begegnungen. Durch interkulturelles Verstehen werden für künftige kulturelle Überschneidungssituationen das Interpretations- und Verhaltensrepertoire erweitert, die Orientierungsklarheit gesteigert und Potenziale zum kulturadäquaten Handeln aufgebaut (Thomas, 2003). Die nächste interkulturelle Konfrontation leitet den nächsten Lernzyklus ein, in dem die neu erworbenen Potenziale im Handeln erprobt werden können. Sabine, Carolin und Jana haben in der studienbegleitenden Ausbildung in interkultureller Kompetenz zahlreiche unterschiedliche Erfahrungen kultu-
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reller Differenz auf die dargestellte Weise auf kognitiver, emotionaler und aktionaler Ebene bearbeitet. In Kultursimulationsübungen konnten sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, welchen Einfluss das eigenkulturelle Orientierungssystem auf das menschliche Verhalten ausübt. In Fallstudien haben sie in Kleingruppen kooperativ gelernt, kulturspezifisches Wissen aus komplexen, authentischen interkulturellen Kontexten zu generieren und produktiv einzusetzen. In Rollenspielen konnten sie Strategien zur Bewältigung emotionaler Belastung und zur erfolgreichen Handlungssteuerung in kulturellen Überschneidungssituationen erproben und verbessern. Im Interviewprojekt mit einem ausländischen Kommilitonen konnten sie schließlich die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten auf einen realen Anwendungskontext übertragen und erhielten Rückmeldung zur erbrachten Leistung (zu einer Sammlung interkultureller Übungen vgl. Kumbruck u. Derboven, 2005; Losche, 2005). Durch erfahrungsorientierte interkulturelle Qualifizierung bauen die Lernenden ein vielfältiges interkulturelles Handlungswissen auf, das flexibel eingesetzt werden kann. Die konsequente Anbindung theoretischen Wissens an praktische Situationen verhindert hierbei sowohl »träges Wissen«, das nicht in Anwendungssituationen transferiert werden kann, als auch die bloße Aneinanderreihung von Beispielen (Kammhuber, 2000). Die Teilnehmer werden gezielt darauf vorbereitet, unabhängig und effektiv mit zukünftigen interkulturellen Erfahrungen umzugehen und sie als Lernchance zu nutzen. Die Entwicklung interkultureller Kompetenz ist ein lebenslanger Prozess, der durch interkulturelle Qualifizierung angestoßen und in eine erfolgversprechende Richtung gelenkt wird, so dass produktives informelles interkulturelles Lernen im realen interkulturellen Dialog stattfinden kann.
4 Fazit In einer globalisierten Welt und in einer Gesellschaft mit zunehmender kultureller Komplexität, wie sie die europäische Gemeinschaft darstellt, ist erfolgreiche Kooperation und friedliches Zusammenleben weder durch ein schädliches Gegeneinander noch durch ein ineffektives Nebeneinander noch durch ein orientierungsloses
48 Ulrich Hößler Durcheinander möglich, sondern einzig und allein durch ein produktives Miteinander. Zur Realisierung dieses Miteinanderlebens und -arbeitens, in dem kulturelle Differenzen wahrgenommen, respektiert und kreativ genutzt, Inkompatibilitäten ausgehalten und Synergien hervorgebracht werden, ist interkultureller Dialog in allen Lebensbereichen, Gesellschaftsschichten und Bevölkerungsteilen unabdingbar. Um den interkulturellen Dialog führen zu können, muss bei allen Dialogpartnern ein Mindestniveau an interkultureller Kompetenz vorhanden sein. Der effektivste, sicherste und erfolgversprechendste Weg zur interkulturellen Kompetenz ist formelles interkulturelles Lernen, also interkulturelle Qualifizierung, wie das Fallbeispiel gezeigt hat. Neben international tätigen Firmen und Organisationen erkennen seit einiger Zeit auch die Hochschulen den Wert interkultureller Qualifizierung, vor allem im Hinblick auf eine immer internationaler werdende Berufs- und Lebenswelt, auf die Hochschulabsolventen als zukünftige Fach- und Führungskräfte vorbereitet werden müssen. So sind im Zuge des BolognaProzesses zahlreiche Studiengänge mit interkultureller Ausrichtung und Schwerpunkten entstanden und weiterhin in der Entwicklung. Hinzu kommt das wachsende Bewusstsein für die Bedeutung formeller interkultureller Lernfelder im Kontext der Schulen und der internationalen Jugendarbeit (vgl. auch die Beiträge von de Ponte, Chang und Utler in diesem Band). Der Gedanke, interkulturelle Qualifizierung fest in Bildungsinstitutionen zu etablieren und dadurch allen Bürgern zu ermöglichen, ist relativ neu und wird von der EU immer mehr gefordert und gefördert. Interkulturelle Qualifizierung erfordert Zeit, Geld, Planung, Abstimmung, Organisation und Personal, aber es lohnt sich. Je stärker dies von den verantwortlichen Stellen gefordert, gefördert und institutionalisiert wird (z. B. Aufnahme interkultureller Qualifizierung in Lehrpläne), desto leichter fällt die Umsetzung.
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Literatur Dewey, J. (1938/1963). Experience & Education. New York: Collier. Fowler, S. M., Blohm, J. M. (2004). An Analysis of Methods for Intercultural Training. In D. Landis, J. M. Bennett, M. J. Bennett (Eds.), Handbook of Intercultural Training (3rd ed., pp. 37–84). Thousand Oaks: Sage. Greif, S. (2004). Qualifizierung. In H. Häcker, K. Stapf (Hrsg.), Dorsch – psychologisches Wörterbuch (S. 776–777). Bern: Hans Huber. Hatzer, B., Layes, G. (2003). Interkulturelle Handlungskompetenz. In A. Thomas, E.-U. Kinast, S. Schroll-Machl (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 1: Grundlagen und Praxisfelder (S. 138–148). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kaiser, A. (2001). Schlüsselqualifikationen. In R. Arnold, S. Nolda, E. Nuissl (Hrsg.), Wörterbuch Erwachsenenpädagogik (S. 277–278). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Kaiser, A., Kaiser, R., Hohmann, R. (2007). Lernertypen – Lernumgebung – Lernerfolg. Erwachsene im Lernfeld. Bielefeld: Bertelsmann. Kammhuber, S. (2000). Interkulturelles Lernen und Lehren. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Kolb, D. A. (1984). Experiential Learning. Englewood Cliffs: Prentice Hall. Kumbruck, C., Derboven, W. (2005). Interkulturelles Training. Trainingsmanual zur Förderung interkultureller Kompetenzen in der Arbeit. Heidelberg: Springer. Losche, H. (2005). Interkulturelle Kommunikation. Sammlung praktischer Spiele und Übungen (4. Aufl.). Augsburg: ZIEL. Nový, I., Schroll-Machl, S. (2003). Tschechien. In A. Thomas, S. Kammhuber, S. Schroll-Machl (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 2: Länder, Kulturen und interkulturelle Berufstätigkeit (S. 90–102). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schroll-Machl, S. (2003). Deutschland. In A. Thomas, S. Kammhuber, S. Schroll-Machl (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 2: Länder, Kulturen und interkulturelle Berufstätigkeit (S. 72–89). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thomas, A. (2003). Interkulturelle Handlungskompetenz. Grundlagen, Probleme und Konzepte. Erwägen – Wissen – Ethik, 14 (1), Dritte Diskussionseinheit (S. 137–150). Stuttgart: Lucius-Verlag. Thomas, A., Chang, C., Abt, H. (2007). Erlebnisse, die verändern. Langzeitwirkungen der Teilnahme an internationalen Jugendbegegnungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thomas, A., Hößler, U. (2007). Interkulturelle Qualifizierung an den Regensburger Hochschulen: Das Zusatzstudium Internationale Handlungskompetenz. Interculture Journal – Online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien. Jahrgang 6, 3: Interkulturelle Kompetenz und Employability, 73–95.
50 Ulrich Hößler Thomas, A, Simon, P. (2007). Interkulturelle Kompetenz. In G. Trommsdorff, H.-J. Kornadt (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie. Bd. C/7/3: Anwendungsfelder der kulturvergleichenden Psychologie (S. 135–185). Göttingen: Hogrefe. Weidemann, D. (2007). Akkulturation und interkulturelles Lernen. In J. Straub, A. Weidemann, D. Weidemann (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder (S. 488–498). Stuttgart: Metzler.
Stefan Kammhuber
Psychologie interkultureller Rhetorik als Grundlage des interkulturellen Dialogs
1 Interkultureller Dialog: Ansatzpunkte der Psychologie Wenn in der Gegenwart von der Notwendigkeit des »interkulturellen Dialogs« die Rede ist, dann zumeist in großen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen. In der Integrationsdebatte in Deutschland wird dieser Dialog gefordert, damit Zuwanderer und einheimische Bevölkerung eine gemeinsame produktive Zukunft im Rahmen des Grundgesetzes gestalten können, ohne Angst vor dem Verlust der eigenen Identität, ohne Befürchtung um die eigene Sicherheit und die der Angehörigen; vielmehr in dem Bewusstsein, dass ein Gemeinwesen dann von der Vielfalt profitieren kann, wenn von allen Seiten ernsthafte Bemühungen unternommen werden, das Eigene und Fremde im Hinblick auf förderliche und abträgliche Aspekte für das gemeinschaftliche Leben in Deutschland zu prüfen. Dies kann das Angebot und die Wahrnehmung von Integrations- und Sprachkursen zur Folge haben genauso wie die kritische Prüfung, inwieweit die eigene Organisation, Institution oder das Unternehmen bewusst oder unbewusst Barrieren für Menschen mit anderer kultureller Sozialisation aufgebaut hat, die eine tatsächliche Teilhabe an der Gesellschaft verhindern (Kammhuber u. Thomas, 2004). Im weltpolitischen Zusammenhang steht der sicherheitspolitische Aspekt im Vordergrund, wenn der »interkulturelle und interreligiöse Dialog« bemüht wird. Hinter ihm versteckt sich die Hoffnung, dass durch eine Verständigung über Kultur- und Religionsgrenzen dem Terrorismus der Nährboden entzogen werden kann, der fortlaufend durch unkluge politische Handlungen und Äußerungen und deren propagandistische Nutzung von beiden Seiten gedüngt wird.
52 Stefan Kammhuber Der politisch denkende Psychologe ist angesichts dieser Herkulesaufgaben zunächst eingeschüchtert, denn zu komplex erscheinen die Bedingungsfelder, zu verborgen der archimedische Punkt, an dem die Welt zu einem Besseren aus ihren Angeln gehoben werden könnte. Dennoch ergibt sich für den Psychologen als (angewandten) Wissenschaftler die Chance, Erkenntnisse in die gesellschaftliche Diskussion einzubringen, wenn er oder sie dort beginnt, wo die Psychologie ihren Anfang nimmt: In der Beschreibung, Analyse und Vorhersage menschlichen Verhaltens im sozialen Kontext, also beginnend beim subjektzentrierten Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln, das sich durch die unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen über die Lebensspanne in einem spezifischen kulturellen Orientierungssystem entwickelt. Aus der Sozialpsychologie und der interkulturellen Psychologie wissen wir, dass Menschen nicht vorurteilsfrei andere Menschen beurteilen können, sondern nur auf der Grundlage von Wahrnehmungskategorien, die in der Sozialisation erlernt und zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Vor dieser Folie der eigenen Wahrnehmung erscheint das kulturfremde Verhalten dann als »unpünktlich«, »distanziert«, »temperamentvoll« oder »überzeugend«. Interkulturelle Trainings setzen genau hier an. Es geht in ihnen darum die eigenen Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster auf den Prüfstand zu stellen und fremde Verhaltensweisen in ihrer soziohistorischen und individuellen Bedingtheit zu verstehen, um eine tatsächliche interkulturelle Kooperation zu ermöglichen. Was sich so einfach liest, stellt den schwierigsten Aspekt des interkulturellen Dialogs aus psychologischer Sicht dar. Wie kann es erreicht werden, dass Menschen nicht dem Automatismus der unreflektierten und undifferenzierten Bewertung fremden Verhaltens anheimfallen, sondern den eigenen Bewertungsprozess, auch und vor allem in konflikthaften Situationen, kritisch prüfen? Der folgende Beitrag beschäftigt sich deshalb mit der sozialen Wahrnehmung und der Bildung eines ersten Eindrucks in der interkulturellen Kommunikationssituation, also dem Einstieg in den »interkulturellen Dialog«, der seinen Fort- und Ausgang entscheidend beeinflussen kann. Die interkulturelle Psychologie kann hier von den Erkenntnissen der ungleich älteren Wissenschaft der Rhetorik profitieren. Mit Rückgriff auf kulturpsychologische und kul-
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turvergleichende Untersuchungen zur Psychologie der Rhetorik wird die Entwicklung der arabischen, chinesischen und deutschen Rhetorik vorgestellt und aufgezeigt, wie es aufgrund dieser kulturspezifischen Ausformungen in der interkulturellen Kommunikationssituation zu Wahrnehmungsfehlern und Missverständnissen kommen kann.
2 Psychologie der interkulturellen Rhetorik Gegenstand einer Psychologie der interkulturellen Rhetorik ist die Beschreibung, Analyse und Förderung der wechselseitigen intentionalen Verständigungsprozesse zwischen (inter) Menschen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit (Kammhuber, 2003). Kultur wird im Sinne von Thomas (1999) hier verstanden als in Gruppen, Organisationen und Gesellschaften verbreitetes Orientierungssystem, in das Menschen hineingeboren werden, an dessen Bestätigung, Modifikation oder Umwerfung sie aktiv teilhaben und das sie an nächste Generationen weitergeben. Das durch seine Selbstverständlichkeit zumeist nicht ins Bewusstsein vordringende Orientierungssystem hilft bei der Konstruktion der Identität und vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl. Gegenstand der interkulturellen Forschung sind sogenannte kulturelle Überschneidungssituationen zwischen Personen, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher Orientierungssysteme handeln. Mittels systematischer, interdisziplinärer Analyse können so die in dieser Konstellation wirksamen Kulturstandards entwickelt werden (Thomas, 1999). Durch den Einbezug der Ergebnisse der kulturvergleichenden Psychologie und der Kulturpsychologie können die Ergebnisse der interkulturellen Forschung in ihren soziohistorischen Kontext eingebettet werden. In der Psychologie der kulturvergleichenden Rhetorik werden als universal angenommene Konstrukte in verschiedenen Orientierungssystemen in ihrer jeweiligen Ausprägung erfasst, wie zum Beispiel rhetorische Sensitivität bei Thailändern und US-Amerikanern (Knutson, Komolsevin, Chatiketu u. Smith, 2003). Diese vor allem in der US-amerikanischen Forschungslandschaft beliebte Forschungsperspektive firmiert dort unter dem Begriff »cross-cultural communication«. Dominierend sind empirische Untersuchungen
54 Stefan Kammhuber entlang von allgemeinen Kulturdimensionen nach Hofstede oder Trompenaars, wie zum Beispiel Kollektivismus – Individualismus, oder nach Hall, wie zum Beispiel High-context- versus Low-context-Communication. Diese Studien ermöglichen eine schnelle Kategorisierung und daraus folgend auch Orientierung in der Begegnung mit anderskulturellen Personen, bergen aber aus demselben Grund auch die Gefahr eines nur scheinbaren Verstehens und damit des Missverstehens kultureller Unterschiede. Denn aus den Ergebnissen können nur mittelbar Schlussfolgerungen für die tatsächlich sich ereignende Kommunikationssituation gezogen werden. Es wird vorausgesetzt, dass Menschen keinen Unterschied machen, ob sie mit Personen aus dem gleichen Orientierungssystem interagieren oder mit Personen aus einem fremden. Nun wissen wir aber, dass Menschen nicht als »unbeschriebene Blätter« in eine Kommunikationssituation hineingehen, sondern im Laufe ihrer Sozialisation ein Vorwissen in Form von mehr oder weniger differenzierten und reflektierten Stereotypen über andere Orientierungssysteme aufgebaut haben (z. B. »Japaner sind schüchtern«), bestimmte affektive Reaktionen im Umgang mit ihnen fremden Personen erlernt haben (z. B. »Gegenüber Angehörigen der Kultur x musst du vorsichtig sein!« oder »Es ist spannend, sich mit Personen der Kultur y zu unterhalten«) und bestimmte Motivationstendenzen im Umgang mit Fremden entwickelt haben (z. B. »Ich will keinen Kontakt zu Personen aus Kultur y haben«). All diese Reaktionen auf kognitiver, affektiver und aktionaler Ebene bestimmen den weiteren Verlauf einer interkulturellen Kommunikationssituation, die nicht aus kulturvergleichenden Untersuchungen abgeleitet werden können. Ebenso kann kritisch gefragt werden, ob die als kulturübergreifend angenommenen Konzepte tatsächlich als universal gültig definiert werden können oder ob ihnen nicht eine in einem bestimmten Kulturkreis vorgenommene und damit kulturspezifische Unterscheidungsoperation zugrunde liegt. Die kulturpsychologische Forschungsperspektive folgt einem geisteswissenschaftlich-verstehenden Paradigma und begreift Kultur als nur aus sich selbst heraus verstehbar, als eine unverwechselbare, historisch gewachsene Wechselbeziehung zwischen vergesellschafteten Individuen und ihrer Umwelt. Es geht bei diesen Untersuchungen darum, die rhetorischen Konventionen und Sinnkonstitutionsprozesse in-
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nerhalb von Gruppen zu beschreiben und zu analysieren. Die Forschungsmethodik ist eher qualitativ ausgerichtet. Die ethnorhetorischen und ethnohermeneutischen Studien ermöglichen dem Leser, sich ein komplexes und differenziertes Bild von einer Gruppe, Organisation oder Gesellschaft zu schaffen. In ihrer Anwendungssituation wie beispielsweise in einem interkulturellen Training, ist dieses Wissen gerade zum Verstehen von soziohistorischen Zusammenhängen von großer Bedeutung. Allerdings lässt auch dieses Wissen wiederum nur einen indirekten Schluss auf die interkulturelle Kommunikationssituation zu. Diese wissenschaftsmethodischen Ausführungen sind gerade für die Förderung zum interkulturellen Dialog von Bedeutung, wenn Inhalte und Methoden interkultureller Trainings ausgewählt und vorgestellt werden.
3 Kulturpsychologische Rhetorik Gängige Stereotype von Deutschen über das Kommunikationsverhalten von Menschen arabischer Herkunft beinhalten häufig Zuschreibungen wie »schnell erregt«, »weitschweifig«, »laut«, »fromm«. Bei Menschen aus asiatischen Kulturkreisen dagegen reden wir häufig von »leise«, »zurückhaltend«, »höflich«, »ausweichend«. Wenn wir diesen Eindruck automatisch stabilen Eigenschaften und Persönlichkeitszügen dieser Personen zuschreiben, begehen wir einen kategorialen Fehler, denn schließlich sind es unsere kulturspezifischen Erwartungen an rhetorisches Verhalten, die zu diesen Stereotypen führen. Kommunikation, verstanden als wechselseitige intentionale Verständigungshandlung in Form von ineinander greifenden Sprachproduktions- und Sprachrezeptionsakten, beginnt in ihrer ersten Phase mit einem aktiven, sozialen Wahrnehmungsprozess. Dieser Prozess führt zu einem ersten Eindruck, den sich die Personen voneinander machen und der einen starken Einfluss auf das weitere Interaktionsgeschehen ausübt, zum Beispiel indem dem Sprecher weiter zugehört wird, ob er oder sie ernst genommen wird oder wie sympathisch er oder sie erscheint. Verstehen gelingt nur dann, wenn Sprecher und Zuhörer die Werte und Normen sowie die rhetorischen Konventionen des jeweils anderen kennen und auf dieser Grundlage das Ausdrucksverhalten angemessen bewer-
56 Stefan Kammhuber ten können. Dazu bedarf es mehr als einer allgemeinen Offenheit dem Fremden gegenüber, sondern einer Kombination aus ethnorhetorischem Wissen sowie einer interkulturellen Kommunikationskompetenz, mit der dieses Wissen um die eigenen und fremden Werte, Normen und Konventionen in kommunikatives Handeln zur kooperativen Bewältigung von Problemen und zu Beziehungsaufbau und -erhaltung genutzt werden kann. Im Folgenden werden drei Formen kulturspezifischer Rhetorik vorgestellt: die deutsche, die chinesische und die arabische Rhetorik. Aus diesen kulturspezifischen Rhetoriken können Schlussfolgerungen für die Bildung des ersten Eindruck in einer interkulturelle Kommunikationssituation gezogen werden, für die nachfolgend empirische Belege angeführt werden.
3.1 Arabische Rhetorik In einer beeindruckenden Analyse der arabischen Rhetorikgeschichte hat Stock (1999) drei für die Entwicklung arabischer Rhetorik bedeutsame Phasen ausgemacht: − vorislamische Zeit und Beduinendichtung, − islamische Zeit, − Nationalismus und Panarabismus. Bereits in der vorislamischen Zeit wurde das gesprochene Wort in der Beduinendichtung gepflegt. Besonders Lobgedichte auf den eigenen Stamm oder Schmähgedichte über andere Stämme wurden bei Zusammenkünften begeistert vorgetragen und endeten gerade nach Schmähgedichten manches Mal in wüsten Keilereien, wie Stock (1999) anschaulich darstellt. Schlagfertigkeit und Sprachwitz waren wesentlicher Bestandteil der Charakterstärke eines Mannes. Seit der islamischen Zeit gilt der Koran als das zentrale Beispiel für die stilistisch schöne arabische Sprache. Durch den Koran und seine Sprache verstehen sich alle diejenigen Länder, in denen diese Sprache gesprochen wird, als Teil einer übergreifenden arabischen Nation. Das göttliche Wort besitzt nach Stock (1999) uneingeschränkte Autorität, nach ihm wird das Leben ausgerichtet. Bei allen Alltagsentscheidungen ist mitzubedenken, inwiefern die einzelne Hand-
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lung vereinbar ist mit den religiösen Normen des Propheten. In der rhetorischen Ausbildung wurden zwar einzelne Bezüge zu den antiken Redelehren der Griechen und Römer hergestellt, aber ab der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts n. Chr. entwickelte sich die arabische Rhetorik relativ unabhängig. Die Rhetorik hatte ähnlich wie bei Augustinus vor allem die Funktion des Überzeugens von Ungläubigen. Die aus der Beduinenzeit stammende Vorliebe für die ausschmückende Rede, auch häufig auf Kosten strenger logischer Schlussfolgerungen, blieb trotz aller Mahnungen des Korans nach Klarheit und Wahrheit ein Stilelement der arabischen Rhetorik. Ein weiteres zentrales Element der rhetorischen Tradition ist der Nationalstolz, der nach der Zerschlagung des osmanischen Reichs immer wieder durch die panarabischen Ideen einer im Islam geeinten arabischen Welt gefördert wird und gegen eine als bedrohlich und technisch als überlegen, moralisch aber als verdorben empfundene westliche Welt verteidigt werden muss. Drei Elemente sind demnach für das Verstehen arabischer Rhetorik der Gegenwart wichtig: Sprachkunst: Wer seine arabischen Zuhörer beeindrucken will, pflegt die rhetorischen Stilfiguren der »balaga«, verwendet einen eher ausschmückenden Redestil, in dem die Onomatopoetik eine wichtige Rolle spielt, um das kulturspezifische kollektive Gedächtnis anzusprechen, wenn zum Beispiel von »Brüderlichkeit«, »Ehre«, »Gerechtigkeit«, »Zusammengehörigkeit« oder »Edelmut« gesprochen wird. Andere mit kulturspezifischer Bedeutung aufgeladene Begriffe der Gegenwart, die vor allem in der politischen Rhetorik zur Auseinandersetzung mit dem Gegner verwendet werden, sind zum Beispiel »Aggression«, »Expansion«, »Kolonialismus«, »Imperialismus«, »Reaktion«. Das göttliche Wort: Das Sprechen beinhaltet Formulierungen, die religiöse Assoziationen auslösen, zum Beispiel durch Koranzitate, Sprüche des Propheten. In der Rhetorik werden dabei »echte« religiöse Formulierungen (z. B. Koransuren), die eine starke emotionale Wirkung nach sich ziehen von »aufgesetzten« religiösen Formulierungen unterschieden, die gängigen Sprachkonventionen entsprechen, wie zum Beispiel die Formel »mit Gottes Hilfe«, wenn es sich um Aussagen über die Zukunft handelt. Da die religiöse Orientie-
58 Stefan Kammhuber rung das gesamte Alltagsleben durchzieht haben religiöse Assoziationen in der Sprache eine besondere Bedeutung für die Überzeugung der Zuhörerschaft und werden deshalb auch häufig genutzt. Nationalstolz: Er setzt sich zusammen aus dem Stolz auf die arabische Sprache, die Geschichte und die Moral. Gerne werden Parallelen zur arabisch-islamischen Geschichte des 7. bis 13. Jahrhunderts gezogen, an arabische oder islamische Werte appelliert, wie zum Beispiel »saraf« (Ehre) und »sabr« (Beharrlichkeit), oder auch die Schönheit und die historische Bedeutung des Arabischen herausgestellt. Ergänzend hat die Kulturstandardforschung (Amin, 2003) weitere rhetorische Normen herausgearbeitet, wie zum Beispiel die Bevorzugung indirekter Kommunikation, um interpersonale Beziehungen nicht zu gefährden, die Respektsbezeugung gegenüber Autoritäten, wie zum Beispiel dem Familienoberhaupt, Lehrern, Förderern und Vorgesetzten. Der Sprechstil beinhaltet eine aus deutscher Perspektive eher intensive Verwendung gestischer, mimischer und prosodischer (Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit) Mittel, um den Gesprächspartner zu überzeugen.
3.2 Chinesische Rhetorik Die chinesische Rhetorikgeschichte ist bislang kaum erforscht, weil in China Rhetorik zwar als Kunstform galt, aber nicht als Wissenschaft wie beispielsweise in der griechischen Antike. Auch hier steht die Entwicklung der Rhetorik in engem Zusammenhang mit der geistesgeschichtlichen und politischen Entwicklung, wie die Dissertation von Huang (2001) eindrucksvoll zeigt. Bereits aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. wird von rhetorischen Mitteln berichtet, wenn es zum Beispiel darum ging, Soldaten für einen Kriegseinsatz zu motivieren oder kaiserliche Erlasse zu verkünden. Die Blütezeit der chinesischen Rhetorik lag nach Huang zwischen dem 8. und dem 3. Jahrhundert v. Chr. Drei Redegattungen waren von großer Bedeutung: das Beratungsgespräch am Fürstenhof, das diplomatische Gespräch sowie das philosophische Gespräch. So war es zum Beispiel in der Zeit der streitenden Reiche von enormer Be-
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deutung, andere Kriegsherren durch diplomatisches Geschick zu überzeugen. Nach der Reichseinigung wurde das öffentliche Reden durch den stärker werdenden Zentralismus immer weiter in den Bereich der literarischen Ästhetik zurückgedrängt. Die Kritik des schriftlichen Ausdrucks war von besonderer Bedeutung, weniger die persuasive Funktion der Sprache. In China gibt es also durchaus eine rhetorische Tradition, die aber mangels öffentlicher Betätigungsfelder im zentralistischen System der Literaturkritik untergeordnet wurde und deren Konzentration auf den Sprachmitteln des Ausdrucks lag. In der modernen chinesischen Rhetorik lassen sich Einflüsse aus der griechischen und römischen Rhetorik erkennen, zum Beispiel bei den Produktionsstadien zur Erstellung einer Rede. Ab der Einführung der Volksrepublik verschwand die Rhetorik des persuasiven Sprechens aber wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein. Letztlich zählte die Meinung der Partei und ihres Vorsitzenden, die es zu verkünden galt. In der Gegenwart allerdings lässt sich beobachten, dass durch den enormen sozialen Wandel in China in den letzten zwanzig Jahren und durch die Öffnung nach Westen auch eine Orientierung an westlichen Redelehren erfolgt. Westliche Rhetorik-Ratgeber wurden ins Chinesische übersetzt und vor allem in der Wirtschaftspraxis auch angewandt (Seßner, 2005). Der rhetorische Stil, der auf Deutsche so zurückhaltend wirkt, lässt sich aber nicht nur aus den politischen Umständen heraus begründen, sondern auch durch geistesgeschichtliche Traditionen. Die stärksten philosophischen Strömungen, der Konfuzianismus und der Daoismus, betonen gleichermaßen die Zurückdrängung des Ichs zugunsten der Bezugsgruppe, die Einordnung in eine hierarchisch strukturierte harmonische Grundordnung. Jede Verletzung dieser feingesponnenen Struktur bedeutet eine Gefährdung für das eigene Gesicht und das der gesamten Bezugsgruppe, in die die Person eingebunden ist. Dadurch entsprechen die rhetorischen Konventionen folgenden Kulturstandards (Liang u. Kammhuber, 2003): Streben nach Harmonie: Es wird ein eher indirekter und vielseitig interpretierbarer Kommunikationsstil gepflegt, der helfen soll, Konflikte zu vermeiden beziehungsweise so zu steuern, dass sie nicht eskalieren und verletzen.
60 Stefan Kammhuber Hierarchie- und Beziehungsorientierung: Es gilt, die eigene Position im gesellschaftlichen Gefüge anzuerkennen und durch rollen- und statuskonformes Verhalten deutlich zu machen, in dem zum Beispiel ausführlich Respekt gegenüber Älteren oder Höherrangigen geäußert wird. Höflichkeit: Die Respektsbezeugung bietet wiederum die Möglichkeit für den anderen, sich als bescheiden und höflich zu zeigen, getreu dem konfuzianischen Ideal, dass der Mensch Maß halten und weder verbal noch nonverbal auftrumpfen soll. Es existieren eine Vielzahl an rhetorischen Höflichkeitskonventionen, die auch beim Einstieg in einen Vortrag eine besondere Bedeutung haben, indem es vom Sprecher erwartet wird, sich bescheiden zu zeigen, seinem Publikum Respekt zu zollen, ihm »Gesicht zu geben«. Deshalb betonen Sprecher aus konfuzianisch geprägten Kulturregionen gerne, dass sie sich nicht ausreichend genug mit dem Themengebiet ihres Vortrags beschäftigt hätten und dass sie von ihren Zuhörern lernen wollen. Der körpersprachliche Ausdruck ist eher eingeschränkt, was die Gestik anbetrifft, den Blickkontakt zum Publikum, die Lautstärke und die Modulation.
3.3 Deutsche Rhetorik Die deutsche Rhetorik gründet sich auf die griechische und römische Tradition. Mit der Gründung der griechischen Polis wurde das gesprochene Wort zu einem wichtigen Instrument, um Menschen zum Beispiel vor Gericht überzeugen oder bei politischen Entscheidungen die eigene Position angemessen vertreten zu können. Die Sophisten zogen als Redelehrer durch die Lande und zeigten, dass, wenn der Mensch »das Maß aller Dinge« ist, es vor allem darauf ankommt, seine Sicht argumentativ plausibel machen zu können. Sie wurden später vor allem von Platon verunglimpft, der ihnen in seinen sokratischen Dialogen vorwarf, dass sie in jeder Frage sowohl dafür als auch dagegen sprechen können, also mit Wahrheit nichts im Sinne haben. Die Rhetorik war für ihn keine eigene Wissenschaft. Vielmehr war für ihn derjenige, der die Wahrheit in den Dingen suchte und fand, ein guter Redner. Sein Schüler Aristoteles war anderer Meinung
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und veröffentlichte das erste systematische Lehrbuch der Rhetorik, bereits damals ein Beispiel für Rhetorik als angewandte Hörerpsychologie. In der »Rhetorik« zeigte er, wie eine Rede entlang unterschiedlicher Redeziele aufzubauen und in seiner Affektenlehre wie ein Publikum in einer entsprechenden Stimmungslage zu überzeugen ist. Mit seinen Untersuchungen zu logischen und rhetorischen Schlüssen legte er den Grundstock für das heutige wissenschaftliche Denken und Argumentieren in Deutschland. Die römische Tradition mit Cicero und später Quintilian verfeinerte das aristotelische System der Rhetorik. Besonders Quintilian veröffentlichte ein umfassendes Lehrwerk, wie Rhetorik als Persönlichkeitsentwicklung verstanden und unterrichtet werden kann. Über viele Jahrhunderte hatte dieses System Bestand. Es wurde auch von Augustinus, später dann vor allem von Luther genutzt, um mit Hilfe der Rhetorik die christliche Botschaft überzeugend zu verkünden. Im Zeitalter der Aufklärung erhielt die inhaltlich-argumentative Auseinandersetzung ihre Bedeutung zurück, die sie in der Zeit absolutistischer Fürsten eingebüßt hatte. Für die Rhetorik der Gegenwart und den Redestil in Deutschland ist vor allem der Missbrauch durch die Nationalsozialisten entscheidend. Hitler begriff die Macht des gesprochenen Wortes und nutzte es, um die Massen hinter sich zu bringen. In den Organisationen des Dritten Reichs, den Schulen und Hochschulen wurde das Sprechen im Stil der Führerrede geschult. Nach der Kapitulation und dem traumatischen Erleben, dass man den Reden der Demagogen bedingungslos geglaubt hatte, entwickelte sich im Nachkriegsdeutschland ein tiefes Misstrauen gegenüber der öffentlichen Rede. Entsprechende Lehrstühle in Deutschland wurden abgeschafft. Nur allmählich, getrieben durch die Diskussion um »Schlüsselqualifikationen« in der Arbeitswelt, wird der rhetorische Unterricht an den Schulen und Hochschulen wiederbelebt, allerdings in der Mehrzahl nicht mehr als die umfassende Denk- und Persönlichkeitsentwicklung der griechischen und römischen Tradition, sondern meistens eher als »pragmatische Kunst der Selbstbehauptung«. Der gegenwärtige rhetorische Stil in Deutschland bezieht sich aufgrund dieser Entwicklung auf folgende Kulturstandards (Schroll-Machl, 2003): Sachorientierung, Direktheit und Formalität: In beruflichen Situationen sollte zum Beispiel die Einleitung eines Vortrags möglichst
62 Stefan Kammhuber zielgerichtet zum Thema hinführen, der Sprecher sollte sich nicht zu stark in den Vordergrund spielen und möglichst unpathetisch sprechen, der Redestil sowohl sollte inhaltlich als auch im sprachlichen Ausdruck sachlich sein. Zeitplanung und Wertschätzung von Strukturen: Es wird eine klare Vortragsstruktur erwartet, die auch nach außen deutlich gemacht wird, zum Beispiel durch eine Gliederungsfolie in der Präsentation. Selbstsicherheit und Selbstbehauptung, Individualismus: Vom Sprecher wird erwartet, dass er »im Brustton der Überzeugung« spricht, die Symptome des Lampenfiebers bewältigt, den festen Blickkontakt sucht, durch bewusste Betonungen und Stimmsenkungen die Überzeugungskraft der eigenen Argumente unterstreicht und die eigene Position deutlich macht, für die er oder sie steht und für die er oder sie Verantwortung übernimmt.
4 Interkultureller Dialog Wenn man die dargestellten rhetorischen Traditionen miteinander vergleicht, lassen sich Annahmen ableiten, wie sie sich im interkulturellen Dialog auswirken. Damit ist noch keine Zwangsläufigkeit ausgedrückt, sondern wahrscheinliche Möglichkeiten der Personenwahrnehmung. Die Darstellung ist zur besseren Verständlichkeit polarisierend. Die Wirkungen können je nach individueller Biographie und Sozialisation unterschiedlich stark ausgeprägt sein.
4.1 Arabisch-deutscher Dialog Sprachkunst versus sachorientierter Redestil: Dies kann zu der Wahrnehmung führen, dass der deutsche Sprecher auf die arabische Zuhörerschaft zwar als kompetent, aber auch als eher langweilig, distanziert und wenig von der eigenen Sache überzeugt wirkt, während der arabische Sprecher von der deutschen Zuhörerschaft als
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dynamisch, aber auch als wenig seriös und manipulativ empfunden werden kann. Religiöse Orientierung im gesamten Alltag versus religiöse Orientierung als Teil des Privatlebens: Das Einflechten von religiösen Formulierungen wirkt auf deutsche Zuhörer wahrscheinlich eher befremdlich. Im günstigen Fall wird der Vortragende als fromm empfunden, im wahrscheinlicheren, ungünstigen Fall als fundamentalistisch, bedrohlich oder unangemessen pathetisch. Umgekehrt ist das Säkulare der deutschen Rhetorik wahrscheinlich für die arabische Zuhörerschaft ein deutlicher Hinweis auf die »Gottlosigkeit« und damit moralische Unterlegenheit des Westens. Nationalstolz versus ambivalentes Nationalgefühl: Für deutsche Ohren klingt die Betonung des Stolzes auf die eigene Nation wiederum befremdlich oder sogar arrogant und bedrohlich, wohingegen für das arabische Publikum der kritische und selbst-distanzierende Umgang mit der deutschen Nationalgeschichte eventuell ein Ausdruck von tiefer Unsicherheit und Orientierungslosigkeit ist.
4.2 Chinesisch-deutscher Dialog Soziale Harmonie versus Sachorientierung: Die Idee der Einordnung in ein hierarchisch strukturiertes Gesellschaftssystem mit den daraus folgenden rhetorischen Konventionen der Respektsbezeugung gegenüber Älteren oder Lehrmeistern kann von einer deutschen Zuhörerschaft als Zeichen fehlender Kompetenz gewertet werden, wenn zum Beispiel eigene Leistungen dem Lehrer oder Förderer zugeschrieben werden. Umgekehrt kann ein deutscher Sprecher peinlich auf eine chinesische Zuhörerschaft wirken, weil er anscheinend den ihm zustehenden Rang in der Gesellschaft nicht kennt und sich überschätzt. Höflichkeit versus Selbstaktualisierung: Das ostentative Zeigen von Bescheidenheit als Ausdruck der Höflichkeitsetikette wird vom deutschen Zuhörer eventuell fehlgedeutet als Unsicherheit in der Sache oder in der Situation. Umgekehrt kann der deutsche Spre-
64 Stefan Kammhuber cher von der chinesischen Zuhörerschaft als unangemessen selbstbewusst und arrogant wahrgenommen werden. Gesicht geben versus Gesicht wahren: Die Kulturtechnik des GesichtGebens, indem zum Beispiel das Publikum zu Beginn für seine Kompetenz und Urteilskraft gelobt wird, kann für deutsche Zuhörer unangemessen schmeichlerisch und manipulativ klingen, während die rhetorisch mehr oder weniger subtile Zurschaustellung der eigenen Kompetenz von einem chinesischen Publikum auch als unverschämt gesehen werden kann.
5 Empirische Belege und Schlussfolgerungen In mehreren Studien an der Universität Regensburg konnte in einem quasi-experimentellen Forschungsdesign gezeigt werden, dass die kulturspezifischen Werte, Normen und Konventionen der Rhetorik die Eindrucksbildung im interkulturellen Dialog maßgeblich beeinflussen. Ausgewählt wurde für diese Studien die Phase der Vortragseröffnung. In ihr bildet sich beim Publikum der Eindruck vom Sprecher, der entscheidend ist für die weitere Informationsverarbeitung und -interpretation. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass gerade diese erste Phase der Personenwahrnehmung noch nicht überlagert wird von reflexiven Kognitionen (»Warum wirkt Sprecher x aus y auf mich so?«), so dass die kulturspezifische Erwartungshaltung gegenüber dem Sprecher klarer zutage tritt und interkulturelle Phänomene deutlicher zu beobachten sind. Um eine standardisierte Versuchsbedingung zu gewährleisten, wurden drei kulturspezifische Vortragseröffnungen (arabisch, chinesisch, deutsch) durch den gleichen (deutschen) Sprecher, gehalten in deutscher Sprache, in der gleichen Bedingung (Gastvortrag an einer deutschen Universität) per Videokamera aufgezeichnet und später in zufälliger Reihenfolge drei kulturspezifischen Zuhörerschaften (arabisch, chinesisch, deutsch) vorgeführt. Die Versuchspersonen sollten nach dem Ansehen der Vortragseinstiege jeweils einen Fragebogen zur kommunikativen Wirkung ausfüllen, die der Vortrag auf sie gemacht hatte. Den Teilnehmern wurde mitgeteilt, dass es sich um eine Studie zur Rhetorik handelt, aber nicht um
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eine interkulturelle Studie, um eventuell verzerrte Ergebnisse zu vermeiden (Lackner, 2005). In den Ergebnissen zeigte sich, dass − die deutsche und die arabische Zielgruppe den jeweils eigenkulturellen Vortragseinstieg vor den anderen beiden bevorzugen. − die chinesische Zielgruppe den eigenkulturellen Vortragseinstieg hingegen nicht bevorzugt. Als Erklärung führt Seßner (2005) den sozialen Wandel und die Orientierung am Westen an. So äußerten Studierende in der qualitativen Befragung, dass sie der Vortragseinstieg an einen sehr typischen chinesischen Vortragseinstieg erinnere, sie aber nicht mehr so reden wollten. − die chinesische Eröffnung von der arabischen und der deutschen Zielgruppe zwar als bescheiden empfunden wird, aber auch als weniger kompetent und überzeugend. − die deutsche Eröffnung von der chinesischen und arabischen Zielgruppe zwar als kompetent und überzeugend bewertet wird, aber auch als wenig dynamisch im Hinblick auf Ausdruck und Lebendigkeit. − die arabische Eröffnung von der deutschen und der chinesischen Zielgruppe als dynamisch und unterhaltsam wahrgenommen wird, aber auch als nicht sehr überzeugend und glaubwürdig. In den Untersuchungen konnte also gezeigt werden, dass die kulturspezifische rhetorische Sozialisation die soziale Wahrnehmung stark beeinflusst. Sie wird zum Gradmesser, an dem fremdes rhetorisches Verhalten beurteilt wird. Diese Beurteilung umfasst zumeist negative Aspekte in Bezug auf Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft und Sympathie. Übertragen auf den interkulturellen Dialog bedeuten diese Erkenntnisse, dass interkulturelles Verstehen erst dann gelingen kann, wenn wir willens und in der Lage sind, unser kulturell bedingtes Wahrnehmungsverhalten kritisch zu überprüfen. Wer dem anderen Inkompetenz, mangelnde Seriosität oder mangelnde Dynamik unterstellt, wird auch mit höherer Wahrscheinlichkeit überheblich, moralisierend oder mit eingeschränkter Zuhörbereitschaft reagieren, was wiederum eine komplementäre Reaktion herausfordert. Interkulturelles Verstehen wäre somit im ersten Ansatz gescheitert. Wenn interkulturelle Dialogfähigkeit aber gefördert wer-
66 Stefan Kammhuber den soll, dann kann aus diesen Darlegungen nur folgen, dass eine intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit den kulturspezifischen rhetorischen Traditionen unumgänglich ist. In Jahrtausenden gewachsen, bestimmen sie die soziale Wahrnehmung der Kommunikationspartner. Davon profitieren können alle gesellschaftlichen Felder. In der Wirtschaftszusammenarbeit können Präsentationen zielgruppenorientierter gestaltet, Verhandlungen partnerorientiert geführt werden. Auswahlverfahren können kritisch daraufhin geprüft werden, ob bestimmte Elemente, wie zum Beispiel die Beurteilung des Präsentationsverhaltens, Bewerber systematisch benachteiligen, weil sie in einer anderen rhetorischen Tradition aufgewachsen sind, unabhängig ihrer fachlichen und methodischen Kompetenz. In der Sicherheitspolitik kann eine angemessene Einschätzung kulturspezifischer Rhetorik helfen, öffentliche Verlautbarungen in ihrem Bedeutungsgehalt korrekt zu interpretieren und die eigenen Äußerungen zu prüfen, inwieweit sie konflikteskalierend oder konfliktentschärfend wirken können. In der Integrationsarbeit in Deutschland kann die Kenntnis kulturspezifischer rhetorischer Konventionen in vielen Situationen helfen, zum Beispiel in der Gesundheitsversorgung bei Gesprächen mit Patienten und deren Angehörigen; bei der Beratung von Zuwanderern und Flüchtlingen in Migrationsdiensten oder Anerkennungsstellen; bei der Beurteilung von Aussagen vor Gericht und Glaubwürdigkeitsbeurteilungen; bei der Betreuung von Zuwanderern in Behörden, im Polizei- und Vollzugsdiensten oder in Schulen und Hochschulen.
Literatur Amin, A. (2003). Ägypten. In A. Thomas, S. Kammhuber, S. Schroll-Machl (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 2: Länder, Kulturen und internationale Berufstätigkeit (S. 211– 224). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Huang, L.-F. (2001). Europäische und chinesische Rhetorik im Vergleich. Berlin: Logos. Kammhuber, S. (2003). Interkulturelle Rhetorik. In A. Thomas, E.-U. Kinast, S. Schroll-Machl (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 1: Grundlagen und Praxisfelder (S. 274– 286). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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Kammhuber, S., Thomas, A. (2004). Lernen fürs Leben. Orientierungskurse als Teil staatlicher Integrationspolitik. In K. J. Bade, M. Bommes, R. Münz (Hrsg.), Migrationsreport 2004 (S. 151–173). Frankfurt a. M.: Campus-Verlag. Knutson, T. J., Komolsevin, R., Chatiketu, P., Smith, V. R. (2003). A crosscultural comparison of Thai and US American rhetorical sensitivity: implications for intercultural communication effectiveness. International Journal of Intercultural Relations, Vol. 27, Issue 1, February 2003, 63–78. Lackner, T. (2005). Kommunikative Wirkung kulturspezifischer Vortragseröffnungen auf die arabische und deutsche Zuhörerschaft. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Regensburg: Institut für Exp. Psych. Liang, Y., Kammhuber, S. (2003). Ostasien: China. In A. Thomas, S. Kammhuber, S. Schroll-Machl (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 2: Länder, Kulturen und interkulturelle Berufstätigkeit (S. 171–185). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pechler, D. (2004). Zur kommunikativen Wirkung kulturspezifischer Vortragseröffnungen auf eine deutsche Zuhörerschaft. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Regensburg: Institut für Exp. Psych. Schroll-Machl, S. (2003). Die Deutschen – Wir Deutsche. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Seßner, K. (2005). Zur kommunikativen Wirkung kulturspezifischer Vortragseröffnungen auf eine chinesische und deutsche Zuhörerschaft im Vergleich. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Regensburg: Institut für Exp. Psych. Stock, K. (1999). Sprache als ein Instrument der Macht. Strategien der arabischen politischen Rhetorik im 20. Jahrhundert. Wiesbaden: Reichert Verlag. Thomas, A. (1999). Kultur als Orientierungssystem und Kulturstandards als Bauteile. In Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (Hrsg.), IMIS-Beiträge 10/1999 (S. 91–130). Bramsche: Rasch Druckerei und Verlag GmbH.
Eva Maria Stögbauer und Henriette-Muriel Müller
Interreligiöse Kompetenz im interkulturellen Dialog
»Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?« – Die sprichwörtlich gewordene »Gretchenfrage« aus Goethes Faust fordert eine Positionierung heraus, die einem Westeuropäer nicht immer leichtfällt, da Religion und Glaube in der fortgeschrittenen Moderne ihre ehemalige Selbstverständlichkeit verloren haben. Entgegen der Prognose des stetigen Rückzugs von Religion und Glaube aus dem öffentlichen Bereich hin zur stillen Privatsache des Einzelnen, rücken Religion und Religionen gegenwärtig vermehrt in den Mittelpunkt des öffentlich-medialen Interesses: einerseits wegen ihrer faszinierenden Kraft, die Völker und Menschen verbindet wie beim Weltjugendtag in Köln; andererseits jedoch wegen ihrer anscheinend zunehmenden Politisierung in Form fundamentalistischer Bewegungen und gewaltsamer Konflikte (Minkenberg u. Willems, 2002). Das Diktum des Theologen Küng »Kein Friede unter den Nationen ohne einen Frieden unter den Religionen. Kein Friede unter den Religionen ohne einen Dialog zwischen den Religionen« (Küng, 1990, S. 102) stellt die besondere Bedeutung von Religion und Religionen sowohl für ein Gelingen als auch für ein Misslingen interkultureller Prozesse heraus und benennt den interreligiösen Dialog als notwendigen Teilbereich eines Dialogs der Kulturen.
1 Rahmenbedingungen interreligiöser Prozesse in der fortgeschrittenen Moderne Um einen geeigneten Ansatzpunkt für die Ausbildung interreligiöser Kompetenz zu finden, ist es zunächst erforderlich, sich aus westeuropäischer Perspektive mit den Rahmenbedingungen zu befassen, innerhalb derer sich interreligiöse Prozesse abspielen. Dabei
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ist als übergreifende Beobachtung festzuhalten, dass Religion und Glaube in der fortgeschrittenen Moderne sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft keine selbstverständliche Gegebenheit (mehr) darstellen und als diskursive Tatbestände aufgefasst werden.
1.1 Säkularisierung von Religion und Kirche Der christliche Glaube und vor allem die kirchlich institutionalisierte Religion büßten mit Beginn der Neuzeit und katalysiert durch die Epoche der Aufklärung an Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit ein. Im Vergleich zur Spätantike und zum Mittelalter konnte der kirchlich-christliche Glaube in der Moderne nicht weiter seine hierarchische Sonderstellung als »heiliger Baldachin« (Berger, 1967) behaupten, der zum einen das Leben des einzelnen Menschen von der Wiege bis zur Bahre und zum anderen alle kulturellen Bereiche von der Politik bis zur Kunst mit seinem spezifischen Sinnrepertoire überspannt (Ruh, 2006). Der Appell der Aufklärung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu befreien, traf insbesondere die kirchlich-religiöse Vormachtstellung. Die Emanzipation des Einzelnen sowie des Staates vom Christentum kirchlicher Prägung führte zum Verlust der Exklusivstellung der christlichen Religion und ließ diese im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung zu einem Teilbereich neben anderen werden: »Der Ort der Religion in der modernen Gesellschaft ist nicht mehr in einem übergreifenden Baldachin oder in der hierarchischen Spitze der Gesellschaft zu suchen, sondern sie findet sich als Teilsystem unter anderen Teilsystemen wieder« (Gabriel, 2002, S. 139). Als gesellschaftliches Teilsystem konnte und kann das (kirchliche) Christentum nicht länger ein umfassendes und allgemeingültiges Deutungs- beziehungsweise Sinnmonopol für das menschliche Leben beanspruchen, sondern dem Einzelnen und dem Gemeinwesen nur eine Möglichkeit unter vielen anderen zur Lebensdeutung und -gestaltung anbieten. Mit der Entflechtung von Staat und Religion beziehungsweise von Staat und Kirche sowie mit der Anerkennung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit fiel die Entscheidung,
70 Eva Maria Stögbauer und Henriette-Muriel Müller sich zu einer Religion zu bekennen, sich religiös indifferent zu verhalten oder eine säkulare Weltanschauung zu vertreten, in den Verantwortungsbereich des Individuums.
1.2 Pluralisierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung von Religion Die fortgeschrittene Moderne zeichnet eine gleichberechtigte Koexistenz von Weltanschauungen, Religionen, Wertesystemen und Lebensstilen aus. Dadurch, dass kein Weltanschauungs- und/oder Lebenskonzept eine absolute Deutung der individuellen wie gesellschaftlichen Wirklichkeit leisten kann, wird die Vielheit zu einem genuinen Wert an sich und richtet sich gegen unangemessene Absolutheits- wie Totalitätsansprüche (Lyotard, 2005). Für den Einzelnen bedeutet diese Pluralität einen immensen Freiheitsgewinn, da er sich zwanglos auf dem Markt der Weltanschauungen, Religionen und Lebensentwürfe bewegen und aus dem vielfältigen Angebot frei wählen kann. Zugleich verbindet sich mit dieser Wahlfreiheit ein erhöhter Entscheidungszwang. Da das Individuum immer weniger in vorgegebene Strukturen, wie zum Beispiel die religiös-kirchliche, eingebunden ist und kaum noch Anhaltspunkte für eine Normalbiographie vorliegen, muss der Einzelne seine Lebensgestaltung in eigene Hände nehmen und sich selbstständig um eine passende Lebensgestaltung kümmern. Die Herauslösung aus traditionellen Bindungen erhöht einerseits die Selbstbestimmung des Individuums, verringert aber andererseits die Stabilität und Orientierungsleistung vorgegebener Bindungen (Beck, 2007). Pluralisierung, Individualisierung, Enttraditionalisierung sind unumkehrbare Merkmale der fortgeschrittenen Moderne – auch und gerade im Bereich von Religion und Glaube. Während das religiöse Bekenntnis früher durch die christliche Tradition vorgeprägt war, entscheidet der Einzelne heute im Kontext des pluralen Angebots für sich selbst, ob er überhaupt religiös sein will und falls ja, innerhalb welcher religiöser Traditionen er seine persönliche Religiosität verwirklichen möchte (Berger, 1992; Porzelt, 2002): »Moderne Religiosität verliert den Charakter einer schicksalhaft ererbten Selbstverständlichkeit. Stattdessen unterliegt die Einzelperson mehr und
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mehr dem Zwang, sich religiös zu entscheiden« (Porzelt, 2002, S. 277). Die Ablösung von ehemals selbstverständlichen religiösen und religiös-rituellen Traditionen zeigt sich besonders in der schwindenden Kirchlichkeit der westeuropäischen Bevölkerung. Seit den 1950er Jahren nehmen zum einen die Kirchgangshäufigkeit und zum anderen das Zugehörigkeitsgefühl zur Kirche, vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, stetig ab (Zinnecker, 1993). Zudem hat sich die religiöse Primärsozialisation maßgeblich verändert. Intentionale religiöse Erziehung und Praxis sind in vielen Familien keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Beheimatung von Kindern in einer Religion und Glaubenstradition – speziell der christlichen – ist nicht mehr der Normalfall (Ritter, 2006). Oft wird der schulische Religionsunterricht zum ersten Ort, an dem Heranwachsende der Religion des Abendlandes begegnen. Entsprechend dieser Rahmenbedingungen ergibt sich ein transformiertes Gesicht religiöser Positionierungen. Eher selten werden das Überzeugungssystem und die rituelle Praxis einer bestimmten Religion vollständig und in weitgehender Kontinuität zur Tradition übernommen. Vielmehr werden mit Blick auf die eigene Lebensgestaltung ausgewählte Inhalte und Vollzüge einer oder mehrerer Religionen in ein privates Deutungssystem integriert, das je nach eigener Präferenz stärkere oder geringere Bezüge zu einer institutionalisierten Religion aufweisen und sich sowohl esoterisch-alternativer wie ekstatisch-spiritueller Versatzstücke bedienen kann (Knoblauch, 2006). Des Weiteren ist es dem Einzelnen möglich, eine indifferente Position gegenüber Religionen einzunehmen und seine persönliche Religiosität einem Moratorium zu unterstellen. Ebenso besteht die Möglichkeit, sich vollständig von religiösen Vorstellungen und Vollzügen zu verabschieden und eine säkularisierte Position zu beziehen (Porzelt, 2002). Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklungen in der fortgeschrittenen Moderne gewinnt die bewusste Beheimatung in einer spezifischen Glaubenstradition mit dem Anspruch, griffige Antworten für alle Lebensbereiche zur Verfügung zu stellen, ebenfalls eine völlig neue Bedeutung.
72 Eva Maria Stögbauer und Henriette-Muriel Müller
2 Interreligiöse Kompetenz als Sensibilität dafür, woran das Herz eines religiösen Menschen hängt Wie anhand der Rahmenbedingungen abzulesen, sind Religion und Religiosität aufgrund der kultur- und geistesgeschichtlichen Entwicklung der Moderne Phänomene, die dem Einzelnen nicht mehr selbstverständlich bekannt sind und sich ihm auch nicht mehr mühelos erschließen. Deshalb bedeutet interreligiöse Kompetenz im Besonderen, ein Gespür dafür zu entwickeln, woran das Herz eines religiösen Gegenübers hängt, dem man in interkulturellen Situationen begegnet – unabhängig davon, ob man selbst in seiner Biographie einen religiösen oder nichtreligiösen Standpunkt bezieht.
2.1 Bedeutungsdimensionen von Religion und Religiosität Um ein solches Gespür für die Lebensbedeutung von Religion und Religiosität zu entwickeln, ist es hilfreich, Religionen von ihrer Funktionalität her zu betrachten. Analog zum kulturellen System sind Religionen als Sinn- und Orientierungssysteme zu verstehen, die dem Einzelnen oder einer Gemeinschaft durch ihre Glaubenslehren Strategien der Welterklärung und der Lebensbewältigung zur Verfügung stellen und dadurch Orientierung und Sicherheit schaffen. Ihr Überzeugungssystem ermöglicht es dem Einzelnen, sich in einer als komplex und kontingent erfahrenen Wirklichkeit zurechtzufinden, Erlebnisse und Widerfahrnisse weitgehend stimmig zu deuten sowie Handlungsmaximen für verschiedene Lebenssituationen zu antizipieren. Im Rückgriff auf religionssoziologische Analysen können diese Funktionen von Religion wie folgt spezifiziert werden (Kaufmann, 1989; Luhmann, 2002): – Religionen eröffnen und garantieren eine sinnvolle Weltordnung: Durch ihr weitgehend geschlossenes weltanschauliches System können Religionen dem Einzelnen eine stimmige Weltdeutung präsentieren, die durch die Aufteilung in Immanentes und Transzendentes beziehungsweise in Profanes und Heiliges eine sinnvolle Ordnung garantiert. – Religionen leisten einen Beitrag zur Kontingenzbewältigung: Durch ihre sinnvolle Weltordnung bieten Religionen zum einen ein
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Deutungspotenzial für die Auseinandersetzung mit den Sinnfragen des menschlichen Daseins (z. B. Woher kommt der Mensch? Was geschieht im Tod? Warum gibt es das Böse?) und zum anderen für die Bewältigung von Leid- und Unrechtserfahrungen an. So können beispielsweise monotheistische Religionen menschliche Erfahrungen der Kontingenz auf Gott als den letzten Sinngrund des Seins beziehen, während die buddhistische Lehre diese im kosmischen Weltgesetz der Wiedergeburt integrieren kann (Luhmann, 2002). Religionen vermitteln Werte und Handlungsmaximen: Religionen vermitteln ein bestimmtes Werte- und Normensystem (z. B. der Dekalog im Juden- und Christentum, der Achtfache Pfad im Buddhismus), welches ihren Mitgliedern als Maßstab und als Entscheidungshilfe in konkreten Situationen zur Verfügung steht. Durch den Bezug auf eine transzendente Wirklichkeit können Religionen ihre Werte und Maximen besonders effektiv begründen und kontinuierlich tradieren. Religionen integrieren in eine Gemeinschaft: Des Weiteren besitzt jede Religion eine sozialisierende Funktion, da sie den Einzelnen in eine Gemeinschaft einbindet und ihn mit den spezifischen Regeln, Rollen und Verhaltensweisen dieser Gemeinschaft vertraut macht (Kaufmann, 1989). Religionen leisten einen Beitrag zur Identitätsstiftung: Indem Religionen dem Einzelnen einen Platz im Gesamt der Welt zuweisen, ihm transzendente Sinnzusammenhänge eröffnen und Modelle gelingender Lebensführung anbieten, helfen sie ihm zugleich, mit seinen Ängsten umzugehen und Perspektiven für die eigene Zukunft zu entwickeln. Religionen ermöglichen eine Distanzierung von gegebenen Verhältnissen: Da Religionen auf eine transzendente, außerweltliche Dimension verweisen, ermöglichen sie es dem Einzelnen, sich von gegebenen Verhältnissen zu distanzieren und eine andere Wirklichkeit als die bestehende zu erhoffen. Zugleich kann Religion die Motivation freisetzen, Kritik an gegenwärtigen Zuständen zu üben und sich selbst im Horizont dieser Erwartung für eine veränderte Zukunft einzusetzen (Luhmann, 2002).
74 Eva Maria Stögbauer und Henriette-Muriel Müller
2.2 Ausbildung interreligiöser Kompetenz in der Doppelbewegung von eigen- und fremdreligiöser Sensibilisierung Im Gegensatz zum intentionalen interreligiösen Dialog, der zwischen Angehörigen verschiedener religiöser Konfessionen und somit als Dialog zwischen Verschiedengläubigen geführt wird, treffen in interkulturellen Begegnungssituationen Kommunikationspartner aufeinander, in deren Biographie Religion und Religiosität je unterschiedliche und eventuell sogar voneinander differierende Stellenwerte einnehmen. So besteht die Möglichkeit, dass sich jeder teilnehmende Akteur entweder als religiös in unterschiedlicher Intensität, als religiös suchend, als religiös indifferent oder als überhaupt nicht religiös definiert. In einer interkulturellen Begegnungssituation können religiöse Inhalte, Fragen- und Problemstellungen explizit zum Thema der Kommunikation und möglicherweise zu deren Fallstrick werden, wenn ein Partner nicht angemessen darauf reagieren kann oder sich völlig konträre religiöse Überzeugungsinhalte gegenüberzustehen scheinen. Ebenso können religiös bedingte Denkmuster, Einstellungs- und Verhaltensweisen des Gegenübers eine interkulturelle Begegnungssituation beeinflussen und Missverstehen hervorrufen, wenn sie in ihrer spezifischen Eigenart beziehungsweise Bedürfnislage nicht anerkannt, übergangen oder unwissend verletzt werden. Interreligiöse Kompetenz für den interkulturellen Dialog auszubilden, bedeutet deshalb: 1. eine Sensibilität für die religiöse Sicht und Deutung von Wirklichkeit entwickeln – selbst wenn einem diese fremdartig oder als inkompatibel mit der eigenen nicht-religiösen Weltanschauung erscheint; 2. sich bewusst und reflexiv gegenüber Religion und Glaube positionieren können; 3. seine Aufmerksamkeit für die mögliche religiöse Verwurzelung seines Gegenübers und dessen Kultur schulen; 4. sich Wissen und Kenntnisse über eigen- wie fremdkulturelle Religionen aneignen; 5. die bleibende Fremdheit religiöser Überzeugungen akzeptieren und respektieren lernen (Ziebertz u. Leimgruber, 2000).
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Die Entwicklung von interreligiöser Kompetenz zielt also zunächst nicht auf eine Qualifizierung für den akademischen interreligiösen Dialog, sondern auf die Fitness für ein Gespräch über »Gott und die Welt«, das sich in unserer Welt zu jeder Zeit und an jedem Ort ergeben kann, und auf die angemessene Beurteilung fremd-kulturellen Verhaltens. Eigenreligiöse Sensibilisierung: Die Ausbildung interreligiöser Kompetenz vollzieht sich in einer verschränkten Doppelbewegung von eigen- und fremdreligiöser Sensibilisierung, die sowohl eine achtsame Wahrnehmung für die spezifisch religiösen Wurzeln der eigenen Kultur als auch für die religiöse Verwurzelung fremder Kulturen respektive des interkulturellen Partners ermöglicht (Thomas, Stögbauer u. Müller, 2006). Bei der eigenreligiösen Sensibilisierung steht der Erkenntnisprozess im Vordergrund, dass menschliches Erleben und Verhalten in den Aspekten des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Wertens und Handelns auch religiös bedingt ist beziehungsweise bedingt sein kann und dass die eigene Kultur spezifisch religiöse Wurzeln und Signaturen besitzt, selbst wenn diese durch Säkularisierungs- und Enttraditionalisierungsprozesse überlagert sind. Religion und subjektive Religiosität eines einzelnen Menschen sollten stets als mehrdimensionale Phänomene wahrgenommen werden, die in verschiedenen Aspekten zu ihrem Ausdruck gelangen: in der subjektiven Überzeugung des Glaubens, im Wissen über die eigene Religion, in der rituellen Praxis, im persönlich-religiösen Empfinden und im religiös motivierten moralischen Handeln (Glock u. Stark, 1965). Dieser Erkenntnisprozess sollte eine reflexive Betrachtungsweise der eigenen Positionierung zu Religion und Glaube mit einschließen. Die Entwicklung interreligiöser Kompetenz verlangt keineswegs die Ausbildung einer individuellen Religiosität oder eines persönlichen Bekenntnisses zu einer bestimmten Religion, dafür aber die Vergegenwärtigung des eigenen religiösen oder nichtreligiösen Standpunktes aus biographischer Perspektive. Diese Selbstreflexion ermöglicht es, sich über den (Nicht-)Stellenwert von Religion im persönlichen Orientierungs- und Wertesystem bewusst zu werden und das Religiöse als eine mögliche, wenn auch andere Sicht der Wirklichkeit aufzufassen. Im Anschluss daran sollten die eigenen Einstellungen sowie
76 Eva Maria Stögbauer und Henriette-Muriel Müller Wertungen gegenüber Religion/Religiosität überprüft werden, um einer Verabsolutierung des eigenen Standpunktes und gegebenenfalls dem Gedanken einer Säkularisierungsmission vorzubeugen, da in der Denktradition der abendländischen Aufklärung Religiosität oftmals als naives, irrationales oder abergläubisches Verhalten betrachtet wird (Thomas et al., 2006). Gerade solche Wahrnehmungsraster sollten explizit gemacht werden, damit dem interkulturellen Partner religiöser Prägung mit Offenheit und Wertschätzung begegnet werden kann. Eigenreligiöse Sensibilisierung fordert im Weiteren zur differenzierten Kenntnis der eigen-kulturellen religiösen Tradition und (Geistes-)Geschichte heraus. Mit Blick auf Europa sollte das Wissen um elementare jüdisch-christliche Glaubensinhalte aufgefrischt oder gegebenenfalls neu angeeignet werden, sodass sich auch ein Zugang zum spezifischen Sprach-/ Symbolsystem einer Religion erschließt. Denn um sich im interkulturellen Dialog über religiöse Themen austauschen zu können, muss eine gewisse Vertrautheit mit den Charakteristiken religiöser Sprache gegeben sein. Fremdreligiöse Sensibilisierung: In der fremdreligiösen Sensibilisierung rückt die Aufmerksamkeit für die religiöse Verwurzelung fremder Kulturen, für fremdreligiöse Orientierungssysteme und deren Handlungswirksamkeit sowie für die individuelle Religiosität des interkulturellen Partners in den Mittelpunkt. Die Frage nach der Religiosität einer Gesellschaft – verstanden als gesellschaftliches Verpflichtungsgefühl gegenüber einer bestimmten Religion – und eines fremden Gegenübers sind nicht auf Anhieb zu beantworten. Davon ausgehend, dass das Verhältnis von Individuum beziehungsweise Gesellschaft und Religion nicht als kooperative Trennung wie in Deutschland, sondern als gegenseitige Verflechtung oder grundsätzliche Bedingung verstanden werden kann, sollte zunächst eine Haltung des religiösen Vorschusses eingenommen werden: Dem Gegenüber wird in der Erstbegegnung Religiosität als subjektive Einstellung eher zu- als abgesprochen, damit sich der interkulturelle Dialog bei Bedarf auch in seiner interreligiösen Dimension entfalten kann (Thomas et al., 2006). Die Annäherung an fremdreligiöse Orientierungssysteme verlangt eine Wahrnehmung verschiedener Religionen in ihrer historischen Entwicklung,
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ihrer kulturellen Bedingtheit sowie in ihrer gegenwärtigen Struktur (Lähnemann, 2005) und ihrer Bedeutsamkeit für das kulturspezifische Orientierungssystem ihrer Anhänger. In der Auseinandersetzung mit möglichst zuverlässigen, authentischen Quellen sollte eine Religion jeweils in ihren unterschiedlichen Dimensionen (Geschichte, Glaubenslehre, Ethik, Orthopraxie, Wahrheitsanspruch) und in ihrem Eigencharakter sorgfältig erschlossen werden; hier gilt der religionswissenschaftliche Grundsatz, dass sich Angehörige in der fremden Darstellung ihrer eigenen Religion wiederentdecken können sollten und folglich keine groben Verzerrungen vorliegen. Bei der Aneignung des Eigencharakters einer dem eigenen Kulturkreis fremden Religion sollten vorhandene Bilder und Emotionen gegenüber dieser Religion kritisch reflektiert werden, um Klischees wie Stereotype aufzudecken, einseitigen Betrachtungsweisen entgegenzuwirken und verkürzende Analogieschlüsse zu vermeiden (z. B. wäre eher eine Analogie zwischen Koran und Jesus Christus als zwischen Koran und Bibel zu ziehen: Der Koran gilt im Islam als Buch gewordenes Wort Gottes, während sich Christen zu Jesus als dem Mensch gewordenen Wort Gottes bekennen). Zwar gibt es kein vorurteilsfreies Wahrnehmen, wohl aber kann die eigene Wahrnehmung der Selbstreflexion und -korrektur zugänglich gemacht werden (Ziebertz u. Leimgruber, 2000). Dies betrifft momentan vor allem den Islam, dessen Bild durch die mediale Konzentration auf die fundamentalistische Bewegung stark verzerrt und überzeichnet wird. Königsweg und Prüfstein der fremdwie eigenreligiösen Sensibilisierung ist schließlich die Begegnung und der Dialog mit Andersgläubigen im interkulturellen Kontext, der sowohl von einer Haltung des Fragens und Hörens als auch von einer Motivation des Gegenseitig-voneinander-Lernens und Miteinander-Handelns geprägt sein sollte. Stufenweise Entwicklung interreligiöser Kompetenz: Interreligiöse Kompetenz versteht sich als stufenweise Ausprägung. Am Anfang steht (1) die Sensibilität für die religiöse Dimension der Wirklichkeit und die Toleranz gegenüber religiösen Lebens- und Weltdeutungen, selbst wenn diese der eigenen Position fremd oder sogar gegensätzlich erscheinen. Diese Anerkennung kann sich zum (2) Respekt gegenüber der religiösen Weltsicht und zur Wertschät-
78 Eva Maria Stögbauer und Henriette-Muriel Müller zung derselben in ihrer Andersheit ausbauen. Schließlich kann dieser Respekt eine (3) intrinsische Motivation zur (inter-)religiösen Begegnung bewirken, die (4) eine innere Überzeugung von der Sinnhaftigkeit interreligiöser Begegnungen in Gang setzt. Auf diese Weise kann es zu (5) einer synergetischen Weiterentwicklung des interkulturellen Dialogs kommen – bereichert durch seine religiösen Sinnstrukturen und Tiefendimensionen.
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Anna Ehret
Diagnose und Förderung der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog am Beispiel interkultureller Assessment-Center
Globalisierung ist heute kein Ziel mehr, sondern bereits Realität. In dem Maße, in dem der interkulturelle Dialog in den Blick der Öffentlichkeit rückt und die Fähigkeit zum erfolgreichen interkulturellen Dialog von immer mehr Personen in unterschiedlichen Aufgabengebieten (Integration von Personen mit Migrationshintergrund, Zusammenarbeit in international aufgestellten Unternehmen, Mitarbeit in der internationalen Jugendarbeit) gefordert wird, stellt sich zunehmend die Frage, wie die Kompetenzen, die einen erfolgreichen interkulturellen Dialog ermöglichen, gemessen und gefördert werden können. Bei der Frage nach Bewertung und Förderung der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog ist die in der Einleitung getroffene Unterscheidung zwischen Dialogfähigkeit und Dialogwilligkeit zentral. Allein der Wille, in den interkulturellen Dialog zu treten, bedeutet noch keineswegs, dass dieser erfolgreich sein wird. Erst wenn alle Interaktionspartner zusätzlich zentrale Kompetenzen – hier als Dialogfähigkeit bezeichnet – mitbringen, wird ein für beide Seiten zufriedenstellender, positiv verlaufender interkultureller Dialog möglich. Dieser Artikel beschäftigt sich mit psychologischen Methoden zur Bewertung und Förderung der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog und wird exemplarisch Stärken und Schwächen eines hierfür beliebten und renommierten Verfahrens darstellen. Ziel des Artikels ist es demnach nicht, einen Überblick über alle psychologischen Methoden zur Erfassung der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog zu geben.
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1 Bedeutung und Begriffsklärung der interkulturellen Dialogfähigkeit Voraussetzung für die Dialogwilligkeit ist ein generelles Interesse an Personen aus anderen Kulturen sowie prinzipielle Offenheit für Neues. Beides lässt sich meist recht unproblematisch zum Beispiel im Rahmen eines persönlichen Gespräches erfassen oder kann häufig dann vorausgesetzt werden, wenn sich Personen auf Stellen mit geringem Prestige, schlechter Bezahlung und unkomfortablen Arbeitszeiten bewerben oder sich ehrenamtlich engagieren. Dass die »beste Absicht« allein jedoch nicht genügt, zeigt das Beispiel der jahrzehntelangen Entwicklungshilfe, in der motivierte Personen mit besten Absichten letztendlich daran scheiterten, dass sie versuchten, dem Gegenüber das eigene Vorgehen und die eigenen Werte »überzustülpen« und implizit davon ausgingen, dass dies auch »für die anderen« das Beste sei. Hier scheint das Problem in einer mangelnden Dialogfähigkeit zu liegen: die Überzeugung bezüglich der Gleichwertigkeit der verschiedenen Normen und Werte und die kritische Reflexion des eigenen Verhaltens ist eine Conditio sine qua non für den gelungenen interkulturellen Dialog. Zur Klärung der Frage, welche konkreten Kompetenzen zentral für die interkulturelle Dialogfähigkeit sind, bietet sich ein Rückgriff auf das Konzept der interkulturellen Handlungskompetenz an. Diese lässt sich im psychologischen Kontext folgendermaßen definieren: »Interkulturelle [Handlungs-]Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten und einer Entwicklung hin zu synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und Weltgestaltung« (Thomas, 2003, S. 143).
Es gibt eine Vielzahl an Faktoren, wie beispielsweise bestimmte Fähigkeiten, Einstellungen, Verhaltensweisen, Persönlichkeitsfaktoren und Vorerfahrungen, die als Prädiktoren von interkultureller Handlungskompetenz diskutiert werden (Götz, 2003; Hatzer u. Layes, 2003). In einer ausführlichen und sorgfältigen Literaturrecherche
82 Anna Ehret zur interkulturellen Handlungskompetenz ab 1980 (Hofer, 2003) wurden insbesondere folgende Faktoren als zentral identifiziert: Empathie, Selbstbewusstsein, Flexibilität, Perspektivenübernahme und Selbstreflexion, Offenheit, Non-Ethnozentrismus, Toleranz, Geduld und Frustrationstoleranz. Diese Faktoren sind auch im monokulturellen Alltag einflussreich und förderlich. Im interkulturellen Kontext sind die Anforderungen an diese Faktoren jedoch nicht nur höher, sondern auch umfassender, da eine neue Perspektive – die unterschiedliche kulturelle Prägung – hinzukommt (Sonnleitner-Clinchamps u. Gotsch, 1999).
2 Diagnose der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog Möchte man nun Personen auswählen, die die Fähigkeit zum interkulturellen Dialog mitbringen, beziehungsweise deren interkulturelle Dialogfähigkeit fördern, kann dies dadurch geschehen, dass die genannten Einzelfaktoren erfasst und gefördert werden, da diese in ihrem Zusammenwirken die Grundlage für interkulturelle Dialogfähigkeit bilden. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden zur Erfassung der genannten Faktoren. Besonders häufig zum Einsatz kommen Fragebögen/Persönlichkeitstest sowie Assessment-Center (AC). AC haben den Vorteil, dass Auswahlentscheidungen, die auf der Grundlage von im AC erbrachten Leistungen getroffen werden, eine vergleichsweise gute Prognose für die spätere Bewährung in der angestrebten Position aufweisen (Arthur, Day, McNelly u. Edens, 2003). Hinzu kommt, dass AC-Ergebnisse von den Betroffenen im Allgemeinen sehr gut akzeptiert werden und das Verfahren als fair empfunden wird (Kühlmann u. Stahl, 1998). Der größte Vorteil des AC-Verfahrens bezogen auf das Thema »Bewertung und Förderung der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog« ist jedoch, dass das AC Diagnose und Intervention zugleich darstellen kann (vgl. Ehret, 2006). Beim AC wird das Verhalten direkt beobachtet und muss nicht – wie bei Persönlichkeitstests – aus prinzipiellen Einstellungen oder Eigenschaften erschlossen werden. Dies führt zum einen dazu, dass die Entscheidung durch konkrete Verhaltensbeispiele veranschaulicht und untermauert werden kann, was wiederum zur Akzeptanz des Ergebnisses bei-
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trägt. Zum Zweiten ermöglicht die Beobachtung und Bewertung auf der Verhaltensebene die Ableitung konkreter Verbesserungsbedarfe und -möglichkeiten. Werden diese Beobachtungen im Rahmen eines umfassenden Feedbackgesprächs rückgemeldet, so kann schon diese Rückmeldung eine erste erfolgreiche Intervention sein. Entsprechend dieser Überlegungen wird im Folgenden das Instrument AC zur Bewertung und Förderung der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog vorgestellt und kritisch diskutiert.
3 Einschub: Begriffsklärung Assessment-Center Ein AC ist ein Verfahren, bei dem mehrere Personen über mehrere Tage verschiedene Aufgaben zu bewältigen haben und dabei von mehreren Beobachtern hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit beurteilt werden (Neubauer, 1980). Inhaltliche Besonderheiten dieser Methodik sind der vorherrschende Simulationscharakter der verwendeten Aufgaben (z. B. ein Rollenspiel zur Simulation eines Kritikgespräches) sowie die Verhaltensorientierung des Verfahrens (z. B. die Beobachtung und Beurteilung des gezeigten Verhaltens im Kritikgespräch). Ein AC besteht aus vier zentralen Bestandteilen: dem Anforderungsprofil, den Übungen, den Beobachtungs- und Beurteilungsverfahren sowie den Rückmeldeverfahren. Das Anforderungsprofil nennt und beschreibt die Fähigkeitsmerkmale, die Personen benötigen, um den sich im jeweiligen Tätigkeitsfeld stellenden Handlungsanforderungen gerecht zu werden. Im Rahmen eines AC zur interkulturellen Dialogfähigkeit sollte das Anforderungsprofil dementsprechend die aufgeführten Faktoren der interkulturellen Handlungskompetenz (Empathie, Selbstbewusstsein, Flexibilität, Perspektivenübernahme und Selbstreflexion, Offenheit, Non-Ethnozentrismus, Toleranz, Geduld und Frustrationstoleranz) beinhalten. Je nach genauer Art der interkulturellen Tätigkeit sind einzelne dieser Faktoren wichtiger oder weniger bedeutsam und müssen durch tätigkeitsspezifische weitere Faktoren ergänzt werden. Die Übungen repräsentieren und simulieren zentrale und für das Tätigkeitsfeld typische Aufgaben. Das bedeutet, dass ein AC für Personen, die mit Migranten arbeiten, andere Übungen beinhalten muss
84 Anna Ehret als beispielsweise ein AC für Manager, die als Expatriates ins Ausland gehen, oder für Soldaten, die in Krisengebiete in anderen Nationen entsandt werden. Die Beobachtungs- und Beurteilungsverfahren dienen dem systematischen und auf das Anforderungsprofil ausgerichteten Beobachten und Beurteilen der Teilnehmer beim Absolvieren der Übungen. Die Aufgabe der Rückmeldeverfahren besteht darin zu gewährleisten, dass die Ergebnisse jedem Teilnehmer in systematischer, differenzierter und wertschätzender Weise mitgeteilt werden. Es gibt zwei Hauptziele von AC: Personalauswahl (Auswahl-AC) und Personalentwicklung (Förder-AC). Bei der Personalauswahl geht es um die Prognose der Eignung der zu beurteilenden Person für eine bestimmte Stelle, also zum Beispiel um die Beantwortung der Frage, ob die jeweilige Person die nötige interkulturelle Dialogfähigkeit mitbringt, um erfolgreich in der Entwicklungszusammenarbeit tätig zu werden. Bei einem Förder-AC ist das Ziel die Erstellung eines individuellen, auf das Anforderungsprofil bezogenen Stärken-Schwächenprofils, von dem ausgehend dem Teilnehmer ein fundiertes Feedback gegeben und gezielte Trainingsmaßnahmen angeboten werden können. Ein solches Verfahren ist beispielsweise dann sinnvoll, wenn die Auslandsentsendung eines bestimmten Mitarbeiters schon entschieden ist und nun überprüft werden soll, bezüglich welcher Faktoren noch Förderbedarf besteht.
4 AC zur Diagnose und Förderung der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog Entscheidet man sich für den Einsatz eines AC zur Diagnose der interkulturellen Dialogfähigkeit, so müssen zuerst die einzelnen Übungen festgelegt werden. Diese sollten möglichst typische Anforderungssituationen abbilden, wie sie auf die Teilnehmer im Rahmen einer interkulturellen Zusammenarbeit beziehungsweise eines interkulturellen Zusammenlebens zukommen werden. Dementsprechend werden die Übungsinhalte je nach Zielgruppe unterschiedlich sein. So sind beim interkulturellen Dialog im Wirtschaftssektor andere Situationen zu erwarten als im Bereich der internationalen Jugendarbeit. Die Realitätsnähe der AC-Übungen
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stellt jedoch eine zentrale Voraussetzung für die Akzeptanz und das Gelingen eines AC-Verfahrens dar (Obermann, 2002). Um die ausgewählten Facetten der interkulturellen Handlungskompetenz sinnvoll beobachten zu können, müssen diese bezogen auf die ACÜbungen verhaltensnah operationalisiert werden, das heißt zentrale Beispiele für eine gute oder eine schlechte Leistung auf den einzelnen Anforderungsdimensionen müssen erarbeitet werden. Zudem sind die Beobachter vor ihrem Einsatz im AC mit den Übungen und dem Anforderungsprofil des speziellen Verfahrens sowie der Methodik des standardisierten Beobachtens vertraut zu machen, um die Qualität des Verfahrens sicherzustellen (Arbeitskreis Assessment Center, 2004). Beobachter, die in interkulturellen AC eingesetzt werden, sollten bereits selbst international tätig gewesen sein und schon viele Erfahrungen in vergleichbaren interkulturellen Situationen gesammelt haben (Kinast, 2003; Lohff, 1996), um eine realistische und sinnvolle Einschätzung der Fähigkeiten der Teilnehmer vornehmen zu können. Bei einem Förder-AC ist es zudem essenziell, die Beobachter bezüglich des Feedbackgesprächs zu sensibilisieren. Damit bereits das Feedback eine erste erfolgreiche Intervention darstellen kann, ist es wichtig, dass nur Rückmeldungen gegeben werden, die der Teilnehmer realistischerweise auch umsetzen kann. Das könnten im Kontext der interkulturellen Zusammenarbeit Hinweise sein wie »Kritik weniger direkt zu formulieren« oder »mehr zu hinterfragen, weniger zu werten«. Werden Globalurteile abgegeben, die eine Veränderung der Gesamtpersönlichkeit des Teilnehmers implizieren (z. B. »Sie müssen frustrationstoleranter und emphatischer sein«), so kann dies zu einer empfundenen Abwertung und einer daraus resultierenden Hilflosigkeit führen, da der Teilnehmer die Rückmeldung bekommt, »schlecht« zu sein, aber keine konkreten Ansatzpunkte, was er dagegen unternehmen könnte. Werden diese Rahmenbedingungen berücksichtigt, stellt Feedback eine zentrale Quelle für Lernen dar (BeckerBeck u. Schneider, 2003; Jeserich, 2005). Weiterführend können auf Grundlage der AC-Ergebnisse gemeinsam mit dem Teilnehmer für ihn nachvollziehbare, konkrete Entwicklungsmaßnahmen, wie zum Beispiel Konflikt- oder Reflexionsseminare, geplant werden.
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5 Grenzen der Diagnose und Förderung der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog Eine Einschränkung bezüglich des Einsatzes von AC im Rahmen der Diagnose und Förderung der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog leitet sich von der kulturbedingten Eignung des AC allgemein ab. Für Personen aus Kulturen, in denen direkte Kritik verpönt ist und die Gefahr des Gesichtsverlust in direkten Beurteilungssituationen als sehr hoch empfunden wird, ist die Teilnahme an AC – insbesondere aufgrund des Feedbackbausteins – prinzipiell zu überdenken (Briscoe, 1997; Runge, 2005). »Große japanische Unternehmen betrachten die Solidarität ihrer Angestellten als eine der größten Stärken. Demzufolge vermeiden sie jede Rückmeldung, die einen Angestellten aus der Gruppe heraushebt. Positives Feedback wird als peinlich empfunden; sowohl Manager als auch ihre Angesellten mögen kein negatives Feedback« (Taylor u. Frank, 1998, S. 56; zit. nach Obermann, 2002, S. 38).
Auch für westliche Kulturen, für die AC prinzipiell gut geeignet sind, kann es kulturbedingt zu deutlichen Unterschieden kommen. Beispielsweise lieben Amerikaner Rollenspiele aufgrund ihrer stark ausgeprägten Handlungsorientierung weitaus mehr als Deutsche. Dementsprechend ist anzunehmen, dass sie in Rollenspielen viel mehr von sich zeigen als deutsche Teilnehmer (Kinast, 2003). Auch die vorgegebenen AC-Situationen werden von Personen verschiedener Kulturen eventuell als ganz unterschiedliche subjektive Handlungsfelder wahrgenommen. Kulturelle Einflussbedingungen dieser Art müssen insbesondere bei internationalen AC im Sinne der »cross-cultural fairness« berücksichtigt werden (Lohff, 1996). »Was im Kontakt mit Menschen eines Kulturkreises als sicheres Auswahlkriterium gilt, kann in einem anderem Land und Kontext zu massiven Fehlinterpretationen führen« (Sonnleitner-Clinchamps u. Gotsch, 1999, S. 269; vgl. auch Briscoe, 1997). Eine weitere Schwachstelle interkultureller Auswahlinstrumente ist, dass die Konzeption der interkulturellen Handlungskompetenz hauptsächlich aus der westlichen Wissenschaft stammt. Inwiefern diese Erkenntnisse für Personen aus anderen Kulturkreisen gelten, ist nicht gesichert. Studien aus dem asiatischen Raum kritisieren das personzentrierte Vorgehen der west-
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lichen Forschung und fordern eine stärkere Berücksichtigung der situativen eigen- und fremdkulturellen Variablen (Ward u. Chang, 1997) beziehungsweise fokussieren in ihrer Forschung situative Faktoren wie zum Beispiel Gruppengröße oder Hierarchiestruktur der beteiligten Personen (Selmer, Ling, Shiu u. de Leon, 2003). Besonders betont wird die Bedeutung der Differenz zwischen der Ausprägung einer Eigenschaft der einzelnen Person und dem Durchschnittswert dieser Eigenschaft in der Zielkultur (Ward u. Chang, 1997). Dieser Punkt ist jedoch kein exklusiver Kritikpunkt am ACVerfahren, sondern trifft auf alle Methoden zu, die sich auf das Konzept der interkulturellen Handlungskompetenz beziehen.
6 Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es verschiedene Ansätze zur Feststellung der interkulturellen Dialogfähigkeit gibt, die sich teils hoher Akzeptanz und Beliebtheit erfreuen. Jedoch sind alle diese Verfahren selbstverständlich kulturgebunden und nicht unreflektiert bei Personen aus unterschiedlichen Kulturkreisen einsetzbar. Trotz dieser Einschränkung kommt interkulturellen AC im Rahmen der Diagnose und Förderung der interkulturellen Dialogfähigkeit eine bedeutsame Rolle zu, da sie eine tätigkeitsspezifische Überprüfung der zentralen Anforderungen ermöglichen, die Entscheidungsfindung auf konkret gezeigtem Verhalten beruht, hierdurch ein wirksames Feedback ermöglicht wird und sich das Verfahren zudem einer hohen Akzeptanz bei den Teilnehmern erfreut.
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Ulrike de Ponte
Von der interkulturellen Begegnung über den interkulturellen Dialog zur interkulturellen Kompetenz »Dialog-Räume« in der Schule
Interkulturelle Begegnungen haben in Form von internationaler Jugendarbeit und Schüleraustauschmaßnahmen eine bis in die Weimarer Republik zurückreichende Tradition und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg rückte das »organisierte Begegnen« als Medium für eine Verständigung zwischen ehemals verfeindeten Ländern vermehrt ins Zentrum der Intentionen solcher Maßnahmen. Dabei wurde allein dem in friedlicher Absicht stattfindenden Zusammentreffen von jungen Menschen aus verschiedenen Ländern eine Lernwirksamkeit in Hinsicht auf den Abbau von Vorurteilen respektive feindseliger Gefühle gegenüber dem ehemals verfeindeten Nachbarn unterstellt (Thimmel u. Abt, 2007). Die dieser Überzeugung zugrunde liegende sogenannte Kontakthypothese ist seit über fünfzig Jahren in ihrer bedingungslosen Gültigkeit so nicht mehr haltbar. Die Forschungen zu sozialen Vergleichsprozessen (Festinger, 1954) sowie die Theorie der sozialen Identität (Tajfel u. Turner, 1986) lieferten Hinweise darauf, dass der Vergleich untereinander einen Auslöser für einen Lernprozess aus der Begegnungssituation darstellt. Sofern die teilnehmenden Jugendlichen dabei allerdings viele Gemeinsamkeiten untereinander feststellen, ist zu erwarten, dass sie sich weder selbst noch gegenseitig als repräsentative Mitglieder der jeweiligen Kulturen wahrnehmen. Die Kategorie »Kultur« wird erst bedeutsam bei einem konflikthaften Verlauf, nämlich dann, wenn der Wunsch nach Abgrenzung und Abwertung des anderen zur Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes (soziale Distinktheit nach Tajfel u. Turner, 1986) aktiviert wird. Eine Studie zu »Realität und Innovation in der europäischen Begegnung« zeigt, dass gerade im Bereich der formalen Bildung 48 % der Projekte ihren inhaltlichen Schwerpunkt auf das Kennenlernen anderer Euro-
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päer legt. Dieses soll durch Vergleichsprozesse, durch die Beschäftigung mit dem Selbst- und Fremdbild, mit dem Aufdecken von Stereotypen und Vorurteilen gegenüber anderen europäischen Nationen sowie durch die Bezugnahme auf Gemeinsamkeiten der Europäer untereinander vermittelt werden (vgl. Utler in diesem Band sowie Thomas, Utler, de Ponte u. Schmid, 2008). Vertiefende Interviews mit Projektverantwortlichen aus dem Bereich der formalen Bildung über erfolgreiche Faktoren für ein europabezogenes Lernen im Hinblick auf einen europäischen Partner oder im Hinblick auf Europa allgemein ergaben, dass sich ein Viertel ihrer Aussagen auf den »Begegnungsaspekt« (d. h. Aussagen zur persönlichen Begegnung und zu Austauschmöglichkeiten allgemein, Aussagen zur gemeinsamen Projektarbeit sowie Aussagen im Zusammenhang mit der Zusammensetzung der Gruppe) bezogen. Unklarheit herrschte jedoch in Bezug darauf, wie dieser Erfolgsfaktor »Begegnung« genau europabezogenes Lernen bewirkt. Aus diesen Resultaten lassen sich im Hinblick auf eine Lernwirksamkeit interkultureller Begegnungen allgemein folgende drei Fragen ableiten: 1. Welche Merkmale weisen Begegnungen auf, die für alle Beteiligten mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Lerneffekt in Hinsicht auf die Entwicklung interkultureller Kompetenz haben und die Kategorie »Kultur« in den Teilnehmenden einer Begegnungsmaßnahme als eine positive Repräsentation der Realität etablieren? 2. Welche Bedeutung kommt dabei dem interkulturellen Dialog zu? 3. Wie kann die Entwicklung interkultureller Dialogkompetenz gefördert werden? In diesem Artikel finden sich Antworten auf diese Fragen, wobei neben bereits erwähnter Studie auch Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt über »Langzeitwirkungen der Teilnahme an internationalen Jugendaustauschprogrammen« (Thomas, Chang u. Abt, 2007) einfließen. In einem Modell wird schließlich am Beispiel des formalen Bildungssektors (hier: Sekundarstufe) aufgezeigt, wie die Entwicklung interkultureller Dialogfähigkeit konzeptionell im Schulkontext umgesetzt und in der schulischen Ausbildung als Lern- und Handlungsfeld verankert werden kann.
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1 Interkulturell lernwirksame Merkmale von Begegnungen In Bezug auf eine Wirkung im Hinblick auf die Entwicklung interkultureller Kompetenz konnte die Studie zu den Langzeitwirkungen im internationalen Jugendaustausch konkrete Aussagen treffen: Zum einen wird interkulturelles Lernen durch Erfahrungen von Diskrepanz ausgelöst (vgl. hierzu auch Chang, 2006, Kap. 4.4.2). Dabei handelt es sich um Erlebnisse in oder mit einer fremden Kultur, die von den Vorstellungen und Mustern (Schemata) abweichen, die ein Jugendlicher von sich selbst, von seiner Umwelt, von Situationsverläufen und von Handlungskonsequenzen im Laufe seines bisherigen Lebens aufgebaut hat. Zum anderen basiert interkulturelles Lernen auf der Möglichkeit, diese Diskrepanzerfahrungen im Sinne einer Schemaerweiterung oder -modifikation zu reflektieren (vgl. dazu transformatives Lernen nach Mezirow, Chang in diesem Band). Gerade im Kinder- und Jugendbereich ist es wichtig, dass dies organisiert angeboten und gesteuert wird, denn vielfach wissen Jugendliche nicht, woher sie sich Erklärungswissen beschaffen können und benötigen Unterstützung bei der Interpretation durch Hintergrundwissen und die Sichtweisen anderer. Außerdem steigert eine Vorbereitung auf die Begegnungsmaßnahme, durchgeführt in Form einer Vorsensibilisierung für die interkulturelle Situation sowie für die jeweilige kulturelle Geprägtheit aller Interaktionspartner von Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Bewerten und Handeln, den Lerneffekt. Festzuhalten bleibt, dass das Ermöglichen von Diskrepanzerfahrungen, organisierte diesbezügliche Reflexionen sowie im Vorfeld eine interkulturelle Vorbereitung zur Effizienzsteigerung der Lernwirksamkeit der Begegnungen in der Konzeption eines interkulturellen Lern- und Handlungsfeldes Berücksichtigung finden sollten, um interkulturelles Lernen nicht dem Zufall zu überlassen, sondern gezielt zu fördern (vgl. dazu explizites formelles Lernen, Hößler in diesem Band).
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2 Bedeutung des interkulturellen Dialogs Die organisierte Reflexion stellt wie gezeigt für den Aufbau interkulturellen Wissens und die Entwicklung interkultureller Kompetenz einen zentralen Aspekt dar. Sie kann somit auch im Sinne eines Reflexionstrainings verstanden werden, in dem erlernt werden soll, wie Hintergrundwissen zu un- oder missverständlichem fremdkulturellem Verhalten gesammelt und produktiv zur Verarbeitung von Diskrepanzerfahrungen genutzt werden kann. Nun ist die Entwicklung interkultureller Kompetenz jedoch keine einmalige, in sich abgeschlossene Sache, sondern vielmehr eine Fähigkeit, die lebenslang und in verschiedenen kulturellen Kontexten ständig weiter ausgebildet werden muss. Daher muss ein Training in interkultureller Kompetenz dafür qualifizieren, auftretende Probleme in realen interkulturellen Situationen kurzfristig adäquat bewältigen zu können. Dann jedoch wird oftmals die einzige Informationsquelle der fremdkulturelle Interaktionspartner selbst sein, um hinreichend schnell und adäquat Erklärungswissen zu unverständlichen Reaktionsweisen zu erhalten. Folglich muss als Basis der Reflexion auch trainiert werden, wie kulturangemessen erklärungsrelevantes Wissen erfragt werden kann. Diese Form der Metakommunikation umschreibt der Begriff »interkultureller Dialog«. Zu folgenden Leitfragen sollten im Training in Form einer Mischung aus kulturspezifischen und -unspezifischen Selbsterfahrungs- und Didaktikanteilen (Gudykunst u. Hammer, 1983) metakommunikative Heuristiken erarbeitet werden: Wie kann Wissen über die Fremdkultur, das der Erklärung von Verhalten dienlich ist, kulturadäquat angeeignet werden? Während in Deutschland Beweggründe zu einem gezeigten Verhalten – sofern bewusst – beim Interaktionspartner direkt und sachgebunden abgefragt werden können, wird dies in stärker beziehungsorientierten Kulturen leichter über einen non- oder paraverbalen Kommunikationskanal erreicht (z. B. Stirnrunzeln oder Augenbrauen hochziehen). Dabei ist zu beachten, dass auch die Antwort auf die »gestellte« Frage non- oder paraverbal beantwortet wird und der Klärungsprozess mehr Zeit beansprucht.
94 Ulrike de Ponte Wie kann Wissen über die eigene kulturelle Geprägtheit dem fremdkulturellen Interaktionspartner vermittelt werden, ohne von diesem als Dominanzgebaren decodiert zu werden? Zunächst muss dazu im Vorfeld eigenkulturelles Wissen zu Verhaltens- und Kommunikationsroutinen (in Deutschland z. B. Direktheit, Sachorientierung) aufgebaut werden. Gleichzeitig muss reflektiert und beispielsweise mittels Rollenspielen eingeübt werden, auf welche Aspekte Kommunikation in der eigenen Kultur abzielt (Inhalt vs. Beziehung), wie sich diese gestaltet (vgl. Thomas in diesem Band) und wie Wertschätzung in der Fremdkultur ausgedrückt werden kann. So müssen eventuell zunächst Gesicht gebende Botschaften ausgesprochen oder ausgesendet werden, bevor die eigentliche Nachricht beziehungsweise hier Frage in Bezug auf ein divergierendes und unverstandenes Verhalten gestellt werden kann. Woran wird Dialogfähigkeit bei den Interaktionspartnern erkennbar? Dialogfähigkeit offenbart sich zum einen in einer wertschätzenden Haltung gegenüber dem fremdkulturellen Verhalten an sich sowie gegenüber dem Sinngehalt desselben auf der Grundlage kulturhistorischer Zusammenhänge. Zum anderen zeigt sich diese Qualifikation darin, dass eine Person fähig ist, unter Nutzung beider Kultursysteme das Dialoggeschehen produktiv und zur beiderseitigen Zufriedenheit zu steuern (Dialogperformanz). Dabei werden Verhaltensroutinen immer wieder modifiziert, in ihrer Ausprägung differenziert und kulturangemessen adaptiert. Auf der kognitiven Ebene entspricht dies einer Veränderung bisheriger Schemata über sich und die Welt. Gelingt der interkulturelle Dialog, so geht dies mit dem Aufbau einer positiv konnotierten inneren Repräsentation der Fremdkultur und des fremdkulturellen Verhaltens einher.
3 Entwicklungsförderung interkultureller Dialogkompetenz Die Entwicklung interkultureller Dialogfähigkeit kann gefördert werden, indem die genannten drei Einflussfaktoren auf die Lernwirksamkeit (Diskrepanzerfahrung, organisierte Reflexion, interkulturelle Vorbereitung) konsequent in der Konzeption interkultureller
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Maßnahmen beachtet werden. Am Beispiel »formaler Bildungsbereich Schule« (hier ist gemeint Sekundarstufe I der Haupt- und Realschulen sowie deren länderspezifischen verbundenen Varianten, mit der Gesamtschule und mit dem 8- beziehungsweise 9-jährigen Gymnasium einschließlich der Sekundarstufe II) wird nun erläutert, wie sich derartige Maßnahmen umsetzen lassen mit dem Ziel, interkulturelle Dialogfähigkeit aufzubauen und zu erweitern. In der schulischen Ausbildung kann dies besonders gut gelingen, da der schulische Kontext drei hervorstechende Eigenschaften mit sich bringt: a) Durch plurikulturelle Klassenzusammensetzungen kann der Schulkontext selbst zu einer interkulturellen Überschneidungssituation werden. b) Es kann davon ausgegangen werden, dass Jugendliche aufgrund ihrer zu bewältigenden Entwicklungsaufgabe »Peergruppenbeziehungen entwickeln« (Havighurst, 1972) stark intrinsisch motiviert sind in Bezug auf eine Bereitschaft zum Dialog. Außerdem befinden sich die Jugendlichen in einer Lebensphase, in der Lernen den Kern ihrer Tätigkeiten ausmacht. c) Da die Schüler im Normalfall mindestens sechs Jahre an der Schule und in annähernd demselben Schülerverband verbleiben, können die Inhalte des Reflexionstrainings zwei Ebenen berücksichtigen: 1. Die dialogförderlichen Inhalte können die verschiedenen Entwicklungsphasen der Jugendlichen begleitend immer wieder aufgegriffen werden und damit nachhaltig integriert werden. 2. Das Reflexionstraining kann auf mehrere Jahre angelegt werden. Dadurch lassen sich Themen leichter steuern. Im Zuge wiederholter Durchführungen wird der organisierten Reflexion von den Schülern eine große Bedeutung zugeschrieben und erhält gleichzeitig ein Selbstverständnis, indem es ein festes Implement mit Außenwirkung im Konzept der Schule wird. Abbildung 1 zeigt ein Modell, das einige Bausteine interkultureller (europäischer) Projekte, die in der Studie zu »Realität und Innovation in der europäischen Begegnung« recherchiert wurden, aufgreift, diese miteinander in Beziehung setzt und durch Optimierungen ergänzt. Mit der Bezeichnung Dialog-Räume soll zum einen das Lernfeld »interkulturellen Dialog erlernen« sichtbar werden,
Abbildung 1: »Dialog-Räume« in der Schule
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zum anderen durch die Assoziation mit der Bedeutung »Raum geben für Dialog« auch das Erfahrungs- und Handlungsfeld betont werden (vgl. auch Stengel in diesem Band).
3.1 Dialog-Räume in der Lehrerausbildung Lehrer können Schüler zum Führen eines interkulturellen Dialogs besser befähigen, wenn sie schon in der universitären Ausbildung die Gelegenheit erhalten, dies bei sich selbst zu entwickeln. Eine Kombination von zwei Modulen könnte ihnen dies bieten: Tabelle 1: Modularer Aufbau der interkulturellen Sensibilisierung in der Lehrerausbildung Modul
Inhalt
zweisemestriges Zusatzmodul »interkulturelle Handlungskompetenz«
· Selbstbild-/Fremdbildreflexion · Akkulturationsstrategien · Kulturstandardkonzept (Thomas, 1999) · Semesterarbeit: selbstständige Durchführung in Dreiergruppen von Interviews mit einem fremdkulturellen Mitbürger zur Erhebung sogenannter kritischer Interaktionssituationen und Ableitung von Kulturstandards
(vgl. Hößler in diesem Band)
»Train the intercultural Teacher« (vgl. Abt u. de Ponte, in Vorbereitung)
· Befähigen zur Durchführung interkultureller Trainingseinheiten mit Jugendlichen · Methodentraining · Bereitstellen konkreter Materialien · konkrete Unterrichtseinheiten sowie Befähigen zur Konzeption beziehungsweise zum Adaptieren derselben · Semesterarbeit: Mitarbeit in oder Initiierung von einem interkulturellen Begegnungsprojekt an einer Schule
Beide Module könnten auch Lehrern, die schon im Schulbetrieb tätig sind, als Weiterbildungsmaßnahme angeboten werden: entweder als Externen-Programm oder mit Lehramtsanwärtern ge-
98 Ulrike de Ponte meinsam. Im letzteren Fall können die schon tätigen Lehrer durch das Beisteuern konkreter Erfahrungen und Fallbeispiele die Ausbildung maßgeblich bereichern.
3.2 Dialog-Räume an der Schule An den Schulen selbst sind diverse Lern- und Handlungsfelder für eine interkulturelle Begegnung zu finden und zu organisieren, die im Folgenden vorgestellt werden. Schüleraustausch: Vielfach schon etabliert ist der Schüleraustausch vorrangiges interkulturelles Lern- und Erfahrungsfeld. Um die sinnvollsten Durchführungsjahrgänge zu erfassen, müssten im Vorfeld an Haupt- und Realschulen, an Gesamtschulen sowie am 8- beziehungsweise 9-jährigen Gymnasium Bedingungen und Belastungen erfragt werden und auf der Grundlage entwicklungspsychologischer Erkenntnisse zur Perspektivenübernahmefähigkeit (vgl. auch selbstreflexive Perspektivenkoordination, Selman, 1980; zit. nach Oerter u. Montada, 2002, S. 601 u. S. 610) bewertet werden. Da vielfach in bisherigen Austauschmaßnahmen eine interkulturelle Vorsensibilisierung in Bezug auf kulturbedingte Verhaltensroutinen sowie auf eine Reflexion der eigenkulturellen Prägung fehlt, wird hier ein Konzept mit Einbettung des Schüleraustauschs durch interkulturelle Vor- und Nachbereitung als Optimierung vorgestellt (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: Aufbau zur Einbettung einer Schüleraustauschmaßnahme durch Vor- und Nachbereitung Aufbau
Inhalt
Interkulturelle Vorbereitung des Hinbesuchs, Vorbereitung auf die Gastrolle für Schüler und Lehrer
A) erfahrungsorientiertes kulturallgemeines Training · Vermittlung von kulturallgemeinem Wissen (z. B. Kulturstandardkonzept nach Thomas) · Reflexion der eigenen kulturellen Geprägtheit (hierbei kann es sich schon um verschiedene Kulturräume in eine Klasse handeln!) · Rollenspiele und Simulationen, z. B. mit Kunstkulturen
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Aufbau
Inhalt
Minimalbedingung: länderspezifische Vorbereitung →
B) kulturspezifisches Training (länderspezifisch) · Arbeit mit einem Culture Sensitizer/Assimilator zum Gastland oder einem vergleichbaren Kulturraum, kann auch im Selbststudium geschehen · Einarbeitung in die geschichtlichen und geographischen Daten zum Gastland
Durchführung des Schüleraustauschs (Teil 1: Hinreise) mit Gastfamilienunterbringung
· Dokumentieren von kulturdivergenten Beobachtungen · Dokumentieren von Erlebnissen (Situation, Gefühle, Themen, eigenes Verhalten) · vor Ort auftretende Konflikte sollten umgehend reflektiert werden
Nachbereitung des Hinbesuchs für Schüler und Lehrer Reflexionsangebot
· offene Gesprächsrunde »Wie war’s, wie ist es dir ergangen?«, »Was war schwierig?«, »Was fiel leicht?«; »Wie ging es mir in der Gastrolle?«, »Was nehme ich vom Land mit, was vom Kontakt zu den Gastgebern?« – dabei die kulturelle Komponente herausarbeiten auf Grundlage der Dokumentationen der Schüler · Attributionsdreieck Situation – Person – Kultur · Arbeit in Kleingruppen zu bestimmten Themenstellungen wie z. B. Vergleich der Schulformen, Vergleich der Familienalltage, Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu den gastgebenden Jugendlichen
Vorbereitung des Rückbesuchs, insbesondere auf die Gastgeberrolle für Schüler, Lehrer und Gasteltern
· die Schüler können die Eltern bei der eigenkulturellen Reflexion unterstützen und kulturallgemeines Wissen vermitteln (gemeinsame Veranstaltung) · Besonderheiten für die Schüler in der Gastgeberrolle (getrennt von den Eltern, eventuell mit Lehrern) · Besonderheiten für die Eltern in der Gastgeberrolle (getrennt von den Schülern, eventuell mit Lehrern)
Durchführung des Schüleraustauschs (Teil 2: Rückbesuch) mit fremdkulturellem Gast in der eigenen Familie
· Dokumentieren von Erlebnissen (Situation, Gefühle, Themen, eigenes Verhalten) · vor Ort auftretende Konflikte sollten umgehend reflektiert werden
Nachbereitung des Rückbesuchs für Schüler, Lehrer und Gasteltern
· analog der Nachbereitung des Hinbesuchs
100 Ulrike de Ponte Plurikulturelle Klassen: In der plurikulturellen Zusammensetzung der Klassen liegt ein großes Potenzial verborgen. Dies besteht zum einen in ihrer Rolle als Vertreter der nachwachsenden Generation unter dem Gesichtspunkt einer plurikulturellen Arbeits- und Gesellschaftsgruppe. Zum anderen kann unter dem Blickwinkel »Ressource: Perspektiven- und Handlungsvielfalt« Folgendes festgehalten werden: Für Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren ist wie anfangs erwähnt die Bedeutung der Peergroup zunehmend wichtig (Entwicklungsaufgabe nach Havighurst, 1972). Forschungen zur Frage nach der Übertragung von kulturellem Wissen auf die nachfolgende Generation (Berry, Poortinga, Segall u. Dasen, 1992; zit. n. Oerter u. Montada, 2002, S. 79) messen auch der Enkulturation durch Gleichaltrige (Peers) spätestens ab Schuleintritt eine zentrale Rolle zu (horizontale Transmission). Im Zusammenhang damit wurden auch die Peergroup-Einflüsse in ihrer Bedeutung auf Akkulturationsprozesse bei gleichaltrigen Migrantenkindern und -jugendlichen behandelt. Im vorliegenden Modell kommt jedoch noch eine dritte Einflussbeziehung hinzu, nämlich der Einfluss fremdkultureller Peers auf deutsche Gleichaltrige. Langfristig werden auch diese Einflüsse einen sozialen Wandel antreiben, den es zu steuern gilt. Eine Idee zur sinnvollen Nutzung des Potenzials einer plurikulturellen Klassenzusammensetzung wird nun in Form der Möglichkeit zum Inlandsaustausch (Abt, 2007) vorgestellt. Der Aufenthalt in einer fremdkulturellen Familie in Deutschland kann ein ebensolches Lernfeld bieten wie in einer fremdkulturellen Familie außerhalb Deutschlands. Viele Situationen und Verhaltensweisen in der Gastfamilie wird der Gastschüler diskrepant zu seinem eigenen Familienalltag zu Hause erleben. Beim Inlandsaustausch wird ein deutscher Schüler für zwei Wochen in einer anderskulturellen (vorzugsweise) Klassenkameradenfamilie untergebracht; der anderskulturelle Klassenkamerad lebt anschließend für zwei Wochen mit dem deutschen Schüler bei dessen Familie. Zentral dabei ist die organisierte Reflexion, in der die Vielzahl an Diskrepanzerlebnissen besprochen, bearbeitet und integriert werden kann. Dies kann zu vertieftem interkulturellem Verstehen, Wissenserwerb über die andere Kultur sowie zu interkultureller Kompetenzentwicklung führen. Neben den erwartbar positiven Auswirkungen
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für die Schüler auf ihr Selbstkonzept durch einen Inlandsaustausch können Freundschaften entstehen und der Prozess zu einer verbesserten Integration der anderskulturellen Mitschüler sowie auch derer Eltern wird angeregt. Abt (2007) formuliert die Idee so: »Familien tauschen ihre Kinder, kommen zu Treffen zusammen, erleben gemeinsam eine spezielle Zeit, lernen voneinander, werden auf den Austausch professionell vorbereitet und haben so ebenfalls die Möglichkeit, interkulturelle Kompetenz aufzubauen beziehungsweise neue interkulturelle Bekanntschaften und Verbindungen vor Ort zu knüpfen.« Sie sieht einen weiteren Vorteil dieser Art des Schüleraustauschs darin, dass auch Familien, die ihren Kindern beispielsweise keinen Auslandsaustausch finanzieren können, eine Chance erhalten, diese an einer solchen Maßnahme teilnehmen zu lassen. Außerdem lässt sich diese Form des Austauschs gut in den Schulalltag integrieren, da der Schulbesuch fortgesetzt wird. Wichtig ist, dass im Vorfeld alle Teilnehmenden – Schüler, Eltern und Lehrer – zunächst wie unter dem Abschnitt »Schüleraustausch« dargestellt vorbereitet werden; dabei sollten zur Vorbereitung der anderskulturellen Eltern sogenannte »Kulturlotsen« hinzugewonnen werden. Es handelt sich dabei um eigens geschulte fremdkulturelle Menschen, die vermittelnd oder aufklärend einwirken können und auch während der Durchführung unterstützend begleiten können. Europaklasse (Gymnasium): Vor Neuzusammenstellung der 10. Klassen werden Eltern und Schüler über die Möglichkeit, in die sogenannte Europaklasse zu gehen, informiert. In dieser Klasse findet ein trinationales Europaprojekt statt mit zwei weiteren europäischen Projektpartnern, dabei sollten immer wieder organisierte Reflexionen hinsichtlich einer Dialogführung mit den anderskulturellen Partnerschülern im Mittelpunkt stehen. Hier verdeutlicht sich, dass ein E-Mail-Kontakt nicht ausreichend ist, sondern eine konkrete Face-to-face-Begegnung das Lern- und Handlungsfeld für diese Erfahrungen darstellt. Vorstellbar ist, dass in der Lehrerkonferenz ein besonderer Inhalt zum Thema Europa beschlossen wird, der in möglichst vielen Fächern eine Anbindung und Verankerung erfährt. Dieses innovative Konzept wurde im Rahmen der Studie »Realität und Innovation in europäischen Begegnungen« recherchiert (vgl. Thomas et al., 2008).
102 Ulrike de Ponte Interkulturelles Projekt: Für die Durchführung eines Projektes zum Thema »interkultureller Dialog« mit zwei anderskulturellen Projektpartnern (trinational) können Schulen vermutlich eine Comenius-Förderung beantragen. Hier bietet sich eine sehr gute Möglichkeit, in Form eines Praxissemesters oder -jahres Lehramtsanwärter zu integrieren und an die Praxis heranzuführen. Die beiden Aspekte Pflegen einer Schulpartnerschaft und (Variabler) Projektpartner werden unter Abschnitt 3.3 behandelt. Tag (oder Woche) des interkulturellen Dialogs: Bei dieser Maßnahme wird ein spezieller Projekttag oder eine ganze Projektwoche zum Thema »interkultureller Dialog« für alle Jahrgangsstufen durchgeführt. Dabei sollten Schüler älterer Jahrgänge Aktionen für Schüler jüngerer Jahrgänge konzipieren und durchführen sowie die Resultate schließlich an einem »Tag der Offenen Tür« in Präsentationen mit Vorträgen, Plakatwänden und anderen Visualisierungen veröffentlicht und Besuchern zugänglich gemacht werden (zum Multiplikationseffekt der Öffentlichkeitsarbeit und zur Partizipation der älteren Schüler vgl. Thomas et al., 2008). Neben dem Thema »interkultureller Dialog« können auch andere interkulturelle Themenfelder im Mittelpunkt der Durchführung stehen; wichtig ist jedoch für eine Implementierungswirkung, dass diese Maßnahme im einoder zweijährlichen Turnus stattfindet und die Schüler so während ihrer Schullaufbahn mehrmals daran teilnehmen. Schulkultur: Für die Implementierung der interkulturellen Komponente in der Schule und zur Schaffung eines Selbstverständnisses ist eine dialogförderliche Schulkultur essenziell. Die Sicht auf anderskulturelle Schüler ist hier keine defizit- und problemorientierte. Vielmehr werden anderskulturelle Jugendliche als eine Ressource für die Entwicklung interkultureller Dialogkompetenz, insbesondere auch bei den deutschen Schülern, wertgeschätzt. In diesem Zusammenhang verdeutlicht sich die Wichtigkeit interkultureller Sensibilisierung schon in der universitären Ausbildungszeit (siehe Modul 1). Ein Lehramtskandidat, der schon in seiner Vorreferendariatszeit mit der interkulturellen Sicht in Kontakt gekommen ist, wird auch die Relevanz einer Förderung zur interkulturellen Dialogfähigkeit und
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-führung stets als »Hintergrundfolie im Kopf« aktiviert haben und diesbezüglichen Aktivitäten im Schulalltag positiv gegenüberstehen. Sofern er auch mittels eines »Train the intercultural Teacher« (Modul 2) befähigt wurde, Konzepte zum Aufgreifen einer interkulturellen Thematik dialogförderlich umzusetzen und adaptierbares Unterrichtsmaterial zur Förderung des interkulturellen Dialogs zur Verfügung hat, wird er sich auch eher zutrauen, Realisierungen selbst zu initiieren. Auf diese Weise können die Lehrer als tragende Säule für eine Initialzündung zur Etablierung eines Lern- und Handlungsfeldes für den interkulturellen Dialog im Schulalltag fungieren.
3.3 Dialog-Räume im Schulumfeld (Gast-)Eltern: Auf die interkulturelle Vorbereitung hinsichtlich der Besonderheiten für die Eltern der Schüler in der Rolle als Gasteltern/-geber beziehungsweise die Nachbereitung der zugehörigen Erfahrungen wurden schon in Abschnitt 3.2 unter »Schüleraustausch« hingewiesen. Pflegen einer Schulpartnerschaft: Die Pflege einer Schulpartnerschaft bringt eine Erleichterung eines Schulaustausches zwischen den beiden Ländern. Oftmals ist ein gemeinsames Treffen eingebettet in Veranstaltungen mit Symbolcharakter zur Bestärkung der Freundschaft. Dieser Symbolgehalt ist nicht zu unterschätzen, schwingen hier oftmals Komponenten des sogenannten kollektiven Gedächtnisses zwischen beiden involvierten Ländern mit hinein (vgl. Burke, 1991). Dass dies so ist, offenbart sich oftmals in den tief emotionalen Reaktionen der Großelterngeneration während Erzählungen bei einer solchen Veranstaltung. Solche Anlässe können als Ausgangspunkt für eine interkulturelle Reflexion genutzt werden. Für eine breitere Öffentlichkeitswirksamkeit ist auch an eine Recherche zur Geschichte der bikulturellen Freundschaft und die Aufbereitung der Ergebnisse in Form von Plakatwänden zu denken, die dann zum Beispiel in einer Fußgängerzone aufgestellt werden. Gleichzeitig sollte mittels einer Befragung zum aktuellen Wissensstand in Bezug auf diese Freundschaft die Bevölkerung für die Thematik gewonnen und sensibilisiert werden.
104 Ulrike de Ponte Dritter (variabler) Projektpartner: Wird zu einem Projekt ein dritter Partner, beispielsweise ein weiterer europäischer, hinzugenommen, kann das kulturelle »Zwiegespräch« auf eine Ebene, die über den drei spezifischen Ländern liegt, gehoben werden. Dieser Effekt entsteht durch eine sogenannte Metakontextualisierung und beinhaltet eine Flexibilisierung der Lerninhalte durch eine Übertragung auf verschiedene Kulturkontexte (Kammhuber, 2000). So ist in einem Europaprojekt erst ab drei europäischen Partnern regelmäßig zu erwarten, dass die Kategorie »Europa« in der Begegnung bedeutsam wird. In Bezug auf eine Dialogkompetenzerweiterung kann sich die Reflexion an Fragen ausrichten wie: Welchen Einfluss nimmt ein gemeinsames europäisches Zugehörigkeitsgefühl auf meine Dialogbereitschaft? In welcher Sprache wird miteinander gesprochen und welches Beziehungsgefüge entsteht dadurch (z. B. symmetrisch vs. asymmetrisch)? Mit wem spreche ich mehr und warum? Welchen Partner empfinde ich psychologisch gesehen als näher? »Tag der Offenen Tür« im Rahmen eines Projekttages oder einer Projektwoche des interkulturellen Dialogs für das Umfeld: Der »Tag der Offenen Tür« als Multiplikationsmöglichkeit für das familiäre und freundschaftliche Umfeld der Schüler verstärkt den Projekttag oder die Projektwoche in seiner/ihrer Bedeutung und ist ein Mittel, um Wertschätzung gegenüber fremdkulturellen Einflüssen an der Schule zu signalisieren. Bei regelmäßiger Durchführung vertieft sich das Selbstverständnis der Beachtung interkultureller Prozesse und kann damit ein wichtiges Element in der Vermittlung einer dialogförderlichen Schulkultur werden.
4 Fazit Eine interkulturelle Begegnung wird optimal lernwirksam im Hinblick auf die Entwicklung interkultureller Kompetenz, wenn Diskrepanzerfahrungen ermöglicht, diesbezügliche Reflexion geplant angeboten und die Begegnung in Form einer interkulturellen Vorsensibilisierung vorbereitet werden. Dabei ist die Befähigung zum interkulturellen Dialog ein maßgeblicher Faktor, damit eine inter-
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kulturell kompetente Person in der Realsituation diskrepanzreduzierende Reflexionsprozesse in Gang setzen, steuern und nutzen kann. Gerade dies sollte wie modellhaft aufgezeigt in die schulische Ausbildung Eingang finden, da durch die zunehmende plurikulturelle Zusammensetzung der Schulklassen die Schüler schon frühzeitig damit konfrontiert sind, einen interkulturellen Dialog führen können zu müssen. Im Sinne der Entwicklungspsychologie (vgl. Havighurst, 1972) zeichnet sich sogar ab, dass für Jugendliche in dieser Altersstufe eine neue Entwicklungsaufgabe, die bewältigt werden will, hinzugekommen ist, nämlich: »interkulturelle Dialogfähigkeit und Handlungskompetenz entwickeln«.
Literatur Abt, H. (2007). Schüleraustausch: Interkulturelles Lernen daheim (InlandsAustausch), Projektvorschlag IV. Unveröffentlichtes Konzeptpapier. Abt, H., de Ponte, U. (in Vorbereitung). Konzepte und Materialien für den Unterricht (Arbeitstitel). Berry, J. W., Poortinga, Y. H., Segall, M. H., Dasen, P. R. (1992). Cross-cultural psychology: Theory, method and applications. Cambridge: Cambridge University Press. Burke, P. (1991). Geschichte als soziales Gedächtnis. In A. Assmann, D. Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung (S. 289–304). Frankfurt a. M.: Fischer TB. Chang, C. (2006). Veränderungen von Selbstschemata im Kontext der Teilnahme an internationalen Workcamps. Aachen: Shaker Verlag. Festinger, L (1954). A theory of social comparison processes. Human Relations, 7, 117–140. Gudykunst, W. B., Hammer, M. R. (1983). Basic training design. In D. Landis, R. W. Brislin (Eds.), Handbook of Intercultural Training (Vol. I) (pp.118–154). New York: Pergamon. Havighurst, R. J. (1972). Developmental tasks and education (3rd ed., first ed. 1948). New York: McKay. Kammhuber, S. (2000). Interkulturelles Lernen und Lehren. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.) (2002). Entwicklungspsychologie (5. vollst. überarb. Aufl.). Weinheim u. a.: Beltz. Selman, R. L. (1980). The grow of interpersonal understanding. New York: Academic Press. Tajfel, H., Turner, J. C. (1986). The social identity theory of intergroup be-
106 Ulrike de Ponte havior. In S. Worchel, W. G. Austin (Eds.), Psychology of intergroup relations (pp.7–24). Chicago: Nelson-Hall. Thimmel, A., Abt, H. (2007). Ziele und Programmangebote zur internationalen Jugend- und Schülerbegegnung. In A. Thomas, H. Abt. u. C. Chang (Hrsg.), Internationale Jugendbegegnungen als Lern- und Entwicklungschance. Erkenntnisse und Empfehlungen aus der Studie »Langzeitwirkungen der Teilnahme an internationalen Jugendaustauschprogrammen auf die Persönlichkeitsentwicklung«. Studien zum Forscher-Praktiker-Dialog zur internationalen Jugendbegegnung. Bd. 4. Bensberg: Thomas-Morus-Akademie. Thomas, A. (1999). Kultur als Orientierungssystem und Kulturstandards als Bauteile. In Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (Hrsg.), IMIS-Beiträge 10/1999 (S. 91–130). Bramsche: Rasch Druckerei und Verlage GmbH. Thomas, A., Chang, C., Abt, H. (2007). Erlebnisse, die verändern. Langzeitwirkungen der Teilnahme an internationalen Jugendbegegnungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thomas, A., Utler, A., de Ponte, U., Schmid, S. (2008). Realität und Innovation in europäischen Begegnungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Verena Stengel
Kooperatives Lernen als Triebfeder und Drehscheibe interkulturellen Dialogs
1 Dialog als wesentliches Element kooperativen Lernens Kooperatives Lernen ist nicht nur eine moderne, sondern auch eine vielseitig einsetzbare Methodik. Es hat aufgrund seiner Effizienz in der Schul- und Universitätsdidaktik eine lange Tradition, erzielt aber auch beim Erwachsenenlernen gute Ergebnisse hinsichtlich der Akzeptanz bei den Teilnehmern und dem erwarteten Lernzuwachs. Gerade dann, wenn Lernende Eigeninitiative zeigen und aktiv den Lernprozess gestalten sollen, greifen Didaktiker auf kooperative Lernmethoden zurück. Beispiele hierfür sind Lernprojekte in Potenzialentwicklungsseminaren oder Supervision bei Führungskräften (vgl. Conrads, 1997). Kooperatives Lernen steht untrennbar mit der sozialkonstruktivistischen, situierten Lerntheorie in Verbindung. In einem Lernprozess, an dem mehrere Personen beteiligt sind, hinterfragen die Lernenden die Wirklichkeitskonstruktionen ihrer Lernpartner und konstruieren gemeinsames, kontextabhängiges Wissen. Unter kooperativem Lernen lässt sich Folgendes verstehen: »Kooperatives Lernen ist eine Interaktionsform, bei der die beteiligten Personen gemeinsam und in wechselseitigem Austausch Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben. Im Idealfall sind Gruppenmitglieder gleichberechtigt am Lerngeschehen beteiligt und tragen gemeinsame Verantwortung« (Konrad, 2001, S. 5). Zahlreiche Studien belegen, dass mit kooperativem Lernen der erwünschte Lernzuwachs in einer Maßnahme erzielt und sogar der Lernerfolg individuellen Lernens teilweise übertroffen wird. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen zumeist die theoretischen Überlegungen Wygotskys zur Rolle des Diskurses beim kooperativen Lernen. Wygotsky (1986) ging davon aus, dass die Entwicklung aller höheren
108 Verena Stengel psychischen Funktionen wie beispielsweise Gedächtnis und Problemlösen soziokulturell vermittelt ist. Er betrachtet in seinem kulturhistorischen Ansatz die menschliche Entwicklung als Prozess, in dem das Individuum in der Interaktion mit anderen in einem bestimmten Kontext kulturelle Werkzeuge richtig anwenden und Symbole verstehen lernt. Sprache nimmt dabei einen zentralen Stellenwert als Mittel zur Transformation von Fremd- zu Selbststeuerung ein. Im Diskurs mit Mitgliedern der sozialen oder kulturellen Gruppe wird mittels Sprache gemeinsam Wissen external konstruiert. Da in einer Gruppe Personen mit unterschiedlichem Wissenstand sein können, wird das einzelne Gruppenmitglied von seinen kompetenteren Peers darin unterstützt, die in der Gruppe relevanten Werkzeuge und Symbole richtig anzuwenden. Diese Unterstützung kann aber nur wirksam werden, wenn sie in der »Zone der nächst höheren Entwicklung« des Lernenden stattfindet (vgl. Fischer, 2002). In dieser Zone können Lernende durch die Unterstützung des sozialen oder physischen Umfelds Aufgaben bewältigen, die über ihrem eigenen Entwicklungsstand liegen. Beispielsweise könnte ein Mitarbeiter einer internationalen Organisation durch das Gespräch mit einem interkulturell erfahrenen Projektleiter die Bedeutung des Kulturstandards Personorientierung für die Zusammenarbeit mit seinen spanischen Kollegen durch die gemeinsame Anwendung des Begriffs erlernen, ohne dass er die Bedeutung des Begriffs beim ersten Gespräch kennt. Er lernt sie gerade durch die Anwendung im passenden Kontext. Durch den Dialog mit den Mitlernenden kann der Lernende das external konstruierte Wissen im nächsten Schritt internalisieren und somit den gleichen Wissensstand wie seine kompetenteren Peers erreichen. Im besten Falle wirkt dieser Lernschritt auch auf seine Mitlernenden zurück. Aus diesen Ausführungen wird deutlich, welch entscheidende Rolle der Diskurs oder Dialog (von griech. Dialogos = »Wortfluss«) beim kooperativen Lernen einnimmt. Bezieht man nun die interkulturelle Perspektive mit ein, so können Lernende entweder einen Dialog über interkulturelle Themen führen und damit gemeinsames Wissen über interkulturelle Themen konstruieren oder innerhalb ihres kooperativen Lernarrangements herausfordernde interkulturelle Dialoge führen, weil sie aus unterschiedlichen Kulturen stammen. Insbesondere wenn Personen aus unterschiedlichen Kulturen
Kooperatives Lernen und interkultureller Dialog
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miteinander kooperativ lernen, treten durch die kulturell verschiedenen Arbeits- und Kommunikationsstile gehäuft interkulturelle Situationen auf, die die Betroffenen irritieren und den »Wortfluss« zum Stocken bringen. Gerade aus dieser Irritation heraus bieten sie ihnen aber auch interkulturelle Lernchancen, wenn die betreffenden Situationen reflektiert und neue Handlungsalternativen zum Umgang mit ähnlichen Situationen erarbeitet werden. Bevor diese Varianten interkulturellen Dialogs beim kooperativen Lernen anhand ausgewählter Methoden näher erläutert werden, werden zunächst verschiedene mögliche Wirkungsweisen kooperativen Lernens dargestellt.
2 Wirkungsweise kooperativen Lernens Es stellt sich die Frage, warum eigentlich gemeinsam gleich gut oder besser gelernt werden kann als allein, wo hier doch die Möglichkeit bestünde, komplett den eigenen Konzentrations- und Lernerfordernissen zu folgen. Die Forschung versucht diese Frage mit verschiedenen Ansätzen zu klären, die beim Lerngeschehen zusammenwirken können. Bei nahezu allen Ansätzen wird erneut deutlich, wie wichtig ein konstruktiver Dialog für kooperatives Lernen ist. Kognitive Konflikte: Innerhalb der Forschung zum kooperativen Lernen wird insbesondere die Bedeutung sozio-kognitiver Konflikte (Doise, 1990) betont. Dahinter steht die Vorstellung von Piaget (1985), dass ein Lernender bei der Kooperation mit seinen Lernpartnern mit Gedanken konfrontiert wird, die sein kognitives System stören können (sozio-kognitiver Konflikt). Erst wenn der Lernende sein kognitives Modell so erweitert, dass neu Erlerntes integriert werden kann, kommt das kognitive System wieder ins Gleichgewicht und es hat sich ein weiterer Schritt in der kognitiven Entwicklung eines Menschen vollzogen. Ein Beispiel hierfür wäre, dass sich bei der Bearbeitung einer interkulturellen Interaktionssituation die Gruppenmitglieder uneins über die Interpretation des fremdkulturellen Verhaltens sind und deswegen unterschiedliche Handlungsalternativen bevorzugen. So eröffnet sich die Möglichkeit, dass die persönlich präferierte Lösung in
110 Verena Stengel Frage gestellt wird und offenbleibt, ob sie sich als richtig erweist. Es kann ein vertiefter Dialog über die verschiedenen Ansichten der Beteiligten entstehen, in dem der Einzelne Anregungen erhält, die für den Aufbau neuer und elaborierter Strukturen hilfreich sein können. Dies bedeutet nicht, dass alle Aussagen, die in einem kognitiven Konflikt gemacht werden, richtig sein müssen. Auch falsche Annahmen können neue Denkrichtungen und Perspektiven eröffnen, wenn sie in einer Konfliktlösung auf höherer Ebene münden. Kognitive Elaboration: Aus dieser Perspektive wird Wissen als vernetzte Struktur aufgefasst. Je mehr Wissen eine Person besitzt, umso mehr Verknüpfungen bestehen auch innerhalb dieser Wissensstrukturen. Lernen bedeutet in diesem Zusammenhang, neue Inhalte an bestehende Strukturen anzuknüpfen oder bereits bestehende Strukturen intensiver miteinander zu verbinden, indem das Wissen reflektiert wird. Ein Beispiel hierfür wäre, dass sich Teilnehmer eines interkulturellen Trainings anhand einer konstruierten kritischen Interaktionssituation interkulturelles Wissen aneignen. Die konkreten Erfahrungen, die Teilnehmer vielleicht bereits in der Zusammenarbeit mit den entsprechenden Ländern gesammelt haben, müssen zu dem aus dem Lernfall abgeleiteten Wissen in Beziehung gesetzt werden. Daraus kann sich eine stärkere Differenzierung der Lernfall-Analyse ergeben. Dieser Vorgang der Elaboration im kooperativen Lernen bedarf allerdings bestimmter günstiger kommunikativer Bedingungen, die den Voraussetzungen für konstruktiven Dialog ähneln. So wird beispielsweise die Bedeutung von Fragen (King, 1999) oder Erklärungen (Webb, 1989) als für den Lernerfolg entscheidend herausgestellt. Motivationstheorien: Die Motivationstheorien zum kooperativen Lernen gehen davon aus, dass der Lernende durch die Unterrichtsform selbst stärker motiviert ist als beim individuellen Lernen und daher ein größerer Lernerfolg eintritt. In welchem Verhältnis dazu andere sozialpsychologische Prozesse wie beispielsweise Konkurrenz- oder Konformitätsdruck stehen, wurde bisher in der Forschung noch nicht abschließend geklärt. Von der Motivationstheorie ausgehend rücken unterschiedliche Foki in den Vordergrund. Einerseits geht man davon aus, dass Belohnungsstrukturen, die die Grup-
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penarbeit als Gesamtheit honorieren, die Lernmotivation erhöhen. Ein anderer Ansatz hebt hervor, dass die Lernenden in der sozialen Situation zum Lernen motiviert werden, da sie sich den anderen Gruppenmitgliedern gegenüber verpflichtet fühlen. Cohen (1994) bezeichnet diesen Prozess als soziale Kohäsion und konstatiert, dass diese durch Maßnahmen zur Gruppenbildung und interessante Aufgabenstellungen noch zusätzlich gefördert werden könne. Dies würde bedeuten, dass in einem interkulturellen kooperativen Training die Teilnehmer deshalb ein Zusammengehörigkeitsgefühl erleben, weil sie gemeinsam an interkulturellen Situationen arbeiten, die sie in ihrem Arbeitsumfeld erleben. Sprachlich-argumentativer Erklärungsansatz: Neben der Forschung zum kooperativen Lernen, die aus dem situierten Lernparadigma entstanden ist, hat sich eine weitere Perspektive des gemeinsamen Wissenserwerbs entwickelt, die sich stärker auf sprachpsychologische Erkenntnisse bezieht. Veerman (2003) beispielsweise hebt das Argumentieren in einer Diskussion als den Mechanismus hervor, der eine fruchtbare Auseinandersetzung unterstützt und das Verständnis für komplexe Konzepte fördert. Eine fundierte Argumentationstheorie (z. B. Toulmin, 1996) sollte also jeder Untersuchung zugrunde liegen, um die Faktoren, die im Diskurs die Wissenskonstruktion fördern oder hemmen, benennen zu können. Allerdings zeigt sich auch, dass bei Untersuchungen, die sich damit beschäftigen, wie sich Personen Wissen aufgrund unterschiedlicher Argumentation aneignen, Lerntheorien zur Ergänzung benötigt werden. Argumentationstheorien allein können nämlich wichtige Forschungsfragen, wie etwa diese, warum bestimmte Argumentationsformen zu einer Veränderung der Perspektiven führen, nicht beantworten.
3 Methoden kooperativen Lernens zur Förderung interkulturellen Dialogs Nachdem im vorherigen Kapitel die Wirkungsweise kooperativer Methoden diskutiert wurde, werden nun ausgewählte Methoden kooperativen Lernens vorgestellt und daraufhin geprüft, ob sie sich
112 Verena Stengel eignen, interkulturelle Fragestellungen zu behandeln oder innerhalb des Lernarrangements einen interkulturellen Dialog zu führen (vgl. Hößler und de Ponte in diesem Band).
3.1 Gruppenpuzzle Eine der bekanntesten kooperativen Methoden stellt die Gruppenpuzzle-Methode (Aronson, Blaney, Stephan, Silkes u. Snapp, 1978) dar. Nach Clarke (1994) lassen sich bei dieser Methode vier Phasen unterscheiden: 1. Der Lehrende stellt das Stoffgebiet im Überblick dar und nimmt eine Unterteilung in Unterabschnitte vor. 2. Die Unterabschnitte des Lernstoffes werden von unterschiedlichen Lerngruppen bearbeitet. 3. Die Gesamtgruppe reorganisiert sich in der Weise, dass pro Untergruppe ein Experte aus dem jeweiligen Stoffgebiet zugegen ist, der seinen Lernpartnern diesen Lernstoff vermittelt. 4. Zum Abschluss werden alle Erkenntnisse in die Großgruppe integriert und evaluiert. Hierbei werden entweder Lücken bezüglich des Lernstoffs geschlossen oder die erlebten Kooperationsprozesse betrachtet. Das Gruppenpuzzle ist eher aufgabenorientiert und bietet sich daher vor allem zum Erwerb kognitiver Inhalte an. Ein Beispiel wäre eine Projektgruppe, die einen Intranetauftritt für ein Unternehmen plant. Die Gruppe könnte sich so unterteilen, dass erste Grobkonzepte zur Darstellung von Zentralbereichen, Geschäftsbereichen und Serviceleistungen für Mitarbeiter erarbeitet werden, die dann im nächsten Schritt in ein einheitliches Konzept integriert werden müssen, um zum Schluss eine durchgängige Darstellung auf der Intranetseite zu erreichen. Neben den kognitiven werden kooperative Fähigkeiten geschult, indem jeder Lernende Wissen dargeboten bekommt, aber auch Wissen an andere weitergeben muss. In der Ursprungsform sieht das Gruppenpuzzle einen individuellen Leistungsnachweis jedes einzelnen Lernenden vor. Als Methode zum Erweb interkultureller Handlungskompetenz
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scheint das Gruppenpuzzle allerdings nur bedingt geeignet, da sich die dafür relevanten Themen und Übungen nur schwer in kleine Untereinheiten unterteilen lassen, die von Kleingruppen bearbeitet werden könnten. Gegenstand der Diskussion beim Erwerb interkultureller Handlungskompetenz sind nämlich vielfach Werte oder Einstellungen. Dies erfordert in der Regel einen intensiven Dialog, um die Perspektiven der Gesprächspartner wirklich zu begreifen und dann die daraus gewonnenen Erkenntnisse, wie in den Phasen des Gruppenpuzzles vorgesehen, an andere weiterzugeben. Durchaus denkbar wäre es dagegen, in einem interkulturell besetzten Projekt für die Arbeitsteilung den Phasenablauf eines Gruppenpuzzles zu wählen. Durch den strukturierten Prozess wäre sichergestellt, dass jeder Lernende seinen Wissenshintergrund individuell zur Geltung bringen könnte. Zusätzlich könnten am Ende des Gruppenpuzzles wie in Phase vier beschrieben die Kooperationsprozesse mit der »interkulturellen Brille« reflektiert werden, um Synergien im gemeinsamen Vorgehen herauszuarbeiten.
3.2 Gruppenrecherche Die Methode der Gruppenrecherche (Shachar u. Sharan, 1994; Sharan u. Sharan, 1994) verläuft in folgenden Phasen: 1. Bestimmung der Unterthemen und Einteilung in Kleingruppen: Nachdem der Lehrende das Gesamtthema vorgestellt hat, können die Lernenden klären, welche speziellen Unterthemen für sie von Interesse wären. Danach erfolgt eine Einteilung der Lernenden in Untergruppen, wobei die Interessenslagen der Lernenden möglichst Beachtung finden sollten. 2. Planung der Kleingruppenrecherche: Die Lernenden sind nun selbst dafür verantwortlich, ihr weiteres Vorgehen zu planen. Hierbei müssen auch die benötigten Ressourcen festgelegt werden. 3. Durchführung der Recherchen: Die Mitglieder der Kleingruppen führen ihre Recherchen allein oder zu zweit durch und berichten im Anschluss daran ihren Mitlernenden von den gewonnenen Erkenntnissen. Gleichzeitig bedarf es einer andauernden Rückkoppelung darüber, was noch erledigt werden muss.
114 Verena Stengel 4. Planung der Präsentation in der Gesamtklasse: Die einzelnen Kleingruppen sollen nun das erworbene Wissen so strukturieren, dass in einer Präsentation vor der Gesamtgruppe der Lerngewinn für alle Teilnehmer möglichst groß ist. 5. Präsentation der Kleingruppenrecherchen: Die Ergebnisse der Recherchen werden den anderen Lernenden vorgestellt. Anhand eines einheitlichen Evaluationsbogens bekommen die Lernenden Rückmeldung zu ihrer Präsentation. 6. Evaluation: Im letzten Schritt erfolgt eine Evaluation des Lernfortschritts. Die Lernenden reichen selbst beim Lehrer Fragen zu ihrem Expertisethema ein, das vom Lehrer noch ergänzt werden kann. Alle Fragen werden in einen Test integriert, der von allen Schülern beantwortet werden muss, mit Ausnahme der Fragen, die sie selbst eingereicht haben. In der Gruppenrecherche liegt die Betonung vor allem auf der sozialen Interaktion. Somit eignet sie sich besser als das Gruppenpuzzle für den Erwerb interkultureller Handlungskompetenz. Neben Informationswissen kann hier durch die selbstständige Steuerung des Rechercheprozesses Erfahrungswissen erarbeitet und weitergegeben werden. Zum Beispiel könnten deutsche Studierende im Rahmen eines Seminars zum Erwerb interkultureller Handlungskompetenz in Kleingruppen ausländische Studierende über deren Erfahrungen im Umgang mit Deutschen interviewen, die dort gewonnenen Erkenntnisse reflektieren und für ihre Kommilitonen aufbereitet präsentieren. Die Gruppenrecherche dient als Methode also eher dazu, neues Wissen zu konstruieren, als bereits erworbene Erfahrungen zu reflektieren und aus ihnen zu lernen. Daher sollte sie bei interkulturell Lernenden, die bereits interkulturelle Erfahrungen gesammelt haben, in Ergänzung zu einer Methode eingesetzt werden, in der Erfahrungswissen reflektiert wird. Wie dies möglich ist, wird unter Abschnitt 3.4 dargestellt. Ebenso ist wie beim Gruppenpuzzle eine Durchführung mit Lernenden unterschiedlicher kultureller Sozialisation durchaus vorstellbar. Eine Metadiskussion über die interkulturelle Zusammenarbeit könnte hierbei in die Phase der Evaluation integriert werden. Allerdings sollte stets geprüft werden, ob die Lernenden nicht mit der Gruppenrecherche und der zusätzlichen Reflexion interkultureller Situationen überfordert werden.
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3.3 Strukturierte akademische Kontroverse Die Methode der strukturierten akademischen Kontroverse (Johnson u. Johnson, 1994) eignet sich für kleine Gruppen mit vier Lernenden, die bereits ein hohes Niveau interpersoneller Kompetenzen erreicht haben. Die vier Lernenden erhalten die Aufgabe, sich zu einem speziellen Thema, wie beispielsweise einer kritischen interkulturellen Interaktionssituation, auszutauschen, und zwar in der Form, dass zwei der Teilnehmer eine Pro-Position und die beiden anderen Teilnehmer eine Contra-Position einnehmen. Nachdem beide Seiten ihre Positionen dargelegt haben, folgt eine freie Diskussion zum Thema. Danach werden die Rollen bezüglich These und Antithese getauscht. Zum Schluss sollen sich die Lernenden auf eine abschließende Haltung bezüglich des Diskussionsgegenstands einigen (Synthese). Bei dieser Methode steht neben dem Wissenserwerb deutlich die Ausbildung sprachlicher und argumentativer Kompetenzen im Vordergrund. Zudem eignet sich die Methodik in besonderer Weise, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Es muss jedoch eine Aufgabe gewählt werden, zu der man gegensätzliche Ansichten vertreten kann. So könnte man beispielsweise die Lernenden zu einer kritischen Interaktionssituation erst aus eigenkultureller und dann aus fremdkultureller Perspektive argumentieren lassen. Auf diese Weise lässt sich einüben, wie man in einer fremden Kultur eine Argumentation schlüssig aufbaut. Allerdings erfordert dies bei den Lernenden bereits eine weitgehende Auseinandersetzung mit dem eigenen und fremden Orientierungssystem, da ansonsten eine Argumentation kaum möglich ist. In bikulturellen Trainings wäre die strukturierte akademische Kontroverse als Übung sicherlich ebenso gut nutzbar. Beispielsweise könnten die Teilnehmer ein konfliktäres Thema so aus mehreren Perspektiven beleuchten und müssten sich gleichzeitig intensiv in die Position der fremdkulturellen Partner hineinversetzen. Diese Übung sollte allerdings nur mit entsprechend professionell begleiteter Reflexion zur Anwendung kommen, da durch die bewusste Gegenüberstellung von Meinungen die Eskalation vorhandener Konflikte so gefördert werden könnte, dass die Zusammenarbeit Schaden nimmt.
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3.4 Modell kooperativen interkulturellen Lernens Dieses curriculare Modell (Stengel, im Druck) basiert auf theoretischen Grundannahmen zum situierten, kooperativen interkulturellen Lernen und zwei umfangreichen Explorationsstudien. Es versucht den Anforderungen an eine interkulturelle Qualifizierungsmaßnahme, die maximalen Lerntransfer erzielen soll, durch hohen Anwendungsbezug und starke Einbettung in das organisationale Lernumfeld gerecht zu werden. Das Modell setzt sich aus einem Auftaktworkshop, der dem gegenseitigen Kennenlernen und der Hinführung der Teilnehmer an die interkulturelle Thematik dient, und einer Durchführungsphase zusammen, in der die Teilnehmer sich zum einen in Kleingruppen gemeinsam interkulturelles Wissen erschließen und zum anderen ihre eigenen interkulturellen Erfahrungen in Supervisionen reflektieren. Das Curriculum wird mit einem Abschlussworkshop beendet, in dem das gemeinsam erarbeitete Wissen präsentiert und die Weiterbildungsmaßnahme evaluiert wird. Im Folgenden werden die einzelnen Bestandteile des in einer Forschungsstudie evaluierten Modells detaillierter erläutert (siehe auch Abbildung 1). Auftaktworkshop: Der Auftaktworkshop hat drei Hauptziele. Durch das erste Kennenlernen der Teilnehmer soll eine gegenseitige Vertrauensbasis geschaffen werden, die nach der These der sozialen Kohäsion (Cohen, 1994) den Erfolg kooperativen Lernens unterstützt. Außerdem sollen die Teilnehmer für bestimmte Prozesse der interkulturellen Zusammenarbeit, die damit verbundenen Begrifflichkeiten und die Methodik interkulturellen Lernens sensibilisiert werden. Inhaltlich beginnt hier zudem die interkulturelle Projektarbeit, die sich in der Vorgehensweise nach der beschriebenen Gruppenrecherche richtet. Nach dem Auftaktworkshop laufen dann in der Durchführungsphase zwei parallele Prozesse ab. a) Interkulturelle Supervision: Die Teilnehmer treffen sich zu regelmäßigen interkulturellen Supervisionen, in denen sie persönliche Anliegen und Probleme im interkulturellen Kontakt mit ihren Kollegen reflektieren und alternative Handlungsmöglichkeiten erarbeiten. Ihr Ablauf ist angelehnt an die Struktur einer Führungs-
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Auftaktworkshop · Gegenseitiges Kennenlernen · Erlernen der Konzepte interkultureller Zusammenarbeit · Vorstellung der interkulturellen Projektarbeit und Einteilung in die Projektgruppen
Interkulturelle Gruppenrecherche
Interkulturelle Supervision
Planung und Durchführung der Recherche zur Erstellung von Länderdossiers Aufbereitung des recherchierten Materials in Länderdossiers Vorbereitung der Präsentation der Länderdossiers
1. Schilderung der interkulturellen Interaktionssituation mit Fragestellung 2. Nachfragen der anderen Teilnehmer 3. Hypothesengenerierung zu personellen, situativen und kulturellen Faktoren 4. Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten 5. Rückmeldung des Fallgebers 6. Metakontextualisierung der interkulturellen Situation
Abschlussworkshop · Präsentation der Länderdossiers · Feedbackrunde
Transfersicherung im Unternehmen · Präsentation der Länderdossiers vor Vorgesetzten und Vertretern der Geschäftsführung · Bereitstellung der Länderdossiers im Intranet für alle Mitarbeiter
Abbildung 1: Modell interkulturellen kooperativen Lernens im Unternehmen
kräftesupervision (Conrads, 1997) und folgt im Einzelnen nachstehenden Phasen: 1. Ein Teilnehmer (= Fallgeber) schildert eine interkulturelle Situation und richtet diesbezüglich eine konkrete Frage an die Gruppe (kritische Interaktionssituation).
118 Verena Stengel 2. Die Gruppenmitglieder stellen dem Fallgeber Rückfragen zu seiner geschilderten Situation, bis sie sich den Kontext vorstellen können (Reflexion des Handlungsgeschehens). 3. Der Fallgeber verlässt den Kreis der »Berater«, die nun Hypothesen zu situativen, personellen und kulturellen Faktoren aufstellen, die in der Situation eine Rolle spielen könnten (Entwicklung multipler Interpretationsschemata). 4. Basierend auf den verschiedenen Hypothesen werden Lösungsmöglichkeiten für den Fallgeber vereinbart (Entwicklung multipler Handlungsalternativen und Reflexion derer Folgen). 5. Nach Abschluss der Lösungsphase gibt der Fallgeber Rückmeldung zu den erarbeiteten Lösungen. 6. Metakontextualisierung des Lernproblems: Als Zusammenfassung und Vertiefung werden die aufgestellten Hypothesen nach situativen, personalen und kulturellen Ursachen geordnet, um die Reflexion für den Lernenden nachzustrukturieren. Zusätzlich können Fragen zu fremdkulturellen Kulturstandards beantwortet werden. b) Interkulturelle Gruppenrecherche: Die interkulturelle Gruppenrecherche (siehe Abschnitt 3.2) hat zum Ziel, dass sich die Teilnehmer in Kleingruppen selbstständig mit dem Thema »interkulturelle Zusammenarbeit« auseinandersetzen. Lernproblem ist die Aufgabenstellung der Projektarbeit, nämlich zu einem speziellen Kulturkreis Informationsmaterial zusammenzustellen, mit dem andere Mitarbeiter sich kurzfristig auf einen Auslandsaufenthalt vorbereiten könnten. Das Lernproblem kann als komplex angesehen werden, da es erforderlich ist, aus der Menge der Informationen, die zur Erschließung eines Landes vorhanden sind, diejenigen auszuwählen, die für andere Mitarbeiter von Nutzen sein könnten. Als Kernstück dieser Projektarbeit werden die Teilnehmer dazu angehalten, Natives oder Expatriates zu ihrem Themenland zu interviewen, um kulturell bedingte kritische Interaktionsereignisse herauszufinden, anhand derer das Länderdossier erarbeitet werden sollte. Mit der Aufgabenstellung werden mehrere Lernziele verfolgt. Zum einen soll eine authentische Aufgabenstellung in einem realen Kontext bearbeitet werden, was gemäß der situierten Lerntheorie den
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Lerntransfer fördert. Zum anderen sollen die Teilnehmer mit dieser Aufgabenstellung dazu angehalten werden, über ihre Bereichsgrenzen hinweg mit Personen Kontakt aufzunehmen, die internationale Erfahrungen gesammelt haben. Somit entstehen automatisch eine größere Vernetzung zwischen Wissensträgern und damit ein höherer Nutzen für das Unternehmen sowie eine Einbettung des Lernmodells in die Organisation. Zudem reflektieren und explizieren die Interviewten durch die Befragung ihr erfahrungsbasiertes Expertenwissen (kulturangemessenes Handeln im fremden Kulturkreis), so dass es für andere Lernende zugänglich wird. Abschlussworkshop und Transfersicherung im Unternehmen: Beim Abschlussworkshop präsentieren die Teilnehmer gegenseitig ihre Projektarbeiten, um den Lerngewinn für alle Teilnehmer möglichst hoch zu halten. Daneben sollte die Möglichkeit bestehen, sich nach der langen Zusammenarbeit ein intensives Feedback zu persönlichen Stärken und Verbesserungspotenzialen im Handlungskontext interkulturelle Zusammenarbeit zu geben. Die in der Gruppenrecherche vorgesehene Phase der Evaluation wird in diesem Modell in abgewandelter Art vorgenommen. Da zum Beispiel in einem Wirtschaftsunternehmen oft keine Leistungsnachweise über Weiterbildungsmaßnahmen gefordert werden, soll ein gewisser Leistungsdruck hinsichtlich der Qualität des gemeinsam erarbeiteten Wissens darüber aufrechterhalten werden, dass die Ergebnisse der Gruppenrecherche einer breiten Öffentlichkeit in der Organisation zugänglich gemacht werden. Die Länderdossiers können den Vorgesetzten und Vertretern der Geschäftsleitung präsentiert und im Intranet der Firma für alle Mitarbeiter veröffentlicht werden. Das Modell interkulturellen kooperativen Lernens schafft ein Lernarrangement, in dem sich die Teilnehmer spezifische Informationen zu interkulturellen Themen erschließen und gleichzeitig besonders während der Supervision multiple Perspektiven einnehmen können. Die Evaluation des Modells in einem Wirtschaftsunternehmen ergab, dass interkulturelles kooperatives Lernen in der vorgeschlagenen Form zur Akzeptanz bei den Teilnehmern und einem Lernzuwachs auf kognitiver, emotionaler und aktionaler Ebene führt.
120 Verena Stengel Auch konnten die Teilnehmer die Ursachen für ihr eigenes Verhalten und das ihrer fremdkulturellen Gesprächspartner in einer interkulturellen Situation differenzierter beurteilen. Das im Lernarrangement erzeugte Gefühl sozialer Unterstützung hilft den Lernenden, neue Handlungsalternativen in der interkulturellen Zusammenarbeit zu erproben. Nicht zuletzt kann das angewandte Modell als Mittel zum interkulturellen Wissensmanagement in einer Organisation dienen. Eine Möglichkeit, interkulturellen Dialog mit dem vorgestellten Modell zu fördern, könnte eine international gemischte Lerngruppe sein. Dies hätte zwar den Nachteil, dass fremdkulturelle Teilnehmer vom deutsch geprägten Lernstil der Qualifizierungsmaßnahme befremdet sein könnten. Auf der anderen Seite wäre die innere Beteiligung der Lernenden bei Fallbeispielen von fremdkulturellen Personen vermutlich höher, weil völlig neue Perspektiven in der Reflexion interkultureller Situationen auftauchen und die deutsche Kultur im Fremdbild gespiegelt wird. Der gemeinsame Dialog über interkulturelle Erfahrungen im Arbeitskontext wäre auch ein erster Schritt eines internationalen Unternehmens hin zu einer globalen Unternehmensidentität, da die Mitarbeiter mehr Verständnis für ihre Kollegen gewännen und sich dadurch vermutlich mehr mit dem Unternehmen als Ganzes identifizieren. In jedem Fall gilt es aber vor der Zusammenstellung einer plurikulturellen Teilnehmergruppe an einer Qualifizierungsmaßnahme zu prüfen, inwieweit der kulturelle Hintergrund der Teilnehmer eine offene Konfliktbearbeitung, wie sie beispielsweise in der interkulturellen Supervision gefordert ist, zulässt. So ist beispielsweise in asiatischen Kulturen das Geben offenen Feedbacks nicht in gleicher Weise üblich wie im deutschen Umfeld, was den erfolgreichen Einsatz kooperativer Lernmethoden erheblich behindern und erschweren könnte.
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4 Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass dialogische Kommunikation nicht nur ein essenzieller Bestandteil kooperativen Lernens ist, sondern auch interkultureller Dialog mit kooperativen Methoden vielseitig gefördert werden kann. Dies erfordert in Organisationen allerdings den Mut, auch neue Wege in der Weiterbildung zu beschreiten und sich nicht auf standardisierte Seminarformate zu beschränken. Hierzu könnten sich Wirtschaftsunternehmen neben den bereits ausgeführten Methoden wertvolle Anregungen von Universitäten geben lassen, da in diesen oft innovative Formen des interkulturellen Dialogs praktiziert werden. Beispiele hierfür sind interkulturelle Lerntandems oder internationale, virtuelle Lernplattformen. Auch wenn dazu ein größerer Ressourcenaufwand in der Gestaltung des Lernarrangements und der Betreuung der Teilnehmer betrieben werden muss, besteht die Chance, dass Teilnehmer kooperativer Lernarrangements ihr Lernumfeld aktiv gestalten und sich während des Lernens Netzwerke herausbilden, die auch über eine Weiterbildung hinweg Bestand haben. Der interkulturelle Dialog mündet somit in einen Lerndialog, bei dem miteinander und voneinander gelernt wird.
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122 Verena Stengel Johnson, D. W., Johnson, R. T. (1994). Structuring academic controversy. In S. Sharan (Ed.), Handbook of cooperative learning methods (pp. 66–81). Westport, CN: Greenwood Press. King, A. (1999). Discourse patterns for mediating peer learning. In A. M. O’Donnell, A. King (Eds.), Cognitive Perspectives on Peer learning (pp. 87–115). Mahwah: Lawrence Erlbaum Associates. Konrad, K. (2001). Kooperatives Lernen: Theorie und Praxis in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung. Baltmannsweiler: SchneiderVerlag. Piaget, J. (1985). The equilibrium of cognitive structures: The central problem of intellectual development. Chicago: University of Chicago Press. Shachar, H., Sharan, S. (1994). Talking, relating and achieving: Effects of cooperative learning and whole-class instruction. Cognition and Instruction, 12, 313–353. Sharan, Y., Sharan, S. (1994). Group investigation in the cooperative classroom. In S. Sharan (Ed.), Handbook of cooperative learning methods (pp. 97–114). Westport, CN: Greenwood Press. Stengel, V. (im Druck). Interkulturelles Lernen mit kooperativen Methoden. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Toulmin, S. (1996). Der Gebrauch von Argumenten. Weinheim: Beltz. Veerman, A. (2003). Constructive discussions through electronic dialogue. In M. Baker, D. Suthers (Eds.). Arguing to learn. Confronting Cognitions in computer-supported collaborative learning environments (pp. 117–143). Dordrecht: Kluwer Academic Publishers. Webb, N. M. (1989). Peer interaction and learning in small groups. International Journal of Educational Research, 13, 21–39. Wygotsky, L. S. (1986). Thought and language (2nd ed.). Cambridge, MA: MIT Press.
Juliana Murnyati Tjaya und Anna Ehret
Vertrauensaufbau durch interkulturellen Dialog
1 Einführung Die Erweiterung der Europäischen Union (EU) lässt Begegnungen von Menschen aus verschiedenen Kulturen, Religionen sowie ethnischen Gruppen immer häufiger werden. Der interkulturelle Kontakt bietet dabei einerseits viele Vorteile, wie zum Beispiel vielschichtige Perspektiven und eine größere Offenheit gegenüber neuen Ideen, eine erhöhte Flexibilität, Kreativität sowie Problemlösefähigkeit. Andererseits kann eine multikulturelle Interaktionssituation auch Schwierigkeiten mit sich bringen, wenn ein zu hoher Grad an Komplexität, ein zu hohes Maß an Ambiguität, eine niedrige Gruppenkohäsion oder gegenseitiges Misstrauen vorliegt oder wenn es Kommunikationsprobleme zwischen den Mitgliedern gibt. Interkulturelle Begegnungen bergen somit nicht nur Chancen, sondern auch Risiken. Ein Risiko besteht darin, dass nicht erfolgreiche und nicht zufriedenstellende interkulturelle Dialoge Misstrauen bewirken können. Misstrauen erzeugt wiederum Misstrauen. Nun stellt sich die Frage, wie einerseits der interkulturelle Dialog den Vertrauensaufbau erleichtern kann und andererseits Vertrauen den interkulturellen Dialog fördern kann. Im folgenden Beitrag wird zum einen der Begriff Vertrauen und seine Bedeutung erörtert, zum anderen der interkulturelle Dialog als Intergruppenprozess beleuchtet. Daran anschließend wird besonders die Bedeutung des Vertrauens bei der Förderung eines interkulturellen Dialogs erörtert.
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2 Die Bedeutung von Vertrauen für das alltägliche Leben Vertrauen kommt in sozialen Interaktionen ein zentraler Stellenwert zu. Eine auf Vertrauen basierende Beziehung ermöglicht eine effiziente und effektive Gruppenarbeit, da Vertrauen den Verzicht auf Kontrolle impliziert. Vertrauen reduziert also die unvermeidbaren Transaktionskosten sowie die Komplexität sozialer Interaktionen. Vertrauensbeziehungen ermöglichen kooperatives Verhalten, das wiederum zu besseren Gruppenleistungen führen kann. Neben der Reduktion von Komplexität spielt Vertrauen ebenfalls eine entscheidende Rolle bei Verhandlungen. Verhandlungen unter Konfliktparteien können in einem vertrauensvollen Umfeld effektiver gestaltet werden. Gemeinsame Entscheidungen können schneller getroffen werden, eine Aussöhnung zwischen den Partnern ist leichter zu erreichen und ein höherer Grad an Zufriedenheit mit dem Verlauf der Interaktionsprozesse stellt sich ein. Die Bedeutung von Vertrauen wird allerdings meist erst dann bewusst, wenn es enttäuscht oder verletzt wird, also wenn es in Misstrauen umschlägt und dadurch negative Empfindungen und Störungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen entstehen. Folgen sind unter anderem Konflikte, Verstärkung von Misstrauen, zunehmende Kontrolle, Unzufriedenheit, ineffektive Kommunikation und unkooperatives Verhalten. Insbesondere für die Entwicklung einer multikulturellen Zusammenarbeit stellt Vertrauen einen zentralen Einflussfaktor dar, denn Ungewissheit und Risiko sind hoch, wenn Normen, Werte und Ziele der Kooperationspartner sehr verschieden sind, wie beispielsweise bei Interaktionspartnern aus den einzelnen EU-Mitgliedstaaten mit ihren unterschiedlichen kulturellen Orientierungen. Es existiert eine Vielzahl an Vertrauensdefinitionen. Ungeachtet der Verschiedenheit der Vertrauensdefinitionen sind zwei Dimensionen von Vertrauen von zentraler Bedeutung, nämlich Vertrauen als Erwartung beziehungsweise Überzeugung und Vertrauen als Bereitschaft oder Intention (Tjaya, 2008). Spricht man von Vertrauensüberzeugung, bezieht sich dies auf die Eigenschaften einer vertrauenswürdigen Person, die in der Literatur durch die Merkmale »Wohlwollen«, »Kompetenz«, »Ehrlichkeit« und »Vorhersagbar-
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keit« charakterisiert wird (Tjaya, 2008). Diese Überzeugung führt zu der Bereitschaft (Vertrauensintention), sich auf diese Person zu verlassen. Sowohl die Vertrauensüberzeugung als auch die Vertrauensintention sind keine sichtbaren Handlungen, sondern implizite psychische Konstrukte. Ihre Wirkungen werden erst dann beobachtbar, wenn die Person schließlich ihre Bereitschaft zum Vertrauen in konkreten Verhaltensweisen zum Ausdruck bringt, im sogenannten Vertrauensverhalten, das in unterschiedlichen Kulturen sehr verschiedene Formen annehmen kann. Ein Beispiel aus dem EU-Kontext soll diese Unterscheidung verdeutlichen. Basierend auf der Überzeugung, dass es sich bei der EU und ihren Einrichtungen um eine integre, kompetente Organisation handelt, bringen die Mitgliedstaaten der EU Vertrauen entgegen (Vertrauensintention). Sie verlassen sich auf die EU, um gemeinsame politische Ziele zu erreichen. Eine solche Bereitschaft birgt allerdings Risiken, wie zum Beispiel die Möglichkeit, dass die EU Entscheidungen trifft, die – insbesondere von kleinen Mitgliedsstaaten – im Einzelfall nicht beeinflussbar und kontrollierbar sind (Vertrauensverhalten). Diese Tatsache erhöht die Verwundbarkeit der kleinen Staaten. Würde die EU die Verwundbarkeit dieser Staaten missbrauchen, könnten negative Konsequenzen entstehen, die eine Tragödie für das ganze Land, aber zugleich auch eine Gefahr für den inneren Zusammenhalt der EU bedeuten kann. Ist in den EU-Ländern jedoch die Meinung verbreitet und fest verankert, dass die EU diese Verwundbarkeit nicht missbrauchen wird, können sie viele Vorteile aus dem Zusammenschluss der EU ziehen. Vertrauensverhalten setzt demnach die Akzeptanz von Risiko auf Seiten beider Interaktionspartner voraus. Vertrauen ohne Risiko ist nicht möglich und Risiko ist Bestandteil jeder vertrauensbasierten Beziehung und betrifft speziell Verhaltensweisen, bei denen die Möglichkeit besteht, dass als Konsequenz ein Schaden entstehen könnte, also die von beiden Interaktionspartnern (möglicherweise unterschiedlich) wahrgenommene Wahrscheinlichkeit eines Verlustes aus der Interaktion (Trimpop, 1994). Beiderseitiges Vertrauen trägt in diesem Fall nur dann, wenn sicher ist, dass die Beziehungsebene beider Interaktionspartner untereinander vom möglichen Schadensfall unbeeinflusst bleibt, beide Seiten diesen mittragen und nach bestem Vermögen versuchen werden, ihn zu
126 Juliana Murnyati Tjaya und Anna Ehret begrenzen oder wieder zu beheben. Die potenziellen Kosten eines Risikoverhaltens, wie im obigen EU-Beispiel, liegen im Vertrauensmissbrauch, während der Nutzen im Erreichen des gemeinsamen Ziels liegt.
3 Interkultureller Dialog als ein Intergruppenprozess Der interkulturelle Dialog als eine Form der Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen (vgl. die Beiträge von Thomas in diesem Band) ist ein interessantes Phänomen. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die interkulturelle Interaktionssituation von einer monokulturellen Interaktion lediglich quantitativ im Sinne der Anzahl der beteiligten Kulturen. Tatsächlich jedoch gibt es viele Prozesse, die nur in interkulturellen Gruppen vorkommen, wie zum Beispiel eine kulturbezogene Binnengruppenfavorisierung, in der Personen, die der eigenen Kultur angehören, mit Eigenschaften wie kooperativ, ehrlich und vertrauenswürdig assoziiert und im Gegensatz dazu relevante fremdkulturelle Personen als weniger ehrlich, zuverlässig und vertrauenswürdig beurteilt werden (Kramer, Brewer u. Hanna, 1996). Kultur als ein Orientierungssystem beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Werten, Empfinden und Handeln aller ihrer Mitglieder und definiert somit deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft (Thomas, 2003). Dies wird deutlich in der sogenannten interkulturellen Überschneidungssituation. In einer derartigen Kontaktsituation werden, insbesondere wenn die kulturelle Zugehörigkeit thematisiert wird, die zentralen Merkmale des kulturspezifischen Orientierungssystems, sogenannte Kulturstandards, aktiviert. Unter Kulturstandards werden »alle Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns verstanden, die von der Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich persönlich und andere als normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich angesehen werden« (Thomas, 1996, S. 112). Eine direkte, gegebenenfalls auch kritische Meinungsäußerung ist für Deutsche normal und typisch. Dieser Kommunikationsstil ist allerdings für Asiaten sehr untypisch und wird sogar als »nicht normal« betrachtet. In den asiatischen Gesellschaften entwickelte sich hingegen ein implizi-
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ter, kontextbezogener Kommunikationsstil, bei dem man den Rahmen, den Hintergrund und die symbolische Bedeutung der gesprochenen Worte und des situativen Kontextes kennen muss, um diese richtig interpretieren zu können. Diese unterschiedlichen Kommunikationsstile beruhen auf Kulturstandards, die in der Interaktion von Deutschen und Asiaten zum Tragen kommen. Selbstverständlich ist nicht jeder Deutsche gleich direkt und jeder Asiate gleich indirekt in ihrem Kommunikationsstil, doch im Durchschnitt über die Mehrzahl der Deutschen und Asiaten hinweg lassen sich diese Unterschiede eindeutig nachweisen. Da zentrale Kulturstandards in interkulturellen Interaktionssituationen wirksam werden, lassen sie sich als soziale Kategorisierungsmerkmale verwenden in dem Sinne, dass die Mitglieder der Eigengruppe direkt und offen kommunizieren und den Mitgliedern der Fremdgruppe ein indirekter, kontextabhängiger und somit schwer verständlicher Kommunikationsstil unterstellt wird. Soziale Kategorisierung ist in der Regel ein Prozess der Zuordnung einer Person zu einer Gruppe entsprechend bestimmter Merkmale (Nationalität, Geschlecht, Hautfarbe etc.). Dies erleichtert die Verarbeitung der Reizvielfalt und ermöglicht damit eine schnelle und adäquate Reaktion gegenüber verschiedenen Interaktionspartnern. Als Resultat entstehen Kategorisierungen wie beispielsweise »Wir sind Deutsche und die anderen sind Osteuropäer, Italiener, Franzosen usw.«. Eine stark ausgeprägte nationale Kategorisierung ist hinderlich für den interkulturellen Dialog: In diesem Fall interagieren nicht zwei Individuen untereinander, sondern zwei Vertreter unterschiedlicher nationaler Gruppen, also ein »Deutscher« und ein »Asiate«. Für einen fruchtbaren und zufriedenstellenden interkulturellen Dialog der von gegenseitigem Vertrauen getragen wird, ist es wichtig, dass ein zu bearbeitendes Thema, ein zu lösendes Problem oder eine Fragestellung im Mittelpunkt steht, das oder die für alle Dialogpartner von großer Wichtigkeit ist und das nur bearbeitet respektive gelöst werden kann, wenn die kulturspezifischen unterschiedlichen Betrachtungen und Lösungswege als mit Wertschätzung versehene Ressourcen in den Dialog eingebracht werden.
128 Juliana Murnyati Tjaya und Anna Ehret
4 Intergruppenprozesse und Vertrauensaufbau Im Kontext eines sozialen Kategorisierungsprozesses betrachtet eine Person sich selbst eher als Gruppenmitglied denn als einzelnes Individuum. Gleichzeitig betrachtet sie Menschen, die nicht zu ihrer Gruppe gehören, als Fremdpersonen. Durch diese Zuordnung entsteht unvermeidlich eine für den Vergleich relevante Gruppe, nämlich die Fremdgruppe (Williams, 2001). So ist die Wahrnehmung der Eigengruppe ohne das Konzept einer Fremdgruppe nicht möglich, da sie erst durch den Vergleich und den Kontrast zu einer Fremdgruppe Gestalt gewinnt (Yuki, 2003). Eine derartige Betrachtung gilt allerdings eher für individualistische als für kollektivistische Kulturen, da sich Individuen in kollektivistischen Kulturen vor allem mit ihrer eigenen Gruppe beschäftigen und weniger mit Fremdgruppen. Wesentlich sind für Mitglieder kollektivistischer Kulturen die Ausbildung eng geknüpfter umfangreicher sozialer Netzwerke, die Erhaltung des kooperativen Verhaltens in der eigenen Gruppe und die Aufrechterhaltung der sozialen Harmonie. Individualistische Kulturen formen Gesellschaften, in denen die Beziehungen zwischen den Individuen eher aus lockeren und rein zweckbedingten sozialen Netzwerken bestehen, während Individuen in kollektivistischen Kulturen in enge und existenziell bedeutsame soziale Netzwerke und Gruppen (Familie oder andere Eigengruppen) eingebunden sind. Allgemein werden Angehörige westeuropäischer Staaten eher in die Kategorie »individualistische Kulturen« eingeordnet, während Menschen aus osteuropäischen Ländern im Gegensatz dazu tendenziell eine kollektivistische Orientierung aufweisen (Hofstede, 2001). Bei einem sozialen Kategorisierungsprozess transformiert eine Person das Selbst von der individuellen Ebene auf die Gruppenebene beziehungsweise auf die Ebene des sozialen Kollektivs. Die Person betrachtet sich selbst somit eher als Deutsche denn als ein einzigartiges Individuum (z. B. Frau Müller). Die personale Identität, die in der Kommunikation mit »Ich« bezeichnet und durch individuelle Aspekte der Person gekennzeichnet ist, wechselt in die soziale Identität mit der Bezeichnung »Wir-Deutsche« (Hogg u. Terry, 2001). Auf diese Weise erlangt eine Person ihr Selbstverständnis als Gruppenmitglied durch die Selbstkategorisierung. Der
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Fokuswechsel vom Individuum zum Kollektiv erzeugt eine wahrgenommene Ähnlichkeit, die die erlebte soziale Distanz zwischen sich selbst und den anderen Eigengruppenmitgliedern verringert. Eine Person ist bereit, sich in andere Gruppenmitglieder einzufühlen und empfindet Sympathie. Sie betrachtet ein anderes Gruppenmitglied als Verkörperung des Gruppenprototyps im Sinne von normativen Ordnungen und Rollenerwartungen. Von Seiten der anderen Mitglieder wird sie selbst ebenso gesehen. Hierdurch versichert man sich, dass die Handlungen der anderen Mitglieder auch diesen Ordnungen und Erwartungen entsprechen. Die Gruppenmitglieder bezweifeln die Integrität der anderen Mitglieder nicht, da ihre Handlungen leicht vorhersehbar sind (Kramer et al., 1996). Die wahrgenommene Ähnlichkeit reduziert die Unsicherheit im Umgang mit anderen Mitgliedern sowie das wahrgenommene Risiko. Die Mitglieder der Eigengruppe werden – wie bereits erwähnt – häufig als ehrlich, kooperativ und vertrauenswürdig wahrgenommen. Die Mitglieder anderer Gruppen werden im Gegensatz dazu als weniger ehrlich, zuverlässig und vertrauenswürdig beurteilt. Dieser Beurteilungsprozess ist untrennbar mit einem spezifischen Attribuierungsprozess verbunden, in dem negative Verhaltensweisen von Mitgliedern der eigenen Gruppe mit externen Faktoren erklärt (externale Attribuierung), negative Handlungen von Fremdgruppenmitgliedern jedoch der jeweiligen Person selbst zugeschrieben werden (internale Attribuierung). In Bezug auf die Vertrauensüberzeugung bedeutet dies, dass die Gruppenmitglieder fest überzeugt sind von der Integrität und dem Wohlwollen der Mitglieder der Eigengruppe. Der soziale Kategorisierungsprozess erzeugt demnach nicht nur wahrgenommene Ähnlichkeit, sondern erhöht auch die persönliche Überzeugung von der Vertrauenswürdigkeit der anderen Eigengruppenmitglieder. Ist das Schema der Gruppenzugehörigkeit zentrales Thema, neigt eine Person auch zu kompetitivem Verhalten gegenüber Mitgliedern der Fremdgruppe. Hintergrund dieser Tendenz ist die wahrgenommene Erwartung von Loyalität und Kooperation innerhalb der Eigengruppe beziehungsweise von Misstrauen und Konkurrenz gegenüber der Fremdgruppe. Eine Person kann also ihr unkooperatives Verhalten gegenüber der anderen Gruppe damit rechtfertigen, dass sie um der eigenen Gruppe willen so gehandelt hat. Kompetitives Verhalten
130 Juliana Murnyati Tjaya und Anna Ehret gegenüber Fremdgruppenmitgliedern tritt gehäuft auf, wenn ein Gruppenmitglied die Fremdgruppe als Bedrohung für das Erreichen ihres Ziels betrachtet. Dies wird häufig als kompetitive Interdependenz bezeichnet (William, 2001). Nimmt eine Person diese Interdependenz hingegen als kooperativ wahr, das heißt, ist sie überzeugt, in Zusammenarbeit mit den Fremdgruppenmitgliedern ihr Ziel erreichen zu können, zeigt sie auch ihnen gegenüber kooperatives Verhalten. Diese Zusammenhänge sind für die Begründung von Vertrauen im interkulturellen Dialog von zentraler Bedeutung. Die bisherigen Erläuterungen deuten darauf hin, dass der soziale Kategorisierungsprozess das sogenannte identifikationsbasierte Vertrauen nur in der Eigengruppe begünstigt. Die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen sozialen Gruppe erzeugt eine wahrgenommene Ähnlichkeit in Einstellungen, Werten und Normen sowie in den gegenseitigen Emotionen. Die aus dem Prozess der sozialen Kategorisierung resultierende Tendenz bewirkt daher ein Gefühl der Sicherheit, da das Verhalten der eigenen Gruppenmitglieder vorhersehbar ist. Dies begünstigt den Vertrauensaufbau. Darüber hinaus wird der Vertrauensaufbau durch einen Transferprozess erleichtert, in dem Vertrauen gegenüber einer bestimmten Person auf andere Gruppenmitglieder transferiert werden kann, selbst dann, wenn diese persönlich noch nicht gut bekannt sind.
5 Die Förderung eines vertrauensbasierten interkulturellen Dialogs Die bisherigen Erörterungen zeigen, dass Vertrauen leichter unter Eigengruppenmitgliedern entsteht als im Kontakt mit fremdkulturellen Personen. Innerhalb der eigenen Gruppe entwickelt sich eine kooperative Tendenz, während man gegenüber fremdkulturellen Personen zu kompetitivem Verhalten neigt (vgl. auch Schmid in diesem Band). Dies impliziert, dass Vertrauensbeziehungen in multikulturellen Gruppen schwer herzustellen sind. Nun stellt sich die Frage, wie sich Vertrauen in derartigen Gruppen aufbauen lässt. Der Vertrauensaufbau unter den Eigengruppenmitgliedern entsteht durch die wahrgenommene Ähnlichkeit bezüglich gemein-
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samer Einstellungen, Werte, Normen und Interessen. Dies bedeutet für den Aufbau der Vertrauensbeziehung in multikulturellen Gruppen, dass die Wahrnehmung eines gemeinsamen »Wir-Gefühls« über kulturelle Grenzen hinweg entwickelt werden muss. Die Gruppenzugehörigkeit sollte daher neu definiert werden. Hier muss die nationale Kategorisierung in den Hintergrund treten und das Zugehörigkeitsgefühl aller zu einer übergeordneten Gruppe ist zu fokussieren. Dadurch verliert der Vergleich auf nationaler Ebene an Bedeutung und man sieht sich nun als Mitglied einer größeren, gemeinsamen Kategorie beispielsweise als EU-Mitglied. Ein diesbezüglich einschlägiges Beispiel findet sich in einer Studie über deutsche und indonesische Arbeitsgruppen, in der die Zugehörigkeit zu der übergeordneten gemeinsamen Kategorie »Student« den nationalen Kategorisierungsprozess abschwächte und bei den Arbeitsgruppen beider Kulturen die Erreichung der Stufe des identifikationsbasierten Vertrauens (»affective-based trust«) begünstigte (Tjaya, 2008). Auch wenn ein Teil der Versuchspersonen sich gegenseitig noch völlig fremd war und bislang noch keinerlei gemeinsame Erfahrungen gemacht hatte, stellte das alltägliche Studentenleben keine neue oder unbekannte Situation dar. Somit ist es möglich, aufgrund der wahrgenommenen Ähnlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit Personen gleichen sozialen Status leichter und unmittelbarer Vertrauen aufzubauen. Ergebnisse der Intergruppenforschung zeigen, dass gleicher sozialer Status in Kontaktsituationen eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, Vorurteile gegenüber Angehörigen anderer Kulturen abbauen zu können (Pettigrew u. Tropp, 2006). Gemeinsame interkulturelle Erfahrungen bewirken bessere Kenntnisse über die andere Kultur, die zum Verständnis füreinander und zum Respekt voreinander führen. Dies wurde in Studien zur Interrasseninteraktion »Black and White« in den USA bestätigt (Pettigrew u. Tropp, 2006), in der sich aufgrund eines intensiven Kontaktes positivere Gefühle und Intergruppeneinstellungen gegenüber der jeweils anderen Gruppe entwickelten. Eine positive Einstellung gegenüber anderen Kulturen, hervorgerufen durch eine grundsätzliche wertschätzende Haltung zu dem, was Kulturen im Verlauf der Menschheitsentwicklung an Unterschieden hervorgebracht haben, erleichtert den Aufbau einer Ver-
132 Juliana Murnyati Tjaya und Anna Ehret Vertrauensdisposition
interkultureller Dialog
Entstehung von Vertrauen
Dialogbereitschaft Abbildung 1: Interkultureller Dialog und Vertrauen
trauensbeziehung. Vertrauen kann durch einen intensiven interkulturellen Dialog entstehen. Vertrauen erzeugt wiederum eine höhere Bereitschaft, interkulturelle Kontakte aufzunehmen. Vertrauen und interkultureller Dialog lassen sich daher als zirkulärer Prozess betrachten. Wie in Abbildung 1 veranschaulicht, bewirkt ein erfolgreicher interkultureller Dialog eine höhere wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen den Gruppenmitgliedern, die tendenziell die Entstehung des identifikationsbasierten Vertrauens fördert. Das vorhandene Vertrauen führt dann wiederum zur Erhöhung der interkulturellen Dialogbereitschaft. Die Darstellung in Abbildung 1 und die obigen Erläuterungen beziehen sich auf Vertrauen auf Gruppenebene. Auf individueller Ebene spricht man von Vertrauensdisposition. Die Vertrauensdisposition ist für einen funktionierenden interkulturellen Dialog von entscheidender Bedeutung, da sie eine relativ stabile Persönlichkeitseigenschaft darstellt. Nun stellt sich die Frage: Wie verhalten sich Personen mit einer hohen Vertrauensdisposition? Es ist festzustellen, dass Individuen mit hoher Vertrauensdisposition in Verhandlungssituationen ehrlicher sind als Personen mit geringerer Vertrauensdisposition (Ross u. LaCroix, 1996). Sie bringen anderen solange Vertrauen entgegen, bis sie einen Grund haben, ihnen nicht mehr zu vertrauen. Dabei zeigt sich, dass sie sich kooperativer verhalten als Individuen mit einer geringeren Vertrauensdisposition.
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Forschungen haben gezeigt, dass Individuen mit hoher Vertrauensdisposition sensibler und positiver auf die von anderen Personen gesendeten kooperativen Botschaften reagieren als Personen mit geringerer Vertrauensdisposition. Dies wiederum führt zum Aufbau gegenseitigen Vertrauens, denn Vertrauen erzeugt Vertrauen. Individuen mit geringerer Vertrauensdisposition sind dagegen sensibler für kompetitive Botschaften und reagieren entsprechend, nämlich mit Misstrauen, das wiederum beim Gegenüber Misstrauen erzeugt. Im Kontext interkultureller Begegnung ist davon auszugehen, dass Individuen mit hoher Vertrauensdisposition eher eine interkulturelle Dialogbereitschaft entwickeln.
6 Fazit Um Dialogbereitschaft und Vertrauen im interkulturellen Kontext zu erhöhen, kann auf zwei Ebenen angesetzt werden: auf der Indivualebene und der Gruppenebene. So sollten Personen mit einer hohen Vertrauensdisposition in interkulturelle Kontaktsituationen geschickt werden, da diese Disposition den Vertrauensaufbau prinzipiell erleichtert. Berichten sie dann den Eigengruppenmitgliedern von positiven Interaktionen, wird es diesen leichter fallen, ebenfalls positiv eingestimmt auf Mitglieder der Fremdgruppe zuzugehen. Auf der Gruppenebene sollte nach übergeordneten, gemeinsam geteilten Kategorien gesucht werden, da deren Fokussierung zu einem verbindenden »Wir-Gefühl« führen kann. Dies erhöht die Bereitschaft zu intensivem Kontakt und kann so zum Abbau von Vorurteilen und zum Aufbau eines gegenseitigen Verständnisses führen.
Literatur Hofstede, G. (2001). Culture’s Consequences (2nd ed.). Thousand Oaks: Sage Publications. Hogg, M. A., Terry, D. J. (2001). Social identity theory and organizational processes. In M. A. Hogg, D. J. Terry (Eds.), Social identity processes in organizational context (pp. 1–12). London u. a.: Psychology Press. Kramer, R. M., Brewer, M. B., Hanna, B. A. (1996). Collective trust and collective action: the decision to trust as a social decision. In R. M. Kramer,
134 Juliana Murnyati Tjaya und Anna Ehret T. R. Tyler, Trust in organization: Frontiers of theory and research (pp. 357–389). Thousand Oaks: Sage. Pettigrew, T. F., Tropp, L. R. (2006). A meta analytic test of intergroup contact theory. Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 90 (5), 751–783. Ross, W., LaCroix, J. (1996). Multiple meanings of trust in negotiation theory and research: A literature review and integrative model. International Journal of Conflict Management, Vol. 7 (4), 314–360. Thomas, A. (1996). Analyse der Handlungswirksamkeit von Kulturstandards. In A. Thomas (Hrsg.), Psychologie interkulturellen Handelns (S. 107–135). Göttingen: Hogrefe. Thomas, A. (2003). Theoretische Grundlagen interkultureller Kommunikation und Kooperation. In A. Thomas, E. Kinast, S. Schroll-Machl (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Kommunikation. Band 1: Grundlagen und Praxisfelder (S. 19–31). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Tjaya, J. M. (2008). Eine kulturvergleichende Studie zum Vertrauensaufbau am Beispiel deutscher und indonesischer Arbeitsgruppen. Hamburg: Verlag Dr. Kovaĉ. Trimpop, R. M. (1994). The psychology of risk-taking behavior. Textbook Series: Advances in Psychology No. 107. New York u. Amsterdam: Elsevier/North Holland. Williams, M. (2001). In whom we trust: group membership as an affective context for trust development. Academy of Management Review, 26 (3), 377–396. Yuki, M. (2003). Intergroup comparison versus intergroup relationships: a cross-cultural examination of social identity theory in North American and East Asian cultural context. Social Psychology Quarterly, 66 (2), 166–183.
Monika Eigenstetter und Rüdiger Trimpop
Verantwortung und interkultureller Dialog in Organisationen
1 Einführung Begegnungen zwischen Personen verschiedener Kulturen sind mittlerweile allgegenwärtig, bedingt durch Entsendungen ins Ausland oder Migration. Beispiele für Begegnungen finden sich überall, beispielsweise im Studium, in der Pflege, im Verkauf oder in der Produktion. So ist es selbst für »einfache« Meister oder Techniker eines multinationalen Unternehmens nicht mehr unüblich, einige Zeit im Ausland zu verbringen, um zum Beispiel ein Qualitätsmanagement oder neue Technologien einzuführen. Umgekehrt finden sich viele Personen anderer Kulturkreise an den deutschen Standorten der Unternehmen. Es wird immer wieder von ähnlichen Problemen berichtet. Ein unter Deutschen akzeptiertes sachliches Kritik- beziehungsweise Feedbackgespräch wird von einigen ausländischen Mitarbeitern, Kollegen oder Vorgesetzten als Verletzung von Ehrgefühl und Selbstachtung interpretiert. Meister und andere Vorgesetzte in ihrer Verantwortung für Mitarbeiter und Produktion erachten jedoch Feedbackgespräche mit Mitarbeitern als schwieriges, aber notwendiges Instrument, um die für den ökonomischen Erfolg des Unternehmens wichtige Qualität sowie sicherheitsrelevante Aspekte zu gewährleisten. »Kulturelles Fingerspitzengefühl« erfordert auch das Problem, von dem eine deutsche Sicherheitsfachkraft berichtet. So fordert der asiatische Werkleiter, die Verbandsbücher im Unternehmen abzuschaffen. Die Verbandsbücher müssen in deutschen Unternehmen allerdings nach dem berufsgenossenschaftlichen Regelwerk geführt werden, um kleinere Verletzungen zu dokumentieren (BGR A1 Grundsätze der Prävention, § 24).
136 Monika Eigenstetter und Rüdiger Trimpop Es stellt sich die Frage: Wie können derartige Anforderungen dem anderen verständlich gemacht werden, ohne Abwehrhaltungen zu provozieren? Wie lässt sich ein gemeinsames Verständnis für die Situation schaffen und damit auch eine gemeinsame Lösung erarbeiten? Kulturelle Unterschiede in Situationsinterpretationen werden zwar meist erkannt, häufig fehlt aber ein Verständnis für die Sicht des anderen, und darüber hinaus die notwendige Kommunikationskompetenz, sich dem anderen in einer für ihn akzeptablen Weise verständlich zu machen. Gerade die deutsche Offenheit wird von Personen anderer Kulturen oft als beleidigend empfunden. Probleme werden zudem oft nicht nur als interkulturelle Probleme wahrgenommen, sondern als Probleme im Umgang mit Verantwortung beziehungsweise als moralische oder ethische Probleme (Endicott, Bock u. Narvaez, 2003). Ist der asiatische Werkleiter verantwortungslos, weil er Verletzungen nicht im Verbandsbuch dokumentieren will? Interessiert den ausländischen Mitarbeiter die Qualität der Produkte nicht? Die Frage, wie Verantwortung in verschiedenen Kulturen wahrgenommen und gelebt wird, ist virulent.
2 Verantwortung: Situation und Person Spricht man von Verantwortung, lassen sich mindestens zwei Ebenen – die Situation und die handelnde Person – unterscheiden (vgl. Hoff, 2001). Verantwortungssituationen sind meist alltagsweltliche oder betriebliche Situationen, die eine Entscheidung und eine Handlung erfordern, um einen Schaden abzuwehren und/oder einen Nutzen für andere oder den Betrieb zu erzeugen. Sie enthalten einen Entscheidungs- und Handlungsspielraum und verweisen damit auf Unsicherheiten und Risiken, die vermindert werden sollen. Für eine Person, die in einer (Wirtschafts-)Organisation mit Unsicherheit und Risiken umgeht, ist demnach fachliche Kompetenz gefragt sowie moralische Urteilsfähigkeit, um sich mit konträren Interessen auseinanderzusetzen und konstruktive Konfliktlösungen anzustreben. Sie ist in ihrem Handeln auf ein Gegenüber ausgerichtet, was sich sprachlich in Präpositionen wie »Verantwortung für« widerspiegelt, und rechenschaftspflichtig. Damit ist mindes-
Verantwortung und interkultureller Dialog in Organisationen
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tens ein Bewertungskriterium zum Beispiel durch übergeordnete Ethiken und deren Prinzipien und Werte impliziert, aufgrund dessen Verantwortung (für eine Aufgabe, ein Projekt) übertragen und wieder entzogen werden kann. Von verantwortungsvollem Entscheiden und Handeln sollte deshalb nur dann gesprochen werden, »wenn eine Person bei einem Problem innerhalb einer gegebenen Verantwortungssituation oder eines Verantwortungsbereiches (z. B. einer beruflichen Position) neben sachlichen Überlegungen (z. B. ökonomische) weitere normative, nämlich ethisch-moralische, Gesichtspunkte berücksichtigt und danach entscheidet und handelt« (Eigenstetter, 2007).
3 Kulturelle Einflüsse auf moralische Normen Wie bereits angedeutet, kann Verantwortung nicht ohne eine dahinterliegende Ethik betrachtet werden. So wie Ethiken mit ihren Prinzipien und Werten Orientierungssysteme sind, die das Zusammenleben in größeren Gemeinschaften und Gesellschaften ermöglichen, so ist auch Kultur »ein universelles, für eine Gesellschaft, Organisation und Gruppe aber sehr typisches Orientierungssystem« (Thomas, 1993, S. 380). Kultur impliziert Ethik als eines von mehreren Orientierungssystemen (Hall, 1997). Ethische Begründungen, die einer moralischen Norm (d. h. moralischen Regel) und damit einer Verantwortungszuschreibung zugrunde liegen, basieren im westlich geprägten Raum unter anderem auf den philosophischen Konzepten des Utilitarismus, der Vernunftethik nach Kant, der Diskursethik oder der Theorie der Gerechtigkeit nach John Rawls (für einen knappen Überblick siehe Eigenstetter u. Hammerl, 2005; Thomas, 2005). Neben den Ethiken prägen Religionen Rechtssysteme und Alltagsverständnis der Personen. Deetz, Cohen und Edly (1997) unterscheiden die Vielfalt von Ethiken vereinfachend in traditionelle Ethiken, die auf überlieferten Werten und Normen beruhen und sich in stabilen, homogenen Gemeinschaften finden, und rationale Ethiken, die auf rationalen Diskursen und Verallgemeinerung ethischer Prinzipien beruhen (z. B. »das größte Glück der größten Zahl« im Utilitarismus). Letztere sind Ethiken, die durch die Verallgemeinerbarkeit der ethischen
138 Monika Eigenstetter und Rüdiger Trimpop Prinzipien gerade auch in anonymisierten Kontexten Geltung finden, beispielsweise in internationalen Geschäftsbeziehungen. Dabei gelten aus wirtschaftsethischer Perspektive für pluralistische Kontexte vorwiegend diskursive Ethiken, zum Beispiel nach Habermas, als erfolgversprechend. Zwar erscheinen über alle Kulturen hinweg einige ethische Prinzipien als universell gültig, doch in der Ausgestaltung dieser Prinzipien finden sich kulturelle Unterschiede. So gilt Gerechtigkeit als universelles ethisches Prinzip (Leung u. Stephan, 2001). Gerechtigkeit ist aber auch kulturspezifisch, da ein abstraktes Prinzip mit spezifischen kulturellen Überzeugungen in konkreten Situationen zusammenwirkt. So wurden im interkulturellen Vergleich Gerechtigkeitsprinzipien am häufigsten anhand der nach Hofstede (1980) unterschiedenen Dimensionen Kollektivismus – Individualismus untersucht. Dabei zeigt sich im Wesentlichen ein Trend: Individualistische Kulturen neigen eher dazu, ein gleiches Gerechtigkeitsprinzip über verschiedene soziale Kontexte hinweg anzuwenden, während kollektivistische Kulturen eher unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien für verschiedene soziale Kontexte (Freunde/Familie versus Fremde) anwenden. Kulturelle moralische Regeln lassen sich als Kulturstandards interpretieren, welche von den meisten Mitgliedern einer Kultur für sich und andere als »normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich« betrachtet werden (Thomas, 1993, S. 381). Vor dem Hintergrund dieser wird sowohl eigenes als auch fremdes Handeln beurteilt; sie sind demnach soziale Normen. Als solche enthalten sie eine Bewertung darüber, was als »gut« oder »schlecht« gilt und sind damit stark affektiv behaftet (Hauser, 2007). Durch die Begegnung mit Fremden werden die in lebenslanger Sozialisation internalisierten sozialen Werte und Normen fundamental in Frage gestellt, eine Bedrohung für das eigene Selbstkonzept (Trimpop u. Meinhardt, 1999). Wenn Personen nicht gelernt haben, mit derartigen Verunsicherungen umzugehen, mögen sie dazu neigen, andere abzuwerten. Das kann schnell zum Auslöser sozialer Konflikte werden, da eine hohe Affektivität die Fähigkeit beeinträchtigt, in Konfliktsituationen die Sichtweise anderer zu akzeptieren (Steins, 1998). Affektive Reaktionen von »gut« oder »schlecht« lassen sich an folgendem Beispiel nachvollziehen.
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Es ist in westlichen Kulturen üblich, dass sich – gegengeschlechtliche – Personen auf der Straße küssen. In asiatischen Kulturen dagegen wird dieses als ungehörig beurteilt. Auch Mitglieder des arabischen Kulturkreises betrachten Küssen in der Öffentlichkeit als unmoralisch. Dort hingegen sieht man Männer in der Öffentlichkeit Hand in Hand gehend, was als normaler Ausdruck von Freundschaft erachtet wird. Begegnet man in westlichen Kulturen Männern, die Hand in Hand gehen, wird dies wiederum eher als Ausdruck von Homosexualität interpretiert.
Werte und Normen sind für eine bestimmte Gemeinschaft funktional, nicht aber wahr. Sie dienen bei einem Fehlen von Information als kognitive Abkürzung und Entscheidungshilfe und werden daher gerade in unsicheren Situationen, zum Beispiel in interkulturellen Konfliktsituationen, handlungswirksam. Zwar lassen sich fremdkulturelle Regeln und Werte in Trainings weitergeben, doch eine kompetente situationsangemessene Anwendung fremdkultureller Regeln und Werte erfordert eine partielle Aneignung dieser (Trimpop u. Meinhardt, 1999). Interkulturelle und moralische Kompetenzen sind integrale Komponenten sozialen Handelns, die komplexe kognitive Schemata erfordern. Sie entwickeln sich durch Erfahrungen mit unvereinbaren Werten in Dilemmata (Endicott et al., 2003).
4 Verantwortungsvolles Entscheiden und Handeln 4.1 Moralische Werte und Urteile Urteile über moralische Dilemmata beziehungsweise in Verantwortungssituationen werden häufig nach dem Modell Kohlbergs (1976) eingeschätzt. Moralische Urteile sind danach die Fähigkeit, aufgrund von Prinzipien Entscheidungen zu fällen und übereinstimmend mit diesen zu handeln. Prinzipienorientierte Urteile basieren auf Gerechtigkeit, sind über mehrere vergleichbare Situationen stabil, verallgemeinerbar und dem vernünftigen Gespräch zugänglich. Sie lassen sich in drei Niveaus ordnen: – präkonventionelles Niveau mit Orientierung an Straferwartung und Gehorsam beziehungsweise instrumenteller Berücksichtigung von Interessen anderer;
140 Monika Eigenstetter und Rüdiger Trimpop – konventionelles Niveau mit konformistischer Orientierung an Bezugsgruppen und geltender Gesellschafts- und Rechtsordnung; – postkonventionelles Niveau mit legalistischer Orientierung an Verträgen und universell ethischen Prinzipien wie Gerechtigkeit. Häufige Praxis der Globalisierung ist, dass Unternehmen Fördermittel von der öffentlichen Hand dafür erhalten, Arbeitsplätze zu schaffen und diese für einen gewissen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Ziehen diese Unternehmen nach solch einer Förderungszeit weg und entlassen die Mitarbeiter durch Schließung des Standortes, wird dieses Handeln im allgemeinen Verständnis als unethisch und ausbeuterisch verstanden. Je nach Bezugsrahmen lässt sich die Standortschließung aber auf allen Kohlberg-Stufen einordnen. Zur Förderung des Gewinnes der Unternehmenseigentümer ist das Verhalten instrumentell und rationell. Es werden die wesentlichen Gesetze und Förderrichtlinien sowie die Verträge eingehalten. Die Verlagerung eines Werkes ist aber auch deswegen gerechtfertigt, weil sonst langfristig die Firma insgesamt an Konkurrenzfähigkeit verliert, mit der Gefahr eines kompletten Arbeitsplatzverlustes. Damit lässt sich gemäß dem postkonventionellen Niveau argumentieren. Das Kohlberg-Modell beansprucht transkulturelle Gültigkeit, doch vertritt es prinzipienorientierte Urteile auf Basis rationaler Ethiken, die nicht in allen Kulturkreisen gelten. Gerade die kulturellen Variationen des ubiquitär vorhandenen Gerechtigkeitsprinzips belegen, dass selbst universelle Prinzipien nicht über alle Kulturen identisch sind.
4.2 Verantwortungsvolles Entscheiden und Handeln Die mögliche Vielfalt von Faktoren, die moralisches Entscheiden und Handeln beeinflussen können, fasst Jones (1991) in einem »Issue-Contingent Model« zusammen. Dieses baut unter anderem auf dem Vierkomponenten-Modell von Rest (1986) auf, der das genannte Modell moralischen Urteilens als Handlungsmodell weiterentwickelte.
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– Moralische Sensitivität: Die Personen müssen erkennen, welche anderen und wie diese betroffen sind, welche Erwartungen und Bedürfnisse die anderen haben und wie ihr Handeln auf die anderen wirkt. – Moralisches Urteil: Die Personen müssen auf eine Anzahl kognitiver Schemata zurückgreifen, um herauszufinden, was man tun sollte. Hier sind moralische Urteile sowie soziale Normen, Ideologien und eigene Erfahrungen wirksam, obwohl sie nicht bewusst sein müssen. – Moralische Motivation: Moralische Motivationen sind zum Beispiel die Sorge um die eigene Integrität, Gewissensnöte, Altruismus und anderes. Sie stehen in Konkurrenz zu anderen Motiven wie Statusgefühle oder Egoismen. Ausdruck für die Bindung an moralische Werte sind zum Beispiel moralische Affekte wie Empörung, Schuldgefühle oder Scham. Hier zeigt sich die Verhaltensrelevanz (moralischer) Werte. – Moralisches Verhalten: Als letzter Schritt sind Ich-Stärke, Selbstkontrolle und Kontrollüberzeugungen beziehungsweise die Fähigkeit, sich selbst zum Handeln zu motivieren, wichtige Faktoren. Dazu gehören das Herausfinden konkreter Handlungsschritte und das Umgehen von Hindernissen durch Beharrlichkeit und Entschlossenheit. Nach Jones wirken nun folgende sechs Situationsparameter auf die Situation und bedingen die moralische Intensität der Situation: 1. Ausmaß der Folgen: Ausmaß von Kosten und Nutzen einer Entscheidung; 2. Wahrscheinlichkeit des Auftretens: Wahrscheinlichkeit, mit welcher eine Aktion auftritt; 3. Konzentration des Effekts: Anzahl der Personen, die von einem großen Schaden oder Nutzen betroffen sind; 4. Sozialer Konsens: Soziale Übereinstimmung, ob Sachverhalte als gut oder böse angesehen werden; 5. Unmittelbarkeit der Zeiteffekte: Unmittelbare oder zeitverzögerte Effekte einer Entscheidung; 6. Nähe: Betroffenheit durch oder von psychologisch nah oder fern stehenden Personen oder Themen, beispielsweise von Familie oder Fremden.
142 Monika Eigenstetter und Rüdiger Trimpop Jones spricht zudem organisationale Prozesse wie Autorität, Gruppendynamik und Sozialisationsprozesse an, die auf zwei Handlungsprozesse (moralische Motivation und moralisches Verhalten) wirken, führt diese in seinem Modell aber kaum aus. Auch nimmt er auf kulturelle Einflüsse nicht explizit Bezug. Gerade dieses Modell eignet sich aber durch Formulierung von situativen Einflussfaktoren als Heuristik dazu, verantwortungsvolles Entscheiden und Handeln zu betrachten und über Situationsmerkmale die »moralische Intensität« einer Situation abzuschätzen. Es ermöglicht, über einen kognitiven Prozess von eigenen moralischen Urteilen und Werten zu abstrahieren und sich in die Position anderer zu versetzen. Ziehen wir erneut die bereits beschriebene Standortschließung heran, kann der Entscheidungsprozess der Manager eingeschätzt werden. Was die Standortschließung für die Mitarbeiter bedeutet, wird nicht wahrgenommen beziehungsweise hinter wirtschaftliche Belange des Unternehmens zurückgestuft (moralische Sensitivität). Die relative Bezugsgruppe bestimmt die Richtung und Ausprägung des Urteils. So ist für andere globalisierende Großunternehmen die Standortschließung betriebswirtschaftlich lobenswert (moralisches Urteil). Die Organisation als Funktionseinheit wird von Managern, Funktionsträgern, in den Vordergrund gestellt und die emotionale Betroffenheit als nicht-betriebsrelevant klassifiziert. Die Entscheider selbst ziehen ihre moralische Motivation aus der Betriebsoptimierung, zumindest in ihren öffentlichen Bekundungen (moralische Motivation). Die Manager verteidigen mit allen Mitteln konsequent und beharrlich betriebswirtschaftliche Klugheit gegen Öffentlichkeit und Politik (moralisches Verhalten).
Bedeutsam sind für den Einzelnen die kulturellen, familiären und tradierten Ethik- und Moralvorstellungen. Als Person befindet man sich meist in verschiedenen kulturellen Kontexten und kann sich dann – ungewollt – im Einklang mit der einen und im Widerspruch mit der anderen Kulturmoral befinden. Durch ein Unverständnis der Betroffenheit anderer oder Gleichgültigkeit wird ein Diskurs verhindert.
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4.3 Ein Fallbeispiel in kulturell vergleichender Perspektive Für einen Kulturvergleich wird nun das Modell von Jones auf ein weiteres Fallbeispiel angewandt, welches in einem Seminar zu Unternehmensethik vorgestellt wurde. Ein exzellent qualifizierter, aus einem Schwellenland stammender, asiatischer Mitarbeiter eines Unternehmens kehrt als Repräsentant seines Unternehmens in sein Heimatland zurück. Nach einiger Zeit stellt sich heraus: Er verwendet die Gelder, die ihm für ein standesgemäßes Domizil zur Verfügung gestellt werden, für die Ausbildung seiner jüngeren Geschwister. Er selbst lebt äußerst bescheiden und nimmt die repräsentativen Aufgaben für sein Unternehmen nur eingeschränkt wahr.
In westlichen Ländern wird ein großer Teil der sozialen Risiken (Krankenversicherung, Rentenansprüche usw.) durch den Staat und Versicherungen getragen. In Ländern ohne soziale Absicherung bestehen andere Bedürfnisse und Erwartungen an wohlhabende Familienmitglieder: Es wird oft erwartet, dass nicht nur einzelne Bedürftige, sondern gegebenenfalls Familien mit versorgt werden (sozialer Konsens). Der Nutzen der Bildung für die Geschwister ist relativ sicher vorherzusehen und unmittelbar (Folgen) und von anderer Bedeutung als in Deutschland, in dem jedes Kind kostenfrei die Schule besuchen kann. Ein Schadenspotenzial besteht in der Reputation für die Firma: Reputation ist schwer messbar und damit unklar. Unmittelbar ist keine weitere Person negativ von einer Veruntreuung der Gelder betroffen. Auch im Erwerbsleben gibt es Unterschiede: In den meisten asiatischen Kulturen besteht eine hohe persönliche Verpflichtung und elterliche Fürsorge von Seiten der Organisation gegenüber den Mitarbeitern. Ausgeprägte Hierarchien mit starker Statusdifferenzierung sind vorhanden sowie Abhängigkeitsverhältnisse. Der Gelderwerb dient oft überwiegend dem Erhalt der Familie (Bayerl, 1995). In der deutschen Kultur gibt es dagegen oftmals keine persönlichen Verpflichtungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, die über das Arbeitsverhältnis hinausgehen. Pflichtwerte wie Pünktlichkeit und Korrektheit werden betont und können gleichberechtigt neben den Verpflichtungsgefühlen gegenüber Dritten stehen. Betrachtet man die Situationsparameter aus der Situation eines
144 Monika Eigenstetter und Rüdiger Trimpop asiatischen und eines deutschen Mitarbeiters, wird vielleicht nachvollziehbar, warum sie unterschiedlich entscheiden und handeln. – Moralische Sensitivität: Wesentliche Folgen seines potenziellen Handelns erzeugen für den asiatischen Mitarbeiter ein moralisches Dilemma. Bildung führt langfristig zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensumstände der Geschwister. Bei den Deutschen steht dagegen die Bewahrung von Firmeneigentum im Vordergrund. – Moralisches Urteil: Es sind die gegeneinander stehenden moralischen Standards abzuwägen: Pflichten gegenüber der Firma stehen gegen soziale Pflichte gegenüber den nahen Verwandten. Verwandte werden in der Regel wichtiger als die Firma erlebt, umso mehr, wenn keine weitere soziale Absicherung vorhanden ist. – Moralische Motivation: Während möglicherweise dem asiatischen Mitarbeiter der Gelderwerb überwiegend dem Erhalt der Familie dient, ist in Deutschland der Beruf oft auch sinnstiftend und Ausdruck von Selbstverwirklichung. Interpersonale Beziehungen sind in kollektivistischen Kulturen von hoher Verbindlichkeit. Die moralische Motivation, Unternehmensregeln zu brechen, um der eigenen Familie zu helfen, ist für den asiatischen Mitarbeiter erheblich. – Moralisches Verhalten: Die Wahrnehmung von externalen und internalen Ursachenzuschreibungen (Kontrollüberzeugungen) für das eigene Handeln ist ebenfalls kulturell geprägt. Mitglieder individualistischer Kulturen mögen zum Beispiel im Sinne eines fundamentalen Attributionsfehlers individuelle Freiheiten überschätzen, durch eigene Einflussnahme das Dilemma auflösen, wenn äußere Rahmenbedingungen das Handeln einschränken (Shirazi u. Biehl, 2005). Ein Asiate erwartet dagegen Fürsorge und Unterstützung durch seinen direkten Vorgesetzten. Wird diese Hilfe nicht angeboten, fehlt ihm gegebenenfalls die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust mit den auftretenden Rollenkonflikten umgehen zu können. Die meisten (deutschen) Teilnehmer, die dieses Fallbeispiel bearbeiteten, kamen – teilweise empört – zu folgendem Ergebnis: »Dieser Vorfall ist eine Unterschlagung von Firmengeldern, der Mitarbeiter muss fristlos entlassen werden. Private Sorgen des Mitarbeiters sind nicht
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Aufgabe des Unternehmens.« Dies erscheint als eine typische Bewertung von Mitgliedern individualistischer Kulturen (Leung u. Stephan, 2001). Unter der Berücksichtigung der moralischen Intensität wäre für dieses Fallbeispiel auch für Mitglieder individualistischer Kulturen eine andere Bewertung möglich (vgl. Thomas, 2005). Eine Voraussetzung, um diesen Vorfall aufzuklären, wäre, sich von seinen eigenen Bewertungen zu lösen und fremde Bewertungsmaßstäbe anzulegen; nicht die Person als Schuldigen zu sehen und ihm Verantwortungslosigkeit als persönliches Versagen zuzuschreiben, sondern die externen sozialen Einflussfaktoren stärker zu gewichten.
5 Die Förderung des interkulturellen Diskurses im Umgang mit moralischen Dilemmata in Organisationen Um in Unternehmen derartige Probleme über verschiedene Kulturen hinweg zu verringern, werden meist zwei Wege beschritten. Einerseits wird auf der personalen Ebene zum Beispiel mit Trainings oder Coaching gearbeitet, andererseits werden in Organisationen zunehmend sogenannte Ethikkodizes erarbeitet, die über die international verstreuten Unternehmenseinheiten Verbindlichkeit beanspruchen. Ethikkodizes sind unternehmensspezifische Prinzipien und/ oder Regeln für Mitarbeiter im Umgang mit moralischen Dilemmata. Sie sollen verantwortungsvolles Entscheiden und Handeln sicherstellen. Bei Verhaltenskodizes scheinen die eher explizit formulierten regelorientierten Kodizes im Gegensatz zu den oft unscharf formulierten prinzipienorientierten Kodizes zu einer höheren Homogenisierung des Verhaltens beizutragen (Talaulicar, 2006). Regelorientierte Kodizes mit ihren expliziten Verboten und Geboten unterliegen einer geringeren kulturellen Interpretation als prinzipienorientierte Kodizes, die über unternehmenseigene Werte und Prinzipien den Mitarbeitern eine Orientierung bieten wollen. Letztere ermöglichen jedoch über einen diskursiven Ansatz, mit den Mitarbeitern Lösungswege zu entwickeln, die sowohl mit den in-
146 Monika Eigenstetter und Rüdiger Trimpop dividuellen, kulturell geprägten moralischen Normen als auch mit den Ansprüchen des Unternehmens in Einklang stehen. Ein Unternehmen, das sich dieser Methode bediente, gab zum Beispiel eine Vorversion eines prinzipienorientierten Kodex weltweit unter den Führungskräften aus und ließ diesen auf seine Umsetzbarkeit diskutieren. Anhand der Rückmeldungen wurde der Kodex modifiziert, bis konsensual ein für alle Standorte verbindliches Dokument vorlag.
Es wird angenommen, dass sich durch die Auseinandersetzung mit organisationalen Werten und Prinzipien ein gemeinsames »drittes Orientierungssystem« im Sinn einer Organisationskultur entwickeln lässt, das gegebenenfalls kulturelle Werte modifiziert. Vor allem durch eine Auseinandersetzung mit konkreten Handlungspartnern kann im Idealfall eine dritte gemeinsame Ethik ausgehandelt werden, durch gegenseitige Akzeptanz gleichberechtigter Mitglieder, die sich in einem herrschaftsfreien Diskurs Habermas’scher Prägung auf gemeinsame Regeln verständigen (vgl. Thomas in diesem Band). Das ist nicht nur eine akademische Forderung, sondern höchst praktische Realität, wie folgendes Beispiel deutlich macht. Deutsche Produktionsmitarbeiter arbeiteten in einem Team, das überwiegend aus deutschrussischen Kollegen bestand. Die Russen sprachen untereinander russisch, und die Deutschen wollten, dass in Anwesenheit Deutscher von den Russen nur deutsch gesprochen werden sollte. Die Russen akzeptierten dies unter anderem durch folgendes Argument: »Ich muss dir die Nase brechen können, wenn du meine Mutter eine Schlampe nennst.«
So grob dieses Argument klingen mag, es ist ungemein vielschichtig. Es formuliert eine Forderung nach Respekt, Fairness, also ethischen Prinzipien im Umgang miteinander. Dazu greift der Sprecher auf geteilte, vielleicht sogar universale moralische Regeln zurück: Die eigene Mutter darf nicht beleidigt werden. Er spricht von Ehre: Denn wenn derartige fundamentale Beleidigungen auftreten, ist es legitim, die Ehre (über die Anwendung körperlicher Gewalt) wiederherzustellen. Der Ausspruch impliziert Reziprozität: Auch der andere würde dieses Recht für sich fordern; mit der Formulierung dieses Arguments wird ihm dieses implizit auch zugestanden. Das Argument wurde darüber hinaus in einer männlich geprägten
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(ost-)europäischen Arbeitskultur, in einer dieser Gruppe verständlichen Sprache, formuliert. Dies verdeutlicht, wie vielgestaltig Aushandlungsprozesse sein können. »Der eine beste Weg«, der ein Miteinander ermöglicht, ist nicht zu erwarten. Dies gilt nicht nur für die Zusammenarbeit in Arbeitsgruppen, dies gilt in gleichem Maße für den Umgang mit den Stakeholdergruppen, denen sich ein Unternehmen ausgesetzt sieht. Schließt man den Bogen vom individuellen Handeln zum organisationalen und von der lokalen Unternehmung zum global agierenden Unternehmen, wird deutlich, dass durch die Kulturnormen der Länder, der Organisationen und der handelnden Personen selbst die unterschiedlichen Wertmaßstäbe nebeneinander agieren. Ein mittelständischer Unternehmer wird eine andere Moral und Ethik anwenden als ein CEO (Chief Executive Officer), der im Durchschnitt drei bis fünf Jahre in einer Firma verbleibt und alle drei Monate Geschäfts- und Gewinnberichte vorlegen muss. Personen, die wöchentlich zwischen den Kulturen pendeln und als Bezugsgruppe andere CEOs haben, sind kulturell anders sozialisiert als der Unternehmer, der im Dorf mittags Essen geht und dessen Kinder die Kleinstadtschule besuchen. Kleinkulturen, Organisationskulturen und Länderkulturen sind gleichermaßen zu berücksichtigen und zu beeinflussen, um in Organisationen Verantwortungskulturen zu gestalten (vgl. Schroll-Machl in diesem Band). Eine besondere Schwierigkeit im interkulturellen Diskurs dürften zudem die kulturellen Limitierungen gegenüber – aus westlicher Sicht – wünschenswerten universellen ethischen Standards (Moody-Adams, 1994) darstellen. Viele in unseren Augen universelle ethische Prinzipien und Normen sind nicht selbstverständlich: Man denke beispielsweise an die Gleichheit der Geschlechter oder Verzicht auf Kinderarbeit. Im Idealfall erreichen wir eine Sensibilisierung im Umgang mit anderen Kulturen und erarbeiten im Diskurs Lösungen. Die Schwierigkeit dürfte darin liegen, Gemeinsames zu erkennen und dieses als Basis zu nutzen, um darauf aufbauend gemeinsame Regeln zu erarbeiten und – falls nicht tragfähig – auch wieder gemeinsam zu verwerfen.
148 Monika Eigenstetter und Rüdiger Trimpop
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Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza
Interkultureller Dialog in Organisationen
1 Vorbemerkung In diesem Beitrag wird interkultureller Dialog aus der Organisationsperspektive betrachtet. Es soll aufgezeigt werden, wie die Organisation als Kontextbedingung das Entstehen produktiver interkultureller Kommunikations- und Kooperationsprozesse beeinflusst und wie diese Prozesse in Organisationen gefördert werden können. Hierzu wird zunächst ein Überblick zu Erkenntnissen und Modellen zum interkulturellen Dialog in Organisationen gegeben. Anschließend wird durch die Beschreibung eines Projektes aufgezeigt, wie eine bestimmte Organisation, nämlich die Organisation »Hochschule«, den interkulturellen Dialog fördern und so Diversitätspotenziale, die in der Internationalität ihrer Studierenden liegen, besser nutzen kann. Die Übertragbarkeit des Projektes auf andere Organisationen wird abschließend diskutiert.
2 Erkenntnisse und Modelle zum interkulturellen Dialog in Organisationen Organisationen sind heutzutage keine kulturhomogenen Gebilde: Ein Großunternehmen wie Siemens hat inzwischen Standorte in beinahe 190 Ländern, an einer großen Hochschule wie der Fachhochschule Köln waren unter den 17.000 Studierenden im Wintersemester 2006/2007 3.130 ausländische Studierende aus 130 unterschiedlichen Nationen. Gesellschaftliche Veränderungen wie Einwanderungsprozesse und Organisationsstrategien, zum Beispiel die Internationalisierungsstrategie einer Hochschule, tragen dazu bei, dass in Organisa-
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tionen die Vielfalt soziokultureller Gruppen zunimmt. Vielfalt kann als Pendant zum Diversity-Begriff verstanden werden im Sinne einer »Heterogenität organisationaler Gruppen etwa aufgrund von Alter, Geschlecht, Religion, ethnischer und nationaler Zugehörigkeit« (Sackmann, Bissels u. Bissels, 2002, S. 44). In diesem Beitrag liegt der Fokus auf kultureller Vielfalt, wobei Kultur im Sinne eines Orientierungssystems (vgl. Thomas, 1993) verstanden wird, das aufgrund prägender Sozialisationserfahrungen erworben wird: Menschen wachsen in einem bestimmten Land auf, erlernen eine Muttersprache, entwickeln Werthaltungen und Überzeugungen, erwerben ein Verhaltensrepertoire und erfahren auf der Grundlage dieses Orientierungssystems die Welt. Auch in diesem engeren Sinne sind in unserem Land Organisationen aufgrund von Einwanderungsprozessen und Internationalisierungsstrategien kulturell vielfältiger geworden. Kulturelle Vielfalt bietet die Möglichkeit zu interkulturellem Dialog, wobei Dialog mehr meint als bloße Kommunikation. Der Philosoph Martin Buber geht in seinem 1923 erschienenen Buch »Ich und Du« (Buber, 1995) von einem dialogischen Charakter des Menschen aus: Der Mensch wird am Du zum Ich, was heißt: »Erst in Beziehungen zu anderen Personen gelangen wir zu uns selbst, und je tiefer diese Beziehungen sind, desto tiefer kommen wir auch zu uns selbst« (Kutschera, 2000, S. 56). Dialog geht also einher mit einer bestimmten Beziehungsqualität. Kommunikation findet dagegen immer und überall statt. Nach Watzlawick (z. B. Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1990) kann man bekanntlich nicht nicht kommunizieren. Den Dialog kann man verweigern, beispielsweise weil man das Gegenüber nicht als Dialogpartner akzeptiert. Dialog setzt Gesprächsbereitschaft und Gesprächsfähigkeit voraus sowie ein wirkliches Interesse am Gegenüber, den Wunsch, den Standpunkt des anderen und damit den anderen als Person kennenzulernen und zu verstehen. Dialog erfordert Wertschätzung des Anderen. Dialog ist wechselseitig, ist ein Prozess des Gebens und Nehmens, in dem man auch den eigenen Standpunkt einbringt, wozu man diesen Standpunkt kennen und verstehen muss. Anspruchsvolle Formen des Dialogs setzen voraus, dass man die eigenen Wurzeln kennt, weiß, woher die eigenen Überzeugungen kommen und worin diese begründet sind. Und Dialog ist auf Veränderung und Wachstum angelegt: Er wird ge-
152 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza führt, um zu lernen und die eigenen Auffassungen zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Es ist kein unveränderliches »Ich«, das sich im Dialog lediglich mitteilt, sondern im Dialog, das heißt, in der Beziehung zu einem Du, wird der Mensch zu diesem Ich. Worin besteht das, was Menschen unterschiedlicher Nationalität als kulturellen Gehalt in den interkulturellen Dialog einbringen können? Menschen erwerben durch Sozialisationsprozesse in ihrem Heimatland und vermittelt durch persönliche und berufliche Erfahrungen insbesondere folgende Inhalte (vgl. Hambrick, Davison, Snell u. Snow, 1998): – Werte: Diese kann man verstehen als situationsübergreifende Zielorientierungen, die als Leitprinzipien des menschlichen Lebens in einer Gesellschaft dienen. Schwartz (1994) unterscheidet auf Grundlage kulturübergreifender empirischer Forschung zehn Wertetypen (z. B. Selbstbestimmung, Hedonismus, Leistung, Tradition, Konformität), die Menschen mit jeweils individueller Schwerpunktsetzung als persönliche Leitprinzipien verinnerlicht haben. Nicht nur zwischen Personen, sondern auch im Ländervergleich ergeben sich nach Schwartz (1994) Unterschiede in den Werthaltungen, zum Beispiel die stärkere Betonung von konservativen Werten wie Tradition und Konformität in Asien als in westlichen Ländern, dagegen eine stärkere Betonung von Autonomiewerten in westlichen Ländern als in Asien (vgl. hierzu auch die bekannte Individualismus- vs. Kollektivismusdimension, z. B. nach Hofstede, 1997). – Kognitive Schemata: Diese umfassen das Wissen und die Überzeugungen, die wir über die Welt haben. Hierzu gehört auch die Sicht des eigenen Selbst. Die kulturvergleichende Selbstkonzeptforschung dokumentiert Unterschiede in der Art und Weise, wie Menschen ihr Selbst konstruieren. So hat sich gezeigt, dass Menschen in westlichen Kulturen zu indepedenten Selbstkonstruktionen neigen, indem sie sich durch persönliche und als stabil erlebte Eigenschaften, Fähigkeiten oder Einstellungen definieren, die sie als getrennt und verschieden von anderen auszeichnen, wobei das eigene Verhalten primär ein Resultat dieser inneren Charakteristika ist und Stabilität und Konsistenz im Verhalten grundsätzlich positiv bewertet sind (Markus u. Kitayama, 1998). Menschen in östlichen Kulturen neigen dagegen zu interdepen-
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denten Selbstkonstruktionen, indem sie sich selbst als untrennbar verbunden mit ihrem sozialen Kontext definieren, wobei das eigene Verhalten primär als Resultat sozialer Beziehungen aufgefasst wird. Dabei sind Sensitivität für unterschiedliche soziale Kontexte und folglich Variabilität im Verhalten grundsätzlich positiv bewertet (Markus u. Kitayama, 1998). Weiterhin konnten kognitive Unterschiede zwischen Personen aus westlichen (USA) und östlichen (z. B. China, Japan, Korea) Kulturkreisen im Wahrnehmen, Schlussfolgern, Erklären von Ursachen, Bilden von Begrifflichkeiten und dem Umgang mit Gegensätzen und zeitlichen Entwicklungen durch Laborexperimente aufgezeigt werden (vgl. Nisbett, 2004). – Verhaltensroutinen: Hierzu gehören Umgang mit Pünktlichkeit, Spezifika des Blickverhaltens, im Ausdruck von Emotionen, im Umgang mit räumlicher Distanz (Proxemik) oder Regeln im Hörer-Sprecher-Wechsel bei der Kommunikation. – Sprache: Dies umfasst die erworbene Muttersprache, aber auch die Bereitschaft, andere Sprachen zu erlernen, oder die Schwierigkeit oder Leichtigkeit, mit der eine spezifische andere Sprache erlernt werden kann (beispielsweise ist Holländisch ist für Deutsche leichter zu erlernen als Japanisch). Kommt es zu einer interkulturellen Begegnungssituation, so wird das Verhalten zweier Beteiligten A und B nicht nur bestimmt von ihren Werten, kognitiven Schemata, Verhaltensroutinen oder Sprachmöglichkeiten, sondern immer auch von den wechselseitigen Erwartungen und Bildern (z. B. Stereotype), die A und B generieren oder aktivieren. Weiterhin spielt auch die konkrete Situation eine wichtige Rolle; hierzu gehört zum Beispiel eine gemeinsam zu lösende Aufgabe oder der Organisationskontext, in dem die Interaktion zwischen A und B stattfindet. Der Organisationskontext kann interkulturellen Dialog erschweren oder fördern. In Anlehnung an das folgende Modell organisationaler Strategien zum Umgang mit Kulturvielfalt kann man verschiedene Organisationstypen unterscheiden. Das Zustandekommen wirklicher interkultureller Dialoge wird nur in der interkulturellen Organisation, entweder nach dem kulturellen Integrationsmodell oder nach dem kulturellen Synergiemo-
154 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza Tabelle 1: Organisationstypen im Hinblick auf Umgang mit kultureller Vielfalt (nach Sackmann, Bissels u. Bissels, 2002 mit Modifikationen nach Leenen u. Groß, 2007). Organisationstyp
Managementmodelle
Strategien
Erläuterung
monokulturelle Organisation
kulturelles Ignoranzmodell
Leugnung
Ignoranz kultureller Vielfalt (»Wir sind alle gleich.«)
kulturelles Vermeidungsmodell
Ausschluss
Minimierung von Kulturvielfalt, z. B. durch Personalauswahl (»Wir sind die Besten.«)
kulturelles Dominanzmodell
Unterdrückung
Unterdrückung von Unterschieden zugunsten dominanter Gruppen (»Unser Weg ist der einzig wahre Weg.«)
Anpassung
Anpassung »Andersartiger« an die dominante Gruppe (»Unser Weg ist der Beste.«)
Trennung
Bildung isolierter homogener Gruppen (»Die sind ganz anders als wir.«)
Toleranz
interaktionsarme Existenz gleichberechtigter Gruppen (»Unser Weg ist nicht der einzige.«)
kulturelles Kompromissmodell
Beziehungsbildung
Durch Interaktion und Beziehungsaufbau minimieren sich Unterschiede automatisch (»Die Wege sind gar nicht so verschieden.«)
kulturelles Integrationsmodell
wechselseitige Anpassung
Akzeptanz der Unterschiede und fördernde wechselseitige Anpassung (»Gemeinsam werden wir einen Weg finden.«)
kulturelles Synergiemodell
Schaffung einer neuen Kultur
Wertschätzung kultureller Eigenarten und Schaffung einer neuen gemeinsamen Kultur (»Gemeinsam können wir neue Wege gehen.«)
multikulturelle Organisation
kulturelles Separationsmodell
interkulturelle Organisation
Interkultureller Dialog in Organisationen
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dell, gefördert. Nur hier findet sich die den Dialog unterstützende Akzeptanz und Wertschätzung kultureller Vielfalt, die über das bloße Tolerieren oder Hinnehmen kultureller Unterschiede hinausgeht. Raum und Möglichkeit für eine intensive interkulturelle Zusammenarbeit sollten in Organisationen insbesondere Arbeitsgruppen oder Teams bieten. Darunter sind soziale Gebilde aus mehreren Personen zu verstehen, die gemeinsam zuständig sind für die Verrichtung einer Aufgabe oder für die Erreichung eines Zieles und dazu miteinander kooperieren sollen. Arbeitsgruppen werden in Organisationen gebildet, um Leistungen zu erbringen. Wie effektiv sind mehrkulturell zusammengesetzte Arbeitsgruppen? Zunächst kann man in Anlehnung an die bekannte Gruppeneffektivitätsformel von Steiner (1972) »Aktuelle Produktivität = Potenzielle Produktivität minus Prozessverluste« folgende Zusammenhänge annehmen (vgl. Adler, 1997): a) Die potenzielle Produktivität steigt, da die Gruppe aufgrund ihrer internationalen Zusammensetzung verstärkt auf unterschiedliche Erfahrungen, Ideen und Perspektiven zurückgreifen kann. b) Das Risiko von Prozessverlusten erhöht sich, weil die zunehmende Heterogenität einstellungsbezogene Probleme wie Misstrauen oder Antipathie, wahrnehmungsbedingte Probleme infolge der Aktivierung von Stereotypen sowie Kommunikationsprobleme verursachen kann. Damit ist Interkulturalität gleichzeitig von Vorteil und Nachteil. Ob sich letztlich die Vorteile oder aber die Nachteile durchsetzen, wird maßgeblich davon abhängen, wie die Gruppe im Sinne eines Heterogenitätsmanagements mit ihrer Heterogenität umgeht (vgl. Adler, 1997). Dies wirft die Fragen auf, worin ein gutes Heterogenitätsmanagement genau besteht und inwieweit dieses eigentlich in mehrkulturellen Arbeitsgruppen geleistet wird. Mittlerweile liegen Forschungsarbeiten zur Effektivität mehrkulturell zusammengesetzter Arbeitsgruppen vor, wobei deutlich wird, dass es ein komplexes Bedingungsgefüge unterschiedlicher Faktoren gibt, das die Effektivität mehrkultureller Arbeitsgruppen im Hinblick auf folgende drei Aspekte beeinflusst: 1. Integration kultureller Heterogenität benötigt Zeit und lernförderliche Rahmenbedingungen: In den ersten Phasen der Gruppen-
156 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza arbeit kann es in mehrkulturellen Gruppen zu weniger produktiven Gruppenprozessen und zu Leistungseinbußen gegenüber monokulturellen Gruppen kommen, unter günstigen Rahmenbedingungen wie Prozess- und Leistungsfeedback können diese Nachteile mit zunehmender Dauer des Gruppenbestehens aber aufgeholt werden (Watson, Kumar u. Michaelsen, 1993). Der notwendige Integrationsprozess und das Schaffen wesentlicher Gemeinsamkeiten wie eine von allen geteilte Auffassung des Kooperierens in der Gruppe sind in mehrkulturellen Gruppen schwieriger zu leisten. Dies gilt umso mehr, je stärker die Bewältigung der Gruppenaufgabe eine intensive und enge Zusammenarbeit der Gruppenmitglieder erfordert (McGrath, Berdahl u. Arrow, 1995). Dass Zeit allein nicht ausreicht, damit mehrkulturell zusammengesetzte Gruppen auf das Leistungsniveau monokultureller Gruppen gelangen, zeigt die Untersuchung von Thomas (1999), in der Gruppen untersucht wurden, die ohne Prozess- und Leistungsfeedback arbeiteten. Die monokulturellen Gruppen blieben hier gegenüber den mehrkulturellen Gruppen auch auf längere Sicht in der Leistung überlegen. 2. Quantität und Qualität kultureller Heterogenität: Angesichts der zweischneidigen Auswirkungen von kultureller Heterogenität auf Gruppeneffektivität, einerseits Steigerung der Gruppenressourcen durch unterschiedliche Sichtweisen und Verhaltensmöglichkeiten, andererseits Zunahme von Integrationsproblemen, liegt es nahe, ein optimales mittleres Niveau von Heterogenität anzunehmen und eine umgekehrt U-förmige Beziehung zwischen Heterogenität und Gruppeneffektivität zu postulieren. Das dem aber nicht so sein muss, demonstrierten Earley und Mosakowski (2000) in Feld- und Laboruntersuchungen: Gerade moderat heterogene Gruppen (z. B. binational zusammengesetzt) zeigten hier auf lange Sicht sowohl gegenüber stark heterogenen (multinational zusammengesetzt) als auch gegenüber homogenen Gruppen (z. B. mononational zusammengesetzt) schwächere Leistungen. Gerade die moderate Heterogenität einer binational zusammengesetzten Gruppe kann besonders schwierige und leistungshemmende Integrationsprobleme schaffen, da unproduktive Subgruppenbildungen hier besonders leicht erfolgen, was die Schaffung einer gemeinsamen Teamkultur erheblich erschwert.
Interkultureller Dialog in Organisationen
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3. Art der Gruppenaufgabe: Ein zentrales Ergebnis der Gruppeneffektivitätsforschung ist, dass Prozessverluste in Gruppen vom Typ der Gruppenaufgabe abhängen (Steiner, 1972). Nach Hambrick et al. (1998) ist es gerade im Hinblick auf das Verständnis mehrkultureller Arbeitsgruppen erforderlich, drei Aufgabentypen zu unterscheiden: Kreativitätsaufgaben, Problemlöseaufgaben und Koordinationsaufgaben. Diese Aufgabentypen stellen unterschiedliche Anforderungen an die Gruppe, beispielsweise kommt es bei den Koordinationsaufgaben auf eine intensive und gute abgestimmte Interaktion in der Gruppe an, bei den Kreativitätsaufgaben dagegen auf die Generierung vielfältiger Ideen. Hambrick et al. (1998) postulieren für unterschiedliche Kombinationen aus Aufgabentyp und Heterogenitätsart spezifische Auswirkungen auf die Gruppenleistung. Wie sollte Gruppenarbeit beschaffen sein, sodass dadurch nicht nur die Gruppenleistung, sondern auch ein produktiver interkultureller Dialog der Gruppenmitglieder gefördert wird? Die folgenden drei miteinander zu verknüpfenden Bedingungen scheinen hierfür nach den bisher vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen günstig zu sein: 1. Aufgabenrelevanz der Kulturunterschiede: Die kulturelle Vielfalt sollte erkennbare Vorteile für die Aufgabenbewältigung mit sich bringen, indem kulturelle Differenz mit einem Zuwachs an aufgabenrelevanten Kompetenzen (Fähigkeiten, Wissen …) einhergeht (Hambrick et al., 1998). Kulturelle Vielfalt wird so zu einer Ressource, die direkten Bezug zur Bewältigung der Gruppenaufgabe hat. Soll beispielsweise ein bestimmtes Produkt auf dem US-amerikanischen, chinesischen und deutschen Markt eingeführt werden und hierfür eine Projektgruppe gegründet werden, so sollte es für die Aufgabenbewältigung vorteilhaft sein, wenn die zur Projektgruppe gehörenden Fachspezialisten US-Amerikaner, Chinesen und Deutsche sind. Jedes Gruppenmitglied kann so neben seinem Fachwissen auch für die Aufgabenbewältigung nützliches kulturelles Wissen sowie kulturspezifische Fähigkeiten und andere Ressourcen (z. B. Sprache, Verhaltensstrategien, Kontakte) einbringen. Der Wert kultureller Vielfalt ist so für die Gruppenmitglieder direkt erlebbar und dies sollte Wertschätzung
158 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza für kulturbedingte Ressourcen wie Wissen, Vorgehensweisen oder Sprache sowie Wertschätzung für die Gruppenmitglieder, die diese Ressourcen besitzen, nach sich ziehen. Auch wenn dies noch nicht heißt, dass diese Ressourcen um ihrer selbst willen geschätzt werden, sondern zunächst lediglich auf der Grundlage ihres instrumentellen Wertes für die Erreichung eines Gruppenzieles, so sollte diese Werterfahrung doch ein gutes Fundament für die Aufnahme interkultureller Dialoge sein. 2. Kooperationserfordernisse: Die Bewältigung der Aufgabe sollte intensive Kooperationsmöglichkeiten schaffen. Wenn die Gruppenmitglieder weitgehend unabhängig voneinander arbeiten können, so schafft dies wenig Gelegenheit für interkulturellen Dialog und ein tieferes gegenseitiges Verstehen kann sich schwerlich einstellen. 3. Unterstützende Personalentwicklungsmaßnahmen: Bestimmte Aspekte kultureller Verschiedenheit können kulturellen Dialog behindern. So müssen die Gruppenmitglieder ausreichende Kenntnis in der Arbeitssprache der Gruppe haben, um miteinander vertieft ins Gespräch kommen zu können. Unterschiedliche Vorstellungen zur Art des Arbeitens in einer Gruppe (z. B. Konfliktaustragung vs. Konfliktvermeidung) können Irritationen und Verärgerungen hervorrufen, und so interkulturellen Dialog verhindern. Personalentwicklungsmaßnahmen können die Grundlage für interkulturellen Dialog verbessern (vgl. Stumpf, 2006), dies auf Individualebene (z. B. interkulturelles Training, Sprachschulungen) sowie auf Gruppenebene (z. B. Teamentwicklungsmaßnahmen). Nicht nur der Organisationskontext oder Gruppen als soziale Gebilde können interkulturellen Dialog fördern und hemmen, auch Merkmale des Individuums spielen hier eine Rolle. So lassen sich vier Akkulturationsstrategien (vgl. Berry, z. B. 2004) unterscheiden, die widerspiegeln, inwieweit Zuwanderer zum einen ihre eigenen kulturellen Wurzeln bewahren wollen, zum anderen bereit sind, auf Gruppen aus der ihnen fremden Aufnahmekultur zuzugehen. Die Akkulturationsstrategie der Integration, die eine Aufrechterhaltung der eigenen Kultur mit dem Zugehen auf die neue Kultur verbindet, passt am besten zu dem Grundprinzip des interkultu-
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rellen Dialogs. Psychologische Anpassung im Sinne einer Reduktion von Stress sowie soziokulturelle Anpassung im Sinne des Erlernens neuer kulturangemessener Verhaltensweisen gelingen mit dieser Integrationseinstellung am besten und intensive Kontakte zu Einheimischen, zum Beispiel im Sinne von Freundschaften, unterstützen die soziokulturelle und psychologische Anpassung (Ward, 1996). Die Bereitschaft zum interkulturellen Dialog wird weiterhin von den jeweiligen persönlichen Zielen der Organisationsmitglieder abhängen: Wird die Zusammenarbeit mit dem Angehörigen einer anderen Kultur nur aufgenommen, weil dies nur für die Erreichung des Gruppenzieles wichtig ist, so ist dies eine weniger günstige motivationale Bedingungskonstellation, als wenn diese Zusammenarbeit bewusst gesucht wird, um (auch) die eigene interkulturelle Kompetenz auszubauen. Interkulturelle Schwierigkeiten müssen dann nicht als lästige Störung erlebt werden, sondern können als Lernchance gesehen werden, wenn der Ausbau interkultureller Handlungskompetenz zum persönlichen Ziel wird.
3 PRO FIT: Ein Modellprojekt zur interkulturellen Qualifizierung der internationalen Studentenschaft einer Hochschule In der öffentlichen Meinung der letzten Jahre werden die Internationalisierungsanstrengungen deutscher Hochschulen gern als Erfolgsgeschichte dargestellt; steigende Zahlen ausländischer Studierender in Deutschland sowie die Zunahme von internationalen Austauschprogrammen und Abschlüssen scheinen dies auf den ersten Blick auch zu bestätigen. Doch die Quantität allein ist nicht ausschlaggebend, vielmehr kommt es auf die Qualität des interkulturellen Miteinanders an, die in der tatsächlich zustande kommenden Kooperation zwischen Studierenden mit unterschiedlichem Kulturhintergrund oder in den langfristigen Effekten internationaler Hochschulkooperation und des Personenaustauschs liegt. Qualitative Erfolgsmaßstäbe können besser Berücksichtigung finden, wenn Internationalisierungsprozesse vor dem Hintergrund neuer fruchtbarerer Perspektiven diskutiert werden. Solche Perspektiven liefern die internationale Austausch- und neuere Diver-
160 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza sityforschung sowie die interkulturelle Managementtheorie (vgl. Leenen, Scheitza u. Wiedemeyer, 2006). Aus der Diversity-Perspektive sind quantitative Mobilitätserfolge weniger relevant als vielmehr nachhaltig gelingende interkulturelle Austausch- und Kooperationsprozesse. Es geht nicht mehr um eine bessere »Betreuung« und »Integration« von Studierenden mit einem fremdkulturellen Hintergrund in der Organisation Hochschule, sondern um Synergieeffekte einer erfolgreichen Kooperation. Wie einführend dargestellt, wird zunehmende kulturelle Unterschiedlichkeit in einer Organisation nur zum Erfolgsfaktor werden, wenn bewusste, steuernde Managemententscheidungen und spezifische Qualifizierungsmaßnahmen Reibungsverluste begrenzen und Bedingungen für das Ausschöpfen der Potenziale einer kulturübergreifenden Zusammenarbeit schaffen. Internationalisierung ist also nur dann ein Gewinn für eine Hochschule, wenn kulturelle Diversität als strategische Ressource begriffen und systematisch erschlossen wird (vgl. Leenen u. Groß, 2007). Diese Grundidee war Ausgangspunkt eines vom DAAD geförderten Programms (Program for Intercultural Transfer and Development: PRO FIT), das der Forschungsschwerpunkt Interkulturelle Kompetenz an der Fachhochschule Köln in den Jahren 2005 und 2006 entwickelt und implementiert hat (vgl. www.interkulturelle-kompetenz.de). Das Programm beinhaltete: 1. die Entwicklung und Erprobung eines Qualifizierungsprogramms für Studierende zum Thema Interkulturalität/Internationalität an der Hochschule; 2. die Evaluation dieses Programms durch Teilnehmerbefragungen sowie qualitative Interviews mit den Workshopmoderatoren; 3. eine begleitende Diversity-Untersuchung, die versuchte, differenziertere Informationen über die Einschätzung des interkulturellen Arbeitsklimas an der Hochschule zu erhalten.
3.1 Zielgruppen, Inhalte und Aufbau des Qualifizierungsprogramms Ausdrückliches Ziel des Qualifizierungsprogramms war, alle Studierenden anzusprechen, die von internationalen Erfahrungen im Studium und späteren Beruf profitieren wollen, also sowohl deut-
Interkultureller Dialog in Organisationen Phase
Einstiegsphase
Titel des Bausteins
zentrale Themen
Herausforderung eines Auslandsaufenthaltes
· Vorerwartung bei Auslandsaufenthalten · Anpassungsstress, Kultur und Kulturkontakt · Verlaufsformen von Anpassung · Themen und Felder der Bewältigung · Kultur und Sprache · Bewältigungsstrategien
gemeinsam Studieren im Ausland
· Kulturkontakt und seine Folgen · Studienorganisation · soziale Kontakte an der Hochschule · Kulturstandards · Arbeitskontakte zu Dozenten/ innen · Lehr- und Lernstile
Zusammenarbeit in multikulturellen Teams
· multikulturelle Teamarbeit im Studium · Potentiale und Schwierigkeiten multikultureller Teams · Bedingungen der Erschließung multikultureller Synergie in Teams
während des Studiums
Ausstiegsphase
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internationale Berufsbiographie/ internationale Kooperation
· Rückkehrerwartungen und Reentry schock · Rückblick: Potentiale bewerten · Vernetzungsmöglichkeiten anregen · Internationalisierung der eigenen Berufsbiographie
Abbildung 1: Aufbau des Programms PRO FIT
sche Studierende mit Auslandserfahrung (bzw. mit dem Vorhaben eines Auslandsaufenthaltes) als auch ausländische Gaststudenten und auch Studierende mit Migrationshintergrund (mit deutschem bzw. nichtdeutschem Pass). Das Programm sollte es diesen Studierenden erlauben, mehr über die inzwischen vorliegenden wissenschaftlichen Ergebnisse zum Thema »internationale Austauschprozesse und ihre Folgen« zu erfahren, als auch vom Austausch ihrer
162 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza eigenen Erfahrungen mit Differenzbewältigung und Anpassungsvorgängen profitieren zu können. Ziel war, den Studierenden die Möglichkeit zu geben, ihre Erfahrungen in internationalen Begegnungs- und Austauschprozessen besser zu nutzen, solche Erfahrungen unter professioneller Anleitung analysieren, reflektieren und einordnen zu können und damit für den interkulturellen Dialog in der Organisation fruchtbar zu machen. Das Qualifizierungsprogramm »PRO FIT« besteht aus vier aufeinander abgestimmten Bausteinen in Form zweitägiger Workshops, die sich am Verlauf des Studiums orientieren (siehe Abbildung 1). Das methodische Konzept des Qualifizierungsprogramms zielt auf eine abgestimmte Kombination von erfahrungsorientierten Workshopeinheiten (z. B. Simulationen, Anknüpfung an biographische Erfahrungen der Teilnehmenden) und anschaulich aufbereiteten Instruktionselementen (z. B. Trainingsfilme zu kritischen interkulturellen Ereignissen). Zur Implementierung des Programms wurde aus interessierten und engagierten Hochschullehrern ein Multiplikatorenteam geformt. Das Angebot für die Multiplikatoren/innen umfasste mehrtätige Einweisungs- und Informationsveranstaltungen sowie ein begleitendes Online-Angebot mit Lehr- und Lernmaterialien auf einer virtuellen Lernplattform. Darüber hinaus wurden jeweils eintägige Qualitätszirkel zu den vier Workshoptypen angeboten, die die Funktion hatten, positive und negative Erfahrungen bei der Durchführung der Workshops im Moderatorenkreis zu reflektieren, vor diesem Hintergrund Verbesserungsideen zu erarbeiten und das Design der einzelnen Workshops weiterzuentwickeln.
3.2 Bewertung der Workshopreihe seitens der Teilnehmer An den Workshops des PRO FIT-Programms nahmen 188 Studierende der FH Köln und im Rahmen einer Hochschulkooperation 22 Studierende der Universität Bayreuth teil, so dass Rückmeldungen von insgesamt 210 Teilnehmern ausgewertet werden konnten. 71 Teilnehmer waren deutscher Herkunft, 139 Teilnehmer gaben an, nicht aus Deutschland zu stammen. Im Anschluss an die Workshops wurden die Teilnehmer gebeten, unterschiedliche Aspekte des
Interkultureller Dialog in Organisationen
163
Workshops anhand einer fünfstufigen Likert-Skala (von 1 = sehr gut bis 5 = mangelhaft) zu bewerten. Tabelle 2 führt die Mittelwerte der in der Workshopevaluation abgefragten Aspekte auf. Es ist zu erkennen, dass diese ausnahmslos ausgesprochen positiv bewertet wurden, was dafür spricht, dass das gesamte Qualifizierungsprogramm in Inhalt und Form einen studentischen Bedarf getroffen hat. Die Daten lassen für keinen der vier Workshops einen entscheidenden Unterschied in der Beurteilung erkennen. Ausländische und deutsche Teilnehmer unterschieden sich weitgehend nicht in der Bewertung der verschiedenen Workshopaspekte: Signifikante Unterschiede zeigten sich lediglich zum einen hinsichtlich der Verständlichkeit der Inhalte (Mittelwert für ausländische Studierende bei 1,83, für deutsche Studierende bei 1,49), wofür vermutlich sprachliche Unsicherheiten aufseiten der nichtdeutschen Workshopteilnehmer verantwortlich sind. Zum anderen wird das Klima in der Lerngruppe von den ausländischen Teilnehmern mit einem Mittelwert von 1,55 etwas negativer beurteilt als von den deutschen Studierenden mit einem Mittelwert von 1,35, was allerdings bei einer Bewertung im Bereich zwischen »sehr gut« und »gut« nicht als schwerwiegender Unterschied zu interpretieren ist. Obwohl im Durchschnitt immer noch besser als »gut« befunden, drückt sich beim »subjektiv eingeschätzten Lernerfolg« noch am ehesten eine gewisse Vorsicht aus. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass die Workshops von der »normalen« Vermittlung fachlicher Inhalte abweichen und eher auf Förderung der Reflexivität und Persönlichkeitsentwicklung der Studierenden setzen. Möglicherweise empfanden die Teilnehmer auch eine Beurteilung der Umsetzung der Workshopinhalte direkt im Anschluss an die Veranstaltung noch als verfrüht. Tabelle 2: Bewertung der Workshops im Programm PRO FIT Bewertung bezüglich …
WS 1
WS 2
WS 3
WS 4
Gesamt
Lernklima
1,41
1,56
1,55
1,30
1,50
Lerntempo
1,77
1,67
1,97
1,65
1,79
Verständlichkeit der Inhalte
1,70
1,67
1,71
1,56
1,66
164 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza Bewertung bezüglich …
WS 1
WS 2
WS 3
WS 4
Gesamt
eingesetzter Methoden und Medien
1,59
1,48
1,65
1,52
1,54
inhaltlich-fachlicher Kompetenz der Trainer
1,36
1,30
1,28
1,41
1,32
methodischer Kompetenz der Trainer
1,48
1,44
1,42
1,30
1,41
Zusammenarbeit der Trainer
1,27
1,56
1,34
1,26
1,30
praktischer Relevanz des Workshops
1,82
1,67
1,83
1,62
1,74
subjektiv eingeschätztem Lernerfolg
2,07
1,93
2,02
1,77
1,96
3.3 Interkultureller Dialog an der Hochschule? Ergebnisse einer Diversity-Befragung Die Förderung der Internationalisierung ist erklärtes Ziel deutscher Hochschulen; wie die Studierenden jedoch das interkulturelle Arbeitsklima an der Hochschule einschätzen, ist eine gänzlich andere Frage, zu der bislang kaum verlässliche Informationen vorlagen. Begleitend zur Durchführung des Qualifizierungsprogramms wurden Studierende der Fachhochschule Köln daher zu folgenden Aspekten kultureller Diversität in Zusammenhang mit ihrem Hochschulstudium befragt: − Zufriedenheit im Arbeitszusammenhang Hochschule (z. B. bezüglich der Zusammenarbeit mit Dozenten und Kommilitonen). − Wahrnehmung kultureller Differenzen im Arbeitszusammenhang Hochschule und Einschätzung der Überwindbarkeit dieser Differenzen. − Qualität der interkulturellen Zusammenarbeit an der Hochschule. − Ausreichende Vorbereitung an der Hochschule auf die Herausforderungen multikultureller Zusammenarbeit. Die Beantwortung der Fragen erfolgte mittels fünfstufiger LikertSkalen. An der Untersuchung nahmen die 188 Teilnehmer der an
Interkultureller Dialog in Organisationen
165
der FH Köln durchgeführten PRO FIT-Workshops teil, die den Fragebogen jeweils nach der Teilnahme am Workshop ausfüllten. Daneben wurden weitere 179 Studierende der Fachhochschule Köln befragt, die nicht an Workshops des PRO FIT-Programms teilgenommen hatten (Kontrollgruppe). Insgesamt gab von den 367 Befragten gut die Hälfte (52,1 %) Deutschland als Herkunftsland an. Studierende aus Mittel- und Osteuropa/Zentralasien (14,4 %) sowie aus Asien (11,3 %) bildeten die größten Gruppen innerhalb der Befragten nichtdeutscher Herkunft. Weitere Befragte stammten aus Afrika (7,9 %), aus nordafrikanischen und arabischen Ländern (6,5 %), aus Lateinamerika (5,4 %) und aus westlichen Industrieländern (2,3 %). Insgesamt ließen die Antworten der Befragten ein hohes Niveau der Zufriedenheit mit ihrer Situation an der Hochschule erkennen. Die mittleren Antworttendenzen zu den Einstellungsaspekten lagen allesamt im positiven Bereich. Um festzustellen, ob alle Studierende das Diversitätsklima an der Hochschule gleichermaßen positiv wahrnehmen, wurden die Mittelwertsunterschiede zwischen deutschen und ausländischen Studierenden einerseits und zwischen Studierenden, die an PRO FIT-Workshops teilgenommen beziehungsweise nicht teilgenommen hatten, auf ihre statistische Signifikanz überprüft. Dabei zeigten sich zu einzelnen Aspekten relevante Wahrnehmungs- und Einstellungsunterschiede. Auf die Frage nach der generellen Zufriedenheit mit dem Studium an der Hochschule gaben beispielsweise die Teilnehmer der PRO FIT-Workshops eine tendenziell positivere Einschätzung ab als die Befragten der Kontrollgruppe (Ko). Die Workshops sprachen also entweder eher Studierende an, die sich an der Hochschule wohlfühlen, oder aber sie trugen selbst zu deren Zufriedenheit bei. Ausländische Workshopteilnehmer zeigten sich dabei etwas zufriedener beziehungsweise weniger kritisch als Studierende deutscher Herkunft. Die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Akteuren der Hochschule wird von den Studierenden recht uneinheitlich bewertet. Am kritischsten wird die Zusammenarbeit mit den Dozenten betrachtet (Mittelwert: 2,41). Studierende, die nicht an PRO FIT-Workshops teilgenommen haben, urteilten statistisch signifikant kritischer als die sonstigen Befragten. Auch waren die »ausländischen« Studie-
166 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza renden in beiden Gruppen wieder signifikant milder in ihrem Urteil als Studierende aus Deutschland. In den folgenden in Abbildung 2 dargestellten Grafiken geben die Ziffern die Mittelwerte an, die Säulen beschreiben die Streuung der Werte um den Mittelwert (Standardabweichung). Die wichtigsten Ergebnisse werden im Text erläutert. Fragt man nach der Zusammenarbeit mit Kommilitonen deutscher Herkunft (siehe Grafik 1), so urteilten die deutschen signifikant positiver als die ausländischen Studierenden, wobei die Workshop-Teilnehmer mit nichtdeutscher Herkunft die Zusammenarbeit noch skeptischer sahen. Interessanterweise sahen auch die deutschen Teilnehmer der Workshops diese Zusammenarbeit signifikant kritischer als die deutsche Kontrollgruppe. Ein Vergleich der Antworten auf die Frage nach der Zusammenarbeit mit Kommilitonen deutscher (Grafik 1) beziehungsweise nichtdeutscher Herkunft (Grafik 2) zeigt eine auffällige Tendenz zum Kulturzentrismus: Sowohl deutsche Studierende als auch Studierende mit nichtdeutscher Herkunft bewerten durchgängig die Zusammenarbeit mit »ihrer« Gruppe besser. Diese Bewertung lässt vermuten, dass kulturelle Unterschiedlichkeit von vielen Studierenden eher als Last, denn als Chance begriffen wird. Auf die Frage, ob sie sich als gleichwertiges Mitglied der Hochschule fühlen, geben die deutschen Studierenden der Kontrollgruppe deutlich die positivsten Bewertungen ab (siehe Grafik 3). Signifikant skeptischer urteilen diesbezüglich alle ausländischen Studierenden. Es gibt an der Hochschule also eine grundsätzliche Differenzwahrnehmung: Ausländische Studierende fühlen sich ganz eindeutig weniger gleichwertig! Die deutschen Workshopteilnehmer scheinen sich eher mit ihren ausländischen Kommilitonen zu identifizieren beziehungsweise deren Einschätzung zu teilen. Nach diesen Befunden ist es nicht weiter überraschend, dass von allen Teilnehmern der Befragung Verhaltensunterschiede zwischen deutschen und nichtdeutschen Studierenden wahrgenommen werden (siehe Grafik 4). Allerdings gibt es auch in der Differenzwahrnehmung wiederum Unterschiede: In der Kontrollgruppe erweisen sich die ausländischen Studierenden als signifikant sensibler für kulturelle Unterschiede als ihre deutschen Kommilitonen. Eine noch deutlich höhere Sensibilität weisen die Teilnehmer der Work-
Interkultureller Dialog in Organisationen
167
shops auf: Sie stimmen der Aussage »Deutsche und ausländische Studierende verhalten sich nach unterschiedlichen Regeln« signifikant häufiger zu als Studierende, die keine Veranstaltung des PRO FIT-Programms besucht haben. Auf die Frage nach der grundsätzlichen Überwindbarkeit kultureller Fremdheit – erfasst durch die Bewertung der Aussage »Menschen aus verschiedenen Kulturen werden nur selten echte Freunde« – zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen Workshopteilnehmern und Kontrollgruppe sowie innerhalb der Kontrollgruppe (siehe Grafik 5): Studierende deutscher und ausländischer Herkunft unterscheiden sich in ihrer Einschätzung signifikant; bei Letzteren findet die Aussage deutlich mehr Zustimmung. Ähnlich skeptisch reagieren die deutschen und ausländischen Workshopteilnehmer. Aus den beiden letzten Einschätzungen wird erkennbar, dass sich deutsche Studierende, die nicht am Qualifizierungsprogramm teilgenommen haben, kultureller Unterschiedlichkeit wie auch der Herausforderungen, die sich daraus ergeben, weniger gewahr zu sein scheinen. Es liegt auf der Hand, dass diese eher naive Sichtweise mit einem Mangel an eigenen interkulturellen Erfahrungen zu tun haben könnte. Auch in der Beurteilung der Qualität der interkulturellen Zusammenarbeit an der Hochschule nimmt die Gruppe der deutschen Studierenden, die nicht am Qualifizierungsprogramm teilgenommen hat, eine Sonderrolle ein. Die Aussage »Deutsche und ausländische Studierende gehen sich an der Hochschule aus dem Weg« fragt nach einer grundlegenden Voraussetzung gelingender Zusammenarbeit, nämlich nach sozialen Kontakten zwischen deutschen und ausländischen Studierenden. Die deutsche Kontrollgruppe schätzt das Miteinander der Studierenden unterschiedlicher Herkunft diesbezüglich auffällig positiver ein und bestätigt damit die Vermutung einer gewissen interkulturellen Unsensibilität. Selbst wenn man die kritischeren deutschen Workshopteilnehmer einbezieht, stimmen signifikant mehr ausländische als deutsche Studierende der genannten Aussage zu (siehe Grafik 6). Ebenfalls signifikant kritischer fällt das Urteil der Workshopteilnehmer im Vergleich zu den Befragten der Kontrollgruppe aus. Die ausländischen Workshopteilnehmer bilden mit der kritischsten Sicht den Gegenpol zur deutschen Kontrollgruppe.
168 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza 5
sehr unzufrieden
4 3 2
2,24
2,46 2,1
2,39 1,98 sehr zufrieden
1 insgesamt
dt. WSTeilnehmer
ausl. WSTeilnehmer
dt. Studierende (Ko)
ausl. Studierende (Ko)
Grafik 1: Zufriedenheit hinsichtlich der Zusammenarbeit mit deutschen KommilitonInnen 5
sehr unzufrieden
4 3 2
2,07
2,26 1,87
2,09
2,21 sehr zufrieden
1 insgesamt
dt. WSTeilnehmer
ausl. WSTeilnehmer
dt. Studierende (Ko)
ausl. Studierende (Ko)
Grafik 2: Zufriedenheit hinsichtlich der Zusammenarbeit mit »ausländischen« KommilitonInnen 5
gar nicht
4 3 2
2,19
2,3
insgesamt
dt. WSTeilnehmer
2,35
2,34 1,92 völlig
1 ausl. WSTeilnehmer
dt. Studierende (Ko)
ausl. Studierende (Ko)
Grafik 3: Gefühl, ein gleichwertiges Mitglied der Hochschule zu sein 5
Ablehnung
4
3,03
3
2,52 2
2,21
2,21
dt. WSTeilnehmer
ausl. WSTeilnehmer
2,82
Zustimmung
1 insgesamt
dt. Studierende (Ko)
ausl. Studierende (Ko)
Grafik 4: Wahrnehmung kultureller Differenz
Abbildung 2: Ergebnisse der Diversitätsbefragung (Ko = Kontrollgruppe)
Interkultureller Dialog in Organisationen 5 4
169
Ablehnung
4,26
3,92
3,8
3,7
insgesamt
dt. WSTeilnehmer
ausl. WSTeilnehmer
3,78
3 2
Zustimmung
1 dt. Studierende (Ko)
ausl. Studierende (Ko)
Grafik 5: Einschätzung der schweren Überwindbarkeit von Differenzen 5
Ablehnung
4 3
3,78 3,33
3,22
3,3
2,96
2
Zustimmung
1 insgesamt
dt. WSTeilnehmer
ausl. WSTeilnehmer
dt. Studierende (Ko)
ausl. Studierende (Ko)
Grafik 6: Einschätzung der interkulturellen Zusammenarbeit an der Hochschule (1): »Deutsche und ausländische Studierende gehen sich an der Hochschule aus dem Weg« 5
Ablehnung
4 3 2
2,23
2,38
insgesamt
dt. WSTeilnehmer
2,51 1,88
2,16 Zustimmung
1 ausl. WSTeilnehmer
dt. Studierende (Ko)
ausl. Studierende (Ko)
Grafik 7: Einschätzung der interkulturellen Zusammenarbeit an der Hochschule (2): »Das Klima zwischen deutschen und ausländischen Studierenden an der Hochschule ist gut« 5
Ablehnung
4
3,03
3
2,52 2
2,21
2,21
dt. WSTeilnehmer
ausl. WSTeilnehmer
2,82
Zustimmung
1 insgesamt
dt. Studierende (Ko)
ausl. Studierende (Ko)
Grafik 8: Einschätzung der interkulturellen Zusammenarbeit an der Hochschule (3): »Deutsche und ausländische Studierende arbeiten an der Hochschule eng und häufig zusammen«
170 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza Das gleiche Muster findet sich in den Einschätzungen des sozialen Klimas zwischen den kulturellen Gruppen: Das soziale Klima wird von den deutschen Studierenden (im Vergleich zu denen nichtdeutscher Herkunft) ebenso wie von den Befragten der Kontrollgruppe (im Vergleich zu den Workshopteilnehmern) signifikant positiver eingeschätzt (siehe Grafik 7). Die ausländischen Workshopteilnehmer äußern sich skeptisch beziehungsweise zeigen sich in ihrer Wahrnehmung besonders empfänglich für die Schwierigkeiten kultureller Diversität, während die deutschen Befragten der Kontrollgruppe durch fehlende Problemwahrnehmung auffallen. In die gleiche Richtung gingen auch die Reaktionen auf die Aussage »Deutsche und ausländische Studierende arbeiten an der Hochschule eng und häufig zusammen« (Grafik 8), auf die wiederum die Studierenden nichtdeutscher Herkunft und die Workshopteilnehmer skeptischer, die deutschen Studierenden der Kontrollgruppe jedoch signifikant positiver reagierten.
4 Interkultureller Dialog in der Hochschule und in anderen Organisationen Auch wenn in den im vorhergehenden Abschnitt ausschnittsweise vorgestellten studentischen Befragungsergebnissen die Internationalität der Hochschule im Großen und Ganzen positiv eingeschätzt wird, so sind doch unverkennbar Anzeichen dafür gegeben, dass es mit dem interkulturellen Dialog an der Hochschule noch nicht zum Besten bestellt ist. Deutlich zeigte sich die Tendenz, dass ausländische Studierende mit dem Status quo weniger zufrieden sind als ihre deutschen Kommilitonen. Berücksichtigt man, dass viele ausländische Befragte aus Kulturen stammen, in denen es anders als in Deutschland nicht üblich ist, Kritik derart offen und direkt zu kommunizieren, so ist zu befürchten, dass die tatsächlichen Bewertungen der interkulturellen Kooperation an der Hochschule noch weiter auseinanderliegen, als die statistischen Werte es zeigen. Die in den vorliegenden Daten statistisch signifikanten Unterschiede weisen allerdings darauf hin, dass die Organisation Hochschule eher durch ein Nebeneinander der kulturellen Gruppen, also nach der einleitenden Modelldiskussion in Abschnitt 1 als eine »multikultu-
Interkultureller Dialog in Organisationen
171
relle Organisation« mit kaum ausgeprägtem interkulturellem Dialog zu charakterisieren ist, bei der kulturelle Separation oder Kompromissbildung vorherrschen. Erkennbar ist vor allem, dass die Mehrheit der deutschen Studierenden, die noch nicht über eigene interkulturelle Erfahrungen verfügen und sich auch noch nicht mit den Herausforderungen und Chancen interkultureller Zusammenarbeit befasst haben, derzeit wenig zu einem produktiven Umgang mit Diversität an der Hochschule beitragen können. Sie sehen »diversitätsblind« über die Schwierigkeiten ihrer ausländischen Kommilitonen hinweg, neigen dazu, das interkulturelle Klima an der Hochschule zu beschönigen, und wissen offenbar auch grundsätzlich nur wenig über die Schwierigkeiten, mit denen sich multikulturelle Arbeitsgruppen herumplagen müssen. Entsprechende Untersuchungen stehen zwar noch aus, es ist aber zu befürchten, dass die vorrangig deutschstämmigen Hochschulmitarbeiter in Lehre, Forschung und Verwaltung eine vergleichbare Sichtweise von der Internationalisierung der Hochschule haben. Nicht nur solche »Diversitätsorientierungen« (vgl. Leenen et al., 2006, S. 140 ff.) schränken die Möglichkeiten ein, den interkulturellen Dialog als eine der zentralen Zukunftsaufgaben der Hochschule zu intensivieren: Bei der Umsetzung des PRO FIT-Programms zeigte sich auch die Schwierigkeit, dass nur vergleichsweise wenige Dozenten an einer Hochschule professionell interkulturelle Lernprozesse anleiten können, also auch das Reservoir an Kompetenzen für eine stärkere Diversitätsorientierung begrenzt ist. Welche Transferüberlegungen lassen sich aus diesen Ergebnissen für andere Organisationen und für das Zusammenspiel der Hochschule mit anderen Organisationen ableiten? Unsere Ergebnisse spiegeln zunächst einmal die Bedingungen wider, die für die Arbeit an deutschen Hochschulen derzeit typisch sind. Die kulturelle Vielfalt steigt gegenwärtig sowohl aus demographischen Gründen als auch aus Gründen einer bewussten Internationalisierungspolitik rasant. Die organisatorischen Rahmenbedingungen und auch das Bewusstsein der Hauptakteure spiegeln allerdings ganz überwiegend (noch) eine multikulturelle und in bestimmter Hinsicht sogar eine monokulturelle Organisation (siehe Abschnitt 2) wider, in die sich andere Arbeits- und Lernstile zu integrieren haben. Eine hohe kulturelle Vielfalt ist zwar vorhanden, da die Organisationsmitglieder aus unterschiedlichs-
172 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza ten Herkunftsländern kommen, doch wird diese Vielfalt eher in Form eines friedlichen Nebeneinanders unterschiedlicher kultureller Gruppierungen gelebt, nicht aber als intensives Miteinander, das interkulturellen Dialog befördern würde. In Abschnitt zwei wurde ausgeführt, dass einerseits aufgabenbedingte hohe Kooperationserfordernisse interkulturellen Dialog anregen und dass andererseits unterstützende Personalentwicklungsmaßnahmen wie interkulturelle Trainings zum Erfolg und damit auch zur Stabilisierung des interkulturellen Dialogs beitragen. Beide Bedingungen sind während eines Studiums gegenwärtig nur eingeschränkt realisiert: Im Studium werden überwiegend Einzelleistungen erwartet, was eher zur Ko-Aktion statt zur Inter-Aktion führt. Interkulturelle Trainings und andere interkulturellen Dialog unterstützende Personalentwicklungsmaßnahmen sind sowohl für Studierende als auch für Lehrende eher die Ausnahme als die Regel. Internationalität wird somit deklaratorisch hoch bewertet, aber im Arbeitsalltag nicht wirklich praktiziert. Multikulturalität wird mit Diversität und tatsächlicher interkultureller Kooperation verwechselt. Diese Tendenz lässt sich auch bei anderen Organisationen und Unternehmen beobachten: Die gestiegene multikulturelle Zusammensetzung der Mitarbeiterschaft findet in den Strukturen und Abläufen von Organisationen keinen Niederschlag (vgl. Leenen et al., 2006). Mittelständische Unternehmen, die ihre Tätigkeiten im Zuge von Globalisierungsprozessen internationalisieren, lernen mitunter schmerzhaft die Bruchstellen interkultureller Zusammenarbeit kennen. Das PRO FIT-Programm hat gezeigt, dass Qualifizierungsprogramme zur Verbreitung eines gewissen Problembewusstseins und damit zu einer wichtigen Voraussetzung für erfolgreichere interkulturelle Zusammenarbeit beitragen können. In jeder Organisation wird sich ein fruchtbarer interkultureller Dialog aber nur dann etablieren lassen, wenn ein breiter angelegtes »Diversity Management« beziehungsweise ein interkulturelles Personalmanagement modernen Typs (vgl. Blom u. Meier, 2004, S. 238) installiert wird, das kulturelle Vielfalt in der Organisation grundsätzlicher als eine strategische Ressource betrachtet. In einem solchen Change-Management-Prozess wären im Sinne der Idee einer »lernenden Organisation« konsequent alle Bereiche einer Organisation mit einzubeziehen. Interkultureller Dialog in einer Organisation ist somit
Interkultureller Dialog in Organisationen
173
ein anspruchsvolles Ziel, das nicht ohne Anstrengung und nur mit einem »langen Atem« realisiert werden kann. Die damit verbundenen Chancen, die in der Qualität und den Ergebnissen der Zusammenarbeit ebenso zu sehen sind wie in der Persönlichkeitsentwicklung der in der Organisation arbeitenden Menschen, sind dieser Anstrengung allemal wert.
Literatur Adler, N. J. (1997). International dimensions of organizational behavior (3rd ed.). Cincinnati, Ohio: South-Western College Publishing. Berry, J. W. (2004). Fundamental psychological processes in intercultural relations. In D. Landis, J. M. Bennett, M. J. Bennett (Eds.), Handbook of intercultural training (3rd ed.) (pp. 166–184). Thousand Oaks: Sage. Blom, H., Meier, H. (2004). Interkulturelles Management (2. Aufl.). Herne: nwb. Buber, M. (1995). Ich und Du. Ditzingen: Reclam. Earley, C., Mosakowski, E. (2000). Creating hybrid team cultures: An empirical test of transnational team functioning. Academy of Management Journal, 43 (1), 26–49. Hambrick, D. C., Davison, S. C., Snell, S. A., Snow, C. C. (1998). When groups consist of multiple nationalities: Towards a new understanding of the implications. Organization studies, 19 (2), 181–205. Hofstede, G. (1997). Lokales Denken, globales Handeln. Kulturen, Zusammenarbeit und Management. München: dtv. Kutschera, F. von (2000). Die großen Fragen. Philosophisch-theologische Gedanken. Berlin: de Gruyter. Leenen, R., Groß, A. (2007). Internationalisierung aus interkultureller Sicht: Diversitätspotenziale der Hochschule. In M. Otten, A. Scheitza, A. Cnyrim (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz im Wandel. Band 2: Ausbildung, Training und Beratung (S. 185–214). Frankfurt a. M.: IKO. Leenen, R., Scheitza, A., Wiedemeyer, M. (2006). Diversität nutzen. Münster u. a.: Waxmann. Markus, H. R., Kitayama, S. (1998). The cultural psychology of personality. Journal of Cross-Cultural Psychology, 29 (1), 63–87. McGrath, J. E., Berdahl, J. L., Arrow, H. (1995). Traits, expectations, culture and clout: The dynamics of diversity in work groups. In S. E. Jackson, M. N. Ruderman (Eds.), Diversity in work teams. Research paradigms for a changing workplace (pp. 17–45). Washington, DC: American Psychological Association.
174 Siegfried Stumpf, Wolf Rainer Leenen und Alexander Scheitza Nisbett, R. E. (2004). The geography of thought. How Asians and Westerners think differently … and why. New York: Free Press. Sackmann, S., Bissels, S., Bissels, T. (2002). Kulturelle Vielfalt in Organisationen: Ansätze zum Umgang mit einem vernachlässigten Thema der Organisationswissenschaften. Die Betriebswirtschaft (DBW), 62, 43–58. Schwartz, S. H. (1994). Are there universal aspects in the structure and contents of human values? Journal of Social Issues, 50 (4), 19–45. Steiner, I. D. (1972). Group process and productivity. New York: Academic Press. Stumpf, S. (2006). Interkulturalität in der Personal-, Team- und Organisationsentwicklung. Gruppendynamik und Organisationsberatung, 37 (1), 33–49. Thomas, A. (1993). Psychologie interkulturellen Lernen und Handelns. In A. Thomas (Hrsg.), Kulturvergleichende Psychologie. Eine Einführung (S. 377–424). Göttingen: Hogrefe. Thomas, D. C. (1999). Cultural diversity and work group effectiveness. Journal of Cross-Cultural Psychology, 30 (2), 242–263. Ward, C. (1996). Acculturation. In D. Landis, R. S. Bhagat (Eds.), Handbook of intercultural training (2nd ed.) (pp. 124–147). Thousand Oaks: Sage. Watson, W. E., Kumar, K., Michaelsen, L. K. (1993). Cultural diversity’s impact on interaction process and performance: Comparing homogeneous and diverse task groups. Academy of Management Journal, 36 (3), 590–602. Watzlawick, P., Beavin, J. H., Jackson, D. D. (1990). Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien (8. unveränd. Aufl.). Bern: Verlag Hans Huber.
Sylvia Schroll-Machl
Interkultureller Dialog als wirtschaftlicher Erfolgsfaktor
Wenn man sich vor Augen hält, dass mit der Globalisierung gerade eine neue Modewelle der Industriegeschichte ins Rollen gekommen ist und im Grunde schon alle Branchen in irgendeiner Weise erfasst hat, und wenn man sich des Weiteren bewusst macht, dass hierbei eine Menge an Kulturunterschieden berücksichtigt sein wollen (Thomas, 2001 ff.), liegt auf der Hand, dass zur Bewältigung all der vorhandenen Herausforderungen dem interkulturellen Dialog zwischen den beteiligten Wirtschaftspartnern eine Schlüsselposition zufällt. An dieser Stelle sei nicht die seit Jahren geführte und publizierte Diskussion um die Basics der »interkulturellen Kompetenz«, der Grundlage für den interkulturellen Dialog, nochmals wiederholt (vgl. Chhokar, Brodbeck u. House, 2007; House, Hanges, Javidan, Dorfman u. Gupta, 2005; Thomas, Kinast u. Schroll-Machl, 2005; Thomas, Kammhuber u. Schroll-Machl, 2007). Es wird vielmehr anhand eines Fallbeispiels konkret gezeigt, wie vielschichtig dieser Dialog zu sein hat und wie sehr von seinem Vorhandensein und Gelingen Erfolg oder Misserfolg abhängen. »Wer einen Dialog führen will und soll, muss aufnahmebereit sein für das, was der Partner zu sagen hat, muss zuhören können und muss selbst etwas zu sagen haben. Dazu bedarf es eines Mindestmaßes an Wissen, Kenntnissen und Erfahrungen, einer ausreichenden Motivation zum Dialog und der verlässlichen Erwartung, dass der Dialog zu etwas führt, was bereichernd, bestärkend und bestätigend zu wirken verspricht« (Thomas, 2007, S. 1). So können die Postulate für einen interkulturellen Dialog kurz und knapp zusammengefasst werden (vgl. Thomas in diesem Band). Was bedeutet das nun konkret im Alltag der Wirtschaftswelt? Eines Morgens eine Schlagzeile in einer Provinzzeitung: »Unternehmen Mustermann von Insolvenz bedroht«. Deutschlandweit erzeugt sie zwar
176 Sylvia Schroll-Machl keine große Aufregung, wohl aber am Ort, wo Mustermann ansässig ist und viele jemanden kennen, der bei Mustermann arbeitet oder gearbeitet hat. Am selben Morgen erwacht Herr Müller, ebenfalls in der Provinz, nur etwas weiter entfernt, irgendwo in Südosteuropa. Eigentlich erwacht er nicht, er steht nur auf, denn richtig schlafen kann er seit Wochen nicht mehr. Er ist Werksleiter in Irgendwo bei der Firma Mustermann. Er hat als Expatriate das Werk dort vor über einem Jahr aufzubauen begonnen. Doch es hat das Audit des Großkunden nicht bestanden. Ob das Werk noch zu retten ist, ist im Moment ein großes Fragezeichen. Um es kurz zu machen: Mustermann ist eine angesehene Firma in den Augen vieler – der Kunden, der Mitarbeiter, der Bevölkerung der Region. Mustermann hatte viele Aufträge und prosperierte, doch der Wettbewerb in der Branche verschärfte sich spürbar. Deshalb sahen sich Vorstand und Banker gezwungen, die Produktionsverlagerung für ein wichtiges Produkt in ein Niedriglohnland zu erwägen. Eine Arbeitsgruppe sammelte Infos über potenzielle Standorte, erstellte Kalkulationen und Zeitpläne, diskutierte diverse Alternativen. Die Entscheidung fiel auf Irgendwo und Herr Müller wurde aufgrund seiner Erfahrungen als Produktionsingenieur gefragt, ob er dort die Position des Werksleiters übernehmen würde. Herrn Müller wurden zwei erfahrene Mitarbeiter zur Seite gestellt und dann sollte er bereits im nächsten Monat nach Irgendwo umziehen, denn der Terminplan war straff. Wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, lautet die ausschlaggebende Frage für Erfolg oder Misserfolg der Produktionsverlagerung: Sind die Bereitschaft und die Fähigkeit zu interkulturellem Dialog gegeben? Falls ja, stehen die Chancen gut. Wenn freilich nicht, dann …
1 Kulturelles Wissen als Voraussetzung zu interkulturellem Dialog Herrn Müllers erste Aufgabe war es, Personal zu suchen. Mit seiner Sekretärin, die in Deutschland studiert hatte, hatte er Glück. Aber sonst war er ziemlich überrascht, dass es kaum qualifizierte Leute gab. Mustermann war nicht der einzige Investor, weder in der Region noch im Land, in dem gerade junge, bildungswillige und -fähige Leute wegen besserer Karrierechancen in die Hauptstadt abwanderten. Mit den Leuten, die Herr Müller anwerben konnte, stieß er auf ungewohnte Schwierigkeiten: Er spürte beispielsweise die Vorsicht der Leute, er spürte ihr Misstrauen. Er musste auch einsehen, dass Personalrekrutierung über Annoncen sinnlos war: Beziehungsnetze brachten Mitarbeiter in die Firma. Nur: Bereits dafür brauchte er Einheimische, die bereit waren, für
Interkultureller Dialog als wirtschaftlicher Erfolgsfaktor
177
die Firma Bekannte, Freunde, Verwandte anzuheuern. Er merkte genau, das taten nur die, die ihn mochten. Die Geschäftsessen mit dem Bürgermeister oder anderen Offiziellen, deren Unterstützung er für das Werk und die Baugenehmigung brauchte, waren zeitintensiv und recht undurchschaubar. Hätte ihm seine Sekretärin nicht manches erzählt und für ihn manches in Erfahrung gebracht, er wäre komplett aufgeschmissen gewesen. Freundlich war jeder zu ihm, doch, so wusste er, das ist nur der allgemeine Grundton der Kommunikation mit ihm, dem ausländischen Chef. Die Deutschen, die die Arbeiter/-innen anlernen, berichten ihm verzweifelt von der immer gleichen Dynamik: Sie erklären etwas und erhalten ein Ja. Sie fragen sicherheitshalber nochmals nach, ob alles verstanden wurde: Ja. Solange der/die Deutsche anwesend ist, wird es dann so gemacht. Sobald der/die Deutsche fort ist, wird das Vorgehen nach eigenem Gutdünken geändert. Kritisieren sie dann, sind die Leute sehr schnell beleidigt. Die einheimischen Führungskräfte – drei hatte er bereits gefunden – nervten Herrn Müller. Sie kamen wegen jeder Kleinigkeit und fragten ihn, wie er das oder jenes wünsche. Er sah in ihren Augen förmlich den Respekt, den sie vor ihm hatten. Bis heute gelang es ihm nicht, ihnen anzugewöhnen, dass sie nicht nur mit Fragen, sondern bereits mit eigenen Vorschlägen kommen sollten. Dabei gingen sie mit ihren Mitarbeitern oft gar nicht zimperlich um, sondern kommandierten sie streng. Fehler im Umgang mit den Leuten schienen irreversibel: Mitarbeiter kündigten aus »unerfindlichen« Gründen und kein Gespräch, nicht mal eine Gehaltserhöhung, konnte ihre Entscheidung rückgängig machen. Manchmal ahnte Herr Müller zwar, dass hier und da wieder einmal die Einarbeitung atmosphärisch schiefgelaufen war, doch jetzt war es bereits zu spät. Personalprobleme beschäftigten ihn wesentlich mehr, als er das von Deutschland gewohnt war. Er erlebte dauernd, wie es »menschelte«. Seiner Frau erzählte er, was er dort sehe und wie er immer wieder notgedrungen agieren müsse, hätte mit einer Firma, die mit selbstständigen, erwachsenen Leuten arbeitet, nicht viel gemein.
Die Charakteristika einer Kultur sind das Ergebnis der Adaptationsleistungen eines Volkes an seine historischen Erfahrungen, mit denen es sein Überleben in einer möglichst effektiven Weise sicherte. Die Menschen im südosteuropäischen Irgendwo haben in den Jahrhunderten von Fremdherrschaftssystemen und totalitären Regimes nachfolgende Kulturstandards entwickelt (SchrollMachl, 2004). Die genaue Kenntnis dieser Kulturstandards bildet
178 Sylvia Schroll-Machl die Basis für einen interkulturellen Dialog, denn sie bestimmen dessen konkreten Inhalte und die Art, wie er geführt werden kann und muss. – Personbezug: Die Beziehungsebene hat immer Vorrang vor der Sachebene. Stets sind es die angenehmen menschlichen Beziehungen der Kooperationspartner zueinander, die motivieren und den Schlüssel zum Erfolg bilden, weil sie allein Vertrauen schaffen oder bei ihrem Fehlen Misstrauen erwecken. Wie etwas gesagt wird und in welchen Zusammenhängen, ist daher mindestens so wichtig, wie was gesagt wird. – Improvisationsliebe: Sich reaktiv zu verhalten, ist weiter verbreitet, als proaktiv zu handeln. Gegenüber detaillierten Plänen, Verfahren, Strukturen, insbesondere wenn sie von außen kommen, herrscht Skepsis. Zu ihrer Einhaltung ist tiefgehende Überzeugungsarbeit nötig. Ansonsten herrschen Improvisation und Findigkeit im Umgang mit ihnen vor. Diese Haltung – durch Improvisieren eigene Ziele zu verfolgen und sich somit nicht unterkriegen zu lassen – sicherte schließlich das Überleben durch alle Jahrhunderte, da die jeweiligen Strukturen niemals den Einheimischen zum Vorteil gereicht, sondern ausschließlich die symbolische oder faktische Macht der gerade Herrschenden gesichert haben. – Konfliktvermeidung: Konflikte mit subjektiv mächtig empfundenen Personen werden im Normalfall vermieden. Sie sind zu gefährlich: Gute bestehende Beziehungen will man nicht riskieren; sich selbst will man nicht verletzbar machen; ein weit verbreitetes Minderwertigkeitsgefühl verbietet es, »frech« zu sein; vor potenziellen Sanktionen herrscht enorme Angst. Konfliktträchtig ist: eine eigene Meinung äußern, widersprechen oder Nein sagen, Feedback bekommen oder geben, kritisieren sowie Probleme und Fehler analysieren. Erfahrungen einer Debattenkultur und eines konstruktiven Meinungsstreits fehlen gänzlich. – Hierarchiebewusstsein: Das ausgeprägte Hierarchiebewusstsein dient als Organisationsprinzip: Der Chef hat die Arbeit detailliert zu strukturieren und zu kontrollieren – idealerweise in einer wohlwollenden, patriarchalischen Art.
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2 Wie steht es um die Dialogbereitschaft? Ist Herr Müller dialogbereit? Über die Kulturstandards Bescheid zu wissen, würde es Herrn Müller erlauben, sich viele seiner Beobachtungen und Schwierigkeiten zu erklären und sie zunehmend akzeptieren zu können. Ohne dieses Wissen bewegen sich seine Gedanken nur innerhalb des eigenen deutschen Orientierungssystems: »Führungskräfte in Irgendwo sind doch Profis, die müssen doch einsehen, dass …« Müssen sie nicht und werden sie nicht, sie sind keine Deutschen. Interkulturelle Dialogbereitschaft bedeutet: Tools und Prozesse im Arbeitsleben, die in Deutschland üblich und erfolgversprechend sind, sind es im Ausland vielfach nicht. Beispielsweise können Methoden des Projektmanagements oder Instrumente der Personalauswahl nicht einfach übertragen werden. Was als »professionell« gilt, ist weithin kulturspezifisch und muss im Ausland neu definiert werden. Diesbezügliche »Meinungsverschiedenheiten« müssen bei ersten Anzeichen aufgegriffen, sie müssen weiter erfragt und vertieft werden, um sie einer Lösung zuzuführen. – Herr Müller ahnt das zunehmend und versucht sein Bestes. Sind Herrn Müllers Mitarbeiter dialogbereit? Da Herr Müller als Führungskraft auch für die deutschen Mitarbeiter vor Ort verantwortlich ist, muss er auch ihnen nahelegen, was von ihnen im Kontext von Irgendwo erwartet wird: sich um eine gute kollegiale Atmosphäre bemühen; geduldig erklären, warum die Deutschen möchten, was sie möchten, wie die Vorgaben entstanden sind, was die Konsequenzen sind, wenn sie nicht eingehalten werden; loben, was klappt, bei Misserfolg den Ärger im Zaum halten. Er bezweifelt, dass seine Mitarbeiter hier zumindest so ausdauernd sind wie er selbst, denn viel zu oft hört er Geschrei und Geschimpfe, wenn er durch die Produktion geht. Ein interkulturelles Training, das Herr Müller schließlich für die deutschen Mitarbeiter vor Ort organisiert hat, um die Menschen in Irgendwo besser verstehen und adäquater reagieren zu können, kam zu spät: Man hatte schon viel falsch gemacht. Was falschgelaufen war, wurde im Training verständlich. Das im Anschluss geplante Training für die Einheimischen stieß auf größte Skepsis, Ausweichmanöver aller Art verhindern bis heute eine Umsetzung der Trainingsidee. Herrn Müllers Sekretärin erläutert die Stim-
180 Sylvia Schroll-Machl mung so: »Unsere Leute denken, den Deutschen missfällt offensichtlich nicht nur, wie wir arbeiten. Jetzt ist es auch nicht einmal mehr in Ordnung, wie wir sind.« Diese Ängste irritieren Herrn Müller sehr. Auch die Idee, seine Sekretärin bei Konflikten in der Produktion als Dolmetscherin anzubieten, scheiterte auf der ganzen Linie. Die Einheimischen fürchteten, dass damit er als Chef sofort von allem Wind bekommen möchte … Dabei wollte er doch nur ein kostengünstiges und pragmatisches Hilfsangebot einrichten!
Mit wem kann Herr Müller einen Dialog führen? Die einheimischen Mitarbeiter, mit denen Herr Müller intensiveren Kontakt hat, unterliegen einem Selektionskriterium: Sie sprechen ziemlich gut Deutsch. Denn niemand von den Deutschen spricht die einheimische Sprache. Englisch wäre zwar auch denkbar, aber die Situation hat sich nun mal so eingeschliffen. Dadurch aber ist gleichsam unbemerkt der Wirkungskreis von Herrn Müller spürbar eingeschränkt. Er weiß um dieses Defizit, doch bei der Arbeitsbelastung, die er hat, schafft er es einfach nicht mehr, auch noch schnell und effektiv die einheimische Sprache zu lernen. Seine Kenntnisse bleiben rudimentär.
Die Personen, die Herrn Müller in Irgendwo umgeben, wie beispielsweise seine Sekretärin, sind seine Schlüssel in die Welt von Irgendwo. Auf sie ist er angewiesen. Gerade deswegen beschleichen ihn immer wieder Zweifel: Wer sind sie? Wie sind sie einzuschätzen? Wollen sie seine Erwartungen, also die ihres deutschen Chefs, in ganz besonderer Weise erfüllen? Sind sie ihm gegenüber loyal? Wollen sie ihre Landsleute in einem besseren Licht erscheinen lassen oder schenken sie Herrn Müller, wenn nötig, reinen Wein ein? Sind auch sie wirklich am Wohlergehen der Firma interessiert? Wie groß ist ihre Firmenbindung? Wie eng ist ihr Kontakt zu den Arbeitern in der Produktion? Er weiß einfach nicht so recht, woran er ist, wo und wie eventuell das durch sie vermittelte Weltbild von Irgendwo ergänzt werden muss.
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3 Intrakultureller Dialog als Voraussetzung für interkulturellen Dialog Die Bauarbeiten verzögerten sich aufgrund der Bürokratie erheblich und Herr Müller musste dem Vorstand gegenüber den Zeitverzug rechtfertigen. Denn der ursprüngliche Terminplan konnte damit nicht mehr eingehalten werden. Die Zwischenbilanz von Herrn Müller nach sechs Monaten fiel suboptimal aus: zu wenig Personal, zu geringe Arbeitsleistung und Bauverzug. In einem Wort: Der Budgetrahmen war nicht eingehalten worden. Die Gründe dafür interessierten den Vorstand, Herrn Dr. Huber, nicht. Herr Müller möge sich an seine Ziele und Vorgaben halten, wurde ihm mitgeteilt. Wie er das leiste, sei sein Problem. So besteht die größte berufliche Belastung für Herrn Müller neben den Eigenarten der Menschen in Irgendwo in der »Heimatfront«. Der Druck, der hier auf ihn ausgeübt wird, ist enorm. Den auszuhalten und zwischen alle Fronten geraten zu sein, das macht ihn mürbe.
Die Konflikte zwischen Herrn Müller und seinen Chefs in Deutschland eskalieren. Er fragt sich jedes Mal: Wie offen kann er Probleme dem Vorstand und/oder anderen Kollegen in Deutschland schildern? Je weniger Gehör er findet, umso stärker ist die Versuchung, die Situation zur Aufrechterhaltung des eigenen guten Images schönzufärben. Und er ist des Öfteren wesentlich weniger mutig und standhaft, als er sein möchte. – Der intrakulturelle Dialog innerhalb der deutschen Firma lässt zu wünschen übrig. Dabei wäre er die Voraussetzung für einen gelingenden interkulturellen Dialog, wenn schon nicht alle Beteiligten von vornherein interkulturelle Sensitivität an den Tag legen und sich um ein Mindestmaß an Qualifikation für den interkulturellen Dialog bemühen.
4 Self-awareness als Voraussetzung zum interkulturellen Dialog Die Managementvorgaben für Herrn Müller sind klar: Das Werk ist gemäß eines bestimmten (Zeit-)Plans aufzubauen und in Betrieb zu nehmen. Dieser (Zeit-)Plan ist allenfalls noch in spezifischen Details, womöglich nach harten Kämpfen, aber nicht in seinen Grundzügen diskutierbar, weil bereits die Schließung des Werkes in Deutschland in die Wege geleitet ist und niemand diese Entscheidung rückgängig machen will. Herr Müller erkennt zunehmend, dass dieser Plan nicht funktionieren wird, aber es steht außer-
182 Sylvia Schroll-Machl halb seiner Macht, ihn abzuändern. Er sitzt zwischen den Fronten: In Irgendwo soll er den Plan um jeden Preis durchdrücken. Genau das ist aber nicht möglich, und die Deutschen, die diesen Plan aus mehr oder weniger freien Stücken so nun einmal beschlossen haben, wollen das nicht hören.
Für einen gelingenden interkulturellen Dialog muss sich jede Seite auch die eigenen Kulturstandards bewusst machen. Und die Firma Mustermann »tickt« zutiefst deutsch, das ist nicht zu übersehen (Schroll-Machl, 2007a). Deutsche lieben Pläne, also erarbeiteten sie für die Produktionsverlagerung einen a) zeitlichen und b) inhaltlichen Plan. c) Pläne sind verbindlich, insofern kann kein Argument von Herrn Müller den Plan im Grundsatz verändern. Pläne werden umgesetzt, deshalb haben Herr Müller und seine deutschen Mitarbeiter, jeder an seiner Stelle, ihren Kampf zu kämpfen. d) Stets konzentrieren sich die deutschen Führungskräfte im Stammhaus dabei ausschließlich auf die wirtschaftlichen und fachlichen Aspekte. Was das alles für die beteiligten Menschen bedeutet, wird komplett ausgeblendet. – Die deutschen Kulturstandards »Zeitplanung« (a), »Aufwertung von Strukturen« (b), »regelorientiertes Pflichtbewusstsein« (c) und »Sachorientierung« (d) sind geradezu lehrbuchmäßig beobachtbar. Und so ist Professionalität in Deutschland weithin definiert: Ein auf der Basis sachlicher Gesichtspunkte beschlossenes Vorhaben wird in einen strukturierten Plan gegossen, der dann die verbindliche Richtschnur für das Handeln ist.
5 Konflikteskalationen erschweren den interkulturellen Dialog Eine Zeitlang konnte Herr Müller sich und dem Werk einen gewissen Freiraum zugestehen. Doch dem zu erfüllenden Plan gemäß stiegen Zeit- und der Leistungsdruck und damit vervielfachten sich die Probleme und Konflikte, die zur Lösung anstanden.
Unter Druck verhält sich jede Seite noch »typischer« und wendet die Handlungsmuster an, die sie in ihrer Kultur als besonders erfolgversprechend gelernt hat: Die Deutschen orientieren sich noch strikter an ihren Plänen und Zielen. Sie werden immer rigider, denn
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das ist bei Stress ihr Erfolgsrezept in Deutschland: straffe Pläne, eiserne Disziplin. Die Einheimischen empfinden die Deutschen jetzt zunehmend autoritär. Die meisten von ihnen reagieren daraufhin demotiviert: Sie »vereinfachen« die deutschen Vorgaben, scheren sich um nichts mehr, aber schieben für alles die Verantwortung gänzlich an die Deutschen ab. Die weiterhin Motivierten verfolgen ein anderes Erfolgsmuster: Sie überlegen sich eigene Methoden, improvisieren und arbeiten hart, um das Ziel vielleicht doch noch irgendwie zu erreichen. In beiden Fällen sind die Erwartungen der Deutschen und das Handeln der Menschen in Irgendwo unvereinbar. – Die einzige Lösung hieße: mindestens einen Gang im Leistungsdruck und im Verlagerungstempo zurückschalten, um auf die zentralen Elemente konzentriert und somit nachhaltiger lehrend und lernend weiterarbeiten zu können. Wenn beispielsweise nacheinander verlagert werden würde, also zunächst nur einige, nicht gleich alle Produktteile, oder zunächst die Standardprodukte, nicht gleich auch noch die Sonderbestellungen, gäbe es jeweils mehr Zeit für Erklärungen und Schulungen sowie zum Erlernen und Üben der einzelnen Schritte und Problemstellungen statt ausschließlich Druck und negatives Feedback. Die Fehlerquote könnte erheblich reduziert werden. Und Erfolgserlebnisse würden die Motivation der Deutschen wie der einheimischen Mitarbeiter erhöhen. Der Teufelskreis der wechselseitigen Vorwürfe könnte durchbrochen werden. Die Situation eskalierte, als der Zeitpunkt der Schließung des Werkes in Deutschland näher rückte und das Management den Mitarbeitern jede Hoffnung auf eine andere Lösung endgültig nahm. Ein Anreiz, den Herr Müller den Leuten in Irgendwo hatte bieten können, für ein paar Wochen nach Deutschland zur Einarbeitung zu kommen, war dahin. Die Wochenenden in Deutschland, an denen die Kollegen bei Mustermann für sie kleine Ausflüge organisiert hatten, waren ein Miniurlaub für die Menschen aus Irgendwo, den sie sich anders nicht hätten leisten können. Doch auf der deutschen Seite behinderten ab jetzt Zorn und Neid den Willen zum Wissenstransfer und zur Gastfreundlichkeit erheblich. Die Lage verbesserte sich auch dadurch nicht, dass etliche Deutsche als »Consultants« nach Irgendwo kamen, um vor Ort ihr Know-how weiterzugeben. Sie konnten die Enttäuschung über ihr künftiges Schicksal, zwar später als die in Deutschland verbliebenen Kollegen, aber nach Auftragserfüllung eben auch keine Arbeitsvertragsverlängerung zu bekommen, nicht einfach abstreifen.
184 Sylvia Schroll-Machl Ein weiterer, für den interkulturellen Dialog höchst einflussreicher Aspekt, der sich auf den Aufbau des Werks in Irgendwo nicht gerade positiv auswirkt, kommt hinzu: Die deutschen Mitarbeiter verlagern ihren eigenen Arbeitsplatz, um nach erfolgreicher Erfüllung dieser Pflicht selbst arbeitslos zu werden. Niemanden im Management kümmert es, wie sich die Leute fühlen und welche menschliche Leistung das ist, die sie da erbringen. Selbst Herr Müller erkennt ihre Unterstützung kaum an und kann ihre Situation auch den Menschen in Irgendwo nicht vermitteln. Er wolle und brauche Leistung, keine Gefühlsduselei, man hinke ohnehin ständig den Zielen und Erwartungen hinterher, so sagt er. Herr Müller fühlt sich an der nahenden Katastrophe weitgehend unschuldig. Die grundsätzlichen, von den Rahmenbedingungen verursachten Probleme können er und seine Mitarbeiter nicht lösen. Die Fehleinschätzungen, die den deutschen Entscheidern in ihrer Begeisterung unterlaufen sind, kann er nicht ausbügeln. Beispielsweise kann er kein Personal herbeizaubern. Und sein Vorschlag, den Mitarbeitern prinzipiell einen höheren als den ortsüblichen Lohn bezahlen, um sie dadurch etwas mehr ans Werk zu binden, wurde abgelehnt mit der Begründung, dass man ja exakt wegen der Lohnkostenvorteile nach Irgendwo gehen würde. Auch die Überlegung, Facharbeiter, die bei Mustermann gelernt hatten und die Produktion seit Jahren in allen Details kennen, seien durch Leute ersetzbar, die ein paar Wochen eingearbeitet werden, wurde trotz seiner Warnungen hinsichtlich der damit erreichbaren, nur unzulänglichen Qualität als machbar aufrechterhalten. Seine Bitte, sich in jedem Fall eine Backup-Lösung für eine gewisse Übergangszeit zu überlegen, schmetterte man aus Kostengründen ebenfalls ab. Herr Müller hatte in seinen Augen getan, was er konnte, und vor allem, was er durfte. Trotzdem war der Traum von Irgendwo zu seinem Albtraum geworden. Sollte das Projekt endgültig scheitern, wird er auf der Suche nach Verantwortlichen in jedem Fall an prominenter Stelle stehen …
6 Dialogbereitschaft der Unternehmensleitung Die Verantwortlichen auf den Arbeitsebenen, die unmittelbar miteinander zu tun haben, sind in gewisser Weise zu einem interkulturellen Dialog gezwungen, um ihre Zielorientierung aufrechterhalten zu können, und somit findet er auch mehr oder weniger gut und
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mit mehr oder weniger Erfolg statt. Doch was bedeutet Bereitschaft zum interkulturellen Dialog auf Managementebene? Bei interkulturellen Kooperationen sind schließlich nicht nur Verhaltensweisen Einzelner, sondern auch die organisatorischen Strukturen und Bedingungen kulturtypisch geprägt, ohne dass dies den Beteiligten immer bewusst ist. Somit kollidieren keinesfalls nur Verhaltensmuster von Individuen, sondern eingeschliffene Prozesse und Systeme sind inkompatibel. In der Konsequenz muss ein interkultureller Dialog bereits mit der »professionellen Planung« beginnen. Wäre das Top-Management, also Herr Dr. Huber, der Vorstand und die anderen an der Entscheidung Beteiligten, zu einer vertieften Information über lokale Bedingungen und zur Betrachtung landesspezifischer kultureller Faktoren bereit gewesen, hätten aufgrund der Gegebenheiten in Irgendwo die Bereitstellung notwendiger und begünstigender Rahmenbedingungen erörtert werden können. Mancher Planungsschritt und manche monetäre Kennzahl wäre dann realitätsnäher ausgefallen. Dieser Dialog wäre sicherlich zunächst stellvertretend mit Herrn Müller und mit interkulturellen Coaches (Schroll-Machl, 2007b) zu führen gewesen, erst nach und nach hätte er direkt mit den entsprechenden Einheimischen vertieft und fortgesetzt werden können. Rechtzeitig – zumindest vor der Schließung des deutschen Werkes – hätten wichtige Themen erörtert werden können, wie: − realistischere zeitliche Planungshorizonte (z. B. für die erforderliche Einarbeitungszeit, Backup-Lösung bis zum Erreichen der nötigen Qualität); − die Ermöglichung eines entsprechend umfangreichen Personalaustauschprogramms für längerfristige Entsendungen sowie die Bereitstellung eines gut ausgestatteten Reisebudgets für kurzfristig erforderliche, spontane Reisen der involvierten Fachund Führungskräfte, damit der Know-how-Transfer stets und für alle Fragen sichergestellt werden kann; − günstige organisatorische Maßnahmen zum Wissenstransfer (z. B. Vorbereitung auf die Consultingaufgabe als deutscher Mitarbeiter; Schulungen für die einheimischen Führungskräfte); − mögliche erforderliche Zusatzkosten angesichts landesspezifischer Bedingungen (wie z. B. Sprachkurse; Dolmetscher; Übersetzung der schriftlichen Unterlagen für alle, auch für Werker);
186 Sylvia Schroll-Machl − der unentbehrliche Aufbau persönlicher Kontakte auf hierarchisch höchster Ebene (z. B. zwischen dem Vorstand und den Politikern in Irgendwo zur Erleichterung des Bauvorhabens und zur Gewinnung von Führungskräften und qualifizierten Mitarbeitern); − eine adäquate Personalpolitik bei steilerer Hierarchie und geringerer Kontrollspanne (z. B. großzügigerer Personalschlüssel) und die Etablierung einer geeigneten Firmenstruktur (z. B. zur Personalbindung). Mag sein, dass die Kalkulationen zugunsten von Irgendwo damit weniger vorteilhaft ausgefallen wären. Doch mit dem negativen Ausgang dieses, zu Beginn erwähnten Audits des Großkunden ist der Traum von Kosteneinsparungen durch eine zügige Verlagerung der Produktion ins Ausland gänzlich geplatzt: Die gesamte Investition ist vermutlich eine Fehlinvestition, die obendrein auch noch das bis dato vorhandene deutsche Werk zerstörte.
7 Fazit Im Wirtschaftsleben ist Gewinnmaximierung das erklärte finanzielle Ziel jedes Unternehmens. Diesem Ziel ordnen sich alle Aktivitäten unter, in Deutschland nach dem Motto: optimale Planung – maximaler Gewinn. Dafür werden enorme technische Investitionen getätigt, umfangreiche organisatorische Anstrengungen unternommen und zahlreiche Personalentwicklungsmaßnahmen durchgeführt, um in jedem Bereich möglichst viel Effizienz zu erzielen. Bei internationalen Aktivitäten sind in all diesen Punkten auch interkulturelle Faktoren zu berücksichtigen, schlicht deshalb, weil es unleugbar Kulturunterschiede gibt. Interkultureller Dialog ist der Weg, die verschiedenen kulturellen Perspektiven zu ergründen und dann die Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen umzusetzen. Jede Störung in diesem Dialog wird somit zum Risikofaktor, der Kosten verursacht beziehungsweise durch Suboptimalität den avisierten Gewinn schmälert. Der Dialog selbst ist schwierig, weil die Akteure, die ihn führen, das in einer für ihre Kultur typischen Weise tun. Er ist komplex,
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weil nicht von vornherein abzusehen ist, wer alles involviert werden muss und auf wie viele und welche Aspekte er sich beziehen muss. Und er ist prozesshaft, denn durch den Dialog selbst erfolgt interkulturelles Lernen, das seinerseits dann den Dialog wiederum zunehmend fruchtbar macht. Und: Von seinem Gelingen hängt die Erfolgswahrscheinlichkeit der Auslandsaktivitäten ab, wie an dem geschilderten Problemfall zu sehen ist (vgl. Eigenstetter und Trimpop in diesem Band). Damit ein interkultureller Dialog geführt werden kann, sind zwei Voraussetzungen nötig: Dialogbereitschaft und Dialogfähigkeit. Anhand des geschilderten Fallbeispiels können exemplarisch einige wichtige und häufige Probleme hinsichtlich dieser beiden Bedingungen aufgezeigt werden: 1. Die Bereitschaft zum interkulturellen Dialog ist vielfach nicht gegeben, wenn die bestehenden Machtverhältnisse kein dialogförderliches Umfeld darstellen. Das bedeutet für die Produktionsverlagerung der Firma Mustermann: − Das deutsche Management erliegt der Verführung zur interkulturellen Ignoranz. Es generalisiert die Rollen: Das deutsche Mutterunternehmen hat Jahre lange Erfahrung, das Tochterunternehmen ist ganz neu. Demzufolge werden Abweichungen von der deutschen Erwartung, wie das Werk aufzubauen sei, nicht als Ausdruck diskussionswürdiger Kulturunterschiede interpretiert, sondern schlicht als Unwissen und mangelndes Können der Menschen in Irgendwo. Ein Interesse am Dialog besteht auf Seiten der deutschen Verantwortlichen nicht, einen Nutzen sehen sie nicht, also lassen sie sich auf keinen Dialog ein. − In Irgendwo existieren auch tatsächlich noch keine selbstbewussten Profis, das Werk wird ja erst aufgebaut. Die Unsicherheit der Akteure führt zu einer ganzen Palette von Reaktionen, vom Selbstzweifel bezüglich der eigenen Leistungsfähigkeit über nicht geäußerten Groll über die unerfüllbaren, weil viel zu hohen Erwartungen bis zu Resignation. Der interkulturelle Dialog wird vermieden aus Angst vor den Deutschen. − Selbst Herrn Müllers interkultureller Lernprozess ist weniger idealistisch motiviert als zunehmend erzwungen von den erlebten Schwierigkeiten und Problemen. Die Vorteile seiner
188 Sylvia Schroll-Machl Position sind jedoch: Er hat wachsendes Interesse am Dialog; er hat zunehmend mehr Dialogpartner; er sieht im Dialog einen Nutzen und kann auch etwas daraus mitnehmen; seine Dialogkompetenz steigt mit zunehmender Erfahrung. 2. Die Dialogfähigkeit ist ebenfalls oft erschwert. Denn für das Gelingen des Dialogs müssen beide Seiten reden und etwas zu sagen haben. Dazu bräuchte es beispielsweise im vorgestellten Fall: − Fachexperten, die bei den diversen Themen mitreden können. – Sie wollen in Irgendwo zunächst einmal gefunden sein. − Kulturstandards auf Seiten der Dialogpartner, die Diskussionen, ja sogar gewisse Konflikte gestatten. – Die »Konfliktvermeidung« in Irgendwo bedeutet leider das Gegenteil. Und bis sensible Deutsche das realisieren und die Perspektive der Menschen in Irgendwo durch vorsichtiges Nachfragen eruieren, ist aufgrund des Zeitdrucks schon viel falschgelaufen. − Beteiligte, die sich einander rein sprachlich verständlich machen können – ein Riesenproblem auf den Ebenen in der Produktion. − Handlungsfreiheit, Ergebnisse des interkulturellen Dialogs umsetzen zu dürfen. – Was Herr Müller tun darf, ist massiv beschränkt durch die Vorgaben des Managements. Das ermutigt die Menschen in Irgendwo, aber auch Herrn Müller sicher nicht zu weiterem offenem Dialog, weil er zu nichts führt. Das innerbetriebliche Umfeld wirkt insofern dialoghemmend. Die Produktionsverlagerung scheiterte in diesem Fall, und zwar zu einem erheblichen Teil deshalb, weil kein interkultureller Dialog stattfand. Der wirtschaftliche Schaden, der dadurch entstand, ist enorm: Mustermann steht nahe an der Pleite. Schlussfolgert man nun in abstrahierender Weise einige Thesen zum interkulturellen Dialog als wirtschaftlichem Erfolgsfaktor, lauten sie: − Für den Auslandserfolg im Wirtschaftsleben ist, sobald der Zwang zur Kooperation besteht, interkultureller Dialog nötig, um die kulturbedingt verschiedenen Perspektiven – die eigene wie die fremde – überhaupt wahrnehmen und in der Folge dann adäquat handeln zu können.
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− Der interkulturelle Dialog muss dabei auf allen hierarchischen Ebenen geführt werden, auch im Top-Management. Denn Kulturunterschiede lassen keinesfalls nur Verhaltensmuster von Individuen aufeinander prallen, sondern führen zur Inkompatibilität ganzer Prozesse und Systeme (also Zeitpläne, Projektpläne, Budgets usw.). − Intrakultureller Dialog zwischen dem Stammhaus und den Akteuren vor Ort ist eine wesentliche Voraussetzung für das Verstehen der Fremdperspektive. Er muss sogar vielfach stellvertretend erfolgen, wenn auf der Seite des fremdkulturellen Geschäftspartners das entsprechende (fachliche oder hierarchische) Pendant fehlt. − Interkultureller Dialog braucht Zeit. Denn auf der Beziehungsebene muss ein Mindestmaß an Vertrauen aufgebaut werden und auf der Sachebene zeichnen sich die essenziellen Punkte erst nach und nach im Verlauf des gemeinsamen Handelns ab. − Ein gelingender interkultureller Dialog geht einher mit einem interkulturellen Lernprozess auf beiden Seiten und auf allen hierarchischen Ebenen. In ihm werden die Kulturstandards – die eigenen und die des Geschäftspartners – zunehmend klarer und die Lösungsansätze für die Probleme zunehmend adäquater. − Kein interkultureller Dialog ist gleichbedeutend mit interkultureller Ignoranz und perpetuiert die Ist-Soll-Differenz zwischen Potenzial und Realität an all den Stellen, an denen Kulturunterschiede existieren. Der wirtschaftliche Erfolg bleibt deshalb erheblich unter dem gewünschten beziehungsweise möglichen Niveau.
Literatur Chokkar, J., Brodbeck, F., House, R. (2007). Culture and Leadership Across the World. The GLOBE Book of In-Depth Studies of 25 Societies. Mahwah, London: LEA. House, R., Hanges, P., Javidan, M., Dorfman, P., Gupta, V. (2005). Culture, Leadership, and Organizations. The GLOBE Study of 62 Societies. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage. Schroll-Machl, S. (2004). Kulturstandards in Mittel- und Osteuropa. Hernsteiner, 17 (3), 10–14.
190 Sylvia Schroll-Machl Schroll-Machl, S. (2007a). Die Deutschen – Wir Deutsche. Fremdwahrnehmung und Selbstsicht im Berufsleben (3. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schroll-Machl, S. (2007b). Was leistet interkulturelles Coaching? In S. Laske, A. Orthey, M. Schmid (Hrsg.), PersonalEntwickeln (Loseblatt 1993 ff.), Beitrag 8.31, 3–14. Thomas, A. (Hrsg.) (2001 ff.). Serie: Handlungskompetenz im Ausland. Beruflich in … Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thomas, A., Kinast, E., Schroll-Machl, S. (Hrsg.) (2005). Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 1: Grundlagen und Praxisfelder (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thomas, A., Kammhuber, S., Schroll-Machl, S. (Hrsg.) (2007). Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 2: Länder, Kulturen und interkulturelle Berufstätigkeit (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thomas, A. (2007). Dialog der Kulturen statt Kampf der Kulturen – Kompetenz vorhanden? Unveröffentlichtes Thesenpapier. Regensburg.
Julia Bürger
Interkultureller Dialog in bi- und multikulturellen interkulturellen Trainings
Die multikulturelle Umwelt eröffnet uns heutzutage vielfältige Möglichkeiten, um mit Mitmenschen in einen interkulturellen Dialog zu treten. Oft genug bleiben diese prinzipiellen Dialogchancen jedoch ungenutzt, da im Alltag anderes die ganze Aufmerksamkeit verlangt, es Berührungsängste gibt, man nicht neugierig erscheinen will oder strukturelle Bedingungen einen Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern nicht zulassen. Kommt dann doch einmal ein Gespräch zustande, lernt man Perspektiven kennen, die interessant, aufschlussreich und bereichernd, aber auch verwirrend oder erschreckend sein können. Nicht immer helfen diese im Alltag geführten Dialoge dabei, ein wechselseitiges Verständnis zu entwickeln oder Schwierigkeiten in der interkulturellen Zusammenarbeit zu bewältigen. Interkulturelle Trainings bieten hier eine gute Gelegenheit, interkulturelle Erfahrungen durch professionelle Begleitung und in einem »geschützten« Rahmen zu reflektieren, Konzepte kennen zu lernen, die helfen können, vergangene und zukünftige Erfahrungen besser zu verstehen beziehungsweise »theoretisch fassen« zu können, über die eigenen Handlungsweisen nachzudenken und alternative Handlungsweisen kennen zu lernen, über sie zu reflektieren oder diese auszuprobieren. Neben Trainings, die dazu geeignet sind, zunächst einmal generell für die interkulturelle Thematik zu sensibilisieren und ein Verständnis für die Wirksamkeit kultureller Einflüsse auf das eigene Denken und Verhalten zu entwickeln, gibt es viele Trainings, in denen sich die Mitglieder einer Kultur, zum Beispiel deutsche Fach- und Führungskräfte oder deutsche Studenten auf die Zusammenarbeit und das Zusammenleben mit Menschen aus einer spezifischen Zielkultur (z. B. USA: Slate u. Schroll-Machl sowie Hufnagel u. Thomas; vgl. Thomas, 2001 ff.) vorbereiten können. Da die Trainingsgruppe
192 Julia Bürger komplett einer Kultur entstammt und allenfalls das Trainerteam aus der Herkunfts- und Zielkultur stammt, kann man hier von monokulturellen interkulturellen Trainings sprechen. International haben solche Trainings eine lange Tradition und sind weit verbreitet. Wenn die Trainingsteilnehmer aus zwei Kulturen kommen, beispielsweise Deutsche und Tschechen, und sich unter der Leitung eines entsprechenden Trainingsteams auf die Zusammenarbeit miteinander vorbereiten, kann man von bikulturellen interkulturellen Trainings sprechen und bei Trainingsteilnehmern aus vielen unterschiedlichen Kulturen von multikulturellen interkulturellen Trainings. In Bezug auf den interkulturellen Dialog bieten nur bi- und multikulturelle Trainings die Chance, hierfür ein Lernfeld zu eröffnen. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass sie im Vergleich zu monokulturellen Trainings international selten angeboten werden und bislang auch so gut wie keine Resonanz in der interkulturellen Forschung fanden. Dieser Beitrag befasst sich damit, wie der interkulturelle Dialog zwischen Teilnehmern von multikulturellen Trainings optimal gefördert und als Lernquelle genutzt werden kann. Die präsentierten Beispiele und die sich darauf beziehenden Überlegungen stammen aus einem laufenden Forschungsprojekt zum interkulturellen Lernen in bikulturellen Trainingsformaten. In diesem Forschungsprojekt kamen sowohl Experteninterviews mit interkulturellen Trainern zum Einsatz als auch die Beobachtung und Evaluierung bikultureller Trainings mit Studierenden (Bürger u. Thomas, 2008).
1 Bi- und multikulturelle interkulturelle Trainings Ganz allgemein umfassen interkulturelle Trainings alle systematisch geplanten, formellen Maßnahmen, die eine Möglichkeit zum interkulturellen Lernen bieten und zum Erwerb interkultureller Handlungskompetenz beitragen (Thomas, Kinast u. Schroll-Machl, 2006). Im engeren Sinn werden darunter Maßnahmen im Rahmen der Erwachsenenbildung verstanden, die in Seminarform abgehalten werden im Unterschied zum ausschließlichen Selbststu-
Bi- und multikulturelle interkulturelle Trainings
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dium durch Lernsoftware oder zum interkulturellen Coaching. Die Dauer der meisten interkulturellen Trainings liegt zwischen einem Tag und einer Woche, wobei auch die Möglichkeit besteht, einzelne Trainingstage oder -stunden über mehrere Monate hinweg zu verteilen. Die Teilnehmerzahl liegt im Idealfall zwischen 7 und 14 Teilnehmerinnen und Teilnehmern (Tn). Insbesondere bei kulturspezifischen Trainings wird das Training im Idealfall von einem gemischtkulturellen Trainerteam, bestehend aus Personen der Zielkultur des Trainings und der Herkunftskultur der Tn. Was genau in einem interkulturellen Training besprochen wird und mit welchen didaktischen Methoden das geschieht, kann sehr unterschiedlich ausfallen, weswegen es eine recht große Vielzahl unterschiedlicher interkultureller Trainingsformate gibt. Um ein interkulturelles Training beschreiben zu können, sind die folgenden Unterscheidungen geläufig (vgl. Brislin, 1989; Gudykunst u. Hammer, 1983; Kammhuber, 2000; Thomas, 1995): − Inhalt: kulturallgemein und kulturspezifisch; − Lernaktivität: informationsorientiert, kulturorientiert (Selbstwahrnehmung), verstehensorientiert und interaktionsorientiert; − Lehrmethode: erfahrungsorientiert oder kognitiv orientiert (»didactic«); − Wirkungsabsicht: kognitiv, emotional, aktional; − Zusammensetzung der Teilnehmergruppe: mono-, bi- oder multikulturell. Sowohl die Trainingsforschung als auch die Praxis zeigen, dass es sich bei den meisten interkulturellen Trainings um Trainings mit monokulturell zusammengesetzter Teilnehmergruppe handelt. Dies gilt insbesondere für Trainings, die der Vorbereitung auf einem ausbildungsbezogenen oder beruflichen Auslandsaufenthalt dienen, sogenannte Orientierungstrainings. Bi- und multikulturelle Trainings können jedoch Lernerfahrungen von ganz anderer Qualität bieten, die den höheren organisatorischen Aufwand unter bestimmten Umständen durchaus gerechtfertigt erscheinen lassen. Bikulturelle und multikulturelle Trainings, wie sie hier verstanden werden, zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: 1. Die Tn des Trainings kommen aus zwei beziehungsweise mehreren unterschiedlichen Kulturen/Nationen. Dabei sollten die
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5. 6.
einzelnen Tn-Gruppen in etwa gleich groß sein, um die Dominanz einer Kultur im Training zu vermeiden. Das Training findet in einem Land/einer Region statt, aus dem/ der eine der Tn-Gruppen stammt, oder an einem dritten Ort. Der Großteil der im Training vermittelten Inhalte ist kulturspezifisch. Es geht also ganz konkret darum, welche kulturellen Unterschiede sich in der Interaktion zwischen Angehörigen der im Training vorhandenen Kulturen immer wieder zeigen, ob die Tn des Trainings diese Unterschiede bei sich wahrnehmen und wie mit kulturellen Überschneidungssituationen in dieser Zusammensetzung am besten umgegangen werden kann. Im Falle multikultureller Trainings sollten nicht zu viele unterschiedliche Kulturen im Training vertreten sein, wenn der kulturspezifische Fokus erhalten bleiben soll. Eine Ausnahme bilden dabei bestehende multikulturelle Teams (siehe unten). Das Training ist interaktionsorientiert, das heißt, die Interaktion zwischen den Tn stellt die hauptsächliche Lernaktivität (z. B. in Kleingruppenarbeit oder Übungen) dar, wobei vor allem erfahrungsorientierte, aber auch kognitiv ausgerichtete Trainingsmethoden zum Einsatz kommen. Das Training wird von einem bi- beziehungsweise multikulturellen Trainerteam gleichberechtigt geleitet. Trainingsziele, Trainingsverlauf, Didaktik und Methodik des Trainings können eventuell Gegenstand interkultureller Reflexion und interkulturellen Lernens sein.
In einem bi- beziehungsweise multikulturellen Training kann innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne ein Dialog mit fremdkulturellen Partnern über das Thema »Interkulturalität« beziehungsweise kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten, ihre Erscheinungsformen und Wirkungen stattfinden. Im Unterschied zu monokulturellen Trainings eröffnen sich den Tn dadurch weiter- und tiefer gehende Lernmöglichkeiten, da sich das Lernen nicht durch Simulation interkultureller Begegnung und durch vage Vermutungen über die Einstellungen und Meinungen der »anderen« vollzieht, sondern in einer konkreten kulturellen Überschneidungssituation mit all ihren Unsicherheiten, aber auch mit Nachfrage- und Austauschmöglichkeiten (siehe Abschnitt 3). Besonders fruchtbar dürf-
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ten multikulturelle Trainings für bereits bestehende multikulturelle (Arbeits-)Teams sein, da die Transferleistung in den Alltag unmittelbar erfolgen kann. Im Training können aus dem Dialog nämlich nicht nur potenzielle Möglichkeiten, sondern verbindliche Lösungen für Schnittstellenprobleme erarbeitet werden, die genau die im Training anwesenden Personen betreffen. Um das größere Lernpotenzial bi- beziehungsweise multikulturell zusammengesetzter Tn-Gruppen ausschöpfen zu können, muss ein multikulturelles Training jedoch sehr gut vorbereitet sein, da optimale Bedingungen für das Zustandekommen des interkulturellen Dialogs geschaffen werden müssen und der Dialog gerade auch über erwartungswidrige Partnerreaktionen beziehungsweise Störungen, die während des Trainings stattfinden, geführt werden soll.
2 Plattform für einen lernförderlichen interkulturellen Dialog bereiten Betrachtet man die in der Einführung von Thomas zu diesem Buch dargestellten sechs Grundvoraussetzungen für das Zustandekommen eines wirksamen interkulturellen Dialogs, so ist anzunehmen, dass Personen, die sich zu einem bi- oder multikulturellen Training anmelden, die ersten beiden Voraussetzungen, nämlich die Bereitschaft zum (1) und das Interesse am (2) interkulturellen Dialog, prinzipiell mitbringen. Ob für die Tn ein Nutzen des Dialogs erkennbar ist (3), hängt dagegen in hohem Maß damit zusammen, ob die Erwartungen der Tn an das Training erfüllt werden. Deshalb sollten Inhalte und Ziele des Trainings im Vorfeld so transparent wie möglich gemacht werden, da falsche Erwartungen, beispielsweise die, an einem Seminar zur Landeskunde teilzunehmen, die Dialogbereitschaft einschränken können. Die Voraussetzungen 4 und 5, nämlich etwas in den Dialog einbringen und etwas aus ihm mitnehmen zu können beziehungsweise über die Kompetenz zum Führen eines interkulturellen Dialogs zu verfügen, können bei den einzelnen Tn auf unterschiedlich hohen Qualitätsstufen erfüllt sein. So ist der eine eventuell aufgrund eines größeren Erfahrungsschatzes besser in der Lage, seine Sichtweisen
196 Julia Bürger in den Dialog einzubringen, der andere kann besser zuhören beziehungsweise auf die fremdkulturellen Partner zugehen. Wichtig für die Trainingsgestaltung ist es jedoch, dass allen Tn die ihren Fähigkeiten entsprechende Möglichkeit gegeben wird, in den interkulturellen Dialog einzutreten und ihre diesbezügliche Kompetenz weiterzuentwickeln. Dazu ist es notwendig, den Tn einen Ausgangspunkt und eine Struktur für ihren Dialog zu geben. Auf dialogförderliche gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen (6) können die Trainer keinen Einfluss nehmen, wohl aber auf die Gestaltung dialogförderlicher Bedingungen im Training. Auf die letztgenannten beiden Punkte wird im Folgenden unter Zuhilfenahme theoretischer und aus der Trainingspraxis stammender Überlegungen eingegangen.
2.1 Ausgangspunkt und Struktur für den Dialog Bezüglich des Ausgangspunktes sind zwei wesentliche Spezifika des Lerngegenstandes »Kultur beziehungsweise Interkulturalität« zu beachten: 1. Die Kulturgebundenheit psychischer Prozesse, wie Wahrnehmen, Bewerten und Handeln ist der eigenen Person in den wenigsten Fällen bewusst und kann daher auch nicht »einfach mal« erzählt oder erklärt werden. Aufmerksam wird man auf diese Prozesse meist nur, wenn man mit divergenten Interpretationen oder Handlungen konfrontiert wird oder wenn solche Themen oder Probleme in den Medien oder im eigenen sozialen Umfeld eine besondere Aufmerksamkeit erfordern. Deshalb wird in der interkulturellen Didaktik dem Erfahrungslernen und insbesondere den Diskrepanzerfahrungen, Handlungsbarrieren oder sogenannten Kritischen Interaktionssituationen (KI) als Lernauslöser eine so hohe Bedeutung beigemessen. 2. Es gibt in vielen interkulturellen »kritischen« Situationen keine Eindeutigkeit, kein richtig oder falsch, das vermittelt werden könnte. Wesentlicher Bestandteil des Lernprozesses ist, multiple Perspektiven kennen zu lernen und theoretische Modelle als Hilfestellung zu verstehen, die einem bei der Interpreta-
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tion einer interkulturellen Situation Orientierung geben können. Daher spielt das kooperative Lernen (vgl. Stengel in diesem Band) und die gemeinsame Reflexion in Dialogform im Training eine so große Rolle. Um in einem monokulturellen Training den Diskurs über interkulturelle Themen lernwirksam zu gestalten, haben sich situierte Lerntheorien (z. B. Greeno, 1998) bewährt. Diese bieten auch für den Fall bi- und multikultureller Trainings eine wertvolle theoretische Basis. Beim situierten Lernen spielt die Gestaltung der Lernumgebung im Training eine zentrale Rolle. Wichtig dabei ist, dass sich die Lernaufgabe im Training an lebensweltlich relevanten, authentischen Problemsituationen orientiert, die Komplexität einer Situation möglichst erhalten bleibt und multiple Perspektiven herangezogen werden, um flexibles Handlungswissen zu erhalten. Gerade die multikulturelle Tn-Gruppe bietet dafür hervorragende Voraussetzungen. Situierte Lerntheorien bilden auch die Grundlage für das von Kammhuber (2000) aufbauend auf dem AnchoredInquiry-Konzept der Forschergruppe um John Bransford (z. B. CTGV, 2000) weiterentwickelte kontextualisierte interkulturelle Lernkonzept, die Interkulturelle Anchored Inquiry (siehe Abbildung 1). Sie ermöglicht es, dem interkulturellen Dialog im Training eine Struktur zu geben, in die alle Tn ihre Perspektiven einbringen können. Als Auslöser für den interkulturellen Lernprozess und als Ausgangspunkt für den Dialog werden dabei selbst erlebte oder von den Trainern vorbereitete Kritische Interaktionssituationen, Fallstudien, Simulationsübungen oder Filme herangezogen. Wesentlich ist, dass das verwendete Material dazu geeignet ist, bei den Tn ein Lernbedürfnis zu wecken. Wie Abbildung 1 zu entnehmen ist, bestehen die wesentlichen Elemente der Interkulturellen Anchored Inquiry aus dialogisch angelegten Lerneinheiten, die im Training zunächst in gemischtkulturellen Kleingruppen und dann in der Gesamtgruppe durchgeführt werden. Auf diese Art und Weise soll möglichst allen Tn Gelegenheit gegeben werden, sich am Dialog zu beteiligen. Um den Dialog zu erleichtern, ist es auch im multikulturellen Training zunächst hilfreich, mit vorbereitetem Fallmaterial zu arbeiten, um eventuell vorhandene Hemmungen abzubauen, da das Sprechen über
198 Julia Bürger kritische Interaktionssituation Metakontextualisierung (Dialog + bestehende Konzepte)
Reflexion der Handlungsfolgen (im Dialog)
Generierung multipler Handlungsperspektiven (im Dialog)
eigene Interpretation des Handlungsgeschehens
Generierung multipler Interpretationsperspektiven (im Dialog)
Reflexion der Interpretationsperspektiven (im Dialog)
Abbildung 1: Interkulturelle Anchored Inquiry (nach Kammhuber, 2000, S. 111)
hypothetische Situationen und fremde Personen leichter fällt als über eigene Erfahrungen. Das Fallmaterial sollte von Tn aller beteiligten Kulturen als authentisch empfunden und genau auf die Zielgruppe abgestimmt werden, um zu einem fruchtbaren interkulturellen Dialog zu führen. Zu späteren Trainingszeitpunkten können Lerneinheiten eingeplant werden, die vor dem Training selbst erlebte KIs der Tn zum Ausgangspunkt nehmen oder bei denen im Training hervorgerufene Verhaltensweisen besprochen werden. Letzteres wurde im Training des Forschungsprojektes beispielsweise durch eine Übung umgesetzt, in der die Tn an einen Kommilitonen, der zu einem vereinbarten Termin nicht erschienen war, eine E-Mail schreiben und die E-Mails nach deren Übersetzung am nächsten Tag im Training analysiert werden. Zur Metakontextualisierung werden den Tn konzeptuelle Werkzeuge, wie Kulturdimensionen oder Kulturstandards an die Hand gegeben, die allerdings durch die Verknüpfung mit verschiedenen Erfahrungen und Situationen flexibilisiert werden. Erst diese abstrakte Konzeptualisierung macht aus Einzelerfahrungen Wissen, das abgespeichert für die Bearbeitung des »Einzelfalles« sofort verfügbar ist (vgl. Kolb, 1984). Auf den interkulturellen Dialog wirken sich die erarbeiteten Konzepte insofern positiv aus, als sie den Tn eine gemein-
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same »Sprache« an die Hand geben, um ihre Erfahrungen auch benennen und kommunizieren zu können (Herstellung von Intersubjektivität; vgl. Thomas in diesem Band). Ist die Rahmenstruktur für den interkulturellen Dialog auf diese Art und Weise gestaltet, eröffnen sich durch die bi- oder multikulturelle Zusammensetzung im Training einige Vorteile für den interkulturellen Lernprozess (siehe Abschnitt 3). Dabei ist besonders hervorzuheben, dass es zu jedem Zeitpunkt im Training zu geplanten oder ungeplanten Diskrepanzerfahrungen mit den fremdkulturellen Tn kommen kann, die wiederum Lernauslöser sein können. Bringen die Tn ihre im Training gemachten Beobachtungen und Erfahrungen in den Dialog ein, können diese im Training bearbeitet und für alle Trainingsteilnehmer zu einem lernwirksamen Bestandteil werden. Somit wird in einem bi- oder multikulturellen Training vom Trainerteam ein hohes Maß an Flexibilität verlangt, da sich häufig durch den interkulturellen Dialog selbst unerwartet, aber für die Tn hoch bedeutsame Dialoggegenstände ergeben, die in den formal vorgegebenen respektive vorgesehenen Metakontext eingebettet werden sollten.
2.2 Rahmenbedingungen Betrachtet man nun die dialogförderlichen und -hinderlichen Bedingungen so kann der interkulturelle Dialog behindert werden, wenn die Interaktion der Tn durch Gruppenprozesse oder kulturspezifische Faktoren im Training beeinträchtigt wird. Dies lässt sich nicht ganz vermeiden, die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens kann aber durch Maßnahmen reduziert werden, die sich aus den Forschungen zu sozialpsychologischen Intergruppentheorien ergeben, insbesondere aus der Theorie der sozialen Identität (Tajfel u. Turner, 1986), der Theorie der Selbstkategorisierung (Turner, 1987) sowie Forschungen zur Kontakthypothese (Allport, 1954; Amir, 1976; vgl. Pettigrew u. Tropp, 2006; vgl. auch Thomas in diesem Band). Die letztgenannte Forschungsliteratur zeigt, dass sich ein »günstiger« Kontakt, bei dem es zu positiven Interaktionen zwischen zwei Gruppen kommt, durch folgende Bedingungen auszeichnet: gleicher Status der Gruppen, Verfolgung gemeinsamer übergeordneter Ziele, kooperative Atmosphäre zwischen den Gruppen, Unterstüt-
200 Julia Bürger zung durch das soziale Umfeld, Unterstützung der Lernprozesse durch anerkannte Autoritäten, die als Modell wirken, sowie ausreichend Gelegenheiten zu persönlichem Kontakt. Von Trainerseite können diese Punkte nur zum Teil beeinflusst werden, doch ist es hilfreich, im Vorfeld zu wissen, inwieweit diese Bedingungen im Training gegeben oder noch zu schaffen sind. Aus der Theorie der sozialen Identität und der Theorie der Selbstkategorisierung (Mummendey u. Otten, 2002), die sich unter anderem damit beschäftigen, warum und unter welchen Umständen es zu Rivalitäten zwischen Gruppen oder zu Intergruppendiskriminierung kommt, lassen sich Gestaltungshinweise für dialogförderliche Bedingungen ableiten, nämlich Rekategorisierung, Dekategorisierung oder wechselseitige Differenzierung. Rekategorisierung bedeutet, dass sich die Tn als Mitglieder einer übergeordneten Gruppe verstehen, die ihre beiden Untergruppen mit einschließt, also beispielsweise »Europäer« für Angehörige unterschiedlicher europäischer Nationen oder »Mitarbeiter der Firma XY«. Dabei ist es wichtig, dass sich die Tn mit dieser neuen Kategorie auch tatsächlich identifizieren können. Dekategorisierung bedeutet, dass Kategoriegrenzen aufgelöst werden oder ihre Bedeutsamkeit verringert wird. Zwar ist die Auflösung nationaler Kategorien in einem bikulturellen Training kaum möglich, doch kann darauf geachtet werden, dass die Trainingsteilnehmer der anderen Kulturen als Individuen und nicht nur als Angehörige ihrer nationalen Gruppe angesehen werden (Individualisierung) oder dass sich überlappende Kategorisierungsmöglichkeiten, zum Beispiel Männer/Frauen oder Techniker/Kaufmännische Angestellte, ergeben. Eine weitere Maßnahme zur Gestaltung produktiver Intergruppenprozesse, die sich für bikulturelle Trainings anbietet, ist das Modell der wechselseitigen Differenzierung, das die Beibehaltung nationaler Gruppen erlaubt. Gruppenvergleiche, beispielsweise über kulturelle Unterschiede, werden dabei auf verschiedenen Dimensionen vorgenommen, so dass der Vergleich in der subjektiven Wahrnehmung der Tn einmal für die eine und einmal für die andere Seite positiv ausfällt. Von Trainerseite ist darauf zu achten, dass vor allem die Vorteile der unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen hervorgehoben werden und die Favorisierung nur einer kulturellen Orientierung vermieden wird. Eine weitere Rahmenbedingung für den lernförderlichen interkulturel-
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len Dialog stellt eine zufriedenstellende Lösung der Sprachproblematik im Training dar. Dafür bieten sich je nach Zielgruppe und Budget Simultanübersetzungen, Konsekutivübersetzungen durch Übersetzter oder Trainer, die Kommunikation in einer von allen beherrschten Drittsprache wie zum Beispiel Englisch oder eine der Teilnehmersprachen an. Die letztgenannte Möglichkeit bietet sich nur dann an, wenn dadurch ohnehin vorhandene Dominanzen, beispielsweise durch unterschiedliche Gruppengröße, Status und Diskussionserfahrung, nicht noch verstärkt werden. Die Zwei- beziehungsweise Mehrsprachigkeit sämtlicher Trainingsmaterialien sollte gewährleistet sein. Eine weitere wichtige Bedingung zur Förderung des interkulturellen Dialogs ist die Leitung des Trainings durch ein bi- oder multikulturell zusammengesetztes Trainerteam, so dass im Idealfall jedem Tn ein eigenkultureller Ansprechpartner zur Verfügung steht. Das so zusammengesetzte Trainerteam kann den interkulturellen Dialog auf mehreren Ebenen erleichtern. Zunächst einmal haben die Trainer Modellfunktion für den Umgang miteinander und den Austausch über kulturelle Unterschiede. Beschreibt das Trainerteam zu Beginn eine zwischen ihnen abgelaufene KI ausführlich, mit ihren jeweiligen kulturspezifischen Sichtweisen, ihren emotionalen Reaktionen und der für sie gangbaren Lösung, so zeigen sie den Tn nicht nur, dass kulturelle Unterschiede auch bei sogenannten interkulturellen Experten handlungswirksam sind, sondern auch, wie ein Dialog über eine solche Situation aussehen kann. Außerdem werden Anmerkungen, aber auch Missverständnisse und Störungen innerhalb der eigenkulturellen Gruppe leichter von einem Trainer derselben Kultur erkannt und können durch ihn in einer kulturangemessenen Art und Weise widergespiegelt werden. Nicht zuletzt wird den Tn durch die Anwesenheit eines eigenkulturellen Trainers die nötige Sicherheit gegeben, damit sie sich trauen, ihre eigenen Perspektiven einzubringen und im Zweifelsfall mit Unterstützung rechnen können, Darüber hinaus ist Rücksicht zu nehmen auf die kulturspezifisch unterschiedlichen Erfahrungen der Tn mit bestimmten Trainingsmethoden. So sind beispielsweise deutsche Tn mit Diskussion und Diskurs als Lernmethode stärker vertraut als tschechische oder irische Tn. Falls sich solche Unterschiede im Training zeigen, sollten sie von den Trainern entweder vor der Gesamtgruppe oder
202 Julia Bürger zunächst nur in den monokulturellen Untergruppen thematisiert werden, um regulierend in den Dialogprozess eingreifen zu können und die Aufmerksamkeit der Tn auf diese Unterschiede zu lenken. Es zeigt sich also, dass eine Vielzahl von Einzelaspekten beachtet werden muss, um eine optimale Umgebung für einen lernwirksamen Dialog im Sinne einer Metakommunikation über die eigenen kulturellen Orientierungen und Schnittstellenprobleme in der interkulturellen Begegnung zustande bringen zu können.
3 Dialoggeschehen in bikulturellen Trainings Nachdem im vorhergehenden Abschnitt dialogförderliche Gestaltungsaspekte und Rahmenbedingungen für bi- und multikulturelle Trainings beschrieben wurden, wird in diesem auf das konkrete Dialoggeschehen während eines Trainings sowie auf dessen Beeinflussung der interkulturellen Lernprozesse und des weiteren Dialogverlaufs eingegangen. Dabei wird auch auf Erkenntnisse aus der Durchführung und Evaluation von acht bikulturellen Trainings mit Studierenden in tschechisch-deutscher und irisch-deutscher Zusammensetzung zurückgegriffen. Dazu kann man zunächst allgemein festhalten, dass in allen durchgeführten Trainings ein lernwirksamer interkultureller Dialog nachgewiesen werden konnte, der allerdings nicht durchgehend stattfand. Besonders erfolgreich und zufriedenstellend war der Dialog, wenn ein Teil der Tn eines Trainings bereits über interkulturelle Erfahrungen verfügte und/ oder mit theoretischen Konzepten des interkulturellen Lernens vertraut war, somit bereits eine Kompetenz für den interkulturellen Dialog mitbrachte. Auch konnten Hinweise gefunden werden, dass es gerade die Intensität des interkulturellen Dialogs und die im Training gemachten Erfahrungen waren, die das bikulturelle Training zu einer folgenreichen Lernerfahrung machte. In Bezug auf das interkulturelle Dialoggeschehen zeichnet sich ein idealtypischer, lernwirksamer Verlauf zunächst einmal dadurch aus, dass … − … eine Metakommunikation über kulturelle Unterschiede, selbst gemachte interkulturelle Erfahrungen und alternative Handlungsweisen stattfindet, ohne dass die Tn einer Kultur die an-
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deren dominieren (hinsichtlich Redezeit, aber auch hinsichtlich der »Interpretationshoheit«); − … die Komplexität interkultureller Prozesse und die Details in der interkulturellen Kommunikation deutlich werden; − … Stereotypisierungen vermieden beziehungsweise Kulturunterschiede relativiert werden, da individuelle Unterschiede innerhalb der fremdkulturellen Gruppe und Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen beobachtet werden können. So haben die Tn während der Interpretationsphase einer KI nicht nur die Möglichkeit, ihre jeweiligen individuellen und kulturspezifischen Sichtweisen auszutauschen, sondern es sind auch detaillierte und konkrete Nachfragen möglich, die die Aufmerksamkeit der Tn auf für sie neue Aspekte richten. Bei der Phase der Generierung und Reflexion von Handlungsmöglichkeiten können Lösungen für eine KI unter der Berücksichtigung kulturspezifischer Sichtweisen entwickelt werden, wobei auch hier ein beständiges Nachfragen, Präzisieren und Abwägen möglich ist. Die Erklärungen und Sichtweisen der fremdkulturellen Tn können dabei das Bedürfnis nach authentischen Informationen meist besser erfüllen als Erklärungen durch die Trainer, vor allem wenn sich die Tn einer kulturellen Gruppe in ihren Sichtweisen relativ einig sind. Hier ein Beispiel: »Man hatte halt direkt die Möglichkeit, zu fragen oder auch bestimmte Situationen zu schildern und sofort auch eine Antwort zu bekommen oder Erklärungen. Und dadurch dass da jetzt nicht ein Tscheche war, so dass man das an seiner eigenen Person festmachen müsste, sondern dass die anderen auch sagen: ›Ja, genau, so wär’s bei uns!‹ Das fand ich auf jeden Fall klasse. Dass der Austausch viel mehr bestand […] Ich hab pausenlos irgendwas gefragt« (Interview D2–3; 6 Monate nach dem Training).
Immer wieder bringen Tn auch ihre eigenen interkulturellen Erfahrungen in den Dialog ein. Dabei nehmen sie häufig kulturelle Attribuierungen (Ursachenzuschreibungen) vor. »Ich glaube, es liegt daran, dass die Deutschen eher eine perfekte Hausarbeit abgeben wollen. In Tschechien ist es wichtiger, dass es wirklich die eigene Arbeit ist, die man abgibt und nicht die Gedanken von ganz vielen anderen Leuten mit drin sind« (tschechische Tn im Training).
204 Julia Bürger Solche Zuschreibungen werden dann von anderen Tn akzeptiert, kommentiert, präzisiert oder verneint. »Für die Note ist es aber doch wichtig, dass die Arbeit so gut wie möglich ist. Das ist doch auch in Tschechien so, oder nicht?« (deutsche Tn im Training). »Ich will aber auch immer eine möglichst perfekte Arbeit abgeben! Ich finde nicht, dass da ein Unterschied ist« (tschechischer Tn).
So ergibt sich mit der Zeit ein dichtes Gewebe an Meinungen, Erfahrungen und Interpretationen, die eine Präzision erlauben, inwiefern kulturelle Unterschiede neben persönlichkeits- oder situationsbedingten Einflussfaktoren für die Interpretation einer Situation eine Rolle spielen. Aus ihrem intensiven Austausch lernen die Tn auch, dass es innerhalb der fremdkulturellen Gruppe unterschiedliche Ansichten gibt, was einer rigiden Anwendung kultureller Erklärungsmuster entgegensteht. Vielmehr kommt es zu einer immer feineren Ausdifferenzierung des kulturellen Wissens auf einem Niveau, das in monokulturellen Trainings nicht möglich wäre. Auch entwickeln die Tn durch den Dialog ein feines Gespür für angemessene Lösungen beziehungsweise dafür, wann eine Anpassung an die Kultur des anderen notwendig ist – »Da darfst du keinesfalls vergessen, den mit ›Herr Bürgermeister‹ anzusprechen, sonst wirst du gar nichts erreichen« – und wann es sich lohnt, neue Lösungswege zu entwickeln. Auch die Tatsache, dass minimale Veränderungen eine enorme Auswirkung darauf haben können, wie eine Situation interpretiert wird, macht den Tn die komplexen Zusammenhänge deutlich, auf die sie allein beziehungsweise nur durch die Unterstützung der Trainer nicht gekommen wären. Beispielsweise entwickelte sich in einem der evaluierten deutsch-tschechischen Trainings (vgl. Duffková, 2008) ein Dialog darüber, ob man sich den Namen der Schwester einer Kollegin merken muss, ob also die Tatsache, dass man von »deiner Schwester« und nicht von »Katka« spricht, ein Indiz für Desinteresse an einer guten Zusammenarbeit sein kann, ob dies nur von Frauen oder auch von Männern so interpretiert werden könnte und so weiter. Gerade diese sogenannten Kleinigkeiten sind es, die bei den Tn große Verwunderung hervorrufen und ihr Lernbedürfnis weiter steigert.
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Neben dem eben beschriebenen intensiven Austausch von Perspektiven während eines Anchored-Inquiry-Durchgangs bieten bi- und multikulturelle Trainings aber auch die Möglichkeit, im Training gezeigte Verhaltensweisen der Tn oder der Trainer zum Dialoggegenstand zu machen. Als weitere lernförderliche Bestandteile des Trainings können daher festgehalten werden: 1. Es kommt zu »echten« Divergenzerfahrungen und Rückmeldungen über Divergenzerfahrungen. 2. Die Tn werden nicht nur kognitiv, sondern auch emotional ins Lerngeschehen einbezogen, sind emotional beteiligt. Diese Lernbestandteile eines multikulturellen Trainings können unter Umständen zu unglaublich eindrucksvollen Aha-Erlebnissen und nachhaltigen Erkenntnissen führen. So zeigt die Evaluation der durchgeführten bikulturellen Trainings, dass fast alle Tn noch sechs Monate nach dem Training über im Training gemachte Divergenzerfahrungen berichten, wobei Aussagen wie »Ich war schockiert!« oder »In dem Moment hab ich mir nur gedacht: ›Oh mein Gott, was war das jetzt?‹« die emotionale Wirkung der gemachten Erfahrungen unterstreichen. Dabei lässt sich tatsächlich feststellen, dass divergente Erfahrungen zu jedem Trainingszeitpunkt vorkommen können, neben dafür eingeplanten Trainingsbausteinen auch bei der Vorstellungsrunde, in Gruppenarbeiten, in den Pausen oder in der Interaktion zwischen einem Tn und dem dazu fremdkulturellen Trainer. Um solche Situationen lernwirksam werden zu lassen, müssen die Trainer flexibel und situationsangemessen reagieren können. So warf ein tschechischer Tn während einer theoretischen Trainingseinheit am zweiten Trainingstag eine Frage in die Runde, die von der deutschen Trainerin in aller Ausführlichkeit beantwortet wurde, bis sie von der tschechischen Trainerin mit den Worten unterbrochen wurde: »S. (Name des tschechischen Tn), die Frage hattest du doch nicht ernst gemeint, oder? Ich hätte jetzt gedacht, das war ein Witz.« Dies wird vom tschechischen Tn bestätigt, mit dem Zusatz, dass er sich gerade schon sehr über die Antwort der deutschen Trainerin gewundert hätte. Die tschechische Tn-Gruppe lacht, die deutschen Tn blicken verwundert und verunsichert. An so einer Stelle im Training sollten die Trainer möglichst sofort reagieren, auch wenn sie gerade bei einem
206 Julia Bürger anderen Thema waren, indem sie die Tn um ihre jeweilige Wahrnehmung der Situation bitten. Gerade wegen der möglicherweise hervorgerufenen starken Emotionen ist der Umgang mit Divergenzerfahrungen im Training beziehungsweise das Hinweisen auf von den Trainern beobachtete Verhaltensunterschiede allerdings nicht unproblematisch und verlangt ein enormes Fingerspitzengefühl. Während der Vorstellungsrunde in einem deutsch-irischen Training fällt auf, dass auf die Frage »Was hat dich bei deinem Aufenthalt im jeweils anderen Land am meisten überrascht?« von den irischen Tn ausschließlich positive Beispiele genannt werden, während von den deutschen Tn in den meisten Fällen eine Mischung aus positiven und negativen Beispielen berichtet werden. Ein deutscher Tn berichtet sogar nur negative Beispiele. Nach der Vorstellungsrunde weisen die Trainer allgemein darauf hin, dass die Frage neutral formuliert war, man also positive und negative Beispiele berichten konnte, und ob den Tn dabei etwas aufgefallen sei? Keiner der Tn gibt daraufhin eine laute Antwort, weswegen die Trainer diesen Aspekt zunächst nicht mehr ansprechen. Erst als am nächsten Tag im Zusammenhang mit einem Fallbeispiel das Thema auf positives und negatives Feedback und dort bestehende kulturelle Unterschiede kommt, weisen die Trainer noch einmal auf die Vorstellungsrunde hin. Der Vorteil dieser Vorgehensweise bestand darin, dass es zu diesem späteren Trainingszeitpunkt den Tn anhand der besprochenen Konzepte leichter möglich war, in einen Dialog über die Erfahrung während der Vorstellungsrunde zu treten, ohne dass es dabei zu persönlichen Vorwürfen oder Bloßstellungen kam. Zu Beginn des Trainings waren die Tn dazu noch nicht in der Lage. Die Trainingsevaluation zeigt neben der Existenz der berichteten lernförderlichen Dialoge auch, dass das Dialoggeschehen immer wieder zum Stocken kommen kann, Störungen auftreten oder der Dialog gar nicht erst richtig zum Laufen kommt. Dies kann einerseits darauf zurückgeführt werden, dass das präsentierte Material nicht in allen Gruppen zum Dialog anregte, weil die Gruppe sich sofort auf eine »richtige« Interpretation einigte und keinen Sinn in einer weiteren Diskussion sah, das heißt, der Nutzen des Dialogs für die Tn trotz Anregung durch die Trainer nicht ersicht-
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lich wurde. Zum anderen trifft dies auf im Training gemachte Divergenzerfahrungen zu, denn sie werden von den Tn während des Trainings häufig nicht thematisiert und können so auch nicht als Lernmöglichkeit für die Gesamtgruppe genutzt werden. Solange die Divergenzerfahrungen allerdings nur aus Mangel an Gelegenheit oder weil die Tn erst im Nachhinein über die Erfahrung reflektieren konnten, nicht erwähnt werden, ist nicht auszuschließen, dass sie dennoch lernwirksam wurden. Zusammengefasst konnten in den untersuchten Trainings folgende Belege für dialoghinderliche Aspekte gefunden werden: 1. Sprachbarrieren verhindern oder erschweren erheblich den gegenseitigen Austausch. 2. Das zur Verfügung gestellte Material ruft bei der Gruppe kein Lernbedürfnis hervor. 3. Die Tn werden durch zu starke dialogrelevante Divergenzen in der Gruppe überfordert und äußern sich nicht mehr. 4. Die Tn trauen sich nicht, ihre Perspektiven einzubringen, weil sie sich in der Gruppe verunsichert fühlen. 5. Die Existenz kultureller Unterschiede wird von den Tn an prinzipiellen Überlegungen negiert und sie sind wenig motiviert, sich am Dialog zu beteiligen. 6. Die fremd- oder auch die eigenkulturelle Gruppe wird abgewertet; die Beiträge zum Dialog beschränken sich mehr auf ironische Bemerkungen. 7. Die Tn ziehen sich aufgrund von im Training gemachten belastenden Erfahrungen, zum Beispiel in der Interaktion mit den fremdkulturellen Partnern, emotional zurück und beteiligen sich immer weniger am Dialog. Als Beispiel für den letzten Punkt sei die Erfahrung einer tschechischen Tn genannt, die sie im Interview einige Monate nach dem Training berichtete. Während der in Abschnitt 2 bereits erwähnten E-Mail-Übung, bei der dafür gesorgt war, dass keiner der Tn wusste, von wem welche E-Mail geschrieben wurde, fühlte sie sich durch die Bemerkungen von zwei deutschen Tn über ihre E-Mail missverstanden und war so verärgert, dass sie sich für den Rest des Trainings nicht mehr am Dialog beteiligte. Sie versuchte auch nicht, ihre Sichtweise zu verdeutlichen oder darzustellen.
208 Julia Bürger Solche Trainingserfahrungen bilden eher die Ausnahme. Sie verdeutlichen aber, dass es auch in einem interkulturellen Training nicht immer leicht ist, die Tn zu einem fruchtbaren interkulturellen Dialog zu führen, vor allem wenn die Trainer nicht regulierend eingreifen können.
4 Fazit In bi- und multikulturellen Trainings besteht die Möglichkeit, einen besonders fruchtbaren differenzierten und vertieften interkulturellen Dialog zu führen, aus dem sich konkrete Lernerfahrungen und Möglichkeiten zum Weiterlernen ergeben. Dazu bedarf es jedoch dialogförderlicher Bedingungen und einer Strukturierung des Dialogs zwischen den Trainingsteilnehmern. Situierte Lerntheorien, sozialpsychologische Intergruppentheorien und die Berücksichtigung von Erfahrungen aus der Trainingspraxis ermöglichen es, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen. So können sich die Tn eines bi- und multikulturellen Trainings detailreiches und ausdifferenziertes kulturelles Wissen aneignen und mit ihren eigenen Erfahrungen und Emotionen verknüpfen lernen, sodass sie zukünftig noch besser für den interkulturellen Dialog gerüstet sind. Allerdings zeigt die Praxis, dass es während multikultureller Trainings auch zu Störungen des interkulturellen Dialogs kommen kann, mit teilweise weitreichenden Konsequenzen für zukünftige interkulturelle Begegnungen. Qualifizierte Trainingsteams und Moderatoren sind allerdings in der Lage, auch Störungen und Irritationen zwischen den Teilnehmern für den interkulturellen Lernprozess so nutzbar werden zu lassen, dass der interkulturelle Dialog verbessert wird. In Bezug auf optimale Bedingungen, Verlaufsprozesse und Wirkungen bi- und multikultureller Trainings zur Qualifizierung des interkulturellen Dialogs, unter welchen Kontexten er auch immer praktiziert werden muss, werden zukünftig verstärkt die interkulturelle Trainingsforschung Erkenntnisse zu liefern haben.
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Stefan Schmid
Interkultureller Dialog und Migration Psychologische Analyse eines angespannten Dialogs
Kaum ein anderes interkulturelles Thema führt bei Vorträgen, Workshops oder Trainings zu so emotionalen und polarisierenden Diskussionen wie die Frage der Integration ausländischer Mitbürger in Deutschland. In besonderem Maße trifft dies zu, wenn muslimische Migranten in den Fokus der Debatte rücken. Zweifellos verdienen die vielfältigen Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft die öffentliche Aufmerksamkeit – viel zu lange wurden sie entweder als nicht existent (»Deutschland ist kein Einwanderungsland«) oder als Selbstläufer (»Bereicherung durch Vielfalt«) betrachtet. Das Ausmaß der Schwierigkeiten, einen solchen interkulturellen Dialog im eigenen Land zu führen, überrascht, wenn man bedenkt, dass im Gegensatz zu anderen Ländern die Debatte bisher kaum von Gewalt beeinträchtigt wurde und interkulturelle Kontakte im Wirtschaftsleben des Exportweltmeisters zum Alltag vieler Deutscher gehören. Im Folgenden werden psychologische Einflussfaktoren auf den interkulturellen Dialog zwischen Deutschen und Migranten diskutiert, um ihre Auswirkungen auf dessen Qualität deutlich zu machen. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt dabei auf den türkischstämmigen Migranten als der größten und am deutlichsten wahrgenommenen Einwanderergruppe.
1 Bedrohung durch die Fremden Die Erfahrung von Ähnlichkeit und Verschiedenheit gehört zu den Grunderfahrungen des Menschen. Sie ist die Voraussetzung für die Beantwortung der Frage nach dem »Wer-bin-ich« und damit nach der eigenen Identität. Das Selbstverständnis einer Person entwickelt sich in fortwährenden sozialen Vergleichs- und Kategorisierungsprozessen, da sie erst im Kontakt mit dem Anderen erfährt, worin
212 Stefan Schmid ihre Einzigartigkeit besteht und wo sie Gemeinsamkeiten mit anderen teilt. Das Konstrukt Identität umfasst ein Bewusstsein für die eigene Einzigartigkeit, ein unbewusstes Streben nach Kontinuität und die Verbundenheit mit den Idealen der eigenen Gruppe. Eine relative Stabilität des eigenen Selbstverständnisses, das einen unvermeidbaren Grad an Veränderungen in der Umwelt bewältigen muss, stellt einen erstrebenswerten und sinnvollen Zustand der menschlichen Psyche dar, da ein stabiles Selbst-Bewusstsein ein notwendiger Faktor für zielführende Handlungsplanung und -umsetzung und die Bewertung der Angemessenheit des eigenen Tuns darstellt. Diese über Jahre hinweg in Interaktionen und durch Lernen am Modell gewonnenen Handlungs- und Orientierungssicherheit wird nur ungern verändert, da dies wieder eine neue, unangenehme Unsicherheit hervorrufen würde. Migranten aus anderen Kulturräumen können für Deutsche genau diesen unliebsamen Prozess des In-Frage-Stellens der eigenen Werthaltungen, Weltsicht und Verhaltensweisen auslösen – sei es durch persönlichen Kontakt oder durch antizipierte Auswirkungen ihrer Anwesenheit in Deutschland. Je nach Herkunftskultur der Einwanderer können sich deren Vorstellungen über »richtig« und »falsch«, »gut« beziehungsweise »schlecht« in Fragen der Erziehung, Religion, Konfliktlösung, Lernen, Arbeiten oder Krankheit beträchtlich unterscheiden. Oder Deutsche gehen zumindest davon aus, dass sie sich merklich unterscheiden. In beiden Fällen trägt die Anwesenheit von Migranten zu einem Gefühl der Verunsicherung bis hin der Bedrohung bei. Die Intergruppenbeziehungen und der unmittelbare interkulturelle Dialog zwischen Einheimischen und Zuwanderern werden in hohem Maße von diesen Facetten der (wahrgenommenen) Beeinträchtigung bestimmt (Stephan, Renfro, Esses, Stephan u. Martin, 2005): 1. Die Verunsicherung wirkt sich vor allem auf der Handlungsebene aus: Da fremdartiges und ungewohntes Verhalten von Migranten erwartet wird, werden Kontakte gemieden, missglückte Kontaktversuche beider Seiten werden leicht zu Beweiserlebnissen für die Vorannahmen, dass die Anderen so verschieden sind, dass ein Kontakt kaum möglich ist. Bestehende Barrieren, beispielsweise durch Sprache, Status, Wohngegend und tatsächliche kulturelle Unterschiede, erschweren den persönlichen
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Kontakt noch weiter. Das Ausmaß der Handlungsunsicherheit unterscheidet sich nach Migrantengruppe, je nach wahrgenommener kultureller Unterschiedlichkeit. Aus den großen Zuwanderergruppen (Türkei, Griechenland, Italien, Staaten des ehemaligen Jugoslawiens, GUS-Staaten) lösen die Türken eindeutig die größte Unsicherheit aus, da sie am unterschiedlichsten in ihrem Denken, Verhalten und ihren Wert- und Normvorstellungen von den Deutschen wahrgenommen respektive eingeschätzt werden (Stephan et al., 2005; Rohmann, Florack u. Piontkowski, 2006). Die Wirkung ist eine Tendenz zum Rückzug in die eigenkulturelle Gruppe, da diese mehr Sicherheit und Verständnis und weniger Bedrohung verspricht (vgl. auch Tjaya u. Ehret in diesem Band). 2. Das Bedrohungsempfinden kann auf zwei Ebenen auftreten: a) Eine symbolische Bedrohung wird durch Migranten hervorgerufen, wenn ihre Wertvorstellungen als konkurrierend und kaum kompatibel zu den einheimischen Wertvorstellungen wahrgenommen werden. Am deutlichsten tritt dies in den Bereichen der Erziehung, Religion oder Geschlechterrollen zu Tage, denen für die Wertetransmission weitreichende Bedeutung zukommt. Belege dafür geben der öffentliche Diskurs um Kopftücher, Moscheenbau, Vereinbarkeit von Koran und Grundgesetz oder Gewaltanwendung in der Erziehung in Migrantenfamilien. Interessanterweise stellen Erziehung, Religion und Geschlechterrollen auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft Wertekonzepte dar, die bei Weitem nicht so homogen auftreten, wie dies in der Debatte oft den Anschein macht. Vielmehr sind gerade sie viel diskutierte Themen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, die von Umbruch und Wandel gekennzeichnet sind. Somit eignen sie sich in der politischen Auseinandersetzung, um den Zusammenhalt innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu fördern beziehungsweise das eigene politische Umfeld stärker an sich zu binden. Von allen Migrantengruppen in Deutschland sind es wiederum die türkischstämmigen Migranten, die von den Deutschen auf dieser Ebene als besonders bedrohlich wahrgenommen werden. Sie selbst fühlen sie sich im Vergleich mit anderen Migrantengruppen von der
214 Stefan Schmid deutschen Mehrheitsgesellschaft am meisten bedroht (Piontkowski, Rohmann u. Florack, 2002; Rohmann et al., 2006). b) In Abgrenzung dazu wird das Empfinden realistischer Bedrohung durch die Wahrnehmung einer Konkurrenzsituation um knappe Ressourcen, wie zum Beispiel Arbeitsplätze, staatliche Unterstützung oder Ausbildungsplätze, hervorgerufen. Die tatsächliche Knappheit von Ressourcen fördert diese Einschätzung, sie kann allerdings auch auf der rein subjektiven Einschätzung durch die beteiligten Personen fußen. Verstärkt wird ein Wettkampf um Ressourcen von Personen empfunden, die sogenannte Nullsummenüberzeugungen hegen, das heißt, sie gehen davon aus, dass durch Zuwanderung der gesellschaftlich zu verteilende Kuchen nicht größer, sondern das individuelle Stück kleiner wird. Aufgrund einer verbreiteten »Das-Boot-ist-voll«-Argumentation ist genau diese Einstellung in Deutschland lange Zeit gezielt gestützt worden. Ähnliches gilt für die soziale Dominanzorientierung – eine Persönlichkeitsvariable, die beschreibt, welche Vorstellung der Einzelne über die Machtverteilung zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppierungen für richtig hält. So konkurrieren Gleichverteilung und beispielsweise Abgrenzung und Bewahrung des Machtmonopols der Mehrheitsgesellschaft. Einige Autoren werten das im internationalen Vergleich restriktive deutsche Staatsbürgerschaftsrecht als Indikator für eine ausgeprägte soziale Dominanzorientierung, die Migranten nur zögerlich die gleichen Rechte und Möglichkeiten zugesteht wie Deutschen (Bourhis, Moise, Perreault u. Senécal, 1997; Zick, Wagner, van Dick u. Petzel, 2001). Hier besteht ein Wertedilemma innerhalb der Aufnahmegesellschaft: Gesteht man den Zuwanderern nicht die gleichen Chancen zu wie den Einheimischen, verstößt man gegen die eigenen Wertvorstellungen der Chancengleichheit und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass gehegte Nullsummenüberzeugungen wahr werden und Migranten mehr von Sozialsystemen profitieren, als sie dazu beisteuern. Eine klassische selbsterfüllende Prophezeiung. Wird ihnen schnellere Teilhabe innerhalb der Gesellschaft ermöglicht, erhöht sich deren gesellschaftlicher Beitrag, aber auch ihre unmittelbare
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Konkurrenzfähigkeit. Dieses Dilemma erzeugt eine beträchtliche Handlungsunsicherheit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, da ein potenzieller langfristiger Nutzen gegen ein unmittelbares Risiko abgewogen werden muss. Dieser ambivalente Zustand bietet sich für Politiker und Medien an, um meinungsbildend tätig zu werden, wie noch näher ausgeführt wird. Wenig überraschend fallen die Polarisierungen zu Lasten der Migranten deutlich schwächer aus, wenn Einwanderer als Wählergruppe zu berücksichtigen sind (Pratto u. Lemieux, 2001). Das realistische Bedrohungspotenzial differiert je nach Migratengruppe und individueller Perspektive des Betrachters: Zum Beispiel werden indische IT-Fachleuten eher von akademischen Arbeitnehmern als Konkurrenz eingeschätzt – türkischstämmige Eltern dagegen von deutschen Eltern als Wettbewerber um Kindergartenplätze. Studien zeigen die Eskalationsstufen einer wahrgenommenen realistischen Bedrohung für die Intergruppenbeziehungen. Es besteht die Tendenz, 1. den Kontakt zwischen den Gruppen zu reduzieren, 2. die eigene Gruppe zu fördern und positiver bewerten, 3. die fremde Gruppe gezielt am Zugang zu Ressourcen zu hindern (Esses, Jackson, Dovidio u. Hodson, 2005). Zusammenfassend zeigt sich, dass in Abhängigkeit von den vorherrschenden Stereotypen über die einzelnen Migrantengruppen, diese aufseiten der Aufnahmegesellschaft eine unangenehme Handlungsunsicherheit auslösen, deren Wertesystem in Frage stellen und Wertedilemmata für die Aufnahmegesellschaft selbst aufwerfen. Darüber hinaus können sie in unterschiedlichen Lebensbereichen als Konkurrenz um knappe Ressourcen empfunden werden, was aufgrund der Einwanderungsgeschichte und ihrer Rezeption in der Bundesrepublik eine nach wie vor verbreitete Einschätzung darstellt. Anders als in Wirtschaftskooperationen mit transparenten wechselseitigen Abhängigkeiten (Kunden-Lieferanten-Beziehungen) fällt die Bereitschaft zur Anpassung an die Werthaltungen der Neuankömmlinge geringer aus, da in bestehenden Gruppen die Annahme eines Vorrechtsanspruch der Altmitglieder gegen-
216 Stefan Schmid über Neuen verbreitet ist. In den vorangegangenen Ausführungen lag der Fokus aufseiten der Aufnahmegesellschaft. Zieht man in Betracht, dass die Migranten denselben Prozessen (Verunsicherung, symbolische und realistische Bedrohung) unterliegen, werden die Spannungen im interkulturellen Dialog zwischen Einheimischen und Migranten nachvollziehbar. Eine besondere Bedeutung in der Einschätzung des Bedrohungspotenzials kommt dem Bild zu, dass die deutsche Aufnahmegesellschaft von Migranten hat. Dieses wird durch die mediale Vermittlung der Fremdgruppe bestimmt, durch das kollektive, historische Gedächtnis und den unmittelbaren Kontakt zu der Gruppierung.
2 Kontakt zwischen Deutschen und Migranten: Wer zieht sich vor wem zurück? In Anbetracht der geschilderten Abgrenzungstendenzen verwundert es nicht, dass die Kontakte zwischen Migranten und der Majoritätsgesellschaft seltener auftreten als innerhalb der jeweiligen Gruppen (Seifert, 1995). Die diesbezüglichen Unterschiede zwischen den einzelnen Migrantengruppen und Generationen variieren jedoch erheblich. Dennoch zeigen jüngste Untersuchungen, dass der Anteil von türkischen Migranten, die regelmäßigen, bedeutsamen Kontakt mit Deutschen haben, nicht der öffentlichen Wahrnehmung entspricht: Nur 20 % der türkischen Familien leben in ethnisch geprägten Wohnumgebungen und 70 bis 80 % haben in der Nachbarschaft und im Bekanntenkreis regelmäßig Kontakt mit Deutschen (Sauer u. Goldberg, 2001), 40 % pflegen sogar freundschaftliche Beziehungen zu Deutschen (Sauer, 2007). Die Kontakthäufigkeit zu Deutschen hängt stark mit dem beruflichen Status der Migranten zusammen: Ungelernte Arbeiter weisen deutlich seltener Freizeitkontakte zu Deutschen auf (31 %) als Fach- oder Vorarbeiter (85 %) (Seifert, 1995). Aus deutscher Sicht stellt sich die Situation etwas anders dar. Hier ist der Anteil der Erwachsenengeneration mit direktem Kontakt zu Migranten sehr gering, meist beschränkt er sich auf professionelle Kontakte (Mitarbeiter im Gesundheits- und Bildungswesen beziehungsweise bei Behörden und Beratungsstellen). Dies könnte neben der Mediendarstellung zur
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Wahrnehmung der überwiegenden Abgeschlossenheit der Migrantengruppen beitragen. Diese Einschätzung der Migranten als abgeschottete Gruppierungen fördert das Gefühl der symbolischen Bedrohung, denn homogene kulturelle Enklaven werden zutreffenderweise mit der Beibehaltung ihrer eigenen kulturellen Werte in Verbindung gebracht. Dieses Phänomen ist allerdings ein migrationstypisches und nicht kulturspezifisches und wird besonders bei kulturell salienten und bedrohlichen Gruppen wahrgenommen und berichtet (Ward, Bochner u. Furnham, 2001). So bildeten auch bayerische Migranten in den USA über ein bis zwei Generationen kulturell homogene Stadtviertel, die eine erste Anlaufstation für die Neuankömmlinge darstellten, wo sie zunächst auf Vertrautes in der Fremde trafen. Ausgehend von dort konnten sie sich dann je nach Persönlichkeit und wirtschaftlichem Erfolg unterschiedlich schnell akklimatisieren (Hamm, Henker u. Brockhoff, 2004). Der geringe Kontakt der Einheimischen mit Migranten ist kritisch zu beurteilen, denn eine Reihe von Forschungsansätzen wie die Kontakthypothese, die Austauschforschung, Theorien zu Gruppenkonflikten und interkulturellem Lernen betonen den unmittelbaren Kontakt als Grundlage für die Verbesserung von Intergruppenbeziehungen. Für die Situation in Deutschland verdienen vor allem folgende Aspekte kritische Aufmerksamkeit: 1. Über einen längeren Zeitraum geteilte Aufgaben und Ziele sowie die daraus resultierenden Abstimmungsprozesse und wechselseitige Abhängigkeit tragen bei Statusgleichheit dazu bei, dass sich vormals Fremde als Angehörige einer Gruppe empfinden. Bis auf den Faktor »Status« könnten diese Bedingungen im Erwerbsleben in Deutschland nahezu erreicht werden. Allerdings ist es nach wie vor so, dass die Führungspositionen und die fachlich qualifizierten Tätigkeiten überwiegend von Deutschen besetzt werden und Migranten eher in niedrig qualifizierten Jobs unter sich bleiben und damit die erwünschten Effekte überschaubar bleiben (Seifert, 1995). Die PISA-Ergebnisse zur Schichtspezifität des deutschen Bildungssystems lassen einen diesbezüglich nicht zu optimistisch in die nächste Zukunft schauen. Dabei könnte gerade die Schule im Rahmen von kooperativen Lernformaten Raum bieten, diese Anforderung von geteilten Zielen und wechselseitiger Abhängigkeit von Status-
218 Stefan Schmid gleichen über einen längeren Zeitraum umzusetzen. Zumal die Forschungsresultate dazu vielversprechend sind. 2. Die Kontakthypothese und ihre Weiterentwicklungen zeigen außerdem, dass die Haltung äußerer Autoritäten (Parteien, staatliche und gesellschaftliche Institutionen, Medien) Modellcharakter besitzen und damit notwendige Ergänzungen zu gemeinsamen Zielen und Aktivitäten darstellen, wenn Intergruppenbeziehungen verbessert werden sollen. Systematische Studien zur Wirkung der Aussagen politischer Autoritäten zu Migrationsfragen liegen nur wenige vor, zeigen aber, dass kritische Aussagen gegenüber Migrantengruppen nicht nur bei diesen eine ablehnende Haltung gegenüber der Aufnahmegesellschaft fördern, sondern vor allem dem Zusammenhalt in migrationskritischen Gruppen der Aufnahmegesellschaft dienen. Migrationspolitik dient häufig der Befriedigung eines Orientierungsbedürfnisses bei den Angehörigen der Aufnahmegesellschaft: Migration stellt ein ambivalentes Phänomen dar, das sowohl als Bereicherung als auch Bedrohung empfunden werden kann. Indem Politik einen dieser Pole favorisiert, gibt sie Orientierung und löst damit eine unangenehme ambivalente Situation auf, gibt eine Richtlinie für Verhaltensweisen vor und eine klare Rechtfertigung für bestimmtes Vorgehen (Pratto u. Lemieux, 2001). Durch eine zunehmend von Sicherheitsfragen getriebene Migrationsdebatte und Vorgehensweise staatlicher Institutionen verschlechtern sich die Rahmenbedingungen für Intergruppenbeziehungen im Sinne der Kontakthypothese seit dem 11. September 2001 (Bommes u. Schiffauer, 2006). Die Auswirkungen spiegeln sich in Studien zu Intergruppenbeziehungen zwischen Deutschen und türkischen Migranten wider (Sauer, 2007). 3. Die Bedeutung interkultureller Handlungskompetenz für den interkulturellen Dialog zwischen Migranten und Deutschen findet im Schatten der Diskussion um Deutschkenntnisse nur wenig Aufmerksamkeit. Formalisierte interkulturelle Lernangebote für Migranten waren in Deutschland bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes im Januar 2005 die Ausnahme. Die jetzige Form dieser Kurse konzentriert sich auf die Vermittlung abprüfbarer Daten und Fakten zu Deutschland und enthält wenig alltagsrelevante Informationen, die Migranten unter-
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stützen, möglichst schnell selbstständige Handlungssicherheit in Deutschland zu gewinnen. So bleibt es höchst fragwürdig, ob die 30-stündigen Orientierungskurse geeignet sind, interkulturelle Handlungskompetenz zu fördern. Die aktuelle Evaluation dieser Kurse durch das Bundesinnenministerium belegt sehr deutlich die nachrangige Bedeutung, die der interkulturellen Kompetenzentwicklung bei Migranten beigemessen wird, die Schwächen im Curriculum und die mangelnde Qualifikation des Lehrpersonals, interkulturelle Lernprozesse zielführend zu unterstützen. Auf Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist in den letzten Jahren ein schleichender Wandel spürbar: Interkulturelle Handlungskompetenz wird nicht nur mehr als ein Lernfeld für Experten in Migrationsfragen gesehen, wie zum Beispiel Asyl- oder Migrationsberater (vgl. auch Abt in diesem Band), sondern auch andere Professionen, die mit Migranten ständigen Kontakt haben, sehen diese Kompetenz zunehmend als nützlich und notwendig für ihre Tätigkeit an. An immer mehr Hochschulen wird interkulturelle Handlungskompetenz als Schlüsselqualifikation fächerübergreifend gelehrt, hier jedoch meist noch mit Fokus auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Es ist zu erwarten, dass die Thematik noch stärkeren Einzug an den Schulen hält, die aufgrund der multikulturellen Zusammensetzung vieler Schulklassen ein optimales interkulturelles Lernumfeld bieten, das aber nur bei ausreichenden Ressourcen und systematischer Qualifizierung der Lehrer genutzt und ausgeschöpft werden kann (vgl. auch de Ponte in diesem Band).
3 Divergierende Vorstellungen über das Zusammenleben in einem multikulturellen Deutschland In der Migrationsforschung kommt der Frage nach den Vorstellungen von Migranten und Angehörigen der Aufnahmegesellschaft über die richtige Form des Zusammenlebens zentrale Bedeutung zu. Die vielfältigen Annahmen darüber, wie Akkulturation als die wechselseitige Beeinflussung von Migranten und Einheimischen erfolgen soll, lässt sich anhand von zwei Fragen grob klassifizieren (Bourhis et al., 1997). Für Migranten lauten diese:
220 Stefan Schmid 1. Wird es als wertvoll erachtet, die eigene kulturelle Identität beizubehalten? 2. Wird es als wertvoll erachtet, die kulturelle Identität der Aufnahmekultur anzunehmen? Die beiden Fragen können unabhängig voneinander beantwortet werden, so dass sich aus deren Kombination vereinfacht dargestellt vier Variationen ableiten lassen: Aus Sicht der Migranten definiert das Aufgeben der eigenen kulturellen Wurzeln bei gleichzeitiger Annäherung an die Aufnahmekultur die Assimilationsorientierung. Im Gegenzug dazu wird bei Wertschätzung für die eigene Kultur und Vermeidung der Majoritätsgesellschaft eine Separationsorientierung verfolgt. Besteht ein Bedürfnis, sowohl die eigenen kulturellen Wurzeln zu pflegen und zugleich mit der Aufnahmegesellschaft in Kontakt zu treten, spricht man von einer Integrationsorientierung. Marginalisierung tritt auf, wenn wenig Interesse (oder Möglichkeit dazu) am eigenen kulturelle Erbe besteht und darüber hinaus kein Interesse an einem Kontakt zur Aufnahmegesellschaft. Entsprechend lauten die Klassifikationsdimensionen aufseiten der Aufnahmegesellschaft: 1. Akzeptieren Sie, dass Migranten die kulturelle Identität der Aufnahmegesellschaft annehmen? 2. Können Sie es akzeptieren, dass Migranten ihre kulturelle Identität beibehalten? Daraus lassen sich wiederum vier Antwortkonstellationen ableiten (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Akkulturationsorientierungen der Aufnahmegesellschaft (Bourhis et al., 1997) Können Sie es akzeptieren, dass Migranten ihre kulturelle Identität beibehalten? Akzeptieren Sie, dass Migranten die kulturelle Identität der Aufnahmegesellschaft annehmen?
Ja
Nein
Ja
Integration
Assimilation
Nein
Segregation
Exklusion
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Die Weiterentwicklungen dieser Forschungsrichtung betonen, dass neben generellen Akkulturationsvorstellungen auch lebensbereichsspezifische Ausprägungen vorliegen. So neigen Migranten im Arbeitsleben oft stärker zu Assimilation als beispielsweise im Bereich Erziehung. Einheimische erwarten im Arbeitsleben eher Assimilation als in Bezug auf Familienleben. Darüber hinaus können die Akkulturationsvorstellungen der Aufnahmegesellschaft je nach Migrantengruppe differieren. In den letzten sechs Jahren wurde eine ganze Reihe von Studien veröffentlicht, die sich auf der Basis der Forschung zu Akkulturationsorientierungen (Bourhis et al., 1997) mit den Beziehungen zwischen Einheimischen und Migranten in Deutschland beschäftigen (Rohmann et al., 2006). In diesen Studien wird differenziert, ob Migranten und Einheimische unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf das Beibehalten der Herkunftskultur haben (KulturProblematik) oder ob die Divergenzen im Bereich der Annäherung und Übernahme der Aufnahmekultur liegen (Kontakt-Problematik). Empirische Befunde belegen, dass Konkordanz und Diskordanz auf kultureller und Kontaktebene unterschiedliche Auswirkungen haben können. So werden türkische Migranten von Deutschen als bedrohlich und wenig bereichernd wahrgenommen, wenn bei diesen divergierende Vorstellungen zum Beibehalten der türkischen Herkunftskultur im Vergleich zu den Deutschen vermutet werden (Stephan et al., 2005). Anders sieht dies bei der Einstellung zur Aufnahme des Kontaktes mit der deutschen Kultur aus: Keine Kontaktbereitschaft türkischer Migranten beunruhigt Deutsche nicht, außer es wird angenommen, dass sie ihre Kultur beibehalten wollen. Interessanterweise empfinden Deutsche Italiener und Polen, bei denen sie diskordante Vorstellungen zur Beibehaltung ihrer Herkunftskultur vermuten nicht als bedrohlich. Der größere Bedrohungscharakter der Türken auf der kulturellen Ebene lässt sich wohl auf die beträchtliche kulturelle Distanz und die unterschiedlichen Religionen in Deutschland und der Türkei zurückführen (Piontkowski et al., 2002; Rohmann et al., 2006). Fasst man die sehr umfangreichen Ergebnisse dieser Studien zusammen, so zeichnet sich folgendes Bild ab: − Integration ist auf beiden Seiten die häufigste Akkulturationsorientierung. − Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern treten in Deutschland bei Einheimischen und Migranten Separations-
222 Stefan Schmid beziehungsweise Segregationsorientierungen deutlich häufiger auf (Zick et al., 2001; Jasinskaja-Lahti, Liebkind, Horenczyk u. Schmitz, 2003). Dies wird mit dem Gastarbeitererbe der deutschen Migrationsgeschichte erklärt. Aufgrund der häufigeren Konkordanz zwischen Separations- und Segregationsorientierung weisen Migranten mit dieser Orientierung in Deutschland nahezu die gleiche Lebenszufriedenheit auf, wie Personen mit Integrationsorientierung, die in nahezu allen internationalen Studien mit dem niedrigsten Stress verbunden ist (JasinskajaLahti et al., 2003; Berry, Phinney, Sam u. Vedder, 2006). − Die deutsche Mehrheitsgesellschaft überschätzt die ohnehin schon stärker ausgeprägte Separationsorientierung aufseiten der Migranten, während diese die deutschen Akkulturationsorientierungen realistisch einschätzen (Pfafferot u. Brown, 2006; Zagefka u. Brown, 2002). Dies bestärkt die These, dass die Migranten aufgrund ihres Kontakts mit Deutschen zu einer realistischeren Einschätzung kommen als die deutsche Seite, deren Vorstellungen über Migranten sich stärker aus den medialen Berichterstattungen speist, die seit dem 11. September 2001 durch eine einseitigere, negative Darstellung muslimischer Migranten gekennzeichnet ist (Halm, 2006; Schiffer, 2004). − Deutsche fühlen sich von türkischen Migranten am meisten bedroht (symbolisch und realistisch) und verunsichert; türkische Migranten fühlen sich von allen Migrantengruppen in Deutschland am meisten unter Druck gesetzt, ihre kulturelle Identität aufzugeben. Diese Einschätzung deckt sich mit den tatsächlichen Erwartungen der Deutschen an die Türken (Rohmann et al., 2006; Piontkowski et al., 2002). Türkische Migranten, die diesen Druck empfinden, weisen eine beeinträchtige Lebenszufriedenheit und erhöhten Stress auf. Aus diesen Ergebnissen lässt sich folgern, dass sich das Bedrohungsempfinden der Deutschen zum einen aus der Fehleinschätzung der Migranteneinstellungen (Überschätzung der Separation) speist und zum anderen durch die Überzeugung, dass deren Beibehalten der Herkunftskultur nicht tolerierbar ist und diese dennoch praktiziert wird. Dadurch fühlen sich selbst Migranten mit Integrationsorientierung unter Anpassungsdruck und Stress, da sie
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neben einer Annährung an die deutsche Kultur ihre Herkunftskultur nicht aufgeben wollen. Besonders problematisch ist diese Konstellation, da sie die Gefahr einer Eskalation birgt: Je mehr Druck aufseiten der Migranten empfunden wird, um so mehr wächst das Bedürfnis, sich in die Herkunftskultur als Refugium zurückzuziehen (Ward et al., 2001). Dies lässt das ohnehin schon ausgeprägte Bedrohungsempfinden auf deutscher Seite steigen und es wird noch mehr Druck zur Anpassung ausgeübt. Dieser für die Intergruppenbeziehungen und den Integrationsprozess schädliche Teufelskreis scheint mittlerweile eine gewisse Wirksamkeit zu entfalten (Sauer, 2007; Halm, 2006). Um diesen Kreislauf abzuschwächen, empfehlen sich paradox erscheinende Interventionen: Durch die Stärkung, Förderung und damit positive Bewertung der Herkunftskultur von Migranten können diese für die Aufnahmekultur gewonnen werden. Eine Verteidigung und ein Festklammern am Eigenen wird weniger nötig und eine echte Akzeptanz durch die Aufnahmegesellschaft erscheint wirklich möglich (Ward et al., 2001).
4 Die Rolle der Medien und des politischen Diskurses Wie in den beiden vorangegangenen Absätzen deutlich wurde, kommt der Medienberichterstattung und der über Medien vermittelten politischen Debatte eine besondere Bedeutung und Verantwortung für die Intergruppenbeziehungen zwischen Migranten und Einheimischen zu. Entsprechend erfährt sie in der Forschung eine beträchtliche Aufmerksamkeit. Im Falle von ambivalenten, instabilen Einstellungen kommt immer wiederkehrenden Informationen mit scheinbarem Neuheitscharakter eine große Wirksamkeit zu, die individuelle aktuelle Meinung, zum Beispiel über Einwanderergruppen und den Umgang mit ihnen, unmittelbar zu beeinflussen (Pratto u. Lemieux, 2001), insbesondere wenn der unmittelbare, persönliche Zugang zu Informationen fehlt. Dies konnte für unterschiedliche Migrantengruppen, realen wie fiktiven, mehrfach gezeigt werden (Esses et al., 2005; Pratto u. Lemieux, 2001). Umso nachdenklicher stimmen die sehr kritisch ausfallenden Analysen von Massenmedien und Protokollen der Debatten im Bundestag in Bezug auf den Islam und muslimische Migranten in
224 Stefan Schmid Deutschland (Schiffer, 2004; Halm, 2006). Schiffer beschreibt in ihrer Dissertation den Prozess, wie Journalisten aufgrund der Komplexität der Thematik statt Hintergründe für kulturspezifisches Verhalten und normales Leben von Muslimen zu beschreiben, sich auf das Besondere, Extreme und das Symbolhafte (z. B. Kopftücher, Scharia) konzentrieren (Schiffer, 2004). Dies sichert die Aufmerksamkeit der Leser in der medialen Konkurrenz. Die stetige Wiederkehr bestimmter Themen wie Ehrenmorde, Terrorismus, Zwangsehen fördert bei den Lesern das Gefühl der Glaubwürdigkeit der Darstellung und die Virulenz der Thematik – selbst wenn wissenschaftliche Studien belegen, dass diese Themen mit der Lebenswelt der allerwenigsten muslimischen Migranten in Deutschland zu tun haben (Boos-Nünning u. Karakasoglu, 2004; Sauer, 2007). Die Diskussion wird aber so geführt, als ob sie wesentlich für die Integration der Mehrheit der muslimischen Migranten wäre. Auch im politischen Diskurs wird dies aufgegriffen und die Integrationsdebatte zunehmend unter Gesichtpunkten der inneren Sicherheit bestritten (Bommes u. Schiffauer, 2006; Halm, 2006). Das Institut für Türkeistudien, das in seiner Untersuchung die Medienberichterstattung und Protokolle des Bundestags vor und nach dem 11. September einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen hat, stellen in der Zusammenfassung seiner Ergebnisse fest, dass sich ein »islamophober Diskurs etabliert [hat], der auch Einstellungsveränderungen in der deutschen Bevölkerung nach sich gezogen hat, die sich in mangelnder Differenzierungsfähigkeit gegenüber dem Islam […] manifestieren« (Halm, 2006).
5 Fazit Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Hypothese, dass der interkulturelle Dialog zu Migrationsfragen in Deutschland angespannt verläuft, besonders wenn er sich auf türkische Einwanderer, die größte Migrantengruppe, konzentriert. Eine zentrale Ursache dafür stellt das Bedrohungspotenzial dar, das Aufnahmegesellschaft und Migranten sich gegenseitig zuschreiben. Die alternativen Wertesysteme werden häufig als unvereinbar und als Bedrohung für die eigene Lebensweise empfunden, die jeweils andere Gruppierung
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als Konkurrent um knappe Ressourcen. Weiter angeheizt wird das Klima durch das unangenehme Gefühl der Verunsicherung, durch antizipierte Fremdheit, die gerade aufseiten der Deutschen zu selten Auflösung durch bedeutsamen Kontakt zu Migranten oder Maßnahmen zur Förderung des gegenseitigen interkulturellen Verständnisses findet. Die Deutschen überschätzen die Separationsbestrebungen der Migranten, was ihr Bedrohungsempfinden weiter nährt, Medien und die politische Debatte unterstützen die Wahrnehmung von Unterschieden und Abgrenzung. Dies sind denkbar schwierige Bedingungen für einen interkulturellen Dialog, der die Verbesserung des Zusammenlebens zwischen den Angehörigen der beiden Gruppen zum Ziel hat. Die Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Situation sind vielfältig und versprechen dennoch keine einfache und schnelle Lösung der auftretenden Spannungen in einer multikulturellen Gesellschaft. Dringend nötig wäre es, das Aufschaukeln der gegenseitigen Bedrohung und Verunsicherung einzudämmen. Dafür ist mehr Wissen über und mehr Kontakt zwischen beiden Seiten nötig, der realistisch von Medien und Politik begleitet wird. Sinnvoll wäre eine breite Förderung interkultureller Kompetenz und des Wissens über Migrationsprozesse in Bezug auf die am stärksten in Deutschland vertretenen Migrantengruppen im staatlichen Bildungswesen. Ebenso sollten Migranten bald nach ihrer Einreise nach Deutschland handlungsrelevante interkulturelle Trainings erfahren, wie sie in der Wirtschaft vielfach für ausländische Mitarbeiter und deren Familien mit großem Erfolg durchgeführt werden. Dies würde ein besseres gegenseitiges Verständnis ermöglichen, das eigene Handlungsrepertoire und Einschätzungsvermögen bei interkulturellen Konflikten fördern und vor zu leichter Vereinnahmung durch Medien und vor politischer Instrumentalisierung schützen. Eine Verstärkung von systematisch begleiteten Begegnungsmaßnahmen zwischen Deutschen und Migranten (z. B. innerdeutscher Schüleraustausch; vgl. auch de Ponte in diesem Band) könnte das theoretische Wissen mit echtem Kontakt und Erfahrung untermauern. Die multikulturelle Gesellschaft ist nicht gescheitert, sondern eine Realität in Deutschland, bei der es keine Alternative zum interkulturellen Dialog als Gestaltungsmittel gibt.
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Heike Abt
Interkultureller Dialog mit Migranten in sozialen und öffentlichen Einrichtungen
»Warum soll ich mich anpassen, wir sind doch hier in Deutschland und da sollten sich die Migranten an uns anpassen!«, so hört man es oft, wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen öffentlicher und sozialer Einrichtungen wie Ämter, Behörden, Schulen und Beratungsstellen (im Weiteren Mitarbeiter der Regeldienste genannt) sich auf den beruflichen Dialog mit Klientel aus fremden Kulturen vorbereiten sollen. Neben diesen eher emotionalen Widerständen erscheint es ihnen verständlicherweise unmöglich bis unzumutbar, sich auf die Vielzahl von Kulturen, mit denen sie es täglich zu tun haben, einzustellen. Dennoch ist für den erfolgreichen beruflichen Dialog eine Vorbereitung auf die spezielle Gruppe der Migranten möglich und notwendig. So kann den Ansprüchen an den interkulturellen Dialog, wie sie bei Thomas (vgl. Beitrag in diesem Band) formuliert sind, entsprochen werden. Nur mit entsprechender Qualifikation der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kann eine hochwertige Kooperation und Beratung von Menschen mit Migrationshintergrund in den sozialen und öffentlichen Einrichtungen stattfinden. In diesem Beitrag geht es darum, Konfliktfelder im Dialog mit Migranten in den Regeldiensten näher zu beleuchten und die Anforderungen an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zur Gestaltung eines erfolgreichen Dialogs darzustellen. Der Termin Ein türkischstämmiger Migrant betritt in Deutschland den Kinderhort seiner Tochter. Er hat ein Anliegen, das er vorbringen möchte, und beginnt daher mit der Erzieherin, die ihn begrüßt, ein Gespräch über seine Tochter und deren Hausaufgabenerledigung im Hort. Die Erzieherin jedoch weist ihn darauf hin, dass sie im Moment keine Zeit für ihn hat und er einen Gesprächstermin vereinbaren muss. Sie betont: »Sie können nicht einfach vorbeikommen und dann meinen, man habe sofort für Sie Zeit.« Sie findet
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das Verhalten des Mannes ärgerlich, zumal er selten zu den offiziellen Elternabenden erscheint, obwohl er schriftlich dazu eingeladen wird.
Das Verhalten des türkischstämmigen Migranten wird von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst: − Sein kultureller und religiöser Hintergrund aus seiner Herkunftskultur (das Mitgebrachte): In diesem Beispiel ist das Verhältnis zu Zeit und Terminen entscheidend. In der türkischen Kultur werden sowohl Regeln als auch Zeit eher relativ betrachtet (Appl, Koytek u. Schmid, 2007). Es herrscht ein polychrones Zeitverständnis vor und es erfolgt daher keine detaillierte Zeitplanung. Vielleicht war der Vater gerade zufällig in der Nähe des Hortes und dachte sich: »Da ich gerade hier bin, kann ich ja mal reingehen und sehen, ob ich mit jemandem über mein Anliegen sprechen kann.« Der Aufforderungscharakter der schriftlichen Einladungen wurde von ihm vermutlich nicht wahrgenommen. Er meinte, es handelte sich lediglich um eine Möglichkeit zum Gespräch unter vielen. − Seine Kenntnis über die deutsche Kultur und die damit in Verbindung stehenden Einstellungen, Wertungen und Erwartungen (das Wissen): Der Wissenstand und die Erfahrung mit Deutschland und den Deutschen bestimmen, in welchem Maße die Migranten in der Lage sind, sich den deutschen Handlungsweisen anzupassen. Vielleicht wusste der Vater durch die Einladungsbriefe des Hortes bereits, dass man in Deutschland zu Gesprächsterminen geladen wird, war sich aber nicht darüber im Klaren, dass spontane Gespräche ausgeschlossen sind und sogar für Unmut sorgen können. − Sein aktuelles Lebensumfeld (Milieu) in Deutschland, der damit verbundene Handlungsraum sowie seine aktuelle Lebenssituation und dadurch vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten (das Erleben): Das Milieu des Vaters gibt Auskunft über seinen sozio-ökonomischen Stand, seine Einstellungen und Werte und seinen Bildungshintergrund. Aus der Analyse dieser Faktoren wird zum Beispiel deutlich, ob der Vater den Inhalt der Einladungsbriefe richtig verstehen konnte, wie wichtig ihm die Schulbildung der Tochter ist und wie die familiären Kapazitäten zur Unterstützung der Tochter einzustufen sind. In einigen
230 Heike Abt Migrantenmilieus besitzt der Schulerfolg der Kinder einen hohen Stellenwert, jedoch der für Jungen einen höheren als der für Mädchen. Die Unterstützungsmöglichkeit durch die geringer gebildeten Eltern ist allerdings beschränkt. Daher stellen die Eltern hohe Erwartungen an Einrichtungen wie einen Hort, was zum Beispiel die Hausaufgabenbetreuung betrifft, und übertragen auch Verantwortung für den schulischen Erfolg ihrer Kinder an die Einrichtung, was von dieser abgelehnt wird. − Sein momentaner Gefühls- und Gesundheitszustand (das Aktuelle): Vielleicht ist der Vater über die Hausaufgabenerledigung seiner Tochter sehr besorgt oder verärgert, die Situation scheint ihm keinen Aufschub zu erlauben und er entscheidet sich daher, ohne Termin zum Hort zu gehen und das Gespräch mit einer Erzieherin zu suchen. Um sich auf derartige kulturell bedingte Konfliktfelder vorzubereiten, ist es notwendig, sich der eigenen Kulturalität bewusst zu werden, Wissen über fremdkulturelle Denk- und Handlungsweisen zu erwerben und sich mit den in Deutschland vorzufindenden Migrantenmilieus zu beschäftigen. Ziel dieser Maßnahmen ist die Steigerung der Handlungskompetenz im Umgang mit fremdkultureller Klientel. Die wichtigsten Bedingungen zur Qualifizierung des beruflichen Dialogs mit Migranten werden im Folgenden vorgestellt.
1 Kulturelle Selbstreflexion In jeder Situation, in der Menschen in einen Dialog treten, haben sie gewisse Vorannahmen und Erwartungen, wie sich ihr Gegenüber verhalten wird und/oder sollte, die sie aus ihrer Sozialisation und ihren Erfahrungen im Umgang mit Personen der eigenen Kultur in ihrem bisherigen Leben gesammelt haben. Innerhalb einer Kultur bestehen Normen bezüglich korrekten Verhaltens in bestimmten Situationen und gerechtfertigter Erwartungen an die Handlungspartner, die auch Selbstverständlichkeit in der Interaktion einbeziehen und daher nicht explizit geäußert werden müssen. Natürlich differieren auch hier die Vorannahmen und Erwartungen von Men-
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schen aus ein und derselben Kultur, aber deutlich weniger als zwischen Personen aus unterschiedlichen Kulturen, da sich Kulturen bezüglich der Bedeutungshaftigkeit und sinnstiftenden Funktionen voneinander unterscheiden. Für die Mitarbeiter der Regeldienste ist es daher zur Führung eines erfolgreichen Dialogs mit Migranten unerlässlich, sich über die eigenen Vorannahmen und Erwartungen an ihr Klientel klar zu werden, um diese dann auch kommunizieren zu können. Die von Schroll-Machl (2002) herausgearbeiteten deutschen Kulturstandards ermöglichen sinnvolle Ableitungen für den Dialog mit Migranten. Eine Analyse der in der Seminarpraxis der Autorin gesammelten Fallbeispiele zeigt (Abt, 2004–2007), dass vor allem folgende Aspekte des kulturspezifischen deutschen Orientierungssystems Erwartungen aufwerfen, die zu Missverständnissen in der Interaktion mit Migranten führen können: − Sach- und Regelorientierung, − individualistische Orientierung, − Zukunfts- und Handlungsorientierung, − deutsches Konfliktmanagement.
1.1 Sach- und Regelorientierung Aufgrund der ausgeprägten Sach- und Regelorientierung in Deutschland wird im beruflichen Dialog weniger Augenmerk auf den Aufbau von positiven personalen Beziehungen gelegt, als das in anderen Kulturen der Fall ist (vgl. z. B. Yoosefi u. Thomas, 2003, S. 70 ff.; Thomas u. Schenk, 2001, S. 115; Schroll-Machl u. Nový, 2003). Die Mitarbeiter der Regeldienste sind in ihrer Arbeit an Vorschriften und Bestimmungen gebunden, die ihren Spielraum für persönliche Auslegungen einschränken. Auch wenn es nicht immer gelingt, sollte es in Deutschland keine Rolle spielen, welcher Sachbearbeiter zum Beispiel am Arbeitsamt eine Sachlage bewertet, Gelder bewilligt oder Sanktionen verhängt. Die vorliegenden Fakten und die zur Bearbeitung verfügbaren Regeln verlangen ein bestimmtes Vorgehen vom Sachbearbeiter. Der Sympathie- oder Bekanntschaftsgrad zum Klienten darf bei Entscheidungen und Fallbearbeitungsprozessen keine Rolle spielen. Die deutsche Sach- und Regelorientierung bestimmt ebenfalls das Verhalten der Erzieherin im Hort im er-
232 Heike Abt wähnten Beispiel mit: Sie kommuniziert lediglich, dass zur Besprechung derartiger Themen ein Termin nötig ist, zeigt aber wenig Empathie, da sie nicht auf den Vater eingeht und ihm nicht einmal nach seinem Anliegen fragt. Sie macht keine Ausnahme möglich, der Vater muss sich an die Regelungen im Hort halten. Ein weiteres Beispiel wird immer wieder in der einen oder anderen Variante von Fachkräften im sozialen Regeldienst berichtet: »Im letzten Jahr hatte ich eine Stelle in einem Frauenhaus. Im Rahmen meiner Tätigkeit habe ich Beratungsgespräche mit den Bewohnerinnen geführt und sie bei vielen Schritten und notwendigen Erledigungen zur Entwicklung eines unabhängigen Lebens unterstützt und begleitet. Am Ende meines Arbeitsverhältnisses verabschiedete ich mich einzeln von den Bewohnerinnen, so auch von Frau M. aus dem Kosovo. Die Situation wurde für mich sehr unangenehm, da Frau M. mir einen 20-Euroschein zusteckte. Ich bemerkte das und weigerte mich natürlich, das Geld anzunehmen. Zum einen gehörte es zu meiner Tätigkeit, mich um die Bewohnerinnen zu kümmern, zum anderen weiß ich ja um die schwierige finanzielle Lage von Frau M. Aber auf meine Ablehnung ›Das kann ich leider nicht annehmen‹ reagierte Frau M. verärgert, wirkte verletzt und verweigerte die Rücknahme. Sie drohte sogar damit, den Geldschein zu zerreißen, wenn ich ihn nicht nähme.«
Für die deutsche Interaktionspartnerin war die Situation sehr unangenehm und emotional belastend, da sie das Geld aus unterschiedlichen Gründen nicht annehmen wollte: 1. Sie hat sich mit ihrer Tätigkeit in der Einrichtung identifiziert und war motiviert, die ihr übertragenen Aufgaben pflichtbewusst und nach ihren besten Möglichkeiten auszuführen. Dazu gehörte auch die Beratung von Frauen, wobei es zum Aufbau von persönlichen Beziehungen (im professionellen Rahmen) kommt. Sie erwartet neben der vertraglich geregelten Vergütung keine weiteren Gegenleistungen für ihre Tätigkeiten (vgl. Sachorientierung und internale Kontrolle, Schroll-Machl, 2002). Häufig fällt in diesem Zusammenhang bei den deutschen Mitarbeitern in sozialen Diensten der Satz: »Das ist doch meine Arbeit, dafür werde ich hier ja bezahlt.« Außerdem ist es in sozialen Einrichtungen meist festgeschrieben, dass Geschenke, die einen gewissen, geringen Wert überschreiten, nicht angenommen werden dürfen (Regelorientierung).
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2. Der Deutschen fällt es schwer, Geld als Dank von jemandem anzunehmen, der objektiv betrachtet weniger zur Verfügung hat als sie (Sachorientierung). Aus Sicht der beziehungsorientierten Kosovarin ist die Situation ebenfalls sehr unangenehm. Ihre Interpretation der Situation könnte folgendermaßen beschrieben werden: 1. Durch die intensiven Gespräche mit der Deutschen ist es zu einer persönlichen Beziehung zwischen ihnen gekommen, in der die Deutsche sehr unterstützend und hilfreich war. Frau M. fühlte sich verstanden und akzeptiert, die Deutsche war ihr sympathisch. Sie denkt, die Deutsche hat sich so verhalten, weil sie ihr, Frau M., wohlgesonnen war und nicht nur, weil es ihre Aufgabe im Rahmen des Praktikums war. 2. Am Ende des Praktikums möchte sie ihr daher ein Zeichen ihres Dankes übergeben und eventuell das Ungleichgewicht in der Beziehung zwischen ihnen ausgleichen. Verweigert die Deutsche die Annahme des Geldgeschenkes, so wird das Gleichgewicht in der Beziehung weiter gestört und Frau M. bliebe »auf ihrem Dank sitzen«, bleibt also auch der Praktikantin etwas schuldig. Um derartige Situationen für beide Seiten erfolgreich aufzulösen, könnte die Deutsche dem Geschenk gegenüber zuerst mehr Wertschätzung äußern, ihre Freude darüber bekunden, betonen, dass diese Geste nicht notwendig wäre, und auch deutlich machen, wie gerne sie das Geld annehmen würde. Nach einer ausführlichen Wertschätzung kann nun eingeleitet werden, dass sie das Geschenk leider nicht annehmen kann. Hier empfiehlt es sich Gründe anzugeben, die die Beziehung zwischen den beiden Akteuren nicht belasten, beispielsweise: »Aber leider hat das der Gesetzgeber verboten.« Sogenannte Ich-Botschaften sind hier kontraproduktiv zu bewerten, da sie von einem beziehungsorientierten fremdkulturellen Gegenüber persönlich genommen werden würden (»Ich kann das leider nicht annehmen« = »Ich will es nicht annehmen«). In einem weiteren Schritt sollte ein Angebot gemacht werden, dass der Kosovarin erlaubt, ihren Dank »loszuwerden«, und der Deutschen erlaubt, den Regeln zu entsprechen. Vielleicht gibt es in der
234 Heike Abt Einrichtung eine Kaffeekasse, einen Spendentopf oder Ähnliches, wo das Geld einzahlt werden kann. Diese Möglichkeit sollte aber erst dann in Betracht gezogen werden, wenn bereits viele Male betont wurde, dass es nicht nötig ist, so viel Geld zu geben. Vielleicht ermöglicht das dem fremdkulturellen Handlungspartner auch, die Geste ohne Gesichtsverlust zurückzunehmen.
1.2 Individualistische Orientierung Selbst in sozialen Beratungsstellen, die bereits gesteigerten Wert auf den Aufbau einer Beziehungsebene legen, ist der Beratungsstil von der Annahme der Selbstverantwortung des Klienten für seine Lage und deren Veränderung geprägt. Beratungsstellen wollen »Hilfe zur Selbsthilfe« leisten, sie nehmen dem Klienten aber keine Entscheidung ab oder sagen ihm, was zu tun ist. Entscheidungen trifft man in Deutschland selbstverantwortlich und steht auch allein für die Konsequenzen der eigenen Handlungen ein. So stellt der Aufbau von Selbstverantwortung in Deutschland ein zentrales Erziehungsziel in Familie und Schule dar. Daher werden auch Einrichtungen wie Horte keine Verantwortung für den schulischen Erfolg der bei ihnen betreuten Kinder übernehmen, da diese für ihre Leistungen in der Schule selbstverantwortlich sind. Hingegen sind in vielen eher familien- und gruppenorientierten Kulturen Loyalität und Gehorsam gegenüber der Familie und Anerkennung von Autoritäten zentrale Werte der Erziehung. So ist in türkischen Migrantenfamilien die Übernahme von Selbstverantwortung nicht als Erziehungsziel formuliert, vielmehr sollen die Kinder den Anweisungen ihrer Eltern Folge leisten und so die Interessen der Familie wahren (Toprak, 2004a, 2004b). Daher gehen beispielsweise viele Eltern aus diesem Kulturkreis davon aus, dass die Erzieherinnen im Hort für die angemessene Erledigung der Hausaufgaben zu sorgen haben. Die deutsche Gesellschaft und die eigene Familie stellen widersprüchliche Erwartungen an die türkischen Jugendlichen. So kann das beispielsweise in Beratung und Schule geforderte Maß an Selbstverantwortung oftmals nicht erfüllt werden, da es in der Familie nicht erlernt wurde.
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1.3 Zukunfts- und Handlungsorientierung Die deutsche Zukunfts- und Handlungsorientierung zeigt sich in der Überzeugung: »Wenn sich etwas in meinem Leben verändern soll, dann muss ich es selbst in die Hand nehmen.« Menschen in anderen Kulturen wie zum Beispiel Ostafrika (Mayer, Boness u. Thomas, 2003, S. 122 ff.) verlassen sich stattdessen auf das Schicksal, die glückliche Fügung, Gott, Magie oder andere Kräfte, die außerhalb ihrer selbst liegen, oder folgen lediglich dem Willen und den Anweisungen der Familie wie beispielsweise in türkischen Migrantenfamilien (Toprak, 2004a, 2004b). Dies führt dazu, dass sie von deutscher Seite häufig als passiv, uninteressiert oder gar »beratungsresistent« wahrgenommen werden. Aufgrund des Konzepts der Eigenverantwortung und der Beteiligung des Klienten am Veränderungsprozess erwartet der Berater Eigeninitiative vom Klienten, wohingegen der Ratsuchende erwartet, dass man ihm sagt, was zu tun sei (vgl. auch Hierarchieorientierung, z. B. in Russland; Yoosefi u. Thomas, 2003, S. 33 ff.), oder von der Annahme ausgeht, man könne die Geschicke nicht beeinflussen.
1.4 Deutsches Konfliktmanagement Bei der Lösung zwischenmenschlicher Konfliktsituationen zeigen sich kulturelle Unterschiede hinsichtlich der Selbstverantwortung und -verteidigung der involvierten Personen. Während man in Deutschland der Ansicht ist, dass Konflikte ausgetragen werden müssen, dass man dazu argumentativ und sachlich vorgehen muss und jede Person für sich selbst eintreten kann und sollte, werden in anderen Kulturen völlig andere Ansätze der Konfliktlösung bevorzugt. Hierzu ein Fallbeispiel einer Seminarteilnehmerin: »Ich leite eine soziale Wohneinrichtung in Deutschland. Unsere Bewohner und Bewohnerinnen kommen aus Deutschland und verschiedenen anderen Kulturen und leben hier bei uns zusammen, bis sie wieder ein selbstständiges Leben führen können. Natürlich kommt es im engen räumlichen Zusammenleben zu Streitereien und Konflikten zwischen ihnen. Was mir allerdings auffällt ist, dass besonders die afrikanischen Bewohnerinnen, zum Beispiel aus Kenia, mit jeder kleinen Streitigkeit zu mir kommen, den
236 Heike Abt Vorfall erzählen und dann erwarten, dass ich eine Lösung finde und die Angelegenheit für sie regle. Ich habe ihnen schon häufig versucht deutlich zu machen, dass sie sich um derartige Dinge selbst zu kümmern hätten. Zudem sind die deutschen Bewohner vom Verhalten der Kenianer verärgert, da sie nichts davon halten, wenn man gleich zur Leitung ›rennt und petzt‹. Sie wollen diese Konflikte lieber unter sich lösen, was auch meiner Vorstellung entspräche. Ich kann mich schließlich nicht um jeden kleinen Streit zwischen den Bewohnern selbst kümmern.«
Für die deutsche Leitung sind derartige Situationen lästig und unangenehm. Sie interpretiert das Geschehen folgendermaßen: 1. Die Kenianer sind unselbstständig. Sie können oder wollen sich um ihre Belange nicht selbst kümmern, sondern versuchen alles auf die Leitung »abzuwälzen«. Zudem verursachen sie dadurch weitere Konflikte zwischen den Bewohnern, da diese deren Verhalten negativ bewerten und sich wiederum darüber bei der Leitung beschweren (individualistische Orientierung und Handlungsorientierung). 2. Die Leiterin sieht es nicht als ihre Aufgabe an, derartige Angelegenheiten für die Bewohnerinnen zu regeln. Vielmehr versucht sie diese zur Selbstständigkeit anzuhalten, um ihr Zusammenleben selbst zu gestalten und sie so auf das Leben außerhalb der Einrichtung vorzubereiten (Sachorientierung und individualistische Orientierung). Aus ostafrikanischer Sicht stellt sich die Situation anders dar (Mayer, Boness u. Thomas, 2003, S. 40). 1. Als adäquate Konfliktlösungsstrategie gilt es hier, eine hierarchisch höher stehende Mittelsperson, im Beispiel die Leiterin der Einrichtung, aufzusuchen, die von den beteiligten Konfliktpartnern als Entscheidungsinstanz akzeptiert wird, und von ihr eine Lösung beziehungsweise eine Entscheidung der Zwistigkeit zu erhalten und diese dann umzusetzen. Selbstständiges Handeln der Konfliktpartner wird vermieden, vielmehr wird versucht, eine Triangulierung des Konflikts (Lösung durch Dritte) herbeizuführen. 2. Diese Strategie soll auch dazu führen, dass die am Konflikt beteiligten Personen ihre Beziehung zueinander möglichst wenig belasten, wie dies etwa durch heftige Wortwechsel geschehen
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würde. Sie werden vielmehr wieder zu einer Einheit zusammengefügt, die die Entscheidung der hierarchisch höher stehenden Person gemeinsam in Empfang nimmt. Als Handlungsvorschlag für die Leitung wäre es zu empfehlen, zuerst ein aufklärendes Gespräch mit den Beteiligten über unterschiedliche Möglichkeiten der Konfliktlösung anzubieten und dadurch deutlich zu machen, dass in Deutschland andere Erwartungen vorherrschen als in der ostafrikanischen Kultur. So kann ein Lernprozess bei den Kenianern angestoßen werden, der ihnen das deutsche Konfliktmanagement verständlicher macht. In weiteren Schritten könnten unterstützende Maßnahmen wie zum Beispiel Seminare zu diesem Thema angeboten werden. Zudem sollten die deutschen Bewohner darüber informiert werden, dass ihre bisherige Interpretation des Verhaltens der Kenianer als »Petzen« nicht kulturadäquat ist, sondern hier unterschiedliche Konfliktlösungsstrategien vorliegen. Bei der Bearbeitung dieses Fallbeispiels im Seminar wurde zusätzlich der Vorschlag eingebracht, kulturelle Unterschiede generell zu thematisieren, Befragungen dazu bei den Bewohnerinnen durchzuführen und gemeinsame Veranstaltungen zum interkulturellen Lernen in der Einrichtung anzubieten. Die dargestellten Beispiele aus der Seminarpraxis machen deutlich, dass kulturelle Selbstreflexion notwendig ist, um die eigenen Erwartungen an das Verhalten von Interaktionspartnern zu erkennen. Um zu einer kulturadäquaten Interpretation des fremdkulturellen Verhaltens zu kommen, bedarf es des Wissens über die Fremdkultur.
2 Erwerb von Wissen über die Fremdkultur und Aufbau von interkultureller Handlungskompetenz Um einen erfolgreichen Dialog führen zu können, sind für die Mitarbeiter in den Regeldiensten Informationen über die Ursprungskultur notwendig. Aus psychologischer Sicht ist für den interkulturellen Dialog daher Wissen über das kulturelle Orientierungssystem (Thomas, 2003) der fremdkulturellen Personen, also über ihr Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln von besonderer Bedeu-
238 Heike Abt tung. Dieses Wissen steht den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Regeldienste in unterschiedlichen Formen zur Verfügung beziehungsweise kann durch unterschiedliche Maßnahmen erworben werden.
2.1 Fachliteratur Viele der in der interkulturellen Fachliteratur erwähnten Forschungen befassen sich mit der Kultur im Zielland (z. B. Orientierungssystem der Türken in der Türkei aus deutscher Sicht) und nicht mit der Kultur, die Migranten in Deutschland pflegen und leben (Orientierungssystem der Türken in Deutschland). Außerdem beziehen sich die Arbeiten immer auf Interaktionen in einem beruflichen Umfeld und daher meist auf den Personenkreis eines bestimmten sozialen Milieus. Wenn auch Übertragungen der wissenschaftlichen Befunde auf die kulturell bedingten Denk- und Handlungsweisen von Migranten aus derselben Kultur möglich sind, gilt es dennoch zu beachten, dass sich Kulturen in der Diaspora anders entwickeln als im Heimatland. So kann es zu einer Betonung von kulturellen Eigenarten gerade durch die Migration kommen. Ein primäres Erziehungsziel türkischer Migranten ist es zum Beispiel, die Zusammengehörigkeit in der Familie stark zu fördern, in der Türkei selbst hat dieses Ziel in vergleichbaren Studien aber keine zentrale Bedeutung (Toprak, 2004a, S. 36). Es gewinnt durch die Migration an Bedeutung, da hier die Familie als einziger Rückzugsort und Rückhalt in schwierigen Situationen erlebt wird (Betonung der Familienorientierung, Abschwächung der individualistischen Tendenzen). Die deutsch-fremdkulturellen Kulturstandards, die in der Fachliteratur dargestellt werden, müssen also hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf die Migranten aus der jeweiligen Kultur überprüft werden, dienen aber als stabile Wissensbasis, um Hypothesen zum Verhalten der fremdkulturellen Handlungspartner generieren zu können und Handlungsalternativen zu entwickeln. In den erwähnten Veröffentlichungen wird ebenfalls auf die historischen, politischen und religiösen Hintergründe eingegangen, die zur Erklärung der Unterschiedlichkeiten herangezogen werden können. Zusätzlich sind für den Umgang mit spezifischen Migrantengrup-
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pen Grundkenntnisse über deren Geschichte, wie zum Beispiel die der Russlanddeutschen seit der Anwerbung durch Katharina II. im Jahre 1762 (Baur, Chlosta u. Krekeler, 1999), von großem Vorteil, um die Denk-, Fühl- und Handlungsmuster der Personen besser in einen Gesamtkontext einbetten zu können.
2.2 Befragung der fremdkulturellen Klientel Häufig erfragen deutsche Teilnehmer und Teilnehmerinnen in Seminaren zur interkulturellen Kompetenzentwicklung Informationen zu spezifischen Nationalkulturen, beispielsweise zu Einstellung und Vertrauen gegenüber staatlichen Behörden, Vorhandensein und etwaige Erfahrungen mit Beratungsstellen im Heimatland, Stellung der Frau in bestimmten Berufen oder Schulsystem. Oftmals können solche Detailfragen im Seminar nicht beantwortet werden. Eine Möglichkeit zur Informationsgewinnung wäre es, sich mit diesen Fragen direkt an den fremdkulturellen Handlungspartner zu wenden, da dieser Experte seiner Herkunftskultur ist und meist bereitwillig Auskunft erteilen kann. Darüber hinaus leisten derartige Fragen einen positiven Beitrag zum Beziehungsaufbau zwischen den Interaktionspartnern, da die Fragen zur Herkunftskultur Interesse an der Person und deren kulturellen Wurzeln signalisieren. In solchen Gesprächssituationen können Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Regeldienste als Integrationshelfer fungieren, indem sie den fremdkulturellen Personen die deutschen Gegebenheiten und die damit in Verbindung stehenden Erwartungen an sie erläutern.
2.3 Aufbau von interkultureller Handlungskompetenz Das Wissen über die eigenen Kultur und das Wissen über die Fremdkulturen allein genügt oftmals nicht, um in konflikthaften Situationen mit fremdkulturellen Personen produktiv interagieren zu können beziehungsweise um Konfliktfelder bereits im Vorfeld zu umschiffen. Das Wissen muss in Handlungsstrategien überführt werden, die die Mitarbeiter der Regeldienste in ihrer beruflichen
240 Heike Abt Praxis anwenden können, so dass beide Interaktionspartner zufrieden sind. Hierbei geht es um deutlich mehr als um die einfache Einübung von Verhaltensweisen im Stile von »Dos and Don’ts« im Umgang mit Migranten. Zur interkulturellen Handlungskompetenz zählt, dass die gezeigten Verhaltensweisen im interkulturellen Kontakt nicht nur reflexhaft, sondern bewusst und reflektierbar eingesetzt werden (Hatzer u. Layes, 2003). So sind Persönlichkeitsmerkmale der Interaktionspartner wie Kontaktfreudigkeit, Toleranz, Einfühlungsvermögen (personalistischer Ansatz der interkulturellen Handlungskompetenz) für den interkulturellen Handlungserfolg förderlich, der aber auch von Situationsmerkmalen wie zum Beispiel dem zeitlich vorgegebenen Rahmen, den Machtverhältnissen zwischen den Interaktionspartnern und einer etwaigen Überbeziehungsweise Unterforderung der Beteiligten mit der Situation (situativer Ansatz) beeinflusst wird. Schließlich wirken Personenund Situationsmerkmale interaktiv auf den interkulturellen Handlungserfolg ein (interaktionistischer Ansatz). So kann interkultureller Handlungserfolg beispielsweise schwer herzustellen sein, wenn ein zwar engagierter und offener Lehrer mit ihm noch unbekannten fremdkulturellen Eltern (z. B. aus Italien oder der Türkei) in einem zeitlich stark eingeschränkten Elterngespräch (meist 10 Minuten) an einem Elternabend in direkter, sachorientierter Art und Weise gleich die Schwierigkeiten mit dem Schüler oder der Schülerin anspricht. Allein der Rahmen dürfte ein schwieriger Start für eine kooperative Zusammenarbeit zwischen dem Lehrer und den Eltern darstellen. Hier empfiehlt es sich, die Eltern zuvor zu einem persönlichen, zeitlich etwas flexibleren Gespräch einzuladen, um eine vertrauensvolle Beziehungen anzubahnen, so dass zukünftig auch im üblichen deutschen 10-MinutenGespräch Probleme angesprochen werden können, ohne dass es zu Verstimmungen oder Missverständnissen kommt. Gerade in konflikthaften Situationen ist die Verfügbarkeit von Handlungsstrategien, die den beteiligten Personen und der Situation angemessen sind, für Mitarbeiter der Regeldienste wichtig, um eine Eskalation zu verhindern und wieder eine kooperative Zusammenarbeit herzustellen. Die bereits beschriebenen Anforderungen zum erfolgreichen Dialog mit Migranten verdichten sich hier in konkreten Handlungen:
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1. Was erwarte ich von meinem Interaktionspartner in dieser Situation? (Resultate der kulturellen Selbstreflexion) 2. Warum verhält er/sie sich anders? Wie mag sich die Situation aus seiner Sicht darstellen? Wie wurde mein bisheriges Verhalten wohl interpretiert? (Wissen über die Fremdkultur) 3. Was ist aktuell mein Handlungsziel? Wie will und sollte ich handeln (je nach Person und Kultur)? Beispielsweise: − Erklärung der Erwartungen und Intentionen der Handlungspartner (Metakommunikation), − gesichtswahrende Lösungsangebote unterbreiten, − beziehungsfördernde Maßnahmen ergreifen, − Hinzuziehen einer dritten Person zur Vermittlung. Hier bieten interkulturelle Trainings, die auf das Gefühlsmanagement im Umgang mit fremdkulturellen Handlungspartnern, die Selbstreflexion, die Wissensvermittlung und die Aneignung von Verhaltensweisen eingehen, eine gute Möglichkeit, durchführbare, individuell abgepasste Handlungsstrategien zu entwickeln und diese dann in Rollenspielen an Fallbeispielen aus der beruflichen Praxis zu erproben. Aus den in den Seminaren geschilderten konflikthaften Situationen mit Migranten lassen sich folgende, allgemeine Handlungsempfehlungen für die Mitarbeiter der Regeldienste ableiten: − Herstellung von Transparenz bezüglich der Abläufe und der gegenseitigen Erwartungen, − Verstärkung beziehungsfördernder Verhaltensweisen, − indirektere Kommunikation bei unangenehmen Themen beziehungsweise bei Problemen und Kritik, − Verringerung der Argumentation mit abstrakten Prinzipien (»Das ist so die Regel«), stattdessen persönlichere Argumentation (»Ich bitte Sie darum«), − zeitlichen Mehraufwand einplanen.
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3 Wissen über die Lebenssituation des Migranten in Deutschland Nicht nur das Mitgebrachte aus der Herkunftskultur beeinflusst das Denken, Fühlen und Handeln der Migranten in Deutschland, sondern auch deren spezifische Lebenssituation und ihre Erfahrungen in Deutschland. Die Ursachenzuschreibung bei Verhalten von Migranten ist für einen reversen Attributionsfehler anfällig. Während der fundamentale Attributionsfehler beschreibt, dass das Verhalten von fremdkulturellen Interaktionspartnern oftmals fälschlicherweise der Person und nicht der Kultur zugeschrieben wird (Ross, 1977), so ist beim reversen Attributionsfehler das Gegenteil der Fall: Die Ursachen für das Verhalten eines Migranten werden zu häufig allein auf spezifische Eigenheiten seiner Herkunftskultur attribuiert und zu wenig auf seine spezifische Situation (psychische Belastung durch Migration wie Heimweh, Statusverlust, Orientierungsunsicherheit, Diasporaerfahrung, Enklavendasein, Arbeitslosigkeit, Unfreiwilligkeit des Aufenthalts bei Jugendlichen etc.) und seine Person selbst (Bildung, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Charakter). Zur Vermeidung des reversen Attributionsfehlers ist es sinnvoll, sich mit den sozialen Milieus zu beschäftigen, die sich Migranten in Deutschland geschaffen haben, in die sie hineingedrängt oder geboren wurden oder die sie bei ihrer Ankunft in Deutschland vorgefunden haben. Die Sinus-Milieu-Studie (Sinus Sociovision, 2007) zeigt, dass Migranten in Deutschland in ebenso unterschiedlichen sozialen Milieus leben wie die deutsche Bevölkerung. Es handelt sich also um eine deutlich weniger homogene Gruppe, als vielfach angenommen und dargestellt wird. Es konnte kein direkter Zusammenhang zwischen der kulturellen Herkunft und dem sozialen Milieu nachgewiesen werden, in dem die Migranten in Deutschland anzutreffen sind. So sind beispielsweise türkischstämmige Personen in allen Milieus anzutreffen. Des Weiteren stellt die Studie heraus, dass der Integrationserfolg von Bildungsgrad und Herkunft in der Ursprungskultur (Stadt oder Land) abhängig ist und nicht von der Ethnie oder religiösen Orientierung der Migranten. Diese Ergebnisse unterstreichen, dass der kulturelle Hintergrund nicht vorschnell zur Erklärung von Lebens- und Verhaltensweisen der
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Migranten herangezogen werden sollte. Vielmehr gilt zu beachten, dass dem deutschen Personal in den Regeldiensten hauptsächlich die Personen aus der Gruppe der Migranten auffallen, die sich in konflikthaften sozialen Situationen befinden. Hierzu zählen Konfliktfelder wie zum Beispiel Schul- und Ausbildungsprobleme, Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme, Anpassungsprobleme an die ihnen entgegengebrachten Erwartungen oder auch Probleme bedingt durch aggressives Verhalten. Die Interaktion der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Regeldienste mit diesem problembehafteten Personenkreis gestaltet sich oftmals nicht reibungslos. In diesem Sinne »unproblematische« Vertreter der Migranten, die in der Mehrheit sind, fallen deutlich weniger auf, werden weniger wahrgenommen. Es geht demnach bei der Interaktion zwischen Mitarbeitern der Regeldienste und fremdkulturellen Personen nicht nur um einen professionellen Dialog mit den Migranten, sondern zumeist um einen Dialog mit fremdkulturellen Personen in konfliktreichen Lebenslagen. Wie komplex die Migrantenmilieus sind, zeigen die acht in der Sinus-Studie isolierten Typen: 1. Religiös-verwurzeltes Milieu: Personen dieser Gruppe sind in sozialen und religiösen Traditionen ihrer Herkunftsregion verhaftet, es herrscht ein patriarchales Weltbild vor und es wird eine strenge Moral befolgt. Sie sind meist schon älter (45 plus), kommen aus armen, ländlichen Regionen im Herkunftsland und leben in Großfamilien mit stark kollektivistischer Orientierung. Der Bildungsstand und das Einkommen sind niedrig. 2. Traditionelles Gastarbeitermilieu: Personen dieser Gruppe zeichnen sich durch Werte wie Sparsamkeit, Bescheidenheit und Pflichterfüllung aus. Ihr Lebensziel ist die Erreichung von bescheidenem Wohlstand. Sie halten an Traditionen der Herkunftskultur fest, zeigen aber Respekt vor der Aufnahmekultur. Sie sind meist 50 Jahre und älter und kommen vorwiegend aus ländlichen Gebieten in der Herkunftskultur. Bildungs- und Einkommensniveau sind meist niedrig. 3. Statusorientiertes Milieu: Werte wie Besitz, Status und Konsum zeichnen die Personen dieser Gruppe aus. Sie kommen aus einfachen Verhältnissen, sind aufstiegsorientiert und wollen, dass ihre Kinder »Besseres« erreichen. Die Alterspanne liegt zwi-
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schen 30 und 50 Jahren (auch Migranten der zweiten Generation). Sie verfügen über einfache bis mittlere Formalbildung und mittlere Einkommen. Entwurzeltes Milieu: Auch hier dominieren die Werte Besitz, Status und Konsum. Es handelt sich in dieser Gruppe aber um stark traumatisierte Flüchtlinge, die sozial und kulturell entwurzelt sind und eine geringe Integrationsperspektive aufweisen. Der Altersschwerpunkt liegt zwischen 30 und 40 Jahren. Das Einkommen und die Bildung sind meist sehr gering, häufig tritt Arbeitslosigkeit auf. Intellektuell-kosmopolitisches Milieu: In dieser Gruppe herrschen Werte wie Selbstverwirklichung, Aufklärung, Toleranz und Emanzipation vor. Die Orientierung ist bikulturell, der Altersschwerpunkt liegt zwischen 30 und 50 Jahren, der Bildungsstand ist hoch, das Einkommen im mittleren Bereich. Adaptives Integrationsmilieu: Das Streben nach sozialer Integration und einem harmonischen Leben zeichnet Personen dieser Gruppe aus. Sie stellen die pragmatische moderne Mitte dar, die nach gesicherten Verhältnissen strebt. Der Altersschwerpunkt liegt zwischen 35 und 50 Jahren. Das Bildungsniveau ist mittel bis gehoben, das Einkommen im mittleren Bereich. Multikulturelles Performermilieu: Bei Personen dieser Gruppe handelt es sich um junge (Schwerpunkt zwischen 20 und 30 Jahren), flexible, leistungsorientierte Menschen mit einem multikulturellen Bewusstsein. Sie streben nach Autonomie, Erfolg und intensivem Leben. Bildungsstand und Einkommen sind meist hoch. Hedonistisch-subkulturelles Milieu: Personen dieser Gruppe sind meist unter 30 Jahre alt, Migranten der zweiten Generation mit defizitärer Identität und schlechten Perspektiven in Deutschland. Sie wollen Spaß und verweigern sich den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft. Die meisten verfügen noch über kein eigenes Einkommen (leben bei den Eltern), das Bildungsniveau ist mittel bis gehoben, viele befinden sich noch in Ausbildung.
Je nach Milieu lassen sich die Personen durch unterschiedliche Argumente und Strategien ansprechen, überzeugen oder motivieren. Die von Sinus vorgelegte Studie zu den deutschen Milieus (Sinus
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Sociovision, 2007) wird vielfach in der Wirtschaft genutzt, um zum Beispiel Werbestrategien zu entwerfen, die sich an Personen ganz bestimmter Milieus richten und deren spezifische Bedürfnislage optimal abdecken. Mit den Ergebnissen zu den Migrantenmilieus wäre es denkbar, Kommunikations- und Beratungsstrategien für Ämter, Schulen und Beratungsstellen abzuleiten, die an das jeweilige Milieu angepasst sind. So würde hier der pädagogische Beratungsanspruch, »die Leute von dort abzuholen, wo sie sich befinden«, umgesetzt werden. Natürlich spielt der einbrachte Wille zur Kommunikation und Kooperation aufseiten der Migranten ebenfalls eine große Rolle im interkulturellen Dialog in den Regeldiensten. In der Studie wurde die Bereitschaft zur Integration der Personen in den unterschiedlichen Milieus untersucht. Personen aus drei der acht Milieus weisen laut der Studie in ihrer Akkulturationsstrategie starke Assimilationstendenzen auf (statusorientiertes Milieu, adaptives Intergrationsmilieu und multikulturelles Performermilieu), während Personen aus drei weiteren Milieus eine teils aktive, teils passive Seperationstendenz zugeschrieben werden kann (religiös-verwurzeltes Milieu, entwurzeltes Milieu und hedonistischsubkulturelles Milieu). Allerdings geben in den Interviews fast alle Befragte an, dass sie sich um Integration bemühen und sich in die deutsche Gesellschaft einfügen wollen, während sie ein geringes Integrationsinteresse bei den Deutschen beklagen. Die Anpassungsund Leistungsbereitschaft ist in der Migrantenpopulation insgesamt größer ausgeprägt als in der ebenfalls von Sinus untersuchten deutschen Population.
4 Fazit Für einen erfolgreichen interkulturellen Dialog zwischen Migranten und deutschen Mitarbeitern von öffentlichen und sozialen Einrichtungen sind folgende Anforderungen an die Mitarbeiter zu richten: 1. Kulturelle Selbstreflexion: Erkennen des Einflusses der deutschen Sozialisation auf das eigene Denken, Fühlen und Handeln; Kenntnis der deutschen Kulturstandards und deren Bedeutung für den beruflichen Kontakt mit fremdkulturellen Personen.
246 Heike Abt 2. Wissen über die Fremdkultur und Aufbau von interkultureller Handlungskompetenz: Erwerb von wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen zu spezifischen Kulturkreisen (z. B. Kulturstandards), Befragung fremdkultureller Interaktionspartner, Besuch von Fortbildungsmaßnahmen und Ableitung von Handlungsstrategien aus dem erworbenen Wissen. 3. Wissen über die Lebenssituation der Migranten in Deutschland: Kenntnisse über die Migrantenmilieus in Deutschland und Ableitung von spezifischen Kommunikations- und Beratungsstrategien für die unterschiedlichen Personengruppen. Viele der sozialen Verbände in Deutschland wie beispielsweise der Caritasverband, die Jugendmigrationsdienste, die Jugendhilfe und andere mehr haben den Bedarf an Qualifizierungsangeboten zur interkulturellen Handlungskompetenz bei ihren Mitarbeiten erkannt und bieten Fortbildungsmaßnahmen dazu an. In anderen Bereichen, wie beispielsweise in der Lehreraus- und Weiterbildung, wird diesem Thema bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wie auch von Schmid (vgl. Beitrag in diesem Band) erwähnt wird, muss für einen gelungenen interkulturellen Dialog auch aufseiten der Migranten interkulturelles Lernen gefördert werden. Hier wären systematische Lerneinheiten in den Integrationskursen zielführend, die sich mit der kulturellen Selbstreflexion der Migranten, einer Wissensvermittlung über die deutsche Kultur (im Sinne des Orientierungssystems) und der Ableitung von Handlungsmöglichkeiten für die Migranten beschäftigen. Auf diese Art und Weise würden sich die Bedingungen für einen erfolgreichen interkulturellen Dialog aufseiten der Migranten und der Deutschen verbessern lassen.
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Interkultureller Dialog mit Migranten
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Celine Chang
Interkultureller Dialog in internationalen Jugendbegegnungen
Internationale Jugendbegegnungen hatten von jeher den Zweck, Menschen aus verschiedenen Kulturen miteinander in Dialog zu bringen. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg sollten sie dazu beitragen, den Frieden zu erhalten und eine Aussöhnung zwischen ehemals verfeindeten Nationen zu fördern. Auch heute erfreuen sich internationale Jugendbegegnungen großer Beliebtheit. Es gibt eine Vielzahl von Programmen, die größtenteils mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Das Ziel ist nach wie vor, Jugendlichen interkulturelle Erfahrungen zu ermöglichen und ihre »interkulturelle Kompetenz« zu fördern. Dahinter verbergen sich ein Verständnis für kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren auf das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln sowie die Fähigkeit, dieses in der Interaktion mit Menschen aus anderen Kulturen umzusetzen (Thomas, 2003a). Interkulturelle Kompetenz wird in einer globalisierten Welt zunehmend als Schlüsselkompetenz gesehen, um erfolgreich mit den veränderten Anforderungen umgehen zu können. Um diese zu entwickeln, ist es notwendig, miteinander in einen interkulturellen Dialog zu treten (vgl. Utler in diesem Band). Im Rahmen dieses Beitrags wird auf die Bedeutung des Konzepts »Interkultureller Dialog« in Zusammenhang mit der Entwicklung interkultureller Kompetenz in internationalen Jugendbegegnungen eingegangen. Aus psychologischer Perspektive wird zum einen dargestellt, inwieweit dieses Konzept einen Mehrwert in der Untersuchung interkultureller Lernprozesse in internationalen Jugendbegegnungen leisten kann und inwiefern bisherige Befunde für die Berücksichtigung dieses Konzepts sprechen. Zum anderen wird aufgezeigt, wie im Kontext internationaler Jugendbegegnungen der interkulturelle Dialog gefördert werden kann.
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1 Gemeinsamkeiten internationaler Jugendbegegnungen: Die kulturelle Überschneidungssituation Unter dem Begriff »Internationale Jugendbegegnungen« werden im Folgenden Austauschprogramme verstanden, die − mehrere Wochen dauern, − in einer Gruppe stattfinden, − von einem oder mehreren Leitern beziehungsweise Teamern begleitet − und von einer darauf spezialisierten Trägerorganisation durchgeführt beziehungsweise gefördert werden. Die in Deutschland angebotenen internationalen Jugendbegegnungen lassen sich zu vier Kategorien zusammenfassen (Thomas, Chang u. Abt, 2007): – Jugendgruppenbegegnungen: Bestehende Jugendgruppen unterschiedlicher Organisationen (z. B. Pfadfinder, Kirche) besuchen eine Jugendgruppe eines Partnerverbands im Ausland und im Anschluss findet ein Gegenbesuch statt. Die gemeinsame Bearbeitung eines Themas (z. B. deutsch-polnische Geschichte) setzt den inhaltlichen Schwerpunkt der Begegnung. Untergebracht sind die Teilnehmer entweder zusammen (z. B. in einer Jugendherberge) oder in Gastfamilien. – Jugendkulturbegegnungen: Im Mittelpunkt dieses Programmtyps steht ein gemeinschaftliches kulturelles Projekt, wie beispielsweise eine Theaterproduktion oder die Einstudierung eines Orchesterstücks, das zum Ende des Projekts vor einem Publikum aufgeführt wird. Die Teilnehmer sind gemeinsam untergebracht. – Schüleraustausch: Diese Art von Programm wird in der Regel von Lehrern organisiert und zusammen mit einer Partnerschule im Ausland durchgeführt. Das Programm besteht aus einem Besuch und Gegenbesuch. Die Schüler lernen den Alltag der Austauschpartner kennen, indem sie vor Ort die Schule besuchen und in einer Gastfamilie wohnen. – Internationale Workcamps: Jugendliche aus verschiedenen Ländern arbeiten miteinander an einem gemeinnützigen Projekt (z. B. Bau eines Spielplatzes) und sind gemeinsam unterge-
250 Celine Chang bracht. Wichtig ist die Selbstorganisation, insbesondere in Hinblick auf Verpflegung und Freizeitaktivitäten. Im Fokus des Beitrags stehen also Kurzzeitprogramme, die von längerfristigen Individualprogrammen, wie zum Beispiel einem einjährigen High-School-Aufenthalt oder Au-Pair-Programmen, zu unterscheiden sind. Obwohl sich die vier Programmtypen in ihrer inhaltlichen Gestaltung unterscheiden, lassen sich jedoch hinsichtlich ihrer Anforderungen an die Teilnehmer sowie in den von ihnen eröffneten Erfahrungs- und Handlungsfeldern folgende Gemeinsamkeiten feststellen: Im Rahmen der Begegnungen treffen Jugendliche aufeinander, die in verschiedenen Kulturen sozialisiert worden sind. Durch gemeinsame Aufgaben und Aktivitäten soll ein Austausch zwischen den Teilnehmern im Sinne der Erreichung der Programmziele gefördert werden. Die Teilnehmer werden als Programmbeteiligte während der Begegnung füreinander bedeutsam, kommunizieren miteinander und tauschen Einstellungen, Erfahrungen und Wissen aus. In diesen sozialen Interaktionen werden Erfahrungen generiert, die zur Grundlage von Lernprozessen werden. Der Erfahrungskontext für Interaktionen im Rahmen der Begegnung wird von Breitenbach (1974) als »kulturelle Überschneidungssituation« bezeichnet. Der Teilnehmer ist gleichzeitig in seiner Kultur verwurzelt und wird durch die Interaktion mit anderen Teilnehmern und Gastlandbewohnern von anderen Kulturen beeinflusst. Kultur lässt sich nach Thomas als Orientierungssystem verstehen, das »das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller ihrer Mitglieder« beeinflusst (2003b, S. 436 f.). Jede Kultur hat charakteristische Merkmale, sogenannte Kulturstandards (Thomas, 2003b), die von den Mitgliedern einer Kultur für sich und andere als normal, typisch und verbindlich betrachtet werden. Kulturstandards werden innerhalb einer Gesellschaft weitervermittelt und von früher Entwicklung an internalisiert, das heißt, sie sind zumeist nicht bewusst. Das eigene Verhalten sowie das von Interaktionspartnern werden auf der Basis der eigenkulturellen Kulturstandards bewertet. In internationalen Jugendbegegnungen treffen Jugendliche mit unterschiedlichen Orientierungssystemen aufeinander. Je mehr sich ihre Kulturstandards voneinander unterscheiden und je weniger den Teilnehmern dies bewusst ist, desto eher wird das
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Verhalten der fremdkulturellen Partner außerhalb des in der Eigenkultur geltenden Toleranzbereichs liegen. Daraus kann eine Orientierungsunsicherheit entstehen, die Emotionen wie Überraschung, Verwunderung, Irritation oder Ärger hervorruft, weil das Verhalten der fremdkulturellen Teilnehmer zunächst nicht verstanden oder abgelehnt wird. Diese Orientierungsunsicherheit entsteht hauptsächlich in Situationen, die den vorhandenen Erwartungen nicht entsprechen, da die Erwartungen einer Person automatisch auf ihrem eigenen kulturellen Orientierungssystem basieren. Ein typisches Beispiel ist das Konzept der »Pünktlichkeit«. So berichten deutsche Teilnehmer an Workcamps, dass sie häufig die Einzigen waren, die zu verabredeter Stunde am Arbeitsplatz erschienen. In dieser Situation erleben sie eine Diskrepanz zwischen dem Verhalten, das sie erwartet hätten (alle anderen erscheinen auch pünktlich) und dem tatsächlich erlebten Verhalten der anderen Teilnehmer. Diskrepanzerlebnisse stellen meist den Ausgangspunkt für interkulturelle Lernprozesse wie das Lernen über fremdkulturelle Kulturstandards dar. Im Rahmen internationaler Begegnungen ist mit dem Begriff »Kultur« häufig die Nationalkultur gemeint ist, da das Herkunftsland einer Person in diesem Kontext als soziales Kategorisierungsmerkmal besonders relevant wird (Breitenbach, 1974). Der Kulturbegriff ist jedoch nicht ausschließlich auf ein Land oder eine Nation beschränkt, sondern kann sich auch auf andere (Sub-)Kulturen wie beispielsweise Organisationskulturen, Jugendkulturen oder Glaubensgemeinschaften beziehen. Jeder Mensch ist somit Teil verschiedener Kulturen, die ihre eigenen Kulturstandards, aber auch einen Überlappungsbereich haben können. Die Teilnehmer werden sowohl viele Gemeinsamkeiten (z. B. Musikgeschmack, Zukunftserwartungen) als auch Unterschiede aneinander wahrnehmen. Im internationalen Kontext handelt es sich insofern um eine besondere kulturelle Überschneidungssituation, da der Überlappungsbereich zwischen Eigen- und Fremdkultur mit einer größeren Wahrscheinlichkeit geringer ist als innerhalb einer Nationalkultur und damit die Wahrscheinlichkeit für Diskrepanzerlebnisse höher ist. Hinzu kommt, dass die Teilnehmer für die Teilnahme an einer internationalen Begegnung ihren Alltag verlassen und sie für die Dauer des Programms neue Erfahrungsund Handlungsfelder kennen lernen. Sie befinden sich demnach
252 Celine Chang während des Austauschs in einer ständigen kulturellen Überschneidungssituation.
2 Interkultureller Dialog als »Motor« interkulturellen Lernens Wenn man, wie die Teilnehmer an einer internationalen Jugendbegegnung mit anderen Jugendlichen gemeinsam lebt, an einem Projekt arbeitet, Ausflüge macht und Freizeit miteinander verbringt, dann findet ein kommunikativer Austausch über die jeweiligen Lebenswelten zu Hause statt. Von den anderen wird man als Experte seines Herkunftslands wahrgenommen und häufig aufgefordert, zu verschiedenen Themen Stellung zu nehmen, wie beispielsweise zu Fragen wie: Warum gibt es bei euch eine Wehrdienstpflicht? Wieso wohnst du nicht zu Hause während des Studiums? Warum bist du älter als andere Teilnehmer? Waren deine (Ur-)Großeltern Nazis? Die im Kontext der internationalen Jugendbegegnung geschaffene Lernumgebung ist insofern für die Teilnehmer besonders, da sie Erfahrungen machen, durch die sie anderskulturelle Perspektiven kennen lernen und die eigenen Überzeugungen und Selbstverständlichkeiten in Frage stellen. Die Teilnehmer erleben Diskrepanzen zwischen dem, was sie kennen und erwarten, und dem, was sie erleben. Diese Diskrepanzerfahrungen stellen gleichzeitig Lernmöglichkeiten dar. Im Vergleich zu eher formalisiert-didaktischen Lernumgebungen wie der Schule ergeben sich hier die Lernthemen durch die Interaktion mit den anderen Teilnehmern im Rahmen von Gesprächen, gemeinsamen Aktivitäten und Beobachtungen. Diskrepanzerfahrungen sind häufig emotional besetzt, insbesondere wenn zentrale Aspekte der eigenen Person – psychologisch als das »Selbst« bezeichnet (Greve, 2000) – von der Erfahrung betroffen sind. Im Kontext internationaler Jugendbegegnungen lassen sich zur Veranschaulichung folgende Beispiele als typische Diskrepanzerfahrungen nennen: Herausforderung, selbstständig ins Ausland zu reisen, Fragen nach der eigenen Familiengeschichte in Verknüpfung mit deutscher Geschichte oder das Erleben ganz anderer Werte im Rahmen eines Gastfamilienaufenthalts. Nach dem Konsistenzprinzip sind Personen im Allgemeinen bestrebt, erlebte
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Diskrepanzen wieder aufzulösen (Grawe, 1998). Ob ein Teilnehmer Diskrepanzerfahrungen zu Lernerfahrungen macht, die Entwicklungsprozesse auslösen können, hängt davon ab, wie er mit ihnen umgeht. Nach Epstein (1993) hat er dazu zwei Möglichkeiten: Zum einen kann er sein Selbst schützen, indem er Abwehrmechanismen einsetzt und sich den neuen Erfahrungen verschließt (z. B. durch Abwertung). Damit lassen sich zwar negative Emotionen wie Angst vermeiden beziehungsweise abbauen, jedoch wird er sich nicht in seiner Persönlichkeit weiterentwickeln, da er neue Erfahrungen nicht als solche zulässt. Zum anderen kann er versuchen, die Erfahrung in sein Selbst zu integrieren. Die Erfahrung wird zum Lernprozess, wenn der Teilnehmer sich mit ihr reflektierend auseinandersetzt und versucht, sein eigenes Verhalten und das Verhalten des anderen zu verstehen, auch, indem er sich der kulturellen Einbettung der Erfahrung bewusst wird. Gerade hierfür ist ein interkultureller Dialog im Sinne des Austauschs über Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten, über verschiedene Wertigkeiten und deren Hintergründe wichtig, da so andere Perspektiven erst nachvollziehbar werden. Lerntheoretisch lassen sich solche Lernprozesse nach der Transformativen Lerntheorie von Mezirow (1997) als transformatives Lernen bezeichnen. Das bedeutet, dass sogenannte Bedeutungsschemata differenziert werden. In Bedeutungsschemata sind unsere bisherigen Lernerfahrungen, unsere Einstellungen, unser Wissen, unsere Motivation in Bezug auf spezifische Themen repräsentiert. Diese Schemata sind hierarchisch organisiert, vom spezifischen (z. B. Offenheit gegenüber Amerikanern) bis hin zu allgemeinen Bedeutungsschemata (z. B. Offenheit gegenüber interkulturellen Erfahrungen). Allgemeine Schemata sind also hierarchisch höher angesiedelt und generalisieren daher auf verschiedene Lebensbereiche. Spezifische Schemata beziehen sich dagegen auf einen bestimmten Bereich und sind leichter veränderbar. Wird im interkulturellen Dialog neues Wissen erworben, werden Bedeutungsschemata erweitert beziehungsweise spezifiziert. Sind jedoch zentrale Bedeutungsschemata des Selbst betroffen und kommt die Person anhand von Reflexion zu einer Neuinterpretation der Situation, dann werden ihre Bedeutungsschemata differenzierter und es findet transformatives Lernen statt. Beispielsweise hat bei den deutschen Workcampteilnehmern transformatives Ler-
254 Celine Chang
interkulturelles Handeln
interkulturelle Kompetenz
interkulturelle Erfahrungen: Diskrepanzerleben
interkultureller Dialog
interkulturelles Lernen
interkulturelles Verstehen
Abbildung 1: Bedeutung des interkulturellen Dialogs in der Entwicklung interkultureller Kompetenz im Kontext internationaler Jugendbegegnungen
nen dann stattgefunden, wenn sie die später zur Arbeit erscheinenden anderen Teilnehmer nicht einfach als unpünktlich bewerten, sondern erkennen, dass es kulturell unterschiedlich geprägte Auffassungen von Zeit und Pünktlichkeit gibt und sie damit nun irgendwie umgehen müssen. Im Zusammenhang mit der Unterscheidung transformativen Lernens von anderen Formen des Lernens, bei denen es um einen reinen Wissensausbau oder um das Erlernen von Fertigkeiten geht, wird die Bedeutung des interkulturellen Dialogs in internationalen Jugendbegegnungen deutlich: Erst im interkulturellen Dialog, das heißt, im gleichberechtigten Austausch mit fremdkulturellen Beteiligten oder auch mit kulturellen Experten, können kulturspezifische Perspektiven verstanden und im Hinblick auf das eigene Selbst evaluiert werden. Der Dialog hilft, andere Perspektiven einzunehmen und damit auch die eige-
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nen zu überprüfen. Durch diesen Selbst-Bezug ist der Teilnehmer als Ganzes bei der Lernerfahrung betroffen. Er lernt dann nicht nur etwas über den Lerngegenstand (die Erfahrung) an sich, sondern auch über die Ursachen der Erfahrung, Handlungsalternativen sowie den Bezug zu sich und seinen Fähigkeiten. Eine Förderung des interkulturellen Dialogs zwischen den Teilnehmern beziehungsweise zwischen Teilnehmern und Personen der Gastkultur bedeutet somit auch die Förderung eines transformativen, interkulturellen Lernens. Dadurch wird die Entwicklung eines interkulturellen Verständnisses angeregt, das eine wesentliche Voraussetzung für flexibles und sensibles interkulturelles Handeln darstellt (Thomas, 2003a). Insgesamt handelt es sich um einen zyklischen Lernprozess, das heißt, interkulturelle Kompetenz lässt sich durch neue interkulturelle Erfahrungen und Lernprozesse weiterentwickeln. Der interkulturelle Dialog ist dabei der Motor, da er Teil der interkulturellen
Tabelle 1: Beispiel eines transformativen Lernprozesses einer Teilnehmerin an einem Workcamp in Nicaragua (entnommen aus einem Interview im Rahmen der Studie von Thomas et al., 2007). Diskrepanzerlebnis
interkulturelles Lernen im interkulturellen Dialog
Wirkungen
Eine Teilnehmerin an einer Jugendbegegnung in Nicaragua fand es äußerst schwierig, damit umzugehen, dass Männer sie ständig ansprachen und ihr Komplimente machten. Diese Männer hatten häufig die Mütter ihrer Kinder verlassen, zahlten keinen Unterhalt, aber brachten die Wäsche zum Waschen. Ihre Gastmutter war eine selbstbewusste und intelligente Frau, aber wusch die Wäsche ihrer Ex-Männer.
Sie fand es schwierig, damit umzugehen, und merkte, wie sie von dem Verständnis der Geschlechterrollen in Deutschland geprägt ist. Nachdem sie zuerst den Männern ausgewichen ist, ist sie schließlich auf die Männer zugegangen und hat mit ihnen darüber gesprochen, warum sie sich so verhalten. Hat versucht, auch ihre Perspektive zu verstehen, z. B. mit ihren Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Hat am Ende beide Seiten besser verstanden.
Ist sich bewusst geworden, wie geprägt sie durch die deutsche Kultur ist. Sie hat ein anderes Verhältnis zu Deutschland entwickelt, weil sie gemerkt hat, wie deutsch sie in vielerlei Hinsicht ist, in der Herangehensweise an Probleme, wie sie zwischenmenschliche Beziehungen oder Mann-Frau-Beziehungen bewertet. Sie hat ihre psychischen Grenzen kennen gelernt und gemerkt, dass sie nicht jeden verstehen kann.
256 Celine Chang Erfahrung, des interkulturellen Handelns und des interkulturellen Lernens ist (siehe Abbildung 1). Um die Bedeutung des interkulturellen Dialogs im Hinblick auf transformative Lernprozesse und ihre Lernresultate (Wirkungen) zu veranschaulichen, wird in Tabelle 1 ein Beispiel eines Lernprozesses einer Teilnehmerin an einem internationalen Workcamp angeführt. Der darin beschriebene Lernprozess zeigt, wie wichtig der interkulturelle Dialog für transformatives Lernen ist. Die Teilnehmerin hat nicht nur etwas über verschiedene Geschlechterrollen gelernt, sondern sich in ihren eigenen Vorstellungen als geprägt von ihrer Kultur kennen gelernt und dabei auch ihre persönlichen Grenzen reflektiert. Sie hat die Diskrepanzerfahrung also nicht dadurch abgewehrt, indem sie das Verhalten der Männer als unentschuldbar verurteilt hat, sondern sie hat den interkulturellen Dialog gesucht und ist zu einer reflektierten Interpretation und Schlussfolgerung auf der Basis eigener und fremder Bedeutungsschemata gekommen. Dadurch hat eine Differenzierung ihrer Bedeutungsschemata bezüglich ihrer eigenkulturellen Identität stattgefunden.
3 Wirkungen internationaler Jugendbegegnungen auf die Teilnehmer Sowohl für Praktiker als auch für Forscher, die sich mit dem Thema internationale Jugendbegegnungen beschäftigen, stellt sich die Frage nach den Wirkungen dieser Erfahrung auf die Teilnehmer. Je nach fachlichem Hintergrund oder Interesse stehen dabei unterschiedliche Wirkungen im Fokus. Aus psychologischer Perspektive geht es um die Fragen danach, inwieweit interkulturelles Lernen stattfindet, ob bestimmte Fähigkeiten der Teilnehmer gefördert werden, interkulturelle Kompetenz entwickelt wird oder – global –, ob Erfahrungen dieser Art einen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmer haben. Die Studien zu den Wirkungen internationaler Jugendbegegnungen sind sehr heterogen hinsichtlich der Ziele, der Methodik und des theoretischen Fokus (für einen Literaturüberblick vgl. Chang, 2006). Fasst man bisherige Befunde zu den Wirkungen internationaler Jugendbegegnungen jedoch zusammen, lässt sich feststellen, dass die Teilnehmer
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− ein differenzierteres Wissen über andere Kulturen sowie die eigene Kultur erwerben, − Fähigkeiten entwickeln, die ihre personale und soziale Kompetenz erweitern (siehe Tabelle 2) − sowie häufig an diese Erfahrungen mit Folgeaktivitäten wie weiteren Auslandsaufenthalten anknüpfen (Thomas et al., 2007). Einen detaillierteren Überblick über typische Wirkungen internationaler Jugendbegegnungen gibt Tabelle 2. Unter der theoretischen Annahme, dass sich interkulturelle Kompetenz aus interkulturellem Wissen sowie für den interkulturellen Kontakt förderlichen Fähigkeiten wie Offenheit und Kontaktfähigkeit zusammensetzt, lassen sich die Befunde insgesamt auch so interpretieren, dass die Teilnahme an einer internationalen Jugendbegegnung die Entwicklung interkultureller Kompetenz fördert (Chang, 2007). Tabelle 2: Darstellung häufig auftretender Wirkungen internationaler Jugendbegegnungen auf die Teilnehmer (Chang, 2006; Thomas et al., 2007). Wissen/Sichweisen/ Identität
Entwicklung von Fähigkeiten
aufbauende Aktivitäten (typische Beispiele)
· differenziertes Wissen und Verständnis von Eigen- und Fremdkulturen · z. T. stärkere Identifikation mit der eigenen Herkunftskultur
· Selbstwirksamkeit (Überzeugung, mit unbekannten Situationen erfolgreich umgehen zu können) · Selbständigkeit · Selbstsicherheit · Selbsterkenntnis · Offenheit gegenüber unbekannten Menschen und Situationen · Kontaktfähigkeit (Fähigkeit, Kontakte herzustellen und aufrechtzuerhalten) · Konfliktfähigkeit · Fremdsprachenkompetenz
· erneute Teilnahme an einer Jugendbegegnung · längere Auslandsaufenthalte im Rahmen des Studiums · Berufstätigkeit mit internationalem Bezug · Teilnahme am Fremdsprachenunterricht der Sprache der Gastkultur (z. B. Polnisch, Tschechisch) · Aufrechterhaltung von Kontakten mit anderen Teilnehmern
Die meisten Befunde stützen sich auf qualitative und (seltener auf) quantitative Daten aus Befragungen. Die in Tabelle 2 dargestellten Befunde sind Ergebniskategorien, wie sie häufig aus qualitati-
258 Celine Chang ven Inhaltsanalysen gewonnen werden. Zur besseren Veranschaulichung der inhaltlichen Bedeutung dieser Kategorien werden in Tabelle 3 exemplarische Beispiele aus den Interviews der Studie von Thomas et al. (2007) für einzelne Ergebniskategorien angeführt. Tabelle 3: Beispiele aus Interviews mit ehemaligen Teilnehmern zur Veranschaulichung einzelner Wirkungskategorien (angepasst nach Thomas et al., 2007). Ergebniskategorien
Zitate
interkulturelles Verständnis
»Durch den Kontakt, gerade mit diesem einen Ghanaer, ist mir irgendwann klar geworden, dass dieses ›Mit-meiner-Brille-aus-Deutschland-Sehen‹ nicht da hinpasst. Aber ich muss einfach gucken, wie leben die und wie kommen die damit zurecht.« D4
kulturelle Identität
»Es hat sich was geändert, in der Hinsicht, dass ich immer so das Gefühl hatte, wir Deutsche trauen uns nach außen hin wenig, von unserer Kultur zu erzählen. Ich habe das oft gedacht. Also dieses Bild hat sich wirklich gewandelt. Ich glaube, wir machen uns selber schlechter als wir sind. Und das versuch ich jetzt auch auszuleben, dass ich da so ran geh’ [und sage], so ist das nicht.« D19
Selbstwirksamkeit
»Eigene Grenzen sind insofern ein Thema, als das natürlich ein Erlebnis war, was die eigenen Grenzen, die bis dahin galten, völlig gesprengt hat. Und auch in der Hinsicht, dass ich mir viel mehr zugetraut hab nach dieser Fahrt.« S18
Offenheit/Flexibilität
»Ich glaube schon, dass ich gelernt habe, dass, wenn man sich seine Offenheit einfach bewahrt oder wenn man mit der Erwartung hingeht, sozusagen, dass man nicht Konkretes erwarten darf, dass man mit viel Flexibilität auch wirklich ganz gut klarkommt.« D4
Selbsterkenntnis
»Ich hab vor allem gemerkt, wie ich funktioniere. Was für mich selbstverständlich ist, wie ich an die Dinge rangehe, ich fand es dann auch spannend, vielleicht eben andere Dinge anzunehmen, was aber nicht so leicht ist, weil ich dann doch gemerkt hab, ich kann aus meiner Haut nicht ganz raus.« H8
Kontaktfähigkeit
»Und dieser Austausch, das hat, glaube ich, schon einen Einfluss auf die Entwicklung. Generell, also. Also, auf die Art, wie man mit Mitmenschen umgeht, auf die Art, wie man mit anderen Fremden umgeht, und auch, wie man selber auch wirkt auf andere.« H5
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Bisherige Studien zu internationalen Jugendbegegnungen geben einen guten Überblick über die Vielfalt sowie oftmals auch über die Häufigkeiten auftretender Wirkungen. Bislang gibt es jedoch kaum Studien, die das Ausmaß der Veränderungen anhand Vorher-Nachher-Vergleichen erfassen. Ein Beispiel für eine Studie dieser Art ist die Untersuchung von Chang (2006) zu den Wirkungen internationaler Workcamps, in der sich anhand eines Kontrollgruppendesigns kleine und mittlere Effekte (Cohen, 1988) zeigten, die auch drei Monate nach Ende der Begegnung größtenteils noch anhielten. Studien dieser Art zu anderen internationalen Jugendbegegnungen stehen allerdings noch aus. Wie hängen nun der interkulturelle Dialog und die Wirkungen internationaler Jugendbegegnungen zusammen? In Abschnitt 2 wurde dargestellt, dass ein interkultureller Dialog transformatives Lernen fördert. Tritt transformatives Lernen auf, insbesondere bei Themen, die auf das Selbst bezogen sind, wird das Ausmaß der persönlichen Veränderung größer als bei einem reinen Wissenszuwachs sein. Beispielsweise wird ein Teilnehmer nicht nur etwas über die Gastkultur lernen, sondern durch die Erfahrungen in der Gastkultur auch seine Fähigkeiten erweitern (siehe Abschnitt 2). Werden interkulturelle Dialoge als Möglichkeit für transformatives Lernen gesucht, werden sowohl ein größeres Ausmaß an Veränderungen auftreten als auch die Qualität und Nachhaltigkeit der Wirkungen größer sein. Dies hat Implikationen für eine Förderung des interkulturellen Dialogs in internationalen Jugendbegegnungen (siehe Abschnitt 4). Dass der interkulturelle Dialog eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Förderung interkulturellen Lernens spielt, zeigt sich indirekt auch in den Befunden zu Wirkungen, in denen sich der Kontaktaspekt widerspiegelt, wie Kontaktfähigkeit, Offenheit oder Konfliktfähigkeit.
4 Bedingungen für einen interkulturellen Dialog in internationalen Jugendbegegnungen Die Vielfalt an Wirkungen, die mit der Teilnahme an einem internationalen Jugendaustausch in Zusammenhang gebracht werden, mag zunächst verwundern. Schließlich handelt es sich um Programme mit einer Dauer von nur wenigen Wochen. Ebenso
260 Celine Chang ist es bemerkenswert, dass selbst Jahre später die Teilnahme immer noch als bedeutsame Erfahrung gesehen wird, die Spuren hinterlassen hat (Thomas et al., 2007). Um die Befunde besser zu verstehen, bedarf es zum einen der Betrachtung der Bedingungen, die die Teilnehmer selbst mitbringen, und zum anderen der Bedingungen, die sie vor Ort aufgrund der Programmstruktur vorfinden. Das Auftreten von Wirkungen ist immer abhängig von der Interaktion zwischen den jeweiligen Personen und der Situation, in der sie sich während des Programms befinden. Bei den Teilnehmern handelt es sich um junge Menschen im Alter zwischen 16 und 26 Jahren. Entwicklungspsychologisch gesehen haben Personen in diesem Alter die Aufgabe, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, tiefgehende Freundschaften mit Gleichaltrigen (Peers) aufzubauen, eine erste Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von den Eltern zu erlangen, ein eigenes Wertesystem zu entwickeln, intime Beziehungen aufzunehmen sowie eine Perspektive über die Zukunft zu entwickeln (Oerter u. Dreher, 2002). Die Teilnahme an einer internationalen Jugendbegegnung lässt sich als Möglichkeit sehen, Erfahrungen zu machen, die der Erfüllung dieser Entwicklungsaufgaben dienen. Dieses Angebot scheint jedoch nur für ganz spezifische Jugendliche interessant zu sein beziehungsweise nur spezifische Jugendliche zu erreichen: Die Mehrheit der Teilnehmer sind Gymnasiasten oder Studierende. Häufig haben ihre Eltern einen akademischen Bildungshintergrund, selbst bereits an einer internationalen Begegnung teilgenommen und ihre Kinder zur Teilnahme angeregt (Chang, 2006; Thomas et al., 2007). In der Studie von Chang (2006) zu Teilnehmern an internationalen Workcamps zeigte sich zudem, dass im Vergleich zu vom Bildungshintergrund her ähnlichen Nicht-Teilnehmern signifikant mehr Teilnehmer neuartige Erfahrungen sammeln sowie sich mit der eigenen und anderen Kulturen auseinandersetzen wollen. Die befragten Workcampteilnehmer gaben zudem an, dass es ihnen im Workcamp leichtfiel, in einer Fremdsprache zu kommunizieren. Die Merkmale der Teilnehmer sprechen insgesamt dafür, dass es sich um eine Personengruppe handelt, die explizit den interkulturellen Dialog sucht und an ihm interessiert ist. Dafür spricht auch der Befund zu dem Hauptmotiv, an einer internationalen Jugendbegegnung überhaupt teilzunehmen, nämlich Menschen aus anderen Kulturen kennen zu
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lernen (Chang, 2006; Thomas et al., 2007). Die Frage ist nun, inwieweit die Teilnehmer während der Begegnung Bedingungen vorfinden, die für einen interkulturellen Dialog förderlich sind. Grundsätzlich sind die Programme meist so gestaltet, dass Kontakt- und Austauschmöglichkeiten zwischen den Teilnehmern geschaffen werden, sei es durch einen Gastfamilienaufenthalt, ein gemeinsames Projekt oder Diskussionsrunden. Die Förderung des interkulturellen Dialogs steht damit explizit im Vordergrund. Dabei stehen die Teilnehmer nicht wie in anderen Erfahrungskontexten wie Schule oder Studium unter einem Leistungsdruck. Die Teilnahme ist in der Regel freiwillig und wird nicht nach Leistung bewertet. Die Teilnehmer wissen zudem, dass es sich bei ihrer Teilnahme um eine Ausnahmesituation von begrenzter Dauer handelt. In der Studie von Thomas et al. (2007) zeigte sich, dass die Teilnehmer insbesondere die Bedingungen als am wichtigsten bewerteten, die Kontakte zu anderen Teilnehmern oder Bewohnern vor Ort fördern, wie zum Beispiel ein Gastfamilienaufenthalt, gemeinsame Projekte, Workshops oder Diskussionen sowie gemeinsame Freizeitaktivitäten. Im Hinblick auf die Wirkungen stellt sich die Frage, welche der Bedingungen besonders lernförderlich sind. Studien, die diese Frage auch quantitativ untersuchen, gibt es bislang kaum, obwohl sich aus den Ergebnissen konkrete Hinweise für die Weiterentwicklung der Programme gewinnen ließen. In der LangzeitwirkungenStudie (Thomas et al., 2007) und der Studie von Chang (2006) zu den Wirkungen internationaler Workcamps wurden erste Zusammenhangsmodelle explorativ ermittelt. In beiden Studien bestätigte sich, dass insbesondere der interpersonelle Kontakt eine entscheidende Rolle für die Ausprägung von Wirkungen spielt. Beispielsweise profitierten die Teilnehmer mehr im Hinblick auf die Entwicklung ihrer interkulturellen Kompetenz, denen der Kontakt mit Peers und der Kontakt mit den Bewohnern des Gastlands wichtig waren (Thomas et al., 2007). Bedingungen, wie der Komfort der Unterkunft, die Verpflegung, aber auch die Leiter an sich scheinen im Vergleich eine geringere Rolle im Hinblick auf die Wirkungen zu spielen (vgl. Chang, 2006).
262 Celine Chang
5 Förderung des interkulturellen Dialogs in internationalen Jugendbegegnungen Wenn der interkulturelle Dialog ein wesentlicher Motor für die Entwicklung eines differenzierten interkulturellen Verständnisses im Rahmen der interkulturellen Kompetenzentwicklung ist, dann stellt sich die Frage, wie er gefördert und begleitet werden kann. Zum einen muss differenziert werden zwischen informeller und formeller Förderung des interkulturellen Dialogs. Informell ist jeder interkulturelle Dialog, der sich spontan im Rahmen des Programms ergibt. Dafür gilt es förderliche Bedingungen zu schaffen. Formell dagegen wären beispielsweise Reflexionsrunden, Workshops zum interkulturellen Dialog oder der Einsatz eines Dolmetschers. Die Entscheidung über den formellen Anteil ist abhängig vom Ziel und Typ des Programms. Im Sinne des transformativen Lernens sollte er jedoch nicht komplett fehlen, da die Reflexion über bestehende Annahmen und Erwartungen die Voraussetzung für transformatives Lernen darstellt (Mezirow, 1997). Um im Rahmen eines interkulturellen Dialogs die Reflexion eigen- und fremdkultureller Bedeutungsstrukturen zu fördern, gibt es Ansatzmöglichkeiten wie zum Beispiel: − Reflexionsaufgaben wie Tagesrückblicke, Lerntagebücher etc., − gemeinsame Reflexion über Diskrepanzerfahrungen, − gemeinsame Projektarbeiten zu kulturellen und interkulturellen Themen. Der interkulturelle Dialog kann zudem durch kompetente Ansprechpartner gezielt gefördert werden, die sich bei Bedarf als Experten zur Verfügung stellen und multiple Perspektiven vermitteln können. Gerade wenn zentrale Bedeutungsschemata des Selbst betroffen sind (z. B. der Selbstwert) und negative Emotionen wie Wut und Hilflosigkeit auftreten, können solche Ansprechpartner den interkulturellen Dialog anregen und damit interkulturelles Lernen fördern. Es liegt nahe zu argumentieren, dass diese Rolle des »Lernförderers« von den begleitenden Leitern übernommen werden kann. Dafür müssen diese jedoch qualifiziert und geschult werden: Um als interkultureller Lernförderer erfolgreich zu sein, ist nicht nur Wissen über interkulturelle Lernprozesse, interkulturelle
Interkultureller Dialog in internationalen Jugendbegegnungen
263
Kompetenzentwicklung sowie kulturelle Besonderheiten (Kulturstandards) wichtig. Die Person muss auch über Methoden- und Sozialkompetenz verfügen, um die Themen überhaupt den Jugendlichen vermitteln sowie den Dialog zwischen den Teilnehmern fördern zu können. Das Problem in der internationalen Jugendarbeit ist jedoch, dass viele Leiter ehrenamtlich tätig sind und daher nicht über Expertenwissen verfügen (können). Es bedarf somit der Konzeption und Durchführung von Weiterbildungsmaßnahmen – auch für ehrenamtliche Kräfte –, aber auch von Literatur und Instrumenten (wie Anleitungen, Fallbeispielen, Best-Practice-Sammlungen), die den Leitern in dieser Rolle hilft.
6 Fazit Der Beitrag hatte das Ziel, die Bedeutung des Konzepts »interkultureller Dialog« für das Auftreten interkultureller Lern- und Kompetenzentwicklungsprozesse im Rahmen von internationalen Jugendbegegnungen aufzuzeigen. In der Diskussion um die Qualifizierung internationaler Jugendbegegnungen sowie in Forschungsarbeiten ist dieses Konzept bisher nicht explizit thematisiert worden. Um den interkulturellen Dialog als bedeutsames Konzept für den Kontext »internationale Jugendbegegnungen« zu verstehen, wurden Bedingungen und Wirkungen des interkulturellen Dialogs in diesem Kontext diskutiert. Der Prozess des interkulturellen Dialogs wurde mit dem transformativen Lernen in Beziehung gesetzt. Dadurch ist das Potenzial erkennbar, mit Hilfe der Förderung eines interkulturellen Dialogs zur Entwicklung interkultureller Kompetenz bei den Teilnehmern beizutragen. Somit kann die Integration des Konzepts »interkultureller Dialog« zum Verständnis interkultureller Lernprozesse und auftretender Wirkungen auf die Teilnehmer im Rahmen internationaler Jugendbegegnungen beitragen. Zudem ist das Konzept auch Praktikern von Nutzen, die sich fragen, wie sie die Lern- und Entwicklungsprozesse der Teilnehmer noch besser fördern können. Es gibt darüber hinaus Anhaltspunkte für die Evaluation von Programmen sowie für die Entwicklung von Trainingsmaßnahmen für Leitungskräfte in der internationalen Jugendarbeit. Der Beitrag soll daher anregen, diese Perspektive künftig in
264 Celine Chang Forschung und Praxis mit einzubeziehen. Dass es sich lohnt, zeigen die zahlreichen Implikationen, die sich aus bisherigen Befunden zu Bedingungen und Wirkungen ergeben.
Literatur Breitenbach, D. (1974). Auslandsausbildung als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. SSIP-Schriften, Heft 20. Saarbrücken: Breitenbach. Chang, C. (2006). Veränderungen von Selbstschemata im Kontext der Teilnahme an internationalen Workcamps. Aachen: Shaker. Chang, C. (2007). First Steps Towards Intercultural Competence: International Youth Exchange Programmes and Their Effects From A LongTerm Perspective. Journal of Cross-Cultural Competence and Management, 5, 307–342. Cohen, J. (1988). Statistical power analysis for the behavioral sciences (2nd ed.). Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum Associates. Epstein, S. (1993). Entwurf einer integrativen Persönlichkeitstheorie. In S.-H. Filipp (Hrsg.), Selbstkonzept-Forschung: Probleme, Befunde, Perspektiven (S. 15–45). Stuttgart: Klett-Cotta. Grawe, K. (1998). Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe. Greve, W. (2000). Die Psychologie des Selbst – Konturen eines Forschungsthemas. In W. Greve (Hrsg.), Psychologie des Selbst (S. 15–36). Weinheim: Beltz/Psychologie Verlags Union. Mezirow, J. (1997). Transformative Erwachsenenbildung. Hohengehren: Schneider-Verlag (Original erschienen 1991: Transformative Dimensions of Adult Learning). Oerter, R., Dreher, E. (2002). Jugendalter. In R. Oerter, L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (5. Aufl., S. 258–318). Weinheim: Beltz. Thomas, A. (2003a). Interkulturelle Kompetenz. Grundlagen, Probleme und Konzepte. Erwägen – Wissen –Ethik, 14 (1), 137–150. Thomas, A. (2003b). Psychologie interkulturellen Lernens und Handelns. In A. Thomas (Hrsg.), Kulturvergleichende Psychologie (2. überarb. u. erw. Aufl., S. 434–485). Göttingen: Hogrefe. Thomas, A., Chang, C., Abt, H. (2007). Erlebnisse die verändern. Langzeitwirkungen der Teilnahme an internationalen Jugendbegegnungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Astrid Utler
Interkultureller Dialog in der europäischen Jugendbegegnung
1 Europa und interkultureller Dialog: Widerspruch oder Synthese? Angesichts der viel beschworenen »Einheit Europas« stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es in einem vereinten Europa einen interkulturellen Dialog gibt, geben kann oder überhaupt geben soll. Da die Europäische Union jedoch trotz aller Bemühungen um Einheit gleichzeitig auch sehr stark für den Erhalt der kulturellen Vielfalt eintritt, gewinnt das Schlagwort »interkultureller Dialog« unweigerlich an Bedeutung. Denn ein interkulturelles Zusammenleben in Einheit kann nur dann gewährleistet werden, wenn wir Europäer im gegenseitigen Dialog kulturelle Unterschiede auch als solche begreifen und mit der erforderlichen interkulturellen Kompetenz damit umgehen.
2 Europa und interkultureller Dialog: Möglichkeiten zum Erwerb interkultureller Kompetenz Wie können nun junge Europäer interkulturelle Kompetenz und damit die Voraussetzung für einen erfolgversprechenden und zufriedenstellenden interkulturellen Dialog erwerben? Experten auf dem Gebiet der europapolitischen Bildung nennen diesbezüglich oft den Begegnungsaspekt als ausschlaggebendes Element (Thomas, Utler, de Ponte u. Schmid, 2008). Wenn Kontakt allein genügt, um interkulturelle Kompetenz auf und negative Vorurteile abzubauen, dann gibt es eine Vielzahl an geeigneten Möglichkeiten: touristische Kontakte, Kontaktaufbau und -pflege via Internet, Begegnungen von Zuschauern bei internationalen Sportveranstaltungen oder Jugendbegegnungen im formalen und nonformalen Bildungs-
266 Astrid Utler bereich. Allerdings weisen Studien auf dem Gebiet der Intergruppenforschung darauf hin, dass Kontakt allein nicht ausreicht, um negative Haltungen gegenüber anderen Gruppen abzubauen. Vielmehr müssen unter den sich Begegnenden weitere Bedingungen erfüllt sein, wie beispielsweise gleicher sozialer Status, gleiche Interessen, intensiver und fortdauernder Kontakt sowie ein gemeinsames Ziel, das es zu erreichen gilt (Allport, 1954; Pettigrew, 1998). Dies alles bietet auch noch keine Garantie, dass Vorurteile abgebaut und wertschätzende Beurteilungen aufgebaut werden, aber die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich Einstellungen und Verhalten in diese Richtung entwickeln. Was den Aufbau interkultureller Kompetenz im Speziellen angeht, konnte in einer Langzeitstudie zum internationalen Jugendaustausch (Thomas, Chang u. Abt, 2006; vgl. auch Chang in diesem Band) gezeigt werden, dass nur reale Begegnungssituationen mit der Möglichkeit, interkulturelle Kontrasterfahrungen zu sammeln, diese mit anderen zu reflektieren und gemeinsam Erklärungsalternativen zu entwickeln, zum Aufbau interkultureller Kompetenz beitragen.
3 Europäische Jugendbegegnung: Status quo und konkrete Verbesserungsmöglichkeiten Die angeführten Ergebnisse deuten darauf hin, dass unter den beispielhaft genannten vielfältigen Kontaktsituationen ausschließlich organisierte Jugendbegegnungsprojekte das nötige Potenzial für den Erwerb interkultureller Handlungskompetenz besitzen. Doch auch hier ist »Begegnung« nicht gleich »Begegnung«, das heißt, nicht alle Projektkonzeptionen versprechen nachhaltige Wirksamkeit bei den Teilnehmern. Deshalb werden im weiteren Verlauf Möglichkeiten dargelegt, wie europäische Begegnungsprojekte konzipiert werden sollten, um den Weg für einen erfolgreich stattfindenden interkulturellen Dialog zu ebnen. Derartige Empfehlungen sind jedoch nur sinnvoll, wenn sie auf einer empirischen wie theoretischen Grundlage basieren. Aus diesem Grund wird zunächst ein kurzer Überblick über aktuelle Begegnungsprojekte geliefert, wobei auf die Organisatoren, die Formate, die behandelten Themen sowie auf die Herkunft der Teilnehmer eingegangen wird, jeweils ergänzt durch
Interkultureller Dialog in der europäischen Jugendbegegnung
267
konkrete Verbesserungsmöglichkeiten. Die theoretische Grundlage bildet ein psychologisches Modell zum Lern- und Handlungsfeld Europa. Die Ausführungen stützen sich auf Ergebnisse einer Studie zu »Realität und Innovation in der europäischen Begegnung«, die von der Alfred Toepfer Stiftung in Hamburg in Auftrag gegeben und vom Institut für Kooperationsmanagement an der Universität Regensburg durchgeführt wurde (Thomas, Utler, de Ponte u. Schmid, 2008). Als Datenbasis dienten insgesamt 190 Begegnungsprojekte, die folgenden Kriterien gerecht wurden: − inhaltlich explizite Beschäftigung mit Europa oder einem Thema mit Bezugnahme auf Europa, − junge Menschen zwischen 11 und 28 Jahren als Teilnehmer, − reale Begegnung der Teilnehmer, − Teilnehmer stammten aus Deutschland und mindestens einer weiteren (europäischen) Nation. Die 190 Projekte wurden hauptsächlich im Zeitraum von 2004 bis 2007 durchgeführt und von Vertretern aus dem nonformalen sowie aus dem formalen Bildungsbereich organisiert. Dabei nehmen die Organisatoren aus dem nonformalen Bildungssektor, also Vereine, Stiftungen, Bildungsstätten, öffentliche und kirchliche Träger, mit 140 Projekten den größeren Anteil ein, während die verbleibenden 50 Projekte von Vertretern des formalen Bildungssektors, nämlich Schulen und (Fach-)Hochschulen initiiert und realisiert worden sind. Die Programme sind in Bezug auf ihr Format sehr unterschiedlich und reichen im nonformalen Bildungssektor von Seminaren, Fortbildungen, Konferenzen und Sommerakademien, bei denen stärker die Vermittlung von Wissen im Vordergrund steht, bis hin zu Jugendbegegnungen und Festivals oder Reisen, die den Fokus stärker auf erlebnisorientierte Inhalte und Methoden legen. Seminare nehmen mit 30 % im nonformalen Bildungssektor den höchsten Anteil ein. Im formalen Bildungssektor gibt es ebenfalls Seminare, Workshops, Reisen und Sommerakademien, allerdings liegt der Schwerpunkt dort auf curricularen Langzeitprojekten von bis zu drei Jahren. Sowohl im nonformalen (nfB) als auch im formalen Bildungssektor (fB) ist die Teilnahme an den Projekten überwiegend multinational (nfB: 66,4 % und fB: 70,0 %); trilaterale (nfB: 22,1 % und fB: 10,0 %) und bilaterale (nfB: 11,4 % und fB: 20,0 %)
268 Astrid Utler Projekte nehmen entsprechend geringere Anteile ein. In Bezug auf die Herkunftsländer der Teilnehmer zeigt sich in beiden Sektoren eine hohe Aktivität junger Menschen aus den Ländern Polen und Frankreich, im formalen Bildungssektor findet sich darüber hinaus eine hohe Teilhabe von Schülern aus Italien (27,1 %). Vorschläge zur Verbesserung Über einen längeren Zeitraum hinweg gewachsene Freundschaften und die Begeisterung für die neuen zur EU beigetretenen Länder sind wichtig und sollten gepflegt werden, allerdings darf dadurch nicht der Blick auf andere EU-Länder verloren gehen. Bei multinationalen Projekten ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass die Projektbegleiter über eine hohe Moderatoren- sowie didaktische Kompetenz verfügen müssen. Was die Zielgruppe angeht, so liegt eine hohe Beteiligung junger Menschen aus bildungshöheren Schichten vor, Studenten und Gymnasiasten sind sehr oft vertreten. Außerdem gibt es sehr häufig – im Verhältnis zu deren Anteil in der Bevölkerung – Projekte für Stipendiaten und Nachwuchskräfte aus Journalismus, Wissenschaft und Wirtschaft. Vorschläge zur Verbesserung Europäische Jugendbegegnungsprojekte mit der Chance zum Erwerb interkultureller Kompetenz dürfen in Zukunft nicht nur der Bildungselite vorbehalten bleiben, das heißt, es müssen auch Projekte für benachteiligte Gruppierungen und Minderheiten angeboten werden. Allerdings sollte auch die junge »Normalbevölkerung«, also Realschüler oder Gesamtschüler, nicht aus den Augen verloren werden, denn interkultureller Dialog in Europa geht alle an! Inhaltlich gesehen beschäftigen sich die Projekte zwar alle mit Europa, dennoch sind die Herangehensweisen sehr unterschiedlich. Insgesamt zeichneten sich im erhobenen Projektbestand die folgenden neun Schwerpunkte ab (siehe auch Tabelle 1): 1. EUropa: Politik und Wirtschaft: konkrete Wissensvermittlung zur Funktionsweise der EU, Grenzen und Nutzen der EU, The-
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2.
3.
4.
5.
6.
7. 8.
9.
269
matisierung verschiedener Politikbereiche wie Migrations- oder Umweltpolitik. Europäische Vielfalt kennen lernen, verstehen, nutzen und genießen: Kennenlernen anderer Europäer durch Anstellen von Vergleichen, Behandlung des Selbst- und Fremdbilds, Stereotype und Vorurteile gegenüber anderen europäischen Nationen, Gemeinsamkeiten der Europäer. Europa aktiv gestalten und nutzen: europäische Bürgerschaft, Dialog zwischen EU und Bürgern, Möglichkeiten zur aktiven Teilhabe an Europa, Berufschancen in einem vereinten Europa, Partizipations- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten für und mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Vergangenheit und Zukunft Europas: Bearbeitung/Aufarbeitung historischer Ereignisse, um davon ausgehend den Blick in eine gemeinsame Zukunft zu werfen. Identität, Kultur und Werte: europäische Identität mit In-Bezug-Setzung zur nationalen Identität, Werte und die Bedeutung Europas für die eigene Person, kulturelle Identität Europas. Kunst und Kulturelles: Philosophen, Dichter, Autoren, Sagengestalten und europäische Sprachenlandschaft und deren Wert für das gegenwärtige und zukünftige Europa, praktisch-künstlerische Annäherung an das Thema Europa, symbolische Darstellung eigener Gedanken und Einstellungen zu Europa. Visionen für Europas Zukunft: Entwicklung der Vision eines zukünftigen Europas zu verschiedenen Unterthemen. Train the Europeans: Möglichkeiten, »Europa« in die Jugendarbeit zu integrieren, Methodentraining zur Ausbildung von Multiplikatoren für die europäische Jugendbegegnung. Europa in den Massenmedien: Vergleich nationaler Berichterstattungen zum Thema Europa, Beitrag der Medien zur Herausbildung einer europäischen Kultur oder Identität.
In Tabelle 1 sind die prozentualen Anteile aufgeführt, zu denen die jeweiligen Themenschwerpunkte bei Jugendbegegnungsprojekten behandelt werden. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass in manchen Projekten Themen aus mehreren Schwerpunkten behandelt werden, weshalb die Prozentwerte in der Summe mehr als 100 % ergeben.
270 Astrid Utler Tabelle 1: Themenschwerpunkte und deren Anteil bei formalen und nonformalen Bildungsprojekten Überblick über den Anteil der Themenschwerpunkte (Angaben in %, Mehrfachnennungen möglich) Gesamt
formale B. non-formale B.
1 EUropa: Politik und Wirtschaft
35,2
14,0
42,9
2 Europäische Vielfalt kennen lernen, verstehen, nutzen und genießen
28,4
48,0
21,4
3 Europa aktiv gestalten und nutzen
18,9
2,0
25,0
4 Vergangenheit und Zukunft Europas
16,8
34,0
10,7
5 Identität, Kultur und Werte
16,3
8,0
19,3
6 Kunst und Kulturelles
14,2
20,0
12,1
7 Visionen für Europas Zukunft
12,6
8,0
14,3
8 Train the Europeans
1,6
0
2,1
9 Europa in den Massenmedien
1,6
2,0
1,4
In Tabelle 1 fällt auf, dass politische Themen sowie Inhalte, bei denen das Kennenlernen anderer europäischer Länder und Menschen im Vordergrund steht, am häufigsten auf der Tagesordnung stehen. Allerdings zeigen sich hier deutliche Unterschiede zwischen Projekten des nonformalen und des formalen Bildungssektors. In Letzterem spielen politische Fragestellungen kaum eine Rolle, während in fast der Hälfte aller Projekte des nonformalen Bildungssektors politische Themen behandelt werden. Im formalen Bildungssektor wird dagegen auf Themen gesetzt, bei denen Vergleiche angestellt werden, um Lebensgewohnheiten und Traditionen in anderen europäischen Ländern besser kennen zu lernen. Beispielsweise tragen die Schüler mithilfe von Umfragen Informationen zu lokalen und nationalen Bräuchen zusammen, präsentieren ihre Ergebnisse dann bei einem gemeinsamen Treffen auch den Partnerschulen und stellen ihre Arbeiten auf eine gemeinsame Internetseite. Um jedoch die erarbeitete Vielfalt im Sinne einer interkulturellen Kompetenz auch aktiv nutzen zu können, müssten die Ergebnisse in Bezug gesetzt werden zu konkreten Erlebnissen, zum Beispiel zu denen, welche die Schüler bei ihrem Aufenthalt in den Gastfamilien sammeln konnten. Denkbar wäre, dass zu-
Interkultureller Dialog in der europäischen Jugendbegegnung
271
nächst geprüft wird, inwieweit sich die in den theoretischen Vergleichen gefundenen Unterschiede tatsächlich in handlungswirksamen kulturellen Besonderheiten manifestieren. Diese sollten dann jedoch nicht als Probleme, sondern als Potenzial erachtet werden, denn sinnvoll genutzt können sie zu einem synergieträchtigen interkulturellen Dialog führen. Grundvoraussetzung dafür ist, dass die Teilnehmer zunächst das eigene kulturelle Orientierungssystem kennen und verstehen lernen und davon ausgehend Verständnis und Wertschätzung für andere Kulturen erwerben (Thomas, 2005). Vorschläge zur Verbesserung Eine Überbetonung politischer Themenschwerpunkte wie im nonformalen Bildungssektor beziehungsweise auf den Schwerpunkt »Europäische Vielfalt kennen lernen …« wie im formalen Bildungssektor wird der europäischen Themenvielfalt nicht gerecht. Es wäre sinnvoll, statt eines Themas wie »Migrationspolitik der EU« die vielschichtigen Aspekte der Migration und der nationalen Unterschiede im Umgang mit Migranten in der EU aus politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Perspektive zu behandeln. Außerdem sollte der Erwerb interkultureller Kompetenz, implizit oder explizit, in alle Themenbereiche integriert werden. Nun mag sich die Frage stellen, welche Rolle interkultureller Dialog im Rahmen der erfassten Projekte spielt. Bislang scheinen Projektorganisatoren davon auszugehen, dass interkultureller Dialog bereits dann stattfindet, wenn Teilnehmer aus verschiedenen Ländern miteinander kommunizieren. Diese Tatsache impliziert jedoch noch nicht, dass die jungen Menschen auf einer wertschätzenden Basis miteinander kommunizieren und dass die Kommunikation für beide Seiten zufriedenstellend verläuft (vgl. auch Thomas in diesem Band). Doch das scheint den meisten Projektverantwortlichen in dieser Form nicht bewusst zu sein. Dabei würde es genügen, wenn den Teilnehmern an europäischen Jugendbegegnungen der Raum zu ungezwungener Interaktion gegeben wird, kombiniert mit der Möglichkeit, erwartungswidrige interkulturelle Erfahrungen in monokulturellen Gruppen zu reflektieren und gemeinsam
272 Astrid Utler Erklärungsalternativen für das ungewohnte Verhalten zu entwickeln (Thomas, Chang u. Abt, 2007).
4 Empfehlungen für die erfolgreiche Konzeption nachhaltiger europäischer Projekte Menschen mit wenig Erfahrung bei der Organisation europäischer Begegnungsprojekte, aber auch Experten auf diesem Gebiet, sehen sich mit der Herausforderung konfrontiert, Programme zu konzipieren, die vielerlei Bedürfnissen und Anforderungen, zum Beispiel förderpolitischen oder den Interessen der Zielgruppe, gerecht werden. Einige, im Rahmen der Studie befragte Experten beklagten diesbezüglich, dass immer wieder versucht wird, »das Rad neu zu erfinden«, anstatt auf Kontinuität zu setzen. Genau an dieser Problematik setzt die Studie zu »Realität und Innovation in der europäischen Begegnung« an: Durch die Verbindung empirischer Daten mit wissenschaftlichen Erkenntnissen können tragfähige Empfehlungen für die Konzeption von nachhaltig wirksamen Projekten an die Akteure der europäischen Jugendbegegnung zurückgemeldet werden. Die wissenschaftliche Basis bildet dabei ein für diesen Zweck entworfenes Modell zum Lern- und Handlungsfeld Europa (siehe Abbildung 1), das die Erkenntnisse aus der Psychologie vereint, die für die Konzeption von Begegnungsprojekten von Interesse sind. Im Zentrum des abgebildeten Modells (Abbildung 1) steht das Individuum, das an einer europäischen Begegnung teilnimmt, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Relationen zur Gruppe der anderen Teilnehmer, aber auch zur jeweiligen nationalen Gesellschaft, aus der der Teilnehmer stammt. Für einen jungen Menschen, der sich an einer europäischen Begegnung beteiligt, stellen sich zwei grundsätzliche Anforderungen: Zum einen muss er interkulturell kompetent werden, wenn er mit den Teilnehmern aus anderen Ländern effektiv kommunizieren und synergetisch zusammenarbeiten möchte. Zum anderen sieht sich der junge Mensch mit speziellen, seiner Altersgruppe entsprechenden Entwicklungsaufgaben, wie der Entwicklung einer persönlichen und sozialen Identität oder der Herausbildung von Werten konfrontiert, die es zu bewältigen gilt. Wie sich gezeigt hat (Thomas et al., 2007), inter-
Interkultureller Dialog in der europäischen Jugendbegegnung
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Abbildung 1: Theoretisches Modell zum Lern- und Handlungsfeld Europa (nach Thomas, Utler, de Ponte u. Schmid, 2008)
essieren sich junge Menschen vor allem für die Inhalte, die ihren gerade aktuellen Entwicklungsaufgaben entsprechen. Die »Förderfaktoren« umfassen konkrete Erkenntnisse dazu, wie Motivation erhöht, interkulturelle Kompetenz gebildet, Intergruppenbeziehungen verbessert oder Entwicklungsaufgaben bewältigt werden können. Politische Partizipation beispielsweise kann durch Übernahme an Eigenverantwortung, Stärkung des Selbstbewusstseins, Mitgestaltungsmöglichkeiten der Umwelt und Spaß gefördert werden (Preiser, 2002). Außerdem sollten bei der Entwicklung von Projekten lernpsychologische Erkenntnisse Berücksichtigung finden. Hier ist entscheidend für einen nachhaltigen Lernerfolg, Inhalte unter Aktivierung der kognitiven, der emotionalen und auch der aktionalen Ebene zu vermitteln. Was nun die konkrete Konzeption von Projekten angeht, so lassen sich auf Basis des Datenmaterials sowie der theoretischen Erkenntnisse, Empfehlungen zu folgenden fünf Programmaspekten ableiten: Inhalt: Junge Menschen zwischen 12 und 18 Jahren befinden sich in einer Entwicklungsphase (vgl. Havighurst, 1982, zit. nach Oerter u. Montada, 2002), in der unter anderem Werte etabliert werden und
274 Astrid Utler eine Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« gefunden wird. Interessant kann für die Jugendlichen daher eine inhaltliche Kombination von Themen aus den Schwerpunkten »EUropa: Politik und Wirtschaft« und »Identität, Kultur und Werte« sein, indem beispielsweise bestimmte Politikbereiche auf Basis europäischer Werte behandelt und kritisch analysiert werden. Methode: Bei der Wahl der Methoden sollte darauf geachtet werden, dass informationsorientierte Einheiten, wie Vorträge oder Lernzirkel, sowie erfahrungsorientierte Einheiten, wie Rollenspiele oder Interviews, eingesetzt und sinnvoll miteinander kombiniert werden. Eine Verknüpfung dieser Einheiten garantiert, dass nicht nur die kognitive, sondern auch die aktionale und emotionale Lernebene angesprochen werden. Diese Herangehensweise bietet den Teilnehmern auch die Möglichkeit, das Gelernte anzuwenden und auszuprobieren, was wiederum der Anreicherung trägen Wissens entgegenwirkt. Neben der erforderlichen Integration von informations- und erfahrungsorientierten Einheiten sollte sich die Entscheidung für eine konkrete methodische Einheit an dem Ziel orientieren, das damit erreicht werden soll, sowie an den zu vermittelnden Inhalten. Im Zusammenhang mit dem Themenbereich »Vergangenheit und Zukunft Europas« haben die befragten Experten zum Beispiel stets auf die hohe Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen hingewiesen. Diese erfahrungsorientierte Einheit bewirkt aus psychologischer Sicht eine hohe emotionale Involviertheit der Teilnehmer, da sie geschichtliche Informationen aus der persönlichen Sicht eines »Betroffenen« erzählt bekommen. Außerdem können die jungen Menschen selbst Fragen stellen, also in gewisser Weise partizipieren. Dabei sollte es nicht beim betroffen machenden Einzelfall bleiben, sondern es sind die daraus zu gewinnenden generellen Erkentnisse und die sich ergebenden Konsequenzen für die Gegenwart und Zukunft zu thematisieren. Ziel: Eine klare Zielsetzung bei Projekten ist wichtig, um einen nachhaltigen Lernerfolg zu erreichen, weshalb sich bei der Zielformulierung ebenfalls eine Anlehnung an die drei Lernebenen empfiehlt. Beispielsweise könnte auf kognitiver Ebene der Aufbau von europarelevantem Wissen angestrebt werden, auf emotionaler Ebene die
Interkultureller Dialog in der europäischen Jugendbegegnung
275
Schaffung einer Europabegeisterung und auf der Handlungsebene die Ermöglichung interkultureller Erfahrungen zur Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz. Struktureller Rahmen: Der strukturelle Rahmen eines Projekts umfasst die Vorbereitung, die konkrete Realisierung der Begegnung sowie die anschließende Nachbereitung. – Vorbereitung: Hier ist eine Kombination von inhaltlicher, organisatorischer und interkultureller Vorbereitung der Teilnehmer empfehlenswert. Im Rahmen einer inhaltlichen Vorbereitung machen sich die Teilnehmer, beispielsweise durch die Erarbeitung kreativer Beiträge, mit dem Projektthema vertraut. Die organisatorische Vorbereitung bezieht sich auf die Einbindung der Teilnehmer in die Planung des Projekts und dessen Ablauf. Sowohl die inhaltliche als auch die organisatorische Vorbereitung wirken sich motivationsförderlich aus. Eine organisatorische Vorbereitung erhöht darüber hinaus die Akzeptanz der Teilnehmer für das Projekt und ermöglicht es den Teilnehmern, ihre eigene Selbstwirksamkeit zu erfahren. Die interkulturelle Vorbereitung ist von den drei Vorbereitungsarten die am seltensten praktizierte. Dabei erwies sich eben diese als essenziell (vgl. Thomas et al., 2007), da durch eine Vorsensibilisierung auf mögliche interkulturelle Missverständnisse späteres interkulturelles Lernen erheblich erleichtert wird. – Gestaltung der Begegnung: In Bezug auf die Gestaltung einer Begegnung gibt es mehrere Möglichkeiten für lernwirksame Konzeptionen: So können verschiedene Formate, wie beispielsweise Workshops und Konferenzen miteinander kombiniert werden, es kann aber auch eine Kombination von nationalen und europäischen Einheiten erfolgen. Eine weitere Option ist, das Projekt prozesshaft zu gestalten, das heißt, über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren hinweg immer wieder mehrtägige Treffen zu veranstalten. Außerdem können zur Begegnung auch Orte mit Symbolcharakter ausgewählt werden. Aus lernpsychologischer Perspektive ist insbesondere die sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Durchführung eines Projekts ratsam, denn Lernen selbst ist ein Prozess, der um so nachhaltigere Effekte erzielt, je langfristiger er angelegt ist.
276 Astrid Utler – Nachbereitung: Nachbereitung ist ein wichtiges, wenn auch selten durchgeführtes Element. Empfehlenswert ist eine Kombination mehrerer Varianten: Wissensintegration, Wissensmultiplikation und Wissensmanagement. Bei der ersten Variante reflektieren die Teilnehmer nochmals ihre gesammelten Erfahrungen, vorrangig natürlich solche, die erwartungswidrig waren. Die Wissensmultiplikation beschreibt die Weitergabe von Erfahrungen an Gesellschaft, Politik und persönliches Umfeld. Die hier häufig erhaltene positive Rückmeldung kann dazu beitragen, dass den gesammelten Erfahrungen ein besonders hoher Anerkennungs- und Gültigkeitswert beigemessen wird und dass so die Motivation zum weiteren Engagement gefördert wird oder erhalten bleibt. Wissensmanagement findet beispielsweise statt, wenn ehemalige Teilnehmer ihr erworbenes Wissen an zukünftige Teilnehmer weitergeben. Dadurch wird gewährleistet, dass Erfahrungswissen nicht verloren geht. Darüber hinaus müssen die Teilnehmer das Gelernte reorganisieren und neu aufbereiten, um es an andere weitergeben zu können, was wiederum zu einem nachhaltigen Lerneffekt beiträgt. Evaluation: Um sicherzustellen, dass das Projekt bei den Teilnehmern die gewünschten Effekte erzielt hat, empfiehlt sich eine tiefergehende Evaluation als bei den meisten Projekten durchgeführt wird. Meistens werden nämlich nur die unmittlbaren Reaktionen der Teilnehmer abgefragt, also beispielsweise »Wie haben dir die Übungen gefallen?« Damit werden jedoch nur persönliche Einschätzungen der Teilnehmer erhoben, die stark von der Gestimmtheit in der Erhebungssituation beeinflusst werden. Aussagekräftiger ist es, auch Lerneffekte (vorher – nachher) abzutesten und darüber hinaus zu überprüfen, ob das Gelernte auch angewendet werden kann und im Alltag umgesetzt wird. Europäische Jugendbegegnungen sind im nonformalen wie im formalen Bildungssektor fest etabliert und erfreuen sich auch großer Beliebtheit. Allerdings besteht in Bezug auf die Förderung interkultureller Kompetenz als Grundlage für einen gelingenden interkulturellen Dialog noch Handlungsbedarf. Projektorganisatoren sollten nicht den Fehler machen, die oft schon stattfindende Kom-
Interkultureller Dialog in der europäischen Jugendbegegnung
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munikation und deren Intensität zwischen Teilnehmern aus mehreren Ländern mit erfolgreichem interkulturellem Dialog gleichzusetzen. Interkultureller Dialog zwischen Jugendlichen kann dann als nachhaltig bezeichnet werden, wenn von Seiten der Kommunizierenden folgende Punkte beachtet werden: Das Auftreten kultureller Differenzen und erwartungswidriger Partnerreaktionen wird bemerkt und reflektiert, außerdem findet eine Reflexion der im Dialog evident werdenden eigenen kulturellen Standards statt. Dabei werden diese eigenen Standards nicht als allein gültig erachtet, sondern lediglich als eine Möglichkeit des Verstehens, Reagierens und Interagierens. Außerdem besteht die Bereitschaft zum interkulturellen Dialog, zu dessen Initiierung und Aufrechterhaltung und die Jugendlichen wissen ihre Erwartungen an den Partner und den Dialog zu verbalisieren.
Literatur Allport, G. W. (1954). The nature of prejudice. Reading, MA: AddisonWesley. Havighurst, R. J. (1972). Developmental tasks and education (3rd ed., first ed. 1948). New York: McKay. Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.) (2002). Entwicklungspsychologie (5. vollst. überarb. Aufl.). Weinheim: Beltz. Pettigrew, T. F. (1998). Intergroup contact theory. Annual Review of Psychology, 49, 65–85. Preiser, S. (2002). Jugend und Politik. Anpassung – Partizipation – Extremismus. In R. Oerter, L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (5. vollst. überarb. Aufl., S. 874–884). Weinheim: Beltz. Thomas, A. (2005). Das Eigene, das Fremde, das Interkulturelle. In A. Thomas; E.-U. Kinast, S. Schroll-Machl (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 1: Grundlagen und Praxisfelder (2. Aufl., S. 44–59). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thomas, A., Chang, C., Abt, H. (2007). Erlebnisse, die verändern. Langzeitwirkungen der Teilnahme an internationalen Jugendbegegnungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thomas, A., Utler, A., de Ponte, U., Schmid, S. (2008). Realität und Innovation in der europäischen Begegnung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Die Autorinnen und Autoren
Heike Abt, Diplom-Psychologin, freiberufliche Trainerin und Beraterin unter anderem zu den Themen interkulturelle Handlungskompetenz, Teamentwicklung und Führung, ist Dozentin an der Universität und FH Regensburg. Julia Bürger, Diplom-Psychologin, ist PhD-Studentin am University College Cork. Celine Chang, Dr. phil., Diplom-Psychologin, ist Beraterin bei einer führenden internationalen Unternehmensberatung im Bereich Capital Advisory Services und Expertin für internationale Jugendbegegnungen. Ulrike de Ponte, Diplom-Psychologin, Konflikttrainerin in Jugendhilfe und Schulen, ist Dozentin an der Universität und FH Regensburg. Sie ist außerdem freiberufliche interkulturelle Trainerin. Anna Ehret, Dr. phil., Diplom-Psychologin, ist Trainerin und Beraterin bei der Audi Akademie und in den Bereichen Diagnostik und Personalauswahl, interkulturelle Psychologie sowie Training – Beratung – Forschung tätig. Monika Eigenstetter, Dr. phil., Diplom-Psychologin, lehrt am Lehrstuhl für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie an der Universität Jena. Ulrich Hößler, Diplom-Psychologe, lehrt an der FH Regensburg, koordiniert das Kooperationsprojekt »Interkulturelle Handlungskompetenz« (Universität und FH Regensburg) und ist als freiberuflicher interkultureller Trainer tätig. Stefan Kammhuber, Diplom-Psychologe, ist Professor für Unternehmenskommunikation und Interkulturelles Management am
Die Autorinnen und Autoren
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RheinAhrCampus der FH Koblenz, Fachbereich Betriebs- und Sozialwirtschaft. Er ist Gründungsmitglied des »Instituts für Kooperationsmanagement (IKO)«. Wolf Rainer Leenen, Diplom-Volkswirt, ist Professor für interkulturelle Bildung und Entwicklung and der FH Köln und Sprecher der Kompetenzplattform Migration, interkulturelle Bildung und Organisationsentwicklung. Henriette-Muriel Müller, Diplom-Psychologin, ist als Beraterin im Bereich Human Resource Management in der Kienbaum Management Consultants GmbH tätig. Juliana Murnyati Tjaya, Dr. phil., lehrt an der Universität Atma Jaya, Jakarta, interkulturelle Organisationspsychologie. Alexander Scheitza, Diplom-Psychologe, ist als Berater, Trainer und Coach in den Bereichen Kommunikation, internationale Zusammenarbeit und interkulturelle Kompetenz in Köln und Saarbrücken tätig. Sylvia Schroll-Machl, Dr. phil., Diplom-Psychologin, Diplom-Religionspädagogin (FH), arbeitet als freiberufliche Trainerin und Coach für verschiedene Firmen, Organisationen und Ministerien im Bereich interkulturelle Trainings- und Personalentwicklung. Sie ist Lehrbeauftragte an verschiedenen Hochschulen. Eva Maria Stögbauer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg. Siegfried Stumpf, Diplom-Psychologe, ist Professor für Kommunikationspsychologie und Führungslehre an der FH Köln. Er ist Gründungsmitglied des »Instituts für Kooperationsmanagement (IKO)«. Stefan Schmid, Diplom-Psychologe, berät international tätige Firmen, Institutionen und Behörden in interkultureller Personal- und Organisationsentwicklung. Verena Stengel, Dr. phil., Diplom-Psychologin, ist bei der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft im Bereich Personal Consultant Training tätig.
280 Die Autorinnen und Autoren Alexander Thomas ist emeritierter Professor der Universität Regensburg, bis 2005 an der Abteilung Sozialpsychologie und Organisationspsychologie. Er ist Gründungsmitglied des dortigen »Instituts für Kooperationsmanagement (IKO)«. Rüdiger Trimpop, Diplom-Psychologe, ist Professor für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie an der Universität Jena. Astrid Utler, Diplom-Psychologin, Sprecherzieherin (univ.), forscht und berät in den Bereichen interkulturelle Kommunikation, Sozialpsychologie und Migration. Sie ist außerdem in der (Europäischen) Jugendbegegnung tätig.